Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 52. Band (2011) [1 ed.] 9783428536085, 9783428136087

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 52. Band (2011) [1 ed.]
 9783428536085, 9783428136087

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON VOLKER KAPP, KURT MÜLLER, KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER, JUTTA ZIMMERMANN

ZWEIUNDFÜNFZIGSTER BAND

2011

D U N C K E R & H U M B L O T ∙ B E R L I N

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH Neue Folge, begründet von Hermann Kunisch

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. VOLKER KAPP, PROF. DR. KURT MÜLLER, PROF. DR. KLAUS RIDDER, PROF. DR. RUPRECHT WIMMER, PROF. DR. JUTTA ZIMMERMANN ZWEIUNDFÜNFZIGSTER BAND

2011 Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Altgermanistik, federführend), Prof. Dr. Volker Kapp, Klausdorfer Str. 77, 24161 Altenholz (Romanistik), Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik / Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (Anglistik / Amerikanistik), Prof. Dr. Dr. h.c. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt (Neugermanistik), Prof. Dr. Jutta Zimmermann, Englisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel (Rezensionen). Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Redaktion Aufsatzteil: Ulrich Barton. Redaktion Rezensionsteil: Prof. Dr. Jutta Zimmermann, Englisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel. Merkblatt für die typographische Gestaltung: http://www.uni-tuebingen.de/LehrstuhlRidder/liwi-jahrbuch.html Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Beiträge sind in Dateiform auf Diskette und als Ausdruck an die zuständigen Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, entsprechend den im Merkblatt (s. o.) angeführten typographischen Richtlinien einzureichen. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion (Rezensionsteil) erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH ZWEIUNDFÜNFZIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON VOLKER KAPP, KURT MÜLLER, KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER, JUTTA ZIMMERMANN

ZWEIUNDFÜNFZIGSTER BAND

2011

D U N C K E R & H U M B L O T ∙ B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-13608-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞

Inhalt AUFSÄTZE Monika Unzeitig (Greifswald), Mauer und Pforte. Wege ins Paradies in mittelalterlicher Literatur und Kartographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Florian Kragl (Erlangen), wort unde wîse. Formen des sangbaren Verses in der deutschen Literatur des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Agnieszka Gotchold (Warschau), Wenne die minnende sele sihet in den ewigen spiegel …: The motif of self-knowledge in Mechthild’s of Magdeburg Das fließende Licht der Gottheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Elisabeth Leeker (Chemnitz), Dantes Lobgesang auf Franz von Assisi und die Tradition der Laudendichtung: Ein Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Elisabeth Winkler (Kiel), Varianten des Wahnsinns: Zur Übertragung von Don Quijotes Geisteszustand in deutschen und englischen Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 137 Isabel Müller (Bochum), »Songez à librement vivre« – Cyrano de Bergeracs L’Autre Monde ou Les États et Empires de la Lune als Anleitung zum selbstständigen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 René Sternke (Berlin), Andreas Gryphius’ Tragödie Carolus Stuardus und die Geburt des Imaginaire der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Barbara Thums (Tübingen), Theologie und Politik der Reinheit in Andreas Gryphius’ Catharina von Georgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Caroline Rosenthal (Jena), Narrative und kulturelle Kontaktzonen in Mary Rowlandsons Captivity Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Wolfgang G. Müller (Jena), Forms of Representing Moral Action in Fiction: Case Studies from English and American Literature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Wolf Gerhard Schmidt (Eichstätt-Ingolstadt), Was ist ein ›Gesamtkunstwerk‹? Zur medienhistorischen Neubestimmung des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Norbert Lennartz (Vechta), Aspects of Darwinian Liminality: The Precarious Relationship between Man and Animals in David Copperfield and Other Victorian Fiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Joris Lehnert (Aachen), »Selbst die Romane eines Balzacs erreichen nicht die gleiche Tiefe«. Waldemar Gurian als Leser von Georges Bernanos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Christoph Bartscherer (Eichstätt-Ingolstadt), »Apocalypse Now«. Endzeitvisionen im Werk von Friedrich Dürrenmatt, Günter Grass und Michael Cordy . . . . . . . . . . 309 Brigitte Spreitzer (Graz), König Markes Geschichte, 2003 von ihm selbst erzählt – Viola Alvarez’ Arbeit am Mythos ›Tristan und Isolde‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

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Inhalt

Ina Schabert (München), »To come out roughly at the other side«. Die Ethik der Fiktion und der englische Gegenwartsroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 KLEINE BEITRÄGE Lothar Mundt (Berlin), Pierre Béhars Rezension der historisch-kritischen Lohenstein-Ausgabe – eine Entgegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Steven Doloff (New York), Creative Paean: The Childbirth Image in Nietzsche’s Götzen-Dämmerung (Twilight of the Idols) (1889) and D. H. Lawrence’s Women in Love (1920) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Bernhard Teuber (München), Fluktuierende Anzüglichkeit. Zu Alois M. Haas’ Buch über Mystik und Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 BUCHBESPRECHUNGEN Kay Malcher, Die Faszination von Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zu aventiurehafter Dietrichepik (von Reinhard Berron) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Heidy Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob: Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (von Hellmut Thomke) . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Gabriela Schmidt, Thomas More und die Sprachenfrage. Humanistische Sprachtheorie und die ›translatio studii‹ im England der frühen Tudorzeit (von Uwe Baumann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Jean Calvin, Institution de la religion chrétienne (1541). Edition critique par Olivier Millet (von Béatrice Jakobs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Manfred Beyer, ›A beggar’s book outworths a noble’s blood‹. Werte und Wertkonflikte in Shakespeares Dramen (von Uwe Baumann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Matthias Bauer und Angelika Zirker (Hgg.), Drama and Cultural Change. Turning Around Shakespeare (von Wolfgang G. Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Stefanie Wolff, Todesverlachen. Das Lachen in der religiösen und profanen Kultur und Literatur im Frankreich des 17. Jahrhunderts (von Béatrice Jakobs) . . . . . . . . . 420 François Paulin S.J., Idoménée tragédie (1700). Texte établi et présenté par Jean-Philippe Grosperrin (von Volker Kapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Cornelia Wild, Später Baudelaire: Praxis poetischer Zustände (von Christina Johanna Bischoff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Italo Michele Battafarano, Claudio Costa (Hgg.), Il carteggio Paul Heyse – Pio Spezi. Un’ amicizia intellettuale italo-tedesca tra Otto e Novecento (von Alberto Destro) 431 Eckhard Lobsien, Zeit der Imagination. Das Imaginäre (in) der Romantik (von Norbert Lennartz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Christoph Bode, Fremd-Erfahrungen. Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik II. Identität auf Reisen (von Norbert Lennartz) . . . . . . . . . . . . 440 Francesca Orestano, Francesca Frigerio (Hgg.), Strange Sisters. Literature and Aesthetics in the Nineteenth Century (von Norbert Lennartz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

Inhalt

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Anne-Julia Zwierlein, Der physiologische Bildungsroman im 19. Jahrhundert. Selbstformung, Leistungsethik und organischer Wandel in Naturwissenschaft und Literatur (von Dirk Vanderbeke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Stefanie Fricke, Memento Mori: Ruinen alter Hochkulturen und die Furcht vor dem eigenen Untergang in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts (von Paul Goetsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Elmar Schenkel, Hans-Christian Trepte (Hgg.), Zwischen Ost und West: Joseph Conrad im europäischen Gespräch (von Paul Goetsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Yasmin Temelli, Schreiben statt Schweigen – Weibliche Stimmen im Porfiriat. Eine Analyse sechs mexikanischer Frauenzeitschriften (1883 – 1910) (von Erna Pfeiffer) 457 Daniela Esser, Meta-Woolf. Bio-Fiktionen und re-writes als zeitgenössische literarische Versionen von Virginia Woolf und ihren Werken (von Andrea Beck) . . . . . . . . 459 Dominique Millet-Gérard, Le Signe et le Sceau. Variations littéraires sur le Cantique des Cantiques (von Volker Kapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Hermann Kurzke (Hg.), Thomas Mann. Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 13. 1 – 2 (von Elena Alessiato) . . . . . . . . 466 Wolfram Eilenberger, Das Werden des Menschen im Wort. Eine Studie zur Kulturphilosophie Michail M. Bachtins (von Ralf Grüttemeier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Franziska Bossy, Der Stadtnomade. Die literarische Metropole in Juan Goytisolos ›Paisajes después de la batalla‹ (von Frank Leinen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Wolf Gerhard Schmidt, Zwischen Antimoderne und Postmoderne. Das deutschsprachige Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext (1945 – 1961). Bd. 1: Exil, Westzonen/Bundesrepublik, SBZ / DDR (von Michael Braun) . . 477 Felicitas Menhard, Conflicting Reports: Multiperspektivität und unzuverlässiges Erzählen im englischsprachigen Roman seit 1800 (von Wolfgang G. Müller) . . . . . . . . 483 Herbert Grabes, Klaus Schwank (Hgg.), Das neuere amerikanische Drama: Autoren, Entwicklungen, Interpretationen (von Jürgen Wolter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Waldemar Zacharasiewicz, Christian Feest (Hgg.), Native Americans and First Nations: A Transnational Challenge (von Martin Kuester) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Thomas Pittrof, Walter Schmitz (Hgg.), Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bindungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts (von Matthias Stickler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 Eva-Sabine Zehelein, Science: Dramatic. Science Plays in America and Great Britain, 1990 – 2007 (von Anne-Julia Zwierlein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Udo J. Hebel, Einführung in die Amerikanistik /American Studies (von Oliver Scheiding) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Bernd Engler & Oliver Scheiding (Eds.), Key Concepts in American Cultural History: From the Colonial Period to the End of the 19th Century; Bernd Engler & Oliver Scheiding (Eds.), A Companion to American Cultural History: From the Colonial Period to the End of the 19th Century (von Kurt Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Namen- und Werkregister (von Ulrich Barton und Thorsten Glotzmann) . . . . . . . . .

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Mauer und Pforte. Wege ins Paradies in mittelalterlicher Literatur und Kartographie Von Monika Unzeitig I. Das Paradies und seine Grenzen (Genesis) In der Genesis ist der Garten Eden als das irdische Paradies beschrieben. Es ist zu lesen, wie der Garten Eden angelegt und mit welchen Pflanzen er bewachsen ist. Von einer Begrenzung oder Einzäunung ist im Alten Testament jedoch nicht ausdrücklich die Rede; es heißt: plantaverat autem Dominus Deus paradisum voluptatis a principio in quo posuit hominem quem formaverat.1 Nach dem Sündenfall wird den Menschen der Zugang zum Baum des Lebens, der im Paradies steht, untersagt. Ein Cherub mit Feuerschwert bewacht den Zugang zum Garten: emisit eum Dominus Deus de paradiso voluptatis ut operaretur terram de qua sumptus est eiecitque Adam et conlocavit ante paradisum voluptatis cherubin et flammeum gladium atque versatilem ad custodiendam viam ligni vitae.2 Damit sind dem Menschen der Aufenthalt und auch der Zugang zum Paradies verwehrt. Die mittelalterliche Enzyklopädik und auch die mittelalterliche Kartographie verstehen das Paradies als einen historisch realen und geographisch im Osten situierten Ort. Doch anders als im Alten Testament beschrieben finden sich in den imago mundi-Texten wie auch auf den mappae mundi neben den von Gott eingesetzten Wächtern zusätzliche Barrieren, die das Paradies unzugänglich machen, so als wollte man der Vertreibung aus dem Paradies potenziert die Unmöglichkeit einer Rückkehr ins Paradies hinzufügen. Diese zusätzlichen Hindernisse zu benennen und summarisch aufzulisten3 ist relativ einfach, deutlich schwieriger ist es, ihre Quellen zu be1 Gen. 2, 8. Nach der Textausgabe: Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem, hg. Robertus Weber, Roger Gryson, 4., verb. Aufl., Stuttgart 1994. 2 Gen. 3, 23 – 24. 3 Für die Paradieskartographie siehe z. B. Jörg-Geerd Arentzen, Imago Mundi Cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild, München 1984, 208 – 210.

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stimmen wie auch eine chronologische Entwicklungsreihe nachzuzeichnen. Bislang hat die umfangreiche Forschungsliteratur zum Paradies diesen Teilaspekt der Paradiesbegrenzung in keiner systematischen Untersuchung erörtert.4 Umso mehr ist es einen ersten Versuch wert, sich dem Paradies auf dem Weg über die Zugangsbarrieren zu nähern und damit auch die Geschichte der Paradiesvorstellung als eine Geschichte seiner (Un-)Zugänglichkeit zu verstehen.5 II. Umgrenzung und Unerreichbarkeit in enzyklopädischer und kartographischer Darstellung In den Etymologiae des Isidor von Sevilla liegt das Paradies im Osten. Der Autor übersetzt die Bezeichnung ›Paradies‹ mit ›Garten‹, ›Eden‹ übersetzt er mit ›Freuden‹. Wie auch in der Genesis beschrieben, betont Isidor, dass nach dem Sündenfall der Zugang durch ein Flammenschwert versperrt sei, präzisiert aber: von allen Seiten und außerdem durch eine Feuerwand, die bis zum Himmel reiche. So sei es für teuflische Geister und menschliche Wesen nicht zugänglich.6 Dieser Vorstellung einer Begrenzung des paradiesischen Raumes durch eine Feuerwand für die Menschen folgt im Wesentlichen auch Honorius Augustodunensis in seiner Imago Mundi: Huius prima regio in oriente est paradysus, […], inadibilis hominibus quia igneo muro usque ad celum est cinctus.7 Isidors enzyklopädischer Traktat entsteht 4 Siehe z. B. Jean Delumeau, History of Paradise. The Garden of Eden in Myth and Tradition, New York 1995. Auch Alessandro Scafi vernachlässigt den Aspekt der Paradiesgrenze in seinem umfangreichen Werk zur Kartographie des Paradieses: Mapping Paradise. A History of Heaven on Earth, London 2006. 5 Der vorliegende Beitrag versteht sich angesichts der Materialfülle von Paradiesvorstellungen in mittelalterlicher Kartographie sowie enzyklopädischen, exegetischen und literarischen Texten notwendig nur als Versuch einer ersten Bestandsaufnahme und Interpretation der Paradiesikonographie in Bild und Text in Mittelalter und beginnender Früher Neuzeit. 6 Siehe Isidori Hispalensis Episcopi, Etymologiarvm sive originvm. Libri XX, hg. W. M. Lindsay, 2 Bde., Oxford 1988, Buch XIV, III, 2: Paradisus est locus in orientis partibus consititutus, cuius vocabulum ex Graeco in Latinum vertitur hortus: porro Hebraice Eden dicitur, quod in nostra lingua deliciae interpretatur. Quod utrumque iunctum facit hortum deliciarum; und III, 3 und 4: Cuius loci post peccatum hominis aditus interclusus est; septus est enim undique romphea flammea, id est muro igneo accinctus, ita ut eius cum caelo pene iungat incedium. Cherubin quoque, id est angelorum praesidium, arcendis spiritibus malis super rompheae flagrantiam ordinatum est, ut homines flammae, angelos vero malos angeli submoveant, ne cui carni vel spiritui transgressionis aditus Paradisi pateat. 7 I. 8. Nach der Textausgabe: Honorius Augustodunensis, »Imago Mundi«, hg. V. I. J. Flint, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge, 57 (1982 / 1983), 7 – 153.

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um 600 und darf als eine der wichtigsten Grundlagen für das Wissen im Mittelalter gelten. Seine Rezeption lässt sich sowohl in den volkssprachigen Weltbeschreibungen wie auch auf den mittelalterlichen Karten verfolgen. Gleiches gilt für den imago mundi-Text des Honorius aus den Anfängen des 12. Jahrhunderts. In diese Tradition der imago mundi-Literatur gehört auch der erste deutschsprachige Weltbeschreibungstext, der Lucidarius, in der deutschen Fassung um 1190 entstanden.8 Er ist als volkssprachiger Text ein Wissenskompendium auch für Laien und wird durch seine Rezeption bis in das 16. Jahrhundert das laikale Weltbild prägen. Gleichwohl ist er nicht als Abbild eines laikalen Weltwissens verfasst, sondern vielmehr im gelehrten klösterlichen Umfeld entstanden, in Rückgriff auf lateinische kosmographische und theologische Standardwerke des 12. Jahrhunderts sowie in selektiv und kritisch abwägendem Umgang mit diesen. Es ist ein kompilatorisches Werk, das als Hauptquellen die Imago Mundi und das Elucidarium des Honorius Augustodunensis sowie die Philosophia des Wilhelm von Conches und Ruperts von Deutz De divins officiis nutzt.9 Während der Lucidarius in Titel, Aufbau und Dialogform zur Wissensvermittlung dem Elucidarium des Honorius folgt10, so ist die Imago Mundi wichtigste Quelle für die Inhalte zu Geographie und Kosmologie. Bei der Beschreibung des Paradieses im Kontext der geographischen Weltbeschreibung erklärt der meister: Al_ vn_ die bGch _agent, in daa paradi_e mac nieman comen wen mit gGten werken. Wen da gat ein fúrine mure vnbe, die reichet in den himel. Da vor _tant berge vnde gewelde. Da nach lit ein groze wGsten. Die ist uol drachen vnde tiere. Da uon mac nieman da durch comen.11

Deutlich markiert sind die zunehmenden Elemente der Unzugänglichkeit: Zur Feuermauer kommen noch Berge, Wälder, Wüste und Untiere als Begrenzungen hinzu. Da die Quelle für den geographisch-naturkundlichen Teil über die ordenunge dirre welte12 wesentlich die Imago Mundi des Honorius Augustodunensis ist, dürfte für diese Zusätze die Stelle I. 9 eine 8 Textausgabe: Der deutsche Lucidarius, hg. Dagmar Gottschall, Georg Steer, Bd. 1: Kritischer Text nach den Handschriften, Tübingen 1992. 9 Siehe Loris Sturlese, »Philosophie im deutschen ›Lucidarius‹. Zur Vermittlung philosophischer und naturwissenschaftlicher Lehre im deutschen Hochmittelalter«, PBB 114 (1992), 249 – 277, hier insb. 254. 10 Vgl. Robert Luff, Wissensvermittlung im europäischen Mittelalter. ›Imago mundi‹-Werke und ihre Prologe, Tübingen 1999, 58. 11 Der deutsche Lucidarius, I, 52. 12 I, 44 – I, 61.

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mögliche Grundlage sein: Post paradysum sunt loca multa deserta et invia, ob diversa serpentium et ferarum animalia. Allerdings ist im LucidariusText die Beschreibung der lateinischen Quelle verändert. In der Imago Mundi des Honorius schließt sich an die Paradieslokalisierung und die Begrenzung des Paradieses (I. 8) die Nennung der Paradiesflüsse und die Beschreibung ihres geographischen Verlaufs an, so dass der anschließende Satz über die post paradiesisch gelegenen Wüstengegenden mit ihren Schlangen und wilden Tieren nur eine Fortsetzung der geographischen Beschreibung Indiens bildet. Durch Umstellung (insbesondere der Paradiesflüsse-Passage) und Zusätze (Berge und Wälder) wird hingegen im mittelhochdeutschen Text die Beschreibung der Gegend ›nach‹ und ›vor‹ dem Paradies zur Begrenzung, die die Unzugänglichkeit zusätzlich betont. Die wüsten und unwegsamen Gegenden werden zudem (ergänzend zur lateinischen Quelle) im mittelhochdeutschen Text zu ausdrücklichen Begrenzungen wie auch Berg und Wald: Da uon mac nieman da durch comen. Wiederholt ist damit die schon eingangs in der Antwort des Meisters betonte Unzugänglichkeit: Al_ vn_ die bGch _agent, in daa paradi_e mac nieman comen wen mit gGten werken. Dieser Paradieslokalisierung und -begrenzung im Kontext der Weltbeschreibung (dispositio mundi) geht eine erste im Kontext der Fragen zur Welterschaffung (creatio mundi)13 voraus (I, 32 und I, 33). Für die Abhandlung zur Schöpfung gilt zwar als Hauptquelle das Elucidarium des Honorius, der mittelhochdeutsche Text ist aber gerade für Buch I keine bloße Übersetzung, sondern favorisiert, wie die Forschung gezeigt hat14, gegenüber der deutlich theologischen Ausrichtung des Elucidarium Themenbereiche aus Naturkunde und Kosmologie durch die Einbeziehung anderer Quellen. Die vorgenommene Erweiterung ist nicht zu überlesen. Im Elucidarium lautet die Antwort auf die Frage Quid est paradisus vel ubi est? zur Lokalisierung kurz und knapp Locus amoenissimus in Oriente.15 Der Lucidarius 13 Die Darstellung des göttlichen Schöpfungswerkes folgt nicht linear dem Genesisbericht, vgl. auch Marlies Hamm, Der deutsche Lucidarius, Bd. 3: Kommentar, Tübingen 2002, 81, sondern stellt um: Vor dem Paradies und Adam und Eva stehen die ausführlichen Erörterungen zu Hölle und Himmel. 14 So Loris Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen (748 – 1280), München 1993 zu Buch I, 252 f.: »Der Autor war nämlich von Anfang an mit den Inhalten und Themen des I. Buches des Elucidarium unzufrieden. Ihm war, wie aus seinen Ergänzungen ersichtlich ist, das Werk des Honorius zu stark theologisch ausgerichtet und zu wenig um die Themenbereiche ›Kosmologie‹ und ›Naturwissenschaft‹ bemüht. Er sah sich darum zu einer zweifachen Umgestaltung seines Basistextes gezwungen. Zunächst fügte er einen umfangreichen geographischen Abschnitt an.«

Mauer und Pforte

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hingegen präzisiert in zwei Fragen des Schülers und zwei Antworten des Meisters die geographischen / topographischen Angaben: Da _prach der iunger: Wa ist daa paradi_? Der meister _prach: Daa paradi_ i_t o_tert in dirre welte vnde lit al_e nahe bi dem himele, daa ea hoher i_t dan die erde. Do _prach der iunger: So lanc daa paradi_ uf dirre erden i_t, warumbe múge wir dar in nith comen? Der meister _prach: Da _tat groa gebirge vnde geuuelde da uor, vnde da uor i_t so getan nebel, daa nieman dar in mac comen wen mit gGten werken.16

Die Ergänzung der topographischen Angabe zur hohen Lage des Paradieses könnte, da diese Vorstellung durchweg im 12. Jahrhundert zu finden ist, auf lateinische Quellen wie auf die Schriften des Petrus Lombardus oder des Petrus Comestor zurückgehen, oder auch auf volkssprachige bibelepische bzw. literarische Texte wie die Wiener Genesis oder Heinrichs von Melk Von des todes gehugede.17 Der Nebel als Begrenzung und Zugangshindernis wiederum könnte auf ein Motiv aus der Paradiesbeschreibung in der Navigatio Sancti Brendani zurückgeführt werden oder als allgemein genutztes Bild zur Markierung des Jenseits verstanden werden.18 Die Paradiesvorstellung im Lucidarius impliziert einen geographisch existierenden Raum, im Osten gelegen, der durch multiple Barrieren unzugänglich ist, also nicht erreicht werden kann; diese Unzugänglichkeit des irdischen Paradieses wird in den Antworten des Magisters mehrfach um die Vorstellung ergänzt, durch gute Werke könne man in das Paradies gelangen. So verbindet sich mit dem realen Paradies die (wenngleich nicht genau erklärte) Option auf ein ›geistiges Paradies‹, das seinerseits dann Wohnraum sein könne und in Buch III als Aufenthaltsort für die Auserwählten bis zum Jüngsten Gericht beschrieben ist.19 Der Lucidarius als Lehre von der Welt und den göttlichen Dingen ist dem naturkundlichen wie auch theologischheilsgeschichtlich argumentierenden Diskurs verpflichtet, daher können »verschiedene Deutungsansätze aufeinander treffen, die nicht immer harmonieren.«20 Dass dies aber kein Einzelfall ist, sollen im Folgenden auch die kartographischen Beispiele zeigen, zumal Text und Karte, imago mundi und mappa mundi, in engem Bezug zueinander stehen. 15 Textausgabe: Dagmar Gottschall, Das ›Elucidarium‹ des Honorius Augustodunensis. Untersuchungen zu seiner Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte im deutschsprachigen Raum mit Ausgabe der niederdeutschen Übersetzung, Tübingen 1992, 180. 16 Der deutsche Lucidarius, I, 32 und I, 33. 17 Dazu ausführlich Hamm, Lucidarius, 109 f. 18 Siehe 110. Im Lucidarius ist auch die Hölle durch Nebel begrenzt, siehe I, 16. 19 Siehe dazu Der deutsche Lucidarius III, 1 und III, 2. 20 Hamm, Der deutsche Lucidarius, 110.

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Die Entstehung der Karten ist in den Handschriften der imago mundiTexte zu verorten: »Im Kontext der kosmographischen Texte, in denen die Masse der Mappaemundi stehen, haben sie die Funktion von Anschauungsund Merkhilfen, von Memorierschemata.«21 Ebenso aber dienen die mappae mundi auch zur Abfassung von Weltbeschreibungstexten. Während die kleinformatigen Karten im Buchkodex ihren Platz haben, integrieren die großformatigen das Buchwissen in das Medium Karte durch zahlreiche Legenden.22 Ebenso wie die imago mundi-Texte zeigen die mittelalterlichen Weltkarten das Paradies im Osten der bekannten Welt gelegen, weisen ihm seinen Platz am äußersten Rand von Asien zu, geben ihm eine bildliche Konkretion.23 Im Liber Floridus des Lambert von Saint-Omer, einem reich illustrierten Kartenwerk24 des frühen 12. Jahrhunderts, findet sich eine Zonenkarte als hemisphärische Weltkarte ausgestaltet.25 Die Karte (Abbildung 1) ist geostet, das Paradies ist dementsprechend oben eingezeichnet, eingefasst mit einem roten Feuerrand und rotem Sternenkranz, der für eine Wand aus Feuerzungen steht. Fast inselförmig ist so das Paradies der bekannten Welt, der Ökumene, vorgelagert; gleichwohl ist das Paradies mit der Ökumene durch die vier Paradiesflüsse verbunden, die schon in der Genesis genannt sind. Gegenüber im Westen liegt die als Antipoden bezeichnete Insel, die man sich auf der Gegenseite der Kugel zu denken hat. Die rechte Kartenhälfte zeigt die südliche Hemisphäre. Die Begrenzung des Paradieses auf dieser Karte entspricht so dem enzyklopädischen Wissen, wie es auch Isidor und Honorius vertreten. Vergleichbar sind diesbezüglich 21 Hartmut Kugler, »Imago Mundi. Kartographische Skizze und literarische Beschreibung«, in: Mediävistische Komparatistik. Festschrift Franz Josef Worstbrock 60. Geb., hg. Wolfgang Harms, Jan-Dirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele, Bruno Quast, Stuttgart, Leipzig 1997, 77 – 93, hier 82. Kugler untersucht weiterführend die medial bedingte Differenz von Text und Karte hinsichtlich sukzessiver und simultaner Darstellung. 22 Zum Zusammenwirken von Text und Karte siehe auch grundlegend Uwe Ruberg, »Mappae mundi des Mittelalters im Zusammenwirken von Text und Bild. Mit einem Beitrag zur Verbindung von Antikem und Christlichem in der principiumund finis-Thematik auf der Ebstorfkarte«, in: Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. Christel Meier, Uwe Ruberg, Wiesbaden 1980, 550 – 592, hier insb. 551 – 558. 23 Vgl. zur Bedeutung der ›kartographischen Handgreiflichkeit‹ und damit einer geographischen Utopie für die Suche nach dem Paradies als Wunschraum Klaus H. Börner, Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur geographischen Utopie, Frankfurt am Main 1984, 10 ff. 24 Siehe Anna-Dorothee von den Brincken, »Das geographische Weltbild um 1300«, in: dies., Studien zur Universalkartographie des Mittelalters, hg. Thomas Szabó, Göttingen 2008, 324 – 344, hier 331. 25 Sie bezeugt übrigens wie auch andere Kartentypen des Mittelalters, dass man im Mittelalter von der Kugelgestalt der Erde ausging.

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auch die Beatus-Karten, die das Paradies im Osten lokalisieren, meist rechteckig begrenzt einzeichnen und diese Begrenzung zum Teil rot gerandet markieren oder auch rot gezackt als Feuerwand26 wiedergeben. Demgegenüber zeigen die mappae mundi mit T-O-Schema ein deutlich erweitertes Bildprogramm. Nur die bekannte und bewohnbare Welt bildet dieser Kartentyp ab. Die drei Kontinente sind entsprechend der Ostausrichtung dieses Kartentyps nach einem T-Schema geordnet. Asien ist im Osten, über dem T-Balken, doppelt so groß wie Europa bzw. Afrika dargestellt. Umschlossen ist die Ökumene vom Weltenmeer. Die Projektion ist stets nach Osten ausgerichtet, auch weil sich dort das irdische Paradies befindet und damit die Karten eine christliche räumliche Orientierung intendieren; diese verbindet sich zudem mit dem Anfang der Menschheitsgeschichte. Die Karten sind nämlich nicht nur räumliches Weltbild, sondern bieten konzentriertes Weltwissen, das naturkundliche Wissensbestände ebenso umfasst wie auch historische. In diesem Sinne sind die mappae mundi auch Weltchronik, sind die Karten in einer Zeitachse von oben nach unten zu lesen: Vom Anfang der Menschheitsgeschichte bis zu den Räumen der Gegenwart; den Kartenmittelpunkt bildet jeweils Jerusalem als Zeitenwende zwischen Altem und Neuem Testament. Somit ist für die im westlichen Europa hergestellten Karten nicht der eigene Standort, sondern der historisch und heilsgeschichtlich bedeutsame, aber ferne Ort gewählt. Die mappae mundi zeigen das Paradies als geographischen Ort im Osten; entweder ist es als Paradies bezeichnet27 oder es ist durch die ikonographische Ausgestaltung bildlich so konkretisiert, dass es als solches auch erkennbar ist, wie z. B. auf der Londoner Psalterkarte aus dem 13. Jahrhundert.28 Die in einer kleinformatigen Psalterhandschrift überlieferte Karte zeigt Adam und Eva im Paradies, genauer ihre Köpfe und den Paradiesbaum. Aus dem Paradies strömen die vier Paradiesflüsse. Das Paradies ist umgeben von einem doppelten Rand, der entweder ein Gebirge darstellen kann oder aber eine Feuerwand imaginieren lässt. Die kreisrunde Form, der Doppelkreis, korrespondiert mit der Darstellung Jerusalems im Kartenmittelpunkt. Im Vergleich dazu ist die Darstellung des Paradieses auf der HerefordKarte (Abbildung 2) vom Ende des 13. Jahrhunderts (1276 – 1283) um wichtige Details reicher; auch ist die Karte aus der Kathedrale von Hereford mit einem Durchmesser von 132 cm im Kartenkreis deutlich größer. Sie gehört 26 Siehe z. B. Tafel 13 in von den Brincken, Studien zur Universalkartographie, oder weitere Beispiele bei Scafi, Mapping Paradise, Plate 3a und 3b. 27 Siehe z. B. Scafi, Mapping Paradise, Fig. 7.2 und Fig. 7.3. 28 Abbildung siehe z. B. Scafi, Mapping Paradise, Plate 8.

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zu den wenigen großformatigen noch erhaltenen Weltkarten.29 Das Paradies ist als Insel im Weltenmeer eingezeichnet30, zusätzlich begrenzt durch einen Befestigungsring, der schwarz markiert und zudem von einem roten Feuerwall umschlossen ist. Im Paradies befinden sich Adam und Eva, beide nackt, links Adam den Apfel essend mit der rechten Hand und seine Scham bedeckend mit der linken. Eva nimmt mit ihrer rechten Hand den Apfel von der Schlange entgegen, die sich um den Baum wickelt. Adam und Eva sind namentlich gekennzeichnet wie auch die vier Paradiesflüsse eufrates, tigris, phison und gion. Außerdem ist ein Paradiestor dargestellt und beschriftet: para-diß (rote Schrift) porte (schwarze Schrift). Auf dem Festland ist die Szene der Vertreibung aus dem Paradies (expulsio) dargestellt, mit dem Cherub sowie Adam und Eva, beide sind unbekleidet.31 Die erste Bildsignatur erzählt den Sündenfall, die zweite die Vertreibung aus dem Paradies. Raum und szenische Bewegung im Raum sind so in die Erzählung des historischen Ereignisses eingebunden: Es ist die illustrierte Erzählung vom verlorenen Paradies. Umso mehr Beachtung verdient das gemauerte Tor in Bild und Schrift. Über dem Kreisrund der Welt, genau über dem Paradies ist das Jüngste Gericht dargestellt, damit auch die Vision des Zugangs in eine Himmlische Stätte. Die beiden großen Eingangssäulen stehen exakt über der Paradiespforte; in dieser architektonischen Anordnung indiziert sie auch den ›Rück‹-Weg in ein neues ›Paradies‹. Auch das folgende Kartenbeispiel, die Ebstorfer Weltkarte (Abbildung 3), begrenzt das Paradies mit Mauer und Pforte. Die Datierung ist umstritten; vieles deutet auf eine Entstehungszeit um 1300 hin.32 Mit einem Format von 3,58 m Höhe und 3,56 m Breite ist diese Karte aus dem Kloster Ebstorf bei Lüneburg die größte bekannte Weltkarte, wenn auch nur noch in Kopie erhalten. Diese mappa mundi verbindet in ihrem Konzept Text und Bild sowohl innerhalb der Kreisprojektion als auch durch die am Rand angelegten, den Karteninhalt ergänzenden Außenlegenden.33 Somit lässt sich an 29 Ausführlich kommentierte Ausgabe zur Hereford-Karte: Scott D. Westrem, The Hereford Map. A transcription and translation of the legends with commentary, Turnhout 2001. 30 Die runde Form des Paradieses korrespondiert auch hier mit der runden Form der Jerusalem-Darstellung. 31 Anders übrigens im Text der Genesis 3, 21 – dort macht Gott den Menschen noch Kleider aus Fell. 32 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. Hartmut Kugler, Bd. I: Atlas, Bd. II: Untersuchungen und Kommentar, Berlin 2007. Zur Datierungsfrage siehe Bd. II, 69. 33 Siehe dazu auch ausführlich Bd. II, 48 – 60. Es gibt keine eindeutig identifizierbare Kartenvorlage; für die Legendentexte sind die Hauptquellen Isidors Etymologiae und Honorius’ Imago Mundi. Als weitere Quellen können kartographische Handbücher vermutet werden.

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dieser Stelle auch die ikonographische Darstellung des Paradieses im Vergleich zu den auf der Karte zitierten Quellen analysieren. Zunächst zur Bildsignatur: Das Paradies befindet sich nicht genau im Osten, sondern ist nach Westen verschoben, denn das Antlitz Christi ist in den Kartenkreis integriert, wie auch die Hände und Füße. So ist Christus als kosmischer Schöpfer ausgewiesen und zugleich die Welt als Körper Christi gestaltet.34 Im Paradies sind zwei Paradies-Bäume, der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens, eingezeichnet, ebenso die vier Paradiesflüsse, dazu Adam und Eva sowie die Schlange. Begrenzt wird das Paradies durch einen Gebirgszug. Auf der linken Seite ist außerdem eine Mauer bzw. das Tor in einer Mauer zu sehen.35 Die viereckige Form des Paradieses korrespondiert mit der Form der Stadt Jerusalem. Der Text in der Außenlegende gibt die Paradiesbeschreibung aus Isidors Etymologiae wieder, das heißt die Vorstellung von Feuerwand und Cherub zur Bewachung. Paradysus locus in ultimis orientis partibus constitutus, cuius vocabulum ex Greco in Latinum vertitur Ortus, Hebraice Eden dicitur, quod in nostra lingua delicie interpretatur. [… ] Cuius loci aditus post peccatum hominis interclusus est; septus undique romphea, id est muro igneo, ita ut eius celo pene iungatur incendium. Cherubin quoque, id est anglorum presidium, arcendis spiritibus malis super rompheam flagrantem ordinatum est, ut homines flamme angelos vero malos angeli boni submoveant, ne cui carni vel spiritui transgressionis aditus Paradysi pateat.36

Die kartographische Umsetzung mit Gebirge und gemauertem Tor hat also keine Korrespondenz in der zitierten Quelle auf der Karte.37 Und auch der 34 Vgl. dazu ausführlich Christine Ungruh, »Paradies und vera icon. Kriterien für die Bildkomposition der Ebstorfer Weltkarte«, in: Kloster und Bildung im Mittelalter, hg. Nathalie Kruppa, Jürgen Wilke, Göttingen 2006, 301 – 329. 35 Vgl. zu Paradiessignatur und Paradiestexten der Ebstorfkarte auch Ruberg, Mappae mundi, 574 – 579; 575 wird allerdings die Paradiesbegrenzung nur mit Bezug auf den Gebirgszug thematisiert. 36 Die Ebstorfer Weltkarte, Bd. I: Atlas, 20. Übersetzung Kugler: »Das Paradies ist ein Ort im äußersten Orient. Das Wort kommt aus dem Griechischen und heißt auf Lateinisch ›Garten‹ (›ortus‹), auf Hebräisch ›Eden‹, was in unserer Sprache ›Freude‹ meint. [ …]. Der Zugang zu diesem Ort ist seit dem Sündenfall des Menschen versperrt. Auf allen Seiten ist er von einer Wehrmauer, einem Feuerwall umgeben, und zwar so, dass die Flammen fast bis zum Himmel reichen. Auch ist der Cherubim, das ist der oberste Engelschor, zur Abwehr böser Geister über dem glühenden Wall abgeordnet. So stehen den Menschen die Flammen, den bösen Engeln die guten entgegen, so dass weder einem fleischlichen noch einem sündigen geistigen Wesen der Zutritt zum Paradies möglich ist.« 37 Bei Scafi, Mapping Paradise, 151, Fig. 6.18, ist gerade die Umrandung des Paradieses in der Abbildung ausgespart. Arentzen, Imago Mundi Cartographica, 210 sieht in der Differenz von Bild- und Textinhalt ein »konkurriendes Nebeneinander« von Signatur und Legende, ohne den Aspekt der Konkurrenz weitergehend zu bestimmen.

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zweite Text zum Paradies innerhalb der Karte, platziert unterhalb des Christus-Kopfes, gibt dazu keine Hinweise. Die relevante Passage zum Paradies lautet: Asya a regina eiusdem nominis est appellata. Cuius prima regio ab oriente est paradysus, locus videlicet delectabilis et omni amenitate conspicuus, inhabilitabilis hominibus et igneo muro usque ad celum est cinctus.38 Der zitierte Text entspricht weitgehend der Imago Mundi des Honorius Augustodunensis, wie bereits dargelegt eine der wichtigsten Weltbeschreibungen des Mittelalters, Anfang des 12. Jahrhunderts. Das Paradies ist durch beide Texterläuterungen als geographischer, im Osten gelegener, gleichwohl durch den Engelschor, den Cherub, bewachter und durch eine Feuerwand unerreichbarer Ort beschrieben. In der Forschung hat man im Vergleich von scriptura und pictura die fehlende Darstellung von Feuerwand und Cherub betont.39 Hier interessiert aber vielmehr das gegenüber den zitierten Quellen zusätzlich ergänzte Bildelement der Mauer mit dem Tor.40 Denn während Isidor und Honorius auf der Unzugänglichkeit des Paradieses mit der Feuerwand insistieren, suggeriert die ikonographische Darstellung mit Mauer und Tor, es könne doch einen Weg und eine Wegöffnung zum Paradies geben. Diese Paradiesikonographie findet sich bezeichnenderweise auf einem Kartentyp, der anders als die hemisphärische Weltkarte des Lambert oder auch die Beatus-Karten ein mehrschichtiges und deutlich auf Gottes Schöpfungswerk ausgerichtetes Bildprogramm hat. Die Raum / ZeitSynopse ist historisch und heilsgeschichtlich konzipiert, und Gott selbst ist als Schöpfer der Welt präsent. III. Exegetische Tradition Allerdings ist weder in der Genesis noch in den mittelalterlichen Bibelkommentaren41 von einer Paradiesmauer mit Tor die Rede, so auch nicht 38 Die Ebstorfer Weltkarte, Bd. I: Atlas, 36. Übersetzung Kugler: »Asien heißt nach einer Königin desselben Namens. Seine erste Region von Osten her ist das Paradies, ein lieblicher und rundum angenehmer Ort, für Menschen nicht erreichbar und mit einer himmelhohen Feuerwand umgeben.« Kugler übersetzt hier inhabitabilis mit einem Verb der Bewegung: ›nicht erreichbar‹; genauer wäre doch ›nicht bewohnbar‹, denn in diesem Detail unterscheiden sich die Texte. 39 Siehe Rainer Walter, »Der doppelte Paradiestext auf der Ebstorfer Weltkarte«, in: Kloster und Bildung im Mittelalter, hg. Nathalie Kruppa, Jürgen Wilke, Göttingen 2006, 331 – 343, hier 337. 40 Auf mögliche Bezüge zur Miniaturmalerei hinsichtlich der Paradiespforte als ikonographisches Element verweist Ungruh, »Paradies und vera icon«, 306 – 309. 41 Siehe dazu auch in Zusammenhang mit Nikolas von Kues die Feststellung von Rudolf Haubst, »Die erkenntnistheoretische und mystische Bedeutung der ›Mauer der Koinzidenz‹«, MFCG, 18 (1989), 167 – 195, hier 169: »Doch obwohl sogar schon

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bei den Kirchenvätern Augustinus und Thomas von Aquin, um nur zwei hohe Autoritäten für die Paradiesvorstellung zu nennen. Aurelius Augustinus entscheidet die große Streitfrage seiner Zeit, ob es ein irdisches Paradies gibt und man es als ein historisches verstehen dürfe oder ob es allein allegorisch zu deuten sei, in seinem Werk De Civitate Dei (413 / 426): Quasi propterea non potuerit esse paradisus corporalis, quia potest etiam spiritialis intellegi.42 Mit seiner entschiedenen Folgerung für ein notwendig historisches Verständnis der Paradiesgeschichte und einer allegorisch darauf aufbauenden Deutung wehrt er die Positionen der bloß geistigen Paradiesauslegung ab.43 So setzt sich für das Mittelalter die Auffassung vom irdischen Paradies als geographisch-empirisch existierend durch. In Augustinus’ Exegese der Genesis sind dann die Einheiten des Paradieses – Paradiesflüsse, Baum des Lebens und Baum der Erkenntnis – ebensowohl konkret wie auch allegorisch zu verstehen. Eine Paradiesmauer oder eine andere Form der Begrenzung ist aber an dieser Stelle oder anderen Stellen in Augustinus’ Werken nicht erwähnt.44 Ebensowenig finden sich in der nachfolgenden exegetischen Tradition Hinweise bei Thomas von Aquin. In seiner (1267 / 1273 entstandenen) Summa Theologica, Quaestio CII »Über den Wohnort des ersten Menschen, das Paradies« und den dort enthaltenen Argumentationen zur Frage, ob das Paradies ein körperlicher Ort sei (Utrum paradisus sit locus corporeus45) ist eine Paradiesmauer (auch eine Pforte) nicht thematisiert. Mit Augustinus hält Thomas von Aquin die Körperlichkeit des Paradieses für grundlegend; das die indogermanische Sprachwurzel des Wortes παράδεισος, mit dem die Septuaginta das hebräische Wort [… ] das primär Garten besagt, im biblischen Paradiesbericht (Gen 2,8) übersetzt, geradezu ›Umwallung, Umzäunung‹, sowie ›den mit Erd- oder Steinwall umgebenen Lustgarten‹ bedeutet, suchte ich in den mittelalterlichen BibelKommentaren den in De visione Dei so oft gebrauchten Ausdruck ›murus paradisi‹ bisher vergebens.« Es fällt auch auf, dass Isidor in seiner Paradies-Etymologie gerade die Vorstellung einer Begrenzung des Gartens nicht thematisiert. Weder mit Eden noch mit Paradies scheint eine Mauer konnotiert. Das Fehlen einer Paradiesmauer in der Paradiesikonographie der exegetischen Literatur zeigt auch die Durchsicht der kenntnisreichen Untersuchung von Reinhold R. Grimm, Paradisus coelestis – Paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland um 1200, München 1997. 42 Textausgabe: Augustine, The City of God against the Pagans. Books XII – XV with an english translation by Philip Levine, Cambridge / London 1966, hier Buch XIII, Cap. XXI. 43 Siehe dazu ausführlich Grimm, Paradisus coelestis – Paradisus terrestris, 55 – 71. 44 Siehe 64. 45 Textausgabe: Thomas von Aquin, Summa theologica. Schriftleitung P. Heinrich Maria Christmann O.P., vollst., ungek. deutsch-lateinische Ausg., München / Heidelberg 1941. Quaestio CII, Articulus I.

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Paradies ist ein geschichtlicher Ort, erst darauf kann eine allegorische Ausdeutung folgen: in omnibus autem quae sic Scriptura tradit, est pro fundamento tenenda veritas historiae, et desuper spirituales expositiones fabricandae.46 Thomas folgt explizit Isidor hinsichtlich der Lage des Paradieses im Osten; er modifiziert Bedas Hinweis auf die Lage des Paradieses in der Mondregion als Verweis auf die sonst für Himmelskörper typische klimatische Ausgewogenheit, die im Paradies herrscht, und nimmt als mögliche Lage des Paradieses eine Gegend mit gemäßigtem Klima unter dem Äquator oder anderswo an.47 In Entgegnung auf die Unauffindbarkeit des Paradieses als Argument gegen die Existenz des Paradieses führt Thomas von Aquin eben seine Unzugänglichkeit an und nennt als potenzielle Hindernisse zum Paradies: »Berge oder Meere oder einen heißen Landstrich, den wir nicht durchqueren können«.48 Die Vorstellung von Mauer und Pforte ist also nicht durch die Kirchenväter sanktioniert, findet sich nicht in der exegetischen Literatur. Zwei Tendenzen fallen auf: 1. Eine neben der Feuerwand kumulierende Nennung von Hindernissen, die bekräftigen, dass nach dem Sündenfall das Paradies für den Menschen verloren und nicht mehr erreichbar ist, jede Annäherung scheitern muss. 2. Für die auf den Karten sichtbare Umschließung des Paradieses gibt es keine einheitliche Bildsignatur;49 die Begrenzung des Paradieses ist darstellbar als Feuerwand, als Gebirge, als Umschließung durch Wasser oder allgemein kreisförmige oder auch rechteckige Umrandung50. Zudem findet sich auf der Hereford- und auf der Ebstorfer Karte eine nicht in Paradiesbeschreibungen belegte Vorstellung der Begrenzung durch eine Mauer aus Stein mit Paradiestor, für die keine kirchlichen Autoritäten zitiert werden können.51 Ibid. Ibid.: »Das Wort Bedas ist falsch, wenn man es im Sinne einer feststellbaren Lage versteht. Die Bemerkung, es reiche bis zur Mondregion, braucht man aber nicht im Sinne einer hohen Lage zu verstehen, sondern es kann damit ein Vergleich beabsichtigt sein, weil dort ›eine beständige Ausgeglichenheit des Klimas‹ herrscht, wie Isidor sagt.« 48 Ibid. 49 Vgl. allgemein zu den Paradiesdarstellungen auch Richard Uhden, »Zur Herkunft und Systematik der mittelalterlichen Weltkarten«, Geographische Zeitschrift 37 (1931), 321 – 340, hier 333. 50 Die Beatus-Karten haben eine rechteckige Umrandung. 51 Sehr vage zur Paradiesmauer bleiben auch die Ausführungen von Alois M. Haas, »Nikolaus’ von Kues Auffassung von der Paradiesmauer. Konzeption und Herkunft eines Denkmusters«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 9 (1996 / 97), 46 47

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IV. Reise- und Visionsliteratur Gleichwohl ist die Paradiesmauer ebenso wie die Paradiespforte ein nur zu bekanntes Motiv in der mittelalterlichen Literatur, beispielsweise im Alexanderroman. Außerdem lässt sich gerade auf den Karten feststellen, wie das Paradies ab dem 13. Jahrhundert von einer gemauerten Begrenzung gänzlich umgeben ist, als ummauerter Garten mit Pforte, ja auch, dass das Paradies sich der Darstellung des Himmlischen Jerusalem annähert.52 Über zweierlei soll nachgedacht werden: Zum einen über die Vorstellungen eines Weges zum Paradies, eines iter ad paradisum53, die sich in der Reise- und Visionsliteratur finden, zum anderen über die Vorstellung einer gemauerten Befestigung, in die eine Paradiespforte eingelassen ist. Eine bekannte Episode aus dem Alexanderroman enthält Alexanders Versuch, das Paradies zu erobern. Mit seinen Leuten fährt er den Euphrat flussaufwärts; am Ende dieses Paradiesflusses müsste das erhoffte Ziel zu finden sein. Nach unendlichen Strapazen gelangt Alexander schließlich an eine sehr hohe, breite Mauer aus Edelsteinen, die er solange umfährt, bis er an ein Tor kommt.54 Das Paradies zeigt sich bewohnt von Seelen und Engelsscharen, die singen. Am Tor erscheint nach langem Klopfen ein alter Mann. Die Begleiter Alexanders fordern im Namen ihres Herrschers, das Singen zu unterlassen und Tribut zu leisten. Als Antwort erhält Alexander eine ausführliche Rede über seinen heillosen Plan, das Paradies erobern zu wollen, über seine Sterblichkeit und Sündhaftigkeit; er bekommt aber auch einen Stein, dessen 293 – 308. Zwar betont Haas, 301, die »Lebendigkeit der Metapher der Paradiesmauer«, doch die angeführten möglichen Herkunftsnachweise sind nicht überzeugend, vgl. 300 u. a. den Hinweis auf die Vorstellung der Feuermauer bei Hrabanus Maurus. Nicht beachtet wird von Haas, in welch entscheidender Differenz zur Feuermauer die Mauer aus Stein mit Pforte steht. Nicht thematisiert wird die Frage der Herkunft der Paradiesmauer bei Walter Haug, »Die Mauer des Paradieses. Zur mystica theologia des Nicolaus Cusanus in ›De visione Dei‹«, Theologische Zeitschrift 45 (1989), Heft 2 / 3: Festschrift für Martin Anton Schmidt zum 70. Geb., 216 – 230. An dieser Stelle muss der Hinweis auf die Paradiesmauer mit Pforte in seiner symbolischen Bedeutung für die Mystik im 15. Jahrhundert genügen und soll gleichzeitig ihre Präsenz auch in der Mystik betonen. 52 Die Mauerdarstellungen lassen sich einerseits in Verbindung bringen mit der Vorstellung des hortus conclusus und mit der Stadtmauer des Himmlischen Jerusalem; beide Vorstellungen scheinen sich auch zu vermischen. 53 Vgl. weiterführend zur Verlagerung der Suche des Paradieses vom Osten in den Westen im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit: Thomas Cramer, »Iter ad Paradisum«, in: Gutenberg und die Neue Welt, hg. Horst Wenzel in Zusammenarbeit mit Friedrich Kitteler, Manfred Schneider, München 1994, 89 – 104. 54 Textausgabe: Pfaffe Lambrecht, Alexanderroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg., übers. u. komm. Elisabeth Lienert, Stuttgart 2007. Straßburger Alexander: vv. 6395 – 6415.

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Bedeutung er in Erfahrung bringen soll. Mit der Rückkehr Alexanders nach Griechenland und der Deutung des Steins, die die Herrschaft Gottes über die Welt beinhaltet und zu Alexanders Bekehrung führt, schließt der Straßburger Alexander, eine Romanfassung aus dem letzten Drittel des 12. Jahrhunderts. Diese Reiseschilderung aus dem Alexanderroman suggeriert in hohem Maße, dass das Paradies ein irdischer Ort und tatsächlich erreichbar ist. Es gibt einen Zugang, ein Tor, und wenn auch Alexander nicht eingelassen wird, so ist es doch für andere Wesen bewohnbar. Einen Hinweis, warum das Paradies durch eine Mauer begrenzt ist, gibt der Text selbst nicht.55 In diesem Zusammenhang ist Mandevilles Reisebeschreibung aus dem 14. Jahrhundert mit ihren Paradiesschilderungen von Interesse.56 Für seine Darstellung der Reisen kompiliert Mandeville verschiedene Quellen und bildet damit auch den Wissensbestand seiner Zeit ab. In seinem Werk finden sich zwei beschriebene Paradiese: ein künstliches, von Zauberhand erschaffenes, und das irdische Paradies. Die Merkmale des falschen Paradieses sind denen des irdischen sehr ähnlich, denn es soll den vorbeikommenden Reisenden als Lockmittel ein paradiesischer Raum vorgetäuscht werden: Dazu zählen die Lage auf einem hohen Berg, der Baumgarten, Quellen, aus denen Milch, Honig und Wein fließen, und nicht zuletzt schöne engelsgleiche junge Damen. Aber auch die Mauer, die eben dieses Paradies umgibt, gehört dazu.57 Wenn Mandeville im Folgenden von verschiedenen Orten im Orient erzählt, kommt in seiner Beschreibung auch das irdische 55 Auffällig anders in wesentlichen Details ist die Paradiesdarstellung in der aus dem 12. Jahrhundert stammenden lateinischen Vorlage Iter ad paradisum: Von Edelsteinmauer und Tor ist nicht Rede, sondern von einer großen Stadtanlage, deren Lehmwände mit Moos bewachsen sind; ebenso wird nicht ein Tor erwähnt, sondern durch das Fenster wird gesprochen. Siehe Textausgabe: Helmut van Thiel (Hg.), »Iter ad Paradisum«, in: Friedrich Pfister, Kleine Schriften zum Alexanderroman, Meisenheim am Glan 1975, 359 – 365, hier 360. Daher ist die Argumentation von Hans Jürgen Scheuer m. E. problematisch, wenn er in der Darstellung der Paradiespforte auf der Hereford-Karte gleichzeitig die Begrenzung von Alexanders Paradieseroberungsansprüchen sieht, denn als Beleg muss er für die Hereford-Karte notwendig die Kenntnis des Straßburger Alexander unterstellen; er übersieht, dass die Paradiespforte in andere Traditionszusammenhänge gehören kann. Siehe Hans Jürgen Scheuer, »Cerebrale Räume. Internalisierte Topographie in der Literatur und Kartographie des 12. / 13. Jahrhunderts (Hereford-Karte, ›Straßburger Alexander‹)«, in: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. Hartmut Böhme, Stuttgart / Wetzlar 2005, 12 – 36, hier bes. 19. Vgl. zum Motiv der mit Moos bewachsenen Wand auch Mandevilles Paradiesbeschreibung ausführlicher Anm. 59. 56 Hier zitiert nach der Textausgabe: Sir John Mandevilles Reisebeschreibung. In deutscher Übersetzung von Michel Velser. Nach der Stuttgarter Papierhandschrift Cod. HB V 86, hg. Eric John Morrall, Berlin 1974. 57 Vgl. 158: umb vahen mit ainer gGtten mur, die was gar sch=n.

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Paradies vor. Damit suggeriert er, dass es eine Station auf seiner Reiseroute sei, obwohl er zugleich betont, er könne diesen Ort nur vom Hörensagen beschreiben, was er auch tut. Es sind wiederum die bekannten Paradiesmerkmale, das heißt die hohe Lage auf einem Berg im Osten58, die vier Paradiesflüsse, die Feuerwand und die Mauer. Das Paradies ist von einer Mauer umschlossen, es weiß allerdings niemand, aus welchem Material die Mauer ist; sie ist von Moos bedeckt, das von den Bäumen herunter wächst, so dass man weder Steine noch Stützen sehen kann.59 Das Paradies ist weder auf dem Wasserweg noch über Land zu erreichen – nur durch Gottes Gnade; der Landweg ist wegen der Wüsten, Berge, Steine und wilden Tiere nicht passierbar, der Weg über die Paradiesflüsse wegen des hohen Gefälles nicht zu bewältigen. Mit Anspielung auf den Versuch großer Herrscher, gemeint ist natürlich Alexander, dorthin zu gelangen, betont der Autor die Unzugänglichkeit des Paradieses für den sterblichen Menschen.60 Auch in der Schilderung Mandevilles zeigt sich wiederum, wie schon im Alexanderroman, eine sehr klare bildliche sowie geographisch geprägte Vorstellung vom Paradies, die den Wunschort konkretisiert, aber auch der Hoffnung auf eine möglichen Weg dorthin, den Hinweis auf die Unzugänglichkeit entgegensetzt. Die Konkretisierung der Paradiesmauer als Edelsteinmauer findet sich ebenfalls in der Visionsliteratur61, in einem Text, der wie der Alexanderroman in das letzte Drittel des 12. Jahrhunderts gehört, in der Visio Tnugdali, in Albers Tundalus.62 Die Reise ist eine Seelenreise, eine peregrinatio animae, die dem irischen Ritter Tundalus während seines dreitägigen Scheintodes zuteil wird. Nach der Hölle gelangt er in verschiedene Jenseitsbereiche; einer dieser Jenseitsbereiche ist mit einer Edelstein-Mauer von unbeschreiblicher Schönheit umgeben; die Steine sind durch Gold miteinander verfugt.63 Der paradiesähnliche Ort scheint nicht beschreibbar, er übertrifft die menschliche Vorstellung in seiner Pracht und seiner Glückseligkeit. Bewohnt wird 165. 166: Das paradyß ist geschlossen in ain mur, es waiß aber niemen wa von die mur syge, wann sie ist gedeckt mit mieß, das von denn b=men wachset, und mag weder stain noch súl gesenhen. 60 167. 61 Vgl. dazu auch den Hinweis im Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. Engelbert Kirschbaum u. a., 8 Bde., Rom / Freiburg / Basel / Wien 1994, Bd. 3, Sp. 376: »[ …] die Gerechten, die mit dem Jüngsten Tag die Einkehr in das himmlische P. erwarten, weilen auf einem blumenreichen Anger, der von einer edelsteingeschmückten Mauer umgrenzt ist (Oenus-Vision).« 62 Textausgabe: Visio Tnugdali. Lateinisch und altdeutsch, hg. Albrecht Wagner, Erlangen 1882, Nachdruck Hildesheim / Zürich / New York 1989. 63 Siehe vv. 1957 – 1965. 58 59

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er von den heiligen Propheten, den 12 Aposteln, den Märtyrern. Dort wird die Seele vom Heiligen Brandan64 begrüßt und erhält von diesem den Segen für ihre weitere Reise. Dies ist nicht von ungefähr ein Verweis auf eine der bekanntesten Reisebeschreibungen des Mittelalters, auf die navigatio des Heiligen Brandan; der irische Abt erfährt auf seiner Schiffreise die Wunder der göttlichen Schöpfung und gelangt auch zu einer Paradies-Insel. Als die Seele diesen Ort der Seligkeit verlässt, mit großer Trauer verlassen muss, verweist der Engel auf das Himmelreich, das denen ohne Sünde sowie denen, die für ihre Sünden gebüßt haben, offen stehe. Damit wird der Bezug zum Himmlischen Jerusalem ganz deutlich. Das Himmlische Jerusalem wird in der Offenbarung des Johannes ausführlich in seiner Anlage beschrieben: Eine Mauer mit 12 Toren, im Viereck angelegt, in der Länge und in der Breite gleich; die Mauer ist aus Jaspis, die Stadt selbst aus Gold und die Grundsteine der Mauer sind von verschiedenen Edelsteinen geschmückt. Wenn in der Vision des Tundalus der paradiesische Jenseitsort geschildert wird, kann also durchaus das zukünftige Himmlische Jerusalem, als Wohnort der Heiligen im Himmelreich Gottes, gemeint sein. Das ehemalige irdische Paradies und das zukünftige Himmlische Jerusalem als neues Paradies sind damit nicht mehr eindeutig zu trennen. Der vergangene paradiesische Ort wandelt sich zum zukünftigen paradiesischen Ort. V. Vom Garten zur Stadt: Paradies und Himmlisches Jerusalem Das Himmlische Jerusalem, als Stadt der Auserwählten, ist in seiner Beschreibung und seiner ikonographischen Darstellung stets eindeutig als Stadt mit Mauer und 12 Toren zu erkennen. Auffällig ist nun, dass sich nicht nur in der literarischen, sondern auch in der ikonographischen Darstellung des irdischen Paradieses zunehmend ›Bausteine‹ des Irdischen und Himmlischen Paradieses verbinden; auch dies lässt sich wiederum an den Kartensignaturen ablesen. Deutlich zeigen sich diese Verschiebungen in der kartographischen Tradition der mappae mundi im 15. Jahrhundert. Ausgewählt sei die EveshamWeltkarte (Abbildung 4a und 4b). Die wohl 1415 in England entstandene Weltkarte65 zeigt das Paradies überdeutlich groß im Osten. Gut zu erkennen sind Adam und Eva, der Paradiesbaum mit Schlange sowie die vier Paradiesflüsse. Die Begrenzung ist markiert mit einer Mauer-Architektur, die 12 Tore andeutet, wenn man die zehn Öffnungen mit einer verdeckten 64 65

Siehe vv. 2033 – 2048. Abtei Evesham, heute College of Arms, London, Größe 94 ´ 46 cm.

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Öffnung und dem Tor im Vordergrund addiert. Die Paradiesmauer korrespondiert so offensichtlich mit der Vorstellung der Stadtmauer des Himmlischen Jerusalem.66 Der Baustil ist der in dieser Zeit übliche spätgotische, in diesem Fall wohl auch als Perpendikularstil zu präzisieren. Überraschend offen und einladend präsentiert sich das Paradies dem Auge des Betrachters – auch im Vergleich zur geschlossenen Stadt Jerusalem. Ein besonders herausragendes Beispiel für die Kombination von Paradies und Himmlischer Stadt dürfte die mappa mundi des Fra Mauro von 1459 sein.67 Die Weltkarte des Fra Mauro (Abbildung 5) steht noch in der Tradition der T-O-Karten, ist aber nicht mehr eine Synopse von Wissensbeständen, auch nicht mehr Universalgeschichte, sondern präzise Universalgeographie. Die hohe geographische Genauigkeit mag auf den ersten Blick nicht einfach zu erkennen sein, weil die Karte gesüdet ist. Damit folgt der Kartograph der arabischen Kartenprojektion. Fra Mauro ist Mönch im Orden der Kamaldulenser in Venedig und ein angesehener Kartograph seiner Zeit, er verfügt über die neuen geographischen Kenntnisse der portugiesischen Seefahrer; so ist zum Beispiel die kontinentale Ausdehnung Afrikas auf seiner Karte eingearbeitet. Auch ist die Zentrierung der Karte auf Jerusalem zugunsten der geographischen Genauigkeit aufgegeben. In Differenz zur kartographischen Tradition ist das Paradies nicht mehr in die Weltdarstellung integriert, sondern außerhalb situiert68, in einer der vier Kartenecken, allerdings geographisch traditionell dem Orient zugeordnet. Im Paradies befindet sich Gott mit Adam und Eva. Der paradiesische Garten ist eingefasst von einer Mauer mit Türmen69, den Eingang bewacht ein Cherub. Die Unzugänglichkeit durch Gebirge und Mauer sind kompositorisch durch Landschaft und Stadtmauer getrennt dargestellt und verbunden 66 Zur Karte vgl. Peter Barber (Hg.), Das Buch der Karten. Meilensteine der Kartografie aus drei Jahrtausenden, Darmstadt 2005, 66. Barber weist darauf hin, dass die Karte im oberen Teil der traditionellen Weltkarten-Illustration mit biblischer Geschichte entspricht und Jerusalem in die Mitte rückt. Allerdings ist der europäische Teil deutlich von einer sehr großen Darstellung Britanniens dominiert. 67 Vgl. dazu auch die Karte des Andreas Walsperger; die gesüdete Weltkarte von 1448 stellt das Paradies als befestigte Stadtanlage dar. Abbildung siehe z. B. Scafi, Mapping Paradise, Plate 13. 68 Siehe dazu Scafi, Mapping Paradise, 239. Er betont zu Recht, dass die Platzierung außerhalb der Weltabbildung nicht bedeutet, dass es außerhalb der Welt liegt. 69 Vorbild für die gotischen Türme könnten die französische Paradiesminiatur des Jean de Limbourg in den Très Riches Heures du Duc de Berry sein, siehe dazu Susy Marcon, »Leonardo Bellini and Fra Mauro’s World Map: the Earthly Paradise«, in: Piero Falchetta, Fra Mauro’s world map. With commentary and Translation of the inscriptions, Turnhout 2006, 137 – 161, hier 160. Marcon argumentiert für Leonardo Bellini als Maler der Paradiesszene, den sie als Fachmann für Miniaturmalerei im Umfeld der Bellini-Werkstatt ausmacht.

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durch die alles umfließenden Paradiesflüsse bzw. das Weltenmeer, wodurch wiederum eine insulare Lage indiziert ist. Besonders aufschlussreich ist nun in diesem Zusammenhang, dass über der bildlichen Darstellung eine ausführliche Legende in italienischer Sprache das Paradies beschreibt. Unter Berufung auf die Autoritäten der Bibelexegese wie Augustinus und Beda und auf den Gelehrten Albertus Magnus stellt der Text das Paradies als tatsächlich existierenden Ort dar, weit entfernt vom menschlichen Erfahrungsraum im Osten situiert.70 Eine Begrenzung ist im Text nicht angeführt, auch keine solche durch Mauer und Pforte. Wie schon bei der Ebstorfer Weltkarte fällt auf, dass die Wissensautoritäten zitiert werden, aber diese referierten Paradieselemente nicht mit der bildlichen Paradiesdarstellung korrespondieren, wenn es um die Begrenzung des paradiesischen Raumes geht. VI. Begrenzung paradiesischer Räume und ihre Grenzüberschreitung Mit diesen Beispielen soll an dieser Stelle zunächst die tour d’horizon beschlossen werden. Das besondere Augenmerk galt der Begrenzung des Paradieses, ganz besonders der Paradiesmauer und der Paradiespforte. Beide Elemente sind weder durch das Alte Testament noch durch die Kirchenlehre autorisiert. Woher beide Elemente stammen, lässt sich bislang nicht klären. Gleichwohl sind sie nachweislich in der Literatur ab dem 12. Jahrhundert und in der Kartographie ab dem 13. Jahrhundert präsent als wichtige Elemente in der Paradiesdarstellung. Vielleicht sind es gerade die spärlichen Angaben, die fehlende Präzisierung in der Genesis, die eine Ausgestaltung der Begrenzung erlauben.71 Dass die Begrenzung die Unerreichbarkeit vorstellt, ist aber nur ein Aspekt; denn durch die Mauer mit Tor ist eine Grenze imaginiert, die nicht nur Ausgang, sondern auch Eingang sein 70 Vgl. die Textwiedergabe bei Falchetta, Fra Mauro’s world map, 729 – 731, hier nur die Anfangpassage: »Del sito del paradiso terrestro. El paradiso de le delicie non solamente ha sentimento spiritual ma etiam quello esser uno luogo ne la terra situado mette sancto Augustino sopra el Genesis et ancora nel libro De Civitate Dei, el qual luogo è molto remoto da la habitation e cognition humana, posto ne le parte oriental segondo la doctrina del sacro doctor Beda per la cui auctorità el maistro da le sentancie tal oppinion aferma, avegna ch’el comentator Alberto Magno nel libro de la natura di luogi metta quello oltra el circulo equinotial, pur ne la region oriental.« 71 Vgl. auch Reinhold R. Grimm, »Das Paradies im Westen«, in: Das ColumbusProjekt. Die Entdeckung Amerikas aus dem Weltbild des Mittelalters, hg. Winfried Wehle, München 1995, 73 – 113, hier 83: »Es kann nicht überraschen, daß die kargen Angaben des biblischen Mythos über die Topographie des Ortes auf Dauer nicht befriedigen konnten.«

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kann. Dem menschlichen Diesseits der Mauer entspricht ein göttliches Jenseits der Mauer. Bis ins 15. Jahrhundert gilt das irdische Paradies als ein real existierender Ort; also ist damit auch eine geographische Realität gemeint. Nur zu verständlich scheint daher das Bestreben, nicht allein die Grenze dieses Ortes zu fassen, sondern auch die Grenzüberschreitung zu wünschen. Dementsprechend dürfte das Weglassen der Feuerwand und ihre ›Ersetzung‹ durch Mauer und Tor Indikator für das transitorische Wunschdenken sein, das sich auch aus der Verheißung eines Himmlischen Paradieses speist, wie es die Offenbarung des Johannes in der Vision des Himmlischen Jerusalem vorgibt. So vermischen sich auch die Umfassungsmauer des Paradieses und die Stadtmauer des Himmlischen Jerusalem. Auf den mittelalterlichen mappae mundi sind das irdische Paradies und die Stadt Jerusalem stets in formal kompositorischer Korrespondenz zueinander konzipiert; während aber die Karten des 13. Jahrhunderts noch deutlich das Paradies als vergangenen Ort und die Stadt Jerusalem als den bedeutenden heilsgeschichtlichen Ort interpretieren und so eine Lektüre von oben nach unten vorgeben, wendet sich mit der zunehmenden Ausgestaltung des irdischen Paradieses als künftiges Himmlisches Jerusalem auch die Lektürerichtung, und zwar nach oben, hin zum zukünftigen Ort. Und je mehr sich die Mauer in ihrer architektonischen Gestaltung der zeitgenössischen Stilrichtung anpasst, wie bei der Evesham-Weltkarte, desto greifbarer wird der paradiesische Wunschort. Dies stellt auch das abschließend letzte Beispiel, die Paradiesdarstellung aus der Schedelschen Weltchronik von 1493, vor.72 Das in Nürnberg gedruckte Geschichtswerk verbindet Bibelgeschichte und Profangeschichte. Reich illustriert, mit über 1800 Holzschnitten ausgestattet sind Text und Bild in Bezug gesetzt. So ist die Paradiesdarstellung nicht nur visualisiert, sondern auch ausführlich durch Text kommentiert. Das Paradies ist jedoch nicht mehr auf der Weltkarte in der Schedelschen Chronik eingezeichnet. Die komprimierte Weltsicht der mittelalterlichen Karte ist ausdifferenziert und segmentiert; die übereinander gelegten Aussageschichten der mittelalterlichen Weltkarte werden freigelegt; die alles umschließende, geschlossene Kreisform der mittelalterlichen Karte wird in unterschiedliche Darstellungsformen aufgelöst, wie geographische Universalkarte mit Ptolomäischer Projektion, Stadtansicht usw. In der Chronik haben Paradiesikonographie und Paradiesbeschreibung ihren Platz im Schöpfungsbericht. Der kolorierte Holzschnitt (Abbildung 6) erzählt die Verführung durch die Schlange, das Essen der verbotenen Frucht und die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies durch den Cherub mit Schwert, ebenso der darunter stehende Text. Die ikono72 Textausgabe: Hartmann Schedel, Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493, eingel. u. komm. Stephan Füssel, Köln 2001.

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graphischen Bildelemente von Mauer und Pforte des Holzschnitts haben im Text keine Entsprechung.73 Auf den nächsten Seiten folgt eine geographische Paradiesbeschreibung mit Bestimmung der Lage im Osten und in Äquatornähe sowie Begrenzung durch Feuermauer und Engel mit Feuerschwert.74 Auf diese folgen längere ebenso geographische wie naturkundliche und historische, auf Autoritäten der Antike und des Mittelalters fundierte Ausführungen zu den Paradiesflüssen75, an die sich ein weiterer Abschnitt anschließt, in dem die lerer der heilligen _chrifft76 sowie ihre Paradiesvorstellungen dargelegt und diskutiert werden. Die zitierten Autoritäten sind (neben Beda, Ambrosius u. a.) die bereits mehrfach erwähnten, nämlich Isidor, Augustinus und Thomas von Aquin. Auffällig detailliert und mehrfach wiederholend wird die günstige klimatische Lage des Paradieses als locus amoenus erörtert.77 Von einer Paradiesmauer und Pforte ist jedoch auch hier nicht die Rede, vielmehr endet der Textabschnitt mit einer so schon bei Isidor gegebenen Paradiesvorstellung: Aber der augang di_er _tat i_t nach des men/_che _Fnd ver_loßen v] allenthalb mit einer fewrin mawr vmb_chrenckt al_o da die _chier an den himel rFrt. vnd cherubin das i_t der engel be/_chutzung i_t auf der _elben mawrn geordent den b=_en gey_ten zeweeren das die flammen die menschen vnd die gutten engel die b=ßen von dannen treyben _Fllen. al_o das keinem flei_ch nach gayst der Fbertrettung. di_er augang des paradis ge=ffent _oll _ein.78

Mit der Schedelschen Weltchronik wird so nochmals eine ganz wichtige Differenz markiert: Auffällig bleibt, dass gerade dort, wo Text und Bild das Paradies beschreiben, die Vorstellungen in Text und Bild deutlich differieren. Das gilt für die Ebstorfer Weltkarte ebenso für die Weltkarte des Fra Mauro wie auch für die Schedelsche Weltchronik, die das gesamte Wissen ihrer Zeit versammelt. Das heißt, die gelehrten enzyklopädischen und exegetischen Wissenstexte des Mittelalters tradieren keine Vorstellung von Mauer und Pforte als Begrenzung; sie bestätigen vielmehr permanent die geographische Existenz des im fernen Osten gelegenen Paradieses und seine Unzugänglichkeit durch mit den aus der Genesis bekannten Elementen von Siehe Blatt VII recto. Ibid. Der Text ist deutlich angelehnt an Isidors Etymologiae. 75 Blatt VII recto – VII verso. In Verbindung mit der geographischen Einordnung der Flüsse erfolgt auch die Beschreibung der Meere. Insgesamt ist die Passage deutlich naturkundlich ausgerichtet, ohne allegorische Ausdeutung. 76 Blatt VIII recto – VIII verso. 77 Blatt VIII verso: vnd das paradis i_t die allerba_tgeme__ig_t _tat _chier vnder der wag vnd dem wider gelegen in dem aufgang. [ …] do i_t der aller_ubtil_t v] vnaer_t=rt lufft vnd alweg gleiche nacht. 78 Ibid. 73 74

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Cherub und Feuerschwert bzw. durch andere natürliche Hindernisse wie Feuerwand, hohe Lage, Berge, Wälder, Wüsten. Die mittelalterliche Kartographie wie auch die Reise- und Visionsliteratur hingegen favorisieren wiederum die Paradiesmauer mit Tor.79 Auf diese Weise ist die alttestamentliche grundsätzliche Unzugänglichkeit des Paradieses im Medium von Literatur und Karte durch eine bildlich konkrete Vorstellung der Begrenzung modifiziert, so dass sich mit der Pforte in der Mauer auch eine Hintertür als Weg ins Paradies öffnet.

79 Damit entsteht eine durchaus widersprüchliche Konstruktion: Mauer und Pforte sind nicht natürliche Grenzen, sondern vom Mensch entworfene und gemachte Begrenzungen. Offen muss bleiben, ob sie als von Gottes Hand geschaffen gedacht sind.

wort unde wîse. Formen des sangbaren Verses in der deutschen Literatur des Mittelalters Von Florian Kragl Die folgenden Seiten verstehen sich als Plädoyer für eine – erneute – intensivere Auseinandersetzung der germanistischen Mediävistik mit der Frage nach der ›Form‹ der ›alten‹ Texte, wozu in einem weiteren Zusammenhang auch die Fragen nach Ästhetik und Stil gehören. Im Zentrum des Plädoyers werden solche Formphänomene stehen, die sich als Zusammenspiel von Musik und Text – als ›Musik-Texte‹ – beschreiben lassen, weil sich die Frage nach der Form eines musikalisch-literarischen ›Textes‹ nicht kurzerhand ins Prosaische ›weglesen‹ lässt. Nach kurzen einleitenden Notizen zum Form-Begriff (I.) sowie ausführlicheren zur Geschichte (und vor allem: zum Untergang) des Paradigmas in der mediävistischen Forschung (II.) werden programmatisch drei Forschungsschwerpunkte vorgeschlagen (III.), denen sich eine zukünftige Form-Forschung zu widmen hätte; sie ließen sich mit den Schlagworten ›Form-Analyse‹ (1), ›Theorie der Form‹ (2) und ›Form-Semantik‹ (3) fassen. Den Schluss der Studie bildet ein Fallbeispiel (IV.) zum ersten vorgeschlagenen Schwerpunkt – der ›Form-Analyse‹ –, da dessen Ausmaße sich, anders als bei einer Theorie oder Semantik der Form, nur ungenügend in Abstraktion abstecken lassen.1 I. Vorbemerkung: Der Begriff ›Form‹ Der literaturwissenschaftliche ›Form‹-Begriff steht in einer doppelten Opposition: Zum einen meint er, in Differenz zu ›Materie‹, eine ›geformte 1 Zu danken habe ich Uta Störmer-Caysa, Stephan Jolie (beide Mainz), Andreas Haug (Würzburg) und Manuel Braun (Stuttgart) für anregende Diskussionen zu Form-Fragen der mittelalterlichen Literatur. Der vorliegende Aufsatz exponiert Ideen und Überzeugungen, die aus diesen Arbeitsgesprächen heraus entstanden sind. Es ist angedacht, in der näheren Zukunft einige der hier angesprochenen Bereiche, auf Tagungen und in Forschungsprojekten, einem intensiveren fachlichen Diskurs zuzuführen. Bei der bibliographischen Recherche hat mich Elisabeth Martschini (Wien) tatkräftig unterstützt. Auch ihr meinen herzlichen Dank.

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Materie‹.2 ›Form‹ kann dann beispielsweise ein Epos sein, das einem althergebrachten Stoff (einer matière) eine konkrete poetische Gestalt gibt, oder ein Gedicht, das ein Thema ›formt‹. Dominant ist diese Form / Materie-Problematik vor allem in der philosophischen und theologischen Diskussion seit der Antike (z. B. Aristoteles’ Hylemorphismus3, der christliche Schöpfergott4). Die konzeptuelle Schwierigkeit dieses ›Form‹-Begriffs liegt darin, dass jede Materie für sich schon als Form begriffen werden kann, sodass die Differenz zwischen Materie und Form streng genommen aporetisch, die Fügung ›geformte Materie‹ zum formallogischen Pleonasmus wird. Zum anderen bezeichnet Form, im Unterschied zu ›Inhalt‹, nicht unmittelbar semantisierte Elemente.5 (Damit siedeln Form / Inhalt auf einer anderen hierarchischen Ebene als Form / Materie, insofern Form / Inhalt Teilaspekte einer ›geformten Materie‹ benennen, umgekehrt ›Form‹ im Sinne von ›geformter Materie‹ inhaltliche und – im engeren Sinne – ›formale‹ Aspekte einschließt.) In der Regel geht es bei dieser ›Form‹, die nicht ›Inhalt‹ ist, um abstrakte Strukturmuster. Im Gegensatz zum Form / Materie-Begriff mangelt es diesem Form / Inhalt-Begriff an konzeptueller Brisanz: Die Opposition von Inhalt und Form ist eine stabile und – anders als Form / Materie – nicht aus sich heraus dekonstruierbar, weil unter ›Form‹ genau das gefasst wird, was Nicht-Inhalt ist. Schwierig wird diese Form / Inhalt-Konzeption erst im konkreten Fall, wenn ein Ganzes in inhaltliche und formale Aspekte seziert wird. Diese Sektionen existieren nicht a priori, sondern sind konventionell. In der Literaturwissenschaft haben sich hier seit jeher Konventionen ausgebildet, die unter ›Form‹ Phänomene wie Versmaß, Strophenbau, Abschnittsgliederung etc. verstehen: Es sind im Wesentlichen jene Eigenschaften literarischer Texte, die sich mittels formelhafter Zeichensprachen analytisch abbilden lassen. Dass diese Sektionen trotz (oder: gerade wegen) ihrer Konventionalität auch variabel sind, zeigen Phänomene wie semantisierte ›Formen‹ (z. B. elegische Distichen) oder formelhaft gewordene ›Inhalte‹ (z. B. topische Wendungen). Das schmälert aber nicht die heuristische Funktionalität der unter ›Form‹ subsumierten analytischen Deskriptoren. Es versteht sich, dass diese Kontrastierung zweier ›Form‹-Begriffe nicht mehr als eine erste, vorläufige, holzschnittartige Begriffsklärung sein kann. Städtke, »Form«, 463. Bormann, »Form und Materie«, 978 – 985; Patzig, »Form«, 992; Städtke, »Form«, 466 ff. 4 Bormann, »Form und Materie«, 986 ff. 5 Schildknecht, »Form«, 612. 2 3

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Wichtig ist sie, weil erst auf dieser Basis eine Bestimmung des Untertitels möglich ist: Mit ›Formen des sangbaren Verses in der deutschen Literatur des Mittelalters‹ wird auf den zweiten genannten ›Form‹-Begriff – als Differenzbegriff zu ›Inhalt‹ – abgehoben. Das schlägt sich in der Begriffsverwendung nieder: Wenn auf den folgenden Seiten ohne nähere Bestimmung von ›Form‹ gesprochen wird, sind damit stets jene nicht unmittelbar semantisierten, abstrakten Strukturmuster gemeint, die – zumindest vorderhand – Nicht-Inhalt sind.

II. Forschungsgeschichte und Forschungsstand Während in der philosophischen und theologischen Diskussion seit der Antike der erste (und umfassendere) ›Form‹-Begriff der prägende war und ist, dominierte in der Fachdiskussion der germanistischen Mediävistik wenigstens bis ins mittlere 20. Jahrhundert der zweite, enger gefasste: ›Form‹ ist dann etwa – wie bereits angedeutet – ein Versmaß, eine Reimstruktur, die Melodie eines Minnelieds, Sangspruchs, Leichs, auch eines strophischen Epos. Damit werden Aspekte der deutschen Literatur in den Blick genommen – es ließe sich auch von ›Klang‹ sprechen –, die mehr sind als bloßes Beiwerk: Eine Literaturwelt, die literarische Texte fast ausschließlich in gebundener Sprache kennt, in der ein erheblicher Teil der literarischen Texte gesungen vorgetragen wurde, legt offenbar Wert auf eine spezifische ›formale‹ Ästhetik, deren Wirkung bei einer konkreten Aufführung eines Textes kaum überschätzt werden kann.6 Bei aller – von Johann Friedrich Herbart initiierten7 – analytischen Trennung von ›Form‹ und ›Inhalt‹8 ist schließlich immer im Auge zu behalten, dass die Wahrnehmung notwendig eine holistische ist,9 die sich, und sei sie noch so inhaltsfixiert, den formalen Qualitäten, selbst wenn sie es wollte, nie entziehen kann. 6 Darauf hat in jüngster Zeit wiederholt Manuel Braun hingewiesen: Braun, »Kristallworte«; Braun, Spiel. 7 Vgl. Schildknecht, »Form«, 614: »Mit Herbart wird die Form dann vom Gehalt gelöst und streng von diesem getrennt. Damit ist die Ästhetik des 19. Jhs. in ihrer Ausrichtung auf das Verhältnis von Form und Inhalt sowie die damit verbundene Auseinandersetzung zwischen ›Formalisten‹ und ›Gehaltsästhetikern‹ begründet.« 8 Saran, Verslehre: »Wenn der Verstheoretiker nicht Stilistik treibt, nimmt er dem Vers gegenüber den Standpunkt eines Ausländers ein, der Verse anhört, ohne die Sprache der Verse zu verstehen. Die Bedeutungen der Worte und Sätze kommen für ihn nur insoweit in Betracht, als sie ihm helfen, sich in der Schallmasse zurechtzufinden und ihre Struktur zu begreifen.« (1 f.). 9 Ein Umstand, der gerade auch von der musikwissenschaftlichen Formforschung betont wird; vgl. Whittall, »Form«, 93.

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Es nimmt von daher nicht wunder, dass die Erforschung dieser Literatur seit ihren Anfängen im frühen 19. Jahrhundert von formalen Fragestellungen geprägt war. Virulent waren diese insbesondere bei der Frage adäquater Editionen der ›alten‹ Texte. Was Karl Lachmann mit seinen maßgeblichen Editionen in praxi als ›Normalmittelhochdeutsch‹ entwickelt hat,10 ist zuallererst formalen Prämissen geschuldet: Reinheit der Reime und Regelmäßigkeit der metrischen Gestaltung werden zu editorischen Prinzipien. Man ist heute längst davon abgekommen, die mittelhochdeutschen Texte auf diese Weise in ein ästhetisches Korsett zu zwängen, das die mittelalterlichen Handschriften (und wohl, vor ihnen, die mittelalterliche Literatur) nie mit der von Lachmann imaginierten Stringenz getragen haben. Bemerkenswert aber bleibt, wie leicht es Lachmann dennoch in einigen Fällen (Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach) gelingen konnte, sich die Texte anzuverwandeln. Hätten er und seine Nachfolger nicht prinzipiell auf etwas Wesentliches gezielt, wären ihre Anliegen viel eher gescheitert.11 Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte und auch die Intensität der Formforschung zur, wie es hieß, ›altdeutschen‹ Literatur des 8. bis 15. Jahrhunderts im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auszubreiten. Man würde nur einen Gemeinplatz austreten.12 Es mag der Hinweis auf die Arbeiten von Andreas Heusler genügen, dessen Versgeschichte13 einen bis heute nachwirkenden Meilenstein der formanalytischen Bemühungen um die alt- und mittelhochdeutsche Literatur darstellt.14 Einen skurrilen und Ganz, »Lachmann«. Man sieht dies am deutlichsten an jenen Fällen, wo formale Ebenmäßigkeit nur um den Preis absurder Überlieferungsferne zu haben war, etwa an den DietrichepikEditionen des 19. Jahrhunderts (z. B. im Deutschen Heldenbuch, 1866 – 1873), an Liechtensteins Eilhart-Ausgabe oder an Bartschs Ovid-Rekonstruktion zu Albrecht von Halberstadt. Andere frühe Editoren verzweifelten angesichts der unüberbrückbaren Diskrepanz zwischen Editionswollen und Überlieferungsrealität – z. B. Scholl bei Heinrichs von dem Türlin Crône (ed. Scholl 1852, V ff.). 12 Vgl. etwa den Versuch, Literaturgeschichte als Formgeschichte zu beschreiben, bei Böckmann, Formgeschichte. 13 Heusler, Versgeschichte. 14 Bedauert Paul in der 2. Aufl. seiner Deutschen Metrik (1938) noch die s. E. nicht ausreichende Beachtung von Heuslers Deutscher Versgeschichte (Paul, Glier, Deutsche Metrik, 5), so kann seine Nachfolgerin Glier in der 4. Aufl. feststellen: »An Heusler orientieren sich auch heute noch – in Nachfolge oder Kritik – mehr oder minder alle Untersuchungen über den deutschen Vers, mögen sie nun Einzelfragen aufgreifen oder umfassendere historische Darstellungen versuchen« (Paul, Glier, Deutsche Metrik, 6). Dabei ist es geblieben: »So ist zu bemerken, daß kaum eines der gängigen jüngeren Manuale in mehr oder minder deutlicher Form das Urteil versäumt, man müsse einem Andreas Heusler kein Wort glauben, aber man könne seine 10 11

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heute undenkbaren Höhepunkt haben diese Bemühungen im erbitterten Streit um den frühmittelhochdeutschen Vers zwischen Friedrich Maurer und Werner Schröder gefunden.15 Für die Formulierung zukünftiger Forschungsfragen ist wichtiger, auf welchem Stand und aus welchen Gründen diese Forschungstradition im mittleren 20. Jahrhundert – trotz ambitionierter Projekte wie den »Schriften und Quellen zur Versgeschichte«16 – nach und nach zum Erliegen kam bzw. inwieweit die Formforschung in andere Interessensgebiete ausgelagert wurde. Das lässt sich hier nur exemplarisch darstellen. Beispiel seien die Bemühungen um die (metrische und rhythmische) Zeitgestalt der mit Melodie überlieferten Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts: Zentral war das Anliegen, der (freilich ohnehin spärlichen) Überlieferung überhaupt wieder eine Zeitgestalt zu geben: Mittelalterliche Melodienotate geben keine eindeutigen, messbaren Informationen zum rhythmischen Verlauf. Auf verschiedene Weise – und z. T. begleitet von heftigen Kontroversen – hat man sich bemüht, das Verlorene zu rekonstruieren, um den ›alten‹ Melodien, schon durch eine aktualisierende Transkription, eine Gestalt ähnlich jener zu geben, die man aus modernen Liederbüchern kannte,17 auch Lehre gleichwohl getrost anwenden, weil viel Besseres nicht bereitstehe.« (März, »Zwischen Zählen und Schwärmen«, 318). Und weiter: »[ …] Heuslers drei Bände über den Vers im Deutschen stellen sich als der Samowar dar, aus dem immer dünnerer Aufguß rinnt. Der die deutsche Metrik lange Zeit beherrschende Heuslersche Taktbegriff ist zu einer so zitablen wie jederzeit zurückgewiesenen Instanz geworden. Ersetzt wurden Heuslers Theorie und Geschichtsdarstellungen nie.« (ebd.). Beliebig herausgegriffene Beispiele für neuere Einführungen mit deutlichem HeuslerBezug wären etwa – ohne dass man über sie das boshafte März-Urteil sprechen müsste – Krämer, »Metrik« oder Gert Hübner, Ältere deutsche Literatur, UTB 2766: Literaturwissenschaft, Tübingen (u. a.) 2006, 162 – 182. 15 In seiner Rezension im Aufsatzformat der ersten beiden Bände von Friedrich Maurers Ausgabe der Religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts, nach ihren Formen besprochen (ges. 3 Bde., Tübingen 1964 – 1970) ätzt Werner Schröder: »Verwunderlich ist schon, daß Maurer [ …] von ›etwa 180 Abschnitten‹ spricht, während er tatsächlich in 181 gliedert.« (»Zu Friedrich Maurers Neuedition der deutschen religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur [T] 88 [1967], 249 – 284, hier 264). Christian Wagenknecht hat diese Skurrilität der Fachgeschichte an den Anfang seines ›SchofelArchivs‹ gestellt: http://wwwuser.gwdg.de/~cwagenk/schofel.htm (27. 02. 2009). 16 1966 bis 1976 erschienen sechs Bände in der von Karl Bertau und Werner Schröder bei Fink in München herausgegebenen Reihe, darunter Georg Baeseckes Kleine metrische Schriften (nebst ausgewählten Stücken seines Briefwechsels mit Andreas Heusler, hg. W. Sch. 1968) sowie Bruno Könekes Untersuchungen zum frühmittelhochdeutschen Versbau (›Erinnerung an den Tod‹, ›Priesterleben‹, Rolandslied, ›Strassburger Alexander‹) von 1976. 17 Z. B. Moser, Müller-Blattau, Deutsche Lieder.

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um sie wieder sangbar zu machen.18 Wichtig für den gegenständlichen Zusammenhang ist, dass dabei fast ausschließlich formale Fragen, in erster Linie nach der gegenseitigen Bedingtheit von Textmetrik und musikalischer Zeitgestalt, verhandelt wurden, poetologische und interpretierende Ansätze aber außen vor blieben.19 Es dürfte ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren gewesen sein, das formorientierten Zugriffen auf die mittelalterliche Literatur, beginnend wohl mit den späten 1960er Jahren20, die Legitimation entzogen hat. Maßgeblich wird hier das neue sozialgeschichtliche Paradigma gewesen sein,21 mit dem Disziplinen wie die Germanistik auf den enorm gestiegenen gesellschaftlichen Rechtfertigungsdruck reagiert haben. Aber auch ›systemimmanente‹ Faktoren haben die Beschäftigung mit der Form ›alter‹ Texte vor neue Aufgaben gestellt: beginnende Zweifel22 an der zuvor gesuchten Regelmäßigkeit und Normiertheit der ›alten‹ Texte, am überbordenden Rekonstruktionsoptimismus der älteren Forschung sowie an der Schriftgebundenheit mittelalterlicher Überlieferung,23 in einem weiteren Sinne der Verlust des Glaubens an ›fertige‹ (formale und andere) Analysen und Interpretationen. Sie konfrontierten zum einen – gipfelnd in der ›New Philology‹ genannten Bewegung – die Editionsphilologie zusehends mit neuen Aufgaben und machten schon durch dieses Hinterfragen der greifbaren Text18 Geprägt davon sind die Melodieausgaben dieser Zeit, z. B. Jammers, Ausgewählte Melodien und Taylor, Melodien der weltlichen Lieder. – Überzeugend dekonstruiert hat diese Verfahren Kippenberg, Rhythmus. 19 Z. B. Taylor, »Zur Übertragung«. 20 Während Hoffmann in der 1. Aufl. seiner Altdeutschen Metrik (1967) noch an einen Aufschwung der Forschung glaubt, erklärt er im Vorwort der 2. Aufl., seither sei »keine grundlegend neue Konzeption der deutschen Metrik vorgelegt worden« (Hoffmann, Metrik, VI). Breuer meint, bis 1965 sei Metrik als »besonders boshaftes Instrument der ›Repression‹« (Breuer, Deutsche Metrik, 11) empfunden, gelehrt und erforscht, danach jedoch von inhaltlichen Fragestellungen verdrängt und schließlich verachtet worden (Breuer, Deutsche Metrik, 12). Diese Entwicklung der Forschung spiegelt wohl auch Tervoorens Rechtfertigung seiner Minimalmetrik, die notwendig sei, weil Studierende um 1980 ohne das metrische Vorwissen, mit dem Hoffmann 1967 noch rechnen konnte, an die Universitäten kämen (Tervooren, Minimalmetrik, I). 21 Vgl. Breuer, Deutsche Metrik, 12. 22 Karl Stackmann, »Mittelalterliche Texte als Aufgabe«, in: William Foerste und Karl Heinz Borck (Hgg.), Festschrift für Jost Trier, Köln, Graz 1964, 240 – 267; wieder in: K. S., Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I, hg. Jens Haustein, Göttingen 1997, 1–25 [zit. danach]. 23 Als besonders einflussreich haben sich für die germanistische Mediävistik die Thesen der oral formulaic theory (für die germanistische Rezeption wegweisend: Bäuml, Ward, »Zur mündlichen Überlieferung«; Bäuml, Bruno, »Weiteres zur mündlichen Überlieferung«; Haymes, Mündliches Epos) sowie die Überlegungen von Paul Zumthor (prägnant: Zumthor, Stimme) erwiesen.

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basis Formanalysen schwierig. Zum anderen aber wurde in der Abkehr von normierten, ›geglätteten‹ Texten das methodische Rüstzeug – das an solchen Texten entwickelt worden war – letztlich wertlos. Immer deutlicher wurde, dass die bisherigen Formanalysen an Formvorstellungen des 19. Jahrhunderts geschult waren und als solche wenig zur Erhellung der Form ›alter‹ Texte beitrugen.24 Um auf das Beispiel Melodieüberlieferung zurückzukommen: Die Einsicht in die Unlösbarkeit der Rhythmusfrage und die zunehmende Dekonstruktion der entsprechenden Methoden,25 der Anspruch auf eine präzise Historisierung der Begrifflichkeit (was ist ein mittelalterliches ›Lied‹?), die Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Kontextualisierung der Interpretationen26 und der Wunsch nach einer stärkeren Berücksichtigung der handschriftlichen Überlieferung einschließlich deren Funktion27 führten zu einem fast völligen Stillstand der Forschung.28 Anstatt diesen Anforderungen mit einer grundlegenden methodischen Revision zu begegnen, hat sich das Forschungsinteresse immer stärker inhaltlichen Fragestellungen zugewandt.29 Zuerst wird dies im Bereich der 24 Breuer spricht von Handbüchern zur Metrik, »die auch dem gutwilligen Schüler, Studenten und Liebhaber die Annäherung an Verstexte eher erschweren als erleichtern« (Breuer, Deutsche Metrik, 9). 25 Am radikalsten Kippenberg, Rhythmus. 26 So sollte es denn auch die Kulturgeschichte sein, die sich schließlich als Erste um »den situativen Kontext« der mittelhochdeutschen Lyrik bemühte, »indem sie Zeugnisse aus historiographischen, ikonographischen und literarischen (d. h. epischen) Quellen sammelte, die Elemente der Aufführung beschrieb oder darstellte« (Helmut Tervooren, »Die ›Aufführung‹ als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik«, in: JanDirk Müller [Hg.], ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit (Germanistische Symposien, Berichtsbände 17), Stuttgart / Weimar 1996, 48 – 66, hier 49). 27 Mittelalterliche Melodieaufzeichnungen sind keine Liederbücher im modernen Sinne. So hat Vögel, »Pragmatik des Buches«, am Beispiel des Cpg 329 mit den Liedern Hugos von Montfort zeigen können, wie hier die Performanz gesungener Lyrik gewissermaßen ins Buch ›verlängert‹ wird, indem dieses performative Signalfunktion übernimmt. Ähnliches hat kürzlich Bleuler, »Zwischen Konservierung«, für die Berliner Neidhart-Handschrift c vorgeführt. Analoge Fälle finden sich auch außerhalb des germanistischen Bereichs, etwa bei Horaz- und Vergil-Melodien (Wälli, Melodien; Bobeth, Antike Verse). 28 Einen Versuch, Literaturgeschichte als Formgeschichte zu beschreiben, wagte 1949 noch Böckmann: Er will »Leistung und Bedeutung der poetischen Werke von der Form her [… ] erläutern und von den formgeschichtlichen Zusammenhängen aus die ihnen zugehörige überzeitliche Wirkungsmacht frei[ ]legen« (Böckmann, Formgeschichte, 1). Dabei versteht er unter ›Form‹ die »Auffassungsformen, in denen sich die Dichtung aller Gehalte vergewissert und durch die sie allen Erlebnissen und Erfahrungen erst Bedeutung gibt« (Böckmann, Formgeschichte, 2). 29 Gerhard Kaiser hat das, verbittert von einer Überhandnahme sozialgeschichtlicher Zugriffe auf die deutsche Literatur, »Inhaltsfetischismus« genannt: »Es gras-

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Fachlexika sichtbar. Gegen die Dominanz des Form / Inhalt-Begriffs in der Forschung30 wird hier, in bewusster Anlehnung an die Philosophiegeschichte, schon früh ein Shift zum Form / Materie-Begriff greifbar.31 Diese Diskrepanz zwischen lexikalischem Wollen und analytischer Praxis32 wird nichtsdestotrotz den Boden bereitet haben für den wenig später einsetzenden Wandel von Form / Inhalt zu Form / Materie in der Interpretationspraxis.33 Die lexikalische Kodifizierung zieht Forschungsaktivität nach sich. Die dabei zu beobachtende Aufweichung und Umwertung des Formbegriffs führt in der Literaturwissenschaft zu einer Vermeidung und Ersetzung des Begriffs. ›Form‹ wird Unwort, wird Thema von sprachwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich aber weniger der artistischen Form als prosodischen Phänomenen widmen.34 Selbst dort, wo eine Thematisiesiert heute ein Inhaltsfetischismus, dem alles schon bedeutend ist, was auf den ersten Blick progressiv aussieht, und dem jeder aufgeplatzte Hosenknopf zum Signal der Freiheit wird.« (Gerhard Kaiser, »Über den Umgang mit Republikanern, Jakobinern und Zitaten«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 [1975], Sonderheft, 226 – 242, hier 235; wieder in: G. K., Neue Antithesen eines Germanisten 1974 – 1975, Kronberg, Ts. 1976, 70 – 98.) 30 Man vergleiche etwa die Selbstverständlichkeit, mit der noch Hugo Kuhn die Opposition Form / Inhalt in einem gattungstheoretischen Aufsatz verwendet (Kuhn, Gattungsprobleme, 41, 45, 59). Kuhn verfällt gar nicht erst auf den Gedanken, Form gegen Materie zu stellen, etwa Form als – wie man es später gehandhabt hat – gattungstheoretischen Begriff zu verwenden. Auch in seinem »Erec«-Aufsatz, dessen Strukturidee sich mit der Opposition von Form und Materie beschreiben ließe (siehe unten), meidet Kuhn den Formbegriff (Kuhn, »Erec«). 31 Paradigmatisch bei W.-J. Schröder, »Form« (470 f.), aber etwa auch in der Musikwissenschaft bei Blume, »Form«, der einen allgemeinen von einem speziellen Formbegriff unterscheidet. 32 So nimmt es nicht wunder, dass angesichts dieser forcierten theoretischen Reflexion des Formbegriffs, die analytisch aber (noch) nicht eingelöst zu werden scheint, Patzig über die »fast uneingeschränkte Verwendung des Begriffs F[orm] (F[orm] – Materie, F[orm] – Inhalt) durch die Philosophie« seufzt (Patzig, »Form«, 990). In einer philosophisch-literaturwissenschaftlichen Arbeit Spoerris wird beispielsweise ein eher metaphysischer Formbegriff vertreten: »Form ist eine Bewegung, ein Suchen, ein In-Erscheinung-Treten des Lebens, Einswerden des Äußeren mit dem Inneren. Form ist eine Station auf dem Weg der Verwirklichung. Form ist Formwerdung.« (Spoerri, Weg zur Form, 14) Man hätte es gerne einfacher gehabt. 33 Der Wandel wird nicht zuletzt an der Schwierigkeit sichtbar, den Begriff ›Form‹ für das mittlere 20. Jahrhundert ideengeschichtlich zu erfassen (vgl. die vorsichtigvagen Ausführungen dazu z. B. bei Schildknecht, »Form«, W.-J. Schröder, »Form« [bes. 470], Schwinger, »Form und Inhalt«, Bormann, »Form und Materie«). Für die Musikwissenschaft schon früh Blume, »Form«, 523 – 524. 34 Vgl. Moennighoff, Metrik, 11. Bezeichnend ist etwa, dass die Tagung zu »Quantitätsproblematik und Metrik« von 1995, deren Akten Hans Fix als Bd. 42 der Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik herausgegeben hat (Fix, Quantitätsproble-

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rung der Form für das Erfassen eines literarischen ›Musik-Textes‹ vermeintlich unumgänglich ist – bei der Frage nach der Aufführung, nach dem Klang-Werden der Texte –, hat man es vermieden, sich der Form der Texte zu widmen. (Minne-)Lyrik wird, im extremsten Fall, zur Leselyrik35, und über Aufführung (oder dann: Performanz) wird nicht als reales Klangereignis nachgedacht, sondern als Sinneffekt der Texte selbst.36 Nur vereinzelt werden Formfragen im landläufigen Sinne noch in den Blick genommen,37 matik), im Untertitel als »Greifswalder Symposion zur germanischen Grammatik« definiert ist. Fast alle dort versammelten Beiträge folgen dem Vorschlag des Untertitels, poetische Phänomene kommen nur am Rande (z. B. im Beitrag von Edith Marold, »Zur Poetik von Háttatal und Skáldskaparmál«, 103 – 124) in den Blick. – Einflussreich war in der Linguistik v. a. Küper, Sprache und Metrum, vgl. jetzt auch Stock, »Sprechrhythmus« und Szczepaniak, Der phonologisch-typologische Wandel. Wichtig waren und sind die – im positivsten Sinne – hyperstrukturalistischen Lyrik-Analysen Roman Jakobsons, die sehr stark an formalen Phänomenen interessiert sind und gewissermaßen auf der Schwelle zwischen literatur- und sprachwissenschaftlicher Form-Forschung stehen: Jakobson, Gedichtanalysen. Jakobson hat zahlreiche Studien zum Versbau verschiedener (meist slawischer) Sprachen verfasst, als erster Einstieg (mit Bibliographie) eignet sich: Jakobson, Pomorska, Dialoge. 35 Thomas Cramer wendet sich gegen die Idee reiner Vortragslyrik und postuliert eine »Doppelfunktion der Gedichte, wie sie für die mittelalterliche Kunst überhaupt charakteristisch ist: als gesellschaftlicher Gebrauchsgegenstand und als Kunstwerk eigenen ästhetischen Anspruchs« (17), wobei letzteres nur von einem kleinen Kreis, von einer entsprechend geschulten Einzelperson im Zug privater Lektüre gewürdigt werden könne (Cramer, Waz hilfet, 9 ff.). 36 Auf eine prägnante Formulierung hat das Sonja Glauch gebracht: »Dennoch widmet sich die gegenwärtige Forschung Phänomenen virtueller oder fiktiver Performanz hingebungsvoller als der tatsächlichen Performanz der Versdichtung, über die man in der Tat nicht viel mehr weiß, als man vor vierzig Jahren schon wußte.« (Sonja Glauch, An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens [Studien zur historischen Poetik 1], zugl. Erlangen-Nürnberg, Habil.-Schr. 2006, Heidelberg 2009, 331) Ansätze dazu finden sich denn auch bereits in den 1960er Jahren, z. B. bei Hugo Kuhn, »Minnesang als Aufführungsform (Hartmann 218,5)«, in: Eckehard Catholy und Winfried Hellmann (Hgg.), Fs. Klaus Ziegler, Tübingen 1968, 1 – 12; wieder in: H. K., Text und Theorie, Kleine Schriften 2, Stuttgart 1969, 182 – 190, 364 – 366; H. K. und Christoph Cormeau (Hgg.), Hartmann von Aue (Wege der Forschung 359), Darmstadt 1973, 478 – 490 [zit. danach]. Vgl. Glauch, ebd. – Wegweisend waren die Arbeiten von Jan-Dirk Müller, gesammelt in: J.-D. M., Minnesang und Literaturtheorie, hg. Ute von Bloh, Armin Schulz [u. a.], Tübingen 2001. 37 Z. B. Halbach, »Philipps-Ton«; Peschel, Peschel, »Zur reimbindung«; Brunner, »Epenmelodien«; Brunner, »Strukturprobleme«; Stäblein, »Oswald von Wolkenstein«, oder von Harald Haferland im Rahmen seiner Studie zum auswendigen (nicht vorgelesenen, nicht improvisierten) Vortrag strophischer Heldenepik und den damit verbundenen Memorialphänomenen. »Die Sprache der strophischen Heldendichtung ist aber keine literarisierte Mündlichkeit, noch ist sie fingierte oder imitierte Mündlichkeit, sondern sie ist eine Sprache, mit der man Dichtungen so abfaßt, daß sie als Gedächtnistexte tradiert werden können. Sie besitzt eine unmittelbare Funktion, die

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noch seltener das Zusammenspiel von Text und Musik.38 Oder präziser: Wenn seither Diskurse über die Form literarischer Texte geführt werden, verdrängt meist eine implizite (und: anders benannte!) Form / Materie-Konzeption das Sprechen von Form (in Differenz zu Inhalt), sodass Formen untersucht werden, die Inhalte nicht begleiten, sondern strukturieren und bei denen sich Form und Semantik eng aufeinander beziehen lassen, etwa Studien zur Gattungsfrage (insofern Gattungen als ›Formen‹ in einem weiteren Sinne gelten)39, zur bildhaften Rede bzw. zur Metapher40, zur Metonymie41, zu Otfrids verblüffender Metrik42 oder auch zu sehr speziellen Phänomenen wie Natureingängen43. auch im Hochmittelalter noch nicht überflüssig geworden ist. Denn sie wird bis ins Spätmittelalter für den auswendigen Vortrag strophischer Heldendichtung gebraucht.« (Haferland, Mündlichkeit, 339) Oder auch Knapps Aufsatz zu einem Formvergleich zwischen Walthers Leich und Carmen Buranum 60 / 60a, in dem er unter ›Form‹ nicht nur nicht-semantisierte Elemente versteht, sondern diese dem Inhalt gar noch kontrastiv gegenüber stellt (Knapp, »Bauform«, 243) und Walthers besondere Leistung darin sieht, sich thematisch-inhaltlich nicht vom formalen Aufbau behindert haben zu lassen (Knapp, »Bauform«, 244). Die Einheit von Form und Inhalt liefert hingegen – vor Knapp und von diesem kritisiert – März, »Walthers Leich« die Argumentationsbasis für seinen Vergleich von Walthers Leich mit Carmen Buranum 60 / 60a. Formale Differenzen und Interferenzen bei Minnelied und Sangspruch untersucht Rettelbach, »Minnelied und Sangspruch«. Im Dienste der Überlieferungskritik hat sich die oral poetry-Debatte auch Formfragen gewidmet. Den Anstoß dazu für den germanistischen Bereich haben gegeben: Bäuml, Ward, »Zur mündlichen Überlieferung«; Bäuml, Bruno, »Weiteres zur mündlichen Überlieferung«. 38 Dazu die Arbeiten von Karl Bertau, Horst Brunner, Christoph März und Michael Shields: u. a. Bertau, Sangverslyrik; Bertau, »Krypto-Polyphonie«; Bertau, »Sangvers und Sinn«; Brunner, »Epenmelodien«; Brunner, »Strukturprobleme«; Brunner, Spruchsang; März, Marienleich; März, »Zwischen Zählen und Schwärmen«; März, Welker, »Jenaer Liederhandschrift«; Shields, »Marienleich«. 39 Vgl. zusammenfassend Schildknecht, »Form«, 614. Im Hintergrund steht hier freilich der ›alte‹ ›Naturformen‹-Begriff. – Mit der Gattungsproblematik verknüpft wurde die Formfrage auch in der (sozialgeschichtlich geprägten) ›Formgeschichte‹ der Theologie, bes. durch Hermann Gunkel (H.-P. Müller, »Formgeschichte«, 273 – 274). Die Vermischung von Gattungs- und Sozialgeschichte unter dem ›Form‹-Etikett wurde jedoch bald kritisch gesehen (Köster, »Formgeschichte«, 286). 40 Z. B. Hübner, Lobblumen zu »laudative[n] und vituperative[n] Passagen mit metaphorischen Ausdrucksformen« (5), Hübner, »Metapherntheorien« zur historisch spezifischen »Relation zwischen Metapherntheorie und Metapherngebrauch« (116). Wegweisend sind hier die Studien von Susanne Köbele, vor allem ihre Habilitationsschrift zu Frauenlob (Köbele, Frauenlobs Lieder). 41 Haferland, »Anthropologie«; Haferland, »Metonymie«. 42 Zu Formfragen bei Otfrid (einschließlich der Neumen) siehe den Apparat der mehrbändigen diplomatischen Ausgabe Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, hg. Wolfgang Kleiber u. Ernst Hellgardt, bisher 2 Bde., Tübingen 2004 ff., hier Bd. 1, 2, 163 – 270.

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Ein besonders intrikates Beispiel ist die seit den 1970er Jahren44 intensiv geführte Diskussion über die ›Schematik‹ mittelalterlicher Literatur.45 Was hierbei z. B. unter ›Erzählschema‹ gefasst wird, ist im Grunde nichts anderes als eine formale Struktur. Idee ist, dass ein Erzählstoff mittels eines Erzählschemas zu einem konkreten Text geformt wird, etwa eine Heldensage (wie immer man sich eine solche zu denken hätte) zur Heldendichtung gerinnt. Hier sind die einleitend getrennten ›Form‹-Begriffe deutlich ineinander verwoben: Stellt man – textgenetisch – den Erzählstoff gegen die konkrete (und schemagebundene) Erzählung, steht Form gegen Materie. Betrachtet man aber die konkrete Erzählung als Konglomerat aus Erzählinhalt und Erzählschema, steht Form gegen Inhalt. Bemerkenswert daran ist nun nicht nur die Präferenz für die Form / Materie-Dichotomie in der Konzentration auf das textgenetische Moment,46 sondern dass auch die ›bloße‹ Form – ein abstraktes Handlungsschema – nicht ohne (semantische) Sinnzuschreibung bleiben durfte. Es ist genau diese Zuschreibung, wie sie Walter Haug in hegelianischer Diktion immer wieder vorgenommen hat, etwa wenn in der historischen Dietrichepik »historische Erfahrung mittels literarischer Schemata zu sich selbst kommt«47, oder wenn Heldendichtung als »die prekäre Erfahrung des Eintritts in die Geschichte« gilt.48 Formen hatten ihre Berechtigung nur noch dann, wenn sie anders hießen, und wenn sie ›Sinnstrukturen‹ waren oder – genauer gedacht – sich zu solchen machen ließen. Dieses Umschlagbild, wie es hier am Phänomen des Handlungs- oder Erzählschemas sichtbar wird, lässt sich prinzipiell mit jeder Form zeichnen: Jede semantisierte Form lässt sich als bloßer Inhaltsträger verstehen, jeder Inhaltsträger ist nicht vor Sinnzuschreibungen gefeit; jede geformte Materie lässt sich in inhaltliche und formale Aspekte zerschneiden, jede Fugung aus Inhalt und Form zur Einheit einer geformten Materie bündeln. Dass man dieses Bild in den letzten Jahren vornehmlich mit Makrostrukturen der Handlungsverläufe (und nicht mit poetischen Mikrostrukturen) gezeichnet hat, ist nur ein weiteres Indiz für eine radikale Abkehr von der Erforschung 43 Zu deren Poetik nun Anna Kathrin Bleuler, Überlieferungskritik und Poetologie. Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung Neidharts auf der Basis des poetologischen Musters (Münchener Texte und Untersuchungen 136), Tübingen 2008. 44 Ein früher und wegweisender Exponent war freilich Kuhns »Erec«-Aufsatz (Kuhn, »Erec«). 45 Besonders stark rezipiert: Schmid-Cadalbert, Ortnit AW. 46 Z. B. Bleumer, »Narrative Historizität«. 47 Haug, »Heuslers Heldensagenmodell«, 282. 48 Haug, »Grausamkeit«, 90.

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einer Form ›an sich‹ und ›für sich‹. Konsequenz war und ist eine markante, aber erst in allerjüngster Zeit monierte49 Schieflage zwischen den aktuellen analytischen und interpretatorischen – inhaltsfixierten – Zugriffen der Forschung auf ihre Texte und der Gestalt der Texte selbst. Schon aus dieser kursorischen Sichtung einiger Stadien und Prozesse der Forschungsgeschichte ergeben sich Herausforderungen für eine zukünftige Form-Forschung: 1. Die mittelalterliche Literatur ist, in einem landläufigen Sinne, stark formgebunden, um nicht zu sagen: formalisiert. Eine Forschung, die formale Aspekte (Vers, Reim, Strophe, Klang etc.) in einer Weise ausklammert, wie dies in den vergangenen Jahrzehnten geschehen ist, läuft Gefahr, an ihrem Gegenstand vorbeizurasen. 2. Allerdings kann eine neue Beschäftigung mit Formfragen sich nicht darin erschöpfen, alte Forschungsdebatten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zu revitalisieren. Einem solchen Versuch wäre dieselbe Skepsis entgegenzuhalten, die Mitte des 20. Jahrhunderts zur Abkehr von der Form mittelalterlicher Literatur geführt hat. Vielmehr ist es nötig, die Frage nach der Form der mittelalterlichen Literatur in einer Weise zu diskutieren, die nicht hinter das inzwischen etablierte Reflexionsniveau zurückfällt. Gefordert ist eine Formforschung, die Ergebnisse der rezenten Debatten um Medialität, Performanz, Überlieferung oder kulturelle Kontextualisierung aufgreift und für die Untersuchung formaler Phänomene adaptiert. 3. Daraus folgt die Notwendigkeit, die Untersuchung der Formen ›alter‹ Texte auf eine neue Grundlage zu stellen. Die (heuslersche) Beschreibungssprache, wie sie bis heute in Ermangelung eines Besseren in Handbüchern und Einführungen tradiert wird,50 ist methodisch derart eng an eine bestimmte Vorstellung von Text (um nicht zu sagen ›Werk‹) gebunden, dass sie den Erfordernissen einer neuen Formforschung schon systematisch besehen nicht genügen kann. Nötig ist also eine neue, dezidiert nicht – oder: nicht mehr als unbedingt nötig51 – normative Beschreibungssprache für formale Phänomene, die vor allem auch mit Unschärfen hantieren können muss, ohne sofort in ein relativistisches anything goes zu kippen. 49 März, »Zwischen Zählen und Schwärmen«, 323 f.; Glauch, An der Schwelle [Anm. 36], 331. 50 Kayser, Versschule; Paul, Glier, Deutsche Metrik; Hoffmann, Metrik; Tervooren, Minimalmetrik; Frey, Einführung. Anders Wagenknecht, Deutsche Metrik, der in seinen (freilich kurzen) Kapiteln zur mittelalterlichen Literatur mitunter gegen Heuslers ›altdeutsche‹ Verse polemisiert (z. B. 50 f.). 51 Dazu das zweite methodologische Fazit am Schluss des Aufsatzes.

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4. All dies wird nicht ohne eine stete Reflexion des Problems ›Form‹ möglich sein. Das zuletzt angedeutete Umschlagphänomen der ›Form‹ zwischen ›Inhalt‹ und ›Materie‹ könnte sich hier als nützlich erweisen, indem es das Augenmerk auf die Spannung zwischen ›leeren‹ und semantisierten Formen legt. Löst man sich vom Anspruch auf essentialistische Setzungen in der Art Haugs, wird diese Polarität zum Deskriptor sowohl für zeitgenössische (mittelalterliche) als auch für heutige (forschungsgeschichtliche) Perspektiven auf die Formen mittelalterlicher Literatur. Es wird verschiedene Möglichkeiten geben, um sich diesen Herausforderungen zu stellen. Ich will im Folgenden vorschlagen, ihnen mit einer dreifachen Perspektivierung der Frage nach ›Form‹ zu begegnen. Alle drei Perspektiven, alle drei Reflexionsbewegungen aber verfolgen dasselbe Ziel: ein altes Thema neu zu erschließen. (1) Zu untersuchen sind formale Phänomene der mittelalterlichen Literatur selbst, um in praxi die Notwendigkeiten und Begrenzungen der methodischen Strategien bzw. des analytischen Vokabulars prüfen zu können. (2) Zu sichten ist, zusätzlich, das Sprechen über ›Form‹ in zeitgenössischer Literatur und (vornehmlich lateinischer) Theorie. (3) Zu fragen ist schließlich, wie sich die Doppelnatur des Formbegriffs anhand der mittelalterlichen Literatur bestimmen lässt, oder umgekehrt: wie sich die Formen der mittelalterlichen Literatur einschließlich ihrer Erforschung anhand dieser Doppelnatur bestimmen lassen. Nirgends wird man positive Erkenntnisse erwarten dürfen, was die ›Form‹ mittelalterlicher oder mittelhochdeutscher Literatur im Eigentlichen ausmacht, oder gar eine neue Form- oder Versgeschichte zur ›altdeutschen‹ Literatur. Wenn es aber gelänge, ein gesteigertes Problembewusstsein für die ›Formen‹ ›alter‹ Texte zu gewinnen, wäre doch immerhin etwas erreicht.

III. Perspektiven 1. Form-Analyse Wenn es zutrifft, dass Form ein wesentliches Kriterium für den Umgang mit ›alter‹ Literatur darstellt, muss diese Form auch analytisch fassbar sein. Und wer etwa die Reclam-Bändchen zu den Highlights der mittelhochdeutschen Lyrik – Heinrich von Morungen, Reinmar und Walter von der Vogelweide – aufschlägt, kann sich in der Tat im Kommentarteil zu jedem einzelnen Lied über dessen formale Gestalt belehren lassen. Dort liest man dann beispielsweise zu Walthers Si wunder wol gemachet wîp: Schema:

Aufgesang

4ma 4mb

4ma 4mb

Abgesang

4mc 4md

4mc 4md

4me 6me

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Es folgt eine kurze Liste der dreisilbigen Takte des Liedes.52 – Hier wird Formanalyse betrieben. Indes: Viel Aufhebens scheint um diese formalen Analysenotizen nicht gemacht zu werden, im Eigentlichen interessieren sie nicht – fünf Zeilen Formanalyse gehen fünf Seiten Liedkommentar voran – und mehr scheinen sie der Verlegenheit einer um Vollständigkeit bemühten Kommentierpraxis denn echtem Interesse an der Sache zu entspringen. Darüber hinaus noch vermitteln sie den Eindruck, dass die formale Analyse von – in diesem Fall – Lyrik des späteren 12. Jahrhunderts und um 1200 eine gemachte Sache ist. Man merkt dies spätestens dann, wenn man versucht, in einem Lyrik-Seminar die Studierenden in eine Form-Diskussion zu verwickeln: Wo die ›Lösung‹ auf S. 591 steht, gibt es nichts mehr zu besprechen. Textpräsentationen dieser Art – und sie sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel – vermitteln ein verzerrtes Bild in doppelter Hinsicht. Zum einen wird suggeriert, dass es zum Umgang mit mittelalterlicher Literatur bzw. – hier – Lyrik einen formalen Zugriff nicht eigentlich braucht. Zum anderen, und die Obsoletheit der Formbetrachtung würde davon nur bestätigt, wird in formelartigen Kürzestanalysen vorgeführt, dass die Formanalyse mittelalterlicher Literatur für sich keinen problematischen Gegenstand darstellt. Banal und simpel – das ist der Eindruck, der sich einstellt, wenn es um derartige formanalytische Zugriffe geht. Wer freilich genauer zusieht, wird – zum einen – für beinahe jede Strophe Probleme der Analyse ausmachen können, Reibeflächen zwischen tatsächlicher Textgestalt und praktizierter analytischer Formelsprache, deren Friktionsbewegungen alles andere als banal sind. Die letztlich an Heusler geschulten symbolischen Deskriptoren brechen die mittelalterliche Überlieferung über einen harten, mitunter befremdlichen Kamm. Zum anderen aber wird das Ziel solcher Analysen selbst fraglich, wenn man sich die (mögliche) intensive ästhetische Wirkung geformter Lyrik vergegenwärtigt und diese potentiellen Wirkungseffekte des Formalen mit den gleichsam mathematischen Reduktionen der analytischen Praxis vergleicht. Es wäre nicht schwer, dies für jedes einzelne Lied zu zeigen. Nirgends aber fällt dies leichter als bei solchen Texten, die eine Einheit mit einer Melodie – als ›Musik-Texte‹ – bilden. Und dies ist denn auch der Grund, weshalb sich ›Musik-Texte‹ geradezu anbieten, um an ihnen die Frage nach ›alten‹ Formen zu diskutieren. Nicht nur wird an ihnen – einerseits – evident, dass die stark schematisierende, symbolhafte Beschreibungssprache nicht genügt, um die formale Verfasstheit eines Liedes etwa zu be52 Walther von der Vogelweide, Werke, 2 Bde., hg., übers. u. komm. Günther Schweikle (RUB 819 / 820), Leipzig 1994 / 98, Bd. 1, 591.

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stimmen; denn melodische oder gar rhythmische wenn nicht sogar mehrstimmige Konfigurationen entziehen sich der Klassifizierung als 4am oder dergleichen. Eine Reflexion und Renovation der Beschreibungssprache wird nötig, um Phänomene wie Vers, Reim, Metrum, Klang etc. deskriptiv erfassen zu können, und nur im intensiven Kontakt mit Nachbardisziplinen wie Musik- und Sprachwissenschaft53 wird man hier weiterkommen. Noch mehr aber verweist die Engführung von Sprache und Musik – andererseits – auf die immanente Bedeutung des Form-Themas für die Verfasstheit ›alter‹ Literatur. Man mag Gedichte gänzlich prosaisch lesen können, aber Lieder lassen sich nicht prosaisch singen oder hören. Und Lieder oder gesungene Epen sind es aber, mit denen man es in der deutschen Literaturgeschichte zuallererst zu tun hat. Welche Wege ein solches formanalytisches Bemühen um ›Musik-Texte‹ im Detail einschlagen könnte, will ich abschließend an einem konkreten Beispiel zu diskutieren versuchen. Vorerst geht es mir darum, einige grundsätzlichere Beobachtungen zur Analyse von ›Musik-Texten‹ zu formulieren. Denn schon dass man überhaupt die musikalische Seite der Überlieferung als ursächlich zum Text gehörig begreift und denn auch für Analysen und Interpretationen berücksichtigt, ist keine Selbstverständlichkeit. Das hat vor allem mit überlieferungsgeschichtlichen Befunden zu tun: Die deutsche Überlieferung – insbesondere jene zu Texten vor und um 1300 – gilt weithin als melodielos oder melodiearm. Das hat gewiss Gültigkeit, wenn man die deutsche Situation mit jener in Frankreich vergleicht: Gegenüber den hunderten Trobador- und den tausenden Trouvères-Melodien nimmt sich die deutsche Melodieüberlieferung tatsächlich etwas mickrig aus. Indes: Es gibt sie doch, und in einem Ausmaß, dass man sie nicht leichthin ignorieren sollte. Blickt man etwa auf die Zeitspanne bis 1300 – die höfische Literatur im engeren Sinne –, findet man Zeugnisse wie das Münstersche Fragment (mit Melodien Walthers), die Jenaer Handschrift, die Text-Melodie-Überlieferung zu Neidhart und Frauenlob, Streuüberlieferung zu Minnesang und Sangspruchdichtung, späte Überlieferungen der ›alten‹ Texte (Lyrik und Epenmelodien) in Meistersang-Handschriften etc. Eine vorsichtige Schätzung käme wohl auf ca. 200 ›Musik-Texte‹.54 Dies wäre jene Überlieferung, die zwar kaum einmal selbst in die Zeit vor 1300 fällt, die aber immerhin Melodien zu Texten beSiehe insbesondere die in Anm. 34 genannten Zugriffe. Gesichtet wurden: Kippenberg, Rhythmus, 42 – 46; Brunner, »Epenmelodien«, 150 f.; Tervooren, Sangspruchdichtung, 17 f.; Diehr, Literatur und Musik, 131 – 133; Brunner, Wachinger, Repertorium sowie www.handschriftencensus.de [Zugriff August 2009]. 53 54

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reitstellt, deren Entstehung man wiederum ins spätere 12. und 13. Jahrhundert datiert. Bei der Textüberlieferung ist das ja im Grunde nicht anders. Freilich: Man wird im Umgang mit diesem Korpus nicht zu optimistisch verfahren können. Wer sich intensiv mit den ›Formen‹ der ›alten‹ Literatur und insbesondere der ›alten‹ ›Musik-Texte‹ beschäftigen will, muss einige Hürden nehmen – und sie oder er muss diese Hürden auch stets im Bewusstsein halten, da von ihnen die Einschätzung der Ergebnisse wesentlich abhängt. Ich sehe vor allem drei solcher Hürden: (1) Das Korpus an erhaltenen Melodien ist eines, wie es die Überlieferung in all ihrer Kontingenz zieht. Weshalb von diesem Text eine Melodie erhalten ist, von jenem keine, warum hier Neumen, dort Choralnotation, selten auch mensurierte Melodien aufgezeichnet sind, wie und ob dies Rückschlüsse auf den Status und die Rezeptionswirklichkeit der ›Musik-Texte‹ zulässt – all dies lässt sich heute oft nicht einmal in thesenartiger Form verhandeln. (2) Was erhalten ist, ist oft unsicher erhalten: Die Skepsis gegenüber der Echtheit oder Authentizität der Melodieüberlieferung ist eine forschungsgeschichtlich alte, und sie bezieht ihre Berechtigung aus dem meist sehr großen Abstand zwischen vermeintlicher Text-Musik-Produktion und tatsächlicher Überlieferung (ab dem frühen 14. Jahrhundert, meist erst später), mitunter auch aus dem Abstand zwischen Text und Musik, wenn eine Melodie nur noch über Meistersingerterminologie (z. B. ›Walthers Goldener Ton‹) einem Autornamen und nur durch Rekonstruktionsgänge der Forschung einem konkreten Text zugeordnet werden kann. (3) Jünger und aber wohl nicht weniger virulent für die Einschätzung der Überlieferung sind Überlegungen zum ›Sitz im Leben‹ der Überlieferungsträger. Allzu verlockend war lange Zeit die Missdeutung der musikalischen Überlieferung als ›alte‹ Liederbücher. Die Kluft zwischen Produktion, Primärrezeption und Überlieferung so gut es geht auszumessen und (soweit möglich) die Differenz von Überlieferung zu Textproduktion zu bestimmen, ist jedoch eine notwendige Relativierung ihres Quellenwerts (man könnte von einer spezifischen ›Performanz des Buches‹ sprechen).55 Kurz gefasst: Das Korpus ist aufgrund der bekanntlich schmalen und prekären (späten) Überlieferung zu dünn und zu unsicher, als dass hier eine umfassende Formgeschichte des 13. Jahrhunderts möglich wäre; sie stünde (wie ja auch ein großer Teil der melodielosen Textüberlieferung) im Geruch des ›Unauthentischen‹. Und doch: Die Überlieferung ist breit genug, um einige – und oft sehr verschiedene – Spielarten des Formalen in ihren späten Entwürfen diskutieren zu können; sie präsentiert ›Spuren‹ dessen, was 55 Vorbildlich Vögel, »Pragmatik des Buches« (zu Hugo von Montfort); Bleuler, »Zwischen Konservierung« (zu Neidhart c); Wälli, Melodien (zu Horaz-Melodien).

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gewesen sein könnte. Vielleicht wird man in Einzelfällen – gleichwohl rekonstruktionspessimistisch und im Eingeständnis, dass man nicht weit sehen wird – ›hinter‹ die Überlieferung zurückblicken können (so bei evidenten Fehlern oder beim Fassungsvergleich). Doch selbst wenn dies nicht gelingt, ist immerhin eine doch dann beachtliche Anzahl komplexer formaler Entwürfe erhalten, in denen die ›Musik-Texte‹ des 13. Jahrhunderts im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ein Fortleben gefunden haben. Begriffe wie Authentizität und Originalität werden damit weitgehend obsolet – nicht anders im Übrigen als bei der Textüberlieferung ja auch, die vielleicht nicht ganz so spät, aber doch spät genug einsetzt, um ihr Ähnliches entgegenzuhalten, wie man es mitunter der Musiküberlieferung vorwirft. Wer also die Musik-Überlieferung angesichts ihrer Kontingenz, ihrer Unechtheit und ihrer Zweckgebundenheit generell für wertlos befindet, im selben Zuge aber bedenkenlos Walther, Neidhart oder Frauenlob aus modernen Ausgaben oder auch aus Handschriften liest, führt eine paradoxe Figur aus, der wohl eine gewisse forschungsgeschichtliche Tiefendimension eignet: Die prononcierte Abkehr vom Anspruch auf Originalität und Authentizität scheint doch das Gerede von einer Leselyrik maßgeblich befördert zu haben, weil es eben nicht mehr darum ging, was und wie Walther, Neidhart oder Frauenlob wirklich gesungen haben, sondern was die Handschriften bewahrt haben. Allerdings: Sich auf diese Weise neuphilologisch auf die fassbare Überlieferung einzuschwören, war offenbar das comme il faut lediglich aufseiten des Textes. Spät und prekär überlieferte Melodien konnten davon nicht profitieren – sie blieben so ›unecht‹, wie sie schon einer klassischen Textkritik waren. Während die Unauthentizität der Textüberlieferung etwa in den großen Minnesanghandschriften um und nach 1300 als eine tolerable, um nicht zu sagen: faszinierende zu gelten scheint, ist jene der – aus gleichsam Carl von Kraus’scher Perspektive – meist noch späteren, noch unsichereren Melodieüberlieferung eine gänzlich fatale. Paradox ist diese Schieflage des methodischen Fundaments insofern, als hier die gedämmt-neuphilologische Akzeptanz ausschließlich einer ›mäßig-unauthentischen‹ Textüberlieferung mit der Akzeptanz einer radikal unauthentischen Vorstellung von mittelalterlicher (Lese-)Literatur einher geht, umgekehrt die Inakzeptanz gegenüber einer ›übermäßig-unauthentischen‹ Melodieüberlieferung mit der Ablehnung authentischer – nämlich gesungener – Aufführung korreliert. Oder mit einem Beispiel: Dass die Berliner Neidhart-Handschrift c aus klassisch-textkritischer Sicht klar an Wert abfällt gegenüber der NeidhartHandschrift R, wird niemand in Abrede stellen können. Es mag leicht sein, dass dies auch für die Melodien gälte, wenn R solche überlieferte. Aber was

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anderes als methodische Inkonsequenz wäre gewonnen, wenn diese Beobachtung trotz der Abwendung von einer klassischen Textkritik ihre Gültigkeit behielte und dann auch noch womöglich Beweggrund genug wäre, um Neidhart c als Ganzes in Misskredit zu bringen? Wäre man damit nicht wiederum dort – bei Echtheitsfragen und Originalitätsverliebtheit –, wovon man sich seit 50 Jahren zu lösen versucht? Noch einmal: Eine solche Spuren-Suche, wie ich sie hier vorschlage, wird vielleicht nicht zu einem prägnanten Ziel führen; aber unterwegs wird man doch einiges an Beobachtungen einsammeln können. Wie könnten analytische Bemühungen im Einzelnen aussehen? Ich stelle mir vor – und dies kann hier nicht mehr als ein kursorischer Vorschlag sein –, dass solche Analysen möglichst ›detailverliebt‹ zu verfahren hätten. Vorbildlich könnten die Arbeiten von Karl Bertau, Christoph März und Michael Shields56 zu Frauenlob sein. Germanistische und musikwissenschaftliche Analyse hätten sich je an einem low level-Zugriff auf die überlieferten ›Musik-Texte‹ zu versuchen. Auf germanistischer Seite umfasste eine solche Analyse eine exakte Bestimmung der Aufschreibmodalitäten, die Untersuchung möglicher Gliederungsmuster (abgesetzte Verse, Reimpunkte, nicht-alphabetische Zeichen, Initialen etc.), metrische Phänomene wie Silbenverteilung, Betonungsstrukturen (und Schwierigkeiten ihrer Bestimmung), Reimstrukturen, mögliche Bildung von abstrakten ›Strukturmustern‹ (Strophenschemata57) und deren Aufweichung (z. B. durch Strophenvarianz). Auf musikwissenschaftlicher Seite umfasste sie eine exakte Bestimmung und Evaluation des Notationssystems und ggf. der handschriftlichen Varianz, eine Beschreibung von Tonraum und Intervallstrukturen, eine genaue Untersuchung des Melodieverlaufs und die mögliche Bildung von abstrakten ›Strukturmustern‹ (Strophenbau, Zeilenmelodie). Eine solche analytische Aufsplittung von germanistischem und musikwissenschaftlichem Zugriff lässt sich auch historisch begründen. Eine feste Formel wie das mhd. wort unde wîse macht in der syntaktischen Konjunktion eine potentielle Disjunktion sichtbar. Umgekehrt aber signalisiert die mhd. Wortfamilie dôn / doenen, dass die Perspektive jederzeit auf eine holistische umgestellt werden kann. Diesen Zugriff gälte es in einem zweiten, Bertau, Sangverslyrik, 189 – 201; März, Marienleich; Shields, »Marienleich« etc. Wichtige Vorarbeiten haben dafür – besonders im Kontaktbereich von französischer und deutscher Lyrik des Hochmittelalters – Touber, Rhetorik und Form und Ranawake, Strophenkunst geleistet. Dazu gesellt sich eine lange Reihe von Einzelstudien von Anthonius H. Touber, deren Zitation den Rahmen der Fußnote sprengen würde. Nach wie vor von großem Wert ist die Zusammenstellung deutscher Strophenformen in Touber, Strophenformen. 56 57

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Germanistisches und Musikwissenschaftliches zusammenbringenden Analyseschritt zu versuchen. Das betrifft zunächst einen strukturellen Vergleich der metrischen und melodischen Strukturen, darunter auch Probleme der Textunterlegung (die besonders bei Mehrstrophigkeit schwierig sein kann) und insbesondere den Vergleich und die Diskussion möglicher Strophenformen. Zu prüfen wäre etwa, inwieweit hier Parallelität (z. B. der Verbindung von textuellen und musikalischen ›Reimen‹) vorliegt, oder inwiefern der mittelalterliche sangbare Vers nicht eher einer Art ›Abweichungsästhetik‹ folgt, bei der Heterogenität zum Reizüberschuss wird (Phänomene wie textuelles Enjambement, die ›Rundkanzone‹ im Melodischen etc.). Was nach spröder Formanalyse klingt, könnte auf grundlegende Prinzipien einer mittelalterlichen Ästhetik weisen. Diese vorgeschlagene unverstellte Herangehensweise soll nicht der Illusion von Theorielosigkeit das Wort reden. Es ist nicht möglich, solche Analyseschritte ohne das analytische Begriffsarsenal zu gehen, wie es etwa Andreas Heusler auf Seiten der Germanistik oder Friedrich Gennrich58 auf Seiten der Musikwissenschaft etabliert haben.59 In der harten Konfrontation dieser im Grunde normierenden, an ästhetischen Vorstellungen des späten 18. und 19. Jahrhunderts geschulten Begrifflichkeiten mit der Realität der mittelalterlichen Überlieferung wäre aber zu erwarten, dass die Terminologie auf eine deskriptive Begrifflichkeit herabzubrechen oder überhaupt zu ersetzen sein wird. Diese Revision bzw. Renovierung der Beschreibungssprache wäre dann ein über einzelne Analysen hinausreichendes, systematisches Ziel einer neuen Form-Analyse. 2. Theorie der Form So wenig es eine Literaturtheorie des deutschen Mittelalters gibt, so wenig gibt es auch eine zeitgenössische – mittelalterliche – Theorie der Formen des sangbaren Verses. Dennoch kann es nicht befriedigen, Formen des sangbaren Verses, angeleitet von modernen (philologischen, sprachwissenschaftlichen, musikwissenschaftlichen) theoretischen Modellen, zu beschreiben und angesichts des Fehlens einer zeitgenössischen Theorie so zu tun, als hätte Gennrich, Grundriß. Allerdings ist der musikwissenschaftliche Forschungsstand zu diesen Texten wesentlich schlechter als der germanistische. Nach eifrigen Bemühungen im früheren und mittleren 20. Jahrhundert, den Melodien eine neuzeitlichen Vorstellungen genügende Zeitgestalt zu geben, hat man, nach der Einsicht in die Unlösbarkeit der Rhythmusfrage (Kippenberg, Rhythmus), resigniert. Vereinzelte neuere Studien stammen bezeichnenderweise meist von Germanisten (siehe die in Anm. 38 Genannten). 58 59

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es keine zeitgenössischen Konzeptualisierungen dieser Formen gegeben. Walter Haug hat mit seiner Literaturtheorie im deutschen Mittelalter60 vorgeführt, dass auch solchen ›Literaturwelten‹ ein theoretisches Sprechen über Literatur eignet, die dieses Sprechen nicht in Form eigener Textsorten institutionalisiert haben. Haugs Methode besteht darin, aus digressiven Passagen (Prologen, Epilogen, Erzählerexkursen), die sich in Reflexionen auf das Erzählte ergehen, theoretische Prämissen zu entwickeln. Ganz ähnlich wird man zu verfahren haben, wenn es gilt, eine zeitgenössische Theorie des sangbaren Verses vielleicht nicht zu schreiben, aber doch so gut es geht zu umreißen. Lediglich der Fokus der reflexiven Passagen wird ein anderer sein müssen: nicht Erzählen, sondern sangbare Formen. Die Passagen, die man zu diesem Zwecke nutzen kann, sind ganz verschieden: Passagen, die über Reim oder Musik sprechen, die Musikaufführungen darstellen,61 die Instrumente listen oder thematisieren,62 ganz allgemein Schilderungen von höfischen Festen, Beschreibungen von akustischen Automaten; dann aber auch Literaturexkurse, die über gesungene Texte (und womöglich deren formalen Status) sprechen, Spruchdichter, die einander (etwa als Ton-Diebe) beschimpfen, Prologe, Epiloge oder reflexive Passagen, die Formales in den Blick nehmen, ebenso wie metaphorisches Sprechen, das sich eines ›lautmalerischen‹ Vokabulars (omnipräsent: Nachtigallen für Sänger) bedient. Gerade das Singen von Texten (gleich welchen Inhalts) wird in der deutschen Literatur immer wieder Thema; Passagen, die ausführlich davon handeln und zugleich (in welcher Art auch immer) auf die Form des gesungenen Textes eingehen, sind jedoch rar. Beispiele wären die Musik-Passagen im Tristan Gottfrieds von Straßburg63 (z. B. Tristan als junger Musiker und die Gandin-Episode, ebenso wie Musikalisches und Klangliches in und neben der Minnegrotte), aber auch etwa die sonderbaren, gleichsam pseudomusiktheoretischen und wiewohl schon sehr späten (erst um 1400) Erörterungen Eberhards von Cersne in Der Minne Regel.64 Während dieser Suche nach der Thematisierung von (musikalischen) Formen in der mittelalterlichen Literatur enge Grenzen gesteckt sind, öffnet sich ein weites Feld, wenn man das Vokabular der höfischen Lyrik – von Minnesang und Spruchdichtung – näher in den Blick nimmt. Es liegt auf der Hand, dass es von akustischen Leitbegriffen geprägt ist wie von wenig 60 61 62 63 64

Haug, Literaturtheorie. Bartels, Musikszenen. Besonders Eitschberger, Musikinstrumente. Dazu umfassend Schaik, »Musik im Tristan«. Dazu zuletzt Birkhan, »Der Minne Regel«.

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anderem, seien dies feste Formeln wie wort unde wîse, seien es nahezu poetologische Begriffe wie dôn, doenen oder rîmen, sei es ein metaphorisches Vokabular, mit dem das eigene Tun reflektiert wird (Singvögel aller Art z. B.), sei es eine metapoetische Gleichschaltung von Liebeshandlung und Sangeshandlung, auf der das zentrale Paradoxon wenigstens des reinmarschen Minnesangs erst erstehen kann (Trauer singen und Freude mehren), sei es eine Narrativierung der poetischen Formverwendung in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst, oder seien es meistersängerliche TerminologieRetrospektiven auf althergebrachte Formen. All dies ist offensichtlich und man hat sich darum längst angenommen. Das ist etwas anders im Bereich der Heldenepik: Als gesungene, strophische Epik hebt sich Heldenepik – formal – vom höfischen Roman ab. Wie diese Differenz zu bewerten sei, war wiederholt Gegenstand von Untersuchungen. Gesucht wurde meist nach pauschalisierenden Interpretationen des Befundes (Heldendichtung als oral poetry65, Heldendichtung als Memorialkunst66). Zu fragen wäre aber – und soweit ich sehe, hat man dies bislang kaum getan –, inwieweit dieser medial-formale Sonderstatus der Heldendichtung innerhalb der Heldendichtung selbst reflektiert wird. Vor allem die Dietrichepik scheint unter dieser Perspektive noch nicht umfassend untersucht worden zu sein. Es ginge dabei um eigenwillige heldenepische Paratexte (z. B. Zwischentitel wie die wapen-lieder-Überschriften in der Wiener Virginal 67), um Epiloge und Prologe, die Vortragssituationen imaginieren (z. B. die letzte Strophe der Heidelberger Virginal [ed. Zupitza] oder die letzten Verse des Laurin D [ed. Holz]), redaktionelle Notizen (etwa zu den absichtlichen Kürzungen im Dresdener Heldenbuch [ed. Kofler]) oder den Vortrag von Heldendichtung, wie ihn Heldendichtung selbst in Szene setzt (z. B. Swämmel in der Nibelungenklage68, Botenberichte in der Heidelberger Virginal 69). Man wird solches nicht unternehmen können, wenn man die Frage nach Form und nach dem Zusammenspiel von Text und Musik nicht in den weiteren Kontext der von den Texten eingestellten Medialität und Performativität stellt. Wie bei den neueren Arbeiten zu medialen und performativen Siehe Anm. 37. Haferland, Mündlichkeit. 67 Vor den Str. 84 und 104, ed. Stark. 68 Das ist natürlich eine viel diskutierte Stelle, allerdings meist unter narratologischen Gesichtspunkten (umfassend: J.-D. Müller, »Spielmann«). 69 Zum medialen Status dieser Botenberichte u. a. Uta Störmer-Caysa, »Die Architektur eines Vorlesebuches. Über Boten, Briefe und Zusammenfassungen in der Heidelberger ›Virginal‹«, Zeitschrift für Germanistik, N.F. 12 (2002), 7 – 24. 65 66

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Phänomenen würde hier auch ›Form‹ zunächst zu einem Sinneffekt des Textes,70 den es erst sekundär mit quasi ›realen‹ formalen Phänomenen zu konfrontieren gälte. Das heißt aber nicht, dass damit nicht doch immerhin Vorstellungen über die formale Gestalt und über das Zusammenspiel von Text und Musik greifbar würden, wie sie sich in den Texten niedergeschlagen haben. Wie sehr solche Vorstellungen einen gleichsam realen poetischen Hintergrund haben, wird sich in vielen Fällen nicht bestimmen lassen, wie auch in den meisten Fällen (Ausnahmen sind vielleicht, in Ansätzen, Eberhard von Cersne und der Tristan) keine Aufschlüsse über formale Details zu erwarten sind. Möglich sein wird aber, einige prägnante Spielarten des Sprechens über Form gleichsam theorice abzustecken und damit einen imaginativen Raum zu erschließen, der die ›realen‹ Formen der ›alten‹ Literatur begleitet, sie (literarisch, stofflich, medial, sozial etc.) rahmt, poetisch funktionalisiert, vielleicht auch sie konterkariert oder diskreditiert. Inwieweit die Berücksichtigung des lateinischen Bereichs förderlich sein könnte, ist für die deutsche Literatur des Mittelalters bislang kaum diskutiert worden. Er hebt sich von den volkssprachigen Texten und besonders vom deutschen Bereich dadurch ab, dass dort, zurückgehend auf Augustinus, eine intensive und im engeren Sinne theoretische Diskussion etwa über formale (Zeit-)Probleme geführt wird. Sie werden die ›deutschen Formen‹ nicht erklären können, formieren aber einen wohl vorauszusetzenden Bildungshintergrund für die volkssprachigen Bereiche.

3. Form-Semantik Am schwierigsten abzugrenzen ist der dritte methodische Bereich, der dem Verhältnis von Form und Semantik gilt. Es wurde bereits mehrfach angedeutet, dass und weshalb eine Formdefinition im Sinne eines NichtInhalts zwar eine heuristisch praktikable, theoretisch aber defizitäre ist. Nirgends wird dies eindringlicher als im Kippeffekt bei der Wahrnehmung einer ›Formung‹ als Kombination von Inhalt und Form oder als geformte Materie. Es ist dies – in einem doppelten Sinne – der spannungsreichste Bereich der Beschäftigung mit ›alten‹ Formen und mit Formen überhaupt. Ich stelle mir vor, dass es lohnend sein könnte, vor allem um diese drei konzeptuellen Engführungen zu kreisen:71 Vgl. Anm. 36. Ich bitte um Nachsicht, dass ich im Folgenden vor allem Beispiele aus meinen eigenen Arbeitsgebieten nenne. Das hat damit zu tun, dass angesichts der aktuellen Forschungslage eine systematischere, gleichsam objektive Aufbereitung der Themenfelder kaum möglich scheint. 70 71

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(1) Form und Fasslichkeit: Es ist ein Gemeinplatz, dass die formale Gestaltung eines Textes sich auf dessen Fasslichkeit auswirkt oder auswirken kann. Im extremsten Fall erreicht ein Text oder ›Musik-Text‹ eine solche Komplexität, dass perzeptorisch nur noch Teilbereiche erfahrbar sind, extrem z. B. bei mehrstimmigen, mehrsprachigen Motetten der Ars Nova. In anderen Fällen aber kann eine ›Form‹ Aufmerksamkeit steuern, indem sie das eine zu Gunsten eines anderen aus der Wahrnehmung ausblendet. Hugo von Montfort und sein ›Komponist‹ Bürk Mangolt scheinen dies beim Tagelied Weka, wekch die zarten lieben! dadurch bewerkstelligt zu haben, dass sie in der musikalischen Imitation des Weckrufs den Tageliedgestus gestärkt und semantisch widerstreitende Elemente des Wortlauts an den Rand gedrängt haben.72 Wieder anders stellt sich bei einigen Texten die Frage, ob nicht die syntaktischen Folgen formaler Komplexität Sprache zusehends desemantisieren. Ein Beispiel für eine solche Sinnverdunkelung könnte der Jüngere Titurel sein, bei dem insbesondere fraglich ist, ob angesichts der monotonen und doch befremdlichen Partizipialkaskaden, die der Strophenform geschuldet sind, noch viel Inhalt ›transportiert‹ wird.73 Ähnliches gilt vielleicht für die Vokalspiele Walthers von der Vogelweide oder Konrads von Würzburg, deren (grammatikalisch korrekte) Sätze bis zur Schwer- oder Unverständlichkeit von Reimen zerschnitten werden. (2) Formale Betonungseffekte: Form kann nicht nur dazu dienen, Fasslichkeit einzustellen, sondern kann auch Betonungsfunktion ausüben. Das ist von den unter 1. genannten Phänomenen nur graduell zu unterscheiden. Wenn etwa bei Rudolf von Ems Klangverfeinerung (besonders im Reimklang) exzessiv betrieben wird, führt dies im selben Moment zur Betonung von (reimenden) Leitbegriffen und zur syntaktischen Unverständlichkeit der Passagen.74 Semantische Aufladung und semantische Ausdünnung gehen Hand in Hand. Formale Betonungseffekte können aber auch etwa formale Strukturen wie die Kanzonenstrophe sein, die eine Argumentation formen und zugleich leiten (Achtergewicht etc.), oder kalkulierte Varianz in solcher Strophenform, wie sie in Schlussstrophen bei Heinrich von Morungen häufig ist.75 Kragl, »Bürk Mangolt«. Mertens, »Kontingenz und Sprache«. 74 Einige Beispiel aus Rudolfs Prologen von Alexander und Willehalm bei Florian Kragl, »Kanonische Autorität. Literaturexkurse und Dichterkataloge bei Rudolf von Ems«, in: Jürgen Struger (Hg.), Der Kanon – Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Tagung österreichischer und tschechischer Germanistinnen und Germanisten, Olmütz, Olomouc, 20. – 23. 9. 2007 (Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik [16] 2007), Wien 2008, 347 – 375. 72 73

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(3) Semantik der Form: Von diesen Erscheinungen, bei denen eine Form Semantik steuert, sind solche abzugrenzen, bei denen vermeintlich inhaltslose Formhülsen selbst zu Sinnträgern werden. Die eindrücklichsten Beispiele liefern hier Kontrafakturphänomene. Wenn ein Text die Melodie oder auch nur die metrische Gestalt (wie Jüngerer Titurel und Ulrich Füetrers Buch der Abenteuer) eines anderen verwendet, geraten die Texte in Verbindung, weil die Form zum Zeichen wird. Das kann bloße Verweisfunktion haben, kann aber auch mit einer semantischen Verdichtung von Form einher gehen; neuzeitliches Beispiel wäre Queen’s We Are the Champions, mittelalterliches Beispiel wäre vielleicht die Anlehnung von Walthers Palästinalied an die Musiksprache der Gregorianik und die dadurch – gegenüber Jaufrés Lanquan li jorn, dem wahrscheinlichen Melodiespender – erreichte Abstimmung von Textinhalt (Kreuzlied) und Melodiekonnotat.76 Diese vorgeschlagene Dreiteilung ist keine zwingende. Schon die angerissenen Beispiele führen vor, dass je nach Perspektive ein Phänomen dieser oder jener oder auch mehreren Kategorien zuzuschlagen ist. Um ein obiges Beispiel fortzuführen: Eine komplexe Reimstruktur bei Rudolf von Ems auf Basis der Morpheme liep und diep77 kann, erstens, Fasslichkeit lenken, indem sie Aufmerksamkeit attrahiert und zugleich von syntaktischen Verhältnissen ablenkt. Sie kann, zweitens, als Betonungseffekt gelten, insofern die beiden Reimmorpheme zu Zentralbegriffen der Textpassage werden. Sie kann aber auch, drittens, als formale Struktur selbst Sinnträger werden, wenn die formale Verschränkung im Reim per analogiam eine semantische Verschränkung der Begriffsbereiche hervorruft. Die Dreiteilung bietet sich zur Vermessung der Möglichkeiten von Form-Semantiken an, dient aber nicht der strengen Klassifizierung von einzelnen Textphänomenen. Sie verweist damit auf eine zentrale Schwierigkeit bei der Diskussion von Form und Semantik: Im Grunde ist es stets Ermessenssache, wie die einzelnen Phänomene gewertet werden. Mit einem weiteren Beispiel: Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass Konrad von Würzburg in der Goldenen 75 Dazu Florian Kragl, »Schwalbengesang. Performative Unschärferelationen im ›Nachtigallenlied‹ Heinrichs von Morungen (VII / MF 127,34)«, in: Dorothea Klein (Hg.), Festschrift für Elisabeth Schmid [im Druck]. 76 Kragl, »Musik«. 77 Johannes Keller und Florian Kragl, »Hasen auf Spießen. Eindeutiges und Zweideutiges in mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Texten«, in: Doris Moser und Kalina Kupczynska (Hgg.), Die Lust im Text. Eros in Sprache und Literatur (Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik [17] 2008), Wien 2009, 69 – 97, bes. 74 f.

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Schmiede Reime verwendet, um syntaktischen Textsinn zu kommentieren, ironisieren, brechen usf.78 Aber wird man dasselbe auch von irritierenden (z. B. unreinen) Reimstrukturen in der Dietrichepik (z. B. Laurin A 325 f., wo ein unreiner Reim auf den prekären Status der gegebenen Lehrrede hinweisen könnte) behaupten dürfen, wo die Texte den Eindruck vermitteln, wenig auf Formales Acht zu geben? Und wie lässt sich ein solcher Eindruck theoretisch fundiert beschreiben? Mit anderen Worten: Die Engführung von Form und Semantik ist, stärker wohl als Formanalyse im oben beschriebenen Sinne, interpretationsabhängig.79 Ich will das bewusst als Anreiz verstehen: Hier wird im Eigentlichen die Untrennbarkeit von Form und Inhalt sichtbar, wenn das Sprechen über Form und das Sprechen über Inhalt denselben Unwägbarkeiten unterworfen sind. Hier wird das Phänomen der Engführung von Form und Semantik erst eigentlich virulent. Hier zeichnet sich nicht nur ein breites Spektrum an Möglichkeiten historischer Form-Semantiken ab – seien dies nun Phänomene des Metrums, des Reims, des Strophenbaus oder der Musik –, sondern hier wird auch zu einer tief greifenden Reflexion des Form / Inhalt – Form / Materie-Problems eingeladen, die die einleitend vorgeschlagene und analytisch notwendige Sektion der beiden Formbegriffe einem intensiven theoretischen Diskurs zuführte.

IV. Neidharts Lied R 53 / Sommerlied 23 Jenes Lied, das die Salzburger Neidhart-Edition80 in Bd. 1 als R 53 bietet – geläufiger ist die Katalogisierung als ›Sommerlied 23‹ –, ist, vom Text her besehen, vergleichsweise konventionell: Erzählt wird, in allen vier Überlieferungszeugen (RCcf), ein nachgerade klassisches Sommerlied.81 Ein Natureingang stellt eine Frühlingsszenerie bereit, in der Tochter und Mutter einen – je nach Fassung – kürzeren oder längeren Dialog über den rechten Werber für die Tochter führen. Der Tochter eignet offenbar eine FasziKöbele, »›Süß, wild, fremd‹«. Am deutlichsten und aber auch eindrucksvollsten wird dies in Wagenknechts Deutscher Metrik, dessen Beispiele, so ›unschuldig‹ Metrik-theoretisch sie sich präsentieren, gerade deshalb glänzend sind, weil sie ein feinsinniges Zusammenspiel von Form und Semantik vielleicht nicht strikte einfordern, aber immerhin möglich machen. 80 Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz und Franz Viktor Spechtler (Hgg.), Salzburger Neidhart-Edition, 3 Bde. (Berlin / New York 2007). 81 Über die poetologische Position des Liedes innerhalb der neidhartschen Sommerlieder informiert jetzt Bleuler, Überlieferungskritik [Anm. 43], 210 – 221 (mit Aufarbeitung der Forschungsliteratur). 78 79

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nation für die Ritter oder einen Ritter (dann: den von Reuental); die Mutter aber warnt sie davor und sähe sie lieber beim jungen Meier, den es nach ihr verlangte. Die Art, wie diese Szene entfaltet wird, variiert von Handschrift zu Handschrift: Strophenbestand und Strophenreihenfolge scheinen in der Überlieferung unfest, was auch dem Gespräch und seinem Ausgang je verschiedene Wendungen zu geben vermag: Wo die Tochter sich in R am Ende von der Mutter gein Riwental (IX,6) abwendet, prügelt die Mutter sie in C eben dorthin. Anders cf, wo die Geschichte schon vor dem Gespräch weiter gediehen ist: Tochter und Reuentaler (?) haben längst getiselt und getaselt (c X,5 – mit Der Tisell tasell ist das Lied in c denn auch überschrieben), die Mutter weiß das auch der Tochter vorzuwerfen, die sich aber – das ist der Liedschluss – zuversichtlich zeigt, dass man sie in Reuental wirdiglichen seczen (XI,5) wird. Dies nur, um eine ungefähre und gewiss stark vergröbernde Vorstellung vom Textinhalt zu geben, um den es im Folgenden eben nicht gehen wird. Wichtig oder notwendig für das Folgende ist allenfalls, dass die inhaltliche Komposition des Liedes eine lose ist und sein kann. Denn die Schlichtheit der Gesprächsszenerie und die Parallelisierung von frühlingshaftem Natureingang und Gemüt der Tochter öffnen einer immer neuen und immer wieder anderen Zusammenstellung der Strophen Tür und Tor: Es ist zwar nicht gänzlich, aber – mit wenigen Ausnahmen – doch vergleichsweise irrelevant, wer zuerst was sagt, wie das Gespräch beginnt, welche Naturphänomene an welcher Stelle von wem besungen werden.82 Konkret stellt sich diese Varianz so dar, dass die Riedegger (heute: Berliner) Handschrift R 82 Gerade die Strophenfolge von R ist in der Forschung viel diskutiert, weil dort das Mutter-Tochter-Gespräch von einem (zweiten) Natureingang unterbrochen ist, was formallogisch ein Problem darstellt. Man hat verschiedene Hypothesen über die Echtheit dieser Strophen oder mögliche Entstehungsprozesse der Strophenreihenfolge formuliert, zuletzt und am ausführlichsten Jürgen Kühnel, der von einer Art Kompilation einzelner Liedvarianten (auf einzelnen Liederblättern) in der Rund C-Fassung ausgeht (Jürgen Kühnel, »Aus Neidharts Zettelkasten. Zur Überlieferung und Textgeschichte des Neidhartschen Sommerliedes 23«, in: Rüdiger Krohn [Hg.], »Dâ hoeret ouch geloube zuo«. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anläßlich seines 65. Geburtstags, Stuttgart / Leipzig 1995, 103 – 137, bes. 110 f., 115). Eine poetologische Deutung des Befundes (zu R) hat Bleuler, Überlieferungskritik [Anm. 43], 211 – 221 unternommen (die sich aber der Hypothese von Kühnel anzuschließen scheint: ebd., 220). Diese überlieferungsgeschichtlichen und inhaltlichen Diskrepanzen sind im Folgenden nicht Thema: Dennoch frage ich mich, ob man den Liedern nicht mehr Prägnanz und Stringenz abverlangt, als ein gesungener Text einlösen muss, um zu gefallen. Denn wer ein Lied nicht auf argumentative Kohärenz analysiert, sondern es einfach liest – oder noch mehr: es hört –, den werden diese Aporien vielleicht gar nicht so sehr stören wie die Neidhart-Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts.

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(um 1300; hier ist es Lied Nr. 53) und die Große Heidelberger Liederhandschrift C (um / nach 1300; das Lied füllt die Strophen C Neidhart 100 – 109) relativ eigenständige Fassungen bieten, indem sie dieselben Strophen je verschieden ordnen: 8 von insgesamt 9 Strophen sind ihnen gemeinsam; je eine Strophe gehört nur R oder C. Die Riedsche (heute: Berliner) Handschrift c (2. Hälfte 15. Jh.; das Lied als c 29 [28]) wiederum bietet mit 11 Strophen die längste Version, wobei 7 der 11 Strophen Entsprechungen in RC haben; 3 Strophen finden sich nur in c, 1 c-Strophe ist aus zwei RC-Strophen kombiniert. Die »Neidhart-Sammlung Brentanos« (heute ebenfalls in Berlin) f (2. Hälfte 15. Jh.; hier Lied Nr. 13) ist in Strophenbestand und reihenfolge nahe an c, lediglich eine jener drei c-Strophen, die RC nicht kennen – Strophe c VII –, fehlt auch in f. Kurz gesagt: Das Lied liegt in drei Fassungen R, C und cf vor.83 Für die formale Analyse ist dies insofern wichtig, als die Nähe von c und f auch eine ist, die sich im Wortlaut widerspiegelt und somit einen intensiveren formalen Vergleich von c und f ermöglicht, als man ihn zwischen R, C und c (oder f) führen könnte. Nur eine der vier Handschriften – die Riedsche Handschrift c – überliefert zum Text auch eine Melodie, die den (dort) elf Strophen, wie auch sämtliche anderen Melodien der Handschrift, ohne Textunterlegung vorangeht. Allerdings fällt es beim Tisell tasell – anders als bei vielen anderen Neidhart-Melodien in c – sehr leicht, Melodie und Text zusammenzubringen. Unterlegt man den Text von Strophe 1, sehe ich nicht ein einziges Detail, wo man Text und Melodie anders kombinieren könnte, als die Herausgeber der Salzburger Neidhart-Edition dies getan haben. Das folgende Notat ist von dort übernommen (Bd. 1, 361):84

83 Vgl. Bleuler, Überlieferungskritik [Anm. 43], 211; Kühnel, »Zettelkasten« [Anm. 82], 105 u. ö. 84 Zu danken habe ich Ingrid Bennewitz und Ulrich Müller für die freundliche Erlaubnis, den Notensatz zu verwenden.

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Die Melodie ist relativ einfach gebaut: Sie bewegt sich ausschließlich im dorischen Tonraum85 und lotet diesen geradezu idealtypisch aus: In Z. 1 schwingt sich die Melodie von der Finalis d (die zugleich der Initialton ist) auf zur Repercussa (dem – nach der Terminologie der Kirchentöne – Rezitationston) a, von dem aus in Z. 2 die um eine Oktave erhöhte Finalis d erreicht wird, wonach die Melodie sich wiederum um a einpendelt und mit einem offenen Schluss auf g schließt. Z. 3 setzt wiederum mit der Repercussa an und führt die Melodie in den Bereich der Finalis, die Zeile schließt offen auf e. Z. 4 (die in der Ausgabe ohne Umbruch notiert ist) festigt den dorischen Modus mit einem Quintsprung zwischen Finalis d und Repercussa a; Z. 5 pendelt um a, Z. 6 führt – das Gegenstück zu Z. 1 – die Melodie zurück von a nach d. Der Ambitus ist unten mit c, oben mit d begrenzt, auch dies ist konventionell und unspektakulär. Die Melodie ist so authentisch dorisch, wie eine Melodie nur sein kann.86 85 Vgl. eine differenzierte Diskussion des Tonraums (der Neidhart-Melodien allgemein und aber auch dieses Liedes) bei Schmieder, »Zur Melodiebildung«, 11.

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Worum es mir im Folgenden gehen wird, ist die formale Analyse vor allem der metrischen Strukturen, wie sie die vier Überlieferungen des Neidhart-Liedes ausbilden. Ich beginne mit Handschrift c, weil es hier möglich ist, den textanalytischen Befund mit jenem zur Melodie engzuführen. Gewählt habe ich das Beispiel unter anderem deshalb, weil dieses Zusammenspiel zwischen Text und Melodie hier schon fast auffallend reibungslos erfolgt – und auch, weil die Art der Notation es hier möglich macht, diese Reibungslosigkeit überhaupt zu erkennen. Denn die Melodie zu Lied 28 [29] in Neidhart c ist – in einer Hinsicht doch – etwas Besonderes: Die allermeisten Melodien, die zu hochmittelalterlicher deutscher Lyrik überliefert sind, sind – ich hatte es oben angedeutet – ohne Zeitinformation erhalten. Das heißt, dass man wohl die Tonfolge (bei Neumen nicht einmal diese exakt) erkennen kann, dass aber diesem Notat der Tonfolge keine Information zur Zeitgestalt der Melodie eignet. Ob ein Ton oder ein Melisma kurz oder lang, betont oder unbetont, einzeitig, zweizeitig, dreizeitig zu denken bzw. singen ist, lässt sich üblicherweise aus den Notaten nicht erschließen. Der positivistische Optimismus der älteren Forschung (bis ins mittlere 20. Jahrhundert) wollte dem mit gewagten Rekonstruktionsversuchen beikommen, freilich ohne eigentlichen Erfolg. Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Melodie ein rechter Glücksfall:87 Der offenbar geregelte Wechsel von kaudierten und unkaudierten Notenköpfen legt es nahe, dass man es hier mit einer mensurierten – also: gemessenen – Melodie zu tun hat. Es fällt denn auch leicht, das Notat nach den Regeln der Mensuralnotation, wie sie sich seit dem 13. Jahrhundert ausbildet und – in verschiedenen Ausprägungen – bis ins 17. Jahrhundert hinein fortbesteht, zu lesen. Dann sind die unkaudierten Noten Semibreves, die kaudierten Minimae, wobei im Normalfall gilt, dass – wenn nicht anders 86 Unsicher sind allenfalls die b-Vorzeichnungen, die die Herausgeber in Z. 1, 5 und 6 vornehmen. Gerade in Z. 5 und 6 wäre genauso gut h denkbar, da beide kein f enthalten, und auch in Z. 1 sind f und h / b durch vier Zwischentöne (allerdings: nur zwei verschiedene Tonstufen: g und a) getrennt. 87 Das Notat stammt nicht ohne Zufall von einer anderen Hand als die übrigen Melodien in c (Ingrid Bennewitz-Behr, Die Berliner Neidhart-Handschrift c [mgf 779]. Transkription der Texte und Melodien, unter Mitw. Ulrich Müller [GAG 356], zugl. Neidhart-Materialien I, Göppingen 1981, 81). Siehe auch das SchwarzweißFaksimile in Edith Wenzel (Hg.), Abbildungen zur Neidhart-Überlieferung II. Die Berliner Neidhart-Handschrift c (mgf 779) (Litterae 15), Göppingen 1976, fol. 159v – 160v, die Melodie auf 159v. Ob es allerdings deshalb auch ein Nachtrag sein muss (so Wolfgang Schmieder [Bearb.], Lieder von Neidhart [von Reuental], Rev. des Textes Edmund Wiessner [DTÖ Jg. 37,1 = Bd. 71], Wien 1930, Ndr. 1960, 47; zit. bei B.-B.), sei dahingestellt: Text und Melodie fügen sich so gut zueinander, dass es immerhin ein genialischer Nachtrag wäre.

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vorgezeichnet – eine Semibrevis (im Vergleich zur Minima) dreizeitig zu denken ist. Wenn allerdings eine Minima (M) vor oder nach eine Semibrevis (S) tritt, wird die ›perfekte‹ – dreizeitige – Semibrevis davon ›imperfiziert‹, sodass Semibrevis und Minima zusammen eine dreizeitige Einheit bilden: die Semibrevis wird zweizeitig. Während also SMMMS zu deuten wäre als 31113, muss SM als 21 verstanden werden. Auf die konkrete Melodie umgelegt, heißt das, dass alle Semibreves zweizeitig (also: ›imperfekt‹) sind mit Ausnahme der abschließenden doppelten Semibreves in Z. 1, 2, 5 und 6, der einfachen Semibrevis am Schluss von Z. 3 und der drei Semibreves in Z. 4. Was macht der Text? Ich will mich vorerst nur auf Strophe I konzentrieren. Versucht man, diese auf ein metrisches Schema zu bringen, müsste dies wohl folgendermaßen aussehen (links die metrische Struktur, rechts das Reimschema): •() • •   •

a a b b x b

Die Klammer für Z. 1 signalisiert, dass die Senkung in der Strophe nicht realisiert – oder eigentlich: nicht aufgeschrieben – ist; schón zu schoene zu bessern, wenn es gilt, den Text zu singen oder zu rezitieren, sollte freilich zu keiner Zeit eine größere Schwierigkeit gewesen sein. Die Waise in Z. 5 reimt in den Strophen IV und VII auf Z. 1 und 2 (also den Reimklang a), in Strophe VII mit einem identischen Reim auf Z. 1. In die gängige Kurzschreibweise verpackt, wäre dies: .6ka .6ka .4mb 2mb 6kx .4mb88

Das Metrum ist – abgesehen von der eingeklammerten Senkung in Z. 1 – streng alternierend, ausgenommen davon sind nur die (klingenden) Kadenzen. Der Aufbau der Strophe ist einfach und unkompliziert, es dominieren 88 Man könnte hier wie im Folgenden natürlich alle klingenden Kadenzen auch als weibliche lesen. Im Grunde ist das einerlei, was die analytischen Vergleiche der Verse, Strophen und Liedfassungen angeht. Allerdings scheint mir die musikalische Zeilenschlussbildung durch eine doppelte Semibrevis dafür zu sprechen, klingende anstatt weiblicher Kadenzen anzusetzen. Letzteres tut offenbar Bleuler, Überlieferungskritik [Anm. 43], 216 und setzt für c daher: 5a 5a 5b 2b 5x 4b. 5b für Z. 3 allerdings scheint mir der Text nicht zu stützen. In einigen Strophen wäre oder ist dies möglich, in der Hauptmasse der Fälle aber nicht. Vgl. auch Kühnel, »Zettelkasten« [Anm. 82], 133, der (unter Annahme weiblicher Kadenzen) setzt: 5a 5a 4b 2b 5x 4b.

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sechshebige Verse, wobei zu überlegen wäre, ob nicht Z. 3 und 4 zu einem solchen sechshebigen Vers kombiniert werden könnten – bzw. andersherum: Der überstumpfe Eindruck, der sich bei einem Deklamieren abgesetzter Verse (zumindest für mich) zu Z. 3 und 4 einstellt, mag daher rühren, dass sie von sechshebigen Versen flankiert sind. Der Vierheber in Z. 6 gäbe der Strophe dann einen auch formal sehr deutlichen Abschluss. Ähnlich luzide wie Melodie und Textmetrik ist deren Zusammenspiel geraten.89 Melismen, die in der mittelalterlichen Melodieüberlieferung oft schon die Textunterlegung schwierig machen, fehlen ganz, das Lied ist syllabisch organisiert, auf jede Note kommt eine Silbe und umgekehrt (wenn man die Emendation zu schoene mitgeht). Auch die Auftakte werden von Einzelnoten realisiert, sodass für dieses Lied offenbar nicht gilt, was man gelegentlich für mittelalterliche Textmetrik anzunehmen scheint: nämlich dass Auftakte frei und fakultativ wären. Es genügt ein kurzer Blick auf den Musik-Text, um zu sehen, wie hier musikalische Metrik bzw. Rhythmik und Textmetrik interagieren: Die Korrelation von Semibreves bzw. Minimae mit betonten bzw. unbetonten Silben könnte exakter nicht sein. Semibreves realisieren stets betonte Silben, Minimae ohne Ausnahme unbetonte Silben. Das ergibt – natürlich mit Ausnahme der Kadenzen – ein streng alternierendes Metrum, das im Musikalischen nicht minder streng von langen und kurzen Notenwerten interpretiert wird. Martin Opitz wäre zufrieden gewesen. Schwieriger ist die Beschreibung des Zusammenhangs von langen und kurzen Silben (Positions- und Naturlänge) mit langen und kurzen Notenwerten. Anders als bei der Korrelation von metrischer Betonung und musikalischer Notendauer sind die Bezüge hier komplizierter. Vergleicht man Notendauern mit Silbenlänge, ergibt sich (mit einigen Unsicherheiten90) für Strophe I folgendes Bild: Semibrevis und kurze Silben gehen 5mal zusammen, Semibrevis und (positions- oder natur)lange Silbe 24mal, Minima und kurze Silbe 4mal, Minima und lange Silbe 18mal. Vergleicht man Notendauern mit der Länge der silbenbildenden Vokale, ändert sich das Bild nur geringfügig: Semibrevis und langer Vokal (oder Diphthong) korrelieren 9mal, Semibrevis und kurzer Vokal 20mal, Minima und langer Vokal (oder 89 Darauf haben bereits Schmieder, Lieder von Neidhart [Anm. 87], 33 und 45 und Rohloff, Neidharts Sangweisen, Bd. 1, 65 f. und Bd. 2, 86 – 88 hingewiesen. Vgl. auch Kühnel, »Zettelkasten« [Anm. 82], 134. 90 Sie rühren vor allem von den ›kleinen‹ Wörtern her wie wie, sie, auch von der Bewertung der Neben- und Endsilben. Ich bin streng nach dem ›normalmittelhochdeutschen‹ Schriftbild verfahren (das die Salzburger Neidhart-Edition freilich nicht bietet), sodass ich also wie, sie etc. als langsilbig bewertet habe. newes habe ich als niuwes interpretiert, also auch mit langem Stammsilbenvokal.

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Diphthong) 6mal 91, Minima und kurzer Vokal 16mal. Und auch, wenn man – was mit Blick auf die prosodische Struktur des Mittelhochdeutschen wohl am sinnvollsten ist – Notendauern und Silbengewicht92 vergleicht, ist das Bild, wiewohl etwas deutlicher, doch noch immer verschwommen: Semibrevis und schwere Silbe gehen 21mal zusammen, Semibrevis und leichte Silbe 8mal (davon allerdings 3mal als Schlusssilbe klingender Kadenzen – also eigentlich 24mal und 5mal), Minima und schwere Silbe 8mal (meist bei ›kleinen‹ Wörtern, aber nicht ausschließlich), Minima und leichte Silbe 14mal. Lediglich bei den klingenden Kadenzen ist die Verteilung deutlicher: Die erste Silbe der klingenden Kadenzen ist stets – nicht nur in Strophe I – lang.93 Jedoch: Auch diese Regel wird unterlaufen, wenn man Z. 4 – gegen den Text und mit der Musik – als dreihebigen Vers mit ›irregulärer‹ Kadenz statt als zweisilbigen Verse mit männlicher Kadenz (also:  statt , 3k statt 2m) und – analog – Z. 6 als fünfhebigen Vers mit klingender Kadenz statt als vierhebigen Vers mit männlicher Kadenz (• statt •, 5k statt 4m) deutet. Eine kompakte Formel für das Zusammenspiel von Noten- und Silbenlänge lässt sich also kaum ermitteln. Zwar stehen lange Notenwerte häufig für lange Silben, aber dies ergibt sich wohl nicht aus einem gleichsam autonomen Längengesetz, sondern aus den Betonungsregeln der mittelhochdeutschen Sprache und Sprechmetrik: Endsilben sind in der Regel kurz und unbetont. Aber nicht weil sie kurz sind, sondern weil sie unbetont sind, werden sie, bei diesem Musik-Text, in der Regel als Minimae in Musik gebracht. Und dies nun aber ist das Erstaunliche an dieser Überlieferung: dass zwar die Längen und Kürzen der Textsilben keine unmittelbare Bedeutung für die Dauer von Notenwerten haben, dass aber die Akzentgesetze der mittelhochdeutschen (oder meinetwegen, überlieferungsnäher: der frühen frühneuhochdeutschen) Metrik mit fast schon erstaunlicher Konsequenz und Präzision musikalisch abgebildet und dabei in lange und kurze Notendauern ›umgerechnet‹ werden. Das war vor allem der Befund zu Strophe I. Was passiert im Rest des 11strophigen Liedes? Zum einen bestätigen die restlichen Strophen den Eindruck, dass hier ein Überlieferungsverbund aus Text und Musik mit sonst selten gekannter Sorgfalt gearbeitet ist. Mitunter ist es nötig, mit einer 91 Darunter aber 5mal in ›kleinen‹ Wörtern und nur 1mal gesichert in fraw bzw. frouw. 92 Ich folge hier dem Vorschlag von Theo Vennemann, wonach die Unterscheidung schwerer und leichter Silben für das ›alte‹ Deutsch von entscheidender Bedeutung ist. »Eine Silbe ist leicht, wenn sie kurz oder nicht gewichtsrelevant ist; sonst schwer.« (Vennemann, »Zusammenbruch«, 187; Hervorhebung nicht übernommen). 93 Ausnahme ist allenfalls c X,5, was f IX,5 entspricht.

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gewissen lautlichen Variabilität des Textes zu hantieren, um Text und Musik auf gleichen Takt zu bringen, aber das sind Operationen, wie sie jeder Leser – des Mittel- und Frühneuhochdeutschen sowieso, aber auch der neuhochdeutschen Standardsprache – beherrscht. Meist sind es ›Normalisierungen‹, die Text und Musik einander näher bringen, selten auch Apokopierungen und Synkopierungen: I,1 schón] schoene II,3 ende der] end’ der II,5 danck] danke III,5 handt] hende III,6 mut] muote94 IV,3 laub] loube IV,4 swindet] swindt IV,5 darunter] drunder95 V,6 iung] junge IX,5 leut] liute

Wieder andere Abweichungen vom Modell der ersten Strophe ließen sich als Betonungseffekte erklären. Sie treten immer nur in der ersten Zeile auf, indem die Zeile mit einer Hebung einsetzt und so der Auftakt verloren geht. Zuerst in V,1: Tóchterlein, des las dich nicht belangen (analog f). Dasselbe wird – stets mit Tóchterlein oder Muterlein – wiederholt in den ersten Zeilen der Strophen VII, IX, X, XI (sowie in den entsprechenden Zeilen von f). Warum sollte dies nicht dem Stropheneinsatz den nötigen Effekt geben, etwa im Sinne einer Verstärkung der direkten Anreden? Vielleicht wäre damit auch VI,1 Giest ir mir den mayer an die fersen! (f: Seczt ir mir etc.) und f VII,1 Nue loß dir den mair etc. gelten, auch wenn man letzteres leicht mit c VIII,1 Nun las du dir den mayer etc. bessern könnte? Es scheint, dass hier eine Art der Varianz vorliegt, die auch für eine präzise Überlieferung wie jene in c tolerabel ist – und eine Varianz, deren Tolerabilität gewissermaßen aufs erste Hinhören einklingt. Zum anderen gibt es freilich auch in c Stellen, die man – vom Bisherigen ausgehend – nicht anders als ›Fehler‹ nennen kann. Doch die sind nicht nur – im Einzelnen – schwierig zu bewerten, sondern auch in ihrer Verteilung über den Text auffällig. Ich will sie kurz sammeln und für jeden Einzelfall überlegen, ob sich ein Schritt hinter die Überlieferung zurücksteigen ließe: VI,3 wúrzu sol ein pawr mir zu man (und daneben f: fur we sol mir ein pawr zu einem [wohl: z’einem] man) hat eine Hebung zu viel und es fehlt der Auftakt. Der Vers lässt sich sprachgeschichtlich leicht zu zwiu sol ein pawr mir zu man bessern (was von der Parallelstelle R VII,3 bestätigt würde), doch so steht es nicht in c, und ich bin unsicher, ob man dies im späteren 15. Jahrhundert noch so einfach und en passant wieder hätte herstellen können. 94 Man könnte hier auch eine Pause ansetzen, mit der die syntaktische Zäsur – in der Ausgabe steht ein Doppelpunkt – noch deutlicher würde: in hôhem muot: [Pause] nû wol dan! Ähnlich f, allerdings ohne syntaktischen Einschnitt: in hohem mut ym wol dar. 95 Vgl. Le I, 472. Ähnlich f: darunder wollen wir] drunder woll wir. Die Kürzung der Verbalendung ist in c bereits durchgeführt, was abermals auf eine sorgfältige Überlieferung schließen lässt.

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Florian Kragl VI,5 mich noch [lies nâch] meinem willen trauten hat eine Hebung zu wenig, f (willen schone trewten) bietet das Bessere. VII,3 der hat doch baide rinder und swein ist überlang. der hât doch rinder unde swîn? Oder: der hât doch beide, rint und swîn? VII,5 wiltu das alles sampt verliesen läuft unrund. Sollte man das auf die Minima ausdehnen? VIII,3 das wirt allen deinen freunden lait (ähnlich f) wäre denkbar als des wirt al dînen friunden leit. VIII,5 schwurstu mir hewer, das ist on lúgen (ähnlich f) könnte als swüerestu mir hiure, deist ân lougen in Form gebracht werden. X,2 ich hórt dich unter der lauben laute prechsten (analog f, nur dass die Laube eine – freilich auch zweisilbige – Linde ist) könnte durch eine gespaltene Hebung oder Senkung (unter der – aber weder ⏑⏑ noch ⏑ passt, in einem strengen Sinne, zu den Silbenquantitäten) realisiert werden, wozu freilich eine Note eingefügt werden müsste (z. B. durch Spaltung der Semibrevis d in zwei Minimae d? – das wäre der einzige Fall, wo drei Minimae aufeinander folgen). Eine andere Option wäre, undr louben zu lesen, aber auch das liegt nicht unbedingt auf der Hand. X,4 bind auff dein har! (ähnlich f IX,4) hat eine Silbe zu viel. Auch dies ließe sich durch eine neue Note lösen (ddaa, als SSSS oder SMSS etwa). X,5 er hat so vil getiselt und getaselt, die – in Neidhart c – titelgebende Zeile hat sowohl einen irregulären Auftakt (Ergänzung von Minima a?) als auch eine kurze vorletzte Silbe, sodass hier – der einzige Fall im ganzen Lied – eine klingende Kadenz nicht mit einer langen Silbe beginnt. Vielleicht ist dies bei einem onomatopoetischen Wort allerdings nur von nachrangiger Bedeutung. Auch mit f IX,5 er hat mit dir vil gedisselt und getuselt ist kein Weiterkommen (hier ist das mit dir, das in c erst in der kommenden Zeile steht, vorweggenommen und damit das Enjambement beseitigt – f eignet, wie noch zu zeigen sein wird, eine starke Tendenz zur ›Prosaisierung‹). XI,4 gein Rubental ist vergleichbar mit X,4. Noch strapaziöser ist f X,4 hin gein Rewental.

Natürlich zeigt diese Übersicht vor allem, wie leicht es mit einer traditionellen Handhabe der metrischen Probleme möglich wäre, den Text von diesen Fehlern zu bereinigen. Es wären einzelne Wörter zu tilgen oder zu ergänzen, hier oder dort eine lange Note durch zwei kurze zu ersetzen, manches ergibt sich (wie die doch wahrscheinliche Ersetzung mit ›altem‹ zwiu) aus sprachgeschichtlichen Wandelerscheinungen (was im Übrigen, dies nur nebenbei, auch demonstriert, dass es wohl kaum ein Schreiber von c war, der diesen Text so gut in Form gebracht hat). Aber wichtiger noch ist die Beobachtung, dass diese Fehler dennoch stehen geblieben oder womöglich auch neu entstanden sind, und an welchen Stellen sie stehen: Die metrischen Ungereimtheiten beginnen erst mit Strophe VI – nach der Hälfte des Liedes in c – und nehmen dann gegen Ende stetig zu. Der Text

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gerät, je länger er hingeht, desto mehr aus den metrischen Fugen. Sodass als Zwischenergebnis festzuhalten ist, dass man es beim Lied c 29 [28] mit einem außergewöhnlich gut formierten Musik-Text zu tun hat, der – zu Beginn – eine nahezu perfekte Abgleichung von Akzenten der Textmetrik und musikalischen Quantitäten vornimmt; die dann allerdings, je länger der Text, desto nachlässiger wird. Man kann sich dafür verschiedene Gründe denken, der einfachste wird sein, die Last einem Schreiber oder Redaktor zuzuschreiben, der das Modell nach einigen Strophen nicht mehr so genau im Kopf hatte. Warum auch nicht? Das Entscheidende ist aber, wie und dass hier eine klare Formvorstellung eingeübt wird und dann deren Grenzen ausgelotet werden – ohne dass im Einzelnen immer klar zu sagen wäre, ob einzelne Verse als Übertritte zu verbuchen sind, oder ob sie nur, ausgehend von einem kompakten Modell, einen Rahmen des Möglichen aufspannen. Die Eigentümlichkeit der c-Überlieferung gewinnt an Konturen, wenn man dagegen die – nach dem Text zu schließen – nahe stehende Überlieferung in f 13 stellt. Augenscheinlich handelt es sich hier um eine Variante derselben Fassung oder eine Fassung derselben Version (je nachdem, wie eng oder weit man diese Begriffe fassen möchte): Die Strophenfolge ist, ich hatte es schon notiert, dieselbe, nur eine c-Strophe fehlt in f. Bis Strophe VI laufen cf parallel, ab dann ist die Zählung in f um eine Strophe verschoben. Ich gebe daher bei Vergleichen im Folgenden (wie auch schon oben) bis einschließlich Strophe VI keine eigene f-Zählung; ab Strophe c VII bzw. f VI ist die Verschiebung stets notiert. Was den (freilich ohne Melodie überlieferten) f-Text gegen den c-Text auszeichnet, lässt sich am einfachsten mit einer Summe der metrisch relevanten Abweichungen darstellen.96 Die Divergenzen lassen sich zu zwei Gruppen bündeln: im Vergleich zu c überlange Verse in f – sie bilden die Hauptmasse – oder solche, die, wieder im Vergleich zu c, zu wenig Silben aufweisen. Ich gebe im Folgenden ganze Verse nur, wo es nötig ist; meist genügt es, wenige Wörter zu zitieren, um die Art der Varianz deutlich zu machen: Überlänge: I,3 bawm den winter c] pawm die den winter f II,3 ende der winter hat c] das der winter ende hat f II,5 dirs ymmer danck c] dir seyn ymer danck f III,2 in awen c] in den awben f III,3 wenn ich ein krenczel dorauff han c] wan ich der ein krenczlein auff mein hawpt hon IV,4 swindet lait c] swindet mein leyt f V,3 zu 96 Das heißt auch, dass Abweichungen etwa des Wortschatzes nicht berücksichtig werden: Wenn beispielsweise in IV,2 ich wil auch an den rayen zu der linden c gegen ja wil ich raien zu der grunen linden f steht, ist das metrisch besehen irrelevant.

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Florian Kragl maß nicht c] nicht zu masse f 97 VI,2 einen riter c] einem stolczen ritter f VI,4 der nicht kan c] der nicht entkan f VI,6 Dittographie des muß (in der Ausg. emendiert) c IX / f VIII,2 ich will all freundt c] alle mein freund wil ich f c IX / f VIII,3 uncz ich meins willen mich erhál c] uncz das ich mich des meinen willen erhol c X,3 / f IX,3 einem ritter c] einem stolczen ritter f c X,6 / f IX,6 mit dir, das ist wol offennbar c] das ist layder worden offenbar f 98 c XI,2 / f X,2 es wirbt einer umb mich, des habt ir ere c] es wirbet einer umb mich, des habt ir ymer eree f 99 Fehlsilben: IV,6 dar kumen c] dar kumpt f V,6 mayer mutet dein c] mair der gredin f 100 c VIII / f VII,2 wiltu so thumbe ritters] wiltu deines ritters c VIII / f VII,6 will dich alles c] wil alles f

Wer das hier Versammelte skandiert, erfasst die Charakteristik der f-Überlieferung sofort: Die in c relativ strenge metrische Regulierung ist über das ganze Lied hin häufig aufgegeben, wobei sich der Effekt davon als Prosaisierung der Strophen- und Versform beschreiben ließe. f beseitigt unnatürliche Wortstellungen (und zerstört dabei mitunter auch den Reim: I,5 reiche worden c steht gegen worden reiche f), Enjambement, inseriert Wörter, um syntaktisch schwierige Stellen zu ›entzerren‹ etc. Oder umgekehrt: Wenn, was mir allerdings doch unwahrscheinlich scheint, der c-Text auf einem f-ähnlichen Text fußen sollte, dann wäre es einem Redaktor des 15. Jahrhunderts gelungen, aus einem über weite Strecken prosaischen Text (wieder) einen liedhaften zu formen. Damit ist, formal besehen, der Kontrast zwischen c und f der denkbar größte: Gegen die formverliebte c-Überlieferung steht die nachlässigste Form in f, deren Struktur – hätte man nur den f-Text – kaum noch zu erkennen wäre, vor allem wenn man den Text hört (und nicht am Reißbrett analysiert). Musikalisch ist mit einem solchen prosaischen Text wohl kaum noch etwas anzufangen. Man müsste ihn dafür herrichten – und würde damit erst recht wieder bei oder in der Nähe von c landen. Das formale Bild von c und f ist also, trotz der dichotomen Ausprägung, jeweils ein sehr kompaktes. Im Vergleich dazu sind die Formentwürfe, wie sie die beiden älteren Überlieferungszeugen R und C erhalten haben, schillernder. R und C überliefern je eigene Texte mit eigenem Strophenbestand und eigener Strophenreihenfolge, weshalb ich oben R, C und cf als drei 97 Die Betonung ist unnatürlich (zúo), auch fehlt die (in c korrekte) Apokopierung von mâz’. 98 Zum fehlenden Enjambement in f siehe oben. 99 Die Betonung ist schon in c irritierend (ez wírbt einér umb mích), in f ist der Vers ganz aus dem Lot geraten. 100 Der Vers ist wohl verderbt.

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Versionen bzw. Fassungen des Liedes angesehen habe. Auch die Varianz im Wortbestand ist erheblich. Auf all dies und auch auf die metrischen Probleme im Detail will ich hier nicht bzw. nicht in der bisherigen Ausführlichkeit eingehen. Es soll genügen, die Eigenart der R- und C-Texte auf abstrakte Weise zu beschreiben. Ich bediene mich dazu jener üblichen pseudomathematischen Kürzel für die Beschreibung, nicht, weil ich sie für Universalschlüssel zum Verständnis formaler Strukturen halte, sondern im Gegenteil weil die metrische Form von R und C eine so auffällig ›weiche‹ Gestalt hat, dass sie sogar mit diesen oberflächlichen Deskriptoren sichtbar zu machen ist. Die folgenden Übersichten zeigen, für jede Zeile der sechszeiligen Strophe in R bzw. C, die Häufigkeitsverteilung der Hebungszahlen und Kadenztypen über das gesamte Lied. Bei der Ermittlung der Werte habe ich mich nicht stur an den Schrifttext gehalten, sondern eine Art best case reading unternommen: Apokope, Synkope, Kontraktionen, Krasis etc. sind stillschweigend eingesetzt, wo sie mir metrisch sinnvoll erschienen sind, mitunter habe ich auch Hebungs- und Senkungsbrechung oder Pausen einkalkuliert. Strophenvergleich von R (9 Strophen)101 Z. 1: 6mal 6k, 3mal .6k Z. 2: 3mal .6k, 4mal 6k, 1mal .7k, 1mal 7k Z. 3: 6mal 5m, 2mal .5m, 1mal 4m Z. 4: 7mal 2m, 1mal .2m, 1mal 3m Z. 5: 8mal 6k, 1mal .6k Z. 6: 8mal .4m, 1mal .5m Strophenvergleich von C (9 Strophen) Z. 1: 7mal 6k, 2mal .5k Z. 2: 4 / 5mal 7k, 3 / 4mal 6k, 1mal .7k Z. 3: 1mal .6m, 3mal .5m, 2mal 5m, 1mal 4m, 1mal .4m, 1mal 6m Z. 4: 9mal 2m Z. 5: 8mal 6k, 1mal .6k Z. 6: 8mal .4m, 1mal .5m

Natürlich suggeriert eine solche Übersicht wie die vorstehende eine Klarheit der metrischen Analyse, die vom Text in dieser Schärfe nicht gestützt wird. Es gibt durchaus Verse, deren metrische Deutung schwer fällt. Ein solcher ist beispielsweise C IX,1 Diu muoter diu krift ein kunchel swere. Ist das, daktylisch und mit dem Wortakzent, als ⏑⏑ etc. zu lesen, was freilich ein ›falsches‹ .5k ergäbe, oder muss man, dann allerdings gegen den natür101 Kühnel, »Zettelkasten« [Anm. 82], 119 und Bleuler, Überlieferungskritik [Anm. 43], 214 geben für R das Schema an: 5a 5a 5b 2b 5x 4b (wobei sie die klingenden Kadenzen offenbar als weibliche interpretieren, also könnte man genauso gut schreiben: 6a 6a 5b 2b 6x 4b).

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lichen Wortakzent,  lesen, was, metrisch stimmiger, 6k ergäbe? Ähnlich etwa C V,2, wo sumerzît wunder als ⏑ oder  gelesen werden kann, sodass der Vers einmal 6, einmal 7 Hebungen hätte. Besonders in C findet man solche Problemlagen immer wieder, häufig in Z. 3 der Strophen (bes. in C IV und VI). Die obigen Übersichten können so nicht mehr als ungefähre Näherungslösungen sein. Die, aufs Ganze gesehen, relative Seltenheit solcher intrikaten Fälle, gerade in R, rechtfertigt die Abstraktion dann aber doch. Und damit wird, mit dem obigen Zahlenspiel, etwas sichtbar, das – im Vergleich zu c oder f – erstaunt. Denn weder bieten R und C einen schlichten und aber stimmigen formalen Entwurf wie c, noch ist in ihnen ein formales laissez-faire wie in f zu beobachten. Zwar gibt es in R und C, wie in f oder in den hinteren c-Strophen, Fälle, wo es ein Leichtes wäre, Verse metri causa zu bessern;102 so wären etwa in R das einzige .5m in Z. 6 (R III,6) leicht durch Tilgung des gern oder, wiederum für R, das einzige .7k in Z. 2 (R VII) durch Tilgung von stolczen zu korrigieren, ließe sich, noch einmal R, das einzige 7k in Z. 2 (R VIII) ausmerzen, indem man du wild al ze tumbe der ritter chunde vahen ändert zu du wilt ze tump der ritter kunde vâhen. In C gäbe es eine Fülle solcher nachlässiger Verse, zumal C im Ganzen nachlässiger geformt scheint als R. Und doch bleibt, abgesehen von solchen simplen Operationen, der Eindruck, dass R und auch C zwar einerseits bestimmten formalen Richtlinien folgen, diese aber nicht von jener Strenge wie die Normen in den ersten c-Strophen sind. Wo in c für jede Strophenzeile klar zu sagen war, welches der ›normale‹ Fall ist und was Abweichung, gibt es in R und C mehrere Strophenzeilen, die verschiedene – zwei oder drei, nicht aber unendlich viele! – metrische Realisierungen zulassen. Das beste Beispiel dafür ist wohl der Auftakt in Z. 1 und 2 von R: Das ist eine Varianz, die weder leicht zu beheben ist, noch könnte man die Optionen vernünftigerweise in ›richtig‹ oder ›falsch‹ scheiden. Andere Zeilen, z. B. Z. 5 und 6 (in R und C) sind regelmäßiger, scheinen nur eine einzige Art der metrischen Realisation zuzulassen. Aber aufs Ganze gesehen eignet den formalen Entwürfen von R und C eine – ich hatte es schon angedeutet – eigentümliche ›Weichheit‹ der formalen Gestaltung,103 sodass die beiden Texte, nach ihrer Form, eine Art Mittelstellung zwischen dem streng normierten c-Text und dem prosaischen f-Text einnehmen. Es wäre interesVgl. Kühnel, »Zettelkasten« [Anm. 82], 119. Derselbe Befund bei Kühnel, »Zettelkasten« [Anm. 82], 120. Kühnel aber deutet dies dahingehend, dass in R und C verschiedene autornahe Fassungen des Liedes zusammengestellt worden wären (vgl. Anm. 82), die eben auch metrisch voneinander abwichen. Selbst wenn dies so wäre: Bleibt die merkwürdige formale Gestalt dann nicht doch typisch für die R- und C-Überlieferung, also: für das, was wir haben? 102 103

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sant gewesen, diese metrischen Strukturen von mittlerer Verbindlichkeit mit einer Melodie kombiniert zu sehen – aber Melodien sind zu den Texten in C und R nicht erhalten, und die bemühten Versuche der älteren Forschung, den R-Text mit der c-Melodie in Einklang zu bringen, sind bestenfalls von fachgeschichtlichem Interesse. Ich will versuchen, aus dem Neidhart-Beispiel ein dreifaches Fazit zu ziehen: eines zur systematischen und historischen Disposition von formalen Möglichkeiten und ein doppeltes zur Methodik der Formanalyse. Zuerst zur Systematik und Historisierung spezifischer Formentwürfe: Die vierfache Überlieferung des Neidhart-Liedes R 53 bzw. des Sommerliedes 23 weist zumindest drei in sich stimmige Formentwürfe auf, die aber in denkbar starkem Kontrast zueinander stehen. Dies ist auch der Hauptgrund für die Wahl gerade dieses Beispiels gewesen: weil es, im Vergleich zu anderen, komplizierten Formentwürfen, relativ griffig ist. Am stärksten trifft dies für die Neidhart-Handschrift c zu, die vielleicht keinen so rigiden formalen Entwurf bietet, wie ihn sich ein Andreas Heusler oder ein Carl von Kraus gewünscht hätten – dazu sind die hinteren Strophen doch zu nachlässig auf die Melodie abgestimmt –, aber sie kommt immerhin in die Nähe derartiger Idealvorstellungen. Erstaunlich ist dies nicht zuletzt deshalb, weil sich dieser Entwurf mit der Neidhart-Handschrift c in einem Überlieferungsverbund befindet, von dem man solches sonst nicht erwarten dürfte. Daneben steht die prosaische Fassung f, die gewissermaßen den Gegenpol auf einer gedachten Form-Skala zu Metrik und Reim darstellt; dazwischen R und C, denen formale Ideen nicht abgesprochen werden können, doch lassen sich diese nicht auf so präzise Weise bestimmen wie für c. Um es ganz deutlich zu sagen: Nicht alle Musik-Texte funktionieren auf diese Weise, bei den allermeisten ist es nicht möglich, distinkte Formentwürfe mit solcher Trennschärfe zu bestimmen. Auch das gleichsam harmonische Zusammenspiel von Textmetrik und Melodik in c ist mehr Ausnahme denn Regelfall, zumal mensurierte Notate für die deutsche Überlieferung zur hochmittelalterlichen Lyrik rar sind. Aber trotz dieser Singularität des besprochenen Falles ist er doch immerhin instruktiv, als hier ein Repertoire an klar definierbaren Formationen von Musik-Texten geboten wird, das den Rahmen an Möglichkeiten vielleicht nicht absteckt, aber zumindest in groben Umrissen andeutet. Oder ganz platt gesagt: Die c-Überlieferung führt vor Augen, dass es – wenngleich nur ausnahmsweise – doch auch (beinahe) so sein kann, wie die Norm-fixierte ältere Forschung dies gerne gehabt hätte – eine schlichte104, nachgerade klassische Interaktion von 104 Denn komplex wird man den Formentwurf in c nicht schelten wollen. Und gerade die metrische Komplexität aber scheint den poetischen Umgang mit metrischen

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textmetrischer und musikalischer Form –, während die f- und die RC-Texte anzeigen, dass es eben auch anders, formloser (f) oder vager (RC) geht. Man müsste die Formentwürfe der deutschen Musik-Texte auf breiterer Basis analysieren, um aus solchen analytischen Beobachtungen Rückschlüsse auf eine Formgeschichte – und sei es auch nur eine fragmentarische – des deutschen sangbaren Verses des frühen, hohen und späten Mittelalters zu ziehen. Immerhin aber drängt schon die Analyse nur des Neidhart-Liedes R 53 zu einigen Hypothesen, die, ließen sie sich mit weiteren Fällen untermauern, einigermaßen spektakulär wären. Es geht vor allem darum, die merkwürdige Diskrepanz zwischen den ›weichen‹ Formen von RC und den ›harten‹ in c zu erklären. Denn schließlich sind RC die deutlich älteren Handschriften, und beide gelten als ungleich zuverlässigere, vielleicht auch authentischere Überlieferungsträger als die Handschriften des späten 15. Jahrhunderts wie c und f. R ist schließlich auch meist die Grundlage der edierten Texte – bis hin zur an und für sich doch überlieferungsverliebten, vor normativen Setzungen zurückschreckenden Salzburger Neidhart-Edition: Band 1 bietet die Texte aus R samt Parallelüberlieferung in der Reihenfolge von R. Aber wie kommt es dann, dass in dieser alten, ›guten‹ Überlieferung die formale Faktur eine – scheinbar – so eigenwillig nachlässige und doch nicht beliebige, eine weniger streng geregelte ist? Man kann versuchen, diesem Sachverhalt mit verschiedenen Modellbildungen beizukommen. Eine – in konventionellen Bahnen denkende – Möglichkeit wäre, von einem – nicht erhaltenen – Musik-Text auszugehen, einem Musik-Text des frühen 13. Jahrhunderts, der in RC nicht nur seine Melodie, sondern auch einen Teil seiner formalen Verbindlichkeit eingebüßt hätte. Von dort aus ließen sich die Entwicklungen des 15. Jahrhunderts verstehen als eine Restituierung der straffen Form in c105 bzw. eine weitere Entformung in f (wobei für cf freilich, nach solchem Entwicklungsdenken, eine gemeinsame Vorstufe anzusetzen wäre106). Vielleicht auch hätte, gegen die sonstige Charakteristik der vier Handschriften und also ausnahmsweise, c hier Altes bewahrt. Aber liegt es nicht eigentlich – dies die andere Möglichkeit – näher, dass das Alte, meinetwegen Autornahe in R (und C) steht? Ist nicht die Art der formalen Verfasstheit des Liedes in R und C typisch für diesen Überlieferungstypus der Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts in den ersten ›ground rhythmischen Strukturen eigentlich auszumachen, was besonders Küper, Sprache und Metrum herausgestrichen hat. 105 Auch Kühnel, »Zettelkasten« [Anm. 82], 133 geht davon aus, dass »der Text in c Ergebnis einer planmäßigen Änderung ist«. 106 Vgl. Kühnel, »Zettelkasten« [Anm. 82], 124 u. ö.

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ßen‹ Lieder-Pergamenthandschriften? Die Entwicklungen im 15. Jahrhundert wären dann zu verstehen als Versuche einer Regulierung, einer strengen Scheidung in geformte und prosaische Entwürfe, bei der man – wie wir heute – die alten Formen in ihrer Labilität nicht mehr dulden wollte oder konnte. Was aber würde dies – versuchsweise weiter gedacht – für die Geschichte der Formen bedeuten? Hieße dies nicht, dass man von einer spezifischen Art der ›weichen‹ formalen Regulierung von Musik-Texten um 1200 auszugehen hätte, von einer schwer fassbaren formalen Ästhetik, für die unser begriffliches Arsenal kaum eigentlich ausreicht, um sie adäquat – und das heißt: weder als kompakten Entwurf noch als Regelbruch – zu beschreiben? Gewiss: Die Melodien fehlen, in der älteren Überlieferung, zu häufig, als dass man in diesen Fragen Sicherheit gewinnen könnte. Aber eine Möglichkeit ist es immerhin, und angesichts der Textüberlieferung vielleicht nicht die unwahrscheinlichste.107 Dies zeigt auch, dass die Frage nach der adäquaten Beschreibungssprache eine stets präsente ist. Was bei c oder f mit dem heutigen begrifflichen Arsenal leicht zu bewerkstelligen ist, fällt bei R und C deutlich schwerer: f ist in jeder Hinsicht unreguliert und kümmert sich nicht um formale Belange, während in c – bis Strophe VI wenigstens – alles zu stimmen scheint. Aber wie ließe sich die formale Varianz in Auftaktfragen für R und C analytisch präzise abbilden? Bei einigen Zeilenmelodien scheint der Auftakt fakultativ zu sein, bei anderen ist er gefordert, bei anderen ausgeschlossen. Und wie mit dem offensichtlichen Neben- und Gegeneinander von akzent- und silbenzählenden Regulativen verfahren? Schon in c scheint Hebungs- oder Senkungsbrechung mitunter möglich, sodass, textmetrisch, die Hebungszahl das Ausschlaggebende für die Versgestalt ist. Dies gilt allerdings nur für bestimmte Stellen, während andere Passagen – namentlich die kurze Z. 4 – nach einer distinkten Silbenzahl verlangen. Um von den, auch in dieser Hinsicht, locker geformten Texten in R und C gar nicht erst zu reden. 107 Das würde dann – ich kann das hier nur kurz andeuten – sofort zu grundlegenderen Überlegungen anleiten, was die metrologische und prosodische Struktur des ›älteren‹ Deutsch auszeichnet und welchem historischen Wandel sie unterliegt. Folgt man den Ergebnissen von Vennemann, »Zusammenbruch«, wonach in frühneuhochdeutscher Zeit die akzentbasierte Quantitätssprache (durch Dehnung in offener Tonsilbe bzw. neue Akzentverhältnisse und Nicht-Beachtung von Längen und Kürzen) zusehends umgebildet wird zu einer nicht-quantitierenden gewichtssensiven Akzentsprache (das Neuhochdeutsche), müsste sich dies gerade an der späten Überlieferung des 14. und 15. Jahrhunderts ablesen lassen. Und könnte nicht die proto-opitzsche Korrelation von Akzentstruktur und Notenlänge ein Indiz sein, das genau in diese Richtung weist?

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Auftakt und Akzent- vs. Silbenzählung sind nur zwei (wenngleich wichtige) Probleme, die eine künftige Formanalyse intensiv zu diskutieren hätte. Die konservative Beschreibungssprache heuslerscher Prägung kann nicht mehr, als diese oder jene Möglichkeit zu beschreiben, vielleicht noch mit einer (bei größerem Korpus) prozentuellen Gewichtung, doch irgendwie scheint diese analytische Präzision – vor allem für R und C – am Eigentlichen vorbeizugehen. Nötig wäre, diese Fragestellungen auf einer sehr breiten Materialbasis zu diskutieren und in praxi an einem neuen analytischen Werkzeug zu feilen. Die Herausforderung besteht darin, einen schwammigen Bereich analytisch zu fassen, der weder beliebig noch streng geregelt, weder prosaisch noch strikte geformt ist. Dass dies in so verlässlichen Handschriften wie R die Regel zu sein scheint, muss doch zu denken geben. Was tun mit den Auftakten von Z. 1? Was mit den intrikaten Verhältnissen in Z. 2? Wie diese labilen Formen mit den kompakten in Z. 5 und 6 verrechnen? Dies wäre das erste methodische Fazit: Es gälte, eine Beschreibungssprache zu finden, die solche Verhältnisse wie vor allem jene von R und C weich genug abbildet, ohne aber zugleich einem anything goes das Wort zu reden. Das andere methodische Fazit ist ein insofern noch grundlegenderes, als es nach der prinzipiellen Anwendbarkeit formanalytischer Kategorien fragt. Es hat zu tun damit, dass all diese analytischen Operationen stets auf scharfe Differenzen aus Akzeptablem und Inakzeptablem gerichtet sind. Das kann ganz banale Folgen zeitigen: Beim eben thematisierten und gewiss ungenügenden Versuch, die ›weichen‹ Formen in R und C wenigstens im Ansatz zu beschreiben, müssen verschiedene Entwürfe von einander abgegrenzt werden, von denen einige als ›Fehler‹, andere als gleichwertige Möglichkeiten gelten. Recht eigentlich tief greifend wird dies aber erst, wenn man bedenkt, dass analoge Differenzen schon beim gleichsam unverstellten analytischen Herangehen an einen Text zu Tage treten, ohne dass sie immer wahrgenommen würden: Wer die Silben einer Verszeile zählt, wer ihre Hebungen bestimmt, trifft unablässig Vorentscheidungen, wie – hier – textuelle Phänomene formal gewertet werden: ob beispielsweise schón einsilbig, also schriftfixiert, oder – metrisch passender und sprachgeschichtlich argumentierbar – als schoene zu lesen ist. Apokope und Synkope sowie die Restitution von Neben- und Endsilbenvokalen sind die einfachsten und häufigsten Funktionen, die Texte im Modus der formalen Analyse gewissermaßen vorbereiten, um nicht zu sagen: vor-formen. Man kann dieses Zurechtlesen, dieses ständige Entscheiden zwischen ›richtiger‹ und ›falscher‹, passender und weniger passender Lesart gewiss historisch rechtfertigen: Wieso etwa sollte dies nicht auch schon jemand um 1500 praktiziert haben, sollte sie oder er aus der Neidhart-Handschrift c das Lied 28 [29] gesungen haben? Dass dieser Weg also der einzig mögliche

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und ein notwendiger ist, wenn man sich über die formale Verfasstheit eines Textes oder Musik-Textes verständigt, ist unbestreitbar und wohl auch unbestritten. Wie weit man auf diesem Weg geht und gehen will, ist die eigentliche Frage, noch mehr, wie sich diese Wegstrecke systematisch beschreiben lässt. Denn es geht heute ja schließlich nicht primär um die Anverwandlung der ›alten‹ Texte, um sie vorzulesen oder aufzuführen, sondern es geht darum, die formalen Möglichkeiten, die diesen Texten inhärent sind, analytisch zu erschließen. Man könnte diesen Zugriff als eine Art Metaanalyse, einen gedoppelten Analyseprozess, beschreiben, weil die (szientifische) analytische Abstraktion immer schon auf – nicht minder – analytischen Vorentscheidungen fußt. Das Intrikate daran ist, dass es fast unmöglich ist, die analytischen Vorentscheidungen unabhängig von abstrakten Analysemustern zu treffen, weil das eine das andere bedingt, das abstrakte Muster also mitunter die mikroanalytische Vorentscheidung ›überholt‹. Dass die Voraussetzung einer formalen Analyse eine Summe von Ermessenssachen ist, gebietet zur Obacht, was man da wie ermisst. Man kann dies auch so formulieren: Formanalyse ist nur möglich als Interaktion von deskriptiven und normativen Operationen. Die Vorstellung einer rein deskriptiven formalen Analyse ist nicht mehr als ein idealistisches Phantasma. Wer sich nicht zuerst Normen schafft – Begriffe wie akzentoder silbenzählend, aber auch ganz pragmatische Entscheidungen wie jene über zu tilgende oder zu restituierende Endsilben –, wird nichts zu beschreiben haben. Eine normative Ebene geht einer deskriptiven voraus, wobei die formallogische Hierarchie durch Rückschlageffekte instabil werden kann. Man würde dies vielleicht am besten als formanalytischen Zirkel beschreiben: dass man sich seine Formen bis zu einem gewissen Grad immer erst machen muss, um sie zu beschreiben. Was hier nach hyperabstrakter methodologischer Spitzfindigkeit klingen mag, hat ganz handfeste Konsequenzen für den Umgang mit ›alter‹ Poesie. Und wenn sich aus diesen Überlegungen auch sonst nichts ergeben sollte, dann wenigstens dies eine: dass formale Ästhetik kein Leithandschriftenprinzip ist. V. Bibliographie Das Verzeichnis listet jene Arbeiten, die für das diskutierte Thema von allgemeinem Interesse sind. Sie werden in den Anmerkungen mit Autor und Kurztitel zitiert. Alle übrigen Arbeiten sind vollständig in den Fußnoten zitiert. Bartels, Kerstin, Musikszenen in deutschen Texten des Mittelalters (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 1601), zugl. Göttingen, Diss. 1996, Frankfurt am Main 1997.

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Wenne die minnende sele sihet in den ewigen spiegel …1 The motif of self-knowledge in Mechthild’s of Magdeburg Das fließende Licht der Gottheit By Agnieszka Gotchold … iste ego sum!

Ovid, Metamorphoses2

For now we see in a mirror, dimly, but then face to face. Now I know in part, but then I shall know just as I also am known. St. Paul, 1 Cor., 13, 123 But then to see the head if this Church, the Sunne, that sheds all these beams, the God of glory f a c e t o f a c e, to see him sicuti est, as he is, to know him, ut cognitus, as I am knowne, what darke, and inglorious fortune would I not passe thorow, to come to that light, and that glory? John Donne, Sermons4

The question of human self-knowledge has always been raised by man. »How do I know myself?« has been a vital philosophical question which has been reflected upon not only by philosophers and theologians, but also by many writers and poets from antiquity to modern times. How does a human being arrive at self-knowledge? [D]u bist ein spiegel der inwendigen anschowunge!,5 says God to the loving soul in one of their dialogues, thereby pointing to the way in which self-knowledge can be attained, i.e. by directing the soul’s eyes towards the inner self. Mechthild’s book Das fließende Licht der Gottheit (1250) is a confessional tome which treats of the human soul’s striving towards self-knowledge through her gradual Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 186, v. 21. Ovid, Metamorphosen, p. 156, v. 463. 3 Holy Bible. The New King James Version, 1 Cor., 13, 12 (emphasis mine). 4 John Donne, Sermon No. 6 Preached at Hanworth, in The Sermons of John Donne, p. 177 (emphasis mine). 5 Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 334, v. 22. 1 2

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withdrawal from the world – the rejection of the body and therefore of the physical senses as the main medium of experience and language as the primary means of communication of that experience. The soul follows God’s prescription: Din lichame mFsse sterben, din wort mFsse verderben, din ?gen mFssen sich sliessen, din herze mFsse vliessen, din sele mFsse stigen, din licham mFsse bliben, dine m=nschliche sinne mFssin vergan, din geist mFsse vor der heligen drivaltekeit stan!6

These are the words which best depict a mystical way of life: the closing of one’s eyes stands for the retreat from worldly matters, which allows, through the ascension of the soul, for the immediate experience of the divine, following the spiritual senses. Mechthild’s account of this experiential knowledge of God belongs to the genre called the ›Brautmystik,‹ written by women who considered themselves to be Christ’s brides. This kind of female mysticism has its roots in the biblical book of The Song of Songs, which in the form of a dialogue depicts the pleasures of free love enjoyed by the Shulamite and her Beloved. The later Christian interpretations – and Mechthild’s interpretation is one of them – transform the pair into the impeccable bride and the bridegroom: Salomones wort lúhtent – und sin werk nit, wan er selber vervinstert ist – in dem bGche Canticis, da dú brut so trunken kFne vunden ist und der brúteg?me so rehte n=tlich ir zG sprichet: »Du bist alles sch=ne, min frúndinne, und kein vlekke ist an dir.«7

The Song of Songs is allegorically interpreted as the love relationship between Christ and the Church, or as the mystical love of the soul for God, where the soul is associated with the divine bride.8 Inscribing her immediate experience of God in the biblical tradition of The Song of Songs allows Mechthild to see herself as Christ’s bride, thereby disposing of any outside mediation, i.e. the mediation of the Church in the spiritual contact with the divine. Mechthild’s book entails love dialogues between the personified love and soul, and then between the loving soul (the divine bride) and God. The ambiguity of the speaking person can puzzle the readers: the narrator of the (hi)story that the book discloses to its audience is, on the one hand, 6 7 8

Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 30, vv. 24 – 31. Ibid., pp. 204, 206, vv. 30 – 32, 1 – 2. Cf. Wolfgang Riehle, The Middle English Mystics, p. 36.

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its author, i.e. Mechthild herself who tells us her mystery and, on the other, the personified soul who, throughout the book, talks about her love relationship with God. The two individualities – the loving soul and Mechthild – merge and become one and the same person. Mechthild’s love towards God is mediated through the loving soul. The present essay attempts to discuss Mechthild’s mystical experience of the divine – the experience which allows her to attain self-knowledge. I shall argue that her writing as a mystic displays some structural similarities in the subject’s arriving at self-knowledge with the myth of Narcissus as rendered by Ovid in his Metamorphoses, which was widely received in the Middle Ages. Both Ovid’s and Mechthild’s treatment of the motif of self-knowledge cannot be analysed without a reference to the mirror-motif which, however, is handled differently by both authors. Endowed with God’s grace, Mechthild receives visions in which she meets God facie ad faciem. These encounters serve as a formative principle upon her subjectivity. To examine Mechthild’s visionary experience, I shall have recourse to Lacan’s concept of the real, imaginary and symbolic with reference to the mirror stage – a notion which he described in his seminar The Mirror Stage as Formative of the Function of the I as Revealed in Psychoanalytic Experience (1949) to account for the formation of the infantile subjectivity. Constituent for Mechthild’s individuality is further the experience of the unio mystica – an erotic encounter with the divine which ends in the mystical annihilation of the soul. In my analysis of the nature of the unio experience, I shall draw on Jacques Lacan’s notion of the tuché from his seminar Tuché and Automaton (1973) and Sigmund Freud’s concept of the game of »Fort! Da!« as elaborated in his essay Jenseits des Lustprinzips (1920).

The mirror The Christian exegesis stipulates that the soul was conceived in the likeness and image of God. Mechthild clearly follows this theological perspective: Durnehtigú sele, vr=we dich,/ du bist alleine got gelich.9 She came into being as a result of love between God and his chosen bride: Do stGnden offen beide sine wunden und ir brúste; die wunden gussen, die brúste vlussen, also das lebendig wart die sele und gar gesunt, do er den blanken roten win gos in iren roten munt. [… ] Got ist ir rehte vatter und si sin rehtú brut, und si ist im an allen iren liden glich.10 9 10

Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 354, vv. 30 – 31. Ibid., p. 42, vv. 13 – 16, 20 – 21.

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The chosen bride, as Mechthild describes her, is not only the mother of the soul, but she is God’s equal. In fact, she is his image as the soul is the image of God and is created to praise him, as God puts it himself: Ich wil mir selben machen ein brut, dú sol mich mit irem munde grFssen und mit irem ansehen verwunden; denne erste gat es an ein minnen!11 God conceives other creatures so that he can be loved and praised, but his narcissistic penchant becomes more apparent when Mechthild, following the Christian reception of The Song of Songs, associates God with the bridegroom who insists on being admired by his bride: Vide me, sponsa! Sich, wie sch=ne min ?gen sint, wie reht min munt si, wie fúrig min herze ist, wie geringe min hende sint, wie snel min fFsse sint, und volge mir! 12 One cannot fail to notice the similarity of this image with Ovid’s Narcissus watching himself and unconsciously admiring his own beauty in the pool: Strecht all along upon the ground, it doth him good to see His ardent eyes which like two starres full bright and shyning bee, And eke his fingars, fingars such as Bacchus might beseeme, And haire that one might worthely Apollos haire it deeme. His beardlesse chinne and yvorie necke, and eke the perfect grace Of white and red indifferently bepainted in his face.13

Yet Mechthild goes much further, since her bridegroom not only expects his bride to recognise his exceptional handsomeness, but he urges her to follow him to the cross, imitating his passion. Christ’s passion is to become the passion of his bride, who thereby, like the soul, becomes imago Dei, which God comments as follows: O ein bilde miner gotheit, gehert mit miner menscheit, gezieret mit minem heligen geiste [… ].14 The distinction between the bride and the soul is not only blurred, but they are expected to fulfil the same function in respect to God; their task is to reflect his greatness, to which the personified soul agrees willingly: Herre, du bist min trut, min gerunge, min vliessender brunne, min sunne und ich bin din spiegel.15 Yet, the soul’s statement, apart from being an obvious declaration of love and desire for God, entails a certain subliminal message: calling God »her flowing spring,« the soul expects him to be her mirror as well – the privilege which God cannot deny by any means: Swenne ich schine, so mGst du lúhten; swenne ich vlússe, so mGst du vúhten. Ibid., p. 48, vv. 26 – 28. Ibid., p. 176, vv. 12 – 15. 13 Ovid, The Metamorphoses, ed. J. M. Cohen, transl. Arthur Golding (1567), p. 73, vv. 525 – 530. 14 Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 56, vv. 10 – 11. 15 Ibid., p. 28, vv. 1 – 2. 11 12

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Swen du súfzest, so zúhest du min g=tlich herze in dich, swenne du weinest na mir, so nim ich dich an den aren min. Swenne du aber minnest, so werden wir zw=i ein, und swenne wir zw=i alsust eines sin, so mag da niemer scheiden geschehen, mer ein wunnenklich beiten wonet zwúschent úns beiden.16

The structural similarity of this image with the Ovidian myth evokes once more Narcissus regarding himself in the pool and depicting the imaginary other as reciprocating his advances: Thou dost pretende some kind of hope of friendship by the cheere. For when I stretch mine armes to thee, thou stretchest thine likewise, And if I smile thou smilest too: And when that from mine eyes The teares doe drop, I well perceyve the water stands in thine. Like gesture also dost thou make to everie becke of mine. And as by moving of thy sweete and lovely lippes I weene, Thou speakest words although my eares conceive not what they beene.17

Narcissus feels so jubilantly attracted to the beauty of his own image that he strives to merge with it in a kiss or an embrace. Yet he finally recognises his error of perception with the exclamation: iste ego sum! Narcissus did not realise that what he saw was his own reflection and he wishes that all the beauty and perfection were not his share and that he could admire them by the other. Drawing on Freud’s research on narcissistic personalities,18 we could say that Ovid’s Narcissus has been unaware of his own narcissism up till this moment, and on gaining the knowledge he becomes so frustrated because of the impossibility of quenching his metaphysical thirst that he dies. This is not what takes place in the relationship between God and the soul. As we have read, God depicts a reciprocal feeling between the two lovers, a successful union or the awaiting of that union which excludes a long-term separation. The parallel structures of swenne – so constitute structural mirrors which reflect on the mutuality of the feeling. Clearly, the mirrors are very different from the mirror of Narcissus, who sees himself in what we could call a distorting mirror – his own image as reflected in the pool deceives him. At this point it is justified to ask oneself the question whether all mirrors are deceptive and where we could search for a mirror Ibid., pp. 92, 94, vv. 19 – 26, 1 – 2. Ovid, The Metamorphoses, p. 74, vv. 575 – 581. 18 Freud’s most important works on the subject are: Zur Einführung des Narzissmus (Studienausgabe, Bd. 10, Frankfurt am Main 1978) and Die Libidotheorie und der Narzissmus (Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1978). 16 17

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which would disclose the truth about ourselves. This extremely philosophical and at the same time theological question is respectively answered, although differently, by psychoanalysis and biblical exegesis, which raise the question of human self-knowledge. In his seminar The Mirror Stage as Formative of the Function of the I as Revealed in Psychoanalytic Experience, Jacques Lacan describes the aha-experience as a moment when the child for the first time recognises himself / herself in the mirror.19 Through the repetitive movements of the body s / he tries to establish the relation between his/her inner feeling of an incoherent self and the apparently coherent image as seen in the mirror. The child likes very much what s / he sees and jubilantly assumes the mirror image as it presents itself in front of his / her eyes. The mirror stage has to be understood as the transformation of the subject, as s / he takes on the form which Lacan and before him Freud called the Ideal-I. The Ideal-I is a fictional form and therefore is situated in what Lacan terms the imaginary. The stage before the imaginary, i.e. before the assumption of the Ideal-I, is called the real, in which the child does not have any control over his / her body activities and does not distinguish between his / her own body and the body of the other who takes care of him / her. The imago is given to the child in exteriority, which in practice means that it is »more constituent than constituted.«20 The child simply wants to be the form from the mirror, although the newly assumed identity is an alienating identity, for at the same time s / he is confronted with the gap between his / her real self and the acquired image, becoming thus the other for himself / herself. Having discovered his / her own lack, the subject begins to look for an image of himself / herself to fill in the gap. The mirror stage ends with the transformation of the specular I into the social I, which happens as the child acquires language and therefore enters the symbolic order. Lacan postulates the thesis that all three stages of the development of the ego are characterized by the méconnaissance, i.e. the false knowledge about the self. In the first stage – the stage of the infantile helplessness, the ego is located in the real, as the subject does not perceive his own body as separate from the body of the other and is not able to control it. The next stage is a stage of imaginary formation according to one’s own imago as reflected in the mirror. The ego formation of the child is characterized by the struggle among the real and the imaginary, and later the symbolic, relegating the attaining of self-knowledge to the realm of impossibility. Lacan’s mirror stage reversely illustrates what happens to Narcissus looking at himself in 19 20

Cf. Jacques Lacan, »The Mirror Stage,« p. 178 ff. Ibid., p. 179.

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the mirror: on seeing the image, he is jubilant about it, as he thinks he sees the beautiful other, but on realising that the image belongs to him, he begins to grasp that he will not be able to satisfy his desire. The aha-experience – iste ego sum – is no cause for jubilation; it is rather a traumatic encounter with the real. Ovid’s Narcissus never goes through the mirror stage to become a fully social creature, but dies instead. What he lacks therefore is the »mediatization through the desire of the other.«21 He does not desire the other and therefore he cannot expect reciprocity. Likewise, he does not allow his desire to be mediated through the other. In this sense, he is the exact opposite to Mechthild, whose desire for the other, i.e. for God is mediated by the other, i.e. the soul. Mechthild allows for the triangularisation and therefore mediatisation of her desire, which is reflected in the soul’s (not Mechthild’s) dialogues with God – dialogues which are reciprocal mirrors of the lovers’ perfection. As we have already seen, the soul sees herself not only as God’s mirror, but she also perceives God as her mirror: Du bist min spiegelberg, min ?genweide, ein verlust min selbes, ein sturm mines hertzen, ein val und ein verzihunge miner gewalt, min h=hste sicherheit!22

The personified soul as depicted by Mechthild recognises God as the most perfect image of herself – its spiegelberg – and as such he becomes the feast for her eyes, the image which is to her ultimate liking and the image in which she is able to lose herself powerfully. This is only possible because God offers her the most secure reflection of herself. The soul’s image as reflected in God has a formative impact upon her: she gains her self-awareness through the image which is far different from the one we have seen by Ovid. Narcissus, guilty of the error of perception, invested all his desire in the image that could not reciprocate his love. The soul, created in the likeness and image of God, finds her desire entirely reciprocated and it is precisely for the reason that there is no difference between her and God: Fr?w sele, ir sint so sere genatúrt in mich, das zwúschent úch und mir nihtes nit mag sin.23 The image of mutual and exclusive love rests on The Song of Songs, where the Shulamite reiterates in a refrain: »I am my beloved’s, / And my 21 22 23

Ibid., p. 181. Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 38, vv. 2 – 7. Ibid., p. 64, vv. 9 – 10.

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beloved is mine,«24 or alternatively: »I am my beloved’s, /And his desire is toward me.«25 It is further reinforced by the image of the lovers reflecting themselves in their eyes and love entering through the eyes to penetrate the lover’s heart: You have ravished my heart, My sister, my spouse; You have ravished my heart With one look of your eyes, With one link of your necklace.26

In Mechthild’s account we read: ›Sin ougen in min ougen, sin herze in min herze, sin sele in min sele, umbevangen unerdrossen.‹27 This reciprocal reflection intensifies desire for the like in the other, i.e. it reinforces the narcissism of both God and his creation: both love the images they see reflected in themselves, as they are the sole reason for their perfection: ie si sch=ner lúhtet von dem gegenblick der gotheit, ie si im naher kumt.28 The facie ad faciem experience, which leads Narcissus to literal death, as it cannot be reciprocated, provides the soul with eternal life, and the bride with bliss, which is described as a state between life and death: Die brut ist trunken worden von der angesihte des edeln antlútes: In der gr=sten sterki kumt si von ir selber, in dem sch=nsten liehte ist si blint an ir selber und in der gr=ston blintheit sihet si allerklarost. In der gr=sten klarheit ist si beide tot und lebende.29 The images of illumination, where the light emanating from God makes the soul literally blind, stand for the dismissal of the physical senses. From then on the soul is able to see with the spiritual senses, i.e. with the eyes of her soul: den jenen, den ich minnen, den han ich gesehen mit minen liehten ?gen in miner sele stan.30

Visio Dei, in which the soul sees God directly face to face, is therefore a kind of spiritual seeing – the concept in the usage of which Mechthild follows St. Paul – which allows her to attain the knowledge of him: Eya min24 25 26 27 28 29 30

Holy Bible. The New King James Version, Cant. Cantic., 6, 3. Ibid., 7, 10. Ibid., 4, 9. Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 86, vv. 32 – 33. Ibid., p. 40, vv. 4 – 5. Ibid., p. 38, vv. 21 – 25. Ibid., p. 76, vv. 16 – 19.

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nendú sele, wie sch=ne sint dú ?gen diner bekantnisse, wan du hast gesehen in den ewigen spiegel und dir sint die sFssen trehne vil lieplich bereit.31 There is a significant difference between Lacan’s concept of the mirror stage and its imaginary phase, where the imaginary is a source of méconnaissance, and the soul watching herself as reflected in »the eternal mirror,« i.e. in God. This mirror is a source of her knowledge of God as well as of her selfknowledge. She knows God because the divine is reflected in the loving soul, who became God’s image as he »poured« his nature into her: Die minnende sele, die alles das minnet, das got minnet, und alles das hasset, das got hasset, die hat ein ?ge, das hat got erlúhtet. Da mit sihet si in die ewige gotheit, wie die gotheit gewúrcht hat mit ir nature in der sele. Er hat si gebildet nach im selber; er hat si gepflanzet in im selber; er hat sich allermeist mit ir vereinet under allen creaturen; er hat si in sich besclossen und hat siner g=tlichen nature so vil in si gegossen, das si anders nit gesprechen mag, denne das er mit aller einunge me denne ir vatter ist.32

The soul also enjoys the knowledge of God, for, in becoming man, he offered people the image of his godly nature so that people could see him in the human image and thus have something comprehensible to love: Die menscheit únsers herren ist ein begriffenlich bilde siner ewigen gotheit, also das wir die gotheit begriffen m=gen mit der menscheit, gebruchen geliche der heligen drivaltekeit, halsen und kússen die unbegrifliche gotheit umbevahen, die himmelriche noch ertrich, helle noch vegefúr niemer begriffen mag noch ir widerstan.33

The knowledge of God, acquired through visio Dei and affected by God’s grace shown to his chosen ones, obliges the soul to share her experience with others. It is the visionary experience of God that lies at the roots of her book: Ich enkan noch mag nit schriben, ich sehe es mit den ?gen miner sele und h=re es mit den oren mines ewigen geistes und bevinde in allen liden mines lichamen die kraft des heiligen geistes.34 Experiencing the unmediated knowledge of God, the soul is the medium which serves man as a source of true knowledge about himself / herself. Thus she becomes the spiegel der welte,35 a mirror of the world. The soul points out the beautiful as well as the unpleasant side of the reflection. In one of her visions of heaven, Mechthild depicts a mirror in front of every soul which, as it contains the mirror of the Holy Trinity, truly reflects the soul’s good deeds affected by God’s grace: 31 32 33 34 35

Ibid., p. 280, vv. 8 – 10. Ibid., pp. 492, 494, vv. 26 – 30, 1 – 5. Ibid., pp. 528, 530, vv. 34 – 37, 1 – 2. Ibid., p. 266, vv. 3 – 6. Ibid., p. 102, v. 2.

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Agnieszka Gotchold [ …] ein spiegel wart gesehen in dem himmelriche vor der brust einer ieglichen sele und lip. Dar in schinet der spiegel der heligen drivaltekeit und git warheit und bekantnisse aller der tugenden, die der lip ie begieng, und aller der gabe, die dú sele in ertrich ie enpfieng. Da von schinet der here gegenblick von einer ieglichen persone wider in die hohen majestat, da si usgevlossen hat.36

Good deeds performed by man result from God’s grace, and hence a virtuous man reciprocates the reflection in becoming a mirror to God’s works. Yet the mirror is also a reflection of human sins. As a mirror of the world, the soul sees beyond the beautiful and does not refrain from criticising herself – the unwirdige sele.37 Unlike the mirror of Narcissus, which did not provide him with the knowledge about his excessive pride, Mechthild’s mirror becomes her conscience and is called the mirror of true knowledge, reflecting man’s sinful nature: Hie nach nime ich in min hant einen spiegel der waren bekantnisse; so besihe ich mich dar inne, wer ich selber bin. So sihe ich leider anders nit denne alles owe.38 Wenne ich arme dar zG gan und mGs enpfahen den lichamen únsers herren, so besihe ich das antlitze miner sele in dem spiegel miner súnden. Da sihe ich mich inne wie ich gelebt habe, wie ich nu lebe und wie ich noch leben wil. In disem spiegel miner súnden da sihe ich niht inne denne owe und owe!39

Mechthild’s mystical visions encompass also the fairytale visions of paradise and hell, and the visions of saints, but it is the visio Dei which is constitutive of her subjectivity and serves her as a means of attaining selfknowledge. Contrary to Narcissus, who, according to the prediction, will die if he knows himself, i.e. if he recognises his own image in the pool, Mechthild’s experience of God as her mirror allows her not only to see the idealized image of herself, but also her true, sometimes sinful self. Regarding herself in the mirror of true knowledge is to be understood as an encounter with the lack in herself, i.e. with the gap between the narcissistic ideal and sinful self – the gap which can be overcome in the mystical encounter with God. The mirror of Narcissus is an empty mirror, whereas Mechthild looks in the mirror which offers her knowledge about herself. From the theological perspective as opposed to the psychoanalytic experience, self-knowledge is rooted in the image of oneself as reflected by the other, i.e. by God. Depicting the kingdom of heaven, Mechthild describes God as man’s mirror and so as a source of his primal identification: Oben in dem throne siht man den spiegel der gotheit, das bilde der 36 37 38 39

Ibid., p. 514, vv. 13 – 19. Ibid., p. 292, v. 12. Ibid., p. 426, vv. 28 – 31. Ibid., p. 572, vv. 25 – 30.

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menscheit [ … ].40 The facie ad faciem experience and the aha-experience fulfil a completely different function, although ontologically both of them pertain to the subject’s searching for one’s own identity and self-knowledge. One provides the subject with self-knowledge, however narcissistic it may seem to be, whereas the other offers a fictional imago as a site of identification, depriving thus the subject of self-knowledge. Visio Dei, which allows the soul to attain self-knowledge prefigures the unio mystica – a mystical encounter of the soul with God. The Mystical Union Mechthild describes the beginning of her intimate relationship with God as initiated by God’s greeting: Ich unwirdigú súnderin wart gegrFsset von dem heligen geiste in minem zw=lften jare also vliessende sere, do ich was alleine, das ich das niemer mere mohte erliden, das ich mich zG einer grossen teglichen súnde nie mohte erbieten. Der vil liebe grGs was alle tage und machte mir minnenklich leit aller welte sFssekeit und er wahset noch alle tage. Dis geschach úber eis und drissig jar.41

In her account of the first encounter with God, Mechthild, like most women of her epoch writing down their visionary experiences, has recourse to the modesty topos to stress her unworthiness of receiving God via the Holy Spirit. Yet she emphasises his overflowing power which purified her soul of sins. Thus purified she receives a vision of Jesus Christ in human nature: Do wart erst min geist us minem gebette bracht zwúschent den himmel und den lufte. Do sach ich mit miner selen ?gen in himmelscher wunne die sch=nen menscheit únsers herren Jhesu Christi, und ich bekante an sinem heren antlútte die heligen drivaltekeit, des vatter ewekeit, des sunes arbeit, des heligen geistes sFssekeit.42

The significance of Mechthild’s visionary encounter with the beautiful Christ becomes clear when juxtaposed with the description of the soul’s first encounter with God at court which she comes to visit to experience the revelation of God’s overpowering love: Swenne die arme sele kumet zu hove, [… ] [s]o siht si iren got vr=lichen an. Eya, wie lieplich wirt si da enpfangen! So swiget si und gert unmesseklich sines lobes. So wiset er ir mit grosser gerunge sin g=tlich herze. [ …] So tGt er si in sin glFgendes herze. Alse sich der hohe fúrste und die kleine dirne alsust behalsent und ver40 41 42

Ibid., p. 150, vv. 16 – 17. Ibid., p. 228, vv. 21 – 27. Ibid., p. 230, vv. 13 – 18.

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Agnieszka Gotchold einet sint als wasser und win, so wirt si zu nihte und kumet von ir selben. Alse si nút mere m=gi, so ist er minnesiech nach ir, als er ie was, wan im gat zG noch abe. So sprichet si: »Herre, du bist min trut, min gerunge, min vliessender brunne, min sunne und ich bin din spiegel.«43

Drawing on the image of the royal court from the courtly love tradition and The Song of Songs, Mechthild depicts the love relationship between God and the loving soul. She renders the personified soul as desiring the praise of God, who encloses her in his heart, juxtaposing this image with the image of the two lovers united in mutual embraces. The first encounter of the soul and God is a prolepsis of their future bond: the lovers’ constant praises, the mystical union and the annihilation of the soul. It is at the royal court where the desiring soul commences her quest for God’s love, depicting him as her lover, the locus of her desire, a flowing spring and herself as his mirror. God’s greeting endows the soul with knowledge, vision and enjoyment of God: Dis ist ein grGs, der hat manige adern, der dringet usser dem vliessenden gotte in die armen, dúrren selen ze allen ziten mit núwer bekantnússe und in núwer beschowunge und in sunderlicher gebruchunge der núwer gegenwúrtekeit.44 Yet the greeting is so overpowering that she undergoes mystical annihilation, i.e. she must lebendig sterben.45 The oxymoron depicts not only the soul’s retreat from the outside world, but it also brings about the realisation that one cannot experience God via the physical senses. Undoubtedly, Mechthild’s first encounter with God is to be seen as a parallel to the soul’s encounter with God at court. This structural manoeuvre enables her to identify with the desiring soul. What stands behind this identification is her longing for someone who would reciprocate her feelings and fulfil the promise of a union. The figure of the beautiful Christ, associated with the bridegroom, stands for the absent lover and so becomes the site where her desire for plenitude and completeness is played out. Hence God’s greeting touches upon the lack constitutive of human subjectivity; his encounter with the soul through whom Mechthild mediates her desire is to be seen as an encounter with the real in the Lacanian sense. In his essay Tuché and Automaton, Lacan, drawing on Aristotle, describes tuché as an encounter with something beyond the conceivable, with something that we cannot fully grasp and which questions reality; tuché is beyond the automaton, which means that it evades the symbolic. The encounter with the real has something traumatic and destructive in itself, as it is not only an encounter with the powerful other, but an encounter with 43 44 45

Ibid., pp. 26, 28, vv. 24 – 28, 29 – 33, 1 – 2. Ibid., pp. 22, 24, vv. 35 – 37, 1. Ibid., p. 24, v. 8.

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the lack within ourselves,46 which, on the one hand, terrifies us, but, on the other, is a source of pleasure, sometimes even of painful pleasure. This lack is what defines the human being and allows him / her to formulate desire. It is precisely through the visionary experience of God and the image of her better self that Mechthild becomes a desiring subject who nach got jamerig ist:47 she desires God, even if her desire is rooted in pain, for his love is incessant despite her being sinful. The original lack allows her to strive to become an image of God. The encounter with the real is not a one-off event for both Mechthild and the reader, for at the very beginning of the book we are told to read it at least nine times to comprehend it: Alle, die dis bGch wellen vernemen, die s=llent es ze nún malen lesen.48 Therefore, the experience of the real is repetitive for us as we ritualistically read Mechthild’s account, where she describes God’s greeting as recurrent, almost ritualistic repetition, which allows her to come to terms with the unconceivable and to find pleasure in recurrent encounters. Like the Shulamite in The Song of Songs, Mechthild revives her original encounter with God through the kiss which the soul receives from him – a motif which reappears throughout her book and, like the image of God embracing the soul, prefigures the unio mystica: Do nam er si under sine gotlichen arme und leite sin vetterliche hant uf ire brúste und sach si an ir antlút. Merke, ob si do út gekússet wart? In dem kusse wart si do ufgeruket in die h=hste h=hi úber aller engel k=re.49

God’s original greeting and its revival through the mystical kiss are metaphors for the unio and therefore lie beyond the automaton, i.e. beyond the symbolic. The encounter with God is a turning point for the soul; it is the beginning of her ascension to the union, in which she will seek the knowledge of God as well as self-knowledge. The lovers’ striving for the union begins with sensual experience, as it is a prerequisite for the immediate knowledge of God. Depicting the encounters between God and the soul, Mechthild draws on The Song of Songs, where the lovers refer to their senses to describe the strength of their feeling and the beauty of their own bodies. The Beloved praises the Shulamite as follows: How much better than wine is your love, And the scent of your perfumes Than all spices! 46 47 48 49

Cf. Jacques Lacan, »Tuché and Automaton,« p. 53 ff. Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 46, v. 6. Ibid., p. 18, vv. 6 – 7. Ibid., p. 148, vv. 4 – 8.

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Agnieszka Gotchold Your lips, O my spouse, Drip as the honeycomb; Honey and milk are under your tongue; And the fragrance of your garments Is like the fragrance of Lebanon.50

This image also prevails in Das fließende Licht der Gottheit. Likewise, God’s and the loving soul’s quest for the union starts with an exchange of their mutual praises. God experiences the soul through his senses – the sense of gustus, olfactus and visus/ tactus, and as he finds her to his liking, he begins to love her: Du smeckest als ein wintrúbel, du rúchest als ein balsam, du lúhtest als dú sunne, du bist ein zGnemunge miner h=hsten minne.51

The soul is more outspoken and vehemently returns the compliment. She perceives God as enjoying bestowing his grace, flowing in his love, burning in his desire and melting in the encounter with the beloved, all of which makes her pine for the union: O du giessender got an diner gabe, o du vliessender got an diner minne, o du brennender got an diner gerunge, o du smelzender got an der einunge mit dinem liebe, o du rGwender got an minen brústen, Ane dich ich nút wesen mag!52

Longing for reciprocity, the soul depicts God as deus desiderans,53 whose desire has been awaken by the senses. With this description Mechthild undermines the fear of sensual experience pervading medieval culture. For her, love is not possible without sensual experience and the knowledge of God is not possible without love: Minne ane bekantnisse dunket die wisen sele ein vinsternisse, bekantnisse ane gebruchunge dunket si ein hellepin, gebruchunge ane mort kan si nit verklagen.54 Knowledge is not only a natural consequence of God’s love and love for God, but it cannot take place without enjoying God. The word gebruchunge is ambiguous, as it denotes not only the consumption of food and therefore in this context evokes an ob50 51 52 53 54

Holy Bible. The New King James Version, Cant. Cantic., 4, 10 – 11. Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 36, vv. 2 – 5. Ibid., p. 36, vv. 7 – 12. Cf. Wolfgang Riehle, The Middle English Mystics, p. 43. Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 38, vv. 9 – 11.

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vious association with the Eucharist, but it is also a metaphor for passion, consumption of love and finally ecstasy. Yet enjoying God is not only rooted in the sexual drive, but its underlying force is the death drive and it prefigures the annihilation of the soul. It is in the mystical tasting of God that the starving soul (die hungerige sele55) finds pleasure and death at the same time: Ich bitte dich […] umb stete einunge, herre, din selbes in miner sele und umb die getrúwen wegespise dines heligen lichamen, das der mFsse sin an minem ende min jungestú spise an sele und an libe.56 The reciprocal enjoying of God and the soul takes place in a mysterious and sheltered garden of love. The image has its roots in The Song of Songs, where a secluded garden is a metaphor for the Shulamite’s chaste body: A garden enclosed Is my sister, my spouse, A spring shut up, A fountain sealed.57

Mechthild draws on the image of the hortus conclusus to depict one of the secret places chosen by God for his union with the soul: So zúhet er si fúrbas an ein heimliche stat. Da mGs si fúr nieman bitten noch fragen, wan er wil alleine mit ir spilen ein spil, das der lichame nút weis [… ] So swebent si fúrbas an ein wunnenriche stat, da ich nút vil von sprechen mag noch wil. [ …] wenne der endelose got die grundelosen selen bringet in die h=hin, so verlúret sú das ertrich von dem wunder und bevindet nút, das si ie in ertrich kam. Wenne das spil aller best ist, so mGs man es lassen.58

The hortus conclusus as rendered by Mechthild is a paradise garden destined for the spiritual play between God and the soul. It is an isolated space, shrouded in secrecy, which she refuses to depict any closer. Instead she moves on to present an image of the soul being lifted up by God to experience the mystical union. Unlike the Beloved in The Song of Songs, who is associated with a closed feminine body through the images of a shut-up spring or a sealed fountain, which are integral parts of an enclosed garden, Mechthild’s soul is open to experience the unio and becomes an ecstatic soul, i.e. a soul who through her ascension to the union loses her earthly aspect to engage in the erotic experience with God – the experience which is too powerful to last incessantly and to be expressed by language. Thus Ibid., p. 146, v. 14. Ibid., p. 410, vv. 31 – 35. 57 Holy Bible. The New King James Version, Cant. Cantic., 4, 12. 58 Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 22, vv. 8 – 10, 12 – 18. 55 56

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God decides to part with the soul, giving her einen gGs, den der licham sprechen nit mGs.59 The abandoned soul sets out on the quest of her beloved and comes as a bride to the forest, to a site depicted as a secret meeting place of the lovers known in the classical literature as the locus amoenus. Yet it is not only a pleasant place which provides shelter, but a setting which threatens death. There she performs a dance to honour her lover, wearing the robes of humility, chastity and reputation. In turn, she is invited to come to the love bed in the shade of a fountain to refresh herself with the son of the Virgin Mary. Then the bride becomes the personified soul who separates herself from the senses and becomes the naked soul in order to be able to experience the mystical union: »Herre, nu bin ich ein nakent sele und du in dir selben ein wolgezieret got. Únser zweiger gemeinschaft ist das ewige lip ane tot.« So geschihet da ein selig stilli nach ir beider willen. Er gibet sich ir und si git sich ime. [ …] wa zw=i geliebe verholen zesamen koment, si mFssent dike ungescheiden von einander gan.60

The naked soul is a desiring soul, which means that she has liberated herself from everything that is nonessential, i.e. from the outside world and turned inwards to meet God in the mystical union, which is the promise of the eternal life. The union takes place in blissful and therefore unspeakable silence, in selig stilli, beyond the scope of language, i.e. beyond the symbolic. It is a reciprocal experience – the experience of the real, which absorbs the soul, as she loses herself completely in God. Yet the lovers must come apart, re-enter the symbolic, in order to keep their desires alive and not to lose their separate identities. God’s leaving the soul after the union is justified as follows: So lat er si ein kleine, das si geron m=ge.61 Like the Beloved in The Song of Songs, God will keep abandoning the soul while she is asleep, which she deplores in hyperbolic terms, describing her suffering as infernal and more intense than the corporeal death: Ein stunde ist mir alze swere, ein tag ist mir tusent jar, so du mir fr=mede w=ltest sin. Solte es ahte tage wern, ich w=lte lieber zer helle varn – da ich doch inne bin! Wand das got der minnenden sele vr=mde si, das ist pine úber mensclichen tot und úber alle pine, das gl?bent mir!62 59 60 61

Ibid., p. 28, vv. 17 – 18. Ibid., p. 64, vv. 17 – 24. Ibid., p. 28, v. 12.

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The loving soul starts to chase her beloved, reviving in herself the image of the desiring God, which helps her to overcome his absence: ich mag nit rGwen, ich brine / unverl=schen in diner heissen minne. / Ich jage dich mit aller maht.63 God’s temporary absence has to be seen as an attempt to come to terms with lack through the renunciation of the satisfaction of the soul’s desire. The concept of the amore langueo,64 contained originally in The Song of Songs, reflects not only the lover’s yearning for the fulfilment of her desire, but its underlying drive is, on the one hand, man’s longing for plenitude and completeness, in which she believes to attain self-knowledge and, on the other, her fear thereof. In his essay Jenseits des Lustprinzips, Sigmund Freud describes the game of »Fort! Da!,« which the child plays in order to cope with the absence of his / her love object.65 Through the playful repetition of the act of disappearance of a material object that symbolises the beloved object the child constitutes himself / herself as the subject; s / he learns to control the situation as s/he makes the object disappear and appear again. This allows him / her to generate desire and recognise the other as a separate being. The discovery of difference, or better of différance66 in the Derridian sense, permits the subject to displace the satisfaction of his / her desire, i.e. to re-enter the symbolic or to experience it in the imaginary, creating what Lacan calls the object a,67 whom s / he will strive to reach in order to overcome the lack within himself / herself. The »hunted« object a is usually an image of the subject. God as depicted by Mechthild plays the same game of disappearance and return with the soul. Due to his absence, the soul is forced to abstain from the immediate satisfaction of her desire, which he explains to her as follows: Ich mag nit eine von dir sin! Wie wite wir geteilet sin – wir m=gen doch nit gescheiden sin. Ich kan dich nit so kleine beriben: Ich tG dir unmassen we an dinem armen libe. S=lte ich mich dir zu allen ziten geben nach diner ger, Ibid., p. 78, vv. 1 – 9. Ibid., p. 128, vv. 8 – 10. 64 Cf. Wolfgang Riehle, The Middle English Mystics, p. 42. 65 Cf. Sigmund Freud, »Jenseits des Lustprinzips,« p. 189 ff. 66 »Différance« is a term coined by Jacques Derrida, which, in his essay under the same title, he defines as »a detour that suspends the accomplishment or fulfillment of ›desire‹ or ›will,‹ or carries desire or will in a way that annuls or tempers their effect.« The other meaning of »différance« is »being other« (Jacques Derrida, »Différance,« p. 389 f.). 67 Cf. Jacques Lacan, »Tuché and Automaton,« p. 62. 62 63

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Agnieszka Gotchold so mFste ich miner sFssen herbergen in dem ertrich an dir enbern, wan tusent lichamen m=htin nit einer minnenden sele ire ger vollewern. Darumbe ie hoher minne, ie heliger marterer.68

God intends to teach the soul that distance does not mean separation; his love for the soul is so great that he would hurt her if he were constantly willing to satisfy her unquenchable desire and so would deprive himself of the earthly shelter. The soul should give up her jouissance, or at least its pleasurable part, renouncing the constant presence of God, which would be a sign of her martyred love. This would make her enjoy God’s returns, who reappears in order to unite himself with the soul in the garden of love: […] ich warten din in dem b?ngarten der mine / und briche dir die blGmen der sFssen einunge / und machen dir da ein bette von dem lustlichen grase der / heligen bekantheit.69 There the soul will possibly have an immediate experience of God in the mystical union: »Herre, din blGt und min ist ein, unbewollen – din minne und minú ist ein, ungeteilet – din kleit und min ist ein, unbevleket – din munt und min ist ein, ungekust – etc.« Dis sint dú wort des sanges. Der minne stimme und der sFsse herzeklang mFsse bliben, wan das mag kein irdenschú hant geschriben!70

The soul as the likeness and image of God, who becomes her object a, strives through the experience of the divine in the union towards jouissance. Yet it is the striving itself, i.e. the ascending, not the attaining of jouissance that gives her real pleasure: according to the words of the quoted song, although the soul is united with God, she remains »unkissed,« thus constantly reviving her desire, the fulfilment of which is displaced into the future. Hence it comes as no surprise that the desiring soul is portrayed as ascetic and wandering. Like the Shulamite, she sends her desire in quest of her beloved: Dú sele sprach alsust zG ir gerunge: »Eya, var hin und sich, wa min lieber si; sag im, ich wolte minnen.«71 Deus desiderans also strives for the fulfillment of his desire. He lifts the soul up so that she experiences the mors mystica,72 in which she loses con68 Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, pp. 128, 130, vv. 37, 1 – 10. 69 Ibid., p. 132, vv. 27 – 30. 70 Ibid., p. 134, vv. 15 – 21. 71 Ibid., p. 146, vv. 6 – 7.

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trol over her mind and body to entirely dissolve in the unio with God: Ich bin in dir und du bist in mir, / wir m=gen nit naher sin, / wan wir zw=i sin in ein gevlossen / und sin in ein forme gegossen.73 God and the soul melt into each other to become one inseparable form, thereby annihilating any difference in their individual subjectivities. For Narcissus, merging with his own mirror image in the pool meant literal death. As the ecstatic soul stands outside herself, she becomes her own mirror and so recognises her subjectivity in the death drive. To attain full self-knowledge in the mors mystica, the soul relapses into the real after the stage of the imaginary identification as an imago Dei, whereas God loses the image onto which he could narcissistically project his own perfection. Striving for self-knowledge, the soul follows her sadomasochistic death drive. She begs God to abandon her, although she suffers greatly from the separation: so las mich lange jamerig nach dir gan.74 She is not able to enjoy anything else but God; yet she is willing to renounce the pleasure: »[…] Mir smekket nit wan alleine got, ich bin wunderliche tot.« Dis smakes wil ich allerdikost gerne enberen, uf das er wunderlich gelobet werde.75 Finally, she is even ready to undergo total annihilation for God’s sake, i.e. to become nothing – ze nihte werden,76 which signifies her readiness to dissolve into God, whom, at the very beginning of her book, she calls »nothing:« Du solt minnen das niht.77 Humbling herself constantly, the soul discovers that it is in the following of the death drive that she finds real jouissance, and therefore asks God to allow her to »sink deeper:« Eya, entwich mir, lieber herre, und la mich fúrbas sinken durch din ere.78 Paradoxically, the sinking soul is still a desiring soul: the self-imposed sinking denotes an acceptance of God’s distance and a willing suspension of the fulfilment: »Siest willekomen, vil selig vr=medunge! [ …] Nu ergat an mir sin ere, wan nu ist got wunderlich mit mir, nu mir sine vr=medunge bekemer ist denne er selber.« [… ] Mere ie ich tieffer sinke, ie ich sFssor trinke.«79 God’s distance is an attempt on his part to reinforce the soul’s desire, thereby redirecting it from the purely physical experience in the real to the world of the symbolic 72 Cf. Ulrike Wiethaus, Ecstatic Transformation. Transpersonal Psychology in the Work of Mechthild von Magdeburg, p. 35. 73 Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, p. 168, vv. 27 – 30. 74 Ibid., p. 220, vv. 10 – 11. 75 Ibid., p. 258, v. 33. 76 Ibid., p. 236, v. 27. 77 Ibid., p. 52, v. 18. 78 Ibid., p. 260, vv. 29 – 30. 79 Ibid., pp. 262, 264, vv. 16 – 17, 29 – 31, 30 – 31.

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order: the soul discovers herself as drive, which God teaches her to sublimate. She learns to express her desire upon non-being, i.e. upon God’s absence. In this sense, she is the exact opposite to Ovid’s Narcissus. For him, the unio experience with the other is a wish-fulfilment fantasy and the impossibility of satisfying desire leads to death. God teaches the soul to desire in absentia, i.e. it teaches her something that Narcissus never learns.

Conclusions Mechthild’s Das fließende Licht der Gottheit is an autobiographical account of the mystic’s encounters with the divine which are the source of her self-knowledge. To describe her visionary experience and the love relationship between God and the soul, Mechthild recurrently evokes the motif of the mirror. Yet she creates a mirror which is significantly different from that of Narcissus. Narcissus’ mirror does not offer reciprocity and therefore he never arrives at self-knowledge in the sense which would be comparable to Mechthild’s description of the Minneweg. Mediating her desire for God through the soul, Mechthild does not create a distorting but a reciprocal mirror: deus desiderans loves the soul conceived in his likeness and image. For the soul, the encounter with God – her ascension to see him facie ad faciem – is the source of self-knowledge, not the source of méconnaissace as in the case of Narcissus. Mechthild regards the immediate knowledge of God as a prerequisite for self-knowledge, in which she draws on the experience of St. Paul, who was enraptured to the third heaven, where he was endowed with the knowledge of God as a result of his humbleness and love: Vr?we bekantnisse, man vindet also geschriben, das Sant Paulus wart gefFret in den dritten himmel. [… ] Hette er die warheit funden in dem ersten und in dem andren himele, er were nie in den dritten gestigen. [… ] Ist aber die volle diemFtekeit da, so mGs dú sele vúrbas varn in den dritten himmel, da wirt ir das ware lieht gegeben. So sprechent die sinne: »Únser vr?we, dú sele, hat gesclaffen von kinde; nu ist si erwachet in dem liehte der offener minne.« [ …] So siht si werlich und bekennet, wie got ist allú ding in allen dingen.80

Looking into den ewigen spiegel, the soul recognises her perfect image, regarding herself in the mirror of true knowledge, she sees her sinful nature. Thus she is confronted with the lack in herself – the gap between the acquired image of her narcissistically perfect self and the discovery of her sinfulness. The realisation of lack makes her strive for plenitude and completeness which she wants to see in the union with God, i.e. with her object a. Yet the unio experience is a traumatic experience of the real, and as 80

Ibid., pp. 106, 108, vv. 18 – 22, 36 – 37, 1 – 3, 5 – 6.

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such it takes place beyond the scope of language. The immediate experience of deus desiderans has a formative impact upon the formulation of desire. God frequently abandons the soul and it is through his absence that the soul learns to desire in absentia and realises that her jouissance is in the following of her death drive. Dissolving into God, she annihilates herself in the mors mystica, in which she achieves self-knowledge: she discovers her subjectivity as located in the drive. The encounters between the desiring God and the loving soul oscillate between the imaginary, where Mechthild deals with the mirror motif, the real, where she describes the experience of the ecstatic soul in the unio/mors mystica and the symbolic, solely evoked by God’s game of disappearance and return, where the soul is taught to sublimate her drive and thus turn it again into desire. Mechthild’s mysticism can be best summed up by a verse from The Song of Songs: »love is as strong as death.«81 Bibliography Primary sources Donne, John, The Sermons of John Donne, vol. IV., ed. George R. Potter, Evelyn M. Simpson, Berkeley / Los Angeles 1962. Holy Bible. The New King James Version, Nashville / Camden / New York 1982. Mechthild of Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, ed. Gisela VollmannProfe, Frankfurt am Main 2003. Naso, P. Ovidius, Metamorphosen, ed. and transl. Michael von Albrecht, Stuttgart 2003. Naso, P. Ovidius, The Metamorphoses, ed. J. M. Cohen, transl. Arthur Golding (1567), London 1961.

Secondary sources Derrida, Jacques, »Différance,« in: Julie Rivkin et al. (eds.), Literary Theory: An Anthology, Oxford 1998, 385 – 407. Freud, Sigmund, »Jenseits des Lustprinzips,« in: Elemente der Psychoanalyse, ed. Anna Freud, Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt am Main 2006. Lacan, Jacques, »The Mirror Stage as Formative of the Function of the I as Revealed in Psychoanalytic Experience,« in: Julie Rivkin et al. (eds.), Literary Theory: An Anthology, Oxford 1998, 178 – 183. Lacan, Jacques, »Tuché and Automaton,« in: The Four Fundamental Concepts of Psycho-Analysis, ed. Jacques-Alain Miller, transl. Alan Sheridan, London 1977. 81

Holy Bible. The New King James Version, Cant. Cantic., 8, 6.

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Riehle, Wolfgang, The Middle English Mystics, transl. Bernard Standring, London / Boston / Henley 1981. Wiethaus, Ulrike, Ecstatic Transformation. Transpersonal Psychology in the Work of Mechthild von Magdeburg, Syracuse University Press, 1996.

Dantes Lobgesang auf Franz von Assisi und die Tradition der Laudendichtung: Ein Vergleich Von Elisabeth Leeker Der Lobgesang auf den Hl. Franz von Assisi in Par. XI, 43 – 117 wirkt wie ein in sich abgeschlossener Text innerhalb von Dantes Commedia. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass Angelo Branduardi diesen Abschnitt, herausgelöst aus seinem Zusammenhang, für sein im Jahre 2000 erschienenes Album L’infinitamente piccolo vertont hat.1 Für sich betrachtet, weist dieses Loblied einige Ähnlichkeiten zu den zur Zeit Dantes entstandenen und sehr verbreiteten Heiligenlauden auf. Ein Vergleich zwischen Dantes hoher Dichtung und einer eher volkstümlichen Gattung mag etwas gewagt erscheinen, und bezeichnenderweise findet sich in der Enciclopedia Dantesca weder ein eigener Artikel zu dem Begriff »Lauda«2 noch das Stichwort »Jacopone da Todi«, was darauf schließen lässt, dass bislang kaum jemand Dante mit dieser Gattung in Verbindung gebracht hat.3 Ein 1 Angelo Branduardi, L’infinitamente piccolo … le vie del pellegrinaggio. 11 canzoni su testi tratti dalle Fonti Francescane, EMI 2000. Im Jahr 2007 erschien dieselbe CD im Plattenverlag Tre Colori in der Reihe edel. 2 Der Begriff »laude« erscheint lediglich als Variante zu »lode«, dem ein Artikel von Domenico Consoli (Enciclopedia Dantesca, 6 Bde., 2. Auflage, Rom 1984, Bd. III, 679 f.) gewidmet ist, welcher allerdings nicht auf die Gattung Lauda eingeht. 3 Hans Ludwig Scheel, »Dante und die religiöse Dichtung seiner Zeit«, Deutsches Dante-Jahrbuch 65 (1990), 11 – 28, kommt in bezug auf die Vita Nuova zu dem Ergebnis, dass sich dort keine nachweisbar konkreten Bezüge zur zeitgenössischen religiösen Dichtung Italiens finden und dass von der geistlichen Lyrik Guittones, von den Laude und von Jacopone da Todi weder in De Vulgari Eloquentia noch anderswo bei Dante die Rede sei (ibid., 19). – Zu den Beziehungen zwischen Dante und Jacopone siehe Giovanni Latini, Dante e Jacopone e loro contatti di pensiero e di forma, Todi 1900 (digitalisierte Fassung vom 1. Mai 2006: Harvard University, stab. tip. Foglietti); Paolo Canettieri, Iacopone da Todi e Dante Alighieri, in: http://knol. google.com/k/iacopone-da-todi-e-dante-alighieri, veröffentlicht am 5. 2. 2008, 19 S. (22. 7. 2010). Canettieri zeigt eine Reihe gedanklicher Übereinstimmungen zwischen beiden Dichtern auf, zögert aber, Jacopone als direkte Quelle Dantes zu bezeichnen (ibid., 4 f.), wobei er jedoch zugesteht: »Insomma possiamo senz’altro affermare che la conoscenza delle laude iacoponiche è stata determinante per l’elaborazione dan-

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Vergleich wird jedoch zeigen, dass es durchaus eine ganze Reihe von Berührungspunkten zwischen den Texten gibt. Zunächst sollen die Gattung Lauda und dann speziell die Franziskus besingenden Lauden, die die Grundlage für den Vergleich bilden, kurz vorgestellt werden. Da die dem eigentlichen »elogio« (v. 43 – 117) vorangehenden und für dessen Verständnis grundlegenden Verse (v. 28 – 42) bereits einige Gedanken enthalten, die auch in den Lauden zu finden sind, wird dieser Vorspann in die Untersuchung mit einbezogen.

I. Die Laudendichtung zur Zeit Dantes Beginnend mit Franziskus’ berühmtem Sonnengesang, entstanden auf der Apenninenhalbinsel die ersten literarischen Texte in der Volkssprache, und in diesem Kontext entwickelten sich die laude, religiöse Lobgesänge im volgare, die bereits zu Dantes Lebzeiten eine regelrechte Blüte erlebten.4 Ausgehend von Umbrien und der Toskana, verbreitete sich der Laudengesang schnell in ganz Italien und hatte einen großen Einfluss auf die Entstehung sowohl der volkssprachlichen Lyrik als auch des Theaters in Italien. Der bekannteste Vertreter dieser Gattung ist Jacopone da Todi (um 1236 – 1306). Er hat ein umfangreiches und bedeutendes Werk hinterlassen, aber aufs Ganze gesehen stellen seine Gesänge nur einen Bruchteil der überlieferten Lauden dar. Ein Großteil der Texte ist anonym überliefert. Die Gläubigen schlossen sich zu Laienbruderschaften (confraternite) zusammen, die sich regelmäßig, v. a. an bestimmten kirchlichen Festen, in kleinen Kapellen (oratori) trafen. Diese Bruderschaften wurden von den Franziskanern und Dominikanern unterstützt, und der regelmäßige Laudengesang war neben bestimmten Bußpraktiken in ihren Statuten fest verankert. Die Texte wurden zunächst von Mitgliedern des Klerus und Ordensangehörigen, dann aber auch von Laien verfasst.5 Heute existieren noch über 200 Sammlungen tesca di stilemi, di immagini e di metafore, altrimenti appartenenti ad ambiti di differente pertinenza linguistica.« (ebenda, 14). – Neben »Jacopone« ist auch die Form »Iacopone« zu finden. Vermutlich handelt es sich bei erstgenannter Form um die ältere. Zu den beiden Schreibweisen siehe Elisabeth Leeker, Die Lauda. Entwicklung einer italienischen Gattung zwischen Lyrik und Theater (Romanica et Comparatistica, 37) Tübingen 2003, 2, Anm. 6. – Hier wird die ältere Form verwendet, da sie die geläufigere ist. In Zitaten und Werktiteln hingegen wird die von dem jeweiligen Verfasser oder Herausgeber gewählte Form übernommen. 4 Bei »lauda« (Pl. »laude«) handelt es sich um die umbrische Form. Sie gilt heute gegenüber der veralteten Form »laude« (Pl. »laudi«) als die üblichere (Leeker, Die Lauda, 1, Anm. 1). Daher wird ihr auch hier der Vorzug gegeben. In Zitaten und Titeln wird jedoch die von dem jeweiligen Verfasser oder Herausgeber verwendete Form übernommen.

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mit Lauden-Texten. Jede Stadt hatte ihre Bruderschaften, und jede confraternita stellte sich ihre eigene Laudensammlung (laudario) zusammen. Im Laufe der Zeit fand ein reger Austausch von Lauden zwischen den einzelnen Bruderschaften statt, so dass viele Texte in mehreren Sammlungen enthalten sind. Aus Florenz ist uns heute eine umfangreiche Textsammlung der Compagnia di San Gilio6 überliefert. Nach eingehender Untersuchung der Handschrift B.R. 19 der Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze (Mgl 2) hinsichtlich Schrifttyp und Miniaturen sowie inhaltlicher Hinweise auf eine mögliche Datierung kommt Concetto Del Popolo zu dem Ergebnis, der Kodex sei zwischen 1338 und 1349 entstanden.7 Die in ihm enthaltenen Lauden stammen jedoch größtenteils aus dem 13. Jahrhundert. Teilweise sind sie identisch mit denen in Sammlungen aus Cortona und Pisa. Die Compagnia di San Gilio gilt als eine der ältesten florentinischen Bruderschaften.8 Lauden zu Ehren Heiliger sind in toskanischen Sammlungen besonders zahlreich zu finden. Man kann davon ausgehen, dass derartige Lobgesänge Dante bekannt waren. Franziskus, der in Italien und sicherlich auch anderswo bis heute zu den beliebtesten Heiligen zählt, ist diejenige nichtbiblische Figur, der die meisten Lauden gewidmet sind, von denen viele in mehreren Laudensammlungen überliefert sind.9 Auf der Basis dieser relativ guten Textgrundlage10 soll im folgenden Dantes »elogio di S. Francesco« mit einer Reihe von Franziskus-Lauden verglichen werden, um zum einen Ähnlichkeiten aufzuzeigen, zum anderen aber auch zu verdeutlichen, dass Dante nicht einfach eine Lauda in seine Commedia eingebaut hat, sondern seinem Lobgesang ein ganz eigenes Gepräge verliehen hat. Damit der Vergleich besser nachvollziehbar ist, soll ihm eine kurze Charakterisierung der überlieferten Franziskus-Lauden vorangestellt werden. 5 Laude drammatiche e rappresentazioni sacre, hg. Vincenzo De Bartholomaeis, 3 Bde., Florenz 1943 (Nachdruck 1967), Bd. I, XIV; Laude dugentesche, hg. Giorgio Varanini (Vulgares eloquentes, 8), Padua 1972, XIII – XX; Emilio Pasquini, Antonio Enzo Quaglio, Lo Stilnovo e la poesia religiosa (LIL, 2), Bari 1971, 154 f. 6 Laude fiorentine, hg. Concetto Del Popolo, Bd. I (2 Teilbände): Il laudario della Compagnia di San Gilio (Biblioteca della Rivista di Storia e Letteratura Religiosa. Studi e Testi, 10), Florenz 1990. 7 Laude fiorentine, Bd. I*, 38 – 43. 8 Del Popolo, Einleitung zu Laude fiorentine, Bd. I*, 20 – 21. Zu dieser Bruderschaft siehe auch Gennaro Maria Monti, Le confraternite medievali dell’alta e media Italia, 2 Bde. (Storici antichi e moderni), Venedig 1927, Bd. I, 255 – 257. 9 Leeker, Die Lauda, 232. 10 Da der Lobgesang auf den Hl. Dominikus in Par. XII, 31 – 105 parallel zu demjenigen auf den Hl. Franziskus aufgebaut ist, was noch durch die gleiche Länge von 75 Versen unterstrichen wird, wäre es sicherlich interessant, auch diesen mit entsprechenden Lauden zu vergleichen, aber leider sind zu wenige Dominikus-Lauden überliefert, so dass keine ausreichende Textgrundlage gegeben ist.

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II. Charakteristika der Franziskus-Lauden Wie auch die Lauden zu Ehren anderer Heiliger, so wird in den Franziskus gewidmeten Lobgesängen auf der Basis verschiedener Heiligenviten und -legenden das Leben des Gepriesenen skizziert, oder es wird ein einzelnes Wunder – wie die Stigmatisierung – betrachtet. Die einzelnen Lebensstationen und Ereignisse werden nur knapp angedeutet und die Kenntnis der entsprechenden Quellen vorausgesetzt.11 Die erzählenden Passagen werden gelegentlich unterbrochen von Anrufungen oder schließen gebetsähnlich mit der Bitte um Fürsprache.12 Die meisten Franziskuslauden spielen auf die drei Ordensgründungen13 und auf die Stigmatisierung14 an. Daneben werden u. a. auch die Missionsreisen,15 die legendäre Vogelpredigt16 und andere Wunder17 erwähnt. Etwas anders sind die beiden Franziskus11 Das ist der Fall bei den folgenden fünf Texten: Laudar vollio per amore (in: Laude cortonesi dal secolo XIII al XV. Con uno studio sulle melodie cortonesi, hg. Giorgio Varanini, Luigi Banfi, Anna Ceruti Burgio, 4 Bde. [Biblioteca della Rivista di Storia e Letteratura Religiosa. Studi e Testi, 5], Florenz 1981 [Bd. I – II] und 1985 [Bd. III – IV], Bd. I*, Nr. 37; ebenfalls enthalten in: Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 3 [dort allerdings in kürzerer Fassung]); Sïa laudato san Francesco (in: Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38; Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 77 [82]; Laude fiorentine, Bd. I**, Nr. 82; Erik Staaff, Le laudario de Pise du ms. 8521 de la Bibliothèque de l’Arsenal de Paris. Étude linguistique par E. Staaff [Skrifter utgivna av K. Humanistiska VetenskapsSamfundet i Uppsala, 27 / 1], Bd. I: Introduction, Texte, Notes, Glossaire, Uppsala / Leipzig 1931, Nr. 97 [hier fehlen allerdings 3 Strophen, und die übrigen Strophen haben teilweise eine andere Reihenfolge]); San Francesco, aulente fiore (in: Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 1; mit Ausnahme der Ripresa ist diese Lauda identisch mit Santo Francesco, luce della gente aus der Florentiner Sammlung von San Gilio, in: Laude fiorentine, Bd. I**, Nr. 83); Esceso dell’alto rengno (in: Il Laudario »Frondini« dei Disciplinati di Assisi [sec. XIV], hg. Franco Mancini [Biblioteca della Rivista di Storia e Letteratura Religiosa. Studi e Testi, 11], Florenz 1990, Nr. 13); Patrïarca noviello (in: Il Laudario »Frondini«, Nr. 14). 12 Besonders deutlich in Sïa laudato san Francesco, v. 44 – 51 und v. 72 – 79; Bitte am Ende der Lauda z. B. in San Francesco, aulente fiore, v. 47 – 50, und in Patrïarca noviello, v. 49 – 52, wo die Bitte konkret auf die Disciplinati-Bruderschaft bezogen wird: »Sìate recomandato / lo populo d’Asisi tuctavia / e questa Conpangnia / che per tuo amore se ’n va dessiplinando.« (Il Laudario »Frondini«, Nr. 14). 13 Z. B. Laudar vollio per amore, Str. IV; Sïa laudato san Francesco, Str. VII – X (In Str. VII werden die drei Orden sogar zur Dreifaltigkeit in Beziehung gesetzt.); Patrïarca noviello, Str. III (Hier werden die drei Orden in Analogie zu den drei Mönchsgelübden gesehen.). 14 Z. B. Laudar vollio per amore, Str. XII – XIII; Sïa laudato san Francesco, Str. IV + XV; Esceso dell’alto rengno, Str. IV + V. 15 Laudar vollio per amore, Str. VII – VIII. 16 Laudar vollio per amore, Str. V – VI; Sïa laudato san Francesco, Str. XIV. 17 Sïa laudato san Francesco, Str. XVI.

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Lauden von Jacopone da Todi gestaltet, von dem im Verlauf unserer Untersuchung auch noch weitere Gedichte zum Vergleich herangezogen werden. O Francesco povero18 erzählt auf der Grundlage der von Bonaventura verfassten Vita von sieben Situationen, in denen das Kreuz Christi zu Franziskus gesprochen hat, wobei der Stigmatisierung auf dem Berg La Verna mit Abstand die meisten Strophen (IX – XXII) gewidmet sind. Das Leben des Heiligen wird hier aus dem Blickwinkel des Kreuzes betrachtet. O Francesco, da Deo amato19 besteht aus zwei Teilen: Zunächst wird Franziskus als neuer Christus hingestellt, der von Gott dazu bestimmt ist, die Menschen aus der Macht des Teufels zu befreien (v. 1 – 54). Der zweite Teil der Lauda (v. 55 – 162) besteht aus einem Contrasto zwischen dem Teufel und Franziskus. Der Dialog, welcher mit dem Sieg des Heiligen endet, vermittelt einen Einblick in dessen Denken. – Ähnlich wie die Lauden, skizziert auch Dantes Lobgesang das Leben Franziskus’, wobei die Vertrautheit der Leser mit den Details der Vita vorausgesetzt wird. Der sich über die Verse Par. XI, 43 – 117 erstreckende »elogio« lässt sich in 5 Hauptabschnitte gliedern: 1. Die Geburt des Hl. Franziskus (v. 43 – 54); 2. Die mystische Vermählung mit der Armut (v. 55 – 75); 3. Die ersten Anhänger (v. 76 – 84); 4. Die dreifache Besiegelung der neuen Lebensform (v. 85 – 108);20 5. Der Tod des Franziskus (v. 109 – 117). Die Struktur ist vergleichbar mit derjenigen der im Umkreis der Bruderschaften entstandenen Franziskus-Lauden. Zudem sind aber auch tiefergehende theologische Reflexionen zu erkennen, die Dantes Text in die Nähe der Gesänge Jacopones rücken. Um deutlich zu machen, wie Dante sein Bild des Hl. Franziskus entwickelt, ist es sinnvoll, den Text abschnittweise zu analysieren. Da der Vorspann zum eigentlichen »elogio« bereits einige wichtige Hinweise für dessen Deutung liefert, soll dieser, wie eingangs gesagt, hier mit berücksichtigt werden.

III. Der Vorspann des »elogio«: Franziskus und Dominikus (Par. XI, 28 – 42) Vorab einige Bemerkungen zum Kontext der eigentlichen Lobrede auf Franziskus: Die ersten 9 Gesänge des Paradiso waren dem unteren Bereich (Mond-, Merkur- und Sonnenhimmel) des dritten Jenseitsreiches gewidmet. 18 Iacopone da Todi, Laude, hg. Franco Mancini, Bari 1980 (Universale Laterza, 563), Nr. 40. 19 Iacopone da Todi, Laude, Nr. 71. 20 Dieser Abschnitt ließe sich noch feiner untergliedern: a. »primo sigillo«: Anerkennung durch Papst Innozenz III. (v. 85 – 93), b. »seconda corona«: Bestätigung der Regel durch Papst Honorius (v. 94 – 99), c. Missionsreise nach Ägypten (v. 100 – 105), d. »ultimo sigillo«: Stigmatisierung auf dem Berg La Verna (v. 106 – 108).

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Mit dem 10. Gesang betritt Dante den Sonnenhimmel, der die erste Stufe »des reinen Paradiso, des Reiches der himmlischen Vollkommenheit«21 bildet. Im Sonnenhimmel ist das Geschehen der Paradiso-Gesänge X – XIV lokalisiert. Hier begegnet der Dichter den großen Weisheitslehrern, die in zwei Gruppen zu je 12 Gestalten angeordnet sind. Thomas von Aquin tritt als erster heraus, und nachdem er Dante die Gestalten der ersten Gruppe vorgestellt hat (Par. X, 91 – 148), kommt er im 11. Gesang, ausgehend von zwei Verständnisfragen, die Dante nicht explizit stellt, die Thomas ihm aber ablesen kann, auf »due principi« (Par. XI, 35) zu sprechen, die von der göttlichen Vorsehung dazu erwählt worden seien, der Kirche als »guida« (Par. XI, 36) zu dienen und diese auf den rechten Weg zurückzuführen: 28

La provedenza, che governa il mondo con quel consiglio nel quale ogne aspetto creato è vinto pria che vada al fondo,

31

però che andasse ver’ lo suo diletto la sposa di colui ch’ad alte grida disposò lei col sangue benedetto,

34

in sé sicura e anche a lui più fida, due principi ordinò in suo favore, che quinci e quindi le fosser per guida.

37

L’un fu tutto serafico in ardore; l’altro per sapïenza in terra fue di cherubica luce uno splendore.

40

De l’un dirò, però che d’amendue si dice l’un pregiando, qual ch’om prende, perch’ ad un fine fur l’opere sue.22

Gemeint sind Franziskus und Dominikus, deren Ordensgründungen eine religiöse Erneuerung hervorgerufen haben. Das Wirken der beiden Heiligen wird eingeordnet in den Heilsplan der göttlichen Vorsehung, ähnlich wie Dante ja auch in Inferno II erklärt, seine Jenseitsreise, hinter der »tre donne benedette« (Inf. II, 124)23 stehen, sei von der göttlichen Vorsehung gewollt. Einige Kommentatoren beziehen die »due principi« (v. 35) auf eine Prophezeiung Joachims von Floris.24 Laut Gmelin hat Dante die Idee der 21 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übers. Hermann Gmelin, Kommentar, 3 Teile, 2., unveränd. Aufl., Stuttgart 1966 – 1970, III. Teil: Das Paradies, 188. 22 Zugrundegelegt wird bei allen Zitaten aus Dantes Paradiso die Ausgabe: Dante Alighieri, Commedia, hg. Anna Maria Chiavacci Leonardi, 3 Bde. (I Meridiani), Mailand 1991 – 1997, Bd. III: Paradiso. 23 Dante Alighieri, Commedia, hg. Anna Maria Chiavacci Leonardi, 3 Bde. (I Meridiani), Mailand 1991 – 1997, Bd. I: Inferno, 68.

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göttlichen Sendung der Legenda maior von Bonaventura da Bagnoregio entnommen.25 Eine solche Vorgehensweise, bei der dargestellt wird, wie es im Himmel zu einem Heilsplan gekommen ist, lässt sich jedoch im Mittelalter auch bei anderen Autoren finden. So beginnen die um das Jahr 1300 entstandenen Meditationes vitae Christi, die schon bald zu einem regelrechten Volksbuch wurden, damit, dass Gott, bewogen von seiner großen Barmherzigkeit und auf die eindringlichen Bitten der Himmelsgeister hin, beschließt, das Menschengeschlecht zu retten durch die Menschwerdung seines Sohnes. Dann beauftragt er den Engel Gabriel, sich zu Maria nach Nazareth zu begeben. Darauf folgt die Betrachtung der Verkündigungsgeschichte.26 Etwas Vergleichbares lässt sich auch bei einigen Lauden feststellen. So beginnt z. B. die Peruginer Verkündigungslauda In Annuntiatione Virginis Marie27 mit einem Gespräch im Himmel: Ein Engel weist die göttliche Dreifaltigkeit darauf hin, dass sich die Menschheit in der Gewalt des Teufels befinde, und schließlich erklärt sich Gottes Sohn bereit, durch seine eigene Inkarnation die Erlösung des Menschen zu bewirken. Daraufhin wird Maria als Mutter Jesu ausgewählt und der Engel Gabriel beauftragt, ihr die Verkündigungsbotschaft zu bringen (v. 1 – 44). Ein Verweis auf die göttliche Vorsehung ist auch in einigen Franziskus-Lauden zu finden, wie z. B. in San Francesco, aulente fiore: La divina provedença ne mandò la tua presença e ’nsegnò con sapïença bem servire el criatore. (v. 19 – 22)28

Besonders deutlich tritt das Konzept des im Himmel gefassten Heilsplans in O Francesco, da Deo amato von Jacopone da Todi zutage. Ähnlich wie die genannte Verkündigungslauda erzählt Jacopone zu Beginn seines Ge24 Silvano Ciprandi, Le mie Lecturae Dantis, 3 Bde., Pavia 2006 – 2007, Bd. III: Paradiso, 153; Nicolò Mineo, »Il canto XI del Paradiso«, in: Attilio Mellone (Hg.), I primi undici canti del Paradiso (Lectura Dantis Metelliana, 2), Rom 1992, 223 – 320, bes. 272 – 278. Eine Interpretation von Par. X – XII vor dem Hintergrund der Lehren Joachims von Floris liefert der Aufsatz von Herbert Grundmann, »Zu Paradiso X – XII«, Deutsches Dante-Jahrbuch 14 (1932), 210 – 256. 25 Gmelin, Das Paradies, 220. 26 Dieses Werk wurde lange Zeit Bonaventura da Bagnoregio zugeschrieben, stammt in Wirklichkeit aber wohl von Johannes de Caulibus, einem anderen Franziskaner: Des Bruders Johannes de Caulibus Betrachtungen vom Leben Jesu Christi, 1. Teil. Verdeutscht von P. Vincenz Rock O.F.M. (Franziskanische Lebenswerte, Reihe II, Bd. I), Berlin 1928, 9 – 11. 27 Laude drammatiche e rappresentazioni sacre, hg. Vincenzo De Bartholomaeis, Bd. I, 98 – 102. 28 Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 1.

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dichts, dass sich die Menschheit in der Gewalt des Teufels befand, der dann durch Christus besiegt wurde (»Per gran tempo fo sconfitto / lo Nimico emmaledetto«, v. 23 / 24), schließlich aber wieder die Oberhand gewann (»relevòse e fece iètto / e lo mondo à arapicciato«, v. 25 / 26), woraufhin Franziskus von Gott erwählt wurde: Vedenno l’alta Signoria ch’el Nimico se vencia, mandar ce vòl cavallaria cun duttor ben amaistrato. San Francesco ce fo elesso, per confaluner c’è messo (v. 27 – 32)29

Francesco ist »duttor« (v. 30) einer »cavallaria« (v. 29) und »confaluner« (v. 32). Diese Begriffe sind vergleichbar mit denen Dantes, der von »due principi [ …] / che quinci e quindi le fosser per guida« (v. 35 / 36) spricht.30 Eine solche militärische Terminologie geht vermutlich auf die Legenda maior zurück.31 Der Begriff »guida« (v. 36) begegnet auch in Sïa laudato san Francesco: »ke lo nostro intendemento / te seguisca guidatore« (v. 74 f.).32 In derselben Lauda, die in Sammlungen aus Cortona, Florenz und Pisa enthalten ist und damit sehr verbreitet war, wird ebenfalls auf die göttliche Sendung des Heiligen angespielt: Molti messi avea mandati la divina maiestade e le gente predicate, como dicom le scripture. Intra ’ quali non fo trovato nullo privilegïato d’arme nove coredato, cavalieri a tant’onore. (v. 8 – 15)33 Iacopone da Todi, Laude, Nr. 71. Speziell zum Begriff »principi« siehe die Ausführungen von Mineo, »Il canto XI del Paradiso«, 277 f. 31 Bonaventura bezeichnet Franziskus als »miles Christi«, z. B. in der Legenda maior, Cap. XIII, 9. Bonaventura Bagnoregis, Sanctus, Legenda Major Sancti Francisci, in: http://www.documentacatholicaomnia.eu/04z/z_1221-1274_Bonaventura_ Legenda_Major_Francisci_LT.pdf.html, 49 (15. 11. 2010). – Im 12. Gesang des Paradiso charakterisiert Dante auch den Hl. Dominikus mit militärischen Termini, wenn er vom »altro duca« (Par. XII, 32) spricht, für den Einsatz der beiden Ordensgründer das Verb »militaro« (Par. XII, 35) verwendet und die Kirche als »L’essercito di Cristo« (Par. XII, 37) und als »milizia« (Par. XII, 41) und Gott als »lo ’mperador che sempre regna« (Par. XII, 40) bezeichnet. 32 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38. In der Florentiner Sammlung, die dieselbe Lauda enthält, steht in Vers 75 allerdings »donatore« (Laude fiorentine, Bd. I**, Nr. 82). 29 30

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Was hier »la divina maiestade« (v. 9) genannt wird, bezeichnet Dante als »La provedenza, che governa il mondo« (v. 28). Auch hier finden wir wieder eine militärische Terminologie. Die Begriffe »serafico« (v. 37) und »di cherubica luce« (v. 39), mit denen die Gründer der beiden großen Orden charakterisiert werden, beziehen sich auf eine Definition, die Thomas von Aquin formuliert hat: »Cherubim interpretatur plenitudo scientiae; Seraphim autem interpretatur ardentes sive incendentes. Et sic patet quod Cherubim denominatur a scientia [ …]; Seraphim vero denominatur ab ardore caritatis«.34 Franziskus wird traditionell als der Seraphicus, der von Liebe zu Gott Glühende, bezeichnet und Dominikus, dessen Orden durch besondere Gelehrsamkeit hervortritt, ist wie ein Cherub, der das Licht der Erkenntnis verkörpert.35 Ebenso werden die beiden Heiligen auch in der Laudendichtung charakterisiert. Es gibt zahlreiche Stellen, an denen von der großen Liebe des Hl. Franziskus die Rede ist, wie z. B. in Sïa laudato san Francesco, wo die Stigmata als Zeichen dieser Liebe gedeutet werden,36 oder in San Francesco, aulente fiore, wo es um die Liebe geht, mit der der Besungene predigte37 und von der er erfüllt war.38 Das Motiv dieser Liebe wird in Laudar vollio per amore zur chiastischen Verknüpfung der 11. und 12. Strophe: »›k’io languesco del tuo amore!‹ / Del suo amore tanto languisti« (v. 46 f.).39 In derselben Lauda heißt es von Franziskus: »lo martirio desiderasti / ferventemente, per ardore« (v. 33 f.),40 und in Sïa laudato san Francesco: »martiro per voluntade / fosti, per lo grand’ardore« 33 Zitiert nach: Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38. Zu den verschiedenen Laudensammlungen, die diesen Text enthalten, siehe Anm. 11. 34 Summa theologica I, Quaestio LXIII, 7, in: http://la.wikisource.org/wiki/Summa_Theologiae_prima_pars_quaestio_LXIII (14.11.2010); siehe auch den Kommentar von Maria Teresa Balbiano d’Aramengo, Il Paradiso di Dante. Nuovi appunti per la lettura. Illustrazioni di Fabio Bodi, Turin 2006, 178. 35 Zur etymologischen Deutung dieser beiden Begriffe siehe auch den Kommentar von Philalethes (Johann von Sachsen): Dante Alighieri’s Göttliche Comödie, metrisch übertr. und mit kritischen und historischen Erläuterungen vers. Philalethes. 3 Bde, neue, durchgesehene und berichtigte Ausgabe, Leipzig 1865 – 1866, Dritter Theil. Das Paradies, 123 f. 36 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38, v. 4 – 7: »A Cristo fo configurato: / de le piaghe fo signato / emperciò k’avëa portato / scripto in core lu suo amore«. 37 Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 1, v. 9 f.: »doctrinasti santamente / li figliuoli con grande amore«. 38 Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 1 (San Francesco, aulente fiore), v. 29 f.: »saporasti acqua viva / de la fontana d’amore«. 39 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 37. 40 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 37.

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(v. 54 f.).41 In San Francesco, aulente fiore wird Franziskus sogar explizit mit einem Seraphen verglichen: San Francesco, tanto amasti Cristo, chui te confidasti, seraphino che simigliasti, tanto fosti pieno d’amore. (v. 35 – 38)42

In anderen Lauden hingegen erscheint die Nähe zu einem Seraphen im Zusammenhang mit dem Ereignis auf dem Berg La Verna. Das beruht auf der u. a. in der Legenda aurea zu findenden Überlieferung, dass Franziskus bei seiner Stigmatisierung die Vision eines gekreuzigten Seraphs hatte, der ihm die Wundmale in den Körper drückte.43 Diese Vorstellung spiegelt sich auch in dem entsprechenden Fresko Giottos in der Oberkirche der Basilica di San Francesco in Assisi wider. So berichtet Sïa laudato san Francesco, dass dem Heiligen auf dem Berg La Verna ein Seraph erschien: »lo qual pianto li torna in canto / el sarapyn consolatore« (v. 18 f.).44 Zu Dominikus gibt es leider nur sehr wenige Lauden. Eine befindet sich in der Florentiner Sammlung der Compagnia di San Gilio. In diesem Text taucht zwar nicht der Begriff Cherub auf, jedoch wird in auffälliger Weise mit dem Wort »luce« gespielt, was als das durch einen Cherub verkörperte Licht der Erkenntnis gedeutet werden kann.45 – Bei dem Vergleich der beiden Heiligen Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38. Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 1. Ebenso in Santo Francesco, luce della gente, v. 37 f. (Laude fiorentine, Bd. I**, Nr. 83). Diese Lauda ist mit Ausnahme der Ripresa identisch mit San Francesco, aulente fiore. Concetto del Popolo, der Herausgeber der Laude fiorentine, hält es für möglich, dass in Vers 38 ursprünglich »ardore« statt »amore« gestanden hat (Bd. I**, 443). Dann hätten wir die gleichen Wörter wie bei Dante. 43 Jacobi a Voragine Legenda aurea. Vulgo historia lombardica dicta, hg. Theodor Graesse, Dresden, Leipzig 1846, 667: »In visione servus Dei supra se seraphin crucifixum adspexit, qui crucifixionis suae signa sic ei evidenter impressit, ut crucifixus videretur et ipse. Consignanter manus et pedes et latus crucis charactere«. 44 Zitiert nach: Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38. Zu den verschiedenen Sammlungen, in denen diese Lauda überliefert ist, siehe Anm. 11. – Ähnlich in Patrïarca noviello: »El serafin videndo / Francessco commo Cristo chiavellato / [.… ] / del suo amore enfianbato« (v. 37 f. + 41). Il Laudario »Frondini«, Nr. 14. Jacopone da Todi redet Franziskus in einer Lauda sogar mit »Francesco angeleco« an. Iacopone da Todi, Laude, Nr. 40 (O Francesco povero), v. 55. 45 Laude fiorentine, Bd. I**, Nr. 86 (Domenicho beato), v. 2: »lucerna rilucente«; v. 5 – 7: »ordinasti per tutto ’l mondo le schiere / de li pcatori, ke so’ lumiere / d’ogn’omo tenebrato«; v. 22 f.: »La penitença ti fece lucerna / ke nutricò la luce sempiterna«; v. 28 – 30: »Lucesti per l’ordine che trovasti / et per la vera luce che portasti, / colla quale lo mondo alluminasti«. Am Ende der Lauda wird Dominikus sogar als »Angelo« (v. 34) bezeichnet. Diese Lauda ist auch in der Pisaner Sammlung 41 42

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mit einem Seraphen bzw. Cheruben greifen sowohl Dante als auch die Laudendichter auf eine gängige Vorstellung zurück. Der »serafico« und der von »cherubica luce« Erfüllte haben jeder auf seine Weise auf dasselbe Ziel hin gewirkt (v. 42), und darum, so Thomas von Aquin, schließe das Lob des einen das des anderen ein (v. 40 f.). Die im Prolog vorweggenommene allgemeine Charakterisierung des Hl. Franz, der sich durch seine außerordentliche Liebe ausgezeichnet habe, spielt auch im eigenlichen »elogio« eine Rolle. IV. Der Lobgesang auf den Hl. Franziskus (Par. XI, 43 – 117) Den in Vers 43 beginnenden Lobgesang auf Franziskus legt Dante bezeichnenderweise dem Dominikaner Thomas von Aquin in den Mund, der auch den Vorspann (ab Vers 19) gesprochen hat. Analog dazu wird die Laudatio auf Dominikus im darauffolgenden Gesang von dem Franziskaner Bonaventura da Bagnoregio gehalten (Par. XII, 31 – 105). Marcella Roddewig weist anhand liturgischer Dokumente beider Orden nach, dass seit 1244 der Brauch bezeugt ist, dass am 4. Oktober (Fest des Hl. Franziskus) von Dominikanern ein Lobgesang auf die Vita des Hl. Franz und am 4. August (Fest des Hl. Dominikus) von Franziskanern ein Lobgesang auf die Vita das Hl. Dominikus gehalten wurde.46 Dante greift offenbar diese Tradition auf. Das Lob auf Franziskus mündet in eine Klage über die gegenwärtige Dekadenz des Dominikanerordens, und parallel dazu lässt Bonaventura seinem Lob auf Dominikus eine Klage über die Entartung seines eigenen Ordens folgen. Das Lob der beiden Heiligen dient als Kontrastfolie zu den negativen Entwicklungen der beiden Gründungen, die sich von ihren Ursprüngen entfernt haben. Das ist in gewisser Hinsicht vergleichbar mit den Heiligenlauden, die in eine Anrufung der besungenen Person münden. Dabei bildet das exemplarische Leben des Gepriesenen einen Gegensatz zur Sündhaftigkeit der Laudensänger, die dessen Fürsprache bedürfen.

(Le laudario de Pise, Nr. 94) enthalten, umfasst dort jedoch nur 27 Verse (Ripresa + Str. I – IV). 46 Marcella Roddewig, »Lectura Dantis: Paradiso XI«, Deutsches Dante-Jahrbuch 66 (1991), 81 – 105, hier 82; dies., »Franz von Assisi in der Göttlichen Komödie«, Deutsches Dante-Jahrbuch 46 (1970), 132 – 160, hier 143. Auch Sapegno erwähnt diesen Brauch: Dante Alighieri, La Divina Commedia, hg. Natalino Sapegno, 3 Bde., 2. Auflage, Florenz 1968 (Nachdruck 1978), Bd. III: Paradiso, 142.

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1. Die Geburt des Hl. Franziskus (Par. XI, 43 – 54) 43

Intra Tupino e l’acqua che discende del colle eletto dal beato Ubaldo, fertile costa d’alto monte pende,

46

onde Perugia sente freddo e caldo da Porta Sole; e di rietro le piange per grave giogo Nocera con Gualdo.

49

Di questa costa, là dov’ella frange più sua rattezza, nacque al mondo un sole, come fa questo talvolta di Gange.

52

Però chi d’esso loco fa parole, non dica Ascesi, ché direbbe corto, ma Orïente, se proprio dir vuole.

Der erste Abschnitt, der eine sehr poetische Beschreibung der geographischen Lage von Assisi enthält, findet in der Laudendichtung nicht seinesgleichen, sondern stellt etwas bei Dante sehr Originelles dar. Dieser bedient sich gern solcher Be- und Umschreibungen, wie im darauffolgenden Gesang, wo er dem Geburtsort des Hl. Dominikus drei ähnlich kunstvolle Terzinen widmet (Par. XII, 46 – 54).47 Zur Erklärung der einzelnen geographischen Namen und Anspielungen sei auf die zahlreichen Kommentare verwiesen.48 Bereits diese ersten Verse des Lobgesangs enthalten einige Schlüsselwörter, hinter denen sich ein theologisches Konzept verbirgt, das im Verlauf des Textes entfaltet wird. Durch den Verweis auf Ubaldo Baldassini (1084 – 1160), den späteren Bischof von Gubbio, der sich gern auf diesen »colle eletto« (v. 44) zurückzog, erhält dieser Ort einen mystischen Charakter.49 Seine Fruchtbarkeit ist vor diesem Hintergrund auch metaphorisch zu verstehen in dem Sinne, dass auf dieser »fertile costa« (v. 45) 47 Weitere Beispiele für vergleichbare, wenn auch z. T. weniger ausführliche Ortsbeschreibungen in Dantes Commedia sind Francescas Heimatstadt (Inf. V, 97 – 99), die Beschreibung Mantuas (Inf. XX, 61 – 81), die geographische Skizzierung des Erbreichs von Karl Martell (Par. VIII, 58 – 63) oder die Terzine, in der Dante die Heimatprovinz der Cunizza (die Mark von Treviso) beschreibt (Par. IX, 25 – 27). 48 Z. B. Chiavacci Leonardi, Paradiso, 312 – 314; Gmelin, Das Paradies, 221 f.; Sapegno, Paradiso, 142 – 144; Balbiano d’Aramengo, Il Paradiso di Dante, 178 f.; Roddewig, »Lectura Dantis: Paradiso XI«, 85 – 87. Eine besonders detaillierte Erklärung der geographischen Lage von Assisi, einschließlich Karte, liefert Philalethes: Dante Alighieri’s Göttliche Comödie. [ …] Dritter Theil. Das Paradies, 124. 49 Roddewig (»Lectura Dantis: Paradiso XI«, 85) stellt eine Parallele her zwischen dem Hügel, auf den sich Ubaldo zurückzog, und der Einsiedelei von Rivotorto, in der sich Franziskus nach seiner Bekehrung aufhielt, um über seine zukünftige Lebensform nachzudenken.

Dantes Lobgesang auf Franz von Assisi

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etwas Geistliches gedeihen kann.50 Diese Metapher wird an späterer Stelle wieder aufgegriffen, wenn Franziskus nach erfolglosen Missionsversuchen im Vorderen Orient »al frutto de l’italica erba« zurückkehrt (v. 105), und im 12. Paradiso-Gesang bedient sich Dante ebenfalls eines Bildes aus der Natur bzw. aus der Landwirtschaft, um seine Kritik an den Franziskanern seiner Zeit zum Ausdruck zu bringen.51 Daran sieht man, dass er, im Unterschied zu den Laudendichtern, seinen Franziskus-Lobgesang nicht als isolierten Text komponiert hat – auch wenn dieser, wie die Vertonung Branduardis zeigt, für sich alleine sehr wirkungsvoll ist –, sondern ihn in einen größeren Zusammenhang gestellt hat. Das schließt aber nicht aus, dass es dennoch Berührungspunkte mit der Laudendichtung gibt. So wird das biblische Bild des Pflanzens und der Frucht auch in der Lauda Sïa laudato san Francesco auf das erfolgreiche Wirken des Heiligen bezogen,52 ebenso wie in Laudar vollio per amore, wo für die Ordensgründungen das Verb »plantasti« verwendet wird.53 Franziskus selbst wird in einer einstmals Jacopone da Todi zugeschriebenen, aber in heutigen Ausgaben nicht mehr zu findenden Lauda als »buon frutto odorato«54 und in San Francesco, aulente fiore55 als Blume bezeichnet. Porta Sole (v. 47) war ein etruskisches, im Mittelalter verändertes Stadtor im Osten von Perugia, an der Stelle, wo sich heute der Arco dei Gigli, auch Arco del Sole genannt, befindet.56 Von dort aus blickt man auf Assisi, das östlich von Perugia liegt, und im Osten geht bekanntlich die Sonne auf. Die Geburt Franziskus’ wird verglichen mit der über dem Ganges aufgehenden 50 Stanislao da Campagnola verweist auf die in Versen verfasste Legenda s. Francisci von Enrico d’Avranches und die ebenfalls in Versen geschriebene anonyme Legenda s. Clarae, in denen die Fruchtbarkeit Assisis besungen wird. Ders., »Francesco di Assisi, santo«, in: Enciclopedia Dantesca, Bd. III, 17 – 23, hier 19. 51 Par. XII, 118 – 120: »e tosto si vedrà de la ricolta / de la mala coltura, quando il loglio / si lagnerà che l’arca li sia tolta.« 52 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38, v. 28 – 31: »A laude de la Trinitade / l’ordine tre da lui plantate / per lo mondo delatate / fanno fructo cum aulore.« Diese Lauda befindet sich auch in anderen Sammlungen (siehe Anm. 11). 53 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 37, v. 8: »novell’ordine plantasti« und v. 15: »Tre ordine plantasti«. 54 Le poesie spirituali del B. Iacopone da Todi frate minore accresciute di molti altri suoi Cantici novamente ritrovati, che non erano venuti in luce; et distinti in VII Libri [ …], hg. Francesco Tresatti, Venedig 1617, 347 – 355: Libro III, Oda 24, v. 1 – 6: »San Francesco sia laudato, / Che con Christo sta beato. / Per la gratia divina / Si conobbe per dottrina, / Come di pungente Spina / Nacque buon frutto odorato.« 55 Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 1. 56 Klaus Zimmermanns, Umbrien. Eine Landschaft im Herzen Italiens (DuMont Kunst-Reiseführer), 4. Auflage, Köln 1990, 92.

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Elisabeth Leeker

Sonne,57 und daher wäre, so Dante, die Bezeichnung »Orïente« zutreffender. Die Beschreibung Assisis gipfelt in dieser Korrektur des Namens.58 Ein vergleichbares Spiel mit einem Namen findet sich in einer Lauda auf den Hl. Zenobius, den Patron von Florenz. Die Ehre, die der Stadt dadurch zuteil wird, dass sich seine Gebeine im Dom S. Maria del Fiore befinden, wird unterstrichen durch das Wortspiel »del qual [d. h. san Çenobio] fiorisce Fiorença« (v. 73).59 Die Korrektur des Namens »Ascesi« zeigt, dass die Ortsbeschreibung eine metaphorische Bedeutung erhält und ganz in den Dienst der Botschaft gestellt wird, die Dantes Lobgesang übermitteln will: Franziskus erscheint als alter Christus, und das wird von Anfang an deutlich gemacht, wenn er als Sonne bezeichnet wird. Der Vergleich des Hl. Franz mit der im Orient aufgehenden Sonne ist nicht Dantes Erfindung, sondern begegnet bereits bei Bonaventura da Bagnoregio und Ubertino da Casale, die Franziskus mit einem der Engel des sechsten Siegels in der Offenbarung des Johannes identifizieren.60 Originell ist jedoch die pseudoetymologische Verbindung von »Ascesi« und »Orïente«, womit Dante die Analogie zwischen Christus und Franziskus als alter Christus noch verstärkt. Diese Analogie bildet den Kern des gesamten »elogio«. Auch Christus wird traditionell mit der Sonne gleichgesetzt und seine Geburt als Sieg der Sonne über die Dunkelheit gedeutet, weswegen in der Weihnachtsliturgie so häufig von »sol invictus« oder »sol iustitiae« die Rede ist.61 Die Ge57 Dante spielt hier an auf die Tag- und Nachtgleiche im Frühling, wenn die Sonne nach seinen geographischen Vorstellungen über dem Ganges aufgeht (vgl. auch Purg. II, 1 – 6). Siehe den Kommentar von Chiavacci Leonardi, Paradiso, 313, sowie die Deutung von Marcella Roddewig (»Lectura Dantis: Paradiso XI«, 86): »Über der fruchtbaren Erde von Assisi ist eine Sonne der Welt aufgegangen, wie auch die Sonne am Ganges im Frühling ihren wohltätigsten Einfluß ausübt.« 58 Einige Kommentatoren sehen im Gebrauch der alten Bezeichnung »Ascesi« (v. 53) einen etymologischen Verweis auf »ascendere«. Dieser Name sei jedoch »corto« (v. 54), weil er im Unterschied zu »Orïente« (v. 54) nicht zum Ausdruck bringe, dass Assisi der Ort sei, wo die Sonne (= Franziskus) aufgehe. Siehe dazu Chiavacci Leonardi, Paradiso, 314, und Sapegno, Paradiso, 143 f. 59 Lauda di sancto Çenobio, in: Laude fiorentine, Bd. I**, Nr. 78. – In Sïa laudato san Francesco wird der Name des Heiligen gedeutet als: »Francesco, franco core« (v. 51). Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38. 60 Apc 7, 2: »et vidi alterum angelum ascendentem ab ortu solis habentem signum Dei vivi«. Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hg. Deutsche Bibelgesellschaft, 4. Auflage, Stuttgart 1994, 1888. Zu dieser Deutung siehe Roddewig, »Lectura Dantis: Paradiso XI«, 86, sowie Gmelin, Das Paradies, 221 f. 61 Zur Bedeutung der Sonne für die Entstehung des Weihnachtsfestes siehe Joachim und Elisabeth Leeker, »Jacobus a Voragine, Legenda aurea: ›Von der Geburt unseres Herrn Jesus Christus‹«, im Internet veröffentlicht am 02. 12. 2009 unter der Adresse: http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/fakultaet_sprach_literatur_ und_kulturwissenschaften/iz/dateien/LEGENDA %20aurea.pdf, 34 – 36.

Dantes Lobgesang auf Franz von Assisi

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burt Christi wird theologisch verstanden als Licht, das in die Dunkelheit der Welt gekommen ist, gemäß der Prophezeiung Jesajas: »populus qui ambulabat in tenebris vidit lucem magnam habitantibus in regione umbrae mortis lux orta est eis« (Is 9,2).62 Jesus ist im Osten (Bethlehem) geboren, dort, wo die Sonne aufgeht, und analog dazu charakterisiert Dante auch den Geburtsort Franziskus’ als Ort der aufgehenden Sonne. Die Lichtmetaphorik ist ein typisches Element der Franziskus-Lauden und unterstreicht auch dort die Ähnlichkeit zu Christus. So heißt es in Sïa laudato san Francesco: Quando fo da Dio mandato san Francesco lo beato, lo mondo k’era entenebrato recevette gran splendore. (v. 24 – 27)63

Das erinnert an das Licht, das mit der Geburt Christi in die Welt gekommen ist. In derselben Lauda wird Franziskus als »O lucerna, sole et luce« (v. 76) und in San Francesco, aulente fiore64 als »vera luce« (v. 3) und »del mondo te fece splendore« (v. 6) angeredet. Eine aus Assisi überlieferte Lauda beginnt mit den Worten »Esceso dell’alto rengno«65 und suggeriert damit, dass Franziskus, so wie Jesus, auf die Erde gekommen ist, um die Menschen zu erretten und auf den rechten Weg zu führen. Dieser Gedanke findet sich auch in der eingangs erwähnten Lauda O Francesco, da Deo amato von Jacopone da Todi,66 wo Franziskus als neuer Christus erscheint, der von Gott dazu bestimmt ist, die Menschen aus der Macht des Teufels zu befreien, womit ihm eine heilsgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben wird. 2. Die mystische Vermählung mit der Armut (Par. XI, 55 – 75)

62 63 64 65 66

55

Non era ancor molto lontan da l’orto, ch’el cominciò a far sentir la terra de la sua gran virtute alcun conforto;

58

ché per tal donna, giovinetto, in guerra del padre corse, a cui, come a la morte, la porta del piacer nessun diserra;

Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, 1105. Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38. Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 1. Il Laudario »Frondini«, Nr. 13. Iacopone da Todi, Laude, Nr. 71.

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Elisabeth Leeker 61

e dinanzi a la sua spirital corte e coram patre le si fece unito; poscia di dì in dì l’amò più forte.

64

Questa, privata del primo marito, millecent’ anni e più dispetta e scura fino a costui si stette sanza invito;

67

né valse udir che la trovò sicura con Amiclate, al suon de la sua voce, colui ch’a tutto ’l mondo fé paura;

70

né valse esser costante né feroce, sì che, dove Maria rimase giuso, ella con Cristo pianse in su la croce.

73

Ma perch’io non proceda troppo chiuso, Francesco e Povertà per questi amanti prendi oramai nel mio parlar diffuso.

Die Fortführung der Sonnenmetaphorik stellt eine Verbindung zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt des »elogio« dar, wenn Dante die Ereignisse kurz nach der Geburt des Heiligen schildert und dabei das Wort »orto« (v. 55) verwendet, wobei er möglicherweise eine Verbindung zu »lux orta est« aus der oben zitierten, auf Christus bezogenen alttestamentlichen Prophezeiung (Is 9,2) herstellen möchte. Das erste Wirken des Hl. Franz wird beschrieben als »far sentir la terra / de la sua gran virtute alcun conforto« (v. 56 f.) und damit sogleich auf den Punkt gebracht, denn »virtute« ist ein Schlüsselbegriff, mit dem das Wirken Franziskus’ in der Laudendichtung häufig charakterisiert wird. In Sïa laudato san Francesco wird die »virtude sancta« (v. 48) als Grund für das Singen dieser Lauda genannt,67 und in Esceso dell’altro rengno wird von Franziskus gesagt: »parve colui che de Vertude fo nato« (v. 2).68 Dass Franziskus bei Dante Trost (»conforto«, v. 57) auf die Erde bringt, rückt ihn in die Nähe der Gottesmutter Maria, der traditionell u. a. das Attribut der Trösterin zugeschrieben wird. Das lässt sich auch in der Lauda San Francesco, aulente fiore beobachten, an deren Ende Franziskus sogar selbst als Tröster angerufen wird: »e sia nostro consolatore« (v. 50).69 Im Folgenden verlässt Dante die Metapher der Sonne, und das Grundmotiv des alter Christus wird fortgeführt im Bild des Bräutigams der Armut. Franziskus riskiert einen Krieg gegen seinen Vater, um sich mit einer 67 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38, v. 48 – 51: »Per la virtude sancta / a Dio data tutta quanta, / questa dolçe laude canta / di te, Francesco, franco core!« 68 Il Laudario »Frondini«, Nr. 13. 69 Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 1.

Dantes Lobgesang auf Franz von Assisi

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Frau zu vermählen (»le si fece unito«, v. 62), die niemand haben will: »per tal donna, [ …] a cui, come a la morte, / la porta del piacer nessun diserra« (v. 58 – 60). Damit spielt Dante auf die in dem anonym verfassten Sacrum Commercium sancti Francisci cum domina paupertate (zwischen 1260 und 1270) und im Arbor vitae crucifixae Jesu von Ubertino da Casale (1305) beschriebene mystische Hochzeit an, ein Thema, das zum Allgemeingut franziskanischer Literatur gehört und auch Gegenstand der bildenden Kunst geworden ist.70 Die abschreckende Wirkung der Madonna Povertà erinnert an eine Lauda aus der 1617 von Francesco Tresatti herausgegebenen Sammlung Le poesie spirituali, die seinerzeit Jacopone da Todi zugeschrieben wurden, aber nach neuestem Forschungsstand wohl nicht alle von ihm verfasst wurden. Eine in modernen Jacopone-Ausgaben nicht mehr zu findende Lauda beginnt mit »O Amor di Povertade / La tua gran nobilitade / Chi potria già mai narrare?« (v. 1 – 3).71 Darin heißt es: Va pe’l Mondo sconosciuta, Et ogn’uno la rifuta. Tutti dicon; Dio m’aiuta, Se la veggion pur passare. È sì grande il suo terrore, Che mette alle Creature; Che ad ogn’uno da tremore, Che non gli abbia in casa à entrare. (v. 8 – 15)72 70 Zum Motiv der mystischen Hochzeit siehe Roddewig, »Lectura Dantis: Paradiso XI«, 88 f. Chiavacci Leonardi (Paradiso, 315) verweist darauf, dass die Begriffe »spirital corte« (v. 61) und »coram patre« (v. 62) dieser Szene eine kirchenrechtliche Relevanz verleihen: Öffentlich und in Gegenwart eines kirchlichen Vertreters vermählt sich Franziskus mit der Armut, wie bei einer kirchlichen Trauung. Bekannt ist die 5. Szene von Giottos aus 28 Fresken bestehendem Zyklus des Franziskus-Lebens in der Oberkirche der Basilika in Assisi, wo Franziskus in Anwesenheit des Bischofs seinem Vater die Kleider zurückgibt (Guida d’Italia del Touring Club Italiano: Umbria, 5. Auflage, Mailand 1978, 238 f.). Möglicherweise hatte Dante dieses Bild vor Augen, als er schrieb: »e dinanzi a la sua spirital corte / e coram patre le si fece unito« (v. 61 f.). Zu den verschiedenen Franziskus-Viten, die diese Episode überliefern, siehe Sapegno, Paradiso, 144. – In der Unterkirche der Basilica di S. Francesco in Assisi befindet sich eine berühmte Darstellung der Allegorie der Armut, welche dort als eine in Lumpen gekleidete Frau erscheint. Das Fresko wird dem Maestro delle Vele, einem Schüler Giottos, zugeschrieben (Guida d’Italia del Touring Club Italiano: Umbria, 231 f.). 71 Le poesie spirituali del B. Iacopone da Todi, 37 – 42 (Libro I, Satira nona). 72 Die Beschreibung der Armut als einer abstoßenden Frau erstreckt sich über insgesamt drei Strophen: »È sì grande il suo terrore, / Che mette alle Creature; / Che ad ogn’uno da tremore, / Che non gli abbia in casa à entrare. // L’un con l’altro si dicia, / Ella è ancor passata via? / Aiutami Santa Maria: / Or chi la può pur guardare? // Va con lei una Sorella, / Che cenciosa ha la gonnella. / Va cercando per la terra / Do’ potesse mai albergare.« (v. 12 – 23).

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Hier taucht auch der Gedanke der Tür auf, die man vor der Armut verschließt, weil man diese nicht im Haus haben will. Dante übernimmt offenbar dieses Bild und steigert es noch durch den Vergleich mit dem Tod. Franziskus erscheint nun – mehr als 1100 Jahre nach Christus – als zweiter Bräutigam der Armut (v. 64 – 66). War in Vers 32 in Anlehnung an das traditionelle, auf den Apostel Paulus (z. B. 2 Kor 11, 2; Eph 5, 23) zurückgehende Bild mit »sposa« Christi die Kirche gemeint, so ist es jetzt mit Bezug auf franziskanische Schriften die Armut, die als Braut Christi bezeichnet wird. Wenn in diesem Gesang dasselbe Bild für die Kirche und für die Armut verwendet wird, dann möchte Dante möglicherweise damit zum Ausdruck bringen, dass für ihn Kirche gleich Armut ist bzw. dass die Armut das Wesen der Kirche ist, d. h. der Kirche, so wie sie von Christus gewollt ist, und nicht wie die von Dante immer wieder kritisierte Kirche seiner Zeit. Christus hatte die Armut geliebt, aber nach ihm wurde sie von allen verachtet und gemieden. Das konkrete Motiv des zweiten Bräutigams der Armut findet sich in der Legenda maior und in anderen franziskanischen Quellen,73 aber bezüglich der dahinter stehenden Konzeption von Franziskus als Nachfolger Christi bzw. als zweiter Christus ist eine noch deutlichere Nähe von Dantes Versen zu den Lauden, besonders zu denen von Jacopone da Todi erkennbar. Im ersten Teil der im vorangehenden bereits erwähnten Lauda O Francesco, da Deo amato,74 wo Jacopone sagt, der nach der Erlösung durch Christus für lange Zeit besiegte Teufel habe sich inzwischen wieder der Welt bemächtigt, bis Gott Franziskus dazu erwählt habe, gegen das Böse zu kämpfen (v. 23 – 32), wird wie bei Dante zum Ausdruck gebracht, dass es seit der Zeit Jesu niemanden gegeben habe, der so gelebt habe, wie von Jesus gelehrt. Eine noch deutlichere Parallele zu Jacopone und anderen franziskanisch inspirierten Dichtern stellt die Terzine v. 67 – 69 von Dantes Lobgesang dar. Zunächst einmal erstaunt der einzigartige und in den Lauden nicht zu findende Verweis auf Amyclas, den armen Fischer, von dem Lukan im Bellum civile erzählt, er sei so arm gewesen, dass er nichts zu befürchten hatte, nicht einmal als Caesar persönlich an seine Tür klopfte.75 Dante, der diese Lukan-Stelle auch im Convivio zitiert,76 möchte damit zum Ausdruck brinChiavacci Leonardi, Paradiso, 316. Iacopone da Todi, Laude, Nr. 71. 75 M. Annaeus Lucanus, Bellum civile. Der Bürgerkrieg, hg. u. übers. Wilhelm Ehlers, 2. Auflage, Darmstadt 1978, 220 / 222 (V, 515 – 531). Zur Deutung siehe die Kommentare von Chiavacci Leonardi (Paradiso, 316) und Gmelin (Das Paradies, 224). 76 Convivio IV xiii 12: »E ciò vuol dire Lucano nel quinto libro, quando commenda la povertà di sicuranza, dicendo: ›Oh sicura facultà de la povera vita! oh stretti abitaculi e masserizie! oh non ancora intese ricchezze de li Iddei! A quali tempii o a 73 74

Dantes Lobgesang auf Franz von Assisi

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gen, dass die Armut letztlich Sicherheit bedeutet: Wer nichts besitzt, dem kann auch nichts genommen werden. Deswegen habe Amyclas keine Angst gehabt. Die Anspielung auf einen römischen Autor im Kontext des franziskanischen Armutsideals ist eine für Dante sehr typische Verbindung von Antike und Christentum und ein Zeichen seiner Originalität.77 Der zugrundeliegende Gedanke, dass Armut Sicherheit gewährt, findet sich auch bei Jacopone und tritt besonders deutlich in der Lauda O amor de povertate zutage.78 Bereits die beiden Verse der Ripresa (»O amor de povertate, / renno de tranquillitate!«), die ja in der Regel das Thema einer Lauda ankündigt, bringen denselben Gedanken wie in Dantes »elogio« zum Ausdruck. Armut als Freisein von jeglichem Besitz wird zum »renno de tranquillitate« (v. 2), da, wie Jacopone dann in den folgenden Versen (3 – 14) ausführt, der in Armut lebende Mensch sich nicht um seinen Besitz zu sorgen braucht. Selbst Dantes Reimwörter »sicura« (v. 67) und »paura« (v. 69) lassen Übereinstimmungen zu Jacopones Lauda erkennen: Povertat’è via secura, non n’à lite né rancura, de latrun’ non n’à pagura né de nulla tempestate. (v. 3 – 6)

In den Gedichten der erwähnten Ausgabe von Tresatti gibt es mehrere Lauden, in denen es um die Armut als Sicherheit geht. Die Reimwörter sind dabei sehr ähnlich, so in der bereits genannten Lauda O Amor di Povertade / La tua gran nobilitade: quali muri poteo questo avvenire, cioè non temere con alcuno tumulto, bussando la mano di Cesare?‹ E quello dice Lucano quando ritrae come Cesare di notte a la casetta del pescatore Amiclas venne, per passare lo mare Adriano.«. Dante Alighieri, Convivio, hg. Piero Cudini (I grandi libri Garzanti, 249), 4. Auflage, Mailand 1992, 281 f. – Dante bezieht sich hier auf Bellum civile V, 527 – 531: »o vitae tuta facultas / pauperis angustique lares, o munera nondum / intellecta deum! quibus hoc contingere templis / aut potuit muris nullo trepidare tumultu / Caesarea pulsante manu?« M. Annaeus Lucanus, Bellum civile, 222. 77 Lukan ist übrigens nicht der einzige antike Schriftsteller, bei dem der Gedanke zu finden ist, dass Armut letztlich Sicherheit bedeutet. Seneca z. B. schreibt im 20. Brief an Lucilius: »Redige te ad parva ex quibus cadere non possis« (XX, 8) und »inest enim illis [gemeint sind die ›parva‹, d. h. ärmliche Verhältnisse], sine qua nihil est iucundum, securitas« (XX, 12). L. Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium. Briefe an Lucilius. Lateinisch-deutsch, 2 Bde. (Sammlung Tusculum), hg. u. übers. Gerhard Fink, Düsseldorf 2007, Bd. I, 112 / 114. 78 Iacopone da Todi, Laude, Nr. 36. Franca Ageno hält diese Lauda zwar für nicht authentisch (siehe Franca Ageno, »Questioni di autenticità nel Laudario iacoponico«, Convivium 20 [1952], 555 – 587, bes. 568 – 572), nimmt sie aber dennoch in ihre Ausgabe von 1953 auf (Iacopone da Todi, Laudi, Trattato e Detti, hg. Franca Ageno, Florenz 1953, Nr. LX).

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Elisabeth Leeker Povertate via secura Nulla teme creatura: De’ latron non ha paura; Che non ha, che da robbare. (v. 4 – 7)79

In Povertade poverella / Poco di te si favella heißt es: Povertade è via secura, Perche ha posta giu la cura: Tolta glie ha ogni paura, S’è conigiunta a la Vertade. (v. 3 – 6)80

Dieses Beispiel zeigt, wie meisterhaft Dante es versteht, Gedanken aus der Laudendichtung seiner Zeit zu übernehmen, sie aber, so wie hier durch den Verweis auf Lukan, auf eine ganz originelle Art zu gestalten. Die in der Commedia immer wieder zu findende enge Verbindung zwischen antiken und christlichen Beispielen wird unterstrichen durch den syntaktisch parallelen Beginn der beiden Terzinen v. 67 – 69 und v. 70 – 72: »né valse udir« und »né valse esser«. Ebensowenig wie das Beispiel des Amyclas der Armut zu Wertschätzung verhalf, ließen sich die Menschen durch deren Treue zu Christus beeindrucken.81 Es mag hier erstaunen, dass die Armut, die Christus sogar bis ans Kreuz folgte, hier sogar noch über Maria gestellt wird. Das ist kein Gedanke Dantes, sondern findet sich im Arbor vitae crucifixae des Ubertino da Casale, der laut Chiavacci Leonardi diesbezüglich wohl als einzige Quelle in Frage kommt.82 – Der breite Raum von 21 Versen, den Dan79

37.

Le poesie spirituali del B. Iacopone da Todi, 37 – 42 (Libro I, Satira nona), Zitat

80 Le poesie spirituali del B. Iacopone da Todi, 688 – 693 (Libro V, Cantico 30), Zitat 690. 81 Barth stellt diese Parallelisierung noch in einen größeren Zusammenhang: »Für Dantes Gesamtwerk ist das duale Nebeneinander von Cäsar und Christus charakteristisch. Auf einem dialogischen Miteinander von staatlicher Ordnung und christlichem Heilsweg basiert die Gesellschaft und der Friede unter den Völkern. So ist das eine Beispiel aus dem Leben Cäsars genommen, das andere eine Christusgeschichte.« Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, erläut. Ferdinand Barth aufgrund der Übersetzung v. Walter Naumann, Darmstadt 2004 (Sonderausgabe der 1. Aufl. von 2003), 456. 82 Paradiso-Kommentar v. Chiavacci Leonardi, 316. Zur Bedeutung der Armut im Arbor vitae v. Ubertino da Casale siehe Hans Michael Thomas, Franziskanische Geschichtsvision und europäische Bildentfaltung. Die Gefährtenbewegung des hl. Franziskus  Ubertino da Casale, Der »Lebensbaum«  Giottos Fresken der Arenakapelle in Padua  Die Meditationes vitae Christi  Heilsspiegel und Armenbibel, Wiesbaden 1989, 12 – 16, bes. 13: »Der zentrale Anhaltspunkt war die Person von Franziskus, des heiligen Ordensgründers selbst und seine Intention der Erneuerung des evangelischen Lebens. Er war es, der am Aufgang des neuen Zeitalters in evangelischer Armut sichtbar danach gestrebt hatte, Christus in seinem Leben ähnlich zu

Dantes Lobgesang auf Franz von Assisi

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te der Liebe des Heiligen zur Armut widmet, der dafür sogar eine »guerra« (v. 58) gegen den leiblichen Vater in Kauf nimmt, deutet darauf hin, dass es ihm ein besonderes Anliegen war, das Leben in Armut als ein entscheidendes Element der Nachfolge Christi hinzustellen. Dahinter steht eine kirchenpolitische Botschaft: Dante, der die ganze Commedia hindurch immer wieder die Habgier der Römischen Kirche anprangert, möchte zeigen, dass diese Kirche sich auf dem falschen Weg befindet, d. h. nicht in der Nachfolge Christi lebt. Die Zeit Dantes war geprägt von Bewegungen, die bemüht waren, die Kirche zu der im Evangelium geforderten Armut zurückzuführen, und als Schüler der Franziskaner von S. Croce war Dante sicherlich auch beeinflusst von dort lehrenden Theologen wie Pietro di Giovanni Olivi und Ubertino da Casale, die der Strömung der Spiritualen angehörten.83 Eine solche politische Botschaft enthalten die anonymen Bruderschaftslauden nicht, hingegen aber die Gesänge von Jacopone da Todi, einem radikalen Verfechter des franziskanischen Armutsideals, der, wie auch Dante, seinen Erzfeind in Papst Bonifaz VIII. sah. Beide hatten sich politisch engagiert, und beide waren verbannt worden: Als Papst Bonifaz VIII. versuchen wollte, die Toskana zu einem Teil des Kirchenstaates zu machen, zerfielen die Weißen Guelfen, zu denen Dante gehörte, in zwei Gruppen. Dante schloss sich einer radikalen, antipäpstlichen Minderheit an, die mit Entschiedenheit der päpstlichen Politik entgegentrat, aber letztlich besiegt wurde. So kam es im Jahre 1302 zur Verbannung aus seiner Heimatstadt.84 Jacopone, der zu den Unterzeichnern des Manifests von Lunghezza (10. 5. 1296) gehört hatte, das die Wahl Bonifaz’ VIII. für unrechtmäßig erklärte, wurde demzufolge exkommuniziert.85 Das Liederbuch Jacopones werden. Für Ubertino da Casale war diese Rückkehr zum Evangelium und zur Armut des Erlösers – inmitten freilich teilweise anderer kirchlicher Verhältnisse – die historische Wahrheit.« 83 Näheres dazu in dem Artikel »Francesco di Assisi, santo« v. Stanislao da Campagnola, in: Enciclopedia Dantesca, Bd. III, 18; siehe auch Roddewig, »Franz von Assisi in der Göttlichen Komödie«, 136 f. Eine sehr ausführliche Darstellung der kirchenpolitischen Ereignisse dieser Zeit sowie des Armutsstreits liefert Nicolò Mineo, »Il canto XI del Paradiso«, 223 – 320, bes. 223 – 230. Bzgl. Dantes Kontakt zu den Franziskanern ebenda, 230 – 234. 84 Wilhelm Theodor Elwert, Die italienische Literatur des Mittelalters (UTB 1035), München 1980, 98; Ulrich Prill, Dante (Sammlung Metzler, Bd. 318), Stuttgart / Weimar 1999, 14. 85 Leeker, Die Lauda, 324 (dort weitere Literaturangaben zu den historischen Hintergründen). – Bezeichnend ist, dass beide Dichter den Ort, aus dem sie ausgeschlossen wurden, als »ovile« bezeichnen. So klagt Jacopone nach seiner Exkommunikation: »Lo pastor per meo peccato posto m’à for de l’ovile« (Iacopone da Todi, Laude, Nr. 67, v. 1), und in Par. XXV, 4 f. schreibt Dante: »la crudeltà che fuor mi serra / del bello ovile ov’ io dormi’ agnello«. Bereits in Par. XVI, 25 fragt Dante seinen Ur-

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war in franziskanischen Kreisen verbreitet,86 und es liegt nahe, dass Dante während seines Studiums bei den Franziskanern von S. Croce damit in Berührung gekommen ist und nach seiner Verbannung den umbrischen Dichter als Schicksalsgenossen betrachtete. 3. Die ersten Anhänger (Par. XI, 76 – 84) 76

La lor concordia e i lor lieti sembianti, amore e maraviglia e dolce sguardo facieno esser cagion di pensier santi;

79

tanto che ’l venerabile Bernardo si scalzò prima, e dietro a tanta pace corse e, correndo, li parve esser tardo.

82

Oh ignota ricchezza! oh ben ferace! Scalzasi Egidio, scalzasi Silvestro dietro a lo sposo, sì la sposa piace.

Das im dritten Abschnitt fortgeführte Bild der gegenseitigen Liebe zwischen Franziskus und der Armut verknüpft diese beiden Teile des Lobgesangs. Die Liebe und Freude, die dieses glückliche Paar ausstrahlt,87 wirken ansteckend auf andere, die bald zu den ersten Anhängern Franziskus’ werden: Bernhard von Quintavalle, Aegidius und Silvester.88 Das Adjektiv ahn Cacciaguida nach dem Schicksal seiner Heimatstadt mit den Worten: »ditemi de l’ovil di San Giovanni«, und auch in der Klage über die Dominikaner im Schlussteil von Par. XI begegnet dieses Bild: »e quanto le sue pecore remote / e vagabunde più da esso vanno, / più tornano a l’ovil di latte vòte.« (V. 127 – 129). Auffällig sind zudem die beiden seltenen Reimwörter »silogismi« (Par. XI, 2) und »sofismi« (Par. XI, 6) zu Beginn des 11. Paradiso-Gesangs, wo Dante das Streben der Menschen nach irdischen Dingen tadelt. Die gleichen Reimworte verwendet auch Iacopone in einem Gedicht, das an einen Mitbruder gerichtet ist, der zum Studium nach Paris gegangen ist: »Ché non ce iova far sofismi / a quilli forti siloismi« (Iacopone da Todi, Laude, Nr. 88, v. 23 f.). Zu den gedanklichen Übereinstimmungen zwischen Jacopone und Dante siehe den in Anm. 3 zitierten Aufsatz von Paolo Canettieri. 86 »Iacopone fu quasi il ›poeta ufficiale‹ della corrente francescana degli Spirituali: la sua lirica fu utilizzata come mezzo di propaganda e le sue laudi furono trascritte, lette e commentate non solo nei conventi dell’Umbria, dove gli Spirituali furono sempre forti ed intransigenti, ma anche nel Veneto, nelle Marche e in Toscana.« Canettieri, Jacopone da Todi e Dante Alighieri, 2. 87 Gmelin (Das Paradies, 224 f.) deutet die Ausdrücke in den Versen 76 ff. als Reflex der Troubadourdichtung. 88 Die Formulierungen »[Bernardo] corse e, correndo, li parve esser tardo« (v. 81) und »Scalzasi Egidio, scalzasi Silvestro« (v. 83) bringen die Begeisterung der ersten Anhänger Franziskus’ zum Ausdruck, die es kaum abwarten konnten, ihm zu folgen. Sapegno weist nach, dass die Vita von Tommaso da Celano hier als Quelle gedient hat. Sapegno, Paradiso, 146.

Dantes Lobgesang auf Franz von Assisi

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»lieti« (v. 76) spielt auf die franziskanische Lebensfreude an, die auch in den Franziskus-Lauden zum Ausdruck kommt.89 Das franziskanische Armutsverständnis spiegelt sich in dem Ausruf »Oh ignota ricchezza! oh ben ferace!« (v. 82) wider: Armut bedeutet nicht nur Sicherheit und Freisein von Sorgen um den Erhalt des Besitzes, sondern sie ist letztlich ein ungeahnter Reichtum. Genau dieser Gedanke findet sich auch bei Jacopone in der genannten Lauda O amor de povertate: Povertate, alto sapere, a nnulla cosa suiacere e ’n desprezzo possedere tutte le cose create. Chi desprezza, sé possede; possedenno, non se lede; nulla cosa i piglia el pede che non faccia so iornate. Chi descidra è posseduto, a cquel c’ama s’è venduto; se ll’om pensa que n’à auto, ànne aute rei derrate. (v. 15 – 26)90

Indem er jeglichen Besitz verachtet, macht sich der Mensch nicht zum Sklaven seiner Wünsche, sondern er ist letztlich Herr über das, was er verachtet. Armsein bedeutet zudem frei sein für Gott: »Povertate à sì gran petto / che cci aberga Deïtate« (v. 33 f.), und darin besteht ihr Reichtum. Indem der Mensch sich von allem lossagt, erhält er alles, und so kommt Jacopone in derselben Lauda zu der Schlussfolgerung: Povertat’è null’avere e nulla cosa poi volere e onne cosa possedere en spirito de libertate (v. 119 – 122).91

Als Jacopone 1278 in den Franziskanerorden eintrat, war dieser bereits in zwei einander feindlich gesinnte Lager gespalten: auf der einen Seite die Konventualen, die sich für eine gemäßigtere Auslegung der Armutsregel ihres Ordensgründers aussprachen, und auf der anderen Seite die Spiritualen, die sich in der Minderheit befanden und eine radikale Auslegung des Evangeliums und der Ordensregel forderten. Jacopone wurde sofort zum 89 So heißt es z. B. in Laudar vollio per amore (Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 37): »Del suo amore stavi iocundo« (v. 39). 90 Iacopone da Todi, Laude, Nr. 36. 91 Die Reichtümer, zu denen der Mensch durch die Armut gelangt, zählt Jacopone in der Lauda Povertat’ennamorata auf (Iacopone da Todi, Laude, Nr. 47).

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Anhänger der Spiritualen. Diese Gruppe fand jedoch keine Unterstützung von päpstlicher Seite, was in den darauffolgenden Jahren zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Jacopone und Bonifaz VIII. führte, wovon die Invektiven Jacopones Zeugnis geben.92 Diese Erfahrung verbindet ihn mit Dante, der ebenfalls die im Evangelium geforderte Armut in der Kirche nicht verwirklicht sieht, und beide Dichter geben dichterisch ihrer Enttäuschung Ausdruck. 4. Die dreifache Besiegelung der neuen Lebensform (Par. XI, 85 – 108) 85

Indi sen va quel padre e quel maestro con la sua donna e con quella famiglia che già legava l’umile capestro.

88

Né li gravò viltà di cuor le ciglia per esser fi’ di Pietro Bernardone, né per parer dispetto a maraviglia;

91

ma regalmente sua dura intenzione ad Innocenzio aperse, e da lui ebbe primo sigillo a sua religïone.

94

Poi che la gente poverella crebbe dietro a costui, la cui mirabil vita meglio in gloria del ciel si canterebbe,

97

di seconda corona redimita fu per Onorio da l’Etterno Spiro la santa voglia d’esto archimandrita.

100

E poi che, per la sete del martiro, ne la presenza del Soldan superba predicò Cristo e li altri che ’l seguiro,

103

e per trovare a conversione acerba troppo la gente e per non stare indarno, redissi al frutto de l’italica erba,

106

nel crudo sasso intra Tevero e Arno da Cristo prese l’ultimo sigillo, che le sue membra due anni portarno.

Nachdem Franziskus die ersten Anhänger (»famiglia«, v. 86) um sich versammelt hat, erscheint er als »quel padre e quel maestro«. Gerade dadurch, dass er auf jeglichen materiellen Besitz und Komfort verzichtet, wird er zu einer Autorität. Durch den Reim »maestro« (v. 85) : »capestro« (v. 87) un92 Näheres zu den Invektiven Jacopones und deren Hintergründen sowie weitere Literaturhinweise siehe Leeker, Die Lauda, 321 – 326.

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terstreicht Dante den Gedanken, dass Franziskus nicht durch Gelehrsamkeit, sondern durch seine vorgelebte Demut zum Lehrer wird.93 Dieser Gedanke begegnet auch bei den Laudendichtern, so z. B. in San Francesco, aulente fiore: La Virtù Omnipotente ti fe’ padre de la gente: doctrinasti santamente li figliuoli con grande amore. (v. 7 – 10) la benignità divina di sanctissima doctrina ti fe’ verace doctore (v. 24 – 26)94

Durch seine Lebensweise wird Franziskus zum »verace doctore« (v. 26),95 und auch seine Anhänger werden durch das, was sie den Menschen vorleben, zu »doctori«, wie in Sïa laudato san Francesco zu lesen ist.96 Hinsichtlich des Relativsatzes »la cui mirabil vita / meglio in gloria del ciel si canterebbe« (v. 95 / 96) gibt es in den Kommentaren verschiedene Auffassungen.97 Chiavacci Leonardi versteht diese Verse als ein Bedauern, dass dieses Loblied nicht um seiner selbst willen gesungen werden kann, sondern hier als Kontrastfolie zur Dekadenz der beiden großen Orden dient, die ja im Anschluss daran getadelt werden.98 Dieses Bedauern Dantes könnte man noch präzisieren, indem man das Verb »si canterebbe« als Hinweis darauf deutet, dass der Dichter sich der Ähnlichkeit seines »elogio« zu den zu seiner Zeit so populären Franziskus-Lauden, die ja gesungen wurden, bewusst ist. Diese Lieder dienten einzig und allein der »gloria del ciel«, während Dantes Lobgesang in eine Polemik mündet. Das würde bedeuten, Dante bedauert konkret, dass sein »elogio« nicht wie eine Lauda zum Lobe 93 Der Strick, den die Franziskaner anstelle des Ledergürtels der Dominikaner tragen, ist ein Zeichen äußerster Demut. Siehe dazu Gmelin, Das Paradies, 225. 94 Laude cortonesi, Bd. III, Nr. 1. 95 Auch in Esceso dell’alto rengno (Il Laudario »Frondini«, Nr. 13) wird Franziskus als Lehrer bezeichnet: »nel mondo cieco e tristo / à messa luce tuo doctrina pura« (v. 15 f.). 96 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38: »Li povari frati minori / de Cristo sono seguitatori: / de le gente son doctori / predicando sença errore« (v. 32 – 35). 97 Einige z. B. deuten ihn als Bescheidenheitstopos, mit dem Thomas von Aquin die Unzulänglichkeit seiner Lobrede zum Ausdruck bringe, so Sapegno, Paradiso, 148. Andere sehen hier einen Hieb auf den Franziskanerorden, der zwar stolz auf seinen Gründer sei und Loblieder auf ihn anstimme, aber nicht nach dessen Armutsideal lebe. Die verschiedenen Deutungen werden zusammengefasst im Kommentar von Chiavacci Leonardi, 320. 98 Chiavacci Leonardi, 320 f.

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Gottes und seiner Heiligen gesungen werden kann, sondern in einen kirchenkritischen Kontext einbettet ist.99 Das »sen va« in Vers 85 wird von den meisten Kommentatoren konkret auf die Reise nach Rom bezogen, wo Franziskus um die Jahreswende 1209 / 10 bei Innozenz III. um die Anerkennung seiner neuen Lebensform bat.100 In seinem Festhalten an Armut und Demut, allem Gespött der Leute zum Trotz, zeigte Franziskus sich königlich, und so erhielt er das »primo sigillo« (v. 93), d. h. die mündliche Zustimmung des Papstes.101 Das Königliche an Franziskus wird in den folgenden Versen unterstrichen durch den Begriff »seconda corona« (v. 97), womit die offizielle Anerkennung der Ordensregel durch Papst Honorius im Jahre 1223 gemeint ist, der hier als Werkzeug des Heiligen Geistes erscheint (»da l’Etterno Spiro«, v. 98). So weit, Franziskus als königlich zu bezeichnen, gehen die Laudendichter nicht, allenfalls im Zusammenhang mit seiner Aufnahme in den Himmel, wie wir noch sehen werden Franziskus’ Missionsreise fand historisch gesehen vor der offiziellen Anerkennung der Regel statt. Dante setzt sie zwischen der »seconda corona« und »l’ultimo sigillo« (v. 107) an. Das lässt darauf schließen, dass es ihm weniger um eine historisch exakte Rekonstruktion der Vita des Heiligen ging als um eine theologische Botschaft. Ein ähnliches Anliegen hatten die Laudendichter, die sich auch nicht immer streng an die Chronologie hielten. Besonders deutlich ist das in dem Loblied Sïa laudato san Francesco, das mit der Stigmatisierung beginnt und dann rückblickend die Lebensstationen des Heiligen beschreibt, wobei auch hier die Reihenfolge nicht historisch ist.102 Durch die Umstellung der Ereignisse, abweichend von der histori99 Einen Verweis auf das Singen gibt es in vielen Lauden, besonders deutlich in Sïa laudato san Francesco (Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38.): »Per la tua virtude sancta / a Dio data tutta quanta, / questa dolçe laude canta / di te, Francesco, franco core!« (v. 48 – 51). 100 Sapegno, Paradiso, 146. 101 Balbiano d’Aramengo (Il Paradiso di Dante, 183) verweist auf die FranziskusBiographien von Tommaso da Celano und Bonaventura, die erzählen, Franziskus habe durch sein königliches Auftreten den Papst überzeugt. Gmelin (Das Paradies, 226), weist nach, dass es sich bei »dura« und »regalmente« um Verbalreminiszenzen der Legenda maior handelt. Roddewig (»Lectura Dantis: Paradiso XI«, 90 – 92) zitiert aus einer anglonormannischen Chronik, die über Franziskus’ Besuch bei Innozenz III. berichtet. In einem früheren Aufsatz vergleicht Roddewig die »Heroisierung des Heiligen vor dem Sultan« mit der Darstellung dieser Episode in den Franziskus-Viten (dies., »Franz von Assisi in der Göttlichen Komödie«, 151 f.). 102 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38. Da diese Lauda in mehreren Sammlungen überliefert ist (siehe Anm. 11) und ihr im Pisaner Laudario 3 Strophen fehlen und die übrigen Strophen teilweise eine andere Reihenfolge haben, ist nicht auszuschließen, dass die Reihenfolge der Strophen durcheinander geraten ist.

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schen Reihenfolge, stellt Dante die »sete del martiro« (v. 100) zum einen als Steigerung der mit der »seconda corona« offiziell besiegelten radikalen Christus-Nachfolge und zum anderen als Voraussetzung für die Stigmatisierung dar. Bezeichnenderweise bilden die beiden Abschnitte über die Missionsreise (v. 100 – 105) und über die Stigmatisierung (v. 106 – 110) einen einzigen Satz und sind dadurch eng miteinander verbunden. Dadurch, dass er versucht, andere Völker zum Christentum zu bekehren, wird Franziskus in den Rang eines Apostels erhoben. Bei den Bruderschaftslauden fällt auf, dass die Verben »predicare« und »convertire« immer wieder verwendet werden, wenn es um das Lob der Apostel geht. Am deutlichsten ist das in Benedicti ellaudati.103 Das Verb »convertire« taucht dort, wie auch bei Dante (»e per trovare a conversione acerba / troppo la gente«, v. 103 f.), immer in Verbindung mit »gente« auf,104 genauso wie in der FranziskusLauda Esceso dell’alto rengno.105 Da seine Predigten von den Sarazenen nicht erhört wurden, zog Franziskus sich nach La Verna zurück, wo er – als Krönung seiner bis zur »sete del martirio« gehenden Christus-Nachfolge – die Wundmale empfing. Die Bereitschaft zum Martyrium wird auch von den Laudendichtern hervorgehoben. In Sïa laudato san Francesco wird Franziskus als »martiro per voluntade« (v. 54)106 bezeichnet, und in Laudar vollio per amore wird sogar zweimal auf seinen Wunsch nach Martyrium verwiesen: En Saracinia tu passasti, senza timore ci predicasti: lo martirio desiderasti ferventemente, per ardore. Martirio esso fa’ per desiderio [ …] de patire per lo suo nome. (v. 31 – 35, 38)107

Während Dante etwas poetischer von »sete del martirio« spricht, lässt die Lauda eine deutlichere Nähe zu der Formulierung Bonaventuras in der Legenda maior erkennen, wo es heißt: »desiderio martyrii flagrans«.108 103 Laude cortonesi, Bd. I**, Nr. 46 (auch in Laude cortonesi, Bd. III, 50). Formen des Verbs »predicare« gibt es in den Versen 45, 58, 75, 89, 135, 173, 202, 221. 104 V. 61: »Multa gente convertio«; V. 90: »convertisti multa gente«; V. 125: »Multa gente convertisti«; V. 155 – 156: »ke de la pagana gente / fosti gran convertitore«. 105 Il Laudario »Frondini«, Nr. 13, v. 10: »mai non finaste de convertire la gente«. 106 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38. Zu weiteren Sammlungen, die diese Lauda enthalten, siehe Anm. 11. 107 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 37. 108 Bonaventura Bagnoregis, Sanctus, Legenda Major Sancti Francisci, Cap. IX, 5, in: http://www.documentacatholicaomnia.eu/04z/z_1221-1274_Bonaventura_Legenda_ Major_Francisci_LT.pdf.html, 33 (15. 11. 2010).

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Interessanterweise werden auch hier zuerst die Ordensgründungen genannt (»Tre ordine plantasti: / …«, v. 15 ff.), und der Missionsreise folgt die Stigmatisierung, wenn auch nicht wie bei Dante im selben Satz. Gleiches gilt auch für die Lauda Esceso dell’alto rengno. Auch dort ist von »Martir per desiderio« (v. 21)109 die Rede. Dass sowohl Bonaventura als auch die Laudendichter die Bereitschaft zum Martyrium hervorheben, lässt sich frömmigkeitsgeschichtlich erklären, und vor demselben Hintergrund ist auch Dantes poetische Formulierung »sete del martiro« zu deuten. In der Geschichte der Heiligenverehrung waren die Märtyrer zunächst die einzigen nicht biblischen Heiligen. Das Martyrium war folglich die Voraussetzung für Heiligkeit. Später kamen die Confessores (›Bekenner‹) hinzu, das heißt Asketen und Bischöfe, die den Glauben standfest verteidigt hatten, ohne jedoch einen Märtyrertod zu erleiden. Mit Franz von Assisi, der sich durch seine vollkommene imitatio Christi auszeichnet, entsteht ein neuer Typ von Heiligen: Man muss weder Märtyrer noch hoher Kleriker sein, sondern jeder kann durch Nachfolge Christi ein Heiliger werden.110 Diese neue Auffassung von Heiligkeit entstand jedoch nicht von heute auf morgen, sondern musste sich langsam durchsetzen. Die auffallende Betonung von Franziskus’ Willen bzw. Drang (»voluntade«, »desiderio«, »sete«), für seinen Glauben zu sterben, lässt die alte Konzeption eines heiligmäßigen Lebens noch durchscheinen. Offenbar bedurfte es zur Zeit Dantes einer zusätzlichen Bestätigung der Heiligkeit einer Person, die nicht den Märtyrertod erlitten hatte, durch den Hinweis auf die Bereitschaft zum Martyrium. In Vers 108 sagt Dante, Franzikus habe die Wundmale zwei Jahre lang getragen (»che le sue membra due anni portarno«). Genau die gleiche Zeitangabe, die den Dante-Kommentaren gemäß auf den Arbor vitae crucifixae von Ubertino da Casale zurückgeht,111 aber bereits in der Legenda maior zu finden ist,112 befindet sich auch in der aus Assisi überlieferten Lauda Patrïarca noviello: Duoy angni puoy vivisti che della croce tu fusti adornato, Il Laudario »Frondini«, Nr. 13. Näheres zur Geschichte der Heiligenverehrung, samt Literaturangaben, siehe Leeker, Die Lauda, 232. 111 Paradiso-Kommentar v. Chiavacci Leonardi, 322 f. 112 Bonaventura Bagnoregis, Sanctus, Legenda Major Sancti Francisci, Cap. XIII, 1, in: http://www.documentacatholicaomnia.eu/04z/z_1221 – 1274_Bonaventura_Legenda_ Major_Francisci_LT.pdf.html (15. 11. 2010), 46: »Biennio itaque antequam spiritum redderet caelo, divina providentia duce, post labores multimodos perductus est in locum excelsum seorsum (cf. Mat 17,1), qui dicitur Mons Alvernae.« 109 110

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santo Francessco, e poie gieste en cielo con Cristo ad essere biato. (v. 45 – 48)113

Während Dante dem Geschehen auf dem Berg La Verna nur eine einzige Terzine widmet, wird dieses von den Laudendichtern viel stärker ausgemalt. So nimmt z. B. Sïa laudato san Francesco114 die Stigmatisierung als Ausgangspunkt für die Reflexion der Lebensstationen des Ordensgründers. Jacopones eingangs erwähnte Lauda O Francesco povero,115 die von sieben Situationen erzählt, in denen das Kreuz Christi zu Franziskus gesprochen hat, widmet der Stigmatisierung auf dem Berg La Verna mit Abstand die meisten Strophen (IX – XXII). Diese unterschiedliche Akzentuierung mag sich zum einen dadurch erklären lassen, dass die Wundmale als Wiederholung der Passion Christi verstanden wurden. Diese Auffassung spiegelt sich in Esceso dell’alto rengno wider, wo Franziskus als »nova factura« Christi bezeichnet wird,116 oder in Sïa laudato san Francesco, wo es heißt: »la passione renovellasti«.117 Das gilt besonders für die in Umbrien ansässigen Disciplinati-Bruderschaften, die gegenüber den Laudesi ein besonderes Interesse an der Passion zeigten.118 Frömmigkeitsgeschichtlich lässt sich das Interesse der Laudendichter an der Stigmatisierung auch durch das Bedürfnis erklären, die Heiligkeit Franziskus’, der weder Märtyrer noch Bekenner war, zusätzlich zu legitimieren. Da Franziskus der erste ist, von dem eine Stigmatisierung überliefert ist,119 wurde diese als Bestätigung seiner Heiligkeit gedeutet. Für Dante erscheinen die Wundmale schon fast als logische, selbstverständliche Konsequenz eines Lebens, das in allem Christus gleich war. Dass für ihn das Entscheidende eines solchen vollkommenen Lebens die unbedingte Treue zur Armut ist, zeigt sich im letzten Teil seines Lobgesangs.

Il Laudario »Frondini«, Nr. 14. Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38 (zu weiteren Sammlungen, die diesen Text enthalten, siehe Anm. 11). 115 Iacopone da Todi, Laude, Nr. 40. 116 Il Laudario »Frondini«, Nr. 13, v. 48. 117 Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 38, v. 62. 118 Zu den Unterschieden zwischen diesen beiden Arten von Bruderschaften siehe Leeker, Die Lauda, 79 – 83. 119 Roddewig, »Lectura Dantis: Paradiso XI«, 94. – Auch in einigen Lauden wird darauf verwiesen, so in Esceso dell’alto rengno (Il Laudario »Frondini«, Nr. 13), v. 45 – 48: »Alto dono ecellente / mai non aparve enn- altra criatura / che en te, Sengnore potente, / ed en Francessco«; O Francesco povero von Jacopone (Laude, Nr. 40), v. 165 f.: »Nullo trovemo santo / che tal’ segna portasse«. 113 114

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5. Der Tod des Franziskus (Par. XI, 109 – 117) 109

Quando a colui ch’a tanto ben sortillo piacque di trarlo suso a la mercede ch’el meritò nel suo farsi pusillo,

112

a’ frati suoi, sì com’ a giuste rede, raccomandò la donna sua più cara, e comandò che l’amassero a fede;

115

e del suo grembo l’anima preclara mover si volle, tornando al suo regno, e al suo corpo non volle altra bara.

Im Zusammenhang mit der Sterbeszene hebt Dante ein weiteres Mal die Armut hervor, der Franziskus bis zu seinem Lebensende treu geblieben ist. Sie empfiehlt er nun seinen Mitbrüdern als »giuste rede« (v. 112). Wenn Dante – im Unterschied zu den Laudendichtern – die Armut als das Vermächtnis Franziskus’ an seine Mitbrüder betont, dann könnte das als indirekter Vorwurf gedeutet werden, dass die Franziskaner dieses Erbe nicht im Sinne ihres Gründers verwalten. Der Tod des Heiligen wird in den meisten Lauden nicht erwähnt. Ungewöhnlich viel Raum jedoch nimmt er in Laudar vollio per amore120 ein, wo ihm vier Strophen (v. 55 – 70) gewidmet sind, in denen vor allem die Freude geschildert wird, die im Himmel bei der Aufnahme des Heiligen herrscht. Franziskus wird empfangen wie ein König von seinen Hofstaat. Zweimal erscheint der Begriff »corte« für den Himmel, und zweimal nimmt das Wort »onore« (v. 62) bzw. »honore« (v. 66) eine exponierte Stellung als Reimwort ein: tutta la corte aparechiaro per te recevar ad onore. Cristo culli angeli tutti quanti et la sua madre colli sancti vénaro per te con dolçi canti menartene cum grande honore. Facesti la corte ralegrare (v. 61 – 67)

Franziskus wird empfangen wie ein König von seinem Hofstaat, und genau diesen königlichen Charakter, den der Poverello gerade durch sein »farsi pusillo« (Par. XI, 111) gewinnt, hebt auch Dante im Zusammenhang mit dessen Tod ein weiteres Mal hervor, wenn er schreibt, Franziskus kehre »al suo regno« zurück (v. 116). Die Verbindung zwischen Königtum und Armut ist auch an dieser Stelle wieder sehr eng und wird zusätzlich durch den Reim unterstrichen: »l’anima preclara / […] al suo corpo non volle altra 120

Laude cortonesi, Bd. I*, Nr. 37.

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bara« (v. 115 + 117). Der letzte Vers des Lobgesangs bringt zum Ausdruck, dass Franziskus bis zum Tod seinem Armutsideal gemäß gelebt hat. Ein ganz knapper Hinweis auf den Tod des Hl. Franz befindet sich in der Lauda Patrïarca noviello: »santo Francessco, e poie gieste / en cielo con Cristo ad essere biato« (v. 47 f.).121 Das Adjektiv »biato« deutet hin auf die Ehren, die dem Heiligen im Himmel zuteil werden, und bei Dante erscheint er dann auch in der Rosa dei Beati (Par. XXXII, 35). Während sich die Laudendichter, sofern sie den Tod Franziskus’ überhaupt erwähnen, auf den Ruhm im Himmel konzentrieren, endet Dantes Lobgesang damit, dass Franziskus bis zum Tod der Armut treu bleibt. Dante, der ja die Absicht hat, das vorbildliche Leben des Ordensgründers der Dekadenz des Franziskanerordens gegenüberzustellen, setzt gegenüber den Laudendichtern seinen eigenen Akzent. Wenn Dante sagt, Franziskus sei im Schoß (»grembo«, v. 115) der Armut gestorben, dann spielt er darauf an, dass der Heilige sich kurz vor seinem Tod nackt auf den Boden der Portiuncola legen ließ, was er als aus den Viten bekanntes Allgemeingut voraussetzen kann.122 Die tiefere Symbolik dieser Geste wird erst mit Blick auf die mittelalterlichen Sterberituale deutlich: Dem seit alters üblichen Sterbebeistand gab die Karolingische Liturgiereform eine feste Ordnung, den »Ordo visitationis infirmorum«. Am Anfang stehen Beichte und Bußerteilung; sodann muß der Kranke gewaschen werden, auch frische Kleider erhalten und ist tunlichst in die Kirche zu bringen. Zum Sterben soll er auf Stroh und Asche gebettet werden; [ …] Einzelne Stücke sind tief verwurzelte Bräuche geworden und haben bis fast in die Gegenwart angedauert. Das Sterben auf Stroh bzw. der Bußmatte zeigt beispielsweise das Gebetbuch Kaiser Maximilians im ersten seiner fünf Vollbilder, wo ein Toter auf der geflochtenen Stohmatte liegt und anschließend Meditationen über die »vanitas« (Nichtigkeit) des irdischen Lebens folgen.123

Franziskus verzichtet auf eine solche Strohmatte, ebenso wie auf frische Kleider und auf ein Mönchsgewand. Im Mittelalter wurde ein eigener Brauch des »Sterbens im Mönchsgewand« geschaffen, das die Funktion eines ehrenrettenden und heilssichernden Bußkleides bekam. Der Sterbende Il Laudario »Frondini«, Nr. 14. Auch in der Legenda aurea, die den Tod Franziskus’ nur sehr knapp beschreibt und sich statt dessen auf die damit einhergehenden Wunder konzentriert, wird erwähnt, dass der Heilige sich nackt auf den Boden legen ließ: »Cum vere ad dies jam appropinquaret extremos, longa infirmitate confectus super nudam humum poni se fecit«. Legenda aurea, 671 f. 123 Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 664. 121 122

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musste die Mönchsgelübde ablegen und bekam dann das Mönchsgewand, das ihm nach seinem Tod die Verdienste und Fürbittleistungen eines ganzen Konvents oder gar Ordens zusicherte: Das Mönchsgewand wirkte aus sich heraus heiligend, denn es war das »Hochzeitsgewand« (Mt 22,12); es wirkte wie eine materialisierte äußere Heiligkeitshülle, die den Sünder verdeckte. [ …] Das Sterben im Mönchsgewand eröffnete einen ebenso einfachen wie sicheren Weg des Heiles. Viele Klöster hatten eigens einen Mönch dafür abgestellt, um mit dem rettenden Habit an die Krankenbetten zu eilen (monachus ad succurrendum). Hoch und Niedrig verlangten nach dieser Einkleidung, Herrscher aus West und Ost ebenso wie einfache Menschen aus dem franziskanischen Dritten Orden.124

Franziskus bedarf dessen nicht. Er ist bereits Mönch, muss daher nicht erst auf dem Sterbebett zu einem solchen werden und verzichtet freiwillig auf das Mönchsgewand als Zeichen dafür, dass er der Armut treu bleibt, so wie er es bei seiner Vermählung mit ihr gelobt hatte (v. 62). V. Zusammenfassung Der Vergleich von Dantes Lobgesang auf den Hl. Franziskus mit Lauden sowohl anonymer Dichter aus dem Kreis der Bruderschaften als auch von Jacopone da Todi hat gezeigt, dass alle Texte auf den zur Zeit Dantes sehr bekannten und verbreiteten franziskanischen Schriften und traditionellen Vorstellungen basieren, die Dante teilweise in sehr origineller Weise verarbeitet. Man denke an die poetische Umschreibung des Geburtsorts Assisi oder an die Amyclas-Episode. Wie die Laudendichter, so stellt Dante die radikale Christusnachfolge des zum alter Christus werdenden Heiligen in den Mittelpunkt seines Lobs. Während die Laudendichter ein größeres Interesse an den Wundern und der Stigmatisierung zeigen, konzentriert Dante seine Franziskus-Vita auf die Episoden, in denen die Liebe zur Armut besonders hervortritt. Für ihn verkörpert Franz von Assisi das Ideal einer am Evangelium orientierten Kirche, von der er in der Monarchia (III xiv 3) schreibt: »Forma autem Ecclesie nichil aliud est quam vita Cristi, tam in dictis quam in factis comprehensa«125 und die er in seiner eigenen Zeit vermisst. Mit seinem Lobgesang zeigt Dante, dass das, was er von der Kirche Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 672 – 674, Zitat 673 f. Dante Alighieri, Monarchia, hg. Federico Sanguineti (I grandi libri Garzanti, 329), Mailand 1985, 138. Dass die Kirche nicht nach weltlichem Besitz streben sollte, sagt Dante ganz deutlich in Monarchia V x 14: »Sed Ecclesia omnino indisposita erat ad temporalia recipienda per preceptum prohibitivum expressum, ut habemus per Matheum sic: ›Nolite possidere aurum, neque argentum, neque pecuniam in zonis vestris, non peram in via‹ etc.« (Ausgabe Sanguineti, 126). 124 125

Dantes Lobgesang auf Franz von Assisi

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fordert, auf das Leben des Hl. Franz zutrifft: »nichil aliud est quam vita Cristi«. Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen sind eine ganze Reihe von Einzelheiten zu erkennen, die eine deutliche Nähe zwischen Dantes Text und den zeitgenössischen Lauden zeigen, welche sich nicht einfach aus den gemeinsamen franziskanischen Quellen erklären lässt. Die genannten Lauden und Dantes Lobgesang sind immerhin die ersten Gedichte, die eine franziskanische Thematik im volgare behandeln. Auch wenn eine Beeinflussung Dantes durch die Laudendichtung nicht bei allen Übereinstimmungen nachgewiesen werden kann, spricht doch einiges – nicht zuletzt die teilweise ähnlichen Reimwörter – dafür, dass Dante die Lieder, die zu seiner Zeit in seiner Heimatstadt Florenz sowie auch in anderen mittelitalienischen Städten regelmäßig gesungen wurden und mit denen er sicherlich sehr vertraut war, nicht einfach ignoriert hat. Das gilt in besonderem Maße für die Lauden seines Zeitgenossen Jacopone da Todi, der sozusagen der »Hausdichter«126 von S. Croce war und mit dessen Liederrepertoire Dante als Schüler der Franziskaner von S. Croce vermutlich in engen Kontakt kam. Wenn Dante, wie Stefan Seckinger nachgewiesen hat,127 liturgische Gebete in seiner Commedia verarbeitet hat, warum sollte er dann nicht auch sog. paraliturgische Liedertexte mit einfließen lassen? Der mittelalterlichen Gattungsdefinition folgend, schreibt Dante im Brief an Cangrande della Scala über seine comedia: »ad modum loquendi, remissus est modus et humilis, quia locutio vulgaris in qua et muliercule comunicant«.128 Ein solcher »modus loquendi humilis« schließt auch volkstümliche religiöse Lobgesänge wie die Lauda mit ein. So kann angenommen werden, dass Dante neben zahlreichen und vielfältigen literarischen, theologischen und philosophischen Quellen auch Elemente aus der volkstümlichen religiösen Lyrik seiner Zeit in sein Werk hat einfließen lassen. Das könnte der DanteForschung eine neue, bisher wenig beachtete Perspektive eröffnen.

126 Canettieri (Iacopone da Todi e Dante Alighieri, 2) nennt ihn »›poeta ufficiale‹ della corrente francescana degli Spirituali«. 127 Stefan Seckinger, »Liturgische Elemente in der Divina Commedia«, abgedruckt im Mitteilungsblatt der Deutschen Dante-Gesellschaft e.V. (gegr. 1865), Ausgabe Juni 2008, 20-27. 128 Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala. Lateinisch-Deutsch, übers., eingel. u. komm. Thomas Ricklin, mit einer Vorrede v. Ruedi Imbach (Meiner – Philosophische Bibliothek, 463. Dante Alighieri, Philosophische Werke, Bd. I), Hamburg 1993, 12 / 14 (Epistola XIII, 31).

Varianten des Wahnsinns: Zur Übertragung von Don Quijotes Geisteszustand in deutschen und englischen Übersetzungen Von Elisabeth Winkler

I. Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote, selbst als Übersetzung eines arabischen Texts von Sidi Hamete Benengeli inszeniert, dürfte zweifelsohne zu den am häufigsten übersetzten Werken der Weltliteratur gehören.1 Das Übersetzen ist jedoch eine schwierige Aufgabe: Wie Klaus Reichert schreibt, ist Übersetzen stets eine Gratwanderung zwischen einer vollständigen, spurlosen Einpassung eines Texts aus einem anderen Kulturkreis in den eigenen und der Erhaltung seiner kulturellen Andersartigkeit.2 Auch der Titel von Ilan Stavans’ Aufsatz, »One Master, Many Cervantes«, weist implizit auf ein wichtiges Problem hin: Übersetzung ist stets auch Interpretation; keine Übersetzung gleicht der anderen, und alle Übersetzungen können immer nur Annäherungen an das Original sein. Gerade ein Werk wie Don Quijote, das auch unzählige Analysen durch Nicht-Hispanisten erfah1 Allein für den deutschsprachigen Raum zählte Theo In der Smitten 1986 130 Quijote-Ausgaben, darunter ca. zwölf eigenständige Übersetzungen, zu denen seither sicher noch einige hinzugekommen sind (vgl. Theo In der Smitten, Don Quixote (der »richtige« und der »falsche«) und sieben deutsche Leser. Rezeptionsästhetische leseaktorientierte vergleichende Analysen an spanischen Ur-Quixote-Ausgaben von 1604 / 05 und sechs deutschen Übersetzungen von 1648 bis 1883, 2 Bde., Bern et al. 1986, Bd. 1, 116). 2008 erwähnt Ilan Stavans 18 vollständige Don Quijote-Übersetzungen ins Englische (vgl. Ilan Stavans, »One Master, Many Cervantes. Don Quixote in Translation«, Humanities 29 (2008), (Zugriff: 14. 10. 2009). – Ein sehr guter Überblick über die globale Verbreitung von Don Quijote-Übersetzungen findet sich bei Henriette Partzsch, »Don Quijote globalisiert: Übersetzung und Universalität eines Klassikers der Weltliteratur«, in: Marco Kunz (Hg.), Quijotextos, Quijotemas, Quijoteorías. Ocho acercamientos a Don Quijote / Quijotexte, Quijothemen, Quijotheorien. Acht Annäherungen an Don Quijote, Bamberg 2009, 117 – 145. 2 Vgl. Klaus Reichert, »Zur Übersetzbarkeit von Kulturen – Appropriation, Assimilation oder ein Drittes?«, [11994 / 97], in: ders., Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen, München 2003, 25 – 41, hier 25.

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ren hat, die vorrangig auf Übersetzungen aufbauen, zeigt, wie schwer Übersetzung und Interpretation von einander zu trennen sind.3 In einem so komplexen Roman wie Don Quijote gibt es natürlich zahlreiche Begriffe und Formulierungen, die eine Herausforderung für die Übersetzer darstellen, angefangen bei Wortspielen, Redewendungen und Sprichwörtern4 über sprechende Namen bis hin zu Begriffen, die sich nur vor dem Hintergrund des Spaniens der Frühen Neuzeit erklären lassen. Für die Interpretation der Figur Don Quijotes ist die Darstellung seines Geisteszustands von großer Bedeutung. Im Folgenden sollen exemplarisch ausgewählte deutsche und englische Übersetzungen des Don Quijote im Hinblick auf ihre Übertragung des Geisteszustands der Titelfigur untersucht werden. Es stellt sich die Frage, wie die Übersetzer mit cervantinischen Schlüsselbegriffen wie (el) loco, loco, locura und disparate sowie den Darstellungen des widersprüchlichen Denkens und Handelns Don Quijotes umgehen, und ob sich in den Übersetzungen schon Ansätze verschiedener Lesarten erkennen lassen. Nun lassen zwar nicht ausschließlich diese Wörter und Passagen auf die jeweilige Interpretation Quijotes schließen, für eine Charakterisierung einer so komplexen Figur muss natürlich der gesamte Roman betrachtet werden, jedoch können sie wichtige Hinweise auf das Spektrum der Übersetzungs- und damit auch Interpretationsmöglichkeiten geben.5 Im Folgenden sollen unter diesem Aspekt einige Übertragungen aus den vergangenen rund 400 Jahren erörtert werden, die als exemplarisch gelten können. Aus dem deutschsprachigen Raum zählt dazu die erste Übersetzung von Joachim Caesar, die 1648 unter dem Pseudonym Pahsch Basteln von der Sohle veröffentlicht wurde.6 Da Caesars Text jedoch unvollständig 3 Vgl. John J. Allen, »Traduttori Traditori: Don Quixote in English«, Crítica hispánica 1 (1979), 1 – 13, hier 1. 4 So haben denn auch, wenig überraschend, besonders Sanchos Wortspielereien viel Beachtung gefunden, s. u. a. für die deutschen Übersetzungen Jürgen von Stackelberg, »Sanchos Kalauer. Cervantes’ Don Quijote als komischer Roman und seine deutschen Übersetzer«, Romanische Forschungen 107 (1995), 127 – 135; sowie für die englischen Mary Jane Power, The Voices of Don Quixote: A Study of Style through Translation, Diss. Phil., University of Wisconsin 1967, 57 – 84. 5 Zu Elementen, die für die Charakterisierung Don Quijotes eine wichtige Rolle spielen, s. z. B. John J. Allen, Don Quixote: Hero or Fool? A Study in Narrative Technique, Gainesville 1971. Allen benennt u. a. eine stilistische Ebene (z. B. Quijotes Archaismen) und eine kontextuelle (Quijotes Niederlagen). 6 Zur Frage der Autorenschaft s. In der Smitten, Don Quixote und sieben deutsche Leser, Bd. 1, 74 – 77; sowie Christian F. Melz, »An Evaluation of the Earliest German Translation of Don Quixote: Juncker Harnisch aus Fleckenland«, University of California Publications in Modern Philology 27 (1945), 301 – 342, hier 305 – 311.

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ist und bereits nach der Hälfte von Teil I, Kapitel 23 abbricht, wird als weiteres Beispiel für die deutsche Rezeption während des Barocks J. R. B.s Übersetzung (1682 / 3) herangezogen.7 Dieser Text ist auch deshalb so interessant, weil es sich um eine Übersetzung des französischen Don Quijote von François Filleau de Saint-Martin handelt, in dem, wie Jürgen von Stackelberg zeigt, gerade die Empfindlichkeiten des französischen Barocks, wie z. B. die Maxime der sogenannten bienséance (d. h. der Schicklichkeit), besonders zum Ausdruck kommen.8 Eine der bekanntesten und lesbarsten Übersetzungen ins Deutsche ist die von Ludwig Tieck (1799 – 1801), die als Beispiel für die Quijote-Rezeption der deutschen Romantiker gelten kann. Wie In der Smitten feststellt, handelt es sich zwar eher um eine »Nachdichtung« als um eine philologisch gelungene Übersetzung.9 Nichtsdestotrotz treten gerade hier die Züge der romantischen Quijote-Rezeption zutage, die das satirische, burleske Element von Cervantes’ Text weitgehend ausblenden und Don Quijote zum universellen Helden stilisieren.10 Eine der erfolgreichsten und philologisch korrektesten Quijote-Übersetzungen wurde 1883 von Ludwig Braunfels veröffentlicht.11 Als Beispiel für die aktuellen Übersetzungen wird schließlich noch Susanne Langes 2008 erschienene Übertragung herangezogen, die sich wie die Braunfels’sche Version durch große übersetzerische Akkuratesse und vor allem durch eine große Lesbarkeit auszeichnet.12 7 Soweit mir bekannt, ist immer noch nicht geklärt, wer sich hinter dem Kürzel J. R. B. verbirgt. 8 Vgl. Jürgen von Stackelberg, Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. Bis zum 18. Jahrhundert, Berlin / New York 1984, 65 – 90, bes. 68. – Erstaunlicherweise wird die Übersetzung von J. R. B. in der Forschung nur wenig beachtet, obwohl sie bis zu Friedrich Justin Bertuchs Übertragung direkt aus dem Spanischen (1775) eine von nur zwei vollständigen deutschsprachigen Übersetzungen war (vgl. ibid., 73). Die andere Ausgabe ist 1734 anonym in Leipzig erschienen und ist ebenfalls eine Übersetzung des französischen Texts (vgl. ibid., 65). 9 Vgl. In der Smitten, Don Quixote und sieben deutsche Leser, Bd. 1, 97 – 98, Zitat 97. 10 Vgl. Anthony Close, The Romantic Approach to Don Quixote, Cambridge 1978, 24 und 36. 11 In der Smitten zufolge zeugt sie vom wissenschaftlichen Interesse Braunfels’ an der spanischen Literatur und Kultur und fällt außerdem zeitlich mit dem Aufkommen der deutschen Hispanistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen (vgl. In der Smitten, Don Quixote und sieben deutsche Leser, Bd. 1, 109 – 114). 12 Verwendet werden folgende Ausgaben: Don Kichote de la Mantscha, das ist: Juncker Harnisch aus Fleckenland, übers. Pahsch Basteln von der Sohle, Franckfurt 1669; Don Quijote de la Mancha, übers. J. R. B., Basel / Franckfurt 1683; Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, übers. Ludwig Tieck, 2 Bde., Berlin 1966; Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, übers. Lud-

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In England wurde Don Quijote bereits sehr früh rezipiert: Thomas Sheltons Übersetzung des ersten Teils erschien bereits 1612, nur sieben Jahre nach Cervantes; der zweite Teil wurde 1620 veröffentlicht. Shelton ist sehr bemüht, den Quijote in die englische Kultur einzupassen.13 In Verbindung mit seiner offenbar mangelhaften Kenntnis des Spanischen und des zeitgenössischen Spaniens führt dies zu einer rein komödienhaften, fast schon burlesken Fassung des Romans.14 Nach Peter Anthony Motteux’ einflussreicher Übertragung (1700 – 1703) erschienen in der Mitte des 18. Jahrhunderts von Charles Jarvis (1742) und Tobias Smollett (1755) in dichter Folge zwei wichtige Übersetzungen. Jarvis (oder auch Jervas) gilt, Arantza Mayo und J. A. G. Ardila zufolge, nach wie vor als Verfasser der wörtlichsten Übersetzung des Quijote ins Englische.15 Smollett hingegen, dem zwar immer wieder vorgeworfen wird, Jarvis’ Fassung nur leicht überarbeitet zu haben,16 war nicht nur als Übersetzer, sondern vor allem auch als Autor an der Rezeption von Cervantes in England beteiligt.17 Interessanterweise hat die englische Romantik keine eigene Don Quijote-Übersetzung hervorgebracht.18 Möglicherweise ist der Grund darin zu sehen, dass – wie Anthony Close gezeigt hat – die romantische Sichtweise auf Don Quijote durch die Übernahme quijotischer Figuren (z. B. Henry Fieldings Parson Adams in Joseph Andrews) in die Literatur und durch den sentimentalen Roman des 18. Jahrhunderts zum Teil antizipiert worden war.19 Im viktorianischen wig Braunfels, 11923, Köln Nachdr. 2006; Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha, übers. Susanne Lange, München 2008. 13 Vgl. Clark Colahan, »Shelton and the Farcical Perception of Don Quijote in Seventeenth-Century Britain«, in: J. A. G. Ardila (Hg.), The Cervantean Heritage. Reception and Influence of Cervantes in Britain, London 2009, 61-65, hier 62. 14 Vgl. Arantza Mayo und J. A. G. Ardila, »The English Translations of Cervantes’s Works across the Centuries«, in: J. A. G. Ardila (Hg.), The Cervantean Heritage. Reception and Influence of Cervantes in Britain, London 2009, 54 – 60, hier 54 – 55. 15 Vgl. Mayo und Ardila, »English Translations«, 55 – 56. 16 S. hierzu z. B. Carmine Rocco Linsalata, Smollett’s Hoax: Don Quixote in English, Stanford 1956. 17 Als Beispiel sei Smolletts Roman Sir Launcelot Greaves (1760) genannt. Zu Smolletts Rezeption von Cervantes s. z. B. J. A. G. Ardila, »Tobias Smollett, Don Quixote and the Emergence of the English Novel«, in: J. A. G. Ardila (Hg.), The Cervantean Heritage. Reception and Influence of Cervantes in Britain, London 2009, 151 – 165; zur Rezeption des Quijote in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts s. u. a. Wolfgang G. Müller, »Imitation und Innovation in der Don QuijoteRezeption im englischen Roman des 18. Jahrhunderts: Drei Fallstudien«, in: KlausDieter Ertler, Andrea Maria Humpl (Hgg.), Der widerspenstige Klassiker. Don Quijote im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007, 55 – 78. 18 Vgl. auch Mayo und Ardila, »English Translations«, 56 – 57. 19 Vgl. Close, Romantic Approach, 12 – 13.

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England erschien dann wieder eine ganze Reihe von Quijote-Übersetzungen, unter denen die von John Ormsby (1885) herausragt. Ähnlich wie bei Braunfels wird an Ormsbys Übertragung die philologische Fundiertheit gelobt, und sie gilt bis heute als die vielleicht beste der englischen QuijoteÜbersetzungen.20 Auch für den englischsprachigen Raum soll mit Edith Grossmans Text (2003) noch eine aktuelle Übersetzung erörtert werden, die sich ebenfalls durch ihre übersetzerische Sorgfalt und sehr gute Lesbarkeit auszeichnet.21 Für Ormsby und Braunfels sowie für die aktuellen Übertragungen von Grossman und Lange lässt sich ein Wandel in der Art der Übersetzung feststellen: Das Interesse an philologischer Korrektheit hat deutlich zugenommen, die Übersetzer weisen immer wieder, durch Fußoder Endnoten, auf kulturelle Unterschiede und Implikationen sowie schwer übertragbare Bedeutungsnuancen hin. Hierin ist sicherlich auch ein Wandel im Denken über das Übersetzen zu erkennen. Lange Zeit wurden Texte einfach nahtlos in die eigene Zielkultur übertragen, wie dies z. B. auch bei Thomas Shelton sichtbar wird. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einem grundlegenden Wechsel:22 In der Smitten stellt dies in seiner Diskussion der Braunfels’schen Quijote-Übersetzung in den Kontext der entstehenden Disziplin der Hispanistik und der zunehmenden Akademisierung der Neuphilologien,23 eine Tendenz, die sich im 20. Jahrhundert fortgesetzt hat. II. Daran, dass sein Ritter verrückt ist, lässt Cervantes keinen Zweifel, auch seine hellen Momente und klugen Einsichten schmälern diesen Eindruck nicht.24 Die Gründe für Don Quijotes Wahnsinn sind im Roman eindeutig: Vgl. Mayo und Ardila, »English Translations«, 57. Verwendet werden folgende Ausgaben: The History of Don Quixote of the Mancha, übers. Thomas Shelton, New York 1967; Don Quixote De la Mancha, übers. Charles Jarvis, New York 1892; The History and Adventures of the Renowned Don Quixote, übers. Tobias Smollett, hg. O. M. Brack, Jr., Athens / London 2003; The History of Don Quixote de la Mancha, übers. John Ormsby, 21. Aufl., Chicago 1989; Don Quixote, übers. Edith Grossman, New York 2003. 22 Zum Wandel von Übersetzungen und Übersetzungsstrategien s. u. a. auch Reichert, »Zur Übersetzbarkeit von Kulturen«, passim. 23 Vgl. In der Smitten, Don Quixote und sieben deutsche Leser, Bd. 1, 110. Zur Etablierung der Romanischen Philologie an Universitäten s. z. B. Dietrich Briesemeister, »Zur Entstehung der Neuphilologien in der Auseinandersetzung mit der klassischen Philologie«, in: Christoph Strosetzki (Hg.), Übersetzung. Ursprung und Zukunft der Philologie?, Tübingen 2008, 329 – 344. 24 Vgl. Anthony Close »Don Quixote’s sophistry and wisdom«, Bulletin of Hispanic Studies 55 (1978), 103 – 114, hier 103 – 104, 112. 20 21

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Gleich im ersten Kapitel wird berichtet, wie die übermäßige Lektüre von mittelalterlichen Ritterromanzen den Geist des Hidalgos verwirrt. In der Forschung wird Don Quijotes Wahnsinn auch im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Humoraltheorie gesehen, da der Roman Parallelen zu der Abhandlung Examen des ingenios para las sciencias (1575) des spanischen Arztes Juan Huarte de San Juan aufweist.25 Unterstützt wird dies auch durch Cervantes’ Titel El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha, in dem mit dem Adjektiv »ingenioso« auch auf die Humoraltheorie angespielt wird.26 Auch wenn Don Quijote den Regeln der Humoraltheorie zufolge nicht im körperlichen Gleichgewicht ist, so ist doch nicht zu vergessen, dass sein Wahnsinn auch als Vehikel der Parodie und Satire auf die mittelalterlichen Ritterromanzen konzipiert ist.27 In dieser parodistisch-satirischen Zielsetzung mag denn möglicherweise auch der Grund für Cervantes’ lexikalischen Minimalismus zu suchen sein, wenn es um die Beschreibung von Quijotes Wahnsinn geht. Zwar verwendet Cervantes auch gelegentlich Synonyme, doch überwiegt die Verwendung von locura und disparate zur Charakterisierung von Don Quijotes eigentlichem Geisteszustand; für Quijotes Taten und Reden benutzt Cervantes fast ausschließlich den jeweiligen Plural, d. h. locuras und dis25 Siehe u. a. Enrique Herrera, »La locura quijotesca«, Hispanic Journal 25 (2004), 9 – 29; Brian McCrea, »Madness and Community: Don Quixote, Huarte de San Juan’s Examen de ingenios and Michel Foucault’s History of Insanity«, Indiana Journal of Hispanic Literatures 5 (1994), 213 – 224; Otis H. Green, »El ingenioso Hidalgo«, Hispanic Review 25 (1957), 175 – 193. 26 Vgl. auch In der Smitten, Don Quixote und sieben deutsche Leser, Bd. 1, 235 – 236. – Wie Otis H. Green feststellt, ist Don Quijote vorrangig dem heißen und trockenen Temperament (d. h. dem cholerischen) zuzuordnen; in Verbindung mit seinem im ersten Kapitel thematisierten Schlafmangel ergibt sich daraus ein übermäßig ausgeprägtes Imaginationsvermögen (vgl. Green, »El ingenioso Hidalgo«, 177, 185 – 188). Das Substantiv »ingenio« bezeichnete im frühneuzeitlichen Spanien sowohl die Vorstellungskraft als auch die Fähigkeit zu rationalem, abstraktem Denken (vgl. ibid., 182 – 183). Der Begriff »ingenioso« kann jedoch neben dem Scharfsinn auch psychologische Instabilität, das potentielle Umschlagen vom Scharfsinn in Manie implizieren und beschreibt Don Quijotes prekären Geisteszustand, wie Green zeigt, überaus adäquat (vgl. ibid., 183 – 184). 27 Es ist bemerkenswert, dass das Substantiv »ingenio« von Tieck gelegentlich mit »Genie« übersetzt wird (Tieck, Bd. 2, 114). Hierin zeigt sich nicht nur die Überhöhung Don Quijotes durch die Romantiker, sondern es lässt sich auch ein Echo der Genieästhetik des Sturm und Drang und der Romantik erkennen, die das schöpferische, nur seinen eigenen Regeln folgende Genie zum Ideal erhob. Interessanterweise ist ferner 1953 in Leipzig eine auf Braunfels’ Übersetzung basierende und von Werner Bahner und Werner Krauss bearbeitete Ausgabe erschienen, die den Titel mit Der geniale Hidalgo Don Quijote von der Mancha übersetzt und die positiv-überhöhende Genieästhetik damit ins 20. Jahrhundert überträgt. – Für diese Hinweise danke ich Wolfgang G. Müller.

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parates. Für die Singularformen locura und disparate verwenden fast alle deutschen Übersetzer »Narrheit« und »Torheit« und verwenden beides – ebenso wie Cervantes – grundsätzlich synonym; einzig Susanne Lange hebt sich deutlich hiervon ab mit ihrer fast konsequenten Verwendung des Substantivs »Wahn« oder gelegentlich »Verrücktheit« (s. u. Tabelle 1). Für die Pluralformen finden sich, besonders für disparates, zahlreiche Varianten, wie z. B. »Torheiten«, »Narreteien« oder »Unsinn« (s. u. Tabelle 1). Die fünf ausgewählten deutschen Übersetzungen variieren hier sehr, und es scheint, dass die Übersetzungen dem jeweiligen Kontext, in dem das Wort erscheint, angepasst werden und Don Quijotes seltsames Handeln, oft mit Betonung des humoristischen Gehalts, wiedergeben. Auch die englischen Übertragungen sind lexikalisch wesentlich vielfältiger als der spanische Urtext (s. u. Tabelle 2). Für locura überwiegt bei allen Übersetzungen die englische Entsprechung »madness«, auch »folly« findet sich recht häufig; Vergleichbares gilt für disparate.28 Für die Pluralformen findet sich eine Vielzahl von Synonymen bei den englischen Übersetzern, wie »follies« oder »extravagancies« für locuras, sowie »folly / follies«, »absurdities« oder »nonsense« für disparates. Viele der englischen Bearbeiter entscheiden sich auch für Nominalphrasen wie »mad / crazy / foolish things« oder »mad tricks / feats / doings / pranks« usw. (s. u. Tabelle 2). All diese Möglichkeiten bleiben zwar eng an der ursprünglichen Idee des spanischen Texts, passen ihre Übertragung jedoch immer dem jeweiligen Kontext an. Wesentlich interessanter sind die Übertragungen der Worte, die sich ganz direkt auf Quijote beziehen. Er selbst wird überwiegend mit dem Substantiv loco beschrieben, bei den Adjektiven, die sich auf seine Taten oder seinen Geisteszustand beziehen, wechselt Cervantes gelegentlich zwischen loco und mentecato, mit einer deutlichen Präferenz für loco. Wenn das Nomen loco von Cervantes verwendet wird, um Don Quijote selbst zu charakterisieren, wählen fast alle deutschen Übersetzer »Narr« oder »Verrückter«. Jedoch findet sich diesbezüglich in Joachim Caesars Junker Harnisch eine 28 Shelton übersetzt disparate mindestens einmal gänzlich falsch. Wenn Don Quijote in I.22 die Strafgefangenen befreit, wird berichtet, dass einer von ihnen (Ginés de Pasamonte) erkennt, dass der Ritter großen Unfug begangen hat (»tal disparate había cometido« [Cervantes, Bd. 1, 276]). Shelton übersetzt dies mit »he had attempted such a desparate act« (Shelton, Bd. 1, 205). Sein Einsatz des vermeintlich etymologisch verwandten Worts »desparate« für »disparate« spricht zum einen tatsächlich für seine schlechten Spanischkenntnisse, zum anderen lässt dies Don Quijote in einem geradezu hilflosen Licht erscheinen, das dem Ausgangstext nicht entspricht. Zwar glaubt er den Lügengeschichten der Gefangenen, wähnt sich dadurch jedoch in einer Position der moralischen Überlegenheit, da er vermeintlich unschuldig Inhaftierte befreit. Sein Handeln ist also unsinnig und seine Argumentation ist sophistisch im negativen Sinne des Wortes (vgl. Close, »Don Quixote’s sophistry«, 104), »desparate« – wie Shelton meint – ist es nicht.

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überaus interessante Variante. Gleich in I.1 wird berichtet, wie Don Alonso Quijano seine Ritterbücher verschlingt und wie diese seinen Verstand verwirren. Dem Hidalgo kommt dann die Idee, sich als fahrender Ritter geradezu neu zu erfinden. Cervantes fügt hier einen Erzählerkommentar ein, der den Leser gleich zu Beginn mit dem Schlüsselbegriff (el) loco konfrontiert. Cervantes’ Erzähler nennt die Überlegung Quijotes, zum Ritter zu werden »el más estraño pensamiento que jamás dio loco en el mundo«29. In den Übersetzungen liest sich dies folgendermaßen: CAESAR: »den allerwundersambsten Wahn / so jemahls einigem Phantasten der Welt in Sinn gekommen« (Caesar, 21) J. R. B.: »die seltsamsten Gedancken / daran jemahls ein Narr hätte können geddencken« (J. R. B., 5) TIECK: »den seltsamsten Gedanken, den jemals ein Tor auf der Welt ergriffen hat« (Tieck Bd. 1, 29) BRAUNFELS: »den seltsamsten Gedanken, auf den jemals in der Welt ein Narr verfallen« (Braunfels Teil 1, 16) LANGE: »den seltsamsten Gedanken, dem je ein Verrückter auf der Welt verfallen war« (Lange Bd. 1, 31 – 32)

Die letzten vier Übersetzungen bleiben nah am Spanischen und variieren nur unwesentlich; Cervantes und die Mehrheit seiner deutschen Übersetzer machen von Beginn an deutlich, wie es um Don Quijote bestellt ist. Einzig Caesars Text unterscheidet sich signifikant: Zwar lässt auch er wenig Zweifel an Don Quijotes Geisteszustand, indem er von »Wahn« spricht, gibt jedoch loco hier recht frei mit »Phantast« wieder. Dieses Substantiv wurde im Frühneuhochdeutschen durchaus als Äquivalent für einen »wirklichkeitsfremden Träumer« verwendet.30 Gleichzeitig jedoch impliziert dies möglicherweise einen erneuten Hinweis auf die Ursache für Don Quijotes Wahn, d.h. auf seine durch die Bücher angeregte Phantasie und die Traumwelt, die er sich erschafft.31 Die englischen Übersetzungen dieser Passage variieren für (el) loco kaum. Jedoch lohnt sich ein genauerer Blick darauf, da die Übersetzungen der Nominalphrase »el más estraño pensamiento« interpretatorisches Potential haben und damit auch den Leser lenken: 29 Miguel de Cervantes Saavedra, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha, hg. Luis Andrés Murillo, 5. Aufl., Madrid 1978, 74. Alle weiteren spanischen Zitate aus Don Quijote sind dieser Ausgabe entnommen. 30 Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 4, s. v. »phantast«. 31 Das Wort »Phantasie« wurde auch im 17. Jahrhundert bereits im heutigen Sinne des Imaginationsvermögens verwendet (vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 4, s. v. »phantasie, phantasei«).

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SHELTON: »one of the strangest conceits that ever mad-man stumbled on in this world« (Shelton Bd. 1, 26) JARVIS: »one of the strangest fancies that ever entered the head of any madman« (Jarvis, 2) SMOLLETT: »the strangest whim that ever entered the brain of a madman« (Smollett, 30) ORMSBY: »the strangest notion that ever madman in the world hit upon« (Ormsby, 2) GROSSMAN: »the strangest thought any lunatic in the world ever had« (Grossman, 21)

Während Ormsby und Grossman, deren Übersetzungen sich – wie erwähnt – ohnehin durch eine enge Orientierung am spanischen Ausgangstext auszeichnen, bei einer neutralen Wortwahl bleiben, wählen ihre Vorgänger stark interpretierende Übertragungen. Zwar ist auch Sheltons Substantivform »conceits« noch nah am spanischen »pensiamento«, doch schwingt hier schon etwas Spielerisch-Durchdachtes mit. Jarvis und Smollett hingegen wählen Nomina, die das Ungewöhnliche von Quijotes Gedankengang noch hervorheben: Jarvis’ »fancies« betont – ähnlich wie Caesars »Phantast« – nochmals die phantasievolle Gedankenwelt Quijotes, während Smolletts »whim« Don Quijote fast schon kapriziös erscheinen lässt. Zwar trifft Smollett damit durchaus den burlesken Ton der späteren Abenteuer des Ritters, doch negiert diese Übersetzung, dass seine Neuerschaffung als Don Quijote für Don Alonso Quijano eben etwas völlig Durchdachtes, beinahe schon Rationales ist. Smollett stellt seinen Lesern Don Quijote also von Beginn an als besonders verrückt dar. Um jedoch auch eine Lanze für diese Übersetzungen zu brechen, sei festgestellt, dass sie natürlich versuchen, den witzigen, unterhaltsamen Unterton, der in I.1 anklingt, wiederzugeben, so dass derlei stark interpretierende Substantive durchaus als akzeptabel erscheinen. Insgesamt wählen die englischen Übersetzer meist »madman« oder auch »lunatic« für (el) loco, wenn es um Quijote geht (s. u. Tabelle 2). Eine der interessantesten Varianten für Cervantes’ (el) loco findet sich allerdings bei Shelton. In II.10 erteilt Quijote Sancho den Auftrag, Dulcinea zu finden. Bevor Sancho auf den Trick verfällt, einige Bäuerinnen als Dulcinea und ihre Zofen auszugeben, führt er ein Selbstgespräch, in dem er den Wahnsinn seines Herrn (und auch seinen eigenen) thematisiert und Don Quijote als »un loco de atar« (Cervantes, Bd. 2, 106) bezeichnet. Während Jarvis, Smollett und Grossman eine adjektivische Übertragung mit »mad« bzw. »crazy« wählen und Orsmby bei »madman« bleibt, übersetzt Shelton diese Textstelle mit »a Bedlam fit to be bound« (Shelton, Bd. 3, 76). Hier zeigt sich ganz deutlich Sheltons oben erwähnte Tendenz, den Text auf seinen eigenen

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kulturellen Hintergrund zu münzen. Mit dem Wort »Bedlam« spielt er auf das England der Renaissance an: Es handelt sich bei diesem Wort um eine mundartlich verschliffene Wiedergabe von Bethlehem und bezieht sich auf das Londoner Krankenhaus St. Mary of Bethlehem, in dem seit dem frühen 15. Jahrhundert psychisch Kranke behandelt wurden;32 im Laufe des 16. Jahrhunderts bürgerte sich »bedlam« auch zunehmend als Synonym für »madman« ein.33 Indem Shelton den Ritter in einen Kontext stellt, der sich im England des frühen 17. Jahrhunderts sofort erschließt und der ganz spezifische Konnotationen hatte, dürfte sich seinen Lesern Don Quijotes Geisteszustand unmittelbar erschlossen haben, auch wenn bei dieser Übersetzung das tendenziell Pathologische überwiegt und eine solche explizite Appropriation in den eigenen kulturellen Kontext natürlich immer problematisch ist. Für das Adjektiv loco, das sowohl für Quijote selbst wie auch seine Taten verwendet wird, überwiegt in den englischsprachigen Übersetzungen ganz eindeutig das Adjektiv »mad« sowie die Übertragung ins Nominale mit »madman«, ebenfalls recht häufig findet man auch »crazy« (vorrangig bei Ormsby und Grossman) sowie »distracted« in den älteren Texten (s. u. Tabelle 2). Die deutschen Übersetzer verwenden für loco zumeist »närrisch« oder auch »verrückt« sowie ebenfalls die substantivische Variante mit »Narr« (s. u. Tabelle 1). Interessanterweise haben jedoch die beiden Barocktexte von Caesar und J. R. B. eine Tendenz zur Verwendung von metaphorischen Idiomen, wenn es um Don Quijotes Wahnsinn geht. So nennt J. R. B. den Ritter »unter dem Hütlein verwundet« (J. R. B., 25), wenn er während seiner Waffenwacht in I.3 mit den Maultiertreibern kämpft; Cervantes hatte sich mit dem Adjektiv loco begnügt. Ein anderes, anschaulicheres Beispiel für die metaphorisch-idiomatische Übersetzung findet sich in I.13, am Ende der Episode mit Marcela, wenn Don Quijote andere Reisende mit seinen wirren Reden verwundert, diese jedoch schnell merken, dass Quijote nicht ganz bei Trost ist: CERVANTES: »cuando todos le tuvieron por loco« (Cervanntes, Bd. 1, 169) CAESAR: »daß er mit einem Hasenbalge gefüttert wäre« (Caesar, 161) J. R. B.: »daß unser Ritter an dem Verstand Schiff-bruch [sic] gelitten« (J. R. B., 114) TIECK: »hielten sie ihn auch für närrisch« (Tieck, Bd. 1, 101) BRAUNFELS: »als alle ihn auch schon für verrückt hielten« (Braunfels, Teil 1, 101) LANGE: »sie hielten ihn für verrückt« (Lange, Bd. 1, 113)

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Vgl. Oxford English Dictionary, s. v. »bedlam«, Etymologie. Vgl. Oxford English Dictionary, s. v. »bedlam«, 5.

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Während die Übersetzungen von Tieck, Braunfels und Lange eng am Spanischen bleiben und dies akkurat wiedergeben, weichen ihre beiden barocken Vorgänger doch deutlich vom Ursprungstext ab. In beiden Fällen hat die Metapher natürlich eine emphatische Funktion: Die Meinung der anderen Reisenden, deren Gedanken hier wiedergegeben werden, wird durch sie wesentlich plastischer dargestellt, ihre Verwunderung über Don Quijotes Gerede nahezu greifbar. Während J. R. B.s Metapher sich sofort erschließt, erscheint Caesars Bild von einem »Hasenbalge« heutzutage höchst ungewöhnlich. Wie das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch erläutert, wurde das Wort »Hase« nicht nur zum Teil als Metapher für Dummheit verwendet, sondern seit dem 16. Jahrhundert auch gelegentlich als Bezeichnung für einen »lächerlichen modischen Gecken (ähnlich dem Narren)« verwendet.34 Caesars Metapher zielt also nicht nur auf Don Quijotes Geisteszustand ab, sondern macht den Leser auch auf Quijotes unzeitgemäßes, groteskes Äußeres aufmerksam. Gleichzeitig wird Don Quijotes Irrsinn noch auf eine weitere Weise verstärkt: Der Ritter ist mit dem Hasenbalg »gefüttert« worden, hat also den Narren regelrecht inkorporiert, dies führt in der Konsequenz dazu, dass sein Wahnsinn umso gravierender und auch grotesker erscheinen muss. An dieser Stelle sei noch eine kurze Bemerkung zu Don Quijotes Beinamen gestattet. Cervantes verleiht seinem Hidalgo den mittlerweile zur Antonomasie gewordenen Titel »El Caballero de la Trista Figura«. Im deutschsprachigen Raum hat sich die Übertragung »Der Ritter von der traurigen Gestalt« eingebürgert, eine nicht ganz korrekte, aber dennoch durchaus gelungene Übersetzung, die im Allgemeinen Ludwig Tieck zugeschrieben wird. Interessanterweise hat Tieck sie jedoch von seinen Vorgängern übernommen. Tieck dürfte den Titel aus Bertuchs Übersetzung kennen, der wiederum wohl mit Caesars Text vertraut war und den Beinamen daraus entlehnt hat.35 Dass Tieck die Fehlübertragung seiner Vorgänger übernommen hat, mag in der romantischen Sicht auf Don Quijote begründet sein: Die eher melancholische Note dieser Übersetzung dürfte dem romantischen Geschmack eher entsprochen haben als das potentiell Zweischneidige, das dem spanischen Ausdruck innewohnt. Allerdings hat natürlich gerade die Verwendung durch Tieck zur großen Verbreitung der For34 Vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 7 (Lfg. 3), s. v. »Hase«. – Ein vergleichbares metaphorisches Idiom findet sich auch im Englischen, das die Redewendung »as mad as a March hare« für »verrückt« kennt (s. Oxford English Dictionary, s. v. »hare«, 1b). 35 Vgl. In der Smitten, Don Quixote und sieben deutsche Leser, Bd. 1, 97 (zu Tiecks Lektüre von Bertuch) und Bd. 1, 88 (zu Bertuchs Verwendung von Caesar). – Auch bei J. R. B. heißt Don Quijote »Der Ritter von der traurigen Gestalt«.

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mulierung im deutschsprachigen Raum beigetragen; ein anderer Beiname für Don Quijote ist im Deutschen nur schwer vorstellbar, und es ist wenig überraschend, dass sich fast alle deutschen Übersetzer Tieck und seinen Vorgängern anschließen.36 In den englischsprachigen Übersetzungen hingegen variieren die Übertragungen des Beinamens deutlich stärker als im Deutschen: Shelton wählt »Knight of the Ilfavoured Face«, das den Gedanken des Jämmerlichen und potentiell Unangenehmen noch am ehesten wiedergibt.37 Spätestens seit Jarvis’ Übersetzung jedoch liegt – ähnlich wie im Deutschen – das Hauptaugenmerk auf dem melancholischen Aspekt: Jarvis nennt Don Quijote »Knight of the Sorrowful Figure« (und später auch »Knight of the Rueful Countenance«), Smollet und Ormsby übernehmen »Knight of the Rueful Countenance« und Grossman entscheidet sich für »Knight of the Sorrowful Face«.38 In all diesen Übertragungen zeigt sich also eine Stilisierung Quijotes zum Melancholiker in der romantischen Tradition, die das doppeldeutige Moment ausblendet und damit auch den Geisteszustand des Ritters rein positiv-idealistisch interpretiert.

III. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Charakterisierung Don Quijotes sind seine Momente der Einsicht oder vielmehr der stete Kontrast zwischen seinen Wahnvorstellungen und seinen durchaus vernünftigen Ansichten. Cervantes weist immer wieder auf dieses Paradoxon hin, entweder durch auktoriale Kommentare oder durch die Aussagen verschiedener Figuren, die auf Don Quijote treffen und sich erstaunt über diese unerwartete Mischung von Wahnsinn und Verstand zeigen. Den Begriffen loco und locura werden dabei häufig die Antonyme cuerdo (klug), discrecíon (Vernunft) oder discreto / -a (vernünftig) gegenübergestellt. Durch diese Kontrastierung gelingt es Cervantes, das Bild des weisen Narren zu entwerfen. Wichtig ist jedoch, dass Don Quijotes Verständigkeit immer nur Dinge außerhalb seiner Phantasiewelt betrifft, sein Rittersein und seine Ausfahrten erkennt er erst ganz am Ende des Romans als verrückt. Fast folgerichtig forciert Cervantes den Kontrast von Wahnsinn und Vernunft denn auch in Teil II. Zwar gibt es derartige Gegenüberstellungen 36 Ein ähnlicher Erwartungshorizont der Rezipienten kann auch z. B. für Shakespeares Hamlet postuliert werden, bei dem das deutsche Publikum bestimmte Sätze wie beispielsweise »Der Rest ist Schweigen« (»The rest is silence«) erwartet. 37 Vgl. Allen, »Traduttori Traditori«, 7. 38 Allen gibt noch weitere Beispiele an, die ebenfalls in der melancholischen Tradition stehen (s. Allen, »Traduttori Traditori«, 7).

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schon in Teil I, doch im zweiten Teil häufen sie sich. Wie Anthony Close zeigt, verändert sich die Darstellung von Don Quijotes Geisteszustand im Laufe der zwei Teile: Überwiegt in Teil I noch das burleske Element in der Charakterisierung, so kommt es in Teil II zu einer zunehmenden Psychologisierung.39 Zwar verwendet Cervantes in Teil II das gleiche Vokabular wie in Teil I, jedoch rückt die explizite Gegenüberstellung mit den luziden Momenten Quijotes in den Vordergrund. Es ist denn auch keine Überraschung, dass Cervantes diesen Wechsel bereits im Vorwort zu Teil II andeutet. Er verweist nochmals auf das erste Buch und benennt die Geschichten über Don Quijote mit dem Oxymoron »discretas locuras« (Cervantes, Bd. 2, 39); diese sehr treffende Zusammenfassung der überaus faszinierenden, aber eben auch grotesken Melange des quijotischen Verstands lässt nicht nur den ersten Teil Revue passieren, sondern antizipiert auch Teil II. Es ist bemerkenswert, dass diese Einzelwortantithese eine Vielzahl verschiedener Übersetzungen hervorgebracht hat:40 TIECK: »diesen angenehmen Torheiten« (Tieck, Bd. 2, 9) BRAUNFELS: »diesen verständigen Narreteien« (Braunfels, Teil 2, 7) LANGE: »solch geistreichen Verrücktheiten« (Lange, Bd. 2, 10) SHELTON: »theese discreet follies« (Shelton, Bd. 3, 8) JARVIS: »his ingenious follies« (Jarvis, 246) SMOLLETT: »his ingenious follies« (Smollett, 371) ORMSBY: »his shrewd lunacies« (Ormsby, 204) GROSSMAN: »his clever follies« (Grossman, 458)

Während Braunfels wie immer philologisch korrekt übersetzt, ist Tiecks Variante von den deutschen eine der freiesten. Tiecks Adjektiv »angenehm« zielt hier wohl auf die Bedeutung des Erfreulichen ab, verfehlt jedoch dadurch die entscheidende Bedeutungsebene: Natürlich sind Don Quijotes Eskapaden unterhaltsam, aber sie zeichnen sich gerade durch ihre Ambivalenz aus. Gleichzeitig kann man in dieser Übersetzung und der Negierung der Widersprüchlichkeit auch schon die romantische Überhöhung oder Idealisierung Quijotes erkennen. Eine der interessantesten Übersetzungen bietet Susanne Lange an. Ihre Nominalphrase »geistreichen Verrücktheiten« ist zwar ebenfalls eine recht freie Übertragung, doch wird die im Ursprungstext formulierte Paradoxie prägnant wiedergegeben, da das Adjektiv »geistreich« zum einen auf »ingenioso« anspielt und zum anderen bei Don Vgl. Close, »Don Quixote’s sophistry«, 112. Bei J. R. B. findet sich keine Übersetzung von Cervantes’ Vorwort. Es ließe sich spekulieren, dass dieses in der französischen Vorlage fehlte; dies konnte jedoch nicht verifiziert werden. 39 40

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Quijote sowohl Esprit als auch ein mögliches Bewusstsein für sein Handeln unterstellt. Gleiches gilt für Jarvis und Smollett, die zwar auch nur bedingt das Oxymoron erfassen, jedoch durch die Verwendung von »ingenious« an den Titel des Romans anknüpfen, während Shelton, Ormsby und Grossman jeweils tadellose Übertragungen liefern. Interessanterweise wird hiermit also schon im Vorwort ein wesentliches Motiv von Teil II betont, das in II.3 erneut aufgegriffen wird, wenn Don Quijote im Gespräch mit Sanson Carrasco den Narr zur weisesten Figur des Theaters erhebt und somit einen beinahe metanarrativen Kommentar zu sich selbst abgibt.41 Während der Begegnung mit Don Lorenzo in den Kapiteln II.18 bis II.20 tritt der paradoxe Geisteszustand Don Quijotes ebenfalls noch einmal deutlich zutage. Zwar ist Don Lorenzo und seiner Familie schnell klar, dass Quijote nicht ganz bei Trost ist, doch überrascht er sie immer wieder mit seinen klugen Einsichten. Nachfolgend Don Lorenzos Beschreibung Don Quijotes, zunächst im spanischen Originaltext und anschließend in den verschiedenen Übersetzungsvarianten: CERVANTES: »él es un entreverado loco, lleno de lúcidos intervalos« (Cervantes, Bd. 2, 173) J. R. B.: »Nichts desto weniger hielte er ihn vor einen sehr possirlichen Narren / welcher vor einen irrenden Ritter zimlich guten Verstand habe.« (J. R. B., Bd. 2, 173) TIECK: »er ist ein buntgewirkter Narr, voll lichter Augenblicke« (Tieck, Bd. 2, 118) BRAUNFELS: »er ist ein mit Verstand gespickter Narr mit lichten Augenblicken« (Braunfels, Teil 2, 161) LANGE: »Er ist ein Verrückter, durchwachsen mit lichten Augenblicken.« (Lange, Bd. 2, 160) SHELTON: »He is a curious mad-man and hath neat Dilemma’s [sic].« (Shelton, Bd. 3, 138) JARVIS: »His distraction is a medley full of lucid intervals.« (Jarvis, 311) SMOLLETT: »He is a party-coloured maniac, full of lucid intervals.« (Smollett, 460) ORMSBY: »he is madman in streaks, full of lucid intervals« (Ormsby, 258) GROSSMAN: »he is a combination madman [sic] who has many lucid intervals« (Grossman, 571)

Die Mehrheit der deutschen Übersetzer – mit Ausnahme von J. R. B. – bleibt recht eng an Cervantes; Lange und Braunfels orientieren sich sogar an der spanischen Metapher »entreverado« (durchwachsen, wie Speck). 41 Cervantes schreibt: »la más discreta figura de la comedia es la del bobo« (Cervantes, Bd. 2, 64).

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Auch wenn Braunfels’ Bild überzeugender und sprachlich schöner ist, ist Langes adäquater. Braunfels’ Wahl von »gespickt« suggeriert einen äußeren Einfluss, das Adjektiv »durchwachsen« bei Lange hingegen impliziert etwas Endogenes. Genau dies ist ja bei Don Quijote der Fall: Sein Wahn bezieht sich fast ausschließlich auf sein Rittertum, in anderen Belangen zeigt er ein ausgesprochen gutes Urteilsvermögen. Auch Tiecks »buntgewirkt« tendiert eher in die von Lange gewählte Richtung. Die textile Metapher suggeriert ebenfalls ein enges, schier unauflösbares Verwobensein von Wahnsinn und Vernunft. Die englischen Übersetzungen hingegen weichen relativ stark von einander ab. Smollett und Ormsby versuchen erfolgreich, die Idee von »entreverado« beizubehalten, und auch bei Grossman schwingt dies noch mit. Jarvis’ Wortwahl »medley« versucht zwar auch die Implikation des spanischen Ausdrucks beizubehalten, es ist jedoch interessant, dass Jarvis den Satz abstrakter gestaltet: Bei ihm ist es Don Quijotes Wahn (»distraction«), der durchwachsen ist, bei Cervantes jedoch ist es Quijote selbst. Dies ist insofern ein Bedeutungsunterschied, als Cervantes seine Aussage auf die ganze Person bezogen haben will, während dies bei Jarvis losgelöster von der Person erscheint. Die mit Abstand freieste und vielleicht auch interessanteste Übertragung findet sich erneut bei Shelton, der die Metapher »entreverado« vollständig ausspart und sich stattdessen mit dem simpleren »curious« zufrieden gibt. Besonders bemerkenswert ist seine Übersetzung von »lúcidos intervalos« mit »neat Dilemma’s«, wodurch Shelton das semantische Feld der Rhetorik und Logik öffnet.42 Dies weist nicht nur auf Quijotes Fähigkeit hin, präzise und überzeugend zu argumentieren, sondern betont gerade in der Kombination und Kontrastierung mit »madman« nochmals den bizarren Geisteszustand des Ritters, der durch seine Wahnvorstellungen sein logisches Argumentieren ad absurdum führt. Zur wirklichen Einsicht gelangt Don Quijote, wie bereits erwähnt, erst am Schluss von Teil II. Wenn er nach seiner Niederlage gegen Sanson Carrasco (den Ritter vom weißen Mond) und seiner Rückkehr nach Hause im Sterben liegt, erkennt Don Quijote seinen Wahnsinn. Besonders das letzte Kapitel II.74 ist gespickt mit Sätzen wie »Yo fui loco, y ya soy cuerdo.« (Cervantes, Bd. 2, 590) Das Gros der Übersetzer bleibt hier eng an Cervantes’ Text und zeigt die Heilung des Don Alonso und seinen Tod; wesentliche Umdeutungen kommen erst in Filmadaptionen zum Tragen, wenn insinuiert wird, dass Don Alonso zwar sein Rittertum aufgibt, jedoch an seinem Idealismus festhält.43 Dennoch gibt es in diesem Zusammenhang einen Vgl. Oxford English Dictionary, s. v. »dilemma«, 1. Siehe hierzu auch Tilmann Altenberg, »Don Quijote im Film«, in: ders., Klaus Meyer-Minnemann (Hgg.), Europäische Dimensionen des Don Quijote in Literatur, Kunst, Film und Musik, Hamburg 2007, 171 – 234, bes. 172 – 174. 42 43

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äußerst bemerkenswerten Sonderfall in J. R. B.s Übersetzung, in der das Ende des Romans gänzlich anders dargestellt und interpretiert wird. Die letzten Sätze lesen sich folgendermaßen:44 jedoch kam er [Don Quijote] wieder zu Gesundheit / und zu seinem guten Verstand/ so gar / daß er auch von allen seinen Nachbaren mit grosser Verwunderung umb Rath gefragt worden; also / daß man hätte sollen sagen / er habe nur zu dem Ende seinen Verstand verloren /damit er mit seinem Beyspiel bekräfftigte / daß die Ritters-Bücher nichts als rasende Schwärmereyen in sich halten / und wie schädlich es seye / solche mit Begierde zu lesen. (J. R. B., Bd. 2, 740 – 741)

Dies ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Quijote überlebt nicht nur, er wird auch zum leuchtenden Beispiel wider die Ritterromanzen erklärt. Das entspricht dem cervantinischen Original überhaupt nicht, erlaubt jedoch einige interessante Überlegungen. Wie bereits erwähnt, ist Filleau de Saint-Martin, der ja die Vorlage für J. R. B. lieferte, dem Ideal der bienséance des französischen Barocks, d. h. einer Orientierung an der Schicklichkeit und am guten Geschmack verpflichtet. Hier klingt auch das Horaz’sche Postulat des »prodesse et delectare« an, das ein didaktisches Literaturverständnis impliziert. Während Cervantes’ Ritter seinen Wahn erkennt und zum beinahe tragischen Held wird,45 deutet J. R. B. ihn als didaktisches Exemplum, das die Schädlichkeit der Ritterbücher herausstellt und, implizit, zu vernünftiger und sinnvoller Lektüre anleitet. In diesem Zusammenhang kann auch der Gedanke des happy ending hier eine Rolle spielen: Erst durch das umgeschriebene, glückliche Ende des Romans kann Don Quijote eine solche Vorbildfunktion zuerkannt werden.

IV. Don Quijotes Geisteszustand wird in den Übersetzungen auf ganz unterschiedliche Weise dargestellt. Zunächst lässt sich feststellen, dass alle Übersetzungen eine größere lexikalische Vielfalt aufweisen als Cervantes’ Roman. Während Cervantes bei einigen Schlüsselbegriffen wie (el) loco, loco, locura(s) und disparate(s) bleibt, variieren die Übersetzungen hier zum Teil sehr. Die Vielfalt der Übersetzungsvarianten dürfte in der jeweilig gewünschten Wirkung zu suchen sein, vor allem in der angestrebten emphatischen Funktion. Besonders gilt dies für die burlesken Elemente in Teil I. Gleichzeitig spiegeln die verschiedenen Übertragungen auch häufig ihre 44 J. R. B.s Fassung hat kein eigenes Kapitel II.74, das stattdessen in stark gekürzter und äußerst korrumpierter Form in II.73 integriert ist. 45 Vgl. Allen, Don Quixote: Hero or Fool?, 83 – 90.

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Zeit und die zeitgenössische Rezeption Don Quijotes wider. Die älteren Übersetzungen versuchen noch, den spanischen Text in ihren eigenen Kontext zu übertragen, besonders deutlich wird dies bei Shelton; auch metaphorische Übersetzungen der Schlüsselbegriffe finden sich vorrangig in den frühen Übertragungen. Die signifikanteste Veränderung stammt aus dem Barock, wenn J. R. B. in der Folge von Filleau de Saint-Martin das Ende des Romans vollständig umschreibt und zum literarischen Lehrstück umdeutet. Die englischen Übersetzungen des 18. Jahrhunderts von Jarvis und Smollett lassen das Exaltierte Quijotes anklingen und spiegeln die Rezeption des Romans als Burleske und Satire. In der hier nur kurz vorgenommenen Betrachtung von Tiecks Übersetzung deutet sich die Idealisierung des Don Quijote durch die Romantiker bereits an. In den seit dem späten 19. Jahrhundert erschienenen Übertragungen lässt sich eine Veränderung der Übersetzungsweise feststellen: Die philologische Korrektheit hat deutlich zugenommen, und die Übersetzer weisen z. B. immer wieder auf kulturelle Unterschiede und schwer übertragbare sprachliche Feinheiten hin. Natürlich können die hier sehr punktuell diskutierten Übersetzungsvarianten cervantinischer Schlüsselbegriffe nicht umfassend Aufschluss über die jeweilige Perzeption von Don Quijotes Geisteszustand geben, dafür sind der Roman und sein Protagonist zu komplex. Sie können jedoch als Anzeichen für die verschiedenen Ebenen und Deutungsmöglichkeiten gelten, die in der Figur Don Quijotes angelegt sind.

Anhang: Ausgewählte Übersetzungsvarianten einiger Schlüsselbegriffe Ausgewählt wurden die Wörter, die von Cervantes typischerweise zur Beschreibung von Don Quijotes Geisteszustand oder seinen Taten verwendet werden. Bei den Übersetzungsvarianten wurden nur die Übertragungen aufgenommen, die mindestens zweimal auftauchen; die einzige Ausnahme hierbei ist wegen ihrer Kürze Caesars Übersetzung. Aufgeführt sind die Übersetzungsvarianten nach Häufigkeit.

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Elisabeth Winkler Tabelle 1 Ausgewählte Übersetzungsvarianten einiger Schlüsselbegriffe (deutsch)

Cervantes

Caesar

J. R. B.

Tieck

Braunfels

Lange

(el) loco

Phantast

Narr, närrisch

Narr, Tor

Narr, Verrückter

Verrückter, Narr, verrückt

loco

Thor, mit einem Hasenbalge gefüttert

Narr, närrisch

närrisch, Narr, unsinnig, verrückt, töricht

verrückt, toll, Narr

verrückt, Verrückter, närrisch

locura(s)

Thorheit(en), Narrheit

Thorheit(en), Aberwitzigkeit(en), (Narren-) Possen, Narrheit, Wahnsinnigkeit(en)

Narrheiten, Torheit(en), Tollheit(en), Unsinnigkeit(en)

Verrücktheit, Narrheit, Torheit, Narretei(en), Tollheit(en)

Wahn, Verrücktheit(en), Wahnsinn

disparate(s)

Thorheiten, ungereimbden Sachen / Dinges

Thorheit(en) Tollheit(en), Wahnsinnig- Unsinn, keit(en), Torheit(en) närrische Thaten, wahnsichtige / törichte /närrische Reden, närrische / seltsame Sachen

Narretei(en), Unfug, Unsinn, Unsinn, ungereimtes / Narrheit tolles / unsinniges / widersinniges Zeug

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Tabelle 2 Ausgewählte Übersetzungsvarianten einiger Schlüsselbegriffe (englisch) Cervantes

Shelton

Jarvis

Smollett

Ormsby

Grossman

(el) loco

madman, mad, Bedlam, fool

madman, lunatic, mad

madman, lunatic, mad

madman, mad, lunatic

madman, crazy, lunatic

loco

mad, madman, fool, distracted, out of his wits

mad, insane, madman, distracted

mad, madman, distracted, frantic

mad, madman, crazy

mad, crazy, madman

locura(s)

madness, folly / follies, mad pranks / tricks, frenzy

madness, frenzy, folly / follies, mad fit / pranks / things / tricks, malady

madness, disorder, extravagancies, mad pranks / actions, frenzy

madness, craze, mad fit / freaks / things / doings, folly

madness, crazy fits / things / actions, mad things / acts, craziness

disparate(s)

follies, raving(s), foppeies

extravaganc(i)es, absurdities, extravagant discourse / fancies / fictions

extravaganc(i)es, nonsense, folly, madness, extravagant fancies / action / whim / assertions

absurdities, nonsense, folly, vagaries

foolishness, nonsense, absurdities, crazy things, lunacies, foolish remarks / things

»Songez à librement vivre« – Cyrano de Bergeracs L’Autre Monde ou Les États et Empires de la Lune als Anleitung zum selbstständigen Denken Von Isabel Müller

I. Vorbemerkung Cyrano de Bergeracs Roman L’Autre Monde ou Les États et Empires de la Lune, der phantastische Bericht über eine Reise zum Mond, erscheint im Jahr 1657, zwei Jahre nach dem Tod des Autors.1 Der Herausgeber der Druckfassung, Cyranos langjähriger Freund Henri Le Bret, bereinigt den Text von seinen anstößigsten Passagen und gibt ihm den (im Original fehlenden) Titelzusatz Histoire comique2 – wohl um den zahlreichen Spitzen gegen den Klerus und die herrschende Ordnung die Schärfe zu nehmen.3 Auch wenn dem Werk unmittelbar nach Erscheinen Erfolg beschieden ist, 1 In Manuskriptform wird der Text jedoch wohl schon früher zirkuliert sein, einiges deutet darauf hin, dass Cyrano die Arbeit an dem Roman bereits im Jahr 1649 abgeschlossen hatte. Siehe hierzu Jacques Prévot, Cyrano de Bergerac romancier, Paris 1977. 2 Als ›histoires comiques‹ bezeichnet man im 17. Jahrhundert romanhafte Texte burlesk-komischen Inhalts, deren erstes und affichiertes Ziel die Unterhaltung der Leserschaft ist. Dies bedeutet nicht, dass sich in ihnen nicht auch Momente der Gesellschaftskritik fänden. Diese werden durch den komischen Rahmen, in den sie eingebettet sind, jedoch gleichsam abgefedert (nichtsdestoweniger gerät auch diese Romanform, vor allem ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, ins Visier der Zensur). Zur Geschichte und den Merkmalen der Gattung siehe den gut dokumentierten Überblick von Ansgar Thiele, »Die Histoire comique des 17. Jahrhunderts«, in: A. T., Individualität im komischen Roman der Frühen Neuzeit (Sorel – Scarron – Furetière) (Spectrum Literaturwissenschaft 9), Berlin / New York 2007, 56 – 83. 3 Eine Vorstellung davon, wie das Original ausgesehen haben könnte, vermitteln uns die drei überlieferten Handschriften (Paris, Bibliothèque Nationale, ms. 4558 des Nouvelles Acquisitions; München, Staatsbibliothek, ms. 420; Sidney, Bibliothèque Fisher, University of Sydney, RB Add. ms. 68), die alle lediglich den hier verwendeten Titel L’Autre Monde ou Les États et Empires de la Lune aufführen; einen Autographen gibt es nicht.

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gerät es in den folgenden Jahrhunderten weitgehend in Vergessenheit: Der klassischen Ästhetik war die barocke Stil- und Gattungsmischung,4 wie sie in L’Autre Monde so charakteristisch zutage tritt, ein Dorn im Auge, und auch die Aufklärer konnten dem Roman dieses »[auteur] plaisant assez mauvais et un peu fou« – so das Urteil Voltaires5 – nur wenig abgewinnen.6 Erst Romantiker wie Charles Nodier und Théophile Gautier rehabilitieren Text und Autor und feiern Cyrano als einen Dichter, der es gewagt habe, sich dem klassizistischen Konformitätsdruck zu widersetzen. Dementsprechend sehen sie in L’Autre Monde zuallererst ein Beispiel für den von der ›doctrine classique‹ verfemten burlesk-grotesken Stil; das Nebeneinander unterschiedlicher Diskurse und Stilregister erscheint als burleske Spielerei eines von Phantasie überbordenden Geistes.7 Die moderne Literaturkritik hat den Blick auf die philosophischen und naturwissenschaftlichen Gegenstände gelenkt, die in dem Roman verhandelt werden.8 Dies hat zum einen zu einer Würdigung des Autors als Denker und Intellektueller geführt – welche das romantische Bild vom verwegenen Haudegen wieder in ein rechtes Licht rückte9 –, zum anderen ein Bewusst4 Diese Gattungsmischung macht es auch so schwer, den Text einem bestimmten literarischen Genre zuzuordnen. In Literaturnachschlagewerken findet man ihn unter Reise- und Abenteuerroman, Science Fiction, oder gar dem utopischen Roman aufgeführt. Zur Gattungsmischung als einem Distinktionsmerkmal barocker Literatur vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus, »Gattungsmischung – Gattungskombination – Gattungsnivellierung. Überlegungen zum Gebrauch des literarhistorischen Epochenbegriffs ›Barock‹«, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer (Hgg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachtheorie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 486), Frankfurt am Main 1985, 213 – 233. 5 In einer Fußnote zum Xénophanes-Artikel in seinen Questions sur l’Encyclopédie. 6 Vgl. Madeleine Alcover, »Sisyphe au Parnasse: La réception des œuvres de Cyrano aux XVIIe et XVIIIe siècles«, Œuvres et critiques, 20,1 (1995), 219 – 250. 7 Vgl. Rosa Galli Pellegrini, »L’Image de Cyrano au XIXème siècle«, in: Dario Cecchetti (Hg.), Studi di storia della civilta letteraria francese. Mélanges offerts à Lionello Sozzi, 2 Bde. (Bibliothèque Franco Simone 25), Paris 1996, Bd. 2, 831 – 849. 8 Es seien hier, in chronologischer Reihenfolge, nur einige wenige Titel genannt: A. W. Loewenstein, »Die naturphilosophischen Ideen bei Cyrano de Bergerac«, Archiv für Geschichte der Philosophie 16 (1903), 27 – 58; Pierre Juppont, »L’œuvre scientifique de Cyrano de Bergerac«, Mémoires de l’Académie des Sciences de Toulouse 7 (1907), 312 – 375; Maria Meder, Das Weltbild in Cyrano de Bergeracs Roman L’Autre Monde, Heidelberg 1941; Madeleine Alcover, La pensée philosophique et scientifique de Cyrano de Bergerac, Genève 1970, und Alexandra Torero-Ibad, Libertinage, science et philosophie dans le matérialisme de Cyrano de Bergerac (Libre pensée et littérature clandestine 34), Paris 2009. 9 Dieses Bild verdankt sich nicht zuletzt dem 1879 uraufgeführten Versdrama Cyrano de Bergerac von Edmond Rostand – uns heute vor allen durch seine Verfilmung mit Gérard Depardieu bekannt –, der für seine Zeichnung der Titelfigur neben Tex-

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sein geweckt für mögliche ›didaktische‹ Absichten des Autors. So vertritt etwa Prévot die These, bei L’Autre Monde handele es sich um »une œuvre d’éducation du public«10, Cyrano bediene sich der Fiktion der Mondreise, um einem breiteren Publikum zeitgenössische wissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse zugänglich zu machen, und Gipper, der dem Text ein ganzes Kapitel seiner Studie Wunderbare Wissenschaft widmet, nennt diesen gar einen »Vorläufer der Vulgarisierungsliteratur«.11 An diesem Punkt setzt meine Untersuchung an. Auf den folgenden Seiten soll aufgezeigt werden, dass es in L’Autre Monde weniger um die Verbreitung bestimmter Wissenskomplexe oder die Propagierung eines neuen – materialistischen, cartesianischen oder sonstigen – Welt- und Menschenbildes geht, sondern um die Vermittlung einer skeptischen Geisteshaltung. Hierfür soll zunächst die Struktur des Romans betrachtet werden, wobei das Hauptaugenmerk auf dem Wandel liegen wird, den die Figur des Ich-Erzählers im Lauf der Handlung vollzieht, bevor in einem zweiten Schritt der Gehalt der Lehren, untersucht wird, die im Werk – vom Ich-Erzähler selbst (im Folgenden auch ›Je‹ genannt) oder seinen lunaren Gesprächspartnern – verkündet werden. II. L’Autre Monde – ein Bildungsroman? Das Motiv der Reise, das Verlassen des vertrauten Raums, die Überschreitung von Grenzen und die Entdeckung neuer Welten, dient in der Literatur bekanntlich häufig dazu, das sicher Geglaubte in Frage zu stellen. In der Begegnung mit dem Fremden gelangt der Reisende (und mit ihm der Leser) zu neuen Einsichten und Erfahrungen. Da der äußere Weg, den der Held zurücklegt, in der Regel auch einem inneren Weg entspricht, einer Entwicklung hin zu Reife und Erkenntnis, sind die Grenzen zwischen Reiseroman und Bildungsroman fließend. Betrachtet man die Struktur von L’Autre Monde, so fällt auf, dass der Roman, zumindest auf den ersten Blick, dem Schema des Bildungsromans entspricht: Der Ich-Erzähler begibt sich, Erkenntnis suchend, auf eine Reise zum Mond und trifft dort in Geten aus dem 17. Jahrhundert und den Cyrano-Essays von Gautier vor allem den hier besprochenen Roman als Inspirationsquelle nutzte. 10 Jacques Prévot, »Cyrano de Bergerac«, in: Histoire littéraire de la France 1600 – 1660, hg. Anne Ubersfeld und Roland Desné, Paris 1975, 121 – 129, hier 128: »[E]n vulgarisant les découvertes de son temps, en informant ses lecteurs de la réalité du monde mise au jour par les savants, Cyrano poursuit une œuvre d’éducation du public.« 11 Andreas Gipper, »Cyrano de Bergeracs L’autre monde. Die Geburt der Wissenschaftsvulgarisierung aus dem Geist der barocken Literatur«, in: A. G., Strategien naturwissenschaftlicher Vulgarisierung in Frankreich, München 2002, 45 – 121, hier 45.

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stalt der Mondbewohner auf ›Lehrmeister‹, welche ihn über ihre Sitten und Gebräuche, aber auch über naturwissenschaftlich-philosophische, ethischmoralische sowie theologische Fragen aufklären.12 Mit dem Heraustreten aus seinem ursprünglichen Umfeld verändern sich nicht nur seine Verhaltensweisen, sondern auch seine Überzeugungen; er kehrt von Grund auf verwandelt auf die Erde zurück. Der Clou besteht nun aber darin, dass diese Wandlung sich als eine parodistische Verkehrung des traditionellen Schemas von ›Unreife / Wissensdurst > Bildungsweg > Reife / Erkenntnis‹ vollzieht. Während die Figur des ›Je‹ zu Beginn als fortschrittlich denkender Zeitgenosse erscheint – geistreich, belesen, autoritätskritisch, gleichsam die perfekte Verkörperung des Libertin –, macht er nach seiner Ankunft in der ›anderen Welt‹ eine rückläufige Entwicklung durch und verlässt die lunaren Gefilde dümmer und bornierter, als er sie betreten hat. Betrachten wir die einzelnen Etappen dieses verkehrten Bildungswegs etwas genauer. Der Roman beginnt mit der Beschreibung einer Vollmondnacht: Der Ich-Erzähler kehrt mit vier Freunden von einer – allem Anschein nach feucht-fröhlichen – Landpartie nach Paris zurück. Beim Anblick des Mondes, dieser »boule de safran«,13 wie es, die burleske Tonlage markierend, im Text heißt, wetteifern die Gefährten im Auffinden kühner Metaphern für den Himmelskörper: der eine hält ihn für ein Loch im Himmel, der nächste für das Plätteisen, mit dem Diana Apollos Hemdkragen bügelt, ein dritter meint, er sei das Guckloch, durch das die Sonne nachts die Welt betrachtet. Nun ist ›Je‹ an der Reihe, der, wie es scheint, zunächst nur um die anderen zu übertreffen, die tollkühne These vertritt, bei dem Mond handle es sich um eine andere Welt: »[… ] je crois sans m’amuser aux imaginations pointues dont vous chatouillez le temps pour le faire marcher plus vite, que la lune est un monde comme celui-ci, à qui le nôtre sert de lune« (31). Vergeblich führt er Pythagoras, Epikur, Demokrit, Kopernikus und Kepler an, um seinen Standpunkt zu verteidigen, er erntet doch nichts als Gelächter. Vom Spott der Freunde angestachelt, sucht er nach einem Weg, seine These zu beweisen. Mysteriöse Begebenheiten – nach seiner Heimkehr findet er auf seinem Schreibtisch ein Buch des Wissenschaftlers Cardano vor, das just an jener Stelle aufgeschlagen ist, an der dieser von seiner Begegnung mit Mondwesen berichtet – bestärken ihm in seinem Vor12 Hierzu schon Prévot: »[… ] son voyage consiste en une succession de rencontres où les interlocuteurs – comme dans un roman d’apprentissage – lui tiennent des discours qui devraient l’instruire.« (in: Libertins du XVIIe siècle, hg. J. P., Paris 1998, 1545). 13 Cyrano de Bergerac, Voyage dans la lune (L’Autre Monde ou Les États et Empires de la Lune), hg. Maurice Laugaa, Paris 1970, 31. Nachfolgende Seitenverweise nach dieser Ausgabe.

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haben, sodass er es schließlich als göttlichen Auftrag ansieht, die Menschheit von der Richtigkeit seiner These zu überzeugen: »[… ] je pris toute cette enchaînure d’incidents pour une inspiration de Dieu qui me poussait à faire connaître aux hommes que la lune est un monde« (32).14 Und wie sollte dies besser gelingen, als wenn er mit einer Reise zum Mond den letzten Zweifel beseitigte: »Mais, ajoutais-je, je ne saurais m’éclaircir de ce doute, si je ne monte jusque-là?« (32) Der Begriff »doute« ist mit Bedacht gewählt: für die philosophische Skepsis ist der Zweifel das Prinzip des Denkens. Zu gesicherter Erkenntnis zu gelangen ist nicht möglich, oder doch nur, wenn die Annahmen, die einer Hypothese zugrunde liegen, auch einer Prüfung unterzogen werden können (dies ist denn auch die Bedeutung des griechischen ›skepsis‹: eingehende Untersuchung, Überprüfung). Für die Skeptiker reicht der Verweis auf die Autorität einer Lehrmeinung nicht aus zum Beweis für die Wahrhaftigkeit des Gesagten, denn kein Dogma ist unumstößlich – aus dieser Perspektive ist es nur konsequent, dass die erste Verteidigungsstrategie des Ich-Erzählers: sich zur Untermauerung seiner These auf Gewährsmänner aus Antike und Neuzeit zu berufen, fehlschlagen musste.15 Während der absolute Skeptizismus die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ganz in Frage stellt – da jede Annahme ihrerseits auf Annahmen gründet, ist jeder Versuch, den Dingen auf den Grund zu gehen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt –, glaubt der Skeptizismus in seiner gemäßigteren Form, wie ihn Cyranos Zeitgenosse (und wohl auch Lehrer) Pierre Gassendi praktiziert,16 an die Möglichkeit, aus der Erforschung sinnlich wahrnehmbarer Phänomene Wissen abzuleiten. Betrachtet man vor diesem Hintergrund das Vorhaben des Protagonisten, zum Mond zu reisen, so stellt sich dieses wie der Versuch dar, eine Theorie – die der Vielheit der Welten – mittels eines Experiments zu überprüfen. ›Je‹ handelt also wie ein Empirist, der die eigene Erfahrung vor die überlieferte Lehrmeinung stellt. 14 Der ironische Seitenhieb ist unverkennbar: An dem mit Gott und der Auserwähltheit des Menschen begründeten geozentrischen Weltbild zu zweifeln, wurde von Cyranos Zeitgenossen wohl weniger als »inspiration de Dieu« denn als Gotteslästerung angesehen. Die parodistische Wirkung dieser Berufung auf Gott wird noch dadurch verstärkt, daß sich der Ich-Erzähler nur wenige Sätze später mit Prometheus vergleicht, der ja bekanntlich das göttliche Gebot gerade nicht befolgte: »Et pourquoi non [monter à la lune]? me répondais-je aussitôt. Prométhée fut bien autrefois au ciel dérober du feu.« (32) 15 »Mais j’eus beau leur alléguer que Pythagore, Epicure, Démocrite et, de notre âge, Copernic et Kepler, avaient été de cette opinion, je ne les obligeai qu’à s’égosiller de plus belle.« (31) 16 Ob Cyrano tatsächlich Gassendis Vorlesungen besuchte, wie verschiedene Quellen behaupten, lässt sich nicht mit Sicherheit belegen, unbestreitbar ist jedoch der Einfluss des Philosophen auf sein Werk (siehe hierzu: Olivier René Bloch, »Cyrano de Bergerac et la philosophie«, XVIIe siècle 149 (1985), 337 – 346).

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Ein erster Versuch, mit Hilfe von in Flaschen abgefülltem Morgentau zum Mond zu gelangen, misslingt: ›Je‹ landet in der Nouvelle France (Kanada), wo er von Soldaten aufgegriffen wird, die ihn aufgrund seines respektlos-ironischen Verhaltens sogleich dem Gouverneur vorführen. Als er von diesem erfährt, wo er sich gerade befindet, sieht er Galileis These von der Rotation der Erde bestätigt: »je lui dis qu’il fallait que la terre eût tourné pendant mon élévation; puisque ayant commencé de monter à deux lieues de Paris, j’étais tombé par une ligne quasi perpendiculaire en Canada.« (34) Während ihn die Jesuiten ob dieser Reden der Hexerei beschuldigen, zeigt sich der Gouverneur fasziniert von den Ansichten des Fremden und sucht ihn nachts auf, um sich dessen Theorien über das heliozentrische Weltbild, die Unendlichkeit des Universums und die Vielheit der Welten erläutern zu lassen. Hierbei wird deutlich, dass ›Je‹ nicht nur in den Wissenschaften versiert und mit den neuesten Entdeckungen vertraut ist, sondern auch ein begabter Redner: Er veranschaulicht seine Standpunkte mit Hilfe von Bildern und Metaphern aus dem Bereich des Alltäglichen – wie ein Lehrer bemüht, seinen Schüler nicht zu überfordern.17 Die Gespräche mit dem Gouverneur sind für den Ich-Erzähler jedoch nicht mehr als eine angenehme Zerstreuung; ihn beschäftigt weiterhin sein Vorhaben, auf den Mond zu gelangen. Doch auch sein zweiter Versuch, angestellt mit einer aus Holz gezimmerten Flugmaschine, scheitert. Enttäuscht erreicht er abends den Marktplatz Québecs, um zu sehen, wie sein Gefährt, von den Soldaten als Brennholz für das Johannisfeuer herbeigetragen, in Flammen aufgeht. Er versucht, das Feuer zu ersticken und wird dabei zusammen mit der Maschine in die Luft getragen (40). Dieser dritte – ungeplante – Start ist erfolgreich. Ironischerweise sind es die Soldaten, die ihm durch ihr Handeln ungewollte Starthilfe leisten. Die Assoziationen, die sich für den Leser – zumindest wenn er die Epoche vor Augen hat, in der L’Autre Monde geschrieben wurde – mit dem Johannisfeuer verbinden, sind sicherlich beabsichtigt: Scheiterhaufen, Verbrennung von Hexen und Ketzern. Die Verbrennung der Flugmaschine gleicht einer Verbrennung in effigie:18 ›Je‹, der mit seinen ketzerischen Ansichten, seinem autoritätskritischen Verhalten und seiner Kenntnis indexierter Schriften der Vergangenheit und Gegenwart der Prototyp eines Libertins zu sein scheint, wird von der Kirche, in Gestalt der Jesuitenpatres, der Hexerei angeklagt und von der staatlichen Gewalt, den Soldaten, symbolisch hingerichtet.19 17 Die Bewegung der Erde um die Sonne etwa vergleicht er mit einer Wachtel, die man über der Feuerstelle um ihre eigene Achse kreisen lässt, damit sie von allen Seiten gar wird (35 – 36). 18 Für eine andere Interpretation des Johannisfeuers – das Feuer als Ritus der Reinigung – siehe Prévot, Cyrano de Bergerac Romancier, 77.

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Die Reise auf den Mond bedeutet für den Ich-Erzähler zwar eine Befreiung aus den Zwängen des staatlichen und kirchlichen Dogmatismus20, diese vollzieht sich jedoch unfreiwillig: Die irdischen Autoritäten verbannen ihn, sie entledigen sich des unbequemen Geistes. ›Je‹ landet auf dem Mond, und zwar in jenem Teil, in dem sich das irdische Paradies, »le Paradis terrestre«, befindet.21 Sein Sturz wird abgefedert durch den Baum des Lebens, »l’Arbre de Vie«, dessen Frucht ihn, der schon halbtot war, wieder zu Kräften kommen lässt (41 – 42). Das Bild, das sich seinen Augen bietet, ist das einer wunderbaren Idylle: friedvolle Harmonie und Ruhe in unberührter Natur. Die Beschreibung des heiligen Ortes wirkt wie ein Einschub, der sich durch seinen poetisch-ekstatischen Stil gänzlich von dem übrigen Text unterscheidet: Là, de tous côtés, les fleurs, sans avoir eu d’autres jardiniers que la nature, respirent une haleine sauvage, qui réveille et satisfait l’odorat; là l’incarnat d’une rose sur l’églantier, et l’azur éclatant d’une violette sous des ronces, ne laissant point de liberté pour le choix, vous font juger qu’elles sont toutes deux plus belles l’une que l’autre; là le printemps compose toutes les saisons; là ne germe point de plante vénéneuse que sa naissance ne trahisse sa conservation; là les ruisseaux racontent leurs voyages aux cailloux; là mille petites voix emplumées font retenir la forêt au bruit de leurs chansons; et la trémoussante assemblée de ces gosiers mélodieux est si générale qu’il semble que chaque feuille dans le bois ait pris la langue et la figure 19 Dieses Schicksal widerfuhr im Jahre 1625 – also knapp 25 Jahre vor der wahrscheinlichen Niederschrift des Romans – dem Dichter Théophile de Viau, der von jesuitischer Seite der Mitautorschaft an der Sammlung Le Parnasse des poètes satyriques (1622), einer Sammlung von blasphemischen, teilweise recht obszönen Gedichten, verdächtigt wurde. 20 Zum Klima der Angst und Unterdrückung, das jede freie Meinungsäußerung im Keim zu ersticken suchte, siehe Jacques Prévot, »Le libertinage«, in: Histoire littéraire de la France 1600 – 1660, hg. Anne Ubersfeld, Roland Desné, Paris 1975, 111 – 119, hier vor allem 112: »L’alliance de l’Église et de l’État, l’interpénétration des milieux universitaires et religieux, le conservatisme social et intellectuel, ont permis l’établissement d’institutions puissantes qui empêchent, jusqu’à mort d’homme s’il le faut, l’expression libre d’une pensée; non seulement elles maintiennent le dogme dans son intégrité, mais elles s’attachent à éliminer tous ceux dont les opinions pourraient ultérieurement le mettre en cause. Et par dogme n’entendons pas seulement le dogme religieux, mais tout ce qui depuis saint Thomas constitue en Occident le système du monde, sa représentation, la place de l’homme et sa nature; aristotélisme et scolastique gouvernent la science et la philosophie aussi bien que la religion.« 21 Der Mond war einer der Orte, an denen man in Spätantike und Mittelalter das irdische Paradies vermutete, vgl. Leo Schaffczyk, »Paradies: Theologie«, Lexikon des Mittelalters, Stuttgart 2000, CD-ROM Ausgabe, Bd. 6, 1697 – 1698. – Im Roman ist das ›irdische Paradies‹ nicht Teil dessen, was wir im Folgenden als ›Mondreich‹ oder ›Mondgesellschaft‹ bezeichnen (den im Titel genannten »États et Empires de la Lune«), sondern bildet einen durch eine nicht genauer definierte Grenze von der übrigen Welt des Mondes abgetrennten Raum.

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d’un rossignol; écho prend tant de plaisir à leurs airs qu’on dirait à les lui entendre répéter qu’elle ait envie de les apprendre [ …]. (42 – 43).22

Die friedliche Stille wird jedoch schon bald von einer Person gestört, die sich auf Nachfrage als Prophet Elias zu erkennen gibt und ›Je‹ Auskunft über den Ort und seine Bewohner erteilt. Sein Bericht, der sich monologartig über mehrere Seiten erstreckt (44 – 52), enthält die Geschichte Adams und Evas, Enochs, Achabs, der Tochter Noahs,23 und seiner selbst. Wie der Leser jedoch schnell gewahr wird, handelt es sich dabei um eine parodistische Version der biblischen Geschichten. So erfährt man beispielsweise, dass der Feuerwagen, mit dem Elias zum Himmel auffuhr, nicht etwa von Pferden gezogen wurde, wie es die Heilige Schrift berichtet24, sondern sich mit Hilfe einer immer wieder in die Höhe geworfenen Magnetkugel vorwärtsbewegte. Betrachtet man seine Geschichten genauer, so entdeckt man ein ihnen gemeinsames Motiv: Alle Personen, von denen Elias berichtet, gelangten aus eigener Kraft, ohne göttliche Wunderwirkung, ins irdische Paradies bzw. verließen dieses wieder: Adam ergreift aus Angst vor weiterer göttlicher Bestrafung die Flucht und gelangt, gemeinsam mit Eva, nur mit Hilfe seiner Willenskraft auf die Erde; Enoch steigt zusammen mit dem Opferrauch, den er zuvor in Gefäßen eingeschlossen hatte, in die Höhe; Elias schließlich bedient sich eines Eisenwagens und einer Magnetkugel und Achab eines simplen Bootes, um auf den Mond zu gelangen. Der Prophet selbst bringt es auf den Punkt: »Je ne vois point de merveille en cette aventure« (48). Die Redewendung ist ganz bewusst verwendet: Die Bewohner des irdischen Paradieses gelangten nicht durch ein göttliches ›Wunder‹ an diesen Ort, sondern mit Hilfe ihres Willens und selbstgefertigter technischer Apparate. Was im Bibeltext als »merveille« erscheint, lässt sich ›in Wahrheit‹ plausibel erklären. Wenn Gott also nicht vonnöten ist, um wundersame Dinge geschehen zu lassen, so ist dies nur einen Gedankenschritt von einem atheistischen Weltbild entfernt, in dem alles durch natürliche Gesetzmäßigkeiten zu erklären ist. Der Prophet Elias ein Materialist? Cyrano bedient sich der Figur des Elias, einer bis zur Lächerlichkeit verzerrten Karikatur der biblischen Gestalt, um den frommen Glauben an Wunder und den Wahrheitsanspruch und die Autorität der biblischen Schriften zu parodieren. Er geht dabei besonders dreist vor, ist es doch ausgerechnet 22 Die Beschreibung der paradiesischen Idylle geht im Text über mehrere Seiten (42 – 44), doch schon am hier zitierten Auszug wird deutlich, dass Cyrano auf die klassischen Elemente des locus amoenus rekurriert. 23 Weder im biblischen Text (Genesis 6,6 ff.) noch in den apokryphen Schriften ist die Rede von einer Tochter namens Achab (lediglich die drei Söhne Noahs werden namentlich erwähnt), es handelt sich hier offenbar um eine Erfindung des Autors. 24 2. Buch der Könige 2,1 – 18.

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ein Prophet, ein Sprachrohr Gottes, dem er diese Blasphemien in den Mund legt.25 Doch gibt es eine weitere Deutung dieser Figur, die in eine ganz andere Richtung weist. Wäre es nicht möglich, dass der Autor diejenigen seiner libertinistischen Zeitgenossen aufs Korn nimmt, die behaupten, für alles gäbe es eine logische, mit den Gesetzen der Wissenschaften vereinbare Erklärung und dabei auch vor den abstrusesten Theorien nicht zurückschrecken? In diesem Fall hätten wir es hier mit einer frühen Kritik am Wissenschaftsglauben und blindem Rationalismus zu tun. Beide Lesarten sind möglich (und müssen einander auch nicht zwingend ausschließen). Da sich die Position des Autors nicht eindeutig bestimmen lässt, bleibt es allein dem Leser überlassen, für welche Interpretation er sich entscheidet. Festzuhalten wäre, dass diese Vieldeutigkeit ein Merkmal des Texts als Ganzem ist. Cyrano verzichtet darauf, seine eigene Wertung der im Lauf des Romans von unterschiedlichen Figuren vertretenen Meinungen und Theorien herauszustellen – keine Figur kann als sein Sprachrohr gelten –, weshalb Interpretationsansätze, die L’Autre Monde als Pamphlet für eine bestimmte philosophische oder wissenschaftliche Schule verstehen, auch problematisch sind.26 Zurück zur Romanhandlung: Als der Ich-Erzähler, der, auch wenn ihm im Gespräch weitgehend die Rolle des Zuhörers zukommt, doch nichts von seinem respektlos-kritischen Geist verloren hat, sich zu einer blasphemischen Bemerkung hinreißen lässt, wird er von einem wutentbrannten und – für einen Heiligen unziemlichen Art und Weise – fluchenden Elias aus dem irdischen Paradies vertrieben: Elie, pendant tout ce discours, me regardait avec des yeux capables de me tuer, si j’eusse été en état de mourir d’autre chose que de faim: – Abominable, dit-il, en se reculant, tu as l’impudence de railler sur les choses saintes, au moins ne serait-ce pas impunément si le Tout-Sage ne voulait te laisser aux nations en exemple fameux de sa miséricorde. Va, impie, hors d’ici, va publier dans ce petit monde et dans l’autre, car tu es prédestiné à y retourner, la haine irréconciliable que Dieu porte aux athées. (53)

War es zunächst eine irdische Instanz, die ihn von der Erde verbannte, so ist es nun auch das überirdische Gericht in Gestalt des Propheten, das ihn zum Ausschluss verurteilt. Das irdische Paradies, das dank der idyllischen Anfangsbeschreibung zunächst als Sinnbild des Friedens und der Harmonie erschien, entpuppt sich als Ort, der nicht frei ist von menschlichen Schwächen und Eitelkeiten und an dem abweichende Meinungen, genau wie auf der Erde, nicht toleriert werden. 25 Es ist denn auch kein Wunder, dass insbesondere diese Textpassagen in der Edition von Le Bret stark gekürzt bzw. abgeschwächt wurden. 26 Siehe etwa die Thesen der in Anm. 8 genannten Titel.

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Gleich einem zweiten Adam aus dem Paradies vertrieben, gelingt es dem Ich-Erzähler doch, im Flüchten einen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu entwenden. Von Hunger getrieben beißt er in die Frucht, die Warnung Elias’ nicht bedenkend, dass deren Schale Unwissenheit hervorruft: »Son fruit [sc. de l’Arbre de Science] est couvert d’une écorce qui produit l’ignorance dans quiconque en a goûté, et qui sous l’épaisseur de cette pelure conserve les spirituelles vertus de ce docte manger« (50). Die Folgen sind verheerend: Statt zur Einsicht in die höchsten Dinge zu gelangen, legt sich, kaum dass er von der Frucht gekostet hat, der dunkle Schleier der Unwissenheit über ihn (54). Der Verlust der geistigen Fähigkeiten markiert zugleich eine radikale Umkehr in der Konzeption der Figur. Trat ›Je‹ zuvor als Lehrmeister seiner Mitmenschen auf – man erinnere sich an die Szene mit dem Gouverneur von Kanada – wird er von dem Moment an, da er das irdische Paradies verlässt und das Mondreich betritt, selbst zum Belehrten, zum Schüler.27 Dies zeigt sich allein schon in der Abnahme seiner Redeanteile. Während er auf der Erde das Redegeschehen dominierte, ist er hier kaum mehr als der Stichwortgeber seiner unterschiedlichen Gesprächspartner.28 Nun könnte man glauben, dass dieser Rückfall in das Stadium der Unwissenheit, der ›tabula rasa‹, den Protagonisten nur noch empfänglicher machen müsste für die Lehren und Meinungen, mit denen er im Lauf seines Aufenthalts in der Mondgesellschaft konfrontiert wird. Denn dem Schema eines klassischen Bildungsromans zufolge ist es ja die Begegnung mit dem Fremden, welche den Helden reifen und zu Erkenntnis gelangen lässt. Stattdessen macht der Ich-Erzähler jedoch eine regressive Entwicklung durch. Dies zeigt sich zum ersten Mal, als er vor einem Gelehrtentribunal erscheint, das darüber zu befinden hat, ob es sich bei ihm um ein vernunftbegabtes Wesen handelt: Da er, anders als die kentaurenartigen Mondbewohner, auf zwei statt auf vier Beinen geht, hält man ihn nämlich für einen Vogel (daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er inzwischen die fremde Sprache erlernt hat: die Mondbewohner kommunizieren über eine Art Musik miteinander). Als er aufgefordert wird, zu Fragen der Philosophie Stellung zu nehmen, bringt er Argumente vor, die von seinen Gegenübern mühelos zerpflückt werden: 27 Er vollzieht damit den Rollentausch, der für die Mondgesellschaft ohnehin charakteristisch ist. Wie der Ich-Erzähler – und mit ihm der Leser – im Folgenden erfährt, gilt hier nämlich allein die Jugend als weise, da es allgemeiner Konsens ist, dass die Denkfähigkeit mit zunehmendem Alter abnimmt. Dementsprechend sind es auch die Väter, die ihren Söhnen Gehorsam und Ehrerbietung schulden, und nicht umgekehrt (vgl. 82 – 86). 28 Es häufen sich die Wendungen: »je lui demandai si …«, »j’interrogeai mon démon si …«, »je m’informai …«, die kurzen Fragen des Ich-Erzählers sind zumeist nur in indirekter Rede wiedergegeben.

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Ils m’interrogèrent entre autres choses de philosophie: je leur exposai tout à la bonne foi ce que jadis mon régent m’en avait appris, mais ils ne mirent guère à me la réfuter par beaucoup de raisons très convaincantes à la vérité. Quand je me vis tout à fait convaincu, j’alléguai pour dernier refuge les principes d’Aristote qui ne me servirent pas davantage que ces sophismes; car en deux mots ils m’en découvrirent la fausseté. Aristote me, me dirent-ils, accommodait des principes à sa philosophie, au lieu d’accommoder sa philosophie aux principes. (75)

Auffällig ist, dass ›Je‹, der auf Erden mit Kopernikus und Kepler argumentierte, sich vor dem Mondgericht auf einmal auf Aristoteles beruft. Während er zuvor als ein fortschrittlicher Denker in Erscheinung trat, verficht er nun die aristotelisch-scholastischen Lehren – jene Lehren also, die zu Cyranos Zeiten trotz neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse immer noch Anspruch auf Gültigkeit erhoben und gleich einem Dogma nicht angezweifelt werden durften. Auch beharrt er, der zuvor offen für vernünftige Argumente war, ja mehr noch: der Vernunft und dem Erfahrungswissen stets Vorrang vor der Autorität einräumte,29 mit einem Mal kindisch auf seinem Standpunkt: »[…] ils virent que je ne leur clabaudais autre chose, sinon qu’ils n’étaient pas plus savants qu’Aristote, et qu’on m’avait défendu de discuter contre ceux qui niaient les principes [ …]« (75).30 Kein Wunder also, dass der Rat der Weisen zu der Überzeugung gelangt, ›Je‹ könne unmöglich ein Mensch sein, es müsse sich bei ihm vielmehr um eine Art Vogel Strauß handeln. Doch nicht nur in philosophischen Fragen steht die Haltung des Ich-Erzählers im Kontrast zu den Positionen, die er auf der Erde oder im »Paradis terrestre« vertrat. Von den Jesuiten der Hexerei angeklagt, aus dem irdischen Paradies wegen Gotteslästerung verbannt, unterweist er nun, zum frommen Christen bekehrt, die Tochter der Königin, deren Maskottchen er ist, im christlichen Glauben: Elle [sc. la fille de la Reine] était si transportée de joie lorsque, étant en secret, je lui découvrais les mystères de notre religion, et principalement quand je lui parlais de nos cloches et de nos reliques, qu’elle me protestait les larmes aux yeux que si jamais je me trouvais en état de revoler à notre monde, elle me suivrait de bon cœur. (75) 29 Davon zeugt schon sein zu Beginn des Romans gefasster Entschluss, zur Beseitigung aller Zweifel an der Theorie von der Vielheit der Welten eine Reise zum Mond zu unternehmen. 30 Zu einem späteren Zeitpunkt im Roman – dieses Mal muss ›Je‹ sich für seine Behauptung, bei dem Mond handle es sich im Gegensatz zur Erde um keine Welt, rechtfertigen – macht er sogar die Schöpfungsgeschichte als Argument für die Richtigkeit seiner Thesen geltend (»je lui demandai ce qu’il pourrait répondre à l’autorité de Moïse et que ce grand patriarche avait dit expressément que Dieu [a]vait créé [la terre] en six jours«, 79), obwohl an deren Wahrheitsgehalt doch spätestens seit den Ausführungen des Propheten Elias Zweifel angebracht wären.

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Natürlich entgeht dem Leser der beißende Sarkasmus des Autors nicht, wenn dieser seinen Erzähler die Mysterien der Religion im Wesentlichen auf Glocken und Reliquien reduzieren lässt. Es ist jedoch wichtig zu unterstreichen, dass dieser Sarkasmus nicht der Figur selbst zugeschrieben werden kann, die von einem durchaus ernstgemeinten Missionierungseifer getrieben ist – was man schon daran erkennt, dass die Königstochter nicht die einzige ist, die ›Je‹ zum rechten Glauben bekehren will: auch eine Hofdame und ein junger Philosoph, der sogenannte ›fils de l’hôte‹, müssen seine Belehrungen über sich ergehen lassen (103 bzw. 109). Insgesamt präsentiert sich der Ich-Erzähler vom Moment des Eintritts in das Mondreich als das genaue Gegenteil dessen, wofür er zuvor stand. Darum verwundert es auch nicht, wenn er am Ende des Romans – er hat den Mond inzwischen, wenn auch unfreiwillig, wieder verlassen31 – folgendes Fazit seiner Reise zieht: J’admirai mille fois la providence de Dieu, qui avait reculé ces hommes, naturellement impies, en un lieu où ils ne pussent corrompre ses bien-aimés et les avait punis de leur orgueil en les abandonnant à leur propre suffisance. Aussi je ne doute point qu’il n’ait différé jusqu’ici d’envoyer leur prêcher l’Evangile parce qu’il savait qu’ils en abuseraient et que cette résistance ne servirait qu’à leur faire mériter une plus rude punition en l’autre monde.32 (118)

Trotz der Achtung und Sympathie, die er für seine lunaren Lehrmeister empfindet, trotz seiner Bewunderung für die technischen »merveilles« jener ›anderen Welt‹, urteilt er am Ende seiner Reise doch nur so, wie es das in Dogmen festgefahrene Denken seiner Zeit vorgibt: Er verurteilt die Mondbewohner als »impies«, die Gott zu Recht aus seinem Reich verstoßen habe.

III. Die Lehren von L’Autre Monde Die Lehren, die in dem Roman L’Autre Monde verkündet werden – sei es auf Erden von dem Ich-Erzähler selbst oder später auf dem Mond von den Wesen, denen er begegnet – entsprechen dem Spektrum der Meinungen 31 Er klammert sich an den ›fils de l’hôte‹, als dieser aufgrund seiner blasphemischen Äußerungen von einer schwarzen Gestalt gepackt und in die Hölle befördert wird. Bevor sie gemeinsam in den Vesuv stürzen, der den Höhlenschlund bildet, reißt ›Je‹ sich von seinem Gefährten los und rettet sich durch ein »Jésus Maria« vor dem sicheren Tod (116 – 117). 32 Cyrano spielt mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs »l’autre monde«: Bezeichnet dieser im Titel und im Lauf der Handlung die ›andere Welt‹, die das Mondreich darstellt, so steht er hier, an den Schluss des Romans gesetzt, für das Jenseits, die Hölle.

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und Ansichten, welche in den libertinistischen Zirkeln vertreten wurden, in denen Cyrano de Bergerac verkehrte: Heliozentrismus, ein materialistisches, an Epikur orientiertes Weltbild, Kritik an Autoritäten (Kirche, Staat, Vätergeneration, wissenschaftliche Autoritäten etc.), eine fortschrittlich-humanitäre Denkweise (Ablehnung des Krieges und der Todesstrafe), Forderung nach einem freizügigeren Umgang mit der Sexualität, Kritik am Wunderglauben, Kritik am Wahrheitsanspruch der Bibel und am Dogmatismus der Kirche, skeptisches Christsein bis hin zum Atheismus. Über die Ansichten und die Haltung, die der Ich-Erzähler an den Tag legt, ehe er fatalerweise vom Baum der Erkenntnis kostet, wurde bereits ausführlich gehandelt, betrachten wir daher nun seine lunaren Lehrmeister – den Dämon des Sokrates, den Spanier und den ›fils de l’hôte‹ – etwas genauer.33 Die wichtigste Bezugsperson des Protagonisten während seines Aufenthalts im Mondreich ist der Dämon des Sokrates, »le démon de Socrate«. Ursprünglich ein Bewohner der Sonne, handelt es sich bei ihm um ein Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten, das in unterschiedliche Gestalten zu schlüpfen in der Lage ist. Da er lange Zeit auf der Erde verbrachte – hier wohnte er unter anderem im Körper des Philosophen Sokrates, daher auch sein Name –, spricht er nicht nur die Mondsprache, sondern auch Griechisch (55), und wird so von Beginn an zum Vermittler zwischen ›Je‹ und der Mondwelt. Er ist derjenige, der ihm über die Sitten und Gebräuche auf dem Mond Auskunft erteilt (die Nahrungsaufnahme, die Zahlweise, die Gesellschaftsordnung etc.) und ihn in einem vom dortigen Klerus angestrengten Prozess vor einer Verurteilung zum Tode bewahrt. Während der Dämon des Sokrates als Weisheits- und Moralinstanz erscheint, trägt die Figur des Spaniers, »l’Espagnol«, des einzigen Menschen, dem ›Je‹ auf dem Mond begegnet, deutlich komische Züge.34 Wegen seiner extravaganten Kleidung für einen Affen gehalten, muss er seit seiner Ankunft auf dem Mond ein Dasein als Maskottchen der Königin fristen. ›Je‹ wird eine Zeitlang zu ihm in den Käfig gesperrt, weil die Mondbewohner hoffen, die beiden würden Nachkommenschaft zeugen. Die Zeit der gemeinsamen Gefangenschaft nutzt der Spanier, um seinem vermeintlichen ›Weibchen‹ seine Vorstellungen über das Vakuum und die Einheit der Materie zu unterbreiten (67 – 73) – zwei Themenfelder, die zu Cyranos Zeiten als hochgradig spekulativ galten. Der junge Philosoph »fils de l’hôte«35 schließlich, den der 33 Ich beschränke mich hier auf die drei wichtigsten ›Lehrmeister‹, d. h. diejenigen Personen, die als einzige namentlich genannt werden und die am häufigsten und längsten zu Wort kommen – bei den Gesprächen, die ›Je‹ auf dem Mond führt, handelt es sich, genau genommen, um lange, didaktische Monologe seiner Gegenüber. 34 Nur unschwer erkennt man in ihm die Parodie Gonsales’, Titelheld des 1638 erschienenen utopischen Romans The Man in the Moone von Francis Godwin.

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Ich-Erzähler über den Dämon des Sokrates kennenlernt, vertritt in jeder Hinsicht die radikalsten Positionen: er lehrt einen streng materialistischen Atomismus (97 – 102), zweifelt an der Existenz Gottes (97), glaubt weder an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele (112 – 113) noch an den Menschen als Krönung der Schöpfung (109), propagiert einen freizügigen Umgang mit der Sexualität und bezeichnet jede Triebunterdrückung als widernatürlich, »contre nature« (87 – 88). Der Dämon des Sokrates, der Spanier und der ›fils de l’hôte‹ – dies sind die Figuren, die ab dem Moment, da ›Je‹ das Mondreich betritt, das Redegeschehen bestimmen. Keine der drei kann jedoch als Sprachrohr des Autors betrachtet werden, da sie sich alle, wenn man als Leser schon bereit ist, ihnen Autorität zuzusprechen, durch ihr Verhalten oder die Inkongruenz ihrer Lehren doch wieder disqualifizieren. Beim Spanier ist es die Eitelkeit und eine von schrägen Metaphern und Vergleichen so überreiche Rede, dass sie eher dazu angehalten ist, den Zuhörer in Verwirrung zu stürzen, als ihn zu erhellen, die ihn für die Rolle eines Lehrmeisters ungeeignet erscheinen lassen, beim ›fils de l’hôte‹ sind es sein Jähzorn und Dogmatismus sowie einige Ausführungen wie etwa die zur Optik (100), die schon zu Cyranos Zeiten als überholt gelten mussten. Selbst am Dämon des Sokrates, der doch insgesamt als eine so moderate und bedächtige Person in Erscheinung tritt, kommen Zweifel auf, wenn dieser über das angemessene Verhältnis der Generationen zueinander Aussagen trifft, die moralisch höchst bedenklich sind (82 – 86). Auch der Umstand, dass durch die drei Figuren ein so breites Panorama von Lehrmeinungen aufgespannt wird, dass deren Zusammenstellung disparat und ganz und gar beliebig wirkt, lässt darauf schließen, dass es dem Autor nicht um die Verbreitung bestimmter wissenschaftlicher Entdeckungen und Theorien gegangen sein kann.36 Entpuppen sich die lunaren Lehrmeister des Ich-Erzählers beim genaueren Hinsehen als wenig ideal, so gilt dies auch für die Mondgesellschaft als 35 Der seltsame Name, der aufgrund seines Klangs das Wortspiel ›fils de l’autre‹, also: Sohn des Teufels, erlaubt – wird im Text nicht erklärt: Angesichts des diabolischen Verhaltens, das diese Figur gegen Ende des Romans an den Tag legt (siehe vor allem 116), drängen sich Assoziationen mit dem Teufel oder Antichrist jedoch förmlich auf. 36 Zwar kann man mit Gipper argumentieren, diese Disparatheit sei dem burlesken Stil des Werks geschuldet (A. G., »Cyrano de Bergeracs L’autre monde«, 50 – 60), doch muss man sich vor dem Hintergrund, dass die exponierten Theorien so gut wie nie explizit einer bestimmten wissenschaftlichen oder philosophischen Schule zugeordnet (Campanella, Gassendi, Kepler o.ä.) und häufig so verzerrt dargestellt werden, dass es bereits eines wissenschaftlich kompetenten Lesers bedarf, um die entsprechenden Theorien zu erkennen, doch fragen, ob dem Text wirklich vulgarisierende Absicht unterstellt werden kann.

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Ganze. Diese erscheint zunächst als Hort der Weisheit, an dem frei ausgesprochen werden darf, was auf Erden unter Strafe steht. So erklärt der Dämon des Sokrates auf die Frage, warum er nicht zur Sonne zurückgekehrt sei: [ …] ce qui fait que j’y demeure actuellement sans bouger, c’est que les hommes y sont amateurs de la vérité, qu’on y voit point de pédants, que les philosophes ne se laissent persuader qu’à la raison, et que l’autorité d’un savant, ni le plus grand nombre, ne l’emportent point sur l’opinion d’un batteur en grange, si le batteur en grange raisonne aussi fortement. Bref, en ce pays, on ne compte pour insensés que les sophistes et les orateurs. (57)

Doch wie der Ich-Erzähler leidvoll erfahren muss, ist auch die ›andere Welt‹ eine absolutistische Monarchie, verfolgt der hiesige Klerus ebenso wie der irdische die Heterodoxen, herrscht auch hier ein rassistischer Überlegenheitsdünkel und werden vom Konsens abweichende Meinungen nicht toleriert.37 Die Jungen, die hier das Sagen haben, sind bei ihrer Machtausübung den Alten gegenüber ebenso anmaßend und ungerecht wie diese auf Erden ihnen gegenüber (95). Auch ist die auf dem Mond übliche Bestrafung der Jungfräulichkeit (»nous, chez qui la virginité est un crime«, 107) nicht besser oder gerechter als die auf Erden verordnete sexuelle Abstinenz. Wenn einem Atheisten auf dem Mond die Todesstrafe durch Ertränken droht (79), so gibt es nur im Vollzug der Strafe (Ertränken im Wasser vs. Verbrennen im Feuer) einen Unterschied zu den irdischen Gesetzen. ›Je‹ bringt es auf den Punkt, wenn er, wenn auch ohne dies weiter auszuführen, von »ce monde renversé« (95) spricht.38 Bei »l’autre monde« handelt es sich um das verkehrte Spiegelbild der französischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, in dem sich Dummheit und Borniertheit ebenso finden wie Weisheitsliebe und Freigeist. 37 Eine Schlüsselszene ist in dieser Hinsicht der Gerichtsprozess, der von Seiten des lunaren Klerus angestrengt wird, als ›Je‹ erklärt, dass das, was man hier für den Mond hielte, in Wirklichkeit die Erde, und umgekehrt der Planet, auf dem sie sich befänden, nicht die Erde, sondern der Mond sei (79 – 81). Nur die Intervention des Dämon des Sokrates bewahrt ihn vor dem Schlimmsten. Statt zum Tod durch Ertränken wird er dazu verurteilt, öffentlich zu widerrufen, was er denn auch macht – wobei ihm der Autor allerdings Worte in den Mund legt, die die ganze Absurdität dieser Situation entlarven: »Peuple, je vous déclare que cette lune ici n’est pas une lune, mais un monde; et que ce monde de là-bas n’est point un monde, mais une lune. Tel est ce que les Prêtres trouvent bon que vous croyiez.« (81) – Die Parallele zum Prozess gegen Galilei, der im Jahre 1633 vom Inquisitionsgericht zum öffentlichen Widerruf seiner Heliozentrismus-Theorie gezwungen wurde, springt ins Auge. 38 Zum Topos des ›mundus inversus‹ und seiner geschichtlichen Einordnung siehe Jean Lafond, »Le monde à l’envers chez Cyrano de Bergerac«, in: J. L., Lire, vivre où mènent les mots. De Rabelais aux formes brèves de la prose (Lumière Classique 22), Paris 1999, 121 – 132.

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IV. »Songez à librement vivre« Wenn keine der Figuren als Sprachrohr des Autors gelten kann und die verkündeten Theorien und Meinungen zu disparat und teils abstrus erscheinen, als dass man in ihnen eine ernsthafte Positionsnahme zu philosophischen, naturwissenschaftlichen oder ethischen Fragen der Zeit sehen könnte, ist dann doch alles nur ein Spiel, die Reise zum Mond nur ein Vorwand, um einen komisch-satirischen Blick auf die zeitgenössische Gesellschaft zu werfen? Wie deutlich geworden sein sollte, gibt es zumindest eine Lehre, die der Text dem Leser mitgibt: dem äußeren Anschein der Dinge zu misstrauen und jede Form des Dogmatismus kritisch zu hinterfragen. Über intertextuelle Verweise auf Gattungen wie den Bildungs- und Entwicklungsroman, den utopischen Roman, die Bukolik, den philosophischen Roman etc. baut der Text Erwartungen auf, die systematisch wieder unterlaufen werden: die Figur des Ich-Erzählers, die man anfangs ob seiner fortschrittlichen Reden mit der Person des Autors in Verbindung zu bringen versucht ist, macht eine rückläufige Entwicklung durch und verkündet am Ende gar die Überlegenheit der diesseitigen über die jenseitige Welt; die lunaren Lehrmeister erweisen sich als unzuverlässig; im irdischen Paradies herrschen entgegen dem ersten Eindruck keine paradiesischen Zustände und die ›andere Welt‹ ist eben nur das: anders, aber nicht besser. Der Roman lässt sich lesen wie eine Schulung im Skeptizismus.39 Wie es der IchErzähler vor Antritt seiner Mondreise tut – der in diesem Stadium noch am ehesten Modellcharakter haben könnte –, ist auch der Leser aufgefordert, Autoritäten in Frage zu stellen, sich eine eigene, auf Erfahrungswissen und Vernunftargumenten stützende Meinung zu bilden, kurz: jene Haltung der liberté d’esprit einzunehmen, welche die Libertins des 17. Jahrhunderts auszeichnete. Die zeitlose Lehre, der Gedanke, der diesem Werk zugrunde liegt, ist formuliert in der Maxime: »Songez à librement vivre« (dem Grußwort der Mondbewohner, 104). Frei übersetzt könnte sie bedeuten: Lernt selbstständig zu denken.40 39 Anders als dies gelegentlich vertreten wird (siehe etwa Prévot, »Le libertinage«, 119), halte ich die Brüche in der Figurenzeichnung deshalb auch nicht für das Ergebnis einer Selbstzensur, mit der sich der Autor von den gewagten Thesen seiner Romanfiguren zu distanzieren sucht. Vielmehr entspricht es dem Selbstverständnis des Autors als Freidenker, dass er die ›alten‹ Autoritäten und Doktrinen nicht einfach durch ›neue‹ ersetzt. Aus Ermangelung einer Identifikationsfigur ist der Leser gezwungen, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. 40 Ergänzend könnte man auf das Motiv des »instruire« in der Fortsetzung des Romans, Les États et Empires du Soleil, eingehen, die inhaltlich direkt an Les États et Empires de la Lune anschließt und hinsichtlich der Form (keine Kapiteleinteilungen, Ellipsen) und des Aufbaus einige Gemeinsamkeiten mit diesem aufweist. In Les États et Empires du Soleil flüchtet sich ›Je‹, der uns nun als Dyrcona, einem Anagramm des

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Autors, vorgestellt wird, mit Hilfe einer selbstgefertigten Maschine zu den Staaten der Sonne. Grund für seine Flucht ist wiederum die Verfolgung durch die irdischen Autoritäten (diesmal in der Stadt Toulouse), die ihn der Hexerei bezichtigen. Dyrcona trifft auf wunderbare Orte und macht die Bekanntschaft von hochentwickelten Wesen im »Peuple des régions clairées du Soleil«; auch im Sonnenstaat wird er wegen seiner Andersartigkeit verfolgt. – Wenn der Fortsetzungsroman hier nicht berücksichtigt wurde, so deshalb, weil er unvollendet geblieben ist und Zweifel an der Autorschaft Cyranos bestehen (Les États et Empires du Soleil erscheint 1662 auf Initiative von Cyranos jüngerem Bruder Abel, der, wenn er den Text nicht selbst verfasst, ihn doch wahrscheinlich stark bearbeitet hat).

Andreas Gryphius’ Tragödie Carolus Stuardus und die Geburt des Imaginaire der Revolution Von René Sternke

Gryphius’ Carolus Stuardus und die Revolution avant la lettre Der Schlesier Andreas Gryphius (1616 bis 1664) gilt als der größte Dichter des deutschen Barock.1 Die erste Fassung seiner Tragödie Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britanien erschien 1657.2 Gryphius arbeitete das Werk zu einer erweiterten Fassung aus, die er sechs Jahre später in der Ausgabe seiner gesammelten Werke publizierte.3 Die Besonderheit dieser Tragödie besteht darin, dass Gryphius sich für einen Gegenstand der politischen Aktualität entschieden hatte. Normalerweise gehörte das Sujet der Tragödie dem Mythos oder der weit zurückliegenden Geschichte an, während der britische König Karl I. erst 1649, also weniger als ein Jahrzehnt vor dem Erscheinen der ersten Fassung dieses Dramas, enthauptet worden war. Die Handlung der Tragödie setzt am Vorabend der Hinrichtung des Königs ein, also in den frühen Nachtstunden des 29. Januars 1649, und endet einige Minuten nach dem Verscheiden des Monarchen. Sie ereignet sich in London, am Hofe, in der näheren oder ferneren Umgebung des Opfers, und besteht in Diskussionen unter Personen, die das imminente Ereignis missbilligen oder herbeiwünschen. Hohe und niedrige Adlige, Geistliche unterschiedlicher Religion, Höflinge, Diplomaten, Militärs, Juristen und Damen tragen Argumente vor, um auf diese Weise einen Mord zu verhindern oder eine Bestrafung zu legitimieren. Doch die Position, die der Autor des Stückes bezieht, ist eindeutig. Er gibt dem Zu1 »[ …] Gryphius, der bedeutendste Dichter und unter zahlreichen Nebenbuhlern der glücklichste Dramatiker des Jahrhunderts [ …].« Karl Goedecke, Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, 17 Bde., Leipzig 1857 – 1881, Bd. 2 (1862), 480. 2 Vgl. Andreae Gryphii Deutscher Gedichte erster Theil, Breslau 1657. 3 »Andreæ Gryphii Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britanien. Trauer-Spil«, in: Andreae Gryphii | Freuden| und Trauer-Spiele | auch| Oden| und| Sonnette, Breslau 1663. – Wir zitieren folgende Ausgabe: Andreas Gryphius, Carolus Stuardus. Trauerspiel, hg. Hans Wagener, Stuttgart 2004.

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schauer unmissverständlich zu verstehen, dass diejenigen, die den Kopf des Königs fordern, nichts als ihre eigenen niedrigen Interessen verfolgen, dass sie das Volk täuschen, dass ihre religiöse, juristische und moralische Legitimation ungültig ist, dass sie eine Macht zu usurpieren suchen, die ihnen zu gewähren Gott nicht gewillt war. Der König verhält sich als wahrer Märtyrer; indem er im Glauben verharrt und das ihm auferlegte Leiden annimmt, ahmt er Christus nach. Die Dimension der Ereignisse, die vor den Augen des Zuschauers ablaufen, übersteigt die der Begebenheiten eines gewöhnlichen Tages und erlangt symbolischen Charakter. Außer denen, die zu jenem Zeitpunkt in London lebten, lässt der Dichter andersgeartete Wesen erscheinen, Sirenen oder Geister Verstorbener, die einer transzendenten Welt angehören oder einer der präsentierten Aktualität vorausgehenden oder folgenden Periode. Diese vergegenwärtigte Gegenwart ist nur der Gipfelpunkt eines historischen Prozesses, der sie einschließt. Auf diese Weise koinzidiert Gryphius’ Perspektive mit derjenigen der modernen Historiker, welche die Enthauptung Karls I. als eines der zentralen Elemente eines umfassenderen historischen Ereignisses ansehen, das sie die erste englische Revolution nennen.4 Zu Gryphius’ Lebzeiten hatte der Begriff Revolution noch nicht die heutige Bedeutung. Er diente zunächst der Bezeichnung astronomischer und astrologischer Phänomene.5 Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde er weiterhin verwendet, um politische Ereignisse wie etwa Staatsstreiche zu bezeichnen.6 Nach Auffassung 4 Vgl. z. B. Alexis de Tocqueville, L’Ancien Régime et la Révolution, Charleston 2008, 321. 5 Vgl. z. B. Johannes Krabbe, Newes Astrolabivm, Sampt dessen Nutz vnd Gebrauch| Nicht allein den Astronomis vnd Medicis, sondern allen KriegsOfficirern, Bawmeistern| Seefahrenden Schiffern vnd Bergleuten| Item Schantz vnd Büchsenmeistern | Auch allen Werckleuten | Als Goltschmieden | Mahlern | Bildhawern| Tischlern | Steinmetzen | Brunnenmachern| Wasserleitern | vnd allen andern| die sich des Circkels vnd Messens gebrauchen| sehr nützlich. Mit allem Fleiß gerissen vnd beschrieben | Durch Iohannem Krabbivm von Münden| der Mathematischen Kunst besondern Liebhaber | vnd Fürstl: Braunschw: bestalten Diener vnd Geometram. Jetzo auffs new von vielen Liebhabern dieser Kunst | mercklichen vermehret vnd gebessert| vnd wieder auffgelegt, Wolfenbüttel 1630, 45; Matthew Hale Knigth, The Primitive Origination of Mankind, condsidered and examined According to The Light of Nature, London 1677; Sebastian Brenner, Das Grosse Planeten-Buch Welches Aus dem Platone, Ptolomeo, Hali, Albumasar, Barlaam und Johanne Königsperger | auffs kürtzeste und fleißigste zusammen gezogen. Benebenst der Geomancia, Physiognomia und Chiromantia, wie auch der alten Weiber Philosophia und kleiner Cosmographia. Darinnen denn nicht allein was dem Menschen für Glück | Unglück | Reichthum | Armuth| gute und böse Zeit begegnen kan; Ingleichen wie einem ieden alle Jahr seine Revolution zu setzen | und ein Mensch durch alle Monat des Jahrs sich verhalten soll| kürtzlich und deutlich berichtet | sondern auch alle Länder und Wasser beschrieben werden, Leipzig 1695.

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moderner Historiker umfasst die erste englische Revolution den Zeitraum von 1642 bis 1649 und mündet in ein republikanisches Regime unter der Herrschaft Cromwells, den Commonwealth. Ihre Einschätzung der Politik Karls I. steht der Gryphiusschen diametral entgegen. Ihrer Auffassung nach habe dieser Monarch versucht, ein absolutistisches Regime zu errichten, indem er allein ohne das Parlament und unter dem Beistand seiner Günstlinge Strafford und Laud zu regieren versuchte, sich anschickte, Puritaner und Presbyterianer zu unterdrücken, indem er all seinen Untertanen eine gemeinsame anglikanische Liturgie aufdrang, die der katholischen nahe gekommen sei. Nach Gryphius bestand die Schuld des Königs allein darin, zu nachgiebig gewesen zu sein. Für ihn kommt alle Macht, gemäß der lutherischen Lehre, direkt von Gott. Ein Fürst, der seine Macht aus der Hand Gottes empfangen hat, ist allein seinem Schöpfer gegenüber verantwortlich. Kein Mensch ist berechtigt, ihn zu richten oder abzusetzen. Gryphius betrachtet die Revolutionäre, die er mit dem pejorativen Ausdruck »die freche Rott«7 bezeichnet, als einen Zusammenschluss von Verbrechern. Schon der Titel Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britanien lässt keinen Zweifel daran, dass die Enthauptung des Königs als die Ermordung jeglicher Majestät und Angriff auf die göttliche Ordnung angesehen werden muss. Mit der Inszenierung des Leidens des Opfers und seiner Familie, mit der Darstellung des Opfers in der Rolle des Märtyrers, mit der Idealisierung der Frauen als empfindsame und mitleidende Wesen, die sich bereits aufgrund ihrer Natur jeglichem kriminellen und gewaltsamen Vorgehen widersetzen, entwickelt Gryphius eine große Anzahl von Themen und Motiven, welche die contrarevolutionäre Literatur späterer Zeitalter wiederentdecken und wiederverwenden wird. Angesichts der Tatsache, dass das moderne Konzept der Revolution erst im 19. Jahrhundert entsteht, wird man die Bezeichnung ›contrarevolutionäres Stück‹ nur zögernd zur Bezeichnung dieser Tragödie verwenden wollen. Hüten wir uns davor, die Worte und die Konzepte gleichzusetzen. Letztere sind wohl in der Lage, unabhängig von den ersteren aufzutauchen, so dass sich die Partner erst später finden und 6 Vgl. z. B. François Bernier, Histoire de la derniere revolution des Etats du Grand Mogol, Dediée av Roy, Par le Sieur F. Bernier, Medecin de la Faculté de Montpellier, Paris 1670; Henry L. Delamer, The Works of the Right Honourable late L. Delamer, and Earl of Warrington: containing His Lordships Advice to His Children, Several Speeches in Parliament, &c. with many others Occasional Discourses On the Affairs of the Two Last Reigns being Original Manuscripts Written with His Lordships own Hand, London 1694, 353, 371 und 421. 7 Gryphius, Carolus Stuardus, 29. – Vgl. auch Gryphius’ Kommentare, in denen er die Ausdrücke »Independentische Rotte« und »junge Rotten« benutzt. Gryphius, Carolus Stuardus, 117 und 119.

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vereinigen. Aufgrund dieser Einsicht neigen wir dazu, in Gryphius’ Tragödie Carolus Stuardus einen Ort zu erkennen, an dem der Mythos, das Imaginäre und das Konzept der Revolution zum ersten Mal in Erscheinung treten. Der moderne Leser oder Zuschauer muss sich von seinen Gewohnheiten, ein Theaterstück zu beurteilen, freimachen.8 Obwohl die Situation in diesem barocken Werk außerordentlich angespannt ist, gibt sie keinen Anlass zu Wendungen, Peripetien, Überraschungen, Haltungs- oder Charaktermodifikationen der Figuren, ihrer psychischen Verwandlung oder moralischen Reifung. Die Handelnden handeln ohne Skrupel, die Leidenden leiden tapfer, niemand fällt aus seiner Rolle, und das Geschehen läuft geradewegs auf das tragische Ende zu, das sich von Anfang an ankündigt, das durch die Vergangenheit fixiert und als historische Tatsache bekannt ist. Determiniert ist diese Struktur durch die didaktische Funktion des barocken Trauerspiels und durch die Besonderheiten seiner Aufführungspraxis. Während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es Wandertruppen, die die deutschen Fürstentümer durchstreiften; es gab Opern und Ballette, die der höfischen Repräsentation dienten; aber es gab kein Theater, das dem, was wir heute kennen, entsprach. Eine Tragödie wie der Carolus Stuardus war dazu bestimmt, von den Schülern der Gymnasien auf die Bühne gebracht zu werden. Bekannt ist, dass das Stück 1665 in Zittau aufgeführt worden ist. In der Forschungsbibliothek Gotha haben wir zwei achtseitige gedruckte Broschüren gefunden, die bestätigen, dass das Trauerspiel 1671 in Altenburg gespielt worden ist, was Hans Wagener, der es 1972 neu herausgab, nicht bestimmt zu behaupten wagte.9

8 Zur Eigenart des Märtyrerdramas und seiner Infragestellung seit dem 18. Jahrhundert vgl. Jean-Marie Valentin, »Le théâtre, le national et l’humain«, in: Gotthold Ephraim Lessing, Dramaturgie de Hambourg. Traduction intégrale, augmentée des paralipomènes, d’une chronologie et de témoignages d’époque avec Introduction, hg. u. übers. Jean-Marie Valentin, Paris 2010, IX – CXXVI, hier LXVIII – LXXIII. 9 Hans Wagener, »Nachwort«, in: Gryphius, Carolus Stuardus, 155 – 166, hier 166.

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Das Stück wurde am 1. März 1671 in Altenburg, der zweiten Residenz des Herzogs von Sachsen-Gotha-Altenburg, unter dem Titel Der enthaüptete Carl Stuart | König in Grosz-Britannien10 zur Aufführung gebracht. Die Vorstellung begann mittags.11 Alle Rollen, einschließlich der weiblichen, wurden von Knaben gespielt, die in der Mehrzahl aus dem Herzogtum und besonders aus Altenburg selbst stammten.12 Adaptiert worden war das Stück vom Rektor des Gymnasiums, Paul Martin Sagittarius. In seiner Einführung lässt uns Sagittarius wissen, dass die Inspektoren der Schulen entschieden hatten, dass regelmäßig Aufführungen eines Dramas, sei es nun einer Komödie oder einer Tragödie, abgehalten werden sollten. Der Zweck dieser Vorstellung bestand darin, die studierende Jugend zu lehren, unerschrocken und ohne Schüchternheit zu reden. Die Aussprache sollte wohlklingend und angenehm sein, der Gefühlsausdruck adäquat, Verhalten und Stellungen angemessen. Offensichtlich hatte Sagittarius das Gryphiussche Stück aufgrund seines rhetorischen Wertes ausgesucht, bot es doch eine Reihe von Situationen, die es erforderlich machten, dass die jungen Schauspieler korrekt sprachen, sich gut hielten und tiefe Gefühle zum Ausdruck brachten.13 Sagittarius verrät nicht, in welchem Maße der Inhalt des Stückes seine Wahl bestimmt hatte. Die politische Tendenz des Trauerspiels konnte nirgendwo missfallen. Doch wissen wir, dass dieses Stück weniger beliebt war als andere Tragödien Gryphius’. Sagittarius nennt uns 10 Paul Martin Sagittarius, Der enthaüptete Carl Stuart| König in Grosz-Britannien | In der Fürstlichen Residentz-Altenburg| den 1. Mertz des 1671sten Jahrs| vorgestellet von M. Paulo Martino Sagittario, Rectore, Altenburg, Gottfried Richter 1671. – Vgl. Abb. 1. – Wir reproduzieren das Exemplar LP O 4º II, 00015 (32) der Forschungsbibliothek Gotha. 11 »Nun ist nichts mehr übrig| als das ich den hochgeneigten und günstigen Leser unterthänigst dienst- und freundl. ersuche| die hohe Gnade| Gunst und Freundschafft mir und der studirenden Jugend zuerweisen| und heutiges Tages | gönnets GOTT| nach Mittage gegen 12. Uhr auff dem gnädigst zugelassenen Schauplatz zuerscheinen| und dieses angestelte Trauer-Spiel mit einem liebreichen Ansehen und willigen Gehör zubeehren.« Sagittarius, Der enthaüptete Carl Stuart, B2r. – Vgl. Abb. 3. 12 Vgl. »Verzeichnüß der Personen.« B2v. – Vgl. Abb. 4. 13 »WEnn die studirende Jugend bey Vorstellung eines Freuden- oder Trauer-Spiels angeführet wird | empfindet sie davon nicht geringen Nutzen; denn zugeschweigen derer vielen Nutzbarkeiten bekömmt sie an statt der Blödigkeit einen unerschrockenen Muth zu reden | sie erlanget eine zierliche| wohlklingende| und mit denen Gemüths-Neigungen übereinkommende Außrede| und erlernet allerhand wohlanständige Sitten und Stellungen. Und auff diesen herrlichen Nutzen haben zweiffels ohne die Herrn Inspectores hiesiger Schulen gesehen| in dem sie unter andern guten Satzungen verordnet| daß nach Gelegenheit ein Drama der Jugend zum besten auffgeführet werde. Dieser löblichen Anordnung nun gehorsamst nachzuleben| habe ich den enthäupteten König in Groß-Britannien | Carl Stuarten aus des gelehrten Hn. Andr. Gryphii Seel. Trauer-Spielen vorzustellen erkohren.« Av. – Vgl. Abb. 2.

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seine Quelle. Er hatte das Stück der Auswahledition von Gryphius’ Trauerspielen entnommen. Es handelt sich also um die zweite Fassung, was von den von Sagittarius zitierten Passagen bestätigt wird. Sagittarius gibt ein Resümee der Handlung und zitiert die Reyen, welche die ersten drei Akte beschließen.14 Er geht davon aus, dass der Leser auf der Grundlage dieser Auszüge selbst in der Lage sein wird, sich einen Eindruck von dem Drama zu verschaffen.15 Das Stück ist also zentriert auf die Schauspieler und die Rollen. Die Schüler sollen lernen, sich zu repräsentieren und eine Rolle zu spielen. Die Welt ist ein Theater; das Leben ist eine Repräsentation; die historischen Ereignisse, in diesem Fall die Revolution, bilden ein Schauspiel. Diese Ideen werden in nahezu allen Szenen des Stückes ausgesprochen. Die bevorstehende Hinrichtung des Königs wird immer wieder eine Tragödie oder ein Schauspiel genannt. Für die Feinde des Opfers ist sie ein Freudenspiel. Der Ort der Enthauptung wird mit dem Wort »Schau-Platz«,16 benannt, dem Terminus, der auch die Bühne und den Ort der Aufführung bezeichnet.17

Die Revolution als grundlegende Änderung des Laufs der Geschichte Die Spielerfahrung der sich in die Rollen einfindenden jungen Akteure wird durch einen Blick von außen ergänzt, der in das Stück integriert ist. Jeder der fünf Akte des Dramas endet mit einem Reyen, einer Szene, in welcher ein sich aus symbolischen Figuren zusammensetzender Chor auftritt und die Tatsachen kommentiert. Nach dem ersten Akt sehen und hören wir den Chor der ermordeten englischen Könige. Es erscheint also eine reflektierende Instanz; und die Reflexion, die sie präsentiert, hat einen dialektischen Charakter: dreimal folgen Chor, Gegenchor und Abgesang aufeinander. In ihren Gesängen resümieren und generalisieren die Chöre die besonderen Ereignisse. Zu diesem Behuf bedienen sie sich keiner abstrakten Terminologie, sondern greifen auf Bilder zurück. Die komplexe Konfiguration Av – B2r. – Vgl. Abb. 2 et 3. 15 »Damit aber der Hochgeneigte Leser einigen entwurff dieses Trauer-Spiels haben möge | will ich den Inhalt iedweder Handlung| deren fünff | mit wenigen anzeigen.« Av. – Vgl. Abb. 2. 16 Gryphius, Carolus Stuardus, 111. 17 »Den Schauplatz eröffnet nach gewöhnlicher art der Vorredner| welcher in deutschen Reymen andeutet| was obangeregtes Trauer-Spiel in sich begreiffe| und ersuchet die sämtlichen Anwesenden ümb williges Anschauen und geneigtes Gehör.« Sagittarius, Der enthaüptete Carl Stuart, Av. – Vgl. Abb. 2. 14

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diverser Ereignisse, die eine gemeinsame Tendenz aufweisen und die wir mit dem Terminus ›Revolution‹ bezeichnen können, wird unter der Form von Bildern gedacht wie denen der Pest, der Umkehrung, der Hölle und der Beschmutzung: Die heisse Pest die Kirch und Herd| Vnd gantze Reich in nichts verkehrt| Auffrühr| das Ebenbild der Hellen| Daß die mit Blutt gefärbten Wellen| Mit tausend Leichen überdeckt Vnd das verderbte Land befleckt| Wil nach den Bürgerlichen Krigen| Auf Stuards trübem Mord-Platz sigen.18

Die Antizipation des Konzeptes der Revolution liegt in dem Wort »verkehren«, d. h. ›umwerfen‹ und ›in sein Gegenteil verwandeln‹. Die Kirche, die Herde, ganze Reiche werden in ihr Gegenteil, das Nichts, verwandelt. Dieses Bild des Revolutionierens wird durch das mehrfach wiederauftauchende Bild der Wellen versinnlicht. In der zitierten Passage ist die Beziehung zwischen der Verkehrung, welche die brennende Pest herbeiführt, und der Bewegung der durch diese Verkehrung verfärbten Wellen nur metonymisch. Etwas später jedoch, im zweiten Abgesang, wird das Meer als eines der vier Elemente evoziert, die sich verschworen haben, um Großbritannien seinem Verderben entgegen zu treiben. In dem von uns zitierten Text des ersten Chores wird die Revolution unter dem Bild der Pest präsentiert, gleichzeitig aber wird sie personifiziert; sie handelt bewusst und besitzt einen Willen, den Willen, zu siegen, indem sie Morde begeht. Während sich der erste Chor, der eine objektive Beschreibung der Tatsachen liefert, an die Zuschauer wendet, richtet der erste Gegenchor seine Worte an Albion, Großbritannien, um es zu fragen, wie es dazu komme, sich derart aufzuführen. Unter Bezug auf die Vorstellung, dass das Land ein Körper ist, wirft der Chor der englischen Nation, die ihren König enthauptet, vor, dass sie sich selbst verstümmle. Diese Idee wird im zweiten Abgesang aufgegriffen: »du hast dein Haubt verloren / Vnd taumelst in den Sand!«19 Im ersten Abgesang, welcher der Apostrophe an England folgt, wechselt der Chor erneut den Adressaten und wendet sich direkt an Gott, um ihn zu fragen, wie lange er der Verletzung seines heiligen Rechtes noch untätig zusehen wolle. Indem er sich an immer bedeutsamere Instanzen wendet, verleiht der Chor den beobachteten historischen Tatsachen eine immer größere Dimension. 18 19

Gryphius, Carolus Stuardus, 25. Ibid., 26.

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Die Welt ist ein Theater. Die Gestalten der Reyen, die dem historischen Schauspiel zur gleichen Zeit zusehen wie die Zuschauer dem Stück, versuchen den Sinn zu verstehen, der sich hinter Geschehnissen verbirgt, die der etablierten Ordnung zuwiderlaufen und die folglich unverständlich sind. Nach dem zweiten Akt sehen und hören wir zwei Sirenenchöre, die zweimal abwechselnd und dann gemeinsam in der Ordnung Chor, Gegenchor, Abgesang singen. Wie die Geister der ermordeten Könige entstammen diese aus der Fabelwelt kommenden Wesen einer andersartigen und transzendenten Welt. Sie greifen die von den Geistern der Toten bereits angesprochene Frage nach dem Sinn dieser außergewöhnlichen Ereignisse auf. Der erste Chor richtet sich direkt an den Himmel: Himmel ist das Zil der Dinge| daß des Höchsten Hand gesetzt Durch das schnelle Rad der Zeiten zu dem letzten Zweck gerückt! Da der weite Bau der Erden durch die strenge Glut verletzt Wird in Asch und Nichts verfallen! macht der Richter sich geschickt Die grosse Schuld zu rechen | Vnd alles einzubrechen.20

Schon der Chor der getöteten englischen Könige hatte die anormalen Begebenheiten als Symptome der anstehenden Bestrafung des englischen Volkes interpretiert. Jetzt deuten die Sirenen diese Ereignisse als Anzeichen für das Nahen des letzten Gerichts. In den zitierten Versen schreibt Gryphius der Geschichte eine Teleologie zu: Sie läuft direkt auf das Ende zu, das der Allerhöchste gesetzt hat. Gleichzeitig ist der Lauf der Zeiten, der durch ein Rad symbolisiert wird, zirkulär. Der Zerfall der sozialen Ordnung, der seinen Gipfelpunkt in der Hinrichtung des Königs erreicht, ist Bestandteil der allgemeinen Zerstörung, welche die Apokalypse charakterisiert. So verlieren die kriminellen Vorfälle, die Gott nicht tolerieren dürfte, ihre reine Negativität und nehmen innerhalb der Dialektik der Geschichte einen positiven Sinn an. Diese Hypothese über die Natur der Ereignisse wird im ersten Gegenchor der Sirenen aufgegriffen und vertieft. Aber hier werden die Ausrufezeichen, welche die von den Sirenen aufgeworfenen Fragen beenden, durch Fragezeichen ersetzt, tritt die Unsicherheit der Deutung stärker hervor. Hat der erste Chor das Rad der Zeiten heraufbeschworen, so besingt der erste Gegenchor erneut die Wellenbewegung: Rasen darumb durch die Wellen| stärcker als die Welle geht | Die geschwinden Sturm-erwecker?21

Im Abgesang der beiden Chöre wird die Hypothese, dass das Jüngste Gericht herankomme, noch weiter geschwächt. Letztendlich ignorieren wir 20 21

Ibid., 46. Ibid., 47.

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den Willen Gottes. Folglich könnten die unverständlichen Ereignisse eine Bedeutung besitzen, die wir nicht erfassen, könnten sie die Anzeichen einer vollkommen unvorhersehbaren Veränderung sein: Wie? oder stellt des Höchsten Macht Ein unerhörtes ändern an? Hat sich sein Geist auff was bedacht Das kein Gemütt ersinnen kan?22

An dieser Stelle antizipiert Gryphius’ Reflexion über die Ereignisse in England und in anderen Ländern, in denen er ähnliche Phänomene wahrnahm, das moderne Konzept der Revolution am stärksten. Der Dichter räumt ein, dass es eine fundamentale Veränderung des Laufes der Geschichte geben könne, die sich, obgleich sich sämtlichen traditionellen Werten entgegensetzend, in den allgemeinen Plan der Geschichte einfüge. Doch die anschließenden Verse lassen keinen Zweifel daran: Die Epoche, in der die Völker ihrer Hirten beraubt sein werden, wird eine Zeit des Elends.23 Resümieren wir Gryphius’ implizite Thesen zur Revolution. Die Revolution ist die Bewegung, die Veränderung, das revolvere, die Verkehrung, die Inversion von Oben und Unten, der Wandel der Ordnung und das Aufkommen einer neuen Ordnung. Sie ist ein Ereignis, das sich universell ausbreitet. Die Revolution wird beschrieben als eine Naturtatsache und gleichzeitig als ein außergewöhnliches Faktum, das der Natur zuwiderläuft. Sie ist die Krankheit, das Unwetter und die Hölle; sie ist das Böse und das Monströse, das die Notwendigkeit der Ordnung aufscheinen lässt. Die Revolution erscheint nicht nur als ein Werk der Zerstörung; sie beansprucht einen Sinn in der Geschichte. Das Phantasma der Revolution ist seinem Ursprunge nach ein christliches Phantasma: Die Heilige Schrift strukturiert die Geschichte, sie unterscheidet distinkte Phasen, ihre millenaristische Theorie, wie sie der heilige Johannes entwirft,24 fasst einen grundsätzlichen Wandel der Geschichte ins Auge.

Die Revolution und das Opfer Wir haben gesagt, dass der Ort der Aufführung des Schauspiels und der Ort der Opferung des Königs mit demselben Wort bezeichnet werden. Die barocke Bühne hat folgende Struktur. Sie wird vom Publikum durch einen Ibid. »Des Himmels Licht entbranter Schlag / Geht auff der Völcker Hirten loß / Nun rette wer sich retten mag| / Ihr Schafe fliht. Die Noth ist groß.« Ibid., 48. 24 Offb 20. 22 23

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Vorhang abgeteilt; im Innenraum der Bühne gibt es eine zweite Bühne, die von ihrem Umfeld durch einen weiteren Vorhang getrennt ist, der sich nur dann öffnet, wenn Szenen gezeigt werden, die einen symbolischen Wert besitzen. Bevor Karl I. den Weg des Kreuzes antritt, sehen wir einen seiner Richter erscheinen, der wahnsinnig geworden ist. Die Visionen dieser entfremdeten Persönlichkeit gestatten es Gryphius, künftige Ereignisse, die erst nach der Enthauptung des Königs statthaben werden, bereits zu vergegenwärtigen. Während des Monologs des Rasenden öffnet sich der Vorhang der inneren Bühne dreimal, und wir sehen die Vierteilung Hewletts, des Offiziers, der den Kopf des Königs vom Leib trennen wird, die Erhängung Cromwells und die Krönung Karls II.25 Die Struktur der barocken Bühne entspricht derjenigen des Ortes der Opferung, wie sie der heilige Paulus in seinem Brief an die Hebräer beschreibt: der vor der Hütte errichtete Vorraum war von seiner Umgebung durch einen Vorhang getrennt und hieß das Heilige. Hinter einem zweiten Vorhang aber war die Hütte, die das Allerheiligste genannt wurde.26 Der Vorhang, der den Eingang in das Heilige kennzeichnete, symbolisiert das Fleisch Christi.27 In Gryphius’ Tragödie erklärt der König seine Unschuld, doch ist er bereit, zu leiden und zu verzeihen. Das ganze Stück durchläuft eine Diskussion zwischen Personen, die darüber streiten, ob die Hinrichtung des Königs als ein Schauspiel begriffen werden muss, das die Fürsten warnen solle, oder als das Präludium zu einer Katastrophe. Der König erklärt vor seinem Tode, dass seine Exekution nicht ein Vorspiel für die Leiden des Volkes sein solle, sondern dass er vielmehr bereit sei, sein Leben für die Sicherheit, Freiheit und Rechte seiner Untertanen zu opfern und zu diesem Zweck auf die Knie zu gehen.28 Er möchte, dass sein Tod ein Opfer sei, das 25 Vgl. die Didaskalie des 5. Aktes. Während der geistig erkrankte Polehs auf der Bühne, dem »Schau-platz«, schreiend, einen Stock in der Hand und in zerlumpter Kleidung, rast, öffnet sich die innere Bühne, »der innere Schau-Platz«, dreimal und zeigt künftige Ereignisse: die Hinrichtung der Revolutionäre und die Krönung des Sohnes ihres Opfers. Vgl. Gryphius, Carolus Stuardus, 102 – 104. 26 »2Denn es war da auff gericht das forder teil der Hütten| darinnen war der Leuchter| vnd der Tisch| vnd die Schawbrot| Vnd diese heisst die Heilige. 3Hinder dem andern Furhang aber war die Hütte| die da heisset| die Allerheiligeste | [… ].« Hebr 9, 2 – 3. – Wir zitieren hier und im Folgenden folgende Ausgabe: Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545, hg. Hans Volz, Heinz Blanke, 2 Bde., Bonn 2008. 27 »19SO haben wir denn nu haben| lieben Brüder die freidigkeit zum eingang| in das Heilige | durch das blut Jhesu | 20welchen er vns zubreitet hat| zum newen vnd lebendigen wege | durch den Vorhang| das ist durch sein Fleisch | [ …].« Hebr 10, 19 – 20.

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den Frieden im Königreich wiederherstelle.29 Auf dieses Ziel arbeiten auch die Revolutionäre hin. Um ihr Verbrechen zu legitimieren, zitieren sie die Beispiele der von Gott anbefohlenen Königsmorde, die sich im Alten Testament finden. Da ist Samuel, der Agag, König Amalek, in Stücke geschlagen hatte,30 und da ist Jehu, der Joram, König von Juda, erschossen hatte.31 Ein anderes Exemplum, auf welches sich die Revolutionäre beziehen, ist Gideon, der Baals Tempel zerstört hatte.32 Die Revolutionäre wünschen, dass das königliche Blut das Land versöhnen möge.33 Doch verschiedene Dialoge zeigen, dass ihre Entscheidung durch ein pragmatisches Kalkül determiniert ist, dass es eine Maßnahme ist; es gibt symbolische Szenen, wie die, in welcher die Ketzer um den Mantel der Religion streiten,34 die aufdecken, dass die Revolutionäre straf- und verdammenswürdig sind und dass sie bestraft und verdammt sein werden. Im letzten Reyen sehen wir die Geister der ermordeten englischen Könige, die nach Rache schreien. Die Rache erscheint in persona und ruft den Zorn, die Strafen, die Furien, das Schwert, den Bürgerkrieg, die Ketzerei, die Epidemien, den Tod, den Hunger, die Zwietracht, den Terror, den Selbstmord, die Angst und die Tränen.35 Die Versöhnung findet also nicht statt. Das Ende scheint in einem Widerspruch zu dem Opfer des Königs zu 28 »Glaubts: eh ich Christus Kirch und das gemeine best | / Vor die der Höchste mich so würdig binden läst | / So fern betrüben will; Eh meinen Vnterthanen / Ich durch mein Vorspill wil den Weg zu Jammer bahnen / Vnd ihre Freyheit | Statt | Gewissen| Gutt und Geist / Bewehrter Auffruhr (ob sie schon itzt herrlich gleist) / Gantz unter frechen Zwang und tolle Macht hingeben: / So wil ich liber selbst (und hätt ich tausend Leben) / Vor ihre Sicherhiet und Freyheit Schlüß und Recht| / Hinfahren| ja ich wil auffrichtig rein und schlecht| / Vor dises niderknyen.« Gryphius, Carolus Stuardus, 98. 29 »Vergib erhitzter GOtt! hilff ihre Sinnen lencken! / Laß sie nach rechtem Weg’ und wahrem Fride dencken.« Ibid., 108. 30 »Du wirst den langen Zanck durch Gottes Richt-Axt schlichten| / Du wirst der Samuel auff unsern Agag seyn.« Ibid., 23. – Vgl. 1 Sam 15,33: »Also zuhieb Samuel den Agag zu stücken fur dem HERRN zu Gilgal.« 31 »Du bists den Gott uns schickt | / Durch dessen Faust er Kirch und weites Land erquickt. / Vnd unsern Joram stürtzt.« Gryphius, Carolus Stuardus, 51. – Vgl. 2 Kön 9,24: »Aber Jehu fasset den Bogen| vnd schos Joram zwisschen den armen| das der pfeil durch sein hertz ausfur| vnd fiel in seinen wagen.« 32 »Halt Hewlet kommt – – Du wirst den Abgott fällen / Du Jerub-baal du| du wirst die Freyheit stellen / Auff unbewegten Grund.« Gryphius, Carolus Stuardus, 51. – Vgl. Ri 6,32: »Von dem tag an hies man jn JerubBaal| vnd sprach| Baal recht vmb sich selbs| das sein Altar zubrochen ist.« 33 »Gesa[ndter]. O! daß die Flamme nicht gantz Albion verzehr! / Crom[well]. Man lescht mit Königs Blut daß sie uns nicht verher.« Gryphius, Carolus Stuardus, 79. 34 Ibid., 95. 35 Ibid., 113 – 115.

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stehen. Doch dieser Widerspruch ist nur scheinbar. Im Brief an die Hebräer legt der heilige Paulus eine Theorie des Opfers nieder: »1DEnn ein jglicher Hoherpriester | der aus dem Menschen genommen wird | der wird gesetzt fur die Menschen gegen Gott| auff das er opffere Gaben vnd Opffer fur die sünde | 2Der da kündte mitleiden vber die da vnwisend sind vnd jrren«.36 In Gryphius’ Tragödie tritt Karl I. in die Nachfolge Christi, indem er verzeiht37 und so wie der gekreuzigte Christus redet, der die Worte »Vater vergib jnen| Denn sie wissen nicht was sie thun«38 spricht. Ich aber: ich verzeih’ und wil den hohen Spott Der Blutschuld nicht auff sie und ihre Köpffe schiben. (Die sauber mögen seyn!) villeicht fleust diß Betrüben| Die Mordquel| beyderseits aus nicht-getreuem Rath!39

Um Verzeihung gewähren zu können, muss derjenige, der bestimmt ist, das Opfer zu vollziehen, der Hohepriester, davon ausgehen, dass derjenige, der gesündigt hat, dieses aus Unwissenheit oder Irrtum getan hat. Die Möglichkeit, den Revolutionären Versöhnung und Verzeihung zuteil werden zu lassen, präsentiert Brecht in seinem Lehrstück Die Maßnahme: Die Revolutionäre ergreifen die Maßnahme, ihren jungen Genossen auch dann zu opfern, wenn er nicht bereit ist, sein Einverständnis damit zu erklären.40 Doch der Geopferte nimmt die Rolle des Opfers an und wird damit zum Opfernden, zum Hohepriester.41 Wenn die Revolutionäre unrichtig gehandelt, gesündigt haben, so haben sie dies aus Unwissenheit oder Irrtum getan, den sie beteuern, keine andere Lösung gewusst zu haben.42 Der Kontrollchor, der ihnen Verzeihung zukommen lässt, greift die in der durch den heiligen Paulus43 formulierten Theorie der Opferung zentrale Kategorie des Mitleids44 auf. Hebr 5, 1 – 2. »Doch klag ich nimand an / Weil ich ein rechter Christ| von Christo lernen kan / Wie man verzeihen soll.« Gryphius, Carolus Stuardus, 107. 38 Lk 23, 34. 39 Vgl. Gryphius, Carolus Stuardus, 106 f. 40 »Aber auch wenn er nicht einverstanden ist, muß er verschwinden, und zwar ganz.« Bertolt Brecht, »Die Maßnahme (Fassung 1931)«, in: Bertolt Brecht, Die Maßnahme. Zwei Fassungen, Frankfurt am Main 1998, 83. 41 Ibid. 42 »Bei der Kürze der Zeit fanden wir keinen Ausweg. [ …] Fünf Minuten im Angesicht der Verfolger / Dachten wir über eine / Bessere Möglichkeit. / Auch ihr jetzt denkt nach über eine / Bessere Möglichkeit. [ …] Also beschlossen wir: jetzt / Abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper. / Furchtbar ist es, zu töten. / Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut [ …].« Ibid., 79 und 81. 43 Vgl. Anm. 36. 36 37

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Es war zum Osterfest des Jahres 2008, als dieses Stück in Berlin seine letzte Inszenierung erlebte. Sämtliche Kritiken waren negativ.45 Mehrere Journalisten nannten das Werk ein »stalinistische[s] Passionsspiel«,46 die Süddeutsche Zeitung stufte es als »ideologischen Giftmüll«47 ein. Ein Kritiker wiederholte, was Heiner Müller schon 1977 konstatiert hatte: »Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen [ …].«48 Eine Journalistin erblickte in der in der Wiederbelebung dieses Stückes die Nostalgie einer überwundenen Zeit, in der das revolutionäre Pathos noch möglich gewesen sei.49 So scheint das Imaginäre der Revolution, dessen Entstehung wir im 17. Jahrhundert beobachtet haben, in unserem postrevolutionären Zeitalter eine Ware und ein Konsumartikel geworden zu sein. 44 »Erzählt weiter, unser Mitgefühl / Ist euch sicher / Nicht leicht war es, zu tun, was richtig war.« Brecht, Die Maßnahme, 81. 45 Vgl. die Kritikenrundschau, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_ contentview=article&id=1172&catid=42&Itemid=40. 46 »In der Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz hat nun Frank Castorf pünktlich zu Ostern dieses umstrittene stalinistische Passionsspiel von 1929 über einen jungen Genossen, der am Ende seiner eigenen Hinrichtung zustimmen muss, wieder ausgegraben [ …].« Esther Slevogt, Du bist nichts, die Idee ist alles. Die Maßnahme / Mauser – Castorf inszeniert Brecht / Eisler / Müller, Meg Stuart choreographiert dazu, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1172 &catid=42&Itemid=40 – Vgl. auch folgende Anm. sowie die Kritik von Dirk Pilz, Ändere das Theater, denn es braucht es! Die Maßnahme – Bertolt Brechts und Hanns Eislers Lehrstück in Norwegen, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_ content&view=article&id=218:die-massnahme-bertolt-brechts-und-hanns-eislers-lehrstueck-in-norwegen&catid=116 – Die Volksbühne selbst kündigt das Stück als »Brechts Passionsspiel aus dem Schreckenskabinett des Totalitarismus« an, http://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/die_massnahme_/_mauser/. 47 »Frank Castorf inszeniert an der Berliner Volksbühne Die Maßnahme und Mauser, zwei linksradikal-nostalgische Stücke von Heiner Müller und Bertolt Brecht. Es sind Passionsspiele, die den revolutionären Terror feiern. Die Hinrichtung nicht linientreuer Genossen wird als religiöse Opferszene überhöht, das Blutbad als erlösende Reinigung verkitscht. Castorf führt ausgiebig vor, dass ihm zum ideologischen Giftmüll dieser menschenverachtenden Texte nichts einfällt.« Peter Laudenbach, »PathosParodien. Castorf spielt an der Berliner Volksbühne Revolution«, in: Süddeutsche Zeitung (22. März 2008), 16. Zu Laudenbachs Kritik vgl. auch Kritikenrundschau. 48 Hermann Beyer, in der Rolle Heiner Müllers, zitiert den Brief während der Aufführung. Vgl. Kritikenrundschau sowie Eva Behrendt, Die Passion des Kommunisten, http://www.taz.de/nc/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2008%2F03 %2F22%2Fa0187&src=GI&cHash=c771e158fe – Wir denken, dass Müller mit dem Ausdruck »christliche Endzeit« auf die im 20. Kapitel der Offenbarung des Johannes angekündigte tausendjährige glückliche Herrschaft Christi auf Erden anspielt. 49 »Einig waren sie sich höchstens in einer nicht weiter reflektierten Sehnsucht nach jenen Zeiten, als revolutionäres Pathos so ungebrochen noch möglich war.« Slevogt, Du bist nichts, die Idee ist alles. – Auch Laudenbach rangiert Die Maßnahme unter die nur noch als »Pathos-Parodien« spielbaren »linksradikal-nostalgische[n] Stücke«. Vgl. Anm. 47.

Theologie und Politik der Reinheit in Andreas Gryphius’ Catharina von Georgien Von Barbara Thums Gryphius’ Trauerspiele generell, und so auch das 1657 erstmals gedruckte Catharina von Georgien,1 sind im Spannungsfeld von Theologie und Politik angesiedelt. In jeweils anderer Akzentuierung bearbeiten sie die Epochen bestimmende Krise der politischen Theologie des Gottesgnadentums, beschreiten das Spannungsfeld zwischen Machtpolitik und Gewissensethik und konfrontieren Märtyrer- mit Tyrannenfiguren. So problematisieren etwa Leo Armenius und Papinian das Widerstandsrecht, und so kommt in Carolus Stuardus mit der Hinrichtung König Karls I. von England im Jahr 1649 ein tagesaktuelles Ereignis auf die Bühne, das auf der Folie der Passion Christi dramatisiert wird. Bereits diese sehr knappe Skizze lässt erkennen, dass es verfehlt wäre, die Trauerspiele ausschließlich heilsgeschichtlich zu deuten, selbst wenn dies der Rekurs auf ihren Verfasser, den standhaften Lutheraner und LandesSyndicus von Glogau nahe legt. Auch in der Catharina von Georgien werden politisch-religiöse Konflikte verhandelt, die sich historisch konkretisieren lassen: Catharina repräsentiert das christliche Königreich GeorgienGurgistan, das im 17. Jahrhundert zwischen die Fronten der rivalisierenden muslimischen Großreiche Persien und Türkei gerät.2 Die stoffliche Vorlage – die Histoire tragique de notre temps von Claude Malingre – berichtet vom grausamen Foltertod der georgischen Königin, die sich zu Verhandlungen an den persischen Hof begeben hatte.3 Dort wurde sie auf Befehl des Schahs Abas eingekerkert und zu Tode gemartert, nachdem sie sich geweigert 1 Zur Entstehungszeit des Dramas vgl. Andreas Gryphius, Dramen, hg. Eberhard Mannack, Frankfurt am Main 1991, 921 – 923. 2 Zur Übertragbarkeit dieses in Catharina von Georgien dargestellten Konflikts auf die zeitgenössischen Verhältnisse in Schlesien vgl. Elida Maria Szarota, Künstler, Grübler und Rebellen. Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, Bern 1967, 205 – 208 und 210. 3 Zu den stofflichen Vorlagen, der Reisebeschreibung des Olearius und v. a. dem Werk des französischen Chronisten und Historikers Claude Malingre, vgl. Gryphius, Dramen, 927 f.

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hatte, die Ehe mit ihm einzugehen und zum Islam überzutreten.4 Aktuell war dieses Ereignis aus dem Jahr 1624 allein deshalb, weil der östliche Mittelmeerraum und Teile des Balkans seit dem 15. Jahrhundert durch die Türkenkriege der Venezianer und Habsburger ständiger Kampfplatz religiös bedingter Kulturkonflikte waren.5 Die Aneignung dieser religiös bedingten Kulturkonflikte durch das Trauerspiel Catharina von Georgien wird durch eine aufwändige paratextuelle epische Rahmung flankiert: Dem Vorwort an den Leser folgt ein Prolog zum Inhalt des Stücks sowie zum Inhalt der einzelnen Abhandlungen. Die hier entworfenen Vorstellungen zum Gehalt des Trauerspiels geben deutlich zu erkennen, dass diese Paratexte nicht nur als bloßes ›Beiwerk‹ zum ›eigentlichen‹ Werk verstanden sein wollen, sondern vielmehr eine heilstheologische Adressierung vornehmen. So gibt die Vorrede an den Leser ein Deutungsschema für die rechte Auslegung des Trauerspiels vor, welche die georgische Königin Catharina als »kaum erhöretes Beyspiel unaußsprechlicher Beständigkeit« ins Zentrum der Betrachtung rückt.6 Dieser Vorgabe – so hat es den Anschein – ist die Forschung weitgehend gefolgt: Wo das in seinem heilstheologisch gedeuteten Gehalt interpretierte Drama, das in die Tradition der »Contemptus-Literatur« gestellt wird,7 als Exemplum mustergültigen Verhaltens im Zeichen der constantia gilt, wird die weibliche Hauptfigur entsprechend als idealtypische Vertreterin der christlichen Zivilisation und als mustergültige Märtyrerin bezeichnet.8 Auch die 4 Heselhaus betont die »politische Natur« der Vorgeschichte von Catharinas Märtyrertod: »Die beiden kleinen georgischen Staaten, Georgien und Gurgistan (das gelegentlich auch Armenien genannt wird), konnten sich zwischen den beiden Großmächten, der Türkei und Persien, nur halten, wenn sie eine kluge Bündnispolitik trieben.« Clemens Heselhaus, »Gryphius Catharina von Georgien«, in: Benno von Wiese (Hg.), Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen, Düsseldorf 1968, Bd. 1, 35 – 60, hier 38. 5 Vgl. Klaus-Peter Matschke, Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege, Düsseldorf 2004. 6 Andreas Gryphius, »Catharina von Georgien«, in: Dramen, hg. Eberhard Mannack, Frankfurt am Main 1991, 119. Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe unter Angabe von Akt und Vers in Klammern. 7 Vgl. dazu Hans-Jürgen Schings, »Catharina von Georgien Oder Bewehrete Beständigkeit«, in: Gerhard Kaiser (Hg.), Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen, Stuttgart 1968, 35 – 72, hier 39. 8 Vgl. dazu neben Schings u. a. Gerald Gillespie, »Andreas Gryphius’ Catharina von Georgien als Geschichtsdrama«, in: Elfriede Neubuhr (Hg.), Geschichtsdrama, Darmstadt 1980, 85 – 107; Helmut Loos, »Catharina von Georgien. Unio mystica und virtus heroica – Leitbegriffe einer Interpretation«, Daphnis 28 (1999), 691 – 727; Dirk Niefanger, Barock, Stuttgart 2000; Peter-André Alt, Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, Berlin /

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neuere Forschung, die Catharina nicht nur als Märtyrerin, sondern auch als eine Machtpolitikerin verstanden wissen will, die zur Durchsetzung ihrer Interessen selbst vor Lüge und Mord nicht zurückschreckt,9 ist von dieser auffälligen Konzentration auf die weibliche Hauptfigur geleitet.10 Im Folgenden soll hingegen eine Lesart der Catharina von Georgien vorgeschlagen werden, die sich nicht auf eine der beiden Hauptfiguren konNew York 2004 sowie zuletzt Katja Malsch, Literatur und Selbstopfer. Historischsystematische Studien zu Gryphius, Lessing, Gotthelf, Storm, Kaiser und Schnitzler, Würzburg 2007. In jüngerer Zeit interessieren v. a. auch die Bezüge zur Lutherischen Theologie. Vgl. dazu etwa Hans Feger, »Zeit und Angst. Gryphius’ Catharina von Georgien und die Weltbejahung bei Luther«, in: Hans Feger (Hg.), Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937 – 1996), Amsterdam 1997, 71 – 100; Johann Anselm Steiger, »Die poetische Christologie des Andreas Gryphius als Zugang zur lutherisch-orthodoxen Theologie«, Daphnis 26 (1997), H. 1, 85 – 112 sowie die Beiträge in: Thomas Borgstedt, Knut Kiesant (Hgg.), Text und Konfession. Neue Studien zu Andreas Gryphius (Daphnis 28 [1999], H. 3 – 4). 9 Szyrocki äußert sehr früh schon Zweifel an einer einseitig positiven Zeichnung der weiblichen Hauptfigur und weist auf ihr moralisch zweifelhaftes politisches Verhalten hin. Vgl. dazu Marian Szyrocki, Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk, Tübingen 1964, 86 – 89, hier 87. Vgl. dazu außerdem Peter J. Brenner, »Der Tod des Märtyrers. ›Macht‹ und ›Moral‹ in den Trauerspielen des Andreas Gryphius«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), 246 – 265; Gerhard Spellerberg, »Narratio im Drama oder: Der politische Gehalt eines ›Märtyrerstückes‹. Zur Catharina von Georgien des Andreas Gryphius«, in: Gabriela Scherer, Beatrice Wehrli (Hgg.), Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag, Bern u. a 1996, 437 – 461; Lothar Bornscheuer, »Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historischpolitischen Trauerspielen«, in: Jean-Daniel Krebs (Hg.), Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit, Bern u. a. 1996, 207 – 222; Lothar Bornscheuer, »Diskurs-Synkretismus im Zerfall der politischen Theologie. Zur Tragödienpoetik der Gryphschen Trauerspiele«, in: Feger (Hg.), Studien, 489 – 529; Thomas Borgstedt, »Andreas Gryphius: Catharina von Georgien. Poetische Sakralisierung und Horror des Politischen«, in: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Interpretationen, o. Hg., Stuttgart 2000, 37 – 66; Stefanie Arend, Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius’ und Lohensteins, Tübingen 2003; Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der Frühen Neuzeit, München 2004, 83 – 116. Zur »Pendelbewegung der Forschung zwischen heilsgeschichtlich-theologischer und geschichtlich-politischer Deutung« vgl. die Angaben bei Nicola Kaminski, Andreas Gryphius, Stuttgart 1998, 78. 10 Die in der Forschung häufig zu beobachtende Konzentration auf die weibliche Hauptfigur, die in Chach Abas bloß »den finsteren Gegenpol zum martyrischen Heilsweg der Königin Catharina« sieht, hat Albrecht Koschorke zu Recht kritisiert; er wertet Chach Abas zu einer eigenständigen Figur auf, um zu zeigen, wie sich »die Einheit des frühneuzeitlichen Staates [ …] um eine Spaltung im Herzens des Souveränitätsprinzips selbst konfiguriert«. Vgl. dazu Albrecht Koschorke, »Das Begehren des Souveräns. Gryphius’ Catharina von Georgien«, in: Daniel Weidner (Hg.), Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven, München 2006, 149 – 162, hier 154.

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zentriert, sondern beide und damit auch Religion und Politik in ihrem Wechselbezug im Blick hat. Dies hat den Vorteil, dass das heilsgeschichtliche Wissen nicht gleich zurückgewiesen werden muss, wenn die Relevanz konkurrierender Wissensformen betont wird. Ausgangspunkt ist deshalb zum einen die komplexe Durchdringung der beiden das Trauerspiel leitenden Diskurse von Religion und Politik. Zum anderen wird für die vorgeschlagene Lesart leitend sein, dass hierfür mit dem Begriff der Reinheit – zumal in seiner klassifikatorisch-kommunikativen, d. h. auch in seiner machtstrategischen und wahrheitspolitischen Abgrenzungsfunktion gegenüber dem Unreinen – eine Klammer gegeben ist.11 Allerdings, und das ist entscheidend, wird Reinheit auf zwei völlig verschiedenen Ebenen verhandelt. Beide Ebenen verbindet jedoch ihr Anspruch auf Absolutheit: In beiden Fällen meint Reinheit ein Absolutes, das in keiner Relation zu etwas ihm Anderen steht. Auf der religiösen Ebene ist dieses Absolute das christliche Ideal der Keuschheit und Jungfräulichkeit der Braut Christi, als die sich Catharina von Georgien schon im Kerker und dann vor allem unter der Folter imaginiert. Auf der politischen Ebene ist dieses Absolute das frühneuzeitliche Souveränitätsdenken, jedoch nur in seiner Auslegung durch den Tyrannen, hier also durch den persischen Herrscher Chach Abas. Denn Souveränität absolut, in reiner Form zu verstehen, bedeutet, dass es keine Einschränkung durch die Selbstverpflichtung des Souveräns auf ethische Maximen gibt. In dieser Perspektive wird erkennbar, dass Gryphius’ Trauerspiel die religiöse und die politische Reinheit als zwei konträre, aber wechselseitig aufeinander bezogene Konzepte darstellt, das frühneuzeitliche Herrscher-Ich zu begründen: Eine wesentliche Rolle dabei spielen die Affekte sowie das kulturelle Imaginäre eines frühneuzeitlichen Orientalismus, für den nicht uner11 Vgl. dazu Michael Stausberg u. a., »Rein und unrein«, in: Hans Dieter Betz (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4., völlig neu bearb. Aufl. Tübingen 2004, Bd. 7: R – S, 239: »In differenzierten religiösen Systemen bzw. Kulturen stellen die Kategorien rein und unrein eine klassifikatorisch-kommunikative Leitdifferenz dar. Diese regelt Grenzen nach Innen [ …], sowie nach außen.« Generell zum Machtpotential der Rein- / Unreinheitsunterscheidung vgl. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985. Zur Symbolfunktion des menschlichen Körpers im Kontext ritueller Reinigungspraktiken vgl. 14: »Der Körper liefert ein Modell, das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann. [… ] Es ist ausgeschlossen, dass wir Rituale interpretieren können, in denen Exkremente, Muttermilch, Speichel und Ähnliches eine Rolle spielen, wenn wir den Körper nicht als ein Symbol für die Gesellschaft begreifen oder übersehen, dass die Kräfte und Gefahren, die es in der Sozialstruktur geben soll, im kleinen auch durch den Körper ausgedrückt werden können«.

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heblich ist, dass Persien und nicht die Türkei, man könnte auch sagen, der Orient jenseits des Orients als Bildspender fungiert. Überdies widmet sich das Trauerspiel ausgiebig dem Unverständnis, auf das beide Entwürfe des Herrscher-Ich in ihrer Maßlosigkeit stoßen, zumal beide in das NichtMehr-Menschliche des Tods bzw. des Wahns führen.12 Insbesondere wenn man die ›verweigerte Nachfolge‹ der Untergebenen, die den Selbstentwürfen der beiden Herrscher mit Unverständnis begegnen, in Rechnung stellt, ist das Trauerspiel auch als Beitrag zur Frage nach anderen Konzepten der Selbstbegründung zu lesen: Nach solchen, die das rechte Maß einhalten, die im Hier und Jetzt lebbar sind und für die möglicherweise nicht mehr primär das Wissen von Theologie und Politik zuständig wäre, als vielmehr jenes Wissen, das sich im 18. Jahrhundert auf der Basis des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Anthropologie und Ästhetik herausbilden wird.13 Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Es soll hier nicht darum gehen, für Gryphius’ Trauerspiel eine Modernität zu reklamieren, die Entwicklungen des 18. Jahrhunderts vorwegnimmt. Zu überlegen ist jedoch, ob die Paradoxien in den Begründungskonzepten des frühneuzeitlichen Herrscher-Ichs sowie die zahlreichen Hinweise des Trauerspiels auf das Brüchigwerden einer theologischen Hermeneutik,14 die zur Vermittlung ihrer Glaubensinhalte auf die extremen Affekte von Lust und Leiden zurückgreift,15 nicht auch als Hinweise auf das Brüchigwerden der daran geknüpften Konzepte der Selbstbegründung aufgefasst werden können: Zumindest wäre dies eine plausible Erklärung für zwei Besonderheiten, die das Trauerspiel strukturieren und die überdies beide in spiegelförmiger Symmetrie gestaltet sind: Es handelt sich hier zum einen um die semioAndreas Gryphius, 105. Vgl. dazu Verf., Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche, München 2008. 14 Zum Brüchigwerden der theologischen Hermeneutik vgl. Kaminski, Andreas Gryphius, 101 sowie Frauke Berndt, »›So hab ich sie gesehen.‹ Repräsentationslogik und Ikonographie der Unbeständigkeit in Andreas Gryphius’ Catharina von Georgien oder bewehrete Beständigkeit«, Frühneuzeit-Info 10 (1999), H. 1 / 2, 231 – 256, hier 231 f. 15 Die Bezüge dieser Affektregie zur »neostoisch grundierte[n] Anthropologie der Zeit« (Burschel, Sterben und Unsterblichkeit, 105), die Catharina weniger als »designierte Märtyrerin«, sondern vielmehr als »triumphierende Fürstin« und »Machtpolitikerin von hohen Graden« (104) zeigten, hat zuletzt Burschel betont und dabei neben der protestantischen Kritik am souveränitätspolitischen »Vernunftkult« (113) auf das Wirkungspotential der »konkreten konfessionellen und politischen Signale« (114) hingewiesen, die, bereits bei Gryphius gleichsam diesseits der konsolatorischen Relevanz des barocken Märtyrerdramas gelegen, »in der postkonfessionellen Welt« (116) nach Gryphius folgerichtig zum Niedergang der Gattung ›Märtyrerdrama‹ beitragen mussten. 12 13

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tischen Ungewissheiten, die entstehen, wenn der weibliche Körper der Märtyrerin und der männliche Körper des Tyrannen mit spiegelbildlich aufeinander beziehbaren Bildern und Zuschreibungen konstruiert werden und somit auch das zu verbannende Andere orientalischer Besessenheit vom normativen Eigenen christlicher Keuschheit nicht mehr eindeutig zu unterscheiden ist.16 Zum anderen betrifft es den auffälligen Umschlag von Macht in Ohnmacht, den das Trauerspiel, ebenfalls spiegelbildlich aufeinander bezogen, sowohl am Beispiel der christlichen Herrscherin und ihrem Wandel von der politischen Aktivität zum opferbereiten Leiden der Märtyrerin in der Nachfolge Christi als auch am Beispiel des orientalischen Herrschers herausstellt,17 dessen Unbedingtheit, als absoluter Souverän durch keinerlei Rechtsnormen eingeschränkt zu sein, im affektgesteuerten Willkür-Handeln physischer Bedingtheit Gestalt gewinnt und ihn letztlich in die »Entschlussunfähigkeit des Tyrannen« führt.18

I. Die Ewigkeit kommet von dem Himmel Die erste Abhandlung des Trauerspiels beginnt mit folgender Regieanweisung: Der Schauplatz liget voll Leichen / Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter etc. Vber dem Schau-Platz öffnet sich der Himmel / unter dem Schau-Platz die Helle. Die Ewigkeit kommet von dem Himmel / und bleibet auff dem Schau-Platz stehen. (I, 125)

Im Anschluss folgt der Prolog der Ewigkeit. Mit der Ewigkeit wird eine transzendente Figur eingeführt, die außerhalb des dargestellten Geschehens 16 Die von Alt herausgestellte Geschlechterdifferenz im Hinblick auf das zeitgenössische Souveränitätsdenken – er differenziert zwischen männlichem und weiblichem Regententum, gehe es doch beim Tod des männlichen Herrschers um Fragen der dynastischen Kontinuität, wohingegen der Tod weiblicher Herrscherinnen im Zeichen des Opfers gefasst werde –, die er als leitend für Gryphius’ Catharina von Georgien ansieht, wäre demnach auch im Hinblick auf eine mögliche Differenz zwischen literarischem und nicht-literarischem Wissen von Interesse. Vgl. Alt, Der Tod der Königin. 17 Erst in einem zweiten Schritt erfolgt dann wiederum, gleichsam als Produkt hermeneutischer Zuschreibungsprozesse, ein erneuter Umschlag von Ohnmacht in Macht. Zur Transformation des Leidens des Märtyrers zu einem »dem Selbstverständnis nach selbstbestimmten Tod, dem dabei ein höherer Sinn verliehen wird« und zu der damit verbundenen Transformation der »Schwäche in Stärke« sowie der »Ohnmacht in Macht« vgl. Sigrid Weigel, Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007, 14 f. 18 Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Gesammelte Schriften, hg. Rolf Tiedemann, Wolfgang Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, Bd. I / I, 203 – 430, hier 350.

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um das Schicksal der Königin von Georgien-Gurgistan bleibt. Sie gibt den Deutungsrahmen vor. Ob dieser allerdings, wie suggeriert wird, fraglos heilsgeschichtlich zu verstehen ist, bleibt zu bezweifeln: Nicht unerheblich ist nämlich der formale Umstand, dass der Prolog der Ewigkeit dem Drama nicht vorgeschaltet, sondern in die erste Abhandlung integriert ist.19 Damit überschreitet die Figur der Transzendenz gleichsam die Schwelle hin zur Immanenz. Um ihre Botschaft zu überbringen – dass nämlich die Menschen zwischen Himmel und Hölle wählen können – muss sich die Ewigkeit aus der Transzendenz in die Immanenz begeben. Diese aus der formalen Struktur ableitbare Grenzüberschreitung kann man als Schwächung der transzendenten Instanz verstehen. Die Ewigkeit steht nicht mehr fraglos jenseits jener irdischen Ordnung, die das Dramengeschehen bestimmt. Auch die Rede der Ewigkeit selbst bleibt nicht auf den Bereich des Transzendenten beschränkt, sondern bezieht sich neben der Darstellung von Catharinas Reinheit ebenso auf deren Handeln in der Welt. Vorbildhaft ist diese nämlich nicht nur im Leiden und Sterben für ihren Glauben, sondern auch hinsichtlich ihres öffentlichen und privaten Lebens: »Die stritt und lid für Kirch und Thron und Herd« (I, 84) wird über sie gesagt sowie: »Vnd lebt und sterbt getrost für Gott und Ehr und Land« (I, 88). Nicht also Reinheit im Sinne von absoluter Unbedingtheit, hier bezogen auf den Bereich der Transzendenz, bestimmt die Rede der Ewigkeit, sondern die Verflechtung religiöser und politischer Vorbildlichkeit Catharinas.20 Dies bedeutet: Die Reinheit einer Glaubensgewissheit, aus deren Sicht die vergängliche Welt freudig verabschiedet werden kann, muss offenbar erst hergestellt werden: Reinheit gibt es mithin nur als Akt der Reinigung, als Akt der Unterscheidung – ein Befund, der auch durch die Etymologie des Wortfeldes ›rein‹ bestätigt wird.21 19 Nimmt man diese formale Anordnung ernst, so wird der Zweifel an einer ausschließlich heilsgeschichtlichen Deutbarkeit des Dramas auch dadurch nicht aufgehoben, dass das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz bzw. von Ewigkeit und Zeitlichkeit durch die Vorstellung des theatrum mundi ausgedrückt wird und sich der Sinn der Schauspielmetapher »in der mortificatio und destructio der Welt und im Rückzug auf sich selbst zugunsten eines zukünftigen Zieles« erfüllt. Vgl. dazu Peter Rusterholz, Theatrum vitae humanae. Funktion und Bedeutungswandel eines poetischen Bildes. Studien zu den Dichtungen von Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau und Daniel Casper von Lohenstein, Berlin 1970, 85. Zur Infragestellung der in der traditionellen Barockforschung vorausgesetzten »Dichotomie von irdischer Zeitlichkeit und jenseitiger Ewigkeit« und zur These einer »Erfahrung des Ewigen im Zeitlichen« im Sinne eines vernünftigen Glaubens vgl. Arend, Rastlose Weltgestaltung, 95. 20 Dass damit nicht nur die Weltverachtung und Weltabkehr, sondern auch die tätige Hinwendung zur Welt angezeigt ist, die sich nicht in die contemptus-mundiTopik fügt, betonen etwa Spellerberg, »Narratio im Drama«, 453 und Bornscheuer, »Diskurs-Synkretismus«, 505 f.

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Ausgehend davon lässt sich für die Catharina von Georgien festhalten: Dem Trauerspiel als Zeichenordnung kommt es zu, diesen Prozess der Reinigung als Akt der Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz bzw. zwischen Himmel und Hölle zu vollziehen; und so ist auch die Nachhaltigkeit, mit der das Trauerspiel die allegorische Zeichendeutung als hermeneutisches Verfahren in Szene setzt, diesem Reinigungsprozess zugehörig.22 II. Im Kerker I: Die keusche Jungfrau Die im Untertitel als ›bewehrete Beständigkeit‹ bezeichnete constantia der Catharina ist grundlegend für das christlich-asketische Ideal der Reinheit. Catharina muss sich im Raum der Geschichte bewähren, damit sie in das Reich der Ewigkeit aufgenommen werden kann. Denn die ›bewehrete Beständigkeit‹, also die durch Reinheit der Tugend ausgezeichnete constantia, ist nur erkennbar, wenn sie auf die Probe gestellt, wenn sie auf den Kampfplatz geführt wird.23 Man könnte auch sagen: Der Idee von Reinheit 21 Laut dem Sprachwissenschaftler Friedrich Kluge hat das Wort ›rein‹ eine indogermanische Wurzel: ›*(s)keri-, *(s)krei-, *(s)kri- ›schneiden, scheiden«. Vgl. dazu Kluge, zit. nach Gerhard Härle, Reinheit der Sprache, des Herzens und des Leibes. Zur Wirkungsgeschichte des rhetorischen Begriffs puritas in Deutschland von der Reformation bis zur Aufklärung, Tübingen 1996, 47. Vgl. dazu und zum ›Reinen‹ u. a. auch als dem ›Unvermischten‹ die folgenden Lexikoneinträge: Art. »Reinheit, Reinigung«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1992, Bd. 8: R – Sc, 531 – 553; Art. »Reinheit«, in: Ralph Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, 292 – 300; Art. »Reinheit«, in: Gerhard Müller u. a (Hgg.), Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1997, Bd. XXVIII: Pürstinger-Religionsphilosophie, 473 – 497. 22 Ohne auf den Aspekt der Reinheit einzugehen, weist auch Kaminski explizit auf das Theater als geeignetes Reflexionsmedium hin, um das »semiologische Problem der Erkennbarkeit und transzendenten Beglaubigung von Martyrium« sichtbar zu machen. Vgl. Kaminski, Andreas Gryphius, 113. Zur Reflexion der allegorischen Repräsentationslogik, die an der ikonographischen Struktur des Dramas ablesbar ist, vgl. Berndt, »›So hab ich sie gesehen‹«. 23 In der Perspektive dieser dramaturgischen Konzeption, in der dem Trauerspiel die Aufgabe zukommt, den Prozess der Reinigung als Akt der Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz bzw. zwischen Himmel und Hölle zu vollziehen, ist es nur konsequent, der politischen Vorgeschichte der Herrscherin großes Gewicht einzuräumen. Und ebenso konsequent ist es, dass dadurch die Vorbildlichkeit der Herrscherin in Frage gestellt wird. Auf die zweifelhafte Vorbildlichkeit Catharinas hat die Forschung bereits aufmerksam gemacht. Mit entschiedenem Nachdruck betont Arend die in den Geschichtsberichten zur Anschauung kommende »Politik der Grausamkeiten«, welche deutlich machten, »dass Catharina als occupata nur noch äußere Erscheinung geworden und in ihrer zweiten funktionalen Natur aufgegangen ist«. Vgl. Arend, Rastlose Weltgestaltung, 86.

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muss eine Anschauung, muss ein Körper gegeben werden. Es ist dies der Körper Catharinas, der Märtyrerin, die durch die Unbedingtheit ihrer Bereitschaft, den christlichen Glauben zu bezeugen, das Tugendideal der Reinheit in reinster Form zur Anschauung bringt. Vorbereitet wird dieses jenseitsorientierte Reinheitsideal durch die Darstellung von Catharinas brautmystisch-martyrologischer Perspektive der Weltverachtung: Es ist für sie die höchste Lust, »[d]aß unser Bräut’gam uns die Marter-Cron beschert« (IV, 336), dass sie der ›bösen Lust‹ der irdischen Liebe entsagen kann und durch die Bluthochzeit eingeht in das Reich der ewigen, himmlischen Liebe. Für Catharina sind nämlich diejenigen selig, »Die ihr Gewissen nicht / auch nicht den Leib beflecket / Als nur mit keuschem Blut / das aus den Wunden floß / Daß man vor Freyheit / Herd und Kirch’ und Gott vergoß.« (IV, 38 – 40) Der Absolutheitsanspruch ihrer reinen Liebe zu Gott kommt auch in ihren folgenden Äußerungen zum Ausdruck: »Wir sind uns ausser Gott gantz keiner Lust bewust« (IV, 204) und: »Der für die Wahrheit stirbt kann nimmermehr verderben« (IV, 182). Eine solche Reinheit lässt sich allerdings nur durch das Opfer des Lebens erlangen. In der Welt ist ein Leben nach diesem Ideal absoluter Reinheit nicht möglich, in der Welt kann lediglich ein Prozess der Reinigung vollzogen werden, dessen Grenze und Schwelle hin zur transzendenten Reinheit der Tod, oder genauer, das Selbstopfer im Martyrium ist. In der großen Szene der Marterung Catharinas – so meine ich – wird das Schauspiel einer solchen Reinigung gegeben, wobei diese purificatio im Feuerspiel der Flammen durch die zahlreichen Hinweise auf das Angst-, Gewalt- und Schreckenspotential des irdischen Lebens sowie auf das Leiden unter der tyrannischen Herrschaft des orientalischen Despoten Chach Abas als Theater des Schreckens und der Grausamkeit gestaltet wird. Als ›Blutzeuge‹ besiegelt die Märtyrerin Catharina die Wahrheit des christlichen Glaubens mit dem Tod.24 Es ist dies eine Zeugenschaft, bei der die symbolische Erhöhung des Lebens dessen Auslöschung voraussetzt, eine Zeugenschaft, die ihrerseits bezeugt werden muss – durch die Zuschauer, die diesem Schauspiel der Reinigung beiwohnen und denen die Aufgabe zukommt, das Geschehen im Sinne dieses transzendenten Verständnisses von Reinheit zu deuten.25 Rein24 Zu Catharinas Martyrium als imitatio christi vgl. Kaminski, Andreas Gryphius, 110. Niefanger, Barock, 152 sieht in der »Trennung von Bericht und Interpretation« einen Hinweis auf »Verfahren der Historiographie«, die das Stück akzentuiere. Den Aspekt einer protestantisch codierten unio mystica betont Loos, »Catharina von Georgien«, 701 – 706. 25 Zur Notwendigkeit der Zeugenschaft für die Beglaubigung und Tradierung des exemplarischen Martyriums vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, 87 f.: »Da der Märtyrer mit dem bekennenden Zeugnis auf seinen Lippen stirbt [ …], ist nicht gewähr-

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heit wird so zum Effekt eines theatralen Geschehens, was formal durch die Spiel-im-Spiel-Struktur der Marterszene markiert ist.26

III. Im Kerker II: Die orientalische Bestie Reinheit vor Gott wird offensichtlich hergestellt im Akt der Bewährung, der wiederum ein Akt der Unterscheidung ist. Wenn aber Reinheit nur auf dem Kampfplatz tugendhafter Bewährung und nur über Differenzierungsund Ausgrenzungsprozesse zur Anschauung gelangt, dann ist das Eigene nur im Spiegel des Anderen erkennbar, erweist sich seine Idealität nur durch die Verwerfung des Anderen. Die normative Ordnung des christlichen Glaubens basiert auf Bildern kultureller Fremdheit, sie entsteht mithin durch die Konstruktion und Verbannung des in religiöser, politischer und kultureller Hinsicht Fremden. Diese Vorstellung bekommt mit Chach Abas einen Körper. Als despotischer orientalischer Herrscher muslimischen Glaubens,27 der sich ausschließlich affektgesteuert in tyrannischer Maßlosigkeit seiner Wollust hingibt, verkörpert er jenes Gegenbild zur christlichen Tugend, das notwendig ist, damit Catharina ›reiner und heller vor Gott gläntzen‹ kann.28 Reinheit wird somit hergestellt durch Praktiken der Ausschließung und Pathologisierung des orientalischen Anderen. In dieser Konsequenz wird Chach Abas als »Bluthund« (II, 403) und einer jener »Tyrannen« (I, 671 und I, 692) beschrieben, die, vom Affekt des »Zorn[s]« (I, 694) beherrscht, zu jeder Greueltat bereit sind. leistet, dass dieser Akt auf Erden eine nachhaltige Bedeutung gewinnen und weiterwirken kann. Deshalb bedarf der Zeuge-als-Märtyrer eines zweiten Augen-Zeugen, der seinen Tod wahrnimmt, ihn als Opfer (›sacrificium‹) anerkennt und als sinnhaftes Zeugnis weiter tradiert.« 26 Vgl. dazu Kaminski, Andreas Gryphius, 118. 27 Vgl. dazu auch Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse, hg. Dieter Lohmeier, Schleswig 1656, Neudruck Tübingen 1971. Hier ist nachzulesen, wie Chach Abas sein Amt mit der Ermordung seines Hofmeisters beginnt, um sich der Treue seiner Räte zu versichern (641), außerdem wird von den Grausamkeiten seiner Kriegsführung gegen die Türken berichtet (642) sowie von der Ermordung des Sohnes und der anschließenden Melancholie aus Reue (653). 28 Zur zeitgenössischen Affektenlehre vgl. Claus-Michael Ort, »Affektenlehre«, in: Albert Meier (Hg.), Die Literatur des 17. Jahrhunderts, München 1999, 124 – 139. Wenn Hong behauptet, »Chach Abas ist der typische orientalische Tyrann«, wird der Aspekt der Konstruktion von kultureller Fremdheit auf der Basis von Verwerfungsgesten gerade nicht berücksichtigt. Vgl. Melanie Hong, Gewalt und Theatralität in Dramen des 17. und des späten 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Bidermann, Gryphius, Weise, Lohenstein, Fichte, Dorst, Müller und Tabori, Würzburg 2008, 151.

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Die Vntreu damit er die treuen Dinste zahlte / List / Grimm / Verrätherey / Trug / Meineyd / Trotz und Gifft / Die Mörde so von ihm begangen als gestifft / Das ungerechte Recht / die duppel-falsche Zungen // Die Sinnen / die durchauß nach eigen Nutz gerungen. (I, 678 – 682)

Überdies deutet Catharina seine Liebe, sie spricht von »böse[n] Lüste[n]« (I, 828), als wahnsinnige Machtpolitik, wenn sie sein Heiratsangebot wie folgt kommentiert: »Der Mörder [ …] trug noch law von Blutt // Der Fürsten / heiß entbrandt mit toller Flammen Glutt // Vns Cron und Heyrath an.« (III, 190 – 193) Solche Bebilderungen des Orients sind auch in der zeitgenössischen Reisebeschreibung des Olearius nachzulesen: »In Geilheit und Unkeuschheit geben die Perser keiner Nation etwas zuvor / denn neben dem das sie viel Weiber nehmen / hangen sie der Hurerey gewaltig nach.«29 Oder: Daß sie ihren fleischlichen Begierden den Zaum zu lang lassen / hat nicht wenig anlaß dazu gegeben ihr falscher Prophet / Mahumed / welcher / weil er selbst ein geiler hund / den Leuten zu gefallen / die Fleisches Lust übermässig zugelassen.30

So verwundert es nicht, dass der orientalische Herrscher Opfer weiblicher Reize ist, dass er – wie Chach Abas, für den Catharina die »Tyrannin unser Seel« (II, 185) ist und »Gefangne die uns fing! die uns in Ketten schlägt« (II, 51) – im Kerker seines triebhaften Körpers gefangen ist. Die als »[e]rhitzt in geiler Brunst« (III, 344) bezeichnete erotische Passion von Chach Abas wird dem Brennen des Höllenfeuers analogisiert, so dass die Hingabe an das erotische Feuer der irdischen Liebe zugleich als innerweltliche Hölle erscheint. Seine Liebe ist immer schon jenseits der Norm, und sein sklavisches Verfallensein an die eingekerkerte Catharina entspricht so der Versklavung seiner Seele und steht ein für den Sündenfall einer irdischen Existenz, die in der heilsgeschichtlichen Perspektive christlicher Theologie ein Leben in Unkeuschheit und Beschmutzung der transzendenten Reinheit ist. Wenn aber der Orient im Dienste der heilsgeschichtlichen Perspektive als Gegenreich zum Reich der ›reinen Liebe‹ konstruiert wird und die jungfräuliche Reinheit mit der tyrannischen Erotik in einem wechselseitigen Kommentierungsverhältnis steht, dann bleibt eine Beziehung bestehen zwischen verbannender Gewalt und Gewalt des Verbannten.31 Die beständige Zirkulation von Metaphern und Motiven, wenn sich etwa der Wahn, die Wollust, der Kerker, der Tyrann, der Zorn, die Rache oder das Opfer Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung, 592. 593. 31 Zur Denkfigur und zur Poetologie der verbannten Gewalt vgl. Maximilian Bergengruen, Roland Borgards (Hgg.), Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Göttingen 2009. 29 30

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wechselweise auf Catharina und auf Chach beziehen kann, markiert diese Bannbeziehung auf sprachlicher Ebene. Ebenfalls hierher gehört, dass die Entgegensetzungen erst im dialogischen Sprachhandeln hervorgebracht werden. Insbesondere die auffälligen Stichomythien bringen den Gewaltaspekt solcher Normalisierungspraktiken deutlich zum Ausdruck. Die Formierung des Eigenen, mithin die Formierung einer christlichen Ethik, für die das Reich der Affekte das Reich der Sünden und des unerlösten Verhängnisses ist, vollzieht sich mithin als permanenter Reinigungsprozess von den Gefährdungen eines exotisierten Anderen, das gleichsam als inneres Ausland erscheint. Für die weiteren Ausführungen hierzu ist nun entscheidend, dass der orientalische Despot auch im frühneuzeitlichen Souveränitätsdenken eine ausgezeichnete Rolle spielt, mithin auch dort, wo sich ein völlig anders gelagertes, primär politisches Konzept von Reinheit abzeichnet. Der Tyrann gilt hier als Inkarnation eines selbstherrlichen, heidnischen und mörderischen Monarchentums, das gegen die christlichen Herrschertugenden verstößt und sich deshalb ins Unrecht setzt. »Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Treue« unterscheiden etwa in Jean Bodins Six Livres de la République von 1576 den König vom Tyrannen: Dem König nämlich geht es um das Gemeinwohl und um den »Schutz der Untertanen«, während der Tyrann »um seines eigenen Vorteils, der Rache oder des Vergnügens willen« handelt; und während der König »die Ehre der anständigen Frau achtet«, »bedeutet ihre Schändung« dem Tyrannen »Triumph«.32 Diese Zuschreibungen folgen dem Grundsatz frühneuzeitlicher Souveränitätslehren: Der Souverän ist nur dann ein guter Souverän, wenn er auch in moralischer Hinsicht die Führerschaft beanspruchen kann. Gelingt es ihm nicht, seine Affekte zu beherrschen, so ist er sowohl in moralischer als auch in politischer Hinsicht ein schlechter Herrscher bzw. moralisch betrachtet ein lasterhafter Mensch und politisch betrachtet ein Tyrann. Die Verpflichtung auf die Moral und damit auch auf die Reinheit des Gewissens führt also notwendigerweise dazu, dass der absolute Souverän seinen Absolutheitsanspruch einschränken muss. Es ist demzufolge die Einlösung des Souveränitätsgedankens in seiner Absolutheit, die den orientalischen Herrscher zum Tyrannen macht und zugleich eine Schwierigkeit in der Anlage dieses Rechtssystems anzeigt: Die Macht der Souveränität hat ihren Grund darin, dass der Souverän außerhalb bzw. über dem Gesetz steht und er prinzipiell legitimiert ist, den Ausnahmezustand anzuwenden, mithin als Tyrann zu handeln. Strukturell betrachtet 32 Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, Buch I – III, München 1981; Buch IV – VI München 1986, 2. Buch, Kap. 4, 353.

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bezeichnet also jeder Souverän die Grenze zwischen Recht und Unrecht und ist immer zugleich gerechter Herrscher und unrechtmäßiger Tyrann. Wenn nämlich der Souverän das Recht setzt und entscheidet, wer innerhalb und wer außerhalb des Gesetzes steht, folgt daraus konsequent, dass er selbst vom Gesetz nicht eingeholt werden kann. Die Auslegung der Stellung des Souveräns in dieser Schärfe entspricht jedoch nicht der politischen Praxis.33 Vielmehr besetzt der Tyrann, zumal in seiner Typisierung als orientalische Bestie, jene Position der Ausnahme, mit der die Regel bestätigt wird. Der Tyrann nämlich legt das so definierte Recht des Souveräns in aller Schärfe aus, indem er es für die Umsetzung seiner eigensüchtigen Interessen nutzt, sich nicht auf die Moral und damit auch nicht auf die Reinheit des Gewissens verpflichten lässt. Hierzu wäre ein Selbstopfer notwendig, das seinen Absolutheitsanspruch einschränkt.34 Strukturell betrachtet ist es die Reinheit im Sinne des Tugendideals welche die Reinheit der absoluten politischen Gewalt des Souveräns einschränkt. D. h., der frühneuzeitlichen Theorie der Souveränität zufolge ist die absolute Macht des Souveräns als Stellvertreter Gottes im Sinne einer Reinheit als Unbeschränktheit und Unbedingtheit nur als Ausnahmezustand tyrannischer Machtausübung denkbar. Die reine, unbeschränkte Gesetzesmacht des Souveräns ist damit eine Grenzbestimmung, die aber zugleich die Schwelle des Umschlags von Recht und Unrecht markiert. Der Allmachtsanspruch des Tyrannen ist überdies schon deshalb zu verurteilen, weil er den weltlichen Souverän nicht mehr nur als Stellvertreter Gottes auf Erden ansieht, sondern gleichsam selbst die Position des höchsten Rechts beansprucht. Mit Chach Abas bringt Gryphius’ Trauerspiel einen solchen tyrannischen Souverän auf die Bühne, und mit dem Aufeinandertreffen von Märtyrerin und Tyrann im imaginären Bildraum des Orients werden sowohl die religiösen als auch die politischen Absolutheitsansprüche als von einer unauflösbaren Paradoxie durchdrungen vorgeführt. 33 Vgl. zu dieser »radikalen Auslegung« des Rechts der Souveränität, das in struktureller Hinsicht die Ununterscheidbarkeit von »gerechte[m] Herrscher und unrechtmäßige[m] Despot, geachtete[m] König und gefürchtete[m] Tyrann« bedeutet, die Ausführungen zum frühneuzeitlichen Souveränitätsdenken bei Ethel Matala de Mazza, »Die Regeln der Ausnahme. Zur Überschreitung der Souveränität in Fénelons Télémaque und Mozarts Idomeneo«, in: Gerhard Neumann, Rainer Warning (Hgg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg 2003, 257 – 286, hier 260. Vgl. dort auf 261 auch den Hinweis darauf, dass diese »unumschränkte Herrschaft des Fürsten« im 17. und 18. Jahrhundert nicht der politischen Praxis entsprach und auch »in den staatstheoretischen Abhandlungen und reichspublizistischen Schriften der Neuzeit [nicht] als bedingungslos gültiges politisches Prinzip postuliert« wurde. 34 Zum Selbstopfer als Lösung des konstitutionellen Problems von Bodins Souveränitätslehre vgl. Koschorke, Das Begehren des Souveräns, 154.

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IV. Auf dem Kampfplatz I: Göttliches Recht und Recht des Tyrannen Bereits in der ersten Abhandlung treffen Catharina und Chach Abas aufeinander. Ihr Redegefecht ist ein Kampf um das absolute Recht: Für Catharina ist das höchste Recht das göttliche, das sie auf die asketischen Ideale der Reinheit, Keuschheit und Jungfräulichkeit verpflichtet,35 für Chach Abas ist das höchste Recht das reine, durch keine anderen Rechtsansprüche eingeschränkte Recht des Souveräns, dem es freigestellt ist, das Recht in den Dienst seines Liebesbegehrens zu stellen und es willkürlich so zu setzen, wie es sein Affekthaushalt vorgibt. Cath. Der Christen Recht verknüpfft nur Zwey durch dises Band. Chach. Der Persen Recht gilt mehr. Wir sind in ihrem Land! Cath. Noch mehr des Höchsten Recht! wir steh’n auff seiner Erden. Chach. Was Abas schafft muß Recht / dafern es Vnrecht / werden. (I, 781 – 784)

Wenn Chach Abas postuliert, dass die Absolutheit seiner souveränen Macht das Unrecht zu Recht macht, dann bezieht er sich auf jene extreme Auslegung der souveränen Macht, die ihn im zeitgenössischen Verständnis zum Tyrannen macht. Während Catharina ihn nämlich auf das Gebot der Selbstüberwindung hinweist und damit auf das Tugendideal der Affektbeherrschung verpflichtet, legitimiert er seine tyrannische Auslegung des souveränen Rechts gerade damit, dass es ihm frei stehe, den Ansprüchen seiner Affekte mit Macht Geltung zu verschaffen. Ist er doch, wie er versichert, »mehr denn frey durch Macht ihr abzudringen; // Was sie durchauß versagt. Sie weiß; wir können zwingen« (I, 799 f.). Liebe aber lässt sich bekanntlich nicht erzwingen, und genau hier liegt das Problem, das Gryphius’ Trauerspiel verhandelt, weshalb es der gängigen Verbindung von Souveränitätsdenken und Orientalismus eine entscheidende Pointe hinzufügt. Geographisch betrachtet verschiebt es mit der Wahl Georgien-Gurgistans schon das Christentum in den Orient, Persien wiederum liegt jenseits der Türkei. Gegenüber dem bekannten Orientalismus wird so der imaginäre Bildraum eines Orients des Orients konstruiert. Dieser Zuspitzung korrespondiert die paradoxe Figur eines Tyrannen, dessen absolute Souveränität auf dem Spiel steht, weil er nicht nur grausam und wollüstig ist, sondern liebt. Unfähig, den »Ausnahmezustand der Seele, 35 Zur Legitimation der souveränen Herrscherin durch die theologische Vorstellung des rechten Rechts vgl. Rüdiger Campe, »Theater der Institution. Gryphius’ Trauerspiele Leo Armenius, Catharina von Georgien, Carolus Stuardus und Papinianus«, in: Roland Galle, Rudolf Behrens (Hgg.), Konfigurationen der Macht in der frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, 257 – 287, hier 259 f.

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die Herrschaft der Affekte« zu beenden und sich damit durch jene der christlichen Herrscherin zugeschriebenen stoischen »Behauptung der Keuschheit« auszuzeichnen, ist er ganz Objekt seiner Natur:36 Er überschreitet die Grenze von der »hocherhabenen Kreatur« zum »Tier mit ungeahnten Kräften«, vom tugendhaften Herrscher zum »Wahnsinn« des Despoten.37 Aufgehoben wäre dieser Objektstatus durch die Selbstanwendung der Souveränität, durch den souveränen Akt des freiwilligen Verzichts auf die Souveränität, mithin durch jene Selbstüberwindung, die Catharina einfordert. Will er aber weder auf die Liebe, noch auf die absolute Souveränität verzichten, muss er selbst die Position des höchsten Rechts beanspruchen. Er, der radikal auf das Diesseits Bezogene, muss sich auf das Jenseitige hin öffnen, er muss die absolute Reinheit der Himmelskönigin lieben und von dieser wieder geliebt werden. Und umgekehrt muss natürlich auch die jenseitige Catharina auf die radikale Gegenposition des Diesseits treffen, um im absoluten Widerstand die Absolutheit ihrer Reinheit behaupten zu können. Indem beide Konzepte von Reinheit in ihrer Maßlosigkeit gezeigt werden, problematisiert das Trauerspiel die Paradoxien sowohl der religiösen wie der politischen Absolutheitsansprüche. V. Auf dem Kampfplatz II: Wahn-sinnige und vernünftige Hermeneutik Die Radikalität, mit der Catharina ihre Glaubensgewissheit vertritt, sowie die Radikalität, mit der Chach Abas das Recht zum Erfüllungsgehilfen seiner Liebe machen will, stößt in ihrem jeweiligen Umfeld nicht nur auf Verständnis – im Gegenteil. In langen Dialogen mit ihren jeweiligen Vertrauten, in denen Catharina und Chach Abas ihr Innerstes zu erkennen geben, wird diesem Unverständnis Raum gegeben. Ich komme zunächst zum Dialog zwischen Salome und Catharina, den man auch als hermeneutische Auseinandersetzung um die Verlässlichkeit allegorischer Zeichendeutung verstehen kann: Gegenstand des Dialogs ist die Frage, ob es für die im Kerker gefangene Catharina noch Zeichen der Hoffnung gebe. Mehrfach erkennt Salome Hoffnungszeichen dort, wo Catharina auf der Verbindlichkeit traditionell festgelegter Zeichenverweise beharrt.38 Als ein Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, 203 – 430, hier 353. 265. Vgl. auch 277 zur Steigerung des »Affektlebens« und zum damit einhergehenden Konflikt zwischen »Empfindung und Wille«, der zur Entscheidungsunfähigkeit führt: »Auffallend ist’s zumal bei dem Tyrannen. Sein Wille wird im Verlauf von der Empfindung mehr und mehr gebrochen: zuletzt tritt der Wahnsinn ein.« 38 Zur unterschiedlichen Allegorese der Rose und der Kronentrias durch Catharina und Salome sowie zu der daraus entstehenden Entfremdung zwischen der Köni36 37

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solches Hoffnungszeichen deutet Salome die Natur, genauer die im Garten aufblühenden Rosen, die ihrer Ansicht nach als des »neuen SommersZeichen« (I, 301) eine baldige Änderung der Lage ankündigen. Für Catharina hingegen ist die Bedeutung der Rosen immer schon festgelegt und in dieser Festlegung auch allgemein verbindlich: Rosen versinnbildlichen die Vergänglichkeit des Lebens und die Nichtigkeit der irdischen Existenz. Sie verweisen auf die Passion Christi, und so kann Catharina im Bewusstsein der imitatio christi sagen: »Die Dornen fühl ich noch die unauffhörlich stechen« (I, 318). Doch gerade an dieser Verknüpfung von Glaubensund Zeichengewissheit rüttelt Salome. Wenn nämlich, so ihr Argument, »jtzt der Grimm der Winter sich gelegt« und »[d]er harte Dornenstrauch erneute Rosen trägt« (I, 319 f.), dann ist weder der Verweis der Rosen auf die Passion Christi zwingend, noch der auf die Dornenkrone, und schon gar nicht muss sich Catharina dann als Märtyrerin und zur jungfräulichen Reinheit bestimmte Christusbraut imaginieren. Zum Deutungsstreit kommt es auch bei der Auslegung von Catharinas Traum:39 Während für Catharina der Traum die weltliche Pracht der Königskrone als Marterkrone vorgeführt hat, ihr deshalb nur die Himmelskrone Freiheit gewährt, gilt für Salome das Gegenteil: »Doch diß Gesichte macht die Hülff ihr offenbar / Die Freyheit rufft uns heim!« (I, 356 f.) Sie bietet ihre ganze politische Klugheit auf, erwähnt geschickt, dass Catharinas Sohn Taramas sein Reich zurückerobert habe, somit die weltliche Herrschaft wieder in Aussicht gestellt sei.40 Es sei folglich eine »schöne Cron // Die ihr die gin und ihrer Vertrauten vgl. Arend, Rastlose Weltgestaltung, 102 – 105 sowie 114 zu den Bezügen zwischen Catharinas Rosenallegorese und Benjamins These von der Allegorie als Benennen der Dinge, die sich die Natur verfügbar macht. Zur ikonographischen Konkurrenz zwischen der bei der Rosenallegorese von Catharina aktualisierten Occasio-Fortuna-Fatum-Konstellation und der von Salome aktualisierten Venus-Flora-Konstellation sowie zur Frage nach dem »richtigen und falschen Lesen« als Frage der »Machtverhältnisse« vgl. Berndt, »›So hab ich sie gesehen‹«, 237 f. 39 Überzeugend arbeitet Arend ausgehend von den differenten Deutungen des Traums durch Catharina und Salome die Brüchigkeit des mundus symbolicus heraus. Vgl. dazu Arend, Rastlose Weltgestaltung, 97 – 110. Der gegen Arends Interpretation vorgebrachte Einwand Hongs, Arend würde »die theatrale Grundstruktur des Stückes, die anhand von Dialogen zwischen kompetenten und inkompetenten Zeichendeutern den Verstehensprozess der Zuschauer nachzeichnet und deren mögliche Fragen artikuliert und entkräftet« (166), verkennen, ist dagegen wenig plausibel, zumal die Hierarchisierung der Deutungskompetenz nicht begründet, sondern in methodisch problematischer Weise mit den Kategorien ›richtig‹ und ›falsch‹ operiert wird. Vgl. dazu Hong, Gewalt und Theatralität, 165 f. Borgstedt betont insbesondere das Angstmotiv in Catharinas Traum, dessen »Qualität einer existentiellen Befindlichkeit« er in den Kontext der Lutherischen Gnadenauffassung stellt, welche in Gryphius’ Drama »der heroisierenden Semantik des Martyriums an die Seite« trete. Vgl. dazu Borgstedt, Text und Konfession, 576 und 580.

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Nacht gezeigt« (I, 364 f.). Und tatsächlich bleibt dies zunächst nicht ohne Wirkung. Cath. Nun acht ich keiner // Schmertzen Der Sturm der Angst vergeht! die Last von meinem // Hertzen Verfällt auff dise Stund! Ach / Ketten / Noth und Stein Sind mir ein Kinderspil / mein Sohn! wenn dich allein Der Blitz nicht hat berührt! mein Sohn nu du entgangen! Mein Sohn! nu du regirst nun bin ich nicht gefangen! O wanckelbare Freud! ich glaube was ich wil / Vnd leider! sonder Grund! (I, 364 – 372)

Der fehlende Grund lässt sich auch als fehlende Verankerung der Zeichen in einem allgemein verbindlichen Wissensgrund verstehen. Wenn es aber einen Spielraum für divergierende Deutungen gibt, dann gibt es auch einen Spielraum für alternative Konzepte der Selbstbegründung. Nun zum Dialog zwischen Seinelcan und Chach Abas: Auch Chach Abas findet kein Verständnis, als er sein Innerstes, den Ausnahmezustand der Leidenschaften, offenbart, der wie ein »jnnerlicher Brand« sein »Marck verzehret« und in ihm die Macht übernommen hat: »Ach leider! du verstehst die Hertzens Wunde nicht.« (II, 23) Seinelcan aber versteht nicht, warum das Innerste die Machtverhältnisse auf den Kopf stellen, warum aus dem absoluten Souverän, der Gott gleich, ›alles zwingt‹, ein Gefangener seiner selbst und unmännlicher Weichling werden kann, dessen »Arm zu schwach für eine Fraue« (II, 190) ist. Für Seinelcan ist der Fall klar: Er kennt nur den Souverän, nicht aber das Individuum Chach Abas: »Seinelcan. O Persens heisse Pest? ist diß was Abas drücket? // Warumb das Vnthir nicht stracks von der Welt gerücket?« (II, 65 f.) Als Untier ist Catharina nur noch Objekt des souveränen Tötungsrechts. Chach Abas jedoch verhandelt das Problem zunächst nicht auf souveränitätstheoretischer, sondern auf anthropologischer Ebene: Er buchstabiert den Konflikt nicht nach den Zeichen der Macht, sondern nach den Zeichen des Körpers. Chach. O Blinder! du verstehst nicht was die Liebe kan! // Kom her bethörter Mensch; // schau deinen Fürsten an! // Gib acht auff sein Gesicht / auff sein stetsheisses Sehnen // Auff den erblasten Mund / und jmmer-neue Thränen / [ …]. (II, 67 – 70)

In dieser Perspektive treten innerer und äußerer Friede auseinander, führt der äußere Friede zu einem Kampf im Innern und umgekehrt. Chach Abas 40 Dass Catharina auch während ihrer Gefangenschaft den Platz des Herrschers für ihren Sohn frei hält, damit die Kontinuität der Herrschaftsabfolge sichert und als weibliche Herrscherin selbst bloße Stellvertreterin in einer dynastischen Abfolge von männlichen Herrschern sein kann, betont Alt, Der Tod der Königin, 63.

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kämpft nicht mehr nur gegen einen weltlichen Feind, sondern gegen Gott selbst, weil er Catharina, die »Lust der Welt«, dem »Himmel nicht [ …] wil gönnen« (II, 250). Während Seinelcan – Bezug nehmend auf die Geschichte der schönen Griechin Irene, deren Reize Mohammed II verfallen war, der ihr dann den Kopf abschlagen ließ, um seine Macht nach innen und außen wiederherzustellen – Catharinas Kopf fordert, um den Konflikt zu lösen, instrumentalisiert Chach Abas das weltliche Recht, um sich des Höchsten Recht zu verschaffen: »Pflegt nicht das heilge Recht ans Königs Hand zu gehen // Weil recht was der Gekrönte meint? // Gesetzt auch! daß wir etwan uns beflecken! // Der Purpur muß es decken.« (III, 435 – 438) Gerade in dieser maßlosen Selbstüberschätzung souveräner Herrschaft, die das Recht des Souveräns über das göttliche Recht stellt, wird die Verflechtung von Religion und Politik, die Verflechtung von transzendent und immanent bestimmter Reinheit offenbar. Dies markiert die Metapher der Befleckung, sie verweist auf das Zeichen des religiösen Reinheitsideals schlechthin – auf die Jungfräulichkeit. Folgendes lässt sich festhalten: Der formale Umstand, dass dem Unverständnis der Vertrauten so viel Raum gegeben wird, ist in mehrfacher Hinsicht von systematischer Relevanz. Zunächst arbeiten die ausführlichen Dialoge der binären Struktur des Trauerspiels zu: So steht der jungfräulichreinen Liebe zu Gott die Sinnlichkeit der orientalischen Wollust gegenüber, dem göttlichen Recht das Recht des Tyrannen, sowie dem Selbstopfer christlicher Märtyrer die verweigerte Selbstbeschränkung des absoluten Souveräns. Die Sexualität ist dabei stets das Medium der Verbindung von Religion und Politik. Das Unverständnis der Vertrauten betont, dass die religiöse und die politische Absolutsetzung von Reinheit mit Konzepten der Selbstbegründung verknüpft sind, die sich in ihrer Maßlosigkeit der Vernunft entziehen: und dies ist in anthropologischer wie in politischer Hinsicht gleichermaßen schädlich. Es führt erstens in den Wahnsinn – sei es der Wahn aus Liebe bei Chach Abas oder, wie Imanculi, ein Vertreter der Perser, Catharina vorwirft, das Sterben für den Wahn, mit dem Glauben an Gott auch die Wahrheit zu besitzen (IV, 181).41 Zweitens führt es zu Formen tyrannischer Herrschaft, wenn das Wort – im Sinne von Verhandlungsbereitschaft, Vertragssicherheit und verlässlicher Bündnispolitik – nichts mehr gilt, weil allein der Körper als Zeuge der Wahrheit zugelassen ist: und 41 Zu »Imanculi als Vertreter der Moderne«, dessen Argumentation im »frühneuzeitlichen Kontext« als »neustoizistisch« zu bewerten sei, vgl. Arend, Rastlose Weltgestaltung, 119. Vgl. dagegen Borgstedt, »Andreas Gryphius«, 42, der auf die systematische Engführung zwischen Liebesdiskurs und Martyrium im Sinne einer protestantischen Glaubensgewissheit hinweist und darin eine Nähe zu gegenreformatorischen Bestrebungen erkennt, die humanistische Welt zu resakralisieren.

Theologie und Politik der Reinheit in Catharina von Georgien

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auch dies gilt für die Wahrheit des Märtyrers und für die des Tyrannen. Beide Wahrheiten setzen den Menschen außer sich und führen in Bereiche des Nicht-Mehr-Menschlichen. Nimmt man diese in der Trauerspielhandlung vollzogene Analyse der Bedingungen und Möglichkeiten von Reinheit ernst, so erschließen sich Fragestellungen, die im Rahmen der konsolatorischen Relevanz des konfessionell gebundenen barocken Märtyrerdramas nicht mehr zu beantworten sind: Mit der Frage nach der Existenz jenseits der Entgrenzung von Tod oder Wahnsinn wird dann nämlich auch die Frage nach im Leben selbst verankerten Konzepten der Selbstbegründung gestellt. Das Tugendideal der Reinheit wird in einer postkonfessionellen Wissensordnung aber nicht mehr mit Maßlosigkeit, sondern wieder mit jenem an antiken Gesundheitslehren orientierten diätetischen Ideal der Mäßigung verbunden werden, das auch schon in Gesundheitslehren der Renaissance eine zentrale Rolle gespielt hatte.42 Nicht zuletzt im Zuge dieser Neubesinnung auf die Antike ist es nur konsequent, dass das für die neuzeitliche Subjektbegründung dominante diätetische Ideal der Mäßigkeit immer seltener in den Zuständigkeitsbereich der Theologie fällt, sondern nun vielmehr eine Schlüsselfunktion für die wechselseitige Begründung von Anthropologie und Ästhetik einnehmen wird.43

42 Das diätetische Ideal der Mäßigkeit ist fester Bestandteil von Gesundheitslehren der Renaissance. Es verbindet sich mit so berühmten Namen wie Cornaro, Paracelsus oder van Helmont und stellt »im 16. und 17. Jahrhundert eine Art Alltagsphänomen« dar. Vgl. dazu Klaus Bergdolt, Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens, München 1999, 207 f., 210 – 215 und 218. 43 Vgl. dazu Verf., Aufmerksamkeit.

Narrative und kulturelle Kontaktzonen in Mary Rowlandsons Captivity Narrative Von Caroline Rosenthal

I. Einleitung Der folgende Beitrag widmet sich dem Phänomen der kulturellen Kontaktzone, einem Raum, in dem disparate Kulturen, oft in asymmetrischen Machtverhältnissen, sich begegnen und auf materielle wie symbolische Weise miteinander ringen, sich abgrenzen, aber auch vermischen.1 Eine solche Kontaktzone ist in der 1682 erschienenen A True History of the Captivity and Restoration of Mrs. Mary Rowlandson dargestellt, einem Text, der aus dem Kulturkontakt verschiedener Stämme der Algonquin Indianer an der Nordostküste der heutigen USA und den puritanischen Siedlern Neuenglands im 17. Jahrhundert entstanden ist. Rowlandsons Text repräsentiert aber nicht nur eine kulturelle Kontaktzone, sondern bildet das Ringen um die Konstitution einer eigenen Identität in Abgrenzung zum Anderen und Fremden im textuellen Raum ab. Die Erzählung ist durch zwei sehr unterschiedliche Erzählstimmen gekennzeichnet und kann insofern auch als narrative Kontaktzone verstanden werden. Wie bereits der Titel indiziert, wird dieser Text gemeinhin dem Genre der Indian Captivity Narrative zugerechnet, also Berichten von Weißen, die in Gefangenschaft der Indianer gerieten, einige Zeit bei ihnen lebten und nach ihrer Freilassung von ihren Erlebnissen berichteten. Die Captivity Narrative ist im Zusammenhang mit der Eroberung und Kolonialisierung des gesamten amerikanischen Kontinents ein weit verbreitetes Phänomen.2 Je nach den Motivationen und Aktivitäten der Weißen – kamen sie als Entdecker, Pelzhändler, Siedler oder Missionare – und je nachdem, welcher der äußerst diversen indianischen Stammeskulturen sie in die Hände fielen, sind die hieraus resultierenden Be1 Zur weiteren Erläuterung des Terminus Kontaktzone siehe: Mary Louise Pratt, »Arts of the Contact Zone«, MLA 13.9 (1991), 33 – 40. 2 Zur Verbreitung, Vermarktung und kulturellen Funktion des Genre siehe: Kathryn Zabelle Derounian-Stodola, »The Indian Captivity Narratives of Mary Rowlandson and Olive Oatman: Case Studies in the Continuity, Evolution, and Exploitation of Literary Discourse«, Studies in the Literary Imagination 27.1 (1994), 33 – 46.

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richte sehr unterschiedlich. Das liegt natürlich auch daran, dass diese autobiographischen Berichte zwar als authentische Zeugnisse verstanden sein wollten, sie aber unweigerlich die narrativen, sprachlichen und ideologischen Muster ihrer eigenen Kultur reflektierten. Zudem erfüllten sie zunehmend propagandistische Zwecke, indem sie die Motive der weißen Eroberer legitimierten. Daher nehmen sich beispielsweise die Berichte französischer Jesuiten, die im Gebiet des heutigen Kanada in die Hände der Irokesen geraten waren, ganz anders aus als die der puritanischen Siedler, um die es im Folgenden gehen wird.

II. Historischer und kultureller Kontext Mrs. Mary Rowlandson wurde 1676, gemeinsam mit ihren 3 Kindern, aus der Stadt Lancaster in Massachusetts entführt und verbrachte drei Monate bei den Stämmen der Nipmucs, Narragansett und Wampanoag, bevor sie für 20 Pfund freigekauft wurde.3 Ihre Erzählung setzt ein mit dem Überfall der Indianer, die sie als blutrünstige Heiden beschreibt, die gnadenlos Frauen und Kinder abschlachten. Sie schildert, wie englische Siedler in ihrem eigenen Blut waten, von den Indianern entblößt und zerhackt werden und wie ihre Schwester und mehre andere ihrer Angehörigen niedergemetzelt werden – ihr Mann ist mit einer Delegation in Boston und entgeht dem Angriff. Bevor Rowlandson in die ›Wildnis‹ verschleppt wird, blickt sie zurück auf die Stätte der Verwüstung: It is a solemn sight to see so many Christians lying in their blood [ …] like a company of sheep torn by wolves, all of them stripped naked by a company of hellhounds, roaring, singing, ranting, and insulting, as if they would have torn our very hearts out; yet the Lord in His almighty power preserved a number of us from death, for there were twenty-four of us taken alive and carried captive.4

Rowlandson selbst wird von einer Kugel getroffen, die vor allem ihre kleine Tochter, die sie in den Armen hält, durchbohrt und so lebensgefährlich verletzt, dass sie in den ersten zwei Wochen der Gefangenschaft stirbt. Von ihren beiden anderen Kindern wird Rowlandson getrennt, als sie an Quin3 Zum historischen und kulturellen Kontext siehe: Neal Salisbury, »Contextualizing Mary Rowlandson: Native Americans, Lancaster and the Politics of Captivity«, in: Neal Salisbury, Early America Re-Explored: New Readings in Colonial, Early National, and Antebellum Culture, New York 2000, 107 – 150. 4 Mary Rowlandson, »A Narrative of the Captivity and Restoration of Mrs. Mary Rowlandson«, in: Nina Baym (Hg.), The Norton Anthology of American Literature, New York 1998, 298 – 330, hier 300. Alle weiteren Zitate aus Rowlandsons Text sind dieser Ausgabe entnommen.

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napin, den Häuptling der Narragansett verkauft wird. Rowlandsons Erzählung ist in 20 Kapitel unterteilt, die alle mit »removes«, also ›Umsiedlungen‹ übertitelt sind und ihre Odyssee durch die Wildnis in der Gefangenschaft der Indianer schildert. Die wilderness, in die Rowlandson verschleppt wird, ist für sie eine faktisch-geographische ebenso wie eine skriptural-religiöse, die im Gegensatz zu Zivilisation, göttlicher Ordnung und geregelter religiöser Gemeinschaft steht. Sie beschreibt ihre erste Nacht unter den Indianern wie folgt: »This was the dolefulest night that ever my eyes saw. Oh the roaring, and singing and dancing, and yelling of those black creatures in the night, which made the place a lively resemblance of hell« (300). In diesem Zitat wird zum einen deutlich, wie kulturelle Konstruktionen, auch solche der Hautfarbe, auf den Körper des anderen eingeschrieben werden. Die Indianer werden als Teufel apostrophiert und damit als »black creatures«. Zum anderen machen Schilderungen wie diese nachvollziehbar, wieso Rowlandsons Erzählung in der Amerikanistik bis heute als Prototyp der Gattung der Indian Captivity Narrative gilt, die nicht nur im 17. sondern vor allem im 18. und 19. Jahrhundert sehr populär war. Es zeigt sich hier schon das melodramatische und schreckenerregende Potential, das die Geschichte einer unter die ›Wilden‹ gefallenen Frau birgt, ein Potential, das nachfolgende Captivity Narratives weiblicher Autorschaft so weit fiktionalisieren, dass diese oft als Vorläufer der sentimental und der gothic novel gehandelt werden. Vor allem aber gilt die Captivity Narrative als erste genuin amerikanische Text-Gattung – wobei der Terminus ›amerikanisch‹ in seiner usurpatorischen Geste auf den gesamten Kontinent natürlich äußerst problematisch ist. Die Gattung amalgamiert bereits bekannte Textformen wie die Predigt, die Jeremiade oder die spirituelle Autobiographie, vor allem aber entsteht sie durch Kulturkontakte in der neuen Welt und trägt maßgeblich zur Herausbildung einer US-amerikanischen Identität bei. Denn auch wenn die Subjekte der Erzählung sich selber als englisch wahrnahmen und beschrieben, kommt es in den Texten zu signifikanten Verschiebungen und Vermischungen, in denen sich das englische Selbst durch die Begegnung mit dem Anderen – der Wildnis wie den Indianern – neu definiert. Rowlandson wurde während des King Philip’s War entführt, benannt nach dem Häuptling der Wampanoags, Metacom, den die Engländer in Zeiten des Friedens und als Zeichen der Freundschaft King Philip genannt hatten. Als der Krieg ausbrach, hatten Engländer und Indianer bereits fünfzig Jahre mehr oder weniger friedlich koexistiert; vielleicht wurde der Krieg gerade deswegen auf beiden Seiten mit erbitterter Härte geführt. Die indianische Bevölkerung der Region wurde um 40 Prozent dezimiert, sodass der Krieg einen Wendepunkt in der Siedlungsgeschichte Neuenglands darstellt, weil sein Ende auch das Ende einer Autonomie indianischer Kulturen

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in diesem Gebiet einläutete.5 Die Indianer nahmen während und nach dem King Philip’s War aus verschiedensten Gründen Weiße gefangen, aus Rache, zur Adoption, zur Heirat oder, wie im Fall Rowlandson, um ein stattliches Lösegeld zu erpressen. Als Tochter des größten Grundbesitzers und Frau des Pastors der Gemeinde hatte Mary Rowlandson eine herausragende soziale Position – sie durfte sich Mrs. nennen und nicht nur goodwife wie alle anderen Frauen – und war damit eine prestige- und gewinnträchtige Beute. Rowlandson hat ihre Erzählung vermutlich bald nach ihrer Freilassung niedergeschrieben, aber erst 6 Jahre später, 1682, veröffentlicht, zu einer Zeit, als die puritanische Gemeinschaft dringend der Rückversicherung ihrer Mission bedurfte. Mary Rowlandsons Captivity Narrative bot, unter Rückgriff auf die Bibel, eine Lesart der jüngsten historischen Ereignisse an – der blutigen Kriege mit den Indianern, der Ernteausfälle, der Religionskrisen – welche die Neuengländer in ihrem Glauben bestärkte, trotz aller Rückschläge Gottes auserwähltes Volk zu sein. Denn letztlich errettet Gott in seiner Gnade die geläuterte Gläubige und gibt sie in die Obhut der religiösen Gemeinschaft zurück, so dass Captivity Narratives der Bestätigung der puritanischen Mission in Amerika dienten. Als John Winthrop 1630 die ersten Puritaner nach Neuengland führte, hielt er an Bord der Arbella auf der Überfahrt eine Predigt, die den Siedlern in Erinnerung rief, dass sie mit der Besiedlung Amerikas einen neuen covenant, einen neuen Bund mit Gott eingehen. Die Kolonie soll zu einem »Model of Christian Charity« werden, so der programmatische Titel von Winthrops Rede, und die Siedler eine »city upon a hill«, ein neues Jerusalem erbauen.6 Die Puritaner deuteten ihre Atlantiküberquerung typologisch als Antitypus zum Auszug der Israeliten aus Ägypten im Alten Testament. Die Kolonie wurde damit zum neuen Zion, welches das letzte 1000-jährige Reich Christi vorbereiten sollte. Die Puritaner reihten ihre Mission damit in eine geistliche, nicht in eine weltliche Geschichtsschreibung ein und bezogen ihr manifest destiny, ihr Recht auf den neuen Kontinent, aus dem Gedanken der vorbestimmten Erwähltheit. Wie John Cotton, einer der mächtigen religiösen Führer seiner Zeit 1630 betonte, sahen die Siedler sich nicht als Eroberer, sondern begriffen sich als Erwählte, die sich nur das 5 Zur kulturhistorischen Dimension des Krieges, die in den letzten beiden Jahrzehnten neu aufgearbeitet wurde, siehe Jill Lepore, The Name of War: King Philip’s War and the Origins of American Identity, New York 1999; David R. Mandel, King Philip’s War: The Conflict over New England, New York 2007; Eric Schultz, Michael J. Tougias, King Philip’s War: The Histoty and Legacy of America’s Forgotten Conflict, Woodstock 2000. 6 John Winthrop, »A Model of Christian Charity«, in: Nina Baym (Hg.), The Norton Anthology of American Literature, New York 1998, 214 – 225, hier 225.

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Land nahmen, das ihnen von je her versprochen war. Anders als andere Entdecker kamen sie auch nicht als Missionare, die Gottes Evangelium in die neue Welt tragen wollten, sondern um eine bessere christliche englische Gemeinschaft zu errichten – deshalb hat Michel Foucault die englischen Kolonien als prägnantes Beispiel für seinen Begriff der Heterotopie angeführt.7 Winthrops Rede macht deutlich, unter welchem immensen Druck die frühen Siedler standen, die sich vor der ganzen Welt des new covenant of grace als würdig erweisen mussten. Gottes Gnade konnte man sich in der calvinistischen Doktrin, der sie folgten, zwar nicht verdienen, da die Erwähltheit unwiderruflich vor der Geburt bestimmt wurde, aber gerade deswegen wuchs die Notwendigkeit, Sicherheit darüber zu erlangen, ob man zu den Erwählten, zu den saints gehörte. Die puritanische Kultur des 17. Jahrhunderts ist daher geprägt von Introspektion und quälender Selbsthinterfragung und -überwachung, wie sie sich prägnant in der Lyrik Edward Taylors aber auch in den Tagebüchern der Zeit, etwa von Samuel Sewall zeigen, die Zeugnisse dafür sind, wie das Individuum die eigene Innerlichkeit durchleuchtete auf der Suche nach Zeichen der Verfehlung, Sünde oder Hybris, aber auch der Teilhabe an der Gnade Gottes. Diese Suche nach Zeichen für die Erwähltheit des Einzelnen, vor allem aber der ganzen Gemeinschaft, zeigt sich in Mary Rowlandsons Captivity Narrative sehr deutlich. Rowlandson gehörte bereits zur dritten Generation von Puritanern, und ihre Erzählung wurde zu einer Zeit publiziert, zu der sich einerseits viele Mitglieder der Gemeinde von den religiösen Wurzeln entfernten und sich mehr weltlichen Interessen zuwandten und in der andererseits ein Bewusstsein für die Eigenständigkeit der Kolonien wuchs und dadurch die Erfindung eines Gründungsmythos notwendig wurde. Mitte des 18. Jahrhunderts war der Puritanismus als vorherrschende religiöse Doktrin in den Kolonien bereits auf dem Rückzug. Dennoch wurde die puritanische Rhetorik, wie Sacvan Bercovitch und andere dargelegt haben, fester Bestandteil des amerikanischen Selbstverständnisses: Der Gedanke der Erwähltheit, des manifest destiny, des Führungsanspruchs in der Welt, vor allem aber der Mechanismus, soziale Krisen und reale Missstände stets als Strategien sozialer Revitalisierung zu begreifen, als Chancen der Läuterung, ohne die ursprüngliche Idee Amerikas in Frage zu ziehen, prägen US-Amerika bis heute.8 Michel Foucault, »Of Other Spaces«, Diacritics (1986), 22 – 27, hier 27. Wie Sacvan Bercovitch u. a. dargelegt haben, hat die amerikanische Kultur stets versucht, Widersprüche und abweichende Meinungen (dissent) in einen Konsensus zu überführen, s. hierzu z. B. Sacvan Bercovitch, »Fusion and Fragmentation: The American Identity«, in: Robert Kroes (Hg.), The American Identity: Fusion and Fragmentation, Amsterdam 1980, 19 – 45. 7 8

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III. Narrative Kontaktzone Rowlandsons Bericht ist aus heutiger Sicht so interessant, weil sich in ihm mit zeitgenössischen kultur- und literaturwissenschaftlichen Methoden widersprüchliche Erzählstränge oder -instanzen entdecken lassen. Es gibt zum einen die Stimme der teilnehmenden Erzählerin, die unmittelbare Erfahrungen wiedergibt, und die voice over, die Stimme, die diese Erlebnisse im Sinne der Bibel kommentiert, interpretiert und vermittelt.9 Unklar ist, in wie weit die biblischen Interpretationen ihrer Erlebnisse alle von Rowlandson selbst stammen, denn obwohl der Text heute in keiner Anthologie amerikanischer Literatur des 17. Jahrhunderts fehlt, ist er ein äußerst hybrider und widersprüchlicher Text, der komplexe Fragen nach Autorschaft aufwirft. Rowlandsons Captivity Narrative erschien 1682 in 4 Auflagen und wurde zum ersten Prosa Bestseller der neuen Welt.10 Da die Puritaner jeden Text skeptisch beäugten, der nicht der Ergründung religiöser Fragen diente und eine weibliche Autorschaft im 17. Jahrhundert zudem undenkbar war, wurde Rowlandsons Erzählung durch zwei Paratexte gerahmt. Eingeleitet wurde er durch ein anonymes Vorwort, das aber mit ziemlicher Sicherheit aus der Feder von Increase Mather stammte, der nicht nur ein einflussreicher religiöser Führer war, sondern sich als Chronist der puritanischen Geschichte verstand und die Ereignisse und Personen der neuenglischen Kolonien heilsgeschichtlich deutete.11 Gleichfalls begleitet wurde 9 Zu den beiden widersprüchlichen Stimmen in Rowlandsons Erzählung siehe auch: Robert Mitchell Breitwieser, American Puritanism and the Defense of Mourning: Religion, Grief, and Ethnology in Mary White Rowlandson’s Captivity Narrative, Madison 1990; Michelle Burnham, »The Journey Between: Liminality and Dialogism in Mary White Rowlandson’s Captivity Narrative«, Early American Literature 28.1 (1993), 60 – 75; Teresa A. Toulouse, »Mary Rowlandson and the ›Rhetoric of Ambiguity‹«, in: Michael Schuldiner (Hg.), Sacvan Bercovitch and the Puritan Imagination, Lewiston 1992, 21 – 52. Keiner dieser Aufsätze geht allerdings genauer auf Rowlandsons Faszination mit der anderen indigenen Kultur ein, die m. E. eine Motivation für ihre berichtende Stimme ist. 10 Der Originaltitel, unter dem Rowlandsons Erzählung erschien, lautete: The sovereignty and goodness of GOD, together with the faithfulness of his promises displayed; being a narrative of the captivity and restoration of Mrs. Mary Rowlandson, commended by her, to all that desires to know the Lord’s doings to, and dealings with her. Especially to her dear children and relations. Dieses sowie dem Text zugehörige andere Dokumente sind in der von Neals Salisbury hervorragend editierten und mit einer Einleitung versehenen Ausgabe zugänglich: The Sovereignty and Goodness of God, Together with the Faithfulness of His Promises Displayed. Being a Narrative of the Captivity and Restoration of Mrs. Mary Rowlandson and Related Documents, Boston 1997. 11 Das mit »Ter Amicam«, »thy three-fold friend« unterzeichnete Preface wird gemeinhin Increase Mather zugeschrieben, s. Salisbury 1997, 63 – 68.

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Rowlandsons Text durch die letzte Predigt, die ihr Mann Joseph vor seinem Tode schrieb.12 Während Mathers Vorwort Rowlandsons Augenzeugenbericht kirchenautoritär und patriarchal bändigte, indem er sie stets nur als ergebene Frau von Joseph Rowlandson kennzeichnet und betont, dass sie sich nur zur Publikation habe drängen lassen, um Zeugnis über die große Gnade Gottes abzulegen, die ihr zuteil wurde, sollte die Predigt das Thema von Rowlandsons Erzählung theologisch erörtern. Sie ist eine typische Jeremiade oder Bußpredigt der Zeit und mahnt, unter Rückbezug auf eine Stelle aus Jeremias, in der Gott droht, sein auserwähltes Volk fallen zu lassen, die Neuengländer zur letzten Chance der Umkehr.13 Beide begleitenden Texte schreiben der Leserschaft von Rowlandsons Text eine strikt religiöse Lesart vor. Zusätzlich zu dieser religiösen Umklammerung des Textes finden sich in der Erzählung zahllose Bibelzitate, die Rowlandsons Empfindungen und Erfahrungen typologisch deuten. Sie greift in ihrer Erzählung vor allem auf das Alte Testament zurück, auf die Geschichtsbücher, auf die Lehrbücher und Psalmen und auf die Prophetenbücher. Während das Buch Hiob beispielsweise die Geschichte des leidenden Gerechten, des ohne Schuld in Not geratenen Menschen, aufruft, illustrieren Zitate aus Jeremias und dem Buch der Richter den gerechten Zorn Gottes, der sein Volk für den Abfall vom Glauben straft – sie geben aber auch Hoffnung auf Erlösung. Der neue Bund, der durch unerschütterliche Treue, Gehorsam und Glauben auch und gerade in Zeiten der Prüfung zu erfüllen ist, wird immer wieder thematisiert und das persönliche Leid in den Kontext einer höheren kollektiven Aufgabe gestellt. Besonders auffällig ist dies beim Verlust ihrer Tochter, von dem Rowlandson distanziert berichtet, ohne die eigenen subjektiven Empfindungen preiszugeben. Die Gefangenschaft, der Tod ihrer Tochter – alle Ereignisse werden als Teil eines göttlichen Plans gedeutet, in dem sie als Erwählte erscheint, der die erneute Chance zur Umkehr gegeben wird, indem sie spirituelle Stärke und Glauben in schier ausweglosen Situationen zeigt: »But the Lord renewed my strength still, and carried me along, that I might see more of His power; yea, so much that I could never have thought of, had I not experienced it« (301). Rowlandson führt Gründe an, warum sie weiterer Läuterung bedarf, so teilt sie den Lesern mit, dass sie oft den Sabbat missachtet 12 Joseph Rowlandsons Predigt trug den Titel »The Possibility of God’s Forsaking a People that have been Visibly Near and Dear to Him, together with the Misery of a People thus Forsaken«, Salisbury 1997, 149 – 164. 13 Zur Form und Funktion der Bußpredigt in der amerikanischen Kultur siehe Sacvan Bercovitch, The American Jeremiad, Madison 1978.

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habe und dass Gott jedes Recht gehabt hätte, sie für immer aus seiner Nähe zu verbannen, aber dass stattdessen »the Lord still showed mercy to me« (302). Mit dem Tod der Tochter nimmt Gott ihr etwas als gerechte Strafe für ihre Sünden, er hält sie zugleich aber auch am Leben, in Rowlandsons Worten: »[… ] as He wounded me with one hand, so he healed me with the other« (302). Die Schrift taucht sogar ganz materiell im Text auf, als ein konvertierter Indianer Rowlandson eine Bibel schenkt, die für sie ein ständiger Quell spiritueller Erbauung und ein Pfand ihrer kulturellen Identität wird; die Bibel begleitet sie durch die Wildnis und dient ihr des nachts sogar als Kopfkissen. Für Rowlandson offenbart sich in der Gabe der Bibel »the wonderful mercy of God« (304), denn sie kann diese gute Tat unmöglich den teuflischen Wilden zurechnen, vor allem weil sie die christianisierten Indianer als die größten Teufel und Verräter brandmarkt, da sie weder der einen noch der anderen Kultur treu sind. Neben der demütig Gott ergebenen Mary Rowlandson, die ihr Schicksal passiv der göttlichen Vorsehung unterstellt, offenbart sich im Text aber auch eine äußerst pragmatische, um nicht zu sagen kühl-taktierende Frau. Während andere englische Gefangene, die jammerten, versuchten zu fliehen oder den nomadischen Zug der Indianer anders behinderten, getötet wurden, überlebt Rowlandson, weil sie sich geschickt der indianischen Lebensweise anpasst und zudem die kulturellen Fertigkeiten ihrer eigenen Kultur vermarktet. Gegen Geld oder Naturalien näht und strickt sie beispielsweise für die Narragansett und beteiligt sich rege am Tauschhandel. Ihre englische Identität wird durch solche Prozesse zunehmend hybridisiert; dies lässt sich besonders gut anhand des Essens nachvollziehen. Speisen und ihre Zubereitung evozieren ein ganzes Geflecht von Zeichen kultureller Identität und Differenz. Kulturen definieren sich darüber, wie sie Speisen zubereiten, sie grenzen sich hierüber von einander ab, man verleibt sich fremde Kulturen über das Essen fremder Speisen ein, und über das Essen werden kulturelle Tabus gesetzt und gebrochen. Missfallen oder gar Entsetzen über die Essgewohnheiten einer anderen ethnischen Gruppe zu äußern, gehörte von je her zum Repertoire der Xenophobie und diente als Aus- und Abgrenzungsmechanismus, der in seiner extremsten Ausprägung zu Fantasmen von Anthropophagie führte. Auch in Rowlandsons Erzählung gibt es ein Beispiel für Kannibalismus, nämlich als ein Indianer auf Rowlandsons Nachfrage, was mit ihrem Sohn geschehen sei, antwortet, man habe ihn geröstet und gegessen. Aber Rowlandson bezeichnet dies selbst als geschmacklosen Witz, den sie zwar als erneutes Zeugnis für die Ungehobeltheit der Indianer wertet, dies aber nicht als kulturelle Praktik ernst nimmt. Während Darstellungen von Kannibalismus in späteren Captivity Narratives zum festen Erzählrepertoire gehören, um die Bestialität

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der Indianer darzustellen, reflektiert Rowlandson quasi über Formen der kulturellen Abgrenzung, indem sie den Vorfall überhaupt als Witz versteht. Die schrittweise Überlappung ihrer englischen Identität mit Subjektpositionen, die sie während ihrer Gefangenschaft einnimmt, kann man in Rowlandsons Erzählung sehr deutlich durch ihre Annäherung an verschiedene indianische Nahrungsmittel nachvollziehen. Da die Nahrungsmittel der Indianer sich signifikant von denen ihr bekannten unterscheiden, stellen sie für Rowlandson das Fremde an sich dar. Während sie anfangs Dinge als »filthy trash« (306) verschmäht, die nicht Teil des englischen Diätplans waren, wie Erdnüsse, Pferdehufe, Pferdeohren, rohe Leber oder Blut, werden diese für sie später »sweet and savory« (ibid.). Es ist nicht nur der Hunger, der Rowlandson Speisen essen lässt, um zu überleben, sie begreift vielmehr durch die Speisen die Lebensweise und Überlebensmechanismen der anderen Kultur. Rowlandson lernt, dass ein kleiner Vorrat an Nüssen in der Tasche der indianischen nomadischen Lebensweise angemessen ist und sie auf den langen Umsiedlungen mit wichtigen Nährstoffen versorgt. Ob sie dies gezwungenermaßen aus Hunger tut oder weil sie beginnt, die indianische Lebensweise zu akzeptieren, ist letztlich irrelevant, aber durch das Essen wird Rowlandson zu einer anderen. Der Hunger wird zu einer zivilisationserodierenden Kraft: Rowlandson isst gierig, lässt alle Tischmanieren vermissen, stiehlt einem verhungernden englischen Kind ein Stück sehniges Fleisch (318), und als die Indianer ein Reh schießen, dass ein Junges in sich trägt, isst Rowlandson ein Stück Rehkitz und schwärmt davon, wie gut und zart es sei (306). Die reale physische Bedrohung des Verhungerns lässt Rowlandson Dinge essen, die sie zuvor nicht nur verschmäht, sondern als außerhalb der Zivilisation liegend gebrandmarkt hätte. Mary Rowlandson wird ein wenig indianisch, weil sie lernt, mit Mitteln der Indianer zu überleben, und durch das Essen tabuisierter Speisen wie roher Pferdeleber verleibt Rowlandson sich das Fremde ein. Sie beginnt sogar Bärenfleisch zu schätzen – und hieran wird die temporäre Verschiebung ihrer Identität vielleicht am deutlichsten, denn der Bär ist ein Tier der wilderness, das nicht die englische Lebensweise der Besiedlung und Viehhaltung, sondern den nomadischen, ›unzivilisierten‹ Lebensstil der Indianer evoziert. Wie aus den genannten Beispielen deutlich geworden ist, verschiebt sich Rowlandsons Identität während der Zeit ihrer Gefangenschaft und bewegt sich mehr und mehr außerhalb puritanischer Rhetorik in der Deutung des Fremden und in der Interpretation der eigenen Erfahrungen. Es gewinnt zunehmend eine Stimme an Raum, die, unzensiert durch die biblisch kommentierende Stimme, von der Kultur der Narragansett berichtet. So betrachtet, ist der Text nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine narrative Kontaktzone, in der das erzählende Subjekt seine Erlebnisse verschriftlicht

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und in der zwei Stimmen miteinander ringen: die puritanische, die System legitimierend zur Erklärung und Ordnung der existenziellen Erlebnisse gebraucht wird, und die, die staunt über das Andere und Fremde, ohne dafür Erklärungsmuster zu haben. Das heißt nicht, dass diese letztere Stimme die wahrhaftigere ist oder als authentisches Zeugnis indianischer Kultur zu lesen wäre. Passagen, in denen Rowlandson detailliert kulturelle Praktiken und Riten der Indianer beschreibt – etwa die Tänze, die einen Kriegszug vorbereiten, oder die Rituale während einer Siegesfeier – aber auch alltägliche Dinge wie die Zubereitung von Speisen und das Anlegen von Schmuck und Kleidern sind bemerkenswert, weil sie – freiwillig oder unfreiwillig – stereotypen Dichotomien von ›wild‹ versus ›zivilisiert‹ trotzen. Neben Schilderungen, die Rowlandsons Staunen über die fremde indianische Kultur festhalten, gibt es auch Passagen unverhohlener Bewunderung für ihre Fähigkeit, die Wildnis, in der sie leben, zu bezähmen – etwa wenn es die Indianer schaffen, mit Alten, Kranken, Kindern sowie Hab und Gut einen reißenden Fluss zu überqueren, an dem die englischen Verfolger – Rowlandsons potentielle Retter – kläglich scheitern. Rowlandson bewertet diesen Vorfall zwar in der kommentierenden Stimme als göttliche Fügung, indem sie sagt, Gott habe den Engländern den Mut zur Überquerung nur deswegen nicht gegeben, weil sie noch nicht bereit gewesen sei für Erlösung, aber die Bewunderung für die Fertigkeiten der Indianer zeigt sich in der berichtenden Stimme dennoch. In solchen Momenten wird deutlich, wie sehr die beiden Stimmen miteinander ringen. Zum einen sind natürlich auch die Indianer in Rowlandsons puritanischer Doktrin keine selbständig handelnden Wesen, sondern nur Werkzeuge Gottes, die sie prüfen sollen. Aber die stereotypen Versatzstücke puritanischer Rhetorik, mit der die Indianer als »hell-hounds« (300) oder »barberous heathens« (313) bezeichnet werden, geraten zunehmend in Konflikt mit einem völlig anderen Sprachgestus, der Rowlandsons Erlebnisse und Begegnungen mit der indianischen Kultur jenseits vorgefertigter Muster beschreibt und die Indianer von einem zu verunglimpfenden Kollektivplural zu distinkten und erstaunlichen Individuen werden lässt. Zudem geraten Muster der Dominanz und Unterordnung, der überlegenen und minderwertigen Kultur ins Wanken, auch wenn versucht wird, diese im Rückgriff auf puritanische Deutungsmuster zu parieren. Überraschend aus heutiger Sicht ist, dass obwohl Rowlandson aus religiösen, politischen und strategischen Gründen die Indianer als teuflische Wilde brandmarken will, viele Passagen vom Gegenteil zeugen und Aufschluss über die Kultur und Zivilisation der Indianer geben, besonders wenn es um das Essen und um die Körperpflege geht. Als Rowlandson für ihre Handarbeiten beispielsweise wieder einmal Essen erhält, kocht sie ein

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Stück Bärenfleisch zusammen mit Erbsen und bietet ihrer Herrin Weetamoo davon etwas an. Diese lehnt angewidert ab, wohl vor allem, weil Rowlandson ihr beide Naturalien in einer Schüssel reicht, während die Narragansett offensichtlich Fleisch und Gemüse nicht zusammen kochten (309). Als Rowlandson ein anderes Mal Wasser holt und den Löffel, mit dem sie das Wasser geschöpft hatte, in den nun bereitstehenden Kessel mit Wasser tauchen will, erhält sie Schelte, da dies als Verunreinigung aufgefasst wird (316), eine Überempfindlichkeit, die Rowlandson nicht versteht, die aber belegt, dass es ein umfassendes kulinaristisches Regelwerk gab. Diese wie andere Berichte Rowlandsons zeugen unfreiwillig von der Esskultur und nicht der Verrohung der Narragansett. Selbiges trifft auf die Kleidung zu. Rowlandson schildert, wie Weetamoo sich jeden Morgen mit einer Sorgfalt zurechtmacht, die der einer englischen Landadeligen gleichkommt: »A severe and proud dame she was, bestowing every day in dressing herself neat as much time as nay of the gentry of the land: powdering her hair, and painting her face, going with necklaces, with jewels in her ears, and bracelets upon her hands« (319). Stellen wie diese zeigen prägnant, wie sehr kulturelle Kontaktzonen von Phänomenen der Hybridität, der Kollaboration, der Vermischung und Vertauschung des jeweiligen kulturellen Repräsentationsmaterials geprägt sind bzw. wie man in der Repräsentation des Fremden jeweils auf eigene Darstellungs- und Erklärungsmuster zurückgreifen muss. Stellen, die indianische Kultur komplex darstellen und damit der religiösen Deutung der Indianer als Höllenhunde zuwider liefen, wurden im 17. Jahrhundert deshalb nicht getilgt, weil erstens Gutes oder Erstaunliches nicht den Indianern attribuiert wurde, sondern der bemerkenswerten Vorsehung Gottes, und zweitens das Fremde nur religiös und nicht über andere kulturelle Praktiken definiert wurde. Die Geschehnisse werden in der erlebenden Stimme Rowlandsons ungefiltert wiedergegeben, weil alle Ereignisse als Teil eines unveränderlichen und nicht zu hinterfragenden göttlichen Plans interpretiert wurden. Rowlandsons Bericht zu verändern, wäre somit Hybris gewesen und hätte einer strikt skripturalen Deutung vorgegriffen. Neben denen, die von der Kultur der Indianer zeugen, gibt es auch Passagen in Rowlandsons Narrative, die treffend illustrieren, was Homi Bhabha bei der Konstitution kolonialer Identitäten als die ambivalente Dynamik von Begehren und Ablehnung beschrieben hat.14 Rowlandson verwahrt sich in ihrer Erzählung mehrfach gegen den Verdacht, es habe sexuelle Übergriffe auf sie gegeben. Da die sexuelle Integrität der weißen Frau ein wichtiges 14 Homi Bhabha, »Of Mimicry and Man: The Ambivalnece of Colonial Discourse«, in: Homi Bhabha, The Location of Culture, New York 1994, 121 – 131.

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Gut der patriarchalen puritanischen Gemeinschaft war, hing Rowlandsons weiteres Leben nach ihrer Rückkehr ja auch davon ab, solchen Gerüchten entgegen zu treten. Wie Richard Slotkin oder Annette Kolodny gezeigt haben, hat die amerikanische Nation sich über den mit Gewalt zu verteidigenden Körper der weißen Frau definiert und nur so konnte Rowlandson zu einem Tauschobjekt werden, das der Gemeinde die stolze Summe von 20 Pfund wert war.15 Umso erstaunlicher sind die fast erotisch anmutenden Tendenzen, die sich in Rowlandsons Beschreibungen männlicher Indianer finden. Ihren »master« Quinnapin beschreibt sie etwa als »the best friend that I had of an Indian, both in cold and hunger« (312) – das klingt fast wie ein Eheversprechen. Sie vermisst ihn, wenn er in den Krieg zieht: »my master [ …] was gone and I left behind, so that my spirit was now quite ready to sink« (313).16 Verständlicher wird eine solche Charakterisierung, wenn man sie erneut im Lichte der von Rowlandson verinnerlichten Parameter ihrer eigenen Kultur liest. So fällt es Rowlandson durchweg leichter, die Autorität und ihr übergeordnete Stellung der männlichen Indianer zu akzeptieren, während sie sich immer wieder schwer tut, Weisungen weiblicher sachems zu befolgen und deren mächtige Stellung zu verstehen, denn dies ist ihr als puritanischer, an patriarchale Ordnungs- und Hierarchiemuster gewöhnte Frau fremd.17 Ebenso positiv wie ihren »master« beschreibt Rowlandson King Philip, mit dem sich im Bezug auf kulturelle Vermischungen und Verschiebungen in der Kontaktzone eine Schlüsselszene in Rowlandsons Bericht ereignet. Kurz vor ihrer Befreiung besucht King Philip Mary Rowlandson, erkundigt sich nach ihrem Befinden und versichert ihr, dass sie bald an ihren Mann zurückverkauft werde. Bei dieser Begegnung fragt er Rowlandson auch, wann sie sich zum letzten Mal gewaschen habe, und sie antwortet, seit einem Monat nicht: »Then he fetched me some water himself, and bid me wash, and gave me the glass to see how I looked« (319). Das ist eine sonder15 Richard Slotkin, Regeneration Through Violence: The Mythology of the American Frontier, 1600 – 1860, Middletown, CT 1973; Annette Kolodny, The Land before Her: Fantasy and Experience in American Life and Letters, Chapel Hill 1984. Siehe hierzu vor allem auch Rebecca Blevins Faery, Cartographies of Desire: Captivity, Race, and Sex in the Shaping of an American Nation, Norman, OK 1999. 16 Die zeitgenössische amerikanische, halb-deutsch, halb Ojibwa-stämmige Autorin Louise Erdrich hat diese erotischen Tendenzen in Mary Rowlandsons Erzählung in ihrem anspielungsreichen Gedicht mit dem Titel »Captivity« verarbeitet. Original Fire: Selected and New Poems, New York 2003, 9 – 11. 17 Zur Stellung der female sachems und Rowlandsons Schwierigkeiten damit, deren Autorität zu akzeptieren, siehe: Laura Arnold, »›Now … Didn’t Our People Laugh?‹ Female Misbehavior and Algonquian Culture in Mary Rowlandson’s Captivity and Restauration«, American Indian Culture and Research Journal 21.4 (1997), 1 – 28.

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bar umgekehrte Spiegelszene, in der Rowlandson als unzivilisierte Wilde erscheint, der vom ›eigentlichen Wilden‹ ein Spiegel vorgehalten wird. Es ist Metacom alias King Philip, der Rowlandson die Normen und Sitten ihrer eigenen Kultur wieder verdeutlicht und sie anhält, die Spuren der ›Verwilderung‹ und ›Verrohung‹ abzustreifen. IV. Schluss Über Mary Rowlandsons Leben nach ihrer Rückkehr in die englische koloniale Kultur ist nur wenig bekannt. Sie verschwindet nach der Veröffentlichung ihres Bestsellers wieder völlig aus dem öffentlichen Leben, und erst vor einigen Jahrzehnten sind Quellen aufgetaucht, die belegen, dass sie nach dem Tod ihres Mannes erneut heiratete, zu Mrs. Mary Talcott wurde und mit 73 Jahren – 35 Jahre nach ihrer Freilassung – starb.18 Rowlandson verschwindet nach der Publikation ihrer Erzählung wieder vollständig in der privaten Rolle der puritanischen Frau, was bleibt, ist ihre Erzählung. Rowlandsons Bericht wurde nicht nur ein Bestseller im 17. Jahrhundert, sondern entwickelte sich zum Longseller und zu einem der kanonischen Texte der amerikanischen Literaturwissenschaft – er avancierte zu einem der Gründungstexte, durch den die amerikanische Kultur sich ständig neu erfindet; insofern sagt die Karriere des Textes ebensoviel über das Selbstverständnis Amerikas aus wie der Text selbst. Im 18. und 19. Jahrhundert ist Rowlandsons Text als Frontier-Mythos instrumentalisiert worden, der nationalistische Interessen wie die Inbesitznahme des Kontinents und die fast vollständige Ausrottung der indigenen Bevölkerung legitimierte. Da wundert es nicht, dass vor allem die Passagen der Erzählung stark gemacht wurden, in denen die Indianer als Bestien erscheinen. Im 20. Jahrhundert wurde Rowlandsons Text – völlig zu Recht – als Ausdruck eines imperialistischen Ethnozentrismus gesehen und als Beleg dafür, dass die amerikanische Nation eben nicht als »American Adam« ein »Virgin Land« besiedelt hat, sondern sich den Kontinent mit äußerster Brutalität angeeignet hat. Seit den 1990er Jahren geht die Forschung, allen voran die Cultural und Postcolonial Studies, auf Zeichen und Spuren der Hybridiserung in Rowlandsons Text ein, die Diskurse ethnischer Eindeutigkeit unterminieren. So hat Ulla Haselstein etwa darauf verwiesen, dass Rowlandson unfreiwillig in einen selbstreflektiven Diskurs über kulturelle Differenz eintritt und Zeugnis ablegt über die Hybridität indianischer Kultur, wie sie durch Han18 David L. Greene, »New Light on Mary Rowlandson«, Early American Literature 20.1 (1985), 24 – 38.

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del, Christianisierung und andere kulturelle Transaktionen zustande kam.19 Eine solche Hybridität stellt nicht nur puristische Theorien von Rasse in Frage, sondern erschwert es auch, die Indianer als homogene ethnische Gruppe zu verteufeln. Interpretationsansätze aus den Gender Studies haben ein widerständiges Potential in Rowlandsons Text gelesen, weil er ein autonomes weibliches schreibendes Subjekt entstehen lässt.20 All diese Interpretationsansätze rekurrieren letztlich darauf, dass sich in Mary Rowlandsons Text ein Subtext oder eine zweite Stimme entdecken lässt, die sich einer puritanischen Exegese entzieht und zunehmend der Faszination der fremden Kultur verfällt. Aus heutiger Sicht bietet es sich in der Tat an, die Stellen in Rowlandsons Text, die sich den sanktionierten Schablonen ihrer Zeit verweigern, als eine Form textuellen Begehrens zu lesen. Denn obwohl die Puritaner noch ganz andere Vorstellungen von Subjektivität und dem eigenen Handlungsspielraum des Subjektes hatten, gibt es in Rowlandsons Narrative ein Begehren, das sich dem zähmenden Gestus der Paratexte und der puritanischen Rhetorik entzieht und das Rowlandson zumindest im Textraum die Möglichkeit gibt, die engen Grenzen, die ihr als puritanischer Frau gesetzt waren, temporär zu überschreiten. Während ihrer Gefangenschaft präsentiert sie sich nicht als Opfer, sondern als autonomes Subjekt, als eine Frau, die paradoxerweise während der Gefangenschaft über ein höheres Maß an Selbstbestimmtheit verfügt als in der puritanischen Gemeinschaft. Über dieses aus heutiger Sicht konstatierte Bedürfnis, dem eigenen Selbst im Text mehr Raum zukommen zu lassen, ist aber in Rowlandsons Text eine noch unzureichend untersuchte Faszination gegenüber dem Fremden spürbar. Es zeigt sich in ihrer Capitivity Narrative eben nicht nur, dass Rowlandson, »entsetzt [ist] über Nahrung und Sitten ihrer Entführer« und die indianische Welt als »Chaos, das sie nicht mehr ordnen kann« erlebt.21 Und man kann den Text eben nicht, wie Kolodny dies in ihrer Studie tut, auf ein »spiritual drama of affliction and redemption« reduzieren, das die Indianer als »symbolic props in a preconceived cultural script« benutzt.22 Es gibt über diesen Gestus hinaus Passagen, die sehr wohl eine Ordnung in der indianischen Kultur beschreiben und die Faszination gegenüber dieser Kultur offen legen. Gerade weil Rowlandsons Text eigent19 Ulla Haselstein, »Puritans and Praying Indians: Versions of Transculturation in Mary Rowlandson’s Captivity Narrative (1682)«, Missions of Interdependence: A Literary Directory (2002), 3 – 14. 20 Siehe erneut Arnold und Faery, Fußnoten 15 und 17. 21 So Hartwig Isernhagen in seinem ansonsten äußerst erhellenden Beitrag »Anfänge«, in: Hubert Zapf (Hg.), Amerikanische Literaturgeschichte, Stuttgart 1997, 1 – 19, hier 15. 22 Kolodny 1984, 28, s. Fußnote 15.

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lich der Bestätigung der puritanischen Mission und einhergehend damit der Verteufelung der heidnischen Indianer dienen sollte, sind die Passagen, in denen Rowlandson detailliert kulturelle Praktiken beschreibt, so interessant. Es sind diese Textstellen, welche die kulturelle und narrative Kontaktzone der Captivity Narrative verdeutlichen, in der die Abgrenzung zwischen Selbst und Anderem eben nicht klar verläuft, sondern es immer wieder zu Vermischungen und Infragestellungen von Identitäten kommt.

Forms of Representing Moral Action in Fiction: Case Studies from English and American Literature By Wolfgang G. Müller

I. The Problem In the context of the ethical turn in literary criticism deep-searching studies on the relation between ethics and narrative have been produced in the last two decades. Referring to Kant’s ethical philosophy, J. Hillis Miller (1987)1 demonstrates that without storytelling there is no theory of ethics. In deconstructionist comments on texts by George Eliot, Anthony Trollope, and Henry James he focuses on their »ethical moments,« which implicate the author, the narrator, the characters in the story, and the reader. The philosopher Martha C. Nussbaum (1990)2 makes an even wider claim, maintaining that narrative artists can tell important truths about the world better than do abstract theoretical treatises, above all with regard to the central question of ethics – »How should one live?« Without referring to philosophy, Wayne C. Booth’s ethics of narrative transaction (1988)3, for which he coined the term »coduction,« envisions a meeting of minds between authors and readers leading to the negotiation of moral values. Adam Zachary Newton’s concept of narrative ethics (1995)4 defines »narrative as 1 J. Hillis Miller, The Ethics of Reading: Kant, de Man, Eliot, Trollope, James, and Benjamin, New York 1987. 2 Martha C. Nussbaum, Love’s Knowledge: Essays on Philosophy and Literature, New York, Oxford 1990. A literary critic can but admire Nussbaum’s sensitivity to textual phenomena, for instance in the case of Henry James, but still has to regret her lack of interest in narratology. Also reservations have been made from a philosophical point of view: Eva Schürmann, »Henry James’ ›Die goldene Schale‹ oder ist Literatur die bessere Moralphilosophie?«, in: Gerhard Gamm, Alfred Nordmann, Eva Schürmann (eds.), Philosophie im Spiegel der Literatur, Hamburg 2007, 43 – 59, Gottfried Gabriel, »Der Erkenntniswert der Literatur«, in: Alexander Löck, Jan Urbich (eds.), Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perxpektiven, Berlin / New York 2010, 47 – 261. 3 Wayne C. Booth, The Company We Keep. An Ethics of Fiction, Berkeley / Los Angeles / London 1988. 4 Adam Zachary Newton, Narrative Ethics, Cambridge (Mass.) / London 1995.

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ethics,« stressing the ethical consequences of narrating stories and fictionalizing personae, and the reciprocal claims binding teller, listener, witness, and reader in that process. James Phelan (2005)5 endeavors to tie »ethical response to the techniques of narrative itself,« focusing on the links among technique and the reader’s cognitive understanding, emotional response, and ethical positioning.6 It is a pervasive feature of these studies that they tend to concentrate on I-narration. What is needed – in view of such significant claims for the ethical impact of fiction – is a systematic elucidation of the interdependence of moral substance and narrative form with reference to central narratological categories. The ultimate aim of such a project, which widens the scope of the material to be invesitigated beyond I-narration, could be the construction of an ethical narratology. The present contribution is designed as a step towards such a narratology.7 It focuses on an aspect of narrative texts which is central to narrative in its prototypical form, the narration of a character’s action, action of a moral kind or, at least, action placed in a moral context. Looking at the narrative representation of action from an ethical angle includes distinguishing positive as well as negative, commendable as well as reprehensible deeds. The representation of immoral or even criminal action is morally important because it shows suffering – the victim’s suffering and possibly also the suffering of the wrongdoer, who may be oppressed by guilt; and suffering has a profound effect on the reader. For Richard Rorty, who in his »Introduction« to Vladimir Nabokov’s Pale Fire makes a decided plea for the moral significance of narrative art, suffering is the central term in his understanding of fiction, which he believes can be »for some of us at least, the best means of moral improvement«.8 He criticizes those who »see fantasy [fiction] as irrelevant to the moral sense« and believe that »the aesthetic can only distract us from the moral«.9 He maintains that art and moral sense go hand in hand and to that effect quotes Nabokov’s definition of art from his Lectures on Literature: »Beauty plus pity«.10 Most interesting from an 5 James Phelan, Living to Tell about It. A Rhetoric and Ethics of Character Narration, Ithaca / London 2005. 6 More recent literature on the ethics of narrative art is referred to in Wolfgang G. Müller, »Die ethische Dimension der Literatur – am Beispiel des Versuchs der Grundlegung einer Ethik des Erzählens«, in: Alexander Löck, Jan Urbich (eds.), Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, Berlin / New York 2010, 451 – 468. 7 For a more theoretically based study see my article quoted in footnote 6. 8 Richard Rorty, »Introduction«, in: Vladimir Nabokov, Pale Fire. New York / London / Toronto 1992, vii – xix, quotation, xviii. 9 Rorty, »Introduction«, xvii – xviii. 10 Rorty, »Introduction«, xvii. Emphasis in the original.

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ethical and narratological viewpoint are those complex and ambiguous cases in which there is no clear-cut distinction possible between the good and the bad, circumstances which challenge the reader’s and critic’s capacity for intellectual and moral discernment and judgment. This article attempts to show that different types of narration – authorial narration, point-of-view narration, first-person narration, and their subtypes – represent moral action in different ways. It attempts to get away from the almost exclusive orientation on first-person narration to be observed in most studies on the ethical dimension of fiction. After the many foundational contributions to the ethics of fiction the time may have come to have a closer look at the multitude of forms in which narratives may convey moral issues.11 As for terminology, it is useful to distinguish between ethics and morality. According to Habermas12 ethics adopts the »I«-perspective, whereas morality adopts the »we«-perspective. While morality defines binding rules and norms of behaviour generally valid in a community, ethics concerns the continuous and precarious self-questioning of the individual, who takes ethical responsibility for himself and others. The following case studies will frequently draw attention to a conflict between the public and individual spheres, which reflects a discrepancy of morality and ethics.

II. The Construction of a Moral Universe in Authorial (Heterodiegetic) Fiction: Henry Fielding In authorial narration (heterodiegetic narration with an omniscient narrator), as in Fielding’s Joseph Andrews or Tom Jones, action tends to be placed in a coordinate system of moral values whose guarantor is the omniscient narrator. His moral evaluation is unambiguously conveyed to the reader, even though it may be refracted by irony. As an example I would like to discuss the narrative treatment of the attack of robbers on the protagonist and the reactions of the coach-passengers in Book I, Chapter 12 of Joseph Andrews (1742).13 This is one of the most vividly told episodes of Fielding’s epic of the road. The text shows some kinship with the narrative 11 I owe deep gratitude to Monika Fludernik, Freiburg, who read the manuscript of this article and made a number of valuable comments. 12 Jürgen Habermas, Die Zukunft der Menschheit – Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main, 2008, 14. See, for this aspect, the important article by Susanna Frings, »The Return to Ethics in the ›Postmodern‹ French Novel«, in: Sebnem Toplu, Hubert Zapf (eds.), Redefining Modernism and Postmodernism, Cambridge Scholars Publishing 2010, 63 – 78. 13 Fielding’s text is quoted from Henry Fielding, Joseph Andrews, Shamela, ed. Douglas Brooks, London / New York / Toronto 1970.

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method of the picaresque novel, though with its moral concerns and its intrusive omniscient narrator it is decidedly different from the picaresque genre. The moral significance of the episode in question is reinforced intertextually by its being modelled on the biblical Parable of the Good Samaritan (Luke 10.25 – 37). Having been stripped and severely injured by robbers, Joseph lies groaning in a ditch beside the road, when a coach passes by. Fielding puts much emphasis on the physical details of the incident, the brutality and violence of the robbers, who hurt and strip Joseph in spite of his begging them to treat him mercifully. Fielding’s vivid description shows that he is obviously interested in presenting physical action – i.e. a fight scene – as an end in itself, to some extent at least. However, the really important part of the incident follows, when a stage-coach comes by and Joseph, naked and half-dead, is discovered. Fielding describes, in great detail, the various reactions of the people in the stage-coach. The postillion draws attention to the groaning man. The coachman refuses to help because they are »confounded late, and have no time to look after dead Men« (Chapter 12, p. 46), a conduct strongly contrasting with the good Samaritan’s Christian reaction. A lady seems to take interest in Joseph’s fate, but when she learns that he is naked, she is horrified: »›O J-sus‹, cry’d the lady, ›A naked man! Dear coachman, drive on and leave him‹« (46). Her prudishness prevents her from being charitable. Another variety of uncharitable conduct is to be found in an old gentleman’s reaction to Joseph’s plea for mercy: »Let us make all haste imaginable, or we shall be robbed too« (46). One of the passengers who happens to be a lawyer advises the company to save Joseph’s life, because, if he should die, »they might be called to some account for his Murther.« He thinks it expedient to save Joseph’s life »for their own sakes, if possible« (46). And so on and so forth. The gentlemen make Joseph the object of their wit and scorn, when the problem arises how to give him clothes. One of the passengers, a »man of wit,« says »that Charity began at home« (47, emphasis in the original). He uses the incident to exhibit his wit, which is downright cynical. Nobody but the poor postillion offers a coat to the bleeding and shivering young man. Fielding’s presentation of a variety of uncharitable responses to Joseph’s misfortune continues in the description of the attitudes that the surgeon, the inn-keeper and his wife take towards the severely wounded and penniless young man. Thus the landlord and landlady quarrel about whether to help the invalid. The woman contemptuously rejects her husband’s plea to be charitable to Joseph: »Common Charity teaches us to provide for ourselves, and our Families; and I and mine won’t be ruined by your charity, I assure you« (50). Again it is only a person of lower rank, the maid of the inn, who shows compassion for the distressed protagonist, providing him with a shirt.

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In this episode Fielding uses the story of the protagonist’s distress as an example to give a panoramic view of the attitudes towards charity of a representative number of the members of society. In accordance with their age, sex and profession, the wealthy and higher-ranking characters invent all sorts of subterfuges for abstaining from acting charitably (reasons of time, decorum, danger, finance, etc.) and even mock the victim of robbery and violence. Conversely, it is only the poor and despised who possess compassionate souls and help a person in need. Fielding constructs a world in which there is a disproportionate relationship between wealth and rank on the one hand and moral goodness on the other. In other words, Fielding’s fictional world is divided into a majority of people characterised by a depraved morality and a minority of people who possess natural goodness. A true Christian attitude is only in evidence among the poor and despised. In the scene under discussion satire is directed against the representatives of the higher ranks, while the disadvantaged members of society are exempt from satiric treatment. Fielding draws on the episodic structure of picaresque fiction, but unlike the picaresque genre his novel creates a moral universe constituted by a majority of morally depraved and, what is important, a significant minority of morally good people, a world, that is, which owes its existence to a heterodiegetic narrator who occupies an Olympian perspective. The presence of this narrator, whose aim it is to expose men’s »Affectations« (»Preface«, 6), manifests itself in the pervasive use of irony and in repeated authorial intrusions. There is, for instance, an ironic comment on the old gentleman who uses the protagonist’s nakedness as a pretext for sexual innuendo: As Wit is generally observed to love to reside in empty Pockets; so the Gentleman, whose Ingenuity we have above remark’d [… ] began to grow wonderfully facetious. He made frequent Allusions to Adam and Eve, and said many excellent things on Figs and Fig-Leaves; which perhaps gave more Offence to Joseph than to any other in the Company. (48)

Incidentally, it is wrong to speak of a sharply compartmentalized treatment of the modes of narration and essay in Fielding. As I have shown elsewhere, in Fielding even apparently plain narrative report is interwoven with signals of authorial presence.14 To sum up, there may be a certain schematicism in Fielding’s representation of moral qualities – a division into black and white or blacker and 14 Wolfgang G. Müller, »The Homology of Syntax and Narrative Form in English and American Fiction«, in: Herbert Foltinek et al. (eds.), Tales and »their telling difference«. Zur Theorie der Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel, Heidelberg 1993, 77 – 92.

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whiter – but his narrative power and his technique, particularly his technique of illustrating moral qualities by the way his characters act in vividly represented concrete situations, and his capacity for irony make his novel much more than a mere didactic tract.

III. The Representation of Moral Action in Point-of-View Fiction: Jane Austen Point-of-view narration – as in Jane Austen’s novels – usually has a more or less covert narrator. Action is presented as seen through the eyes of one or more characters, who are reflectors or internal focalizers, but not narrators. As far as the depiction of moral issues is concerned,15 the explicit presence of the narrator and his / her authority as a dispenser of moral attitudes and values is reduced. In Austen’s Persuasion (1818), for instance, the moral quality of Captain Wentworth’s actions is perceived only by the protagonist, Anne Elliot, and the reader, who gets no information outside her point of view. Similarly, the hypocrisy of Mr. Elliot is only transparent to the protagonist, who, to use Henry James’s term, is an »intense perceiver.« As a typical example of the presentation of action in the novel, I would like to turn to a passage from Chapter 9 of Persuasion,16 in which the protagonist, Anne Elliot, is in an uncomfortable situation, being busy about her ill nephew and at the same time troubled by his little brother who clings to her neck. Remonstrances of other persons present in the room are of no avail, but suddenly she is relieved: In another moment, however, she found herself in the state of being relieved; some one was taking him from her, though he had bent down her head so much, that his little sturdy hands were unfastened from around her neck, and he was resolutely borne away, before she knew that Captain Wentworth had done it. (79)

The action is presented entirely from the subjective point of view of the protagonist. She feels that something is happening to her, as the passive construction »she found herself in the state of being relieved« indicates. 15 Austen’s novels have frequently been praised for their ethical impact, even though the relation between ethics and narrative form has hardly ever been investigated, for instance in Sarah Emsley, Jane Austen’s Philosophy of Virtues, New York / Houndsmill 2005. See Wolfgang G. Müller, »Moralische Implikationen erzähltechnischer Innovationen im Werk von Jane Austen«, in: Jutta Zimmermann, Britta Salheiser (eds.), Ethik und Moral als Problem der Literatur und Literaturwissenschaft, Berlin 2006, 117 – 132. 16 The text is quoted from the following edition: Jane Austen, Persuasion, ed. Claude Rawson, Oxford / New York 1990.

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With her limited vision, which is caused by her kneeling position by the sick child, she cannot perceive the author of the action, as is shown in the use of the indefinite pronoun – »some one was taking him from her.« Maria Edgeworth recognized the point-of-view technique avant la lettre in this passage, writing to a friend: »Don’t you see Captain Wentworth, don’t you in her place feel him, taking the boisterous child off her back as she kneels by the sick boy on the sofa« (quoted in Rawson’s edition of the novel, 235). Only at the very end of the passage does Anne come to realize that it was Captain Wentworth who helped her. The point-of-view technique is here emphasized by a syntax of suspense.17 The resolution of the relatively long sentence coincides with the moment of recognition in what is a remarkable instance of iconic structuring. After this incident Anne has to mentally digest the incident, which is represented in a passage of internal focalization, beginning with a narrative description of her inner life: »Her sensation on the discovery made her perfectly speechless. She could not even thank him. She could only hang over little Charles, with most disordered feelings.« (79) Then the form of narrative report changes over to free indirect style, as she tries to interpret the incident: »His kindness in stepping forward to her relief – the manner – the silence in which it had passed – the little particulars of the circumstances [ …].« (79) Later the narrator takes over regain, referring to »such a confusion of varying, but very painful agitation, as she could not recover from.« (79) The poignancy in the representation of the incident derives from the special situation in which Anne Elliot finds herself. She regrets having, under the pressure of her family and her mentor Lady Russell, rejected her fiancé, Captain Wentworth, seven years earlier and is now encountering him again. Thus a little act of kindness on his side throws her into a tumult of conflicting emotions. The passage is an example of the representation of an action from a character’s limited point of view. The technique of limiting the angle of vision to one character’s perception and focusing on this character’s inner life results in an intensified expression of moral action and the reaction it stimulates. The incident from Persuasion evinces a remarkable shift from the representation of physical action to the depiction of inner life. The emphasis is placed almost entirely on the mental reaction which an action causes. With this innovation Austen proves to be one of the founders of the psychological novel. Another example of Austen’s shift from externality to interiority is the episode in which Captain Wentworth secures a seat in the carriage of Admiral Croft for Anne, who is fatigued after a long walk in the country (Chapter 10). Her reaction to Captain Wentworth’s kindness is represented 17 For the principle of suspense see Alwin Fill, Das Prinzip Spannung: Sprachwissenschaftliche Betrachtungen zu einem universalen Phänomen, Tübingen 2003.

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in a long passage predominantly written in free indirect style, the beginning of which runs as follows: Yes, – he had done it. She was in the carriage, and felt that he had placed her there, that his will and his hands had done it, that she owed it to his perception of her fatigue, and his resolution to give her rest. She was very much affected by the view of his disposition towards her which all these things made apparent. This little circumstance seemed the completion of all that had gone before. She understood him. He could not forgive her, – but he could not be unfeeling. (89)

Anne Elliot understands Wentworth’s action as a sign of his moral sensitivity. The whole passage is an attempt to interpret his conduct as a mixture of his resentment at her having »jilted« him and of his genuine kindness. In the course of her reflection on Wentworth’s motives, phrases such as »pure, though unacknowledged friendship« and »his own warm and amiable heart« emerge, and Anne’s emotions are referred to as »so compounded of pleasure and pain, that she knew not which prevailed« (89). Though Anne is never shown to own it to herself, the reader realizes that she is still – or again – in love with Wentworth and that she loves him for his moral excellence and the warmth of his heart. The passage achieves psychological analysis not from the Olympian position of an omniscient narrator, but from a focus within the character. The contrast between Fielding’s and Austen’s techniques is noteworthy. Fielding uses the rhetorical device of irony in his presentation of the conduct of the travellers in the coach, interspersing his account with authorial intrusions which make it quite easy for the readers to recognize the travellers’ vanity and hypocrisy. By way of contrast, Austen does not focus her presentation on a group of characters whose conduct is rendered. Hers is another, a deeper psychology, which is related to an individual’s inner experiences. Anne’s reaction to what is – as distinct from the event described in Fielding’s novel – an entirely unspectacular incident, has emotional and moral implications which the reader may recognize in an empathic reception of the text. IV. The Interplay of Authorial and Figural Narration in the Representation of Decisions Concerning Love and Marriage in Anthony Trollope’s Can You Forgive Her? Anthony Trollope marks an important step in the development of narrative art from Jane Austen to Henry James. On the one hand, his novels have an explicit narrator who again and again intrudes into the narration, dropping explanatory comments and addressing the reader; on the other hand, Trollope employs a point-of-view technique which focuses on the inner life of his characters. As far as his use of the narrator is concerned, it is interest-

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ing to note that omniscience in this novel is limited or relativized, so that one could almost be tempted to speak of an unreliable authorial narrator. With Fielding, Austen and James, Trollope shares the pronounced moral orientation of his narrative art. The novel Can You Forgive Her?18 has been chosen as a suitable example for the analysis of his technique of representing moral action, since it has three parallel plots in which morally problematic decisions in the context of love and marriage are treated. The first of the three love plots of Can You Forgive Her? concerns Alice Vavasor, who jilts her fiancé, John Grey, though he would be the ideal husband for her, in favour of her morally dubious cousin George Vavasor, who has political ambitions. The central problem for her is what a woman should do with her life. Since, on account of her sex, she herself is not able to engage in politics, she decides to do so indirectly by supporting her cousin in his candidature for parliament. The narrator involves the reader in a dialogue about the question whether he / she can forgive Alice, a question which generates the title of the book. The formulation recurs in the first sentence of the novel, in which the protagonist is introduced as »she, whom you are to forgive« (Chapter 1, 1), and several times later. Towards the novel’s end the issue of the dialogue changes to the question whether the protagonist »can forgive herself,« in order to be ready for marriage with John Grey. The narrator from the start insists on criticizing the erroneousness of Alice’s motivations, which exhibits itself even before the idea of marrying George enters her head. Thus her reaction to her fiancé’s declaration »that he would not accept a seat in the British House of Commons if it were offered to him free of expense« is given in free indirect style: »What political enthusiasm could she indulge with such a companion down in Cambridgeshire?« (Chapter 11, 111 – 12). Whereupon the narrator steps in, commenting: »She thought too much of all this, – and was, if I may say, over-prudent in calculating the chances of her happiness and of his« (112). On the same page the narrator comments on her devotion to her cousin, who aspires to a political career, by a decided verdict against George: »She did not love her cousin; but still believed in him, – with a faith which he certainly did not deserve« (112). Despite or, perhaps, because of her errors, the narrator finds a lot of compassion for her. When her father calls Alice a »jilt,« the narrator comments: Poor Alice! It is hard to explain how heavy a blow fell upon her from the open utterance of the word! Of all words in the language it was the one which she most dreaded. She had called herself a jilt, with that inaudible voice which one uses in 18 Trollope’s text is quoted from Anthony Trollope, Can You Forgive Her?, ed. Andrew Swarbrick, Oxford / New York 1991.

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making self-accusations; – but hitherto no lips had pronounced that odious words to her ears. Poor Alice! She was a jilt; and perhaps it may have been well that the old man should tell her so. (Chapter 32, 336)

Trollope’s narrator differs from traditional omniscient narrators in that he does not simply know everything about his characters, having no easy access to their inner lives. In a metafictional passage he asks the question: »How am I to analyze her [Alice’s] mind, and make her thoughts and feelings intelligible to those who care to trouble themselves with the study?« (Chapter 37, 383). The convincing representation of his protagonist’s inner life is a problem. The mere report of her thoughts – depiction of her mind from the superior position of an omniscient narrator – is no longer felt to be satisfactory. In this situation he adopts two strategies. On the one hand, he looks for other forms of mediating consciousness – forms which in modern parlance we would call »point-of-view narration« or »internal focalization.« On the other hand, he involves himself strongly with his protagonist’s fate as if she possessed a personal presence for him, condemning, forgiving and pitying her and asking the reader to wait with him for the outcome: »Come: – let us see if it be possible that she may be cleansed by the fire of her sorrow« (384). To demonstrate the interplay of figural and authorial narration, an example of the representation of Alice’s feelings towards the man she has jilted can be quoted which begins with free indirect thought and ends in authorial comment: She had treated him badly, – very badly. She had so injured him that the remembrance of the injury must always be a source of misery to her; but she owed to him above everything to let him know what were her intentions as soon as they were settled. She tried to console herself by thinking that the wound to him would be easy of cure. ›He also is not passionate,‹ she said. But in so saying she deceived herself. He was a man in whom Love could be very passionate; – and was, moreover, one in whom Love could hardly be renewed. (Chapter 32, 331)

Alice’s meditations are given room in free indirect style and even in a direct quotation of her thoughts, but her misjudgment of her fiancé’s character is promptly corrected by the narrator. This interplay of empathy with the character and evaluative distance is characteristic of Trollope’s presentation of his protagonist in Can Your Forgive Her? Several times the two stylistic tendencies – authorial and figural presentation – are so intertwined that Henry James’s technique is foreshadowed, but there are also passages in which internal focalization is free of authorial intrusion. The difference of Trollope’s narrative approach from Fielding’s lies in the fact that, although both novelists present a panoramic criticism of society, moral problems are represented by Trollope not only as social issues, but also as internally ex-

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perienced phenomena, while Fielding is hardly interested in the processes going on in his characters’ consciousness. To put it in a pointed way, in Can You Forgive Her? it is not only the (intrafictional) society and the reader who have to forgive Alice, but it is Alice herself who has to learn to forgive herself in a painful interior process. This interplay of empathy and distance can also be observed in the representation of the protagonist of the novel’s second plot, Glencora Palliser, whose fate is comparable to that of Emma Bovary in Flaubert’s novel. Glencora had been pressed into marriage with Plantagenet Palliser, an unromantic man dedicated to his political work, and is contemplating elopement with Burgo Fitzgerald, an unworthy, effeminate degenerate whom she idealizes as a romantic lover. A climax of this plot is Glencora’s scandalous waltz with Burgo, in the description of which the narrator treats her with annihilating derision, comparing her to a horse: »Then she put up her face, and slightly opened her mouth, and stretched her nostrils, – as ladies do as well as horses when the running has been severe and they want air« (Chapter 50, 102). The narrator gives, however, much attention to her mental situation, to her misunderstandings and delusions, which at least to some extent explain her conduct: The fact all rushed upon her in an instant; the letter in her pocket; the request which she had made to Alice, that Alice might be induced to guard her from this danger; the words which her husband had spoken to her in the morning, and her anger against him in that he had subjected her to the eyes of a Mrs. Marsham; her own unsettled mind – quite unsettled whether it would be best for her to go or to stay! It all came upon her now at the first word of tenderness which Burgo spoke to her. (103)

So there is not only condemnation of Glencora’s conduct, but a great deal of psychological analysis and sympathy. Elsewhere in the novel the narrator even praises her: »She was not softly delicate in all her ways; but in disposition and temper she was altogether generous« (Chapter 49, 91). And he continues, characteristically calling his omniscience into doubt: »I do not know that she was at all points a lady, but had Fate so willed it she would have been a thorough gentleman« (91). To sum up, Trollope’s representation of moral issues and actions is richly orchestrated, ranging from explicit commentary to psychological analysis and sympathetic explanation. For these different functions he uses different techniques, among which the opposition of authorial commentary and point-of-view is central. The two techniques complement each other and, at times, interact. Trollope’s method of double exposure represents a challenge to the reader who is asked to weigh the different attitudes and to recognize the complexity of moral decisions and their social and individual conse-

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quences. This also applies to the third plot of the novel which provides for comedy in presenting the story of Alice’s aunt, Widow Greenow. Ingeniously playing with two contrasting types of men, she is to be forgiven for ultimately preferring the light-headed, but charming Captain Bellfield to the stolid farmer Cheeseacre from Oilymead.

V. Moral Action in First-Person Narration: Charles Dickens’s David Copperfield and Mark Twain’s Huckleberry Finn First-person narration (homodiegetic narration) has been of great interest to critics dealing with the ethics of narration, especially in the above-mentioned work of James Phelan, who speaks of »character narration.« Firstperson narration directly confronts the reader with a fictional character who relates experiences from his or her subjective position. Since the first-person narrator is, in addition to his share in the action, defined by his voice, which is usually connected with a name, he /she has a distinct identity, separate from the author. As a consequence the reader cannot identify with him / her so easily, as is the case in point-of-view fiction, where by means of techniques such as focalization together with the device of free indirect style the reader is almost imperceptibly brought close to the character whose consciousness is presented. Another characteristic of first-person narration which may have an effect on the representation of action is the doubling of the »I« into a narrating and narrated »I«, Stanzel’s narrating and experiencing self. The consciousness of the moral quality of an action may be affected by the fact that the story is told later than the experiences that are recounted. As a first example the confrontation of little David with his tyrannical stepfather, Mr. Murdstone, from Charles Dickens’s David Copperfield19 will be analyzed, an episode in which the boy is about to be cruelly beaten by his stepfather. In this desperate situation he bites his stepfather’s hand: He had my head as in a vice, but I twined round him somehow, and stopped him for a moment, entreating him not to beat me. It was only for a moment that I stopped him, for he cut me heavily an instant afterwards, and in the same instant I caught the hand with which he held me, in my mouth, between my teeth, and bit it through. It sets my teeth on edge to think of it. (Chapter 4, 68)

The whole scene with the boy crying for mercy and being beaten, »as if he would beat me to death« (69), has a nightmarish character. From a moral 19 The text is quoted from Charles Dickens, David Copperfield, ed. Jeremy Tambling, London / New York 2004.

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point of view it is interesting that the boy as the victim of cruelty and violence feels guilty. The sense of guilt seems even stronger than the sense of physical pain: »My stripes were sore and stiff, and made me cry afresh, when I moved: but they were nothing to the guilt I felt. It lay heavier on my breast than if I had been a most atrocious criminal, I dare say« (69). In his mental agony he even fears that he may be hanged for his crime. Firstperson narration is here an effective instrument of presenting a child’s vision, a child’s confrontation with injustice and guilt. I-narration, particularly of the autodiegetic type, in which the central character is the narrator, derives its power to a great extent from the fact that the character is the narrator, which may give the text voice and authenticity. This is why so many novels with a child or adolescent as protagonist are I-novels. The impression of the authenticity of the narrative utterance may, however, be reduced, when the temporal distance between the narrating and the narrated »I« is clearly marked. David Copperfield is in this sense to a great extent a memory novel. Again and again, the narrator tries to recapture events from his childhood and youth. In this case the incident is vividly present in his memory. Twice he says, »How well I recollect,« »How well I remember« (69). The incident seems to be almost physically present to him. When he recalls biting his stepfather’s hand, his teeth are set on edge. Here it is the intensity of conjuring up a childhood incident which gives the narrative power. Stylistically the passage under discussion evinces certain features which do not belong to a child’s language. Before the above passage of violent action, there is a phrase applied to his stepfather’s conduct – »he had a delight in that formal parade of executing justice« (68) – which clearly pertains to the language of a grown-up, but the narrator refrains from explaining the child’s inability to recognize let alone cope with the problem of justice. This is something which first-person narration achieves. A novel with an omniscient narrator could never present a child’s world and vision as authentically as a first-person narrative. The protagonist’s conflict of conscience in Mark Twain’s Huckleberry Finn is comparable to David Copperfield’s sense of guilt as analyzed above. In parallel with David Copperfield, who believes an action performed in self-defense against a tormentor to be a crime, Huckleberry Finn thinks a good action, i.e. setting a slave free, to be a crime. In the two novels the vision of the protagonist-narrators is subjective and specifically limited, in so far as they do not on an intellectual level recognize the dilemma which they have to cope with. The intrapsychic problem in Twain’s novel is, however, treated on a much larger scale than in Dickens’s. The American writer actually makes his protagonist’s soul the battle-ground of conflicting forces.

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Placing the psychomachia, a battle fought between the forces of evil and the forces of good, within the soul of a boy is an innovative achievement. Huck’s problem emerges already on a linguistic level. Although he is an outsider, he has internalized social norms, which are mirrored in his language. Thus his intention to set free his friend, the slave Jim, appears to him as a crime, a »low-down thing,« »nigger stealing,« in fact, and in religious terms, a »sin,« on account of which his conscience torments him: »The more I studied about this the more my conscience went to grinding me, and the more wicked and low-down and ornery I got to feeling«.20 His attempt to pray fails – »the words wouldn’t come«: Why wouldn’t they [the words]? It warn’t no use to try and hide it from Him. Nor from me, neither. [… ] It was because my heart warn’t right; it was because I warn’t square; it was because I was playing double. I was letting on to give up sin, but away inside of me I was holding on to the biggest one of all. I was trying to make my mouth say I would do the right thing and the clean thing, and go and write to that nigger’s owner and tell where he was; but deep down in me I knowed it was a lie, and He knowed it. You can’t pray a lie – I found that out. (262)

Huck Finn believes his conduct to be morally bad, when it is actually good. His inner turmoil is the result of a conflict of two value systems which coexist in his consciousness, a conflict which pains him, but which is not intelligible to him. What happens in the child’s consciousness is, in Habermas’ understanding of the terms, a battle between (official, prescribed) morality and (individual) ethics. On the one hand, there is Huck’s true heart »deep down« which prompts him to save Jim, while, on the other hand, the norms of society and religion – under the name of »conscience« – put pressure on him, so that his intuitively good moral decision is called in doubt and he is made to feel guilty. In a much-quoted monograph Henry Nash Smith speaks of an opposition in Huck between »a sound heart« and »a deformed conscience«.21 In this mental crisis, in which the categories of good and bad are jumbled and in which Huck seems to lose the sense of his identity, he believes that his heart is not »right« and that he is »playing double« (262), but he ultimately relies on a moral substance »deep down« in him which remains intact in spite of all his doubts and self-incriminations. He does the right thing, believing that he is »wicked« (262) and that through his conduct he is going to »hell« (264). The depiction of Huck’s mental crisis and moral confusion derives its authenticity from the voice of the narrator. It is firstperson narration which makes possible the credible presentation of the si20 Mark Twain, The Adventures of Huckleberry Finn, New York 1960, 262 (Chapter 31). 21 Henry Nash Smith, Mark Twain: The Development of a Writer, Cambridge (Mass.), 1962, 113 – 117.

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tuation of a character who without anybody else’s help goes through the experience of a moral crisis. An omniscient narrator’s explanatory report of the processes in Huck’s consciousness would not be adequate to the experiential nature of what the protagonist has to go through. And point-of-view narration would lack the quality of voice and its authenticating force which is essential to first-person narration. A comment on the difference between Trollope’s authorial-figural narrative and I-narration, which both have a double perspective, may be in place. In Can You Forgive Her? there is on the one hand an authorial narrator whose evaluative comments judge the protagonists of the novel’s three plots and, in doing so, guide the reader’s reception. On the other hand there are passages of internal focalisation, which create sympathy for the three protagonists who are in a moral predicament and on the verge of making wrong decisions, so that the readers may temporarily identify with the characters. The narrator’s critical judgement is countered by sympathy-creating inside views of the characters, and, conversely, the perspective of the characters, whose inner life is represented, is ever and again corrected by authorial interventions.22 In I-narration such as Dickens’ David Copperfield the double perspective works another way. In the process of recapturing a scene from his childhood, the narrator exposes and corrects the child’s limited perspective, his self-incriminations, the pangs of bad conscience he felt on reacting to his step-father’s cruel conduct. I-narration tends to involve a process of clarification and re-interpretation, in which the perspective of the narrated self is modified by the perspective of the narrating self. This is, however, not so in Twain’s Huckleberry Finn, which, although written in the past tense, does not thematize the temporal distance between the teller and the tale. The narrator makes no attempts to explain or clarify the crisis of conscience through which he went. The reader is given the unfiltered perspective of a boy who finds himself in a moral dilemma, which he is unable to understand. A novel with an exclusively omniscient narrator could never present a child’s world and vision as authentically as a first-person narrative. VI. The Narrative Treatment of Adultery in Henry James’s The Golden Bowl There is hardly another novelist in whom a profound concern with the morality of characters, attitudes, and actions is more subtly interwoven with 22 Actually, the situation is more complex, because in the narrator himself, there are contradictory impulses concerning the moral evaluation of the characters, an aspect which could not be considered in this article.

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his art of narration.23 It is also a critical commonplace that James’s late novel The Golden Bowl 24 in this respect belongs to the key texts for an ethical analysis of fiction. This work’s presentation of moral issues demands a comprehensive interpretation, since all its main aspects – narrative form, characterization and plot – are carefully interconnected. In the present study, which deals with narrative forms of presenting moral action, it is, however, necessary to focus on one moment in the novel. I have chosen a moment in which action in physical terms is strongly in evidence. The Golden Bowl is an intricate kind of ménage à quatre, with four persons who are variously connected by marriage, love, friendship, and family bonds. Maggie Verver, daughter of an American millionaire and art-collector, is about to marry Amerigo, an impecunious Italian aristocrat, called the Prince or Principe. Her penniless friend Charlotte Stant returns from New York to London ostensibly to attend the wedding. Charlotte herself, some time previously, had a liaison with Amerigo in Rome, which was discontinued because the lovers were too poor to marry. Now a marriage between Maggie’s father, Adam Verver, and Charlotte is arranged, while the relationship between Charlotte and Amerigo revives. The adulterers believe that their spouses benefit from their liaison in that it allows father and daughter to cultivate their mutual devotion and to take care of Maggie’s and Amerigo’s son (the Principino). But Maggie discovers the real nature of the relationship between Amerigo and Charlotte. She successfully pursues a plan of restoring the proper grouping of the couples, which involves innocent but ingenious strategies of pretence and lying. An important role in the plot and in the unfolding of the moral theme of the novel is played by Mrs Assingham, a born matchmaker, who arranges the marriages in the novel. She is a friend and mentor of Amerigo, Maggie, and Charlotte. In her conversations with her husband, Colonel Assingham, the moral aspects of the course of events are controversially discussed. The central action of the scene under consideration is the physical encounter between the two lovers, an exception in the novel and in the whole work of James, who tends to be reticent in sexual matters. The passage in question follows on an avowal of their being true to each other:

23 Here are at least three of the many books on morality and ethics in James: Frederick C. Crews, The Tragedy of Manners. Moral Drama in the Later Novels of Henry James, Hamdon (Conn.), 1971; Greg W. Zacharias, Henry James and the Morality of Fiction, New York 1993; Robert B. Pippin, Henry James and Modern Moral Life, Cambridge 2000. 24 The text is quoted from Henry James, The Golden Bowl, Harmondsworth 1973.

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›Oh, as we trust the saints in glory. Fortunately,‹ the Prince hastened to add, ›we can.‹ With which, as for the full assurance and the pledge it involved, their hands instinctively found their hands. ›It’s all too wonderful.‹ Firmly and gravely she kept his hand. ›It’s too beautiful.‹ And so for a minute they stood together, as strongly held and as closely confronted as any hour of their easier past even had seen them. They were silent at first, only facing and faced, only grasping and grasped, only meeting and met. ›It’s sacred,‹ he said at last. ›It’s sacred,‹ she breathed back to him. They vowed it, gave it out and took it in, drawn by their intensity, more closely together. Then of a sudden, through this tightened circle, as at the issue of a narrow strait into the sea beyond, everything broke up, broke down, gave way, melted and mingled. Their lips sought their lips, their pressure their response and their response their pressure; with a violence that had sighed itself the next moment to the longest and deepest stillnesses they passionately sealed their pledge. (Chapter 18, 236 – 237)

It is astonishing to see how much this presentation of a love encounter is structured on the principle of reciprocity which is also expressed grammatically. In the clause »their hands instinctively found their hands« subject and object are identical. In the triad »only facing and faced, only grasping and grasped, only meeting and met« the roles of grammatical subject (agent) and grammatical object (patient) are equally ascribed to the two partners in love. Then follows a dyad formed by the statement ›It’s sacred,‹ which each of the two utters. Reciprocity is also indicated grammatically by »gave it out and took it in«. With the growing intensity and closeness of the lovers their emotions reach a climax, as the image of a strait issuing into the sea indicates. The release of feelings is mirrored in a sequence of asyndetic kinetic verbs, emphasized by repetition of words and sounds, »broke up, broke down, gave way, melted and mingled.« Then mutuality recurs on a higher level of intensity: »Their lips sought their lips, their pressure their response and their response their pressure,« the »violence« of their passion sighing itself »to the longest and deepest stillnesses.« The analysis of the passage demonstrates James’s artistic excellence. With its precise and intense description and with the emphasis on reciprocity and mutuality – elsewhere I defined kissing grammatically as an exchange of subject-object relationships25 – this passage belongs to the great kissing scenes in world literature. James obviously wanted to present the enchantment or infatuation of the lovers in its full intensity and to make the reader for a moment forget that what the two are doing is to commit adultery, 25 Wolfgang G. Müller, »›Kiss Me, Kate.‹ Zur Semantik und Ästhetik der Darstellung des Kusses in der englischen Literatur«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 36 (1995), 315 – 337.

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double adultery in fact, because each is betraying his/her spouse. There is, however, a contradiction between the passage and its context. Charlotte wants to make herself believe that what the lovers are doing occurs for the benefit of their respective partners. Immediately before the quoted passage she says: ›Well, then, there it is. I can’t put myself into Maggie’s skin – I can’t, as I say. It’s not my fit – I shouldn’t be able, as I see it, to breathe in it. But I can feel that I’d do anything to shield it from a bruise. Tender as I am for her too,‹ she went on, ›I think I’m still more so for my husband. He’s in truth of a sweet simplicity –!‹ (Chapter 18, 236)

The belief that she can do good to her friend and her husband by being unfaithful to them is evidence of the delusion and hubris under which she labours. There is conceit in her insistence on her difference from Maggie, and her characterization of her husband as »of a sweet simplicity« is almost callous. The two lovers feel a sense of freedom. Charlotte finds that »the direction was that of greater freedom – which was all in the world she had in mind« (Chapter 14, 198). Amerigo heightens the same notion by using a simile in a passage written in free indirect style: »It had all been just in order that his – well, what on earth should he call it but his freedom? – should be at present as perfect and rounded and lustrous as some huge precious pearl« (Chapter 22, 268). He even fantasizes about a situation in which the time between his earlier happiness with Charlotte and the blissful future of the renewed relationship is non-existent: The sense of the past revived for him nevertheless as it had not yet done: it made that other time somehow meet the future close, interlocking with it, before his watching eyes, as in a long embrace of arms and lips, and so handling and hustling the present that this poor quantity scarce retained substance enough, scarce remained sufficiently there, to be wounded or shocked. (Chapter 17, 227)

Moreover, from the time of her infatuation and dreams of freedom onwards, Charlotte is alienated from Mrs. Assingham, her moral mentor, who was the maker of the match between her and Mr. Verver. We thus cannot appreciate the powerful description of the love scene in question without unease. James’s technique of placing a non-ironic description of a sexual encounter in the ironic account of the lovers’ fantasies reveals the whole moral complexity of the situation. It is James’s technique to lure the reader into the magic of a sexual encounter for a moment, only to make him / her wake up again with greater clarity to the reality of what is acceptable conduct. It is interesting, incidentally, that James never uses the word »adultery« to characterize the lovers’ illicit affair, just as the entire novel dispenses with overt moralizing. James’s novel is removed as far as possible from any kind of didacticism; yet by its specific artistic form it induces reflection in the

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reader and sharpens his / her moral sense more than would be possible in a didactic novel or philosophical treatise. It may be useful to evaluate James’ technique in The Golden Bowl in relation to alternative narrative modes. The novelist avoids the direct self-manifestation of I-narration, probably because it would not be adequate to express the complexity of interpersonal relationships with which he is concerned. There is, as usual in James’s fiction, a combination of authorial and figural narrative. In the representation of moral action the authorial narrator’s comment on the conduct of the characters is muted, at least in the passages discussed. It is James’ strategy to leave the weighing of the moral issues to the reader rather than to guide him / her by explicit comment. Thus the delusions of the two adulterers are presented in passages of internal focalization, which, though they bring the reader close to their consciousness, represent a challenge to his / her moral discrimination. Another formal aspect of the Golden Bowl relevant to the presentation of moral issues which can only be mentioned here is James’s use of dialogue, for instance in the chapter-long conversations of Mr. and Mrs. Assingham and the dialogues of the lovers and their partners which all circle round their relationships and the morality of their conduct. The reader is drawn into a debate and challenged to weigh the conflicting arguments and perspectives. VII. Epilogue: Is All Action in Fiction Moral? By way of conclusion, let us ask the question whether all action in works of fiction is of a moral character or at least related to a moral context. Moral awareness teaches us that even in real life, action dissociated from moral implications is rare. We need not only think of such obvious things as child-labour or the purchase of a fur or buying meat coming from animals that are not kept properly. Even activities like picking grapes or oranges or hop may involve moral issues, if they serve exploitation. It is one of the functions of literature to expose misdemeanor and stimulate moral sensitivity. In a work of fiction like John Steinbeck’s The Grapes of Wrath (1939), the description of picking oranges for a mere pittance is meant to draw the reader’s attention to the plight of labourers who are exploited. The same holds true for George Orwell’s hop-picking section in A Clergyman’s Daughter (1935), or for Upton Sinclair’s The Jungle (1906), which exposes the working conditions in the Chicago meat-packing industry and ultimately makes a plea for socialism. As far as everyday life is concerned, there are routine actions which seem devoid of moral significance. This is the point of a novel like Nicholson Baker’s The Mezzanine (1988) in which

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banal activities like the tying of shoe laces, cleaning one’s teeth or using a deodorant are minutely described. To refer to an example everybody knows: if the shutters of a window are pulled up in the morning, this seems to be an entirely value-free activity. But a look at a literary representation of such an action shows that within a plot and by virtue of narrative technique it can assume moral significance, as the following passage from the Calypso section in James Joyce’s Ulysses (1922) shows: Letting the blind up by gentle tugs halfway his backward eye saw her glance at the letter and tuck it under her pillow.26

Leopold Bloom, who is about to make breakfast for his wife, lets the morning light gently into the bedroom so as not to disturb Molly’s comfort, while she is hiding her lover’s letter under the pillow. This simultaneity of the two actions, Bloom’s caring helpfulness and his wife’s concealment of the letter in themselves would be effective, but Joyce intensifies the situation by juxtaposing two acts of perception. Molly glances at the letter and disposes of it, while Bloom is observing her action furtively – »his backward eye saw her glance« –, trying to see the evidence of her betrayal. This is a morally highly charged situation, whose power derives from the novelist’s effective art of combining different elements of non-verbal action and from his handling of point-of-view. Another instructive example is the incredibly precise description of the rolling of a cigarette in Dashiell Hammett’s detective classic The Maltese Falcon (1930), which takes up a whole paragraph: Spade’s thick fingers made a cigarette with deliberate care, sifting a measured quantity of tan flakes down into curved paper, spreading the flakes so that they lay equal at the ends with a slight depression in the middle, thumbs rolling the paper’s inner edge down and up under the outer edges as forefingers pressed it over, thumbs and fingers sliding to the paper cylinder’s ends to hold it even while the tongue licked the flap, left forefinger and thumb pinching their end while right forefinger and thumb smoothed the damp seam, right forefinger and thumb twisting their end and lifting the other to Spade’s mouth. 27

This seems to be an autonomous, self-sufficient representation of an action, providing within one complex sentence, which consists predominantly of participle clauses (an amazing iconic achievement), a painstakingly meticulous verbal equivalent of the many physical actions involved in making a cigarette. Interestingly, the human subject in this passage seems disempowered. It is not Spade who makes the cigarette, but his fingers to whom 26 27

James Joyce, Ulysses, ed. Declan Kiberd, London / New York 2000, 74. Dashiell Hammett, The Maltese Falcon, London / Sidney 1977, 12.

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»deliberate care« is attributed. In the whole sentence the agents or grammatical subjects are only parts of Spade’s body, fingers and thumbs and the tongue. The metonymies of the paragraph seem to prohibit peremptorily that one speak of human let alone moral concerns. Yet if we consider the passage within its context, we realize that there is more to it. It comes immediately after a phone call which told Sam Spade that the partner in his detective agency, Miles Archer, has been killed. We know that smokers tend to need a cigarette in an unpleasant situation. Here the making of a cigarette, in which the fingers act as autonomous subjects, can be interpreted as a kind of reaction to the news of the death of Spade’s partner. At the end of the novel Spade utters as his credo that what a man cannot stand is to have his partner killed: »When a man’s partner is killed he’s supposed to do something about it« (198). Considering this moral imperative – the acknowledgement of duty toward one’s partner – it is not to be supposed that the news of Archer’s death should leave the novel’s protagonist unaffected. If we look at the passage under discussion in terms of the cause-effect nexus, Spade’s making a cigarette is his reaction to the news he has received. In a behaviouristic novel – a term which I introduced some time ago with reference to Hemingway, Hammett, and Chandler28 – the writer’s interest is not directed toward the souls of his characters, but to their outward behavior, which can be explained by the pattern of stimulus and response. In this context Spade’s making a cigarette can be interpreted as a reaction to an event which represents a moral challenge to him. This is one more example of the many techniques novelists may use to represent or imply moral aspects of human action. A systematic exploration of such techniques and their potential for the representation of moral issues might be the basis for a construction of an ethical narratology, which would supplement important extant approaches such as philosophically oriented studies or reader-response work. It would also avoid the tendency of many studies to focus on I-narration. In this article only some of the basic forms of narration could be considered. Authorial fiction with its omniscient narrator has a more or less explicit way of dealing with moral problems, which may be complicated by the use of irony. In the passage from Fielding, which at first sight looks like straightforward, plain narration, the presence of the narrator as the guarantor of the novel’s value system is evident in authorial intrusions and in the pervasive use of irony. It is the reader’s task to decode the irony and enjoy the comic exposure of affectation (vanity and hypocrisy). As distinct from authorial fiction, point-of-view narration, as 28 Wolfgang G. Müller, »Implizite Bewußtseinsdarstellung im behavioristischen Roman der zwanziger und dreißiger Jahre«, Amerikastudien / American Studies 26 (1981), 193 – 211.

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written by Austen, tends to dispense with explanatory moral orientation and to privilege the perspective of individual characters, inducing processes of moral cognition in the reader. In Trollope there is a double perspective in the representation of moral issues in that authorial comment and pointof-view occur side by side and frequently interact. This narrative duality provides for critical distance and sympathy in the reader. James develops Trollope’s technique further, intertwining authorial and figural narrative more strongly. However, the omniscient narrator in The Golden Bowl tends to stop short of uttering explicit moral criticism. The delusions of the adulterers and their attempts at self-justification are presented in the novel in point-of-view passages, a procedure which lays the burden of moral evaluation on the reader. A novelty in James is the abundant use he makes of dialogue as a method of analysing moral issues and presenting self-justification of characters who commit or are on the verge of committing morally problematic actions. As far as the representation of moral attitude and moral action are concerned, I-narration directly confronts the reader with a fictional character who relates experiences from his or her subjective position. The moral evaluation of the character’s conduct may be influenced by the narrator who looks back from a position of greater knowledge and understanding at events from his earlier life. One can therefore conclude that focalization and authorial comment, single and double viewpoints do not merely provide a panoply of modes of characterization but are crucial to the constitution of morality through narrative.

Was ist ein ›Gesamtkunstwerk‹? Zur medienhistorischen Neubestimmung des Begriffs Von Wolf Gerhard Schmidt

I. ›Intermedialität‹ hat sich in den zurückliegenden Jahren als ein zentrales Paradigma kulturwissenschaftlicher Forschung etablieren können – und dies zu Recht, schließlich gibt es nach Gilles Deleuze »kein Kunstwerk, das nicht seine Fortsetzung oder seinen Ursprung in anderen Künsten hat«.1 Jürgen E. Müller versteht Intermedialität daher mit Blick auf Hans Robert Jauß als »Provokation«,2 Werner Wolf als »Herausforderung«3 für die traditionelle Philologie. Das methodologische Hauptproblem der Forschung liegt jedoch in der Polyvalenz des Intermedialitätskonzepts. Seit Ende der 1990er Jahre beklagt man die »inflationäre Verwendung des Begriffs«4 und die damit verbundene »plurale[ ] Beliebigkeit«5 der Theoriemodelle, die durch immer neue Terminologien in wissenschaftliche Isolation geraten.6 1 »Le cerveau, c’est l’écran. Entretien avec Gilles Deleuze«, Cahiers du Cinéma 380 (1986), 25 – 32, hier 28 (Übers. W. G. S.). Stefan Münker spricht sogar vom »Medial Turn« (»After the Medial Turn. Sieben Thesen zur Medienphilosophie«, in: S. M., Alexander Roesler, Mike Sandbothe [Hgg.], Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main 2003, 16 – 25, hier 16). 2 Jürgen E. Müller, Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation, Münster 1996, 92. 3 Werner Wolf, »Intermedialität: Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, in: Herbert Foltinek, Christoph Leitgeb (Hgg.), Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär, Wien 2002, 163 – 192, hier 188. 4 Jens Schröter, »Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs«, montage AV 7 (1998), H. 2, 129 – 154, hier 149. 5 Hans-Dieter Kübler, »[Rezension zu:] Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998«, Medienwissenschaft 3 (1999), 305 – 308, hier 305. 6 Vgl. Irina O. Rajewsky, »Intermedialität ›light‹? Intermediale Bezüge und die ›bloße Thematisierung‹ des Altermedialen«, in: Roger Lüdeke, Erika Greber (Hgg.), Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft, Göttingen 2004, 27 – 77, hier 29 f. und Urs Meyer, Roberto Simanowski, Christoph Zeller, »Vorwort«, in: U. M., R. S., C. Z. (Hgg.), Transmedialität. Zur Ästhetik para-

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Auch Irina O. Rajewskys ambitionierter Versuch, dem »Fehlen eines einheitlichen Begriffsinstrumentariums zur Beschreibung der intermedialen Phänomene«7 kasuistisch zu begegnen, hat sich bisher nicht durchgesetzt.8 Immer häufiger spricht man daher von den »illusions perdues«9 einer Forschungsrichtung, die mit dem Vorsatz angetreten war, »ein allumfassendes medientheoretisches System zu entwickeln«. Die bisher vorgeschlagenen Modelle, »seien sie nun strukturalistischer oder post-strukturalistischer Art«, würden »in den allermeisten Fällen den in den Präambeln formulierten Zielsetzungen nicht gerecht«, die »analytischen Kategorien, die nur einen sehr begrenzten Bereich intermedialer Phänomene und Prozesse abdeck[t]en«, stellten sich »häufig als unzureichend heraus«.10 Den nachfolgenden Ausführungen liegt deshalb die pragmatische Begriffsdefinition Werner Wolfs zugrunde. ›Medium‹ meint hier nicht den »technisch-materiell definierten Übertragungskanal von Informationen (wie z. B. Schrift, Druck, Rundfunk, CD usw.), sondern ein konventionell im Sinn eines kognitiven frame of reference als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv« (Sprache, Musik, Bild etc.). ›Intermedialität‹ bedeutet demzufolge »das Überschreiten von Grenzen« dieser Dispositive, »wobei solches Überschreiten sowohl innerhalb von einzelnen Werken oder Zeichenkomplexen als auch zwischen solchen vorkommen kann«.11 Sie umfasst damit den gesamten Interart-Bereich, schließt allerdings auch medienübergreifende Phänomene ein, die nur bedingt Kunstcharakter aufweisen. literarischer Verfahren, Göttingen 2006, 7 – 17, hier 8. Eine – allerdings nicht mehr ganz aktuelle – Darstellung des dispersen Diskussionsstandes findet sich bei Mathias Mertens (Forschungsüberblick »Intermedialität«. Kommentierungen und Bibliographie, Hannover 2000). 7 Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen, Basel 2002, 3. 8 Infolge der Vielzahl differenter Begriffsbildungen kann Rajewsky die eigene Terminologie nicht als bekannt voraussetzen (vgl. »Intermedialität und remediation. Überlegungen zu einigen Problemfeldern der jüngeren Intermedialitätsforschung«, in: Joachim Paech, Jens Schröter [Hgg.], Intermedialität analog / digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008, 48 – 60, hier 53 f.). 9 Jürgen E. Müller, »Intermedialität und Medienhistoriographie«, in: Joachim Paech, Jens Schröter (Hgg.), Intermedialität analog / digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008, 31 – 46, hier 35. Vgl. auch Eric Méchoulan, »Intermédialités: Le temps des illusions perdues«, Intermédialités 2003, H. 1, 9 – 27, hier 9. 10 Müller, »Intermedialität und Medienhistoriographie«, 31 f. Der Plan, ein solches ›System‹ zu konturieren, findet sich u. a. bei Jörg Helbig (»Vorwort des Herausgebers«, in: J. H. [Hg.], Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998, 8 – 13, hier 9), Irina O. Rajewsky (Intermedialität, 4, 11, 26) und Erika Fischer-Lichte (»Interart-Ästhetiken«, in: Renate Brosch [Hg.], Ikono / Philo / Logie: Wechselspiele von Texten und Bildern, Berlin 2004, 25 – 41, hier 33, 40). 11 Wolf, »Intermedialität: Ein weites Feld«, 165, 167.

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Neben diesem synchronen, innerästhetischen Aspekt gilt es zu bedenken, dass intermediale Praktiken nicht unabhängig von kulturellen Entwicklungsprozessen erfasst werden können, weil ähnliche Darstellungstechniken, beispielsweise die Musikalisierung von Sprache oder die Literarisierung von Musik, zu verschiedenen Zeiten jeweils andere Ziele aufweisen können. Künstlerische Grenzüberschreitung vollzieht sich nicht nur in Form struktureller Interferenzen, sondern es existiert immer auch eine »Sozialität der Intermedialität« als komplexes Konglomerat historischer, sozialer, politischer, technologischer und ästhetischer Faktoren. Statt eines »Super- oder Mega-Systems«, das angesichts »der unendlich großen Zahl möglicher intermedialer Kombinationen / Interaktionen« ohnehin »ein recht naives Unterfangen« sei, schlägt Jürgen E. Müller daher »einen historischen, deskriptiven, induktiven – und vielleicht auch mühsameren Ansatz« vor, der »Schritt für Schritt zu einer Archäologie und einer Geographie intermedialer Verfahren« führen soll.12 Nimmt man diese Forschungsperspektive ernst, so sind insbesondere jene Epochen beachtenswert, die auf gesellschaftliche Krisen reagieren und infolge damit verbundenen Evidenzverlusts bestehende Medienästhetiken überprüfen. Dies gilt für die literarische (Früh)Romantik, vor allem jedoch für die sog. ›Restaurationszeit‹,13 die von einer tiefgreifenden ›Universalismuskrise‹14 geprägt wird und momentan wieder verstärkt Forschungsinteresse auf sich zieht.15 Verbindliche Kunst- und Sinnstiftungsmodelle fehlen der Epoche ebenso wie klar definierbare Grenzen zwischen privatem, öffentlichem und wissenschaftlichem Bereich. »Alles«, so Friedrich Ancillon 1828, »ist beweglich geworden, oder wird beweglich gemacht«.16 Im Zuge dieser Entwicklung verliert der Horazsche Grundsatz des ut pictura 12 Müller, »Intermedialität und Medienhistoriographie«, 32, 35. Ähnlich sehen es Hans Ulrich Gumbrecht (»Why Intermediality – if at all?«, in: Intermédialités 2003, H. 2, 173 – 178, hier 176 f.) und Walter Moser (»L’interartialité: Pour une archéologie de l’intermedialité«, in: Marion Froger, Jürgen E. Müller [Hgg.], Intermédialité et socialité, Münster 2007, 69 – 92, hier 69). 13 Aufgrund der noch immer virulenten Diskussion um die Epochenbezeichnung für die Kulturphase zwischen 1815 und 1848 wird hier der ›neutrale‹, an der politischen Geschichte orientierte Terminus verwendet (vgl. ausführlich Wolf Gerhard Schmidt, »In ›allen Künsten‹ wird ›das Bestreben sichtbar‹, ›die Grenzen zu überschreiten‹. Intermedialität als Basisphänomen der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1848«, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 35 [2010], H. 2, 195 – 243, hier 237 – 240). 14 Vgl. Walter Schmitz, »Lenau und die Theosophie. Zur Krise des poetischen Universalismus in der Biedermeierzeit«, Lenau-Forum 17 (1991), 59 – 81, hier 59. 15 Vgl. Schmidt, »In ›allen Künsten‹ wird ›das Bestreben sichtbar‹«, 200 f. / Anm. 26. 16 Johann Peter Friedrich Ancillon, Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen, Bd. 1, Berlin 1828, 192.

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poesis gegenüber seinem Gegenbegriff ut musica poesis an Bedeutung. Für Heine ist die eigene Gegenwart 1841 eine zunehmender Verklanglichung und die Musik selbst in Fortschreibung der Hegel-These »vielleicht das letzte Wort der Kunst«, denn durch sie drohe »die Auflösung der ganzen materiellen Welt«.17 Wie Schopenhauer und Kierkegaard (allerdings im Rahmen eines postidealistischen Erklärungsmodells) spricht Hebbel der Tonkunst 1847 sogar transzendentale Bedeutung zu: »Ehe wir Menschen waren, hörten wir Musik«.18 Solche Äußerungen dürfen allerdings nicht den Blick dafür verstellen, dass es in Theorie wie Praxis zu verschiedenen und ästhetisch sehr komplexen Formen medialer Interferenzen kommt (Musikvisualisierung, Farbenklang, synästhetische Literatur, Gesamtkunstwerk). 1854 beklagt Gustav Freytag denn auch rückblickend die umfassende Revision von Lessings Laokoon, »da nicht im Roman allein, sondern fast in allen andern Künsten, in der Malerei wie in der Musik, das Bestreben sichtbar wird, die Grenzen zu überschreiten, welche den einzelnen Künsten durch die Unsterblichen gesteckt [sind]«.19

II. Tatsächlich stellt die hier virulente Tendenz zur Mediensynthese das wesentliche Innovationselement der Restaurationszeit dar. Es erstaunt deshalb, dass sie in den einschlägigen Arbeiten zum Thema ›Gesamtkunstwerk‹ weitgehend unberücksichtigt bleibt. Man beginnt mit den Theoriekonzepten der literarischen Frühromantik, erwähnt (allerdings schon seltener) Philipp Otto Runge, um dann direkt zum postrevolutionären Richard Wagner überzugehen.20 Die ersten konkreten Umsetzungsversuche, die zwischen 17 Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hg. Klaus Briegleb, München 1997, Bd. 5, 357 (»Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben«). 18 Friedrich Hebbel, Tagebücher, hg. Karl Pörnbacher, München 1984, Bd. 2, 314 (Nr. 4082). Ähnlich verfährt der späte Goethe (vgl. Dieter Borchmeyer, »Goethes Faust musikalisch betrachtet«, in: Hermann Jung [Hg.], Eine Art Symbolik fürs Ohr. Johann Wolfgang von Goethe. Lyrik und Musik, Frankfurt am Main 2002, 87 – 100, hier 100). 19 Gustav Freytag, Aufsätze zur Politik, Geschichte, Literatur und Kunst, Leipzig [1925], 618 (»Wilibald [sic!] Alexis« [1854]). Schon Lessing selbst untergräbt jedoch in den Paralipomena zum Laokoon die postulierte Mediendifferenz, wenn er betont, dass Musik und Literatur ursprünglich »beide zusammen nur eine Kunst ausmachten« (Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. Wilfried Barner u. a., Bd. 5.2, Frankfurt am Main 1990, 313). 20 Vgl. – abgesehen von den auf Wagner zentrierten Darstellungen – u. a. Kurt Wais, Symbiose der Künste. Forschungsgrundlagen zur Wechselberührung zwischen Dichtung, Bild- und Tonkunst, Stuttgart 1936; Franz Rauhut, »Die Idee der Einheit

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1815 und 1848 entstehen und (wie der abschließende Definitionsvorschlag zeigen wird) durchaus Gesamtkunstwerk-Impetus aufweisen, bleiben daoder Verwandtschaft und der Vereinigung oder Verschmelzung der Künste«, Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig 6 (1956 / 57), 553 – 575; Peter Rummenhöller, »Romantik und Gesamtkunstwerk«, in: Walter Salmen (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhundert, Regensburg 1965, 161 – 170; Helmut Seling, »›Gesamtkunstwerk‹, Wort und Bedeutung«, Kunstchronik 23 (1970), H. 10, 274; Ehrenfried Kluckert, »Die utopische Bestimmung des Begriffes ›Gesamtkunstwerk‹ und seine Symptome«, ibid., 275; Helga Prignitz, Manfred Bock, »Kritische Bemerkungen zum Begriff des ›Gesamtkunstwerks‹ im 19. Jahrhundert«, ibid., 278 f.; Karl Konrad Polheim, »Die romantische Einheit der Künste«, in: Wolfdietrich Rasch (Hg.), Bildende Kunst und Literatur. Beiträge zum Problem ihrer Wechselbeziehungen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1970, 157 – 178; Rudolf Bisanz, »The romantic synthesis of the arts: nineteenth-century German theories on a universal art«, Konsthistorisk tidskrift 44 (1975), Nr. 1 – 2, 38 – 46; Dieter Klein, »Das Gesamtkunstwerk im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Martin Dülfer«, Ars Bavarica 25 / 26 (1982), 115 – 130; Rüdiger Görner, »Über die ›Trennung der Elemente‹. Das Gesamtkunstwerk – ein Steinbruch der Moderne?«, Maske und Kothurn 29 (1983), 98 – 122; Harald Szeemann (Hg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau, Frankfurt am Main 1983; Till R. Kuhnle: »Anmerkungen zum Begriff Gesamtkunstwerk – die Politisierung einer ästhetischen Kategorie?«, Germanica 10 (1992), 35 – 50; Hans-Peter Reinecke, »Die Erfindung des Gesamtkunstwerks und ihre Hintergründe im 19. Jahrhundert«, in: Helmut Rösing (Hg.), Spektakel, Happening, Performance: Rockmusik als »Gesamtkunstwerk«, Mainz 1993, 11 – 20; Dieter Borchmeyer, »Gesamtkunstwerk«, in: D. B., Viktor Žmegac (Hgg.), Moderne Literatur in Grundbegriffen, 2., neu bearbeitete Auflage, Tübingen 1994, 181 – 184; D. B., »Gesamtkunstwerk«, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, zweite, neubearbeitete Ausgabe, Sachteil Bd. 3, Kassel u. a. 1995, 1282 – 1289; Hans Günther (Hg.), Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos, Bielefeld 1994; Wolfgang Dömling, »›Wiedervereinigung der Künste‹. Skizzen zur Geschichte einer Idee«, in: Elisabeth Schmierer u. a. (Hgg.), Töne – Farben – Formen. Über Musik und die bildenden Künste, Laaber 1995, 119 – 126; Denis Bablet, Élie Konigson (Hgg.), L’œuvre d’art total, Paris 1995; Helmut Schanze / Redaktion, »Gesamtkunstwerk«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, 815 – 824; Jürgen Söring, »Gesamtkunstwerk«, in: Klaus Weimar u. a. (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin / New York 1997, 710 – 712; Detlef Hoffmann (Hg.), Der Traum vom Gesamtkunstwerk, Rehburg-Loccum 1998; Holger Schulze, »Gesamtkunstwerk: Überprüfung eines historischen Begriffs anhand einiger jüngerer Strömungen der Kunst«, Musik im Dialog 4 (2000 / 2001), 115 – 127; Wolfgang Storch, »Gesamtkunstwerk«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2001, 730 – 791; Chung-Sun Kwon, Studie zur Idee des Gesamtkunstwerks in der Frühromantik. Zur Utopie einer Musikanschauung von Wackenroder bis Schopenhauer, Frankfurt am Main u. a. 2003; Jean Galard u. a. (Hgg.), L’œuvre d’art total, Paris 2003; Roger Fornoff, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne, Hildesheim / Zürich / New York 2004; Guido Hiß, Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000, München 2005 und Anke Finger, Das Gesamtkunstwerk der Moderne, Göttingen 2006.

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gegen fast immer ausgespart – u. a. Hoffmann / Fouqué: Undine, Weber: Euryanthe,21 Beethoven: 9. Symphonie,22 Goethe: Faust II,23 Wagner: Lohengrin.24 Ein Hauptgrund für die Forschungsabstinenz liegt möglicherweise darin, dass es sich hier nicht um reine Theoriekonzepte handelt, sondern um »harte Intermedialität«,25 die technisches Wissen über alle an der ›Fusion‹ beteiligten Künste voraussetzt. Dass einige der genannten Werke noch keine endgültigen Lösungen des Konvergenzproblems bieten, kann kein Argument dagegen sein, sie unter dem Begriff ›Gesamtkunstwerk-Projekt‹ zu fassen. Denn die Frage nach dem »Gelingen«26 des Endproduktes ist wissenschaftlich gesehen problematisch, weil sie präsupponiert, die angemessene Realisation einer bestimmten Theorievorgabe verbürge per se 21 Eine Ausnahme bildet die bisher wenig rezipierte Dissertation von Alfred Robert Neumann, der zumindest Hoffmanns Undine und Webers Euryanthe integriert (vgl. The Evolution of the Concept Gesamtkunstwerk in German Romanticism, Ann Arbor 1951, 209, 219). 22 Wolfgang Storch rechnet zwar Webers Freischütz und einige Beethoven-Symphonien (neben Nr. 9 erstaunlicherweise auch Nr. 5 / 6) unter das Phänomen ›Gesamtkunstwerk‹, verzichtet jedoch auf eine Begründung dieser Klassifikation (vgl. »Gesamtkunstwerk«, 748 f.). 23 Obwohl Faust II in der einschlägigen Literatur zum Gesamtkunstwerk nicht berücksichtigt wird (vgl. Anm. 20), attestiert man dem Werk in der Goethe-Forschung durchaus einen entsprechenden Charakter. Tina Hartmann spricht von »Idealoper« (Goethes Musiktheater. Singspiele, Opern, Festspiele, ›Faust‹, Tübingen 2004, 458), Dieter Borchmeyer von »Universaltheater« (»Goethes Faust musikalisch betrachtet«, 91), dessen Konzeption sich dem »musikalisch-dramatischen Gesamtkunstwerk« annähere (»›Götterwert der Töne‹. Goethes Theorie der Musik«, in: Günter Schnitzler, Gottfried Schramm [Hgg.], Ein unteilbares Ganzes. Goethe: Kunst und Wissenschaft, Freiburg 1997, 117 – 172, hier 160). Nicht von ungefähr zählen Beethovens 9. Symphonie und Goethes Faust II zu den wichtigsten Legitimationsinstanzen von Wagners Opernreform. Siehe u. a. Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Leipzig [1911], Bd. 2, 60 (Bericht über die Aufführung der neunten Symphonie [… ] [1846]), Bd. 4, 145 f. (Oper und Drama [1852]) und Bd. 9, 125 (Beethoven [1870]). 24 Lediglich Christoph Weismüller versteht Lohengrin als Gesamtkunstwerk. Das kaum zweiseitige(!) Kapitel basiert jedoch auf dem weitgehend assoziativen Versuch einer tiefenpsychologischen Lesart, die nur bedingt wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, zumal jede eigenständige, partiturbasierte Formanalyse fehlt (vgl. Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks. Ein medienphilosophischer Beitrag zu Richard Wagners öffentlicher Traumarbeit, Würzburg 2001, 128 f.). An anderer Stelle wiederholt Weismüller lediglich einschlägige Adorno-Thesen zur Instrumentationstechnik des Lohengrin (ibid., 164 – 167). 25 Uwe Wirth, »Hypertextuelle Aufpfropfung als Übergangsform zwischen Intermedialität und Transmedialität«, in: Urs Meyer, Roberto Simanowski, Christoph Zeller (Hgg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen 2006, 19 – 38, hier 33. 26 Söring, »Gesamtkunstwerk«, 710.

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Qualität (wobei zudem vorausgesetzt wird, diese ›Adäquanz‹ lasse sich eindeutig bemessen). Es ist sicher richtig, dass Hoffmann mit der Zauberoper Undine noch keine idealtypische Umsetzung seiner Musiktheater-Ästhetik vorlegt – möglicherweise auch deshalb, weil diese Ästhetik Aporien enthält, die Hoffmann kompositorisch nicht lösen kann und daher literarisch zu verarbeiten beginnt.27 Nichtsdestoweniger ist Undine der erste bedeutende Versuch, das Gesamtkunstwerk als Praxisprojekt zu verwirklichen – ein Aspekt, den auch Carl Maria von Weber in seiner Rezension der Uraufführung hervorhebt. Zu diesem Zweck zitiert er ein »Bruchstück« aus dem eigenen Romanfragment Tonkünstlers Leben (1809 – 1821), »weil es [ …] die Gestaltung der Oper Undine grösstentheils ausspricht«, nämlich ihren Gesamtkunstwerk-Charakter: Es versteht sich von selbst, dass ich von der Oper spreche, die der Deutsche will: ein in sich abgeschlossenes Kunstwerk, wo alle Theile und Beyträge der verwandten und benutzten Künste ineinanderschmelzend verschwinden, und auf gewisse Weise untergehend – eine neue Welt bilden.28

Und gerade mit Blick auf die gelungene Mediensynthese scheint ihm Hoffmanns Oper ein bedeutender Entwicklungsschritt: Sie ist wirklich ein Guss, und Ref. erinnert sich bey oftmaligem Anhören keiner einzigen Stelle, die ihn nur einen Augenblick dem magischen Bilderkreise, den der Tondichter in seiner Seele hervorrief, entrückt hätte. Ja, Er erregt so gewaltig von Anfang bis zu Ende das Interesse für die musikal. Entwicklung, dass man nach dem ersten Anhören wirklich das Ganze erfasst hat und das Einzelne in wahrer Kunst-Unschuld und Bescheidenheit verschwindet.29

Wenngleich Hoffmann selbst die Oper als Gattung keineswegs privilegiert, sieht auch er in ihr »die utopische Möglichkeit, die disparaten Kunstformen auf eine romantische Idee hin auszurichten und in einer homogenen Form zu verschmelzen«.30 Eine vergleichbare Pionierstellung besitzt Wagners Lohengrin. Obwohl er der nachrevolutionären Ästhetik des Künstlers nur teilweise entspricht 27 Vgl. Klaus-Dieter Dobat, Musik als romantische Illusion. Eine Untersuchung zur Bedeutung der Musikvorstellung E. T. A. Hoffmanns für sein literarisches Werk, Tübingen 1984, 119. 28 Carl Maria von Weber, »Ueber die Oper, Undine [ …]«, Allgemeine musikalische Zeitung, 19. März 1817, Nr. 12, 201 – 208, hier 202. Bezüglich der Originalstelle im Romanfragment vgl. Carl Maria von Weber, Kunstansichten. Ausgewählte Schriften, hg. Karl Laux, Leipzig 1969, 51. 29 Weber, »Ueber die Oper, Undine«, 205. 30 Dobat, Musik als romantische Illusion, 103. Erst der späte Hoffmann urteilt skeptischer und akzeptiert »die Rolle der Musik als einer ›bedingten‹ Kunst in der Oper« (ibid., 114).

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(die allerdings ebenfalls Brüche und Divergenzen aufweist), ist er bereits musikdramatisch ›gedacht‹. Wagners Äußerungen über das Verhältnis seiner romantischen Opern zu den ›Musikdramen‹31 sind deshalb widersprüchlich: Bald wird die konzeptionelle Nähe betont,32 bald die Distanz.33 Mit Recht konstatiert Carl Dahlhaus, dass die »Verwendung« beider Termini »keine Behauptung darüber einschließt, ob die Zäsur zwischen ›Rienzi‹ und dem ›Fliegenden Holländer‹ tiefer [ist] als die zwischen ›Lohengrin‹ und dem ›Rheingold‹«. Zudem stehe »keineswegs eindeutig fest«, »in welchem Maße« die Schrift Oper und Drama »einerseits ein Reflex der früheren Werke und anderseits eine gedankliche Antizipation der späteren« sei.34 Tatsächlich entwickelt Wagner bereits in der Novelle Eine Pilgerfahrt zu Beethoven (1840) differenzierte Vorstellungen vom »wahre[n] musikalische[n] Drama«,35 das in der Oper Fidelio aufgrund zeithistorischer Zwänge nur ansatzweise verwirklicht sei – eine These, die der Komponist noch zwanzig Jahre später vertritt.36 Das eingehende Diskutieren solcher Fragen und Probleme im epochen- bzw. mediengeschichtlichen Kontext ist auch mit Blick auf die übrigen Werke (Webers Euryanthe, Beethovens 9. Symphonie, Goethes Faust II) absolutes Forschungsdesiderat. Aus diesem Grund gilt selbst heute, was Jürgen Söring vor dreizehn Jahren konstatiert hat: »Eine umfassende historische und systematische Darstellung« des Phänomens ›Gesamtkunstwerk‹ »steht […] immer noch aus«.37 Tatsächlich lässt sich bis dato weder eine konsens- noch tragfähige Begriffsbestimmung nachweisen. Mitunter begegnet sogar die These, das Gesamtkunstwerk existiere überhaupt nicht als »konkrete Kunstform«,38 sondern lediglich als »Entwurf«,39 »Idee«,40 »Hang«41 oder »Traum«.42 31 Wagner selbst spricht sich 1872 gegen diesen Begriff aus (vgl. Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 9, 302 – 307 [Über die Benennung »Musikdrama«]). 32 Vgl. ibid., Bd. 4, 323 (Eine Mittheilung an meine Freunde [1851]). 33 Vgl. ibid., Bd. 7, 118 (»Zukunftsmusik« [1860]). 34 Carl Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, Regensburg 1971, 48. 35 Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 1, 110. 36 Ibid., Bd. 7, 92 f. (»Zukunftsmusik« [1860]). 37 Söring, »Gesamtkunstwerk«, 712. 38 Finger, Das Gesamtkunstwerk der Moderne, 13. Die Autorin widerspricht sich jedoch, wenn sie später mit Blick auf Wagner konstatiert, »die in den theoretischen Schriften enthaltenen Direktiven« seien »für das Musikdrama relevant« (ibid., 58 / Anm. 29). Die konkrete Analyse, die an dieser Stelle notwendig gewesen wäre, unterbleibt jedoch. 39 Prignitz, Bock, »Kritische Bemerkungen zum Begriff des ›Gesamtkunstwerks‹«, 279. Vgl. auch den Definitionsversuch von Bazon Brock: »Von Gesamtkunstwerken wollen wir [… ] dann sprechen, wenn Individuen ein gedankliches Konstrukt über-

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Diese Position ist jedoch aus mehreren Gründen problematisch: Zunächst koinzidieren in ihr Gegenstands- und Wissenschaftsperspektive, weil das Fragmentmodell der frühromantischen Transzendentalpoesie unbesehen auf das komplexe und historisch vielfältige Phänomen ›Gesamtkunstwerk‹ übertragen wird. Des Weiteren folgt selbst aus der Existenz einer Idealvorstellung nicht notwendig, dass die daraus abgeleiteten Praxisprojekte dieser Idealvorstellung substantiell inkompatibel wären – insbesondere dann nicht, wenn die meisten Befürworter dieser These darauf verzichten, die Idealvorstellung (und damit auch Begriff und Gegenstand) konzise zu bestimmen. Wer wie Anke Finger erklärt, »die Definition des Gesamtkunstwerks« sei »für die Arbeit mit dem Begriff« keineswegs »unerläßlich«,43 befreit sich nur scheinbar von normativen Zwängen. Tatsächlich unterliegt sein Denken einem kausallogischen Fehlschluss, denn letztlich muss er implizit voraussetzen, was er vernachlässigen zu können glaubt: die Bestimmung des Begriffs ›Gesamtkunstwerk‹. Wie lässt sich feststellen, welche Phänomene wissenschaftlich relevant sind, wenn nicht doch stillschweigend eine Definition präsupponiert wird? Streng genommen dürfte man ohne Begriffsbestimmung ausschließlich diejenigen Theoriemodelle behandeln, die den Terminus ›Gesamtkunstwerk‹ explizit verwenden, aber gerade so verfahren die zitierten Wissenschaftler nicht. Das von ihnen untersuchte Werkkorpus unterscheidet sich kaum von dem derjenigen, die ihrer Untersuchung eine (wie auch immer formulierte) Definition zugrunde legen. Auf »das grundlegende Dilemma dieser Art von Begriffsverwendung« verweist Erika Fischer-Lichte: [D]er Begriff [›Gesamtkunstwerk‹] wird einerseits gebraucht, weil er als vage, undefiniert und daher beliebig zu füllen gilt; andererseits aber gerade aus dem entgegengesetzten Grund, nämlich weil mit ihm eine ganz bestimmte Bedeutung intendiert wird, die der Leser unter allen Umständen genau erfassen muß, wenn er die Ausführungen verstehen soll.44 geordneter Zusammenhänge als bildliche oder epische Vorstellung oder als wissenschaftliches System oder als politische Utopie entwickelt haben. Gesamtkunstwerke existieren also nur als fiktive Größe, als zur Sprache gebrachte gedankliche Konstruktionen« (»Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Pathosformeln und Energiesymbole zur Einheit von Denken, Wollen und Können«, in: Harald Szeemann [Hg.], Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau / Frankfurt am Main 1983, 22 – 39, hier 23). 40 Kluckert, »Die utopische Bestimmung«, 275 und Kwon, Studie zur Idee des Gesamtkunstwerks in der Frühromantik, Titel, passim. 41 Szeemann (Hg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk, Titel. 42 Dömling, »›Wiedervereinigung der Künste‹«, 126 und Hoffmann (Hg.), Der Traum vom Gesamtkunstwerk, Titel. 43 Finger, Das Gesamtkunstwerk der Moderne, 25.

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Fischer-Lichtes eigener Definitionsnukleus bleibt allerdings so weitgespannt, dass dem von ihr kritisierten »Mißbrauch des Begriffs Gesamtkunstwerk« damit kaum Einhalt zu gebieten ist. Die Autorin unterscheidet lediglich zwischen »drei konstitutiven Komponenten«: »der gesellschaftlich-politischen, der anthropologischen und der ästhetischen«,45 weitere Spezifikationen – insbesondere intermedialer Art – fehlen.

III. Aber selbst die um semantische Eingrenzung und künstlerischen Praxisbezug bemühte Forschung behilft sich oft mit kurzen, allgemeinen Definitionen. So bleibt Odo Marquard mit dem Kriterienkatalog seines »Steckbriefs« auch dann unpräzise, wenn er als besonderes Kennzeichen des Gesamtkunstwerks nicht allein die multimediale Verbindung aller Künste in einem einzigen Kunstwerk gelten [ …] lassen [möchte], sondern vor allem auch noch eine andere Verbindung: die von Kunst und Wirklichkeit; denn zum Gesamtkunstwerk gehört die Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität.46

Dieser Ansatz ist in mehrfacher Hinsicht defizitär: Zunächst krankt er nicht allein an unzureichender philologischer Fundierung (wichtige Vertreter des Projekts ›Gesamtkunstwerk‹ bleiben ungenannt), sondern auch an postidealistischer Verengung des Gegenstandsbereichs. Indem Marquard unter »Gesamtkunstwerk« nur »das in ein besonderes Kunstwerk emigrierte Identitätssystem« Schellings begreift, schreibt er das idealistische Kategoriensystem fort und vereindeutigt ein historisch bzw. intentional vielschichtiges Phänomen.47 Resultat ist folgende durch ihre Simplizität fragwürdige Antithese: Während Schellings Identitätsphilosophie die »Gesamtwirklichkeit als Kunstwerk« deute, ziele das konkrete Gesamtkunstwerk, das der Autor 44 Erika Fischer-Lichte, »Das ›Gesamtkunstwerk‹. Ein Konzept für die Kunst der achtziger Jahre?«, in: Maria Moog-Grünewald, Christoph Rodieck (Hgg.), Dialog der Künste. Intermediale Fallstudien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1989, 61 – 74, hier 63. 45 Ibid., 72 f. Gegen den inflationären Gebrauch des Terminus wenden sich u. a. auch Rüdiger Görner (»Über die ›Trennung der Elemente‹«, 98), Wolfgang Dömling (»›Wiedervereinigung der Künste‹«, 119) und Roger Fornoff (Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk, 16 f.). 46 Odo Marquard, »Gesamtkunstwerk und Identitätssystem. Überlegungen im Anschluß an Hegels Schellingkritik«, in: Harald Szeemann (Hg.): Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau / Frankfurt am Main 1983, 40 – 50, hier 40. 47 Vgl. auch die Kritik von Guido Hiß (Synthetische Visionen, 14 f.).

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selbst auf den Schlussseiten seiner Philosophie der Kunst (1802 /03) entwerfe,48 darauf ab, »das Kunstwerk wirklicher zu machen«.49 Die hier virulente Reduktion von Komplexität erlaubt gleichzeitig eine »Überdehnung« des Begriffs ›Gesamtkunstwerk‹, die Roger Fornoff zu Recht moniert.50 Denn die »vier Gesamtkunstwerksorten«, die Marquard unterscheidet, bleiben definitorisch unscharf und entgrenzen das Phänomen bis in den politisch-gesellschaftlichen Bereich: Das »direkte positive Gesamtkunstwerk« wolle »alle Einzelkünste in einem Kunstwerk« verbinden, um dadurch – wie bei Wagner – »die Dignität der Wirklichkeit zu gewinnen«. Statt dessen zerstöre das »direkte negative Gesamtkunstwerk [… ] alle Einzelkünste in einem Antikunstwerk«. Das Ziel, »die Dignität der Wirklichkeit zu gewinnen«, bleibe indes erhalten. Als Beispiel führt Marquard die Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts an, aber auch »jene revolutionären Happenings, zu denen man zuweilen reist wie die Etablierten zu den Festspielen nach Bayreuth«. Gemeint sind u. a. »Umweltschutzdemonstrationen«, die man als »die Schäferspiele der spätbürgerlichen Welt« betrachten könne. Das »indirekte extreme Gesamtkunstwerk« sei dagegen kein genuines Kunstwerk, sondern ziele auf die performative Ästhetisierung »der Wirklichkeit selber«. Inszeniert werde jedoch nur ein »Teil« der Realität, der »Ausnahmezustand« – beispielsweise im Rahmen faschistischer oder kommunistischer Massenveranstaltungen. Das »indirekte nichtextreme Gesamtkunstwerk« basiere dagegen auf der ästhetischen Weltwahrnehmung Schellings, Schopenhauers und Nietzsches. Es versuche »die gesamte Wirklichkeit zu ästhetisieren, und zwar gerade die nichtextreme, also ihren Normalzustand«. Marquard denkt hier an die großen Handelsmessen und die »Ästhetik der Planung« des urbanen Raums.51

Wie die bibliographische Recherche zeigt, lassen sich auf der Grundlage solcher Definitionen nicht nur fast alle Formen medialer Interferenzen unter ›Gesamtkunstwerk‹ subsumieren, sondern auch zahlreiche Phänomene jenseits des ästhetischen Bereichs – u. a. Staat (Drittes Reich),52 Stadt (Wien),53 Vgl. Abschnitt V. des vorliegenden Aufsatzes. Marquard, »Gesamtkunstwerk und Identitätssystem«, 44. 50 Fornoff, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk, 16. 51 Marquard, »Gesamtkunstwerk und Identitätssystem«, 44 – 47. 52 Vgl. Jean Clair, »Das Dritte Reich als Gesamtkunstwerk des pervertierten Abendlandes«, in: Harald Szeemann (Hg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau / Frankfurt am Main 1983, 93 – 104. Siehe hierzu kritisch Norbert Hopster, »Das ›Dritte Reich‹. ›Gesamtkunstwerk‹ oder ästhetisch inszenierte ›Ganzheit‹?«, in: Hans Günther (Hg.), Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos, Bielefeld 1994, 241 – 258, hier 255. 53 Vgl. Werner Hofmann, »Gesamtkunstwerk Wien«, in: Harald Szeemann (Hg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau / Frankfurt am Main 1983, 84 – 92. 48 49

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Bauwerk (Berliner Mauer),54 Massenveranstaltung (Rockkonzert),55 PopIkone (Madonna).56 Der Terminus verliert damit erneut seine Operationalisierbarkeit und wird zur »beliebig verwendbaren Begriffshülse«.57 Die von Marquard geforderte »Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität« kann aber auch deshalb kein tragfähiges Definitionskriterium sein, weil selbst die Hoffnung auf eine Assimilation von Kunst und Leben die Existenz dieser ›Grenze‹ nicht nur voraussetzt, sondern fortschreibt. Zwar ist das »große Gesammtkunstwerk« bei Wagner »das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft« und soll die Wirklichkeit nachhaltig verändern, aber es bleibt Artefakt, denn es dient »der unbedingten, unmittelbaren Darstellung[!] der vollendeten menschlichen Natur«. Aufgehoben wird darüber hinaus nur die Autonomie der »Gattungen«,58 nicht die der Medien.59 Die Autoren der einschlägigen Handbuch- und Enzyklopädie-Artikel bieten in der Regel Definitionen, die stärker kunstbezogen und intermedial basiert sind,60 jedoch kaum tragfähigere Alternativen darstellen (was sich teilweise, allerdings nicht nur durch den Zwang zu lexikalischer Lakonie erklärt):

54 Vgl. Michael Nungesser, »Chaotisches Gesamtkunstwerk auf Zeit. ›Berliner Mauer‹ – ästhetischer Seismograph auf der Trennlinie politischer Systeme«, Bildende Kunst 6 (1990), 19 – 23. 55 Vgl. Helmut Rösing (Hg.), Spektakel, Happening, Performance: Rockmusik als »Gesamtkunstwerk«, Mainz 1993, Titel, passim. 56 Wolfgang Lange, »Gesamtkunstwerk Madonna«, in: Hans Günther (Hg.), Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos, Bielefeld 1994, 273 – 291. 57 Harald Szeemann, »Vorbereitungen«, in: H. Z. (Hg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau, Frankfurt am Main 1983, 16 – 19, hier 17. Der disperse Bandinhalt steht allerdings in eklatantem Widerspruch zu diesem kritischen Befund (vgl. Anm. 39, 46, 52 f.). 58 Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, 60 (kursive Hervorhebung von W. G. S.). 59 Vgl. Wolf Gerhard Schmidt, »Medienkonvergenz und Mediendisziplin. Gesamtkunstwerk-Projekte zwischen 1815 und 1848«, in: Stefan Keppler-Tasaki, W. G. S. (Hgg.), Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk. Literarische Intermedialität 1815 – 1848, Berlin / New York 2011. 60 Einschlägige Ausnahmen sind Alfred Robert Neumann (The Evolution of the Concept Gesamtkunstwerk), Dieter Borchmeyer (»Gesamtkunstwerk« [1994, 1995]), Wolfgang Storch (»Gesamtkunstwerk«) und Guido Hiß (Synthetische Visionen), die allesamt auf eine grundlegende Begriffsbestimmung verzichten.

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N.N. (Meyers Handbuch über die Musik [1971]) Das »Gesamtkunstwerk« bezeichnet die »erstrebte Formeinheit von dramatischer Dichtung, Musik, Bildkunst und Bewegungskünsten (Schauspiel, Tanz) in der Barockoper, in Wagners Musikdramen, auch bei Schönberg u. a.«.61 N.N. (Der Musik-Brockhaus [1982]) Das »Gesamtkunstwerk« bezeichnet »die Vereinigung aller Künste (Dichtung, Musik, bildende Kunst, Schauspielkunst, Tanz) in einem einheitlichen Ganzen. Die Festspiele der Barockzeit kamen dem Gedanken Gesamtkunstwerk nahe. Richard Wagner suchte in seinen Musikdramen Gesamtkunstwerke zu schaffen und befaßte sich auch theoretisch mit dem Gesamtkunstwerk«.62 John Warrack (The New Oxford Companion to Music [1983]) »The Gesamtkunstwerk ideal, one only partially realizable in different practical forms by different composers, essentially concerns not reinterpretation of ideas in different arts, but the co-operation of the arts in a single expressive aim.«63 Barry Millington (The New Grove Dictionary of Opera [1992]) »Gesamtkunstwerk« is a »term used by Wagner for his notion [… ] of an art form that combined various media within the framework of a drama. Harking back to ancient Greek drama, he suggested that there the basic elements of dance, music and poetry had been ideally combined.«64 Helmut Schanze (Historisches Wörterbuch der Rhetorik [1996]) »›Gesamtkunstwerk‹ bezeichnet die Idee eines gleichberechtigten Zusammenwirkens aller Künste bzw. das Zusammenspiel verschiedener Ausdrucksformen und die Kombination oder Aufhebung mehrerer Künste in einem einheitlichen Werk um der gesteigerten Wirkung willen. Das Konzept findet seine Verwirklichung vor allem in den darstellenden Medien. Synästhesie, Verbindung von optischen, klanglichen und sprachlichen Ausdrucksformen verschaffen dem alle Sinne ansprechenden Theater, dem Multi-Media-Ereignis wie auch dem digitalen Hypermedium eine eigene, auf elementare Wirkmittel gegründete rhetorische Funktionalität. Die Definition des Begriffes eines ›Gesamtkunstwerkes‹ hat aber auch eine utopisch-politische Dimension zu beachten. Hierin, und nicht nur in der Bestimmung der Zusammenführung aller Künste zu einem einzigen Werk, hat der Begriff seine spezifisch rhetorische Bedeutung.«65 61 N.N., »Gesamtkunstwerk«, in: Heinrich Lindlar, Meyers Handbuch über die Musik, 4., verbesserte Auflage, Mannheim / Wien / Zürich 1971, 107. 62 N.N., »Gesamtkunstwerk«, in: Der Musik-Brockhaus, Wiesbaden 1982, 209 (Abkürzungen wurden ausgeschrieben). 63 John Warrack, »Gesamtkunstwerk«, in: Arnold Denis (Hg.), The New Oxford Companion to Music, Bd. 1, Oxford / New York 1983, 759. 64 Barry Millington, »Gesamtkunstwerk«, in: Stanley Sadie (Hg.), The New Grove Dictionary of Opera, Bd. 2, London 1992, 397. 65 Schanze, »Gesamtkunstwerk«, 815 (Abkürzungen wurden ausgeschrieben).

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Jürgen Söring (Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [1997]) »Das Gesamtkunstwerk beruht auf dem – die Autonomie der Einzelkünste widerrufenden – Prinzip der intermedialen Grenzüberschreitung und intendiert eine Reintegration der Darstellungsmittel von Dichtung, Musik, Schauspiel-, Tanzund bildender Kunst zu einer komplexen Ganzheit. Deren Gelingen hängt sowohl vom Grad der Selbstbewahrung ihrer (Teil)Momente als auch von deren ›Hingebung an das Gemeinsame‹ ab (Wagner [ …]). Damit kann in letzter Konsequenz eine ›Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität‹ (Marquard [ …]) als Übergang der Kunst ins Leben verbunden sein.«66 Wolfgang Storch (Ästhetische Grundbegriffe [2001]) »[D]as Wort Gesamtkunstwerk [formuliert] die Aufgabe, mit den Mitteln der Kunst für eine Regeneration der Gesellschaft zu arbeiten. [ …] Gesamtkunstwerk will daher nicht als Bezeichnung, sondern aus der Intention nach einer Umgestaltung der Gesellschaft verstanden sein, um derentwillen die Künste zusammengeführt werden. [ …] Der Grundgedanke des Gesamtkunstwerkes ist Transformation, das heißt Übersetzung und Umwandlung.«67

Die zitierten Beispiele belegen nachdrücklich, dass der Begriff ›Gesamtkunstwerk‹ seit Mitte des 20. Jahrhunderts keine »prinzipiell unkanonische[ ] Kategorie«68 mehr darstellt. Die Frage, in welcher Weise die beteiligten Künste konvergieren (monomediale Integration, Medienkombination und / oder multimediale Präsentation), ist in den zitierten Begriffsbestimmungen jedoch ebensowenig geklärt wie das Verhältnis von Theorie, Praxis und außerästhetischer Stoßrichtung. Darüber hinaus widerruft das »Prinzip der intermedialen Grenzüberschreitung« nicht notwendig die »Autonomie der Einzelkünste« (Söring), i.e. ihre mediale Eigengesetzlichkeit – weder bei Hoffmann, Weber und Beethoven noch bei Goethe oder Wagner. Die Geschichte des Gesamtkunstwerks im 19. Jahrhundert ist vielmehr eine produktiver Wechselbeziehung von Medienkonvergenz und Mediendisziplin, wobei letztere sogar die Voraussetzung dafür darstellt, dass die einzelnen Künste in produktive Interferenz treten können. Denn die strukturelle Assimilation der ›dienenden‹ Musik in der Oper zählt zu den Hauptkritikpunkten im Intermedialitätsdiskurs der Zeit.69 Vor diesem Hintergrund ist das »Gelingen« der »Ganzheit« des Gesamtkunstwerks, so man diesen Aspekt überhaupt als relevant ansieht (s. o.), durch den »Grad der Selbstbewahrung ihrer (Teil-)Momente« (Söring) nicht beeinträchtigt. Zudem Söring, »Gesamtkunstwerk«, 710. Storch, »Gesamtkunstwerk«, 731. 68 Ernst Bloch, Geist der Utopie. Bearbeitete Neuauflage der zweiten Fassung von 1923, Frankfurt am Main 1975, 100. 69 Vgl. Schmidt, »Medienkonvergenz und Mediendisziplin«. 66 67

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müssen die Einzelmedien keineswegs »gleichberechtigt[]« sein (Schanze), d. h. die Persistenz von Medienhierarchien widerspricht Theorie und Praxis des Gesamtkunstwerks nicht. Wagner selbst konstatiert 1857 in dem Brief Über Franz Liszt’s Symphonische Dichtungen: Hören Sie meinen Glauben: die Musik kann nie und in keiner Verbindung, die sie eingeht, aufhören die höchste, die erlösendste Kunst zu sein. Es ist dieß ihr Wesen, daß, was alle anderen Künste nur andeuten, durch sie und in ihr zur unbezweifeltsten Gewißheit, zur allerunmittelbarst bestimmenden Wahrheit wird.70

Ähnliche Prioritätsbildungen zugunsten der Musik finden sich u. a. bei Wackenroder,71 Tieck,72 Hoffmann,73 Weber,74 Solger75 und dem späten Goethe.76 In der einschlägigen Forschung ist diese Tatsache nur unzureichend reflektiert, woraus sich nicht zuletzt die Definitionsdefizite erklären. Eine Ausnahme bildet Detlef Kremer, der »zwei Begriffe des Gesamtkunstwerks« unterscheidet: »einen additiven, der sich als Summe einzelner Kunstgattungen versteht, und einen totalisierenden, der eine Hierarchie der Gattungen behauptet«.77 Leider belässt es der Autor bei dieser These und verzichtet auf eine nähere Bestimmung beider Termini. IV. Conditio sine qua non wissenschaftlich sinnvoller Begriffsverwendung ist jedoch eine konzise, operationalisierbare, gleichzeitig aber zureichend flexible Definition, die das Phänomen ›Gesamtkunstwerk‹ im Ausgang von seiner (medien)ästhetischen Faktur bestimmt. Diesem Anspruch sucht sich Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 5, 191. Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe, hg. Silvio Vietta, Richard Littlejohns, Bd. 1, Heidelberg 1991, 207 f. (Phantasien über die Kunst: Die Wunder der Tonkunst [1799]). 72 Vgl. ibid., 241 (Phantasien über die Kunst: Symphonien [1799]). 73 Vgl. E.T. A. Hoffmann, Die Serapions-Brüder, Darmstadt 51995, 409 ([Alte und neue Kirchenmusik] [1814]). 74 Vgl. Weber, »Ueber die Oper, Undine«, 203. 75 Vgl. Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst, Berlin 1815, Bd. 2, 136. 76 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. Karl Richter, Bd. 20.3, München 1998, 833 (nicht abgesandte, aber für den Druck der Korrespondenz eingeplante Fortsetzung des Briefs vom 21. Juni 1827 an Carl Friedrich Zelter). 77 Detlef Kremer, »Ästhetische Konzepte der ›Mythopoetik‹ um 1800«, in: Hans Günther (Hg.), Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos, Bielefeld 1994, 11 – 27, hier 11. 70 71

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Till R. Kuhnle zu nähern, wenn er – im Rekurs auf Marquard – erstmals Art und Form der intermedialen Konvergenz spezifiziert: Unter Gesamtkunstwerk wollen wir ein ästhetisches Gebilde verstehen, das die Mittel akustischer, bildender und darstellender Künste dergestalt zu einem einheitlichen Ganzen vereint, daß weder die Einzelkünste die Möglichkeit zur Entfaltung einer dialektischen Beziehung von Form und Inhalt erhalten, die mit dem isolierten Gebilde einer Gattung gegeben wäre, noch aber die Antithetik der in ihm enthaltenen Kunstmaterialien produktiv eingesetzt wird. Die im Gesamtkunstwerk vereinten Künste werden einzig auf einen bestimmten Effekt hin ausgerichtet [… ]. Der Effekt kann sich auf die Erzeugung der Illusion von Totalität in der rauschhaften Vereiningung [sic!] der Künste beschränken – so das Wagnersche Musikdrama – oder aber in den Dienst eines primär außerästhetischen Zwecks gestellt werden – so in den propagandistischen Inszenierungen totalitärer Provenienz.78

Stringent sind diese Ausführungen nicht. Abgesehen davon, dass Kuhnle (wie Marquard) den politisch-gesellschaftlichen Bereich einbezieht und zudem mitunter postmarxistisch agiert,79 krankt auch seine Begriffsbestimmung an argumentativer Simplifikation. Einerseits werden erneut die Phänomene ›Gattung‹ und ›Medium‹ gleichgesetzt, andererseits die Form-Inhalt-Relation nur linear gedacht. Ergebnis ist die These, das Gesamtkunstwerk sei künstlerisch unkomplex, weil es »die Möglichkeit zur Entfaltung einer dialektischen Beziehung von Form und Inhalt« ausschließe. Dies trifft jedoch für keines der oben genannten Praxisprojekte zu – am wenigsten für Goethes Faust II. Aber selbst Wagners Musikdramen sind, wie bereits Carl Dahlhaus betont, keineswegs undialektisch konzipiert. Dem Hörer stehen nämlich immer »zwei Möglichkeiten« der Rezeption offen: die reflektierte, »sentimentalische« mit dem Autor oder die unmittelbare, »naive« mit den handelnden Personen. [ …] Die »Orchestermelodie« distanziert, sofern sie als »Beziehungszauber« und nicht als »Schwall« wahrgenommen wird, den Hörer von der musikalisch-szenischen Unmittelbarkeit; sie ist Kommentar, ohne daß sie andererseits aufhört, Affektausdruck zu sein.80

Ähnliche Interferenzbeziehungen lassen sich für Hoffmann, Weber und Beethoven nachweisen.81 Der bis dato umfangreichste Definitionsversuch des Terminus ›Gesamtkunstwerk‹ entstammt der wenig rezipierten82 Doktorarbeit von Roger Kuhnle, »Anmerkungen zum Begriff Gesamtkunstwerk«, 43 f. Vgl. ibid., 45: »Das Musikdrama drängt über den Festspielort hinaus und bildet einen Höhepunkt jenes Fetischismus, der den Hochkapitalismus charakterisiert (Marx, MEW 23, S. 86 ff.)«. 80 Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, 22. 81 Vgl. Schmidt, »Medienkonvergenz und Mediendisziplin«. 78 79

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Fornoff, der sich ebenfalls gegen die »semantische Entleerung« des Begriffs wendet und vorschlägt, ihn »im Sinne seines Urhebers Richard Wagner zu gebrauchen«.83 Nun kann aber dessen Konzept schon deshalb nicht (allein) definitionsbildend sein, weil Begriff und Phänomen ›Gesamtkunstwerk‹ bereits vor Wagner existieren. (Karl Friedrich Eusebius Trahndorffs Wortprägung von 1827 scheint Fornoff unbekannt zu sein.84) Darüber hinaus verwendet Wagner selbst den Terminus so selten und unsystematisch, dass er im Register der Sämtlichen Schriften und Dichtungen (Leipzig 1911) nicht einmal aufgeführt ist. Hinzu kommt die semantische Ambivalenz: Wie Udo Bermbach mit Recht konstatiert, muss bei Wagner zwischen zwei »Implikationen« des Begriffs unterschieden werden: einer »inhaltliche[n]«, die sich »auf die Synthetisierung der bislang getrennten Einzelkünste« bezieht, und einer »formale[n]«, mit der »die konstitutiven Rahmenbedingungen für das Ereignis selbst« gemeint sind.85 Des Weiteren besitzt das Gesamtkunstwerk eine gesellschaftsutopische Dimension, die Wagner allerdings nicht konsequent weiterverfolgt bzw. im (theoretischen) Spätwerk kunstreligiös umdeutet.86 Eine exakte Definition im »Sinne seines [vermeintlichen] Urhebers« ist demnach unmöglich, zumal Wagner den Begriff nicht auf das eigene Werk appliziert wissen möchte.87 Die ausführlichen Überlegungen, die Fornoff in der Einleitung seiner Monographie anstellt, konterkarieren indes den engen Wagner-Bezug und stellen die Begriffsdiskussion auf ein bisher nicht erreichtes Argumentationsniveau. Als »heuristische Analysekategorien« dienen die folgenden vier Strukturmerkmale des Phänomens ›Gesamtkunstwerk‹:

82 Über die einschlägigen literatur- und musikwissenschaftlichen Fachbibliographien ist keine einzige Rezension nachweisbar. Anke Finger (Das Gesamtkunstwerk der Moderne) führt die Arbeit zwar im Literaturverzeichnis auf, ignoriert jedoch Fornoffs Thesen, insbesondere den Versuch einer fundierten Begriffsbestimmung. 83 Fornoff, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk, 18. 84 Karl Friedrich Eusebius Trahndorff, Aesthetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst, Bd. 2, Berlin 1827, 312. Vgl. Alfred Robert Neumann, »The Earliest Use of the Term Gesamtkunstwerk«, Philological Quarterly 35 (1956), 191 – 193. 85 Udo Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politischästhetische Utopie, Frankfurt am Main 1994, 226. 86 Vgl. Anm. 124. 87 Am 16. August 1853 schreibt er an Franz Liszt: »Brendel und seine Genossen und Gegner haben meine Schriften noch gar nicht einmal so gelesen, wie sie gelesen werden müssen um verstanden zu werden. Es wäre sonst ganz unmöglich, daß als Frucht von all meinen Darstellungen endlich diese unglückliche ›Sonderkunst‹ und ›Gesammtkunst‹ herausgekommen wäre (Wagner, Sämtliche Briefe, hg. Gertrud Strobel u. a., Bd. 5, Wiesbaden / Leipzig 1993, 401).

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1. das konkrete inter- oder multimediale, also unterschiedliche Künste oder ästhetisch-mediale Elemente vereinende bzw. neu legierende Kunstwerk. Dieses steht nicht nur für sich selbst, sondern weist über sich hinaus auf einen umfassenden Welt- und Geschichtsentwurf. Indem es sich auf eine solche immer auch utopisch ausgerichtete Konzeption bezieht, figuriert es zugleich als Antizipation eines von der jeweiligen Meta-Erzählung avisierten Neuen und nimmt damit unter den Bedingungen des Alten dieses Neue zumindest in Ansätzen vorweg. In Sonderfällen kann ein Gesamtkunst-Artefakt daher auch monomedialen Charakter haben; es bildet dann die Vorstufe einer gedanklich zwar entworfenen, künstlerisch jedoch noch nicht realisierten oder realisierbaren Inter- oder Multimedialität. 2. eine Theorie oder zumindest eine bestimmte Vorstellung von der idealen Vereinigung der Künste bzw. die Intention einer Umschmelzung der bestehenden Künste und Gattungen zu neuen intermedialen Kodierungen. 3. eine geschlossene und festgefügte Weltanschauung bzw. ein in unterschiedlicher Weise, etwa gesellschaftstheoretisch, geschichtsphilosophisch oder metaphysisch-religiös akzentuiertes Bild vom Ganzen und damit verbunden eine durch die jeweiligen weltanschaulichen Prämissen gespeiste zumeist radikale Kulturund Sozialkritik. Nicht selten gehört zu einer solchen Meta-Erzählung eine totalisierende Betrachtung der Kunstgeschichte, wobei dieser dann eine teleologische Entwicklung unterstellt wird, deren Endpunkt der eigene Kunstentwurf bildet. 4. eine in unterschiedlichem Maße konkretisierte ästhetisch-soziale oder ästhetisch-religiöse Utopie. Ihr liegt das Bestreben zugrunde, den als defizitär erkannten Welt- oder Gesellschaftszustand durch die Kraft der Kunst zu überwinden und einen neuen weltanschaulich-sozialen oder mystisch-religiös bestimmten Einheitszusammenhang zu generieren bzw. Welt und Gesellschaft dem eigenen Ganzheitsentwurf folgend zu einem Kunstwerk umzugestalten. Anzumerken ist hierbei, daß eine Gesamtkunst-Utopie, auch wenn politische, soziale oder religiöse Elemente eine wesentliche Rolle spielen, immer explizit ästhetisch bleibt.88

Obwohl Fornoff sehr differenziert urteilt und die vier Strukturmerkmale grundsätzlich konsensfähig sind, werden auch bei ihm einige der oben genannten medienästhetischen Fragestellungen nicht beantwortet. Dies liegt vor allem daran, dass die Artefakt-Komponente (Punkt 1) ungenau bleibt und sich somit selbst dem Vorwurf der »Überdehnung des Gesamtkunstwerk-Begriffs«89 aussetzt. Da Fornoff Art und Qualität der medialen Interferenzen kaum spezifiziert und monomediale »Vorstufe[n]« einbezieht, ließe sich auf der Grundlage seiner Begriffsbestimmung nicht nur Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen als »Gesamtkunstwerk« bezeichnen (wie 88 89

Fornoff, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk, 20 f. Ibid., 16.

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dies Alfred Robert Neumann vorschlägt),90 sondern jedes »wahre[ ] Kunstwerk im romantischen Sinn« (wie Peter Rummenhöller postuliert).91

V. Begreift man jedoch unter ›Gesamtkunstwerk‹ das aus Theorie bzw. »Vorstellung« (Fornoff) abgeleitete und konkret realisierte Praxisprojekt, wie es nach 1815 erstmals bei Hoffmann, Weber und Beethoven begegnet, so ist für den Begriff folgender Aspekt konstitutiv: die umfassende Medienkombination, d. h. eine auf theatrale Realisation angelegte Verbindung der Kunstformen Dichtung, Musik, Bild und Tanz, die »sämtlich im entstehenden Produkt materiell präsent« sein müssen.92 Zwar findet sich auch der Versuch einer monomedialen »Vereinigung der Künste in jeder einzelnen Kunstgattung«,93 aber in diesem Fall sollte nicht von ›Gesamtkunstwerk‹ gesprochen werden, wie der zeitgeschichtliche Diskurs nachdrücklich belegt. Denn der von mir vorgeschlagene Definitionsnukleus ist Ausdruck dessen, was – in der Tradition der antiken μουνιϰή (musiké) und der Florentiner Camerata – während des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts unter einer ganzheitlichen, ästhetisch elaborierten Synthese der Einzelkünste verstanden wird. So projektiert Novalis 1798 in seinen Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen eine »[v]ollkommene Oper« als »freye Vereinigung aller« Künste und »höchste Stufe des Dramas«: »Rede – Gesang – Recitativ – oder besser Recitativ (Epos), Gesang (Lyra), ächte Declamation (Drama)«.94 Joseph Görres sieht im ›Musikdrama‹ gleichfalls die adäquate Gattung für die Realisierung eines Universalkunstwerks. In den 1802 veröffentlichten Aphorismen über die Kunst entwirft er das »höhere Schauspiel«,95 eine Konvergenzform aus Tragödie und Komödie, die am Urbild des Schönen orientiert ist und »Poesie«, »Musik«, »Gesang«, »Bildende[ ] Kunst«, »Tanz«, »Gebärde«, »Mimik« vereint.96 Bei Herder und Schelling finden sich die genannten Definitionselemente ebenso – in deutlicher Vorwegnahme der Zielsetzungen Richard Wagners. Für die Zukunft erhofft sich 90 91 92 93

130.

Neumann, The Evolution of the Concept Gesamtkunstwerk, 168. Rummenhöller, »Romantik und Gesamtkunstwerk«, 163. Rajewsky, Intermedialität, 19. Vgl. hierzu Anm. 118. Vgl. Kwon, Studie zur Idee des Gesamtkunstwerks in der Frühromantik, 121 –

94 Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. HansJoachim Mähl, Richard Samuel, Darmstadt 1999, 379. 95 Joseph von Görres, Aphorismen über die Kunst, Koblenz 1802, 171. 96 Ibid., 142, 144 f.

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Herder 1802 nämlich einen »Mann«, der Gluck »voreifert«, d. h. »die ganze Bude des zerschnittenen und zerfetzten Opern-Klingklangs« umwirft und »ein Odeum aufrichte[t], ein zusammenhangend lyrisches Gebäude, in welchem Poesie, Musik, Action, Decoration Eins sind«.97 Auch Schelling fordert im Schlussabschnitt seiner Philosophie der Kunst (1802 / 03) die »vollkommenste Zusammensetzung aller Künste, die Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie und Malerei durch Tanz«, die selbst wieder synthetisirt die componirteste Theatererscheinung ist, dergleichen das Drama des Alterthums war, wovon uns nur eine Karrikatur, die Oper, geblieben ist, die in höherem und edlerem Styl von Seiten der Poesie sowohl als der übrigen concurrirenden Künste uns am ehesten zur Aufführung des alten mit Musik und Gesang verbundenen Dramas zurückführen könnte.98

(Nicht zufällig thematisiert Schelling die konkrete Realisation eines Gesamtkunstwerks erst, als ihm das eigene Identitätssystem problematisch erscheint.99) Die epochenübergreifende Virulenz der skizzierten Kernvorstellung wird zudem durch die Tatsache belegt, dass selbst Schiller 1803 in der Vorrede zur Braut von Messina erklärt, das »tragische Dichterwerk« werde »erst durch die theatralische Vorstellung zu einem Ganzen«. Denn »nur die Worte gibt der Dichter, Musik und Tanz müssen hinzukommen, sie zu beleben«.100 Im gleichen Jahr plant Philipp Otto Runge »eine abstracte mahlerische phantastisch-musikalische Dichtung mit Chören, eine Composition für alle drey Künste zusammen, wofür die Baukunst ein ganz eignes Gebäude aufführen – sollte«.101 Ähnliche Ideen zum integralen ›Musikdrama‹ 97 Herders Sämmtliche Werke, hg. Bernhard Suphan, Bd. 23, Berlin 1885, 336 (Früchte aus den sogenannt-goldnen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts, 9. Tanz und Melodrama). Eine ähnliche Zukunftshoffnung äußert der Dramatiker Heinrich Joseph von Collin, der wie Herder nur bedingt am frühromantischen Diskurs partizipiert, in seinem Traktat Über das gesungene Drama (1803). Die Oper könne das Schauspiel ersetzen, wenn sie grundlegend reformiert und der Sänger zum wirklichen Akteur werde. »Dann«, so Collin, »kommt – vielleicht in einem Jahrhunderte, die schöne Zeit, wo Schauspiel und Oper sich in eines verschmelzen, und das Griechische Theater in seinem vollen Olympischen Glanze unter uns erscheinen wird« (Sämtliche Werke, hg. Matthäus von Collin, Bd. 5, Wien 1813, 86). 98 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 5, Stuttgart / Augsburg 1859, 736. 99 Vgl. Marquard, »Gesamtkunstwerk und Identitätssystem«, 44. 100 Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hg. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert, Bd. 2, München 1981, 815. 101 Philipp Otto Runge, Schriften, Fragmente, Briefe, hg. Ernst Forsthoff, Berlin 1938, 484 [Brief an seinen Bruder Daniel vom 22. Februar]). Als Komponist war Ludwig Berger vorgesehen.

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begegnen in August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1807 / 08): Das Theater, wo der Zauber mehrerer Künste vereinigt wirken kann; wo die erhabenste und tiefsinnigste Poesie zuweilen die gebildetste Schauspielkunst zur Dolmetscherin hat, die Schauspielkunst, welche zugleich Beredsamkeit und bewegliches Gemälde ist; während die Architektur eine glänzende Einfassung und die Malerei ihre perspektivischen Täuschungen herleiht, und auch die Musik zu Hilfe gerufen wird, um die Gemüter zu stimmen, oder die schon ergriffenen durch ihre Anklänge noch mächtiger zu treffen [ …]: das Theater, sage ich, hat einen außerordentlichen Reiz für alle Alter, Geschlechter und Stände und war immer die Lieblingsergötzung geistreicher Völker.102

Auch E. T. A. Hoffmann lobt 1809 mit Blick auf die Aufführung seines Prologs Die Pilgerin den künstlerischen »Totaleffekt«103: Mir schien es als ob dadurch sich das Ganze, Theater und Publikum, auf eine höchst vortreffliche Weise zu einer Aktion verband und so das fatale Verhältniß zwischen darstellen und zusehen ganz aufgehoben wurde.104

Und sechs Jahre später betont er in den Kreisleriana, »daß die Oper in Wort, Handlung und Musik als Ganzes erscheinen müsse«.105 Eine noch avanciertere Position vertritt Carl Maria von Weber im fünften Kapitel seines Romans Tonkünstlers Leben (1809 – 1821). Ihr zufolge muss das neue ›Musikdrama‹ zu »einem in sich abgeschlossenen Kunstwerke« werden, »wo alle Teile und Beiträge der verwandten und benutzten Künste ineinanderschmelzend verschwinden und auf gewisse Weise untergehend eine neue Welt bilden«.106 Dieselbe intermediale Kontur besitzt das Gesamtkunstwerk in Solgers Erwin (1815) und Schleiermachers Vorlesungen über die Ästhetik (1818), denn beide Autoren fordern – wenngleich unter dem Banner der Religion – ebenfalls »die vollständigste Verbindung der Künste«107 und bestätigen damit den postulierten Begriffsnukleus: die theatral ausgerichtete Kombination sämtlicher Medien. Folgerichtig denkt Solger an ein 102 August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hg. Edgar Lohner, Bd. 5, Stuttgart 1966, 38 f. 103 Hoffmann, Die Serapions-Brüder, 88 (Der Dichter und der Komponist [1813]). 104 E. T. A. Hoffmanns Briefwechsel, hg. Friedrich Schnapp, Bd. 1, München 1967, 257 (Brief an Eduard Hitzig vom 1. Januar). 105 E. T. A. Hoffmann, Fantasie- und Nachtstücke, Darmstadt 61996, 315. 106 Weber, Kunstansichten, 51. Vgl. die oben zitierte Passage aus Webers Hoffmann-Rezension (»Ueber die Oper, Undine«, 202). Ähnlich sieht es der mit Weber befreundete Komponist und Musikschriftsteller Ignaz von Mosel (vgl. Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes [Wien 1813], hg. Eugen Schmitz, München 1910, 21). 107 Solger, Erwin, Bd. 2, 144.

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neues, »ganz eigenes Drama, welches auch als Poesie ganz anderen Gesetzen [ …] unterworfen ist, und zwar weit mehr musikalischen als poetischen«. Denn die Musik erweist sich als »diejenige Kunst, welche am meisten geeignet ist, die verschiedenen Künste zur gemeinsamen Wirkung zu verbinden, und sie gleichsam in ein gemeinschaftliches Element aufzulösen«.108 Für Schleiermacher stellt die »Vereinigung aller Künste zu einer gemeinschaftlichen Leistung« ebenfalls das »Höchste« dar; nur so könne »die Kunst in ihrer Vollkommenheit als Gesammtbewußtsein« entstehen.109 Die zitierten Passagen machen deutlich, dass die Vorstellungen vom ›Gesamtkunstwerk‹ vor und nach 1800 keineswegs dispers sind.110 Dies belegt nicht zuletzt Karl Friedrich Eusebius Trahndorff, der den Terminus 1827 in seiner Aesthetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst zum ersten Mal verwendet. Auch für ihn tragen nämlich die vier Künste, die [ …] des Wortklanges, die Musik, die Mimik und Tanzkunst die Möglichkeit in sich [ …] zu einer Darstellung zusammen zu fließen. Diese Möglichkeit gründet sich aber auf ein in dem gesamten Kunstgebiete liegendes Streben zu einem Gesamt-Kunstwerke von Seiten aller Künste, ein Streben das in dem ganzen Kunstgebiete ursprünglich ist, sobald wir die Einheit seines innern Lebens erkennen.111

Wie Schleiermacher verbindet Trahndorff mit dem Gesamtkunstwerk einen panoramatischen Impetus, der letztlich auf »das Erfassen der Form des Universums« abzielt.112 D. h. die Künste sollen im Rahmen ihres Vereini108 109

Ibid., 136. Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 7, Berlin 1842, 167,

170. 110 Zu den wenigen Ausnahmen zählen Friedrich Schlegel und Wackenroder / Tieck, deren Interart-Vorstellungen nicht auf opernähnliche Medienkombinationen zielen. Wenn Schlegel im 116. Athenäums-Fragment fordert, »alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen« (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. Ernst Behler u. a., Bd. 2, Paderborn 1967, 182), dann meint er damit primär die Tatsache, dass »[i]n den Werken der größten Dichter [… ] nicht selten der Geist einer andern Kunst« atmet (ibid., 233 [Fragment Nr. 372]). Gleiches gilt für Wackenroder / Tieck (siehe u. a. Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, Heidelberg 1991, 78 [Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797)] und Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen [1798]. Studienausgabe, hg. Alfred Anger, Stuttgart 1994, 281). 111 Trahndorff, Aesthetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst, Bd. 2, 312. Wenige Seiten später erscheint der Neologismus ›Gesamtkunstwerk‹ erneut – diesmal ohne Bindestrich (vgl. ibid., 318). 112 Ibid., 320. Vgl. auch ibid., Bd. 1, Berlin 1827, 3: »Der Grundbegriff alles dessen, was unter den bekannten Namen Aesthetik gehört, ist das Erfassen der Welt, aber bloß für das Erfassen, also rein für sich«.

Was ist ein ›Gesamtkunstwerk‹?

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gungsprozesses ein umfassendes Abbild der kosmischen Welt- und Lebensbezüge bieten, ein ästhetisch evoziertes ›Gesammtbewußtsein‹. Eben hierauf zielt – zunächst in säkularisierter Form – auch Wagner, wenn er die »drei urgeborenen Schwestern« Tanz-, Ton- und Dichtkunst »in ihrem ursprünglichen Vereine«113 wiederherstellen möchte und mit ihnen den »Gemeingeist«, der nach Auflösung des athenischen Staates »in tausend egoistische Richtungen zersplitterte«.114 Wenngleich die Bezeichnung ›Gesamtkunstwerk‹ von Wagner »nie als dezidierter Terminus«115 verwendet wird, weist seine Begriffsbestimmung eindeutig auf die dargestellte Traditionslinie. Auch für ihn vollzieht sich die geforderte Synthese innerhalb einer Medienkombination, die sämtliche Kunstformen integriert und einen theatralen Rahmen erfordert. Das Modell der Personalunion von Dichter und Komponist ist hiermit – wie bei Hoffmann116 – nicht zwingend verbunden: Das große Gesammtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesammtkunstwerk erkennt er [der Geist] nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.117

VI. Im Unterschied zu Fornoffs erstem Strukturmerkmal sind die übrigen drei weniger stark zu modifizieren, bedürfen allerdings der Klärung und Ergänzung. Ich möchte daher den Begriff ›Gesamtkunstwerk‹ wie folgt neubestimmen, wobei die vorgeschlagene Definition weniger auf strenge Normativität zielt als auf wissenschaftliche Heuristik und Operationalisierbarkeit: 1. Artefakt-Komponente: Das Gesamtkunstwerk als konzipiertes und/oder realisiertes Praxisprojekt beruht auf der Medienkombination (s. o.) von Sprache, Musik, Bild und Tanz zu einer komplexen ästhetischen Faktur, die mit hohem Kunstanspruch verbunden und auf 113 Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, 67 (Das Kunstwerk der Zukunft [1850]). 114 Ibid., 12 (Die Kunst und die Revolution [1849]). 115 Borchmeyer, »Gesamtkunstwerk« (1995), 1284. 116 Vgl. Hoffmann, Die Serapions-Brüder, 80 f. (Der Dichter und der Komponist [1813]). 117 Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, 60 (Das Kunstwerk der Zukunft [1850]).

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theatrale Realisierbarkeit angelegt ist.118 Dabei wird die semantisch-strukturelle Autonomie der beteiligten Einzelmedien meist nicht widerrufen,119 sondern in eine formal- und wirkungsästhetisch fundierte Mediendiätetik überführt: Die als ›verwandt‹ betrachteten Kunstformen sollen in produktive ›Balance‹ treten, damit die jeweiligen Eigenschaften und Potentiale symbiotisch wirken können. Doch selbst wenn sämtliche Einzelmedien einem gemeinsamen Zweck verpflichtet sind, bedeutet dies nicht, dass sich die Konvergenz linear vollzieht. Fast immer stehen die Kunstformen – trotz Assimilationstendenz – in dialektischer Beziehung zueinander (Hoffmann, Beethoven, Wagner). Sie können sogar in ihrer spezifischen Materialität inszeniert und parodiert werden (Goethe), wenn dadurch umfassende Weltaneignung gewährleistet werden soll (vgl. Punkt 3). Des Weiteren setzt das Gesamtkunstwerk keine Gleichberechtigung der Einzelmedien voraus; bei nahezu allen Projekten lassen sich – in Theorie wie Praxis – Hierarchien konstatieren, die man jedoch mediendiätetisch auszugleichen bemüht ist. 2. Theorie-Komponente: Der unter Punkt 1 beschriebenen Kombination der Einzelmedien liegt eine Vorstellung ihrer möglichst adäquaten Synthese zugrunde. Diese ›Idee‹ kann explizit formuliert und/oder werkimmanent verwirklicht sein. Theorie und Praxis unterliegen dabei in der Regel einem Entwicklungsprozess, zudem lassen sich häufig Divergenzen zwischen beiden Bereichen feststellen. Nicht jedes Œuvre eines Künstlers, der Gesamtkunstwerk-Ambitionen verfolgt, besitzt notwendig Gesamtkunstwerk-Status.120 Gleichzeitig existieren Kunstproduktionen, denen die118 Die Frage, in welcher Form die einzelnen Kunstformen »materiell präsent« sein müssen (vgl. Anm. 92), ist graduell zu beantworten, und zwar mit Blick auf ästhetische wie zeithistorische Faktoren. So versteht Wagner in Oper und Drama (1852) unter dem ›Tanz‹ vor allem die »Tanzgebärde«, die sich zur »Gebärde überhaupt« entwickelt habe und »für ihre verständliche Kundgebung« der Orchesterbegleitung bedürfe (Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 4, 176). Beethovens 9. Symphonie enthält demzufolge durch das Scherzo (2. Satz) mehr unmittelbar ›Tänzerisches‹ als Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal. Ähnlich differenziert zu beurteilen sind die Aspekte ›Theatralität‹ und ›Bildlichkeit‹. Auch ein (szenisches) Oratorium oder eine Symphonie-Kantate können theatral ausgerichtet sein und damit – selbst ohne Bühnenbild – piktorale Dimensionen besitzen. Die (partielle) Zuschreibung des Begriffs ›Gesamtkunstwerk‹ muss in solchen Fällen stets am Einzelwerk diskutiert werden. 119 In der einschlägigen Forschung bleibt dieser Aspekt unberücksichtigt. Lediglich Carl Dahlhaus konstatiert in einem wenig rezipierten Diskussionsbeitrag: »Beim Gesamtkunstwerk muß man scharf trennen zwischen dem Ineinanderfließen auf der einen Seite und dem Aufeinanderangewiesensein von in sich streng bewahrten Gattungen und Formen auf der anderen Seite« (in: Walter Salmen [Hg.], Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhundert, Regensburg 1965, 167). 120 Dies gilt für die gesamte Frühromantik – auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Gesamtkunstwerk hier kein konkret entworfenes Praxisprojekt darstellt, sondern eine künstlerische Idee, die eng mit dem transzendentalpoetischen Modell verknüpft ist. Nach Ansicht von Michael Lingner »überschreiten« Runges Vorstellungen »die Möglichkeit dessen, was Künstler praktisch am Anfang des 19. Jahrhunderts überhaupt ins Werk zu setzen vermochten« (»Der Ursprung des

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ser Status zugeschrieben werden kann, ohne dass eine explizite Legitimierung im Kommentarbereich erfolgt (Beethoven, Goethe). 3. Narrativ-Komponente: Das Gesamtkunstwerk als Praxisprojekt ist eine Krisenerscheinung. Es entsteht gegen Ende der Kunstperiode als Reaktion auf fundamentale Sinndefizite, die den gesamten Lebensbereich erfassen: Philosophie (Universalismuskrise), Politik (Restauration), Sozialökonomie (Frühindustrialisierung), Existenz (Kriegserlebnis).121 Vor diesem Hintergrund besitzt das Gesamtkunstwerk einen kompensativen Impetus, d. h. die entsprechenden Projekte zielen nicht darauf ab, eine bestehende Weltordnung ästhetisch zu affirmieren.122 Ein neues mythisch-metaphysisches Totalitätsmodell muss mit ihnen allerdings ebensowenig verbunden sein wie ein teleologisches Geschichtsverständnis im Sinne einer revolutionären Gesellschaftsvision. Das Gesamtkunstwerk als Praxisprojekt kann durchaus die Inkommensurabilität lebensweltlicher Zusammenhänge exponieren und / oder die Diskrepanz von Idee und Wirklichkeit (Hoffmann / Fouqué: Undine, Goethe: Faust II, Wagner: Lohengrin). Das gemeinsame Anliegen besteht lediglich darin, die Defizite und Grenzen der Einzelkünste intermedial aufzufangen, um ein Maximum verfügbarer Wirklichkeit (Leben, Natur, Transzendenz etc.) künstlerisch zu erschließen und theatral rezipierbar zu machen. Die Hoffnung, dass sich diese Perspektivenerweiterung produktiv auf das menschliche Zusammenleben und die Kulturentwicklung auswirken kann, eignet allen Gesamtkunstwerk-Projekten. Art und Inhalt der Welterklärungsmodelle unterscheiden sich mitunter jedoch stark. 4. Utopie-Komponente: Der mit dem Gesamtkunstwerk als Krisenerscheinung verbundene Utopieentwurf kann gesellschaftlich und / oder transzendent ausgerichtet sein. Auf seiner Basis werden zeithistorische Negativtendenzen dargestellt und Optimierungsmöglichkeiten angedacht. Der gesamtkulturellen Dissoziation soll dabei durch umfassende Medienkonvergenz Rechnung getragen bzw. entgegengewirkt werden. Die deutlich akzentuierte Sozialkritik führt jedoch nicht zwingend zu Zukunftsvorstellungen von undialektischer Totalität und strikter Teleologie. Im Gesamtkunstwerk ist die Erweiterung der Wahrnehmungsperspektive von größerer Bedeutung als die Gesamtkunstwerkes aus der Unmöglichkeit ›Absoluter Kunst‹. Zur rezeptionsästhetischen Typologisierung von Philipp Otto Runges Universalkunstwerk und Richard Wagners Totalkunstwerk«, in: Harald Szeemann [Hg.]: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Aarau / Frankfurt am Main 1983, 52 – 69, hier 58). 121 Nicht von ungefähr beginnt Hoffmanns programmatische Erzählung Der Dichter und der Komponist (1813) mit einer Schlachtevokation: »Der Feind war vor den Toren, das Geschütz donnerte ringsumher, und feuersprühende Granaten durchschnitten zischend die Luft« (Die Serapions-Brüder, 76). 122 Das Barocktheater oder Glucks Reformoper erfüllen die Begriffsdefinition aus diesem Grund nicht (vgl. hierzu auch Prignitz, Bock, »Kritische Bemerkungen zum Begriff des ›Gesamtkunstwerks‹«, 278 und Bernd Euler-Rolle, »Kritisches zum Begriff des Gesamtkunstwerks in Theorie und Praxis«, Kunsthistorisches Jahrbuch Graz 25 [1993], 365 – 374).

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revolutionäre Stoßrichtung.123 Eine Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit erfolgt nicht; die Utopie bleibt ästhetisch grundiert und zielt allenfalls auf eine Annäherung beider Bereiche. Gleichzeitig persistiert selbst bei gesellschaftsvisionären Projekten das Bewusstsein, dass es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, die künstlerische Utopie in konkrete Realitätsveränderung zu überführen (Beethoven, Wagner).124 Fehlt der sozialrevolutionäre Bezugspunkt, wird die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit sogar nachdrücklich bestätigt. Denn das Trennen beider Bereiche ist conditio sine qua non der ästhetischen Darstellung ihrer Interferenzen (Hoffmann, Weber). Mitunter wird die Inkommensurablität von Realität und Utopie sogar auf die Formstruktur der Medienkombination übertragen. Statt das Diskrepanzverhältnis ›bruchlos‹ zu versöhnen, ist es präsent gehalten – durch die Verbindung von Medienkonvergenz und Reihentechnik, Symbiose und Parodie der Künste (Goethe).

Die hier vorgeschlagene Begriffsbestimmung soll eine Grundlage dafür bieten, konzipierte und /oder realisierte Gesamtkunstwerk-Projekte erkennen, beschreiben und intentional einordnen zu können. Durch die medienhistorische Fundierung wirkt sie der beschriebenen »Diffusion«125 des Terminus entgegen, ohne zugleich ein bestimmtes Modell zu privilegieren. Obwohl das Gesamtkunstwerk in Theorie und Praxis deutscher Provenienz ist, dehnt sich sein Wirkungsbereich zunehmend auf das gesamte Europa aus.126 Bevor der Begriff jedoch wissenschaftlich Anwendung findet, sollte der definito123 Vgl. oben, Anm. 112. Selbst bei Wagner zielt das innovative Element letztlich auf die ›Restauration‹ umfassender Weltaneignung. Sein »Kommunismus« (Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, 51 [Das Kunstwerk der Zukunft (1850)]) ist nicht politisch intendiert, sondern soll den Rahmen dafür bieten, dass sich der durch die Moderne ›mechanisierte‹ Mensch überhaupt erst wieder in seiner unerschöpflichen Ganzheit zu erfassen vermag. Denn »im gegenwärtigen Zustande unserer Gesellschaft« kann er »uns gar nicht anders vorschweben« als im Modus der »Trübung« (ibid., Bd. 4, 72 [Oper und Drama (1852)]). Diese »Trübung« zu beseitigen, d. h. die Wahrnehmungsperspektive dauerhaft zu vergrößern, bleibt Hauptaufgabe der ästhetischen Revolution. Sie erweist sich demnach als Mittel zum Zweck, retabliert »die reinmenschliche Kunst«, die nur mehr anthropologisch-panoramatischen Charakter besitzt. Denn sie findet »an dem wirklichen, sich als das höchste Produkt der Natur erkennenden Menschen, ihren Stoff und Gegenstand« (ibid., Bd. 3, 210 [Kunst und Klima (1850)]). Zur perspektivenerweiternden Funktion von Intermedialität zwischen 1815 und 1848 vgl. auch Schmidt, »In ›allen Künsten‹ wird ›das Bestreben sichtbar‹«, 235. 124 Vgl. Schmidt, »Medienkonvergenz und Mediendisziplin«. In Wagners Parsifal gewinnt das Gesamtkunstwerk schließlich eine resignativ-kunstreligiöse Dimension, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie nur bedingt auf gesamtgesellschaftlichen Fortschritt orientiert ist. Ihre Umsetzung wird vielmehr an eine durch ›Entsagung‹ nobilitierte Gemeinschaft Auserwählter gebunden. 125 Fornoff, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk, 14. 126 Vgl. – für das 19. Jahrhundert – Matthias Brzoska, der insbesondere auf die Hoffmann- und Wagner-Rezeption verweist (Die Idee des Gesamtkunstwerks in der Musiknovellistik der Julimonarchie, Laaber 1995, 70 – 86, 173 – 184).

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rische Überschneidungsbereich geprüft sein. Dies gilt insbesondere für eine mögliche Ausweitung auf das 20. und 21. Jahrhundert, die nur dann vertretbar ist, wenn der beschriebene Nukleus einschließlich der vier grundlegenden Begriffskomponenten erhalten bleibt. Preisgegeben werden sollten lediglich historische Akzidenzien, das – so Fischer-Lichte – »was unrettbar dem 19. Jahrhundert verhaftet ist«.127 In einem nächsten Schritt müsste nun dieses Definitionsraster durch detaillierte Einzelanalysen hinsichtlich seiner spezifischen Ausprägungen untersucht werden. Denn die Geschichte des Gesamtkunstwerks erweist sich als vielschichtiger, keineswegs linear verlaufender Prozess, der zu künstlerischen Resultaten führt, die in vieler Hinsicht different sind. Und genau hier liegt – wie bereits erwähnt – ein dringliches Forschungsdesiderat. Selbst Fornoff gelangt auf der Basis seiner ambitionierten Begriffsbestimmung kaum zu neuen Erkenntnissen, da er nur wenige Vertreter aus Kunstperiode und Restaurationszeit berücksichtigt (Runge, Schinkel,128 Wagner), zudem fast ausschließlich Theoriediskurse integriert.129 Das Fehlen medienhistorisch ausgerichteter Werkanalysen wiegt bei dem »Theatraliker«130 Richard Wagner besonders schwer, zumal hier der Konnex zwischen Theorie und Praxis noch immer nicht zureichend erforscht ist – gerade auch mit Blick auf werkgeschichtliche Entwicklungen. Es würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen, die genannten Gesamtkunstwerk-Projekte von Hoffmann, Weber, Beethoven, Goethe und Wagner ausführlich zu besprechen und intermedial in Beziehung zu setzen.131 Auch die wissenschaftlichen Konsequenzen seien hier nur kurz angedeutet. Ausgehend von der Neubestimmung des Begriffs müssten zwei bis dato selten hinterfragte Forschungsthesen revidiert werden, und zwar in folgender Weise: (1) Die Musikästhetik der Frühromantik ist keineswegs eine der ›absoluten Musik‹,132 sondern tendiert zum Gesamtkunstwerk, allerdings meist unter BeibehalFischer-Lichte, »Das ›Gesamtkunstwerk‹«, 73. Der hier vorgeschlagenen Definition zufolge stellt Schinkels »Freiheitsdom« kein Gesamtkunstwerk dar. 129 Ähnliches gilt u. a. für die Arbeiten von Guido Hiß (Synthetische Visionen) und Anke Finger (Das Gesamtkunstwerk der Moderne). 130 Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, 12. 131 Zu Weber, Beethoven und Goethe vgl. Schmidt, »Medienkonvergenz und Mediendisziplin«. Die übrigen Gattungsexempel werden in einer umfangreichen Buchpublikation (Heisenberg-Projekt) ausführlich behandelt (vgl. Schmidt, »In ›allen Künsten‹ wird ›das Bestreben sichtbar‹«, 195 /Anm. *). 132 Die These geht auf Carl Dahlhaus zurück (vgl. Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978, 8 f.). Sie ist von keinem zeitgenössischen Rezensenten hinterfragt wor127 128

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Wolf Gerhard Schmidt tung der Autonomie der beteiligten Einzelkünste (vgl. Artefakt-Komponente). Vor diesem Hintergrund sollte klar zwischen Medien- und Gattungsdisziplin unterschieden werden. Während letztere mitunter suspendiert ist, bleibt erstere fast immer erhalten.

(2) Die praxisbezogenen Gesamtkunstwerk-Projekte der Restaurationszeit haben sich nachhaltig von der frühromantischen Theoriebildung emanzipiert; eine direkte Filiation kann daher nicht behauptet werden.133 Die Umsetzungsversuche antworten vielmehr auf das Scheitern idealistischer Totalitäts- und Identitätsmodelle. An die Stelle systemphilosophischer Reflexion tritt das Nachdenken über Sinn und Bedeutung konkreter Praxisprojekte, wobei die jeweiligen Vorstellungen / Resultate sowohl ästhetisch wie intentional stark differieren können (vgl. Artefakt-, Narrativ- und Utopie-Komponente).

Die ausführliche Darstellung bzw. Verifikation der hier entwickelten Thesen bedarf des Formats eines größeren Aufsatzes, möglicherweise sogar einer Monographie. Entsprechende Vorhaben sind in Planung und sollen während der nächsten Monate bzw. Jahre realisiert werden. Ziel ist eine Medienhistoriographie des frühen 19. Jahrhunderts, insbesondere der Restaurationszeit, deren ›Epigonalität‹ aus dieser Perspektive differenziert betrachtet werden muss.

den und in der Forschung bis heute omnipräsent. Zu den wenigen Wissenschaftlern, die grundsätzliche Zweifel an Dahlhaus’ Argumentation geäußert haben, zählen Alexandra Kertz-Welzel (Die Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder, Tieck und die Musikästhetik der Romantik, St. Ingbert 2001, 241 – 253) und Ulrich Tadday (»Analyse eines Werturteils. Die Idee der absoluten Musik von Carl Dahlhaus«, Musik & Ästhetik 12 [2008], H. 47, 104 – 117). Im Rahmen meines Heisenberg-Projekts (vgl. die vorausgehende Anm.) soll das Paradigma ›absolute Musik‹ umfassender Kritik unterzogen werden. 133 Sowohl Hoffmanns als auch Wagners Kunstästhetik werden häufig im Rekurs auf frühromantische Vorgaben erklärt. Gegen diese fragwürdige Rückbindung wenden sich u. a. Klaus-Dieter Dobat (Musik als romantische Illusion, 60 f.) und Peter Rummenhöller (»Romantik und Gesamtkunstwerk«, 161, 165).

Aspects of Darwinian Liminality: The Precarious Relationship between Man and Animals in David Copperfield and Other Victorian Fiction By Norbert Lennartz If one considers the fact that the first half of the Victorian age is generally understood to be an era that substitutes the sober-mindedness of the realist for Romantic speculation, heroic aspirations for self-centred melancholy and muscular Christianity for anthropological scepticism, it is striking to see that Charles Dickens, one of the paragons of the Victorian era, seems to rely on discourses that, in blatant contrast to Carlyle’s anticipation of the superman, emphasise the idea of man’s precarious liminality. As early as in the sentimental bildungsroman Oliver Twist (1838), Dickens brings his reader into contact with a proto-Darwinian world in which the demarcation line, Agamben’s controversial zone between men and animals, is precariously blurred and men are more often than not described as animals in human shape. Thus, Mrs. Sowerberry is characterised as a thickset woman »with a vixenish countenance«1 and, in the wider context of early Victorian concepts of otherness and anti-semitism, it is scarcely surprising to see Fagin, the Jew, compared to some loathsome reptile, engendered in the slime and darkness through which he moved, crawling forth by night in search of some rich offal for a meal. (OT, 153)

Seeing villains in terms of animals is not a Dickensian invention. Images of bestial man, references to man’s disconcertingly liminal position between animal and human being, are deployed both in Ben Jonson’s grim comedies and in Shakespeare’s tragedies. While in Jonson’s Volpone the main characters only have animal names which are synonymous with their predatory behaviour (Corvino, Mosca), in Shakespeare’s plays the theme of man’s bestialisation seems to be discussed with more profound anthropological 1 Oliver Twist, ed. Philip Horne, London 2003, 32. All references abbreviated as OT are to this edition.

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implications. As centaurs, torn between their God-like humanity and abdominal bestiality, King Lear’s daughters epitomise a certain misogynistic form of liminality which also affects men. After Claudius’s usurpation of power in Hamlet, the entire Danish court is, thus – in Hamlet’s pessimistic eyes – gradually transformed into an animal enclosure with the illegitimate king as a cloven-footed satyr »honeying and making love over the nasty sty«.2 Notwithstanding the fact that Hamlet defines the difference between man and animal in simplified terms, when he emphasises man’s God-given »large discourse, / Looking before and after«,3 the zoological aspect of Shakespeare’s tragedies is indissolubly tied up with moral categories: it is always the transgressors of the divine order, the overreachers who, by aspiring to higher levels of existence, are degraded to beasts. While John Donne seems to be more in line with the Renaissance philosophy of unleashed aspiration when he says: »Be more then man, or thou’rt lesse then an Ant«,4 Shakespeare focuses on the bestiality of overreaching and consequently creates a theriomorphic pandemonium in which Othello becomes a toad, Macbeth a bear at the stake and weeping Romeo an »ill-beseeming beast«.5

I. In Dickens’s novels, the distinction between man and animal is not only more tenuous, prima facie it also seems to be disconnected from concepts of morality and poetic justice. In the course of his chequered childhood, we, thus, see Oliver Twist flung into places in which people become interchangeable with rats: »they seemed so like the rats he had seen outside« (OT, 41) and, what is more, in which even the protagonist finds himself reduced to the same ontological level as animals and assuming their habits. Brought up on scanty portions of gruel, Oliver quickly undergoes a process of dehumanisation at the hands of Mr Bumble; when he is given the morsels of food originally reserved for the dog, »the cold bits that were put by for Trip« (OT, 33), he cannot help devouring them with »horrible avidity« (OT, 33). The constant danger of man relapsing into theriomorphic stages is even more evident in David Copperfield (1850), Dickens’s most autobiographical 2 Hamlet III, iv, 93f. (The Arden Shakespeare), ed. Ann Thompson, Neil Taylor, London 2006. 3 Ibid., IV, iv, 36f. 4 »The First Anniversary. The Anatomy of the World« I, 190, in: Poetical Works, ed. Herbert J. C. Grierson, Oxford 1979, 213. 5 Romeo and Juliet III, iii, 112 (The Arden Shakespeare), ed. Brian Gibbons, London 1980.

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novel. Published only nine years prior to Darwin’s seminal and groundbreaking study on the Origin of Species (1859), but six years after Robert Chambers’s Vestiges of the Natural History of Creation (1844),6 the novel reflects its author’s alertness to questions of liminality. Daniel Plung is certainly right when, in his essay on animal imagery in David Copperfield, he maintains that David is surrounded by beasts which fall into four categories: (1) song birds, associated with the good and innocent; (2) lions and raptors, associated with the fallen but not evil; (3) dogs (with the exception of Jip), associated with the malicious and selfinterested [ …]; and (4) snakes and eels, the slithery beasts who (like their Biblical ancestors) are associated with individuals who are truly contemptuous and evil.7

Plung’s neat classification is helpful, but it barely takes into account that the demarcations between these species of animals tend to be as blurred as those between the moral categories they stand for. Not only that Steerforth ambivalently combines evil and generosity and thus seems to corroborate Lady Windermere’s conviction that »good and evil, sin and innocence, go through [the world] hand in hand«,8 there are moments of existential crisis, when David himself can hardly resist the onset of the animal and the savage. Branded by his sadistic teacher, Mr. Creakle, as a canine monster – »Take care of him. He bites«9 – and forced to obey his stepfather, Mr. Murdstone, »like a dog« (DC, 131), David is suddenly made aware of the fact that, in the modern urban jungle, he is persistently threatened by the animal world grabbing hold of him. In the medieval and early modern period, man was constantly on the look-out for the traps and snares that the devil laid out to drag his victims to hell; in the modern (proto-)Darwinian world, as it is shaped by discourses taken from Hobbes to Thomas H. Huxley’s ideas of degeneration, man is always on the point of either falling into the clutches of anthropomorphised beasts or of being transformed into an animal. Among myriads of rats, which from Hardy’s Tess of the d’Urbervilles to 21st-century visual pop culture come to be increasingly invested with hu6 Michael Slater refers to Dickens’s »keen enthusiasm for contemporary scientific advances« and to the fact that »he may have espoused Chambers’ ›Theory of Development‹«. Charles Dickens, New Haven, London 2009, 277. 7 Daniel L. Plung, »Environed by Wild Beasts: Animal Imagery in Dickens’s David Copperfield«, Dickens Quarterly (2000), 216 – 23, here 216. 8 Oscar Wilde, Lady Windermere’s Fan IV, l, 398f., in: The Importance of Being Earnest and Other Plays, ed. Peter Raby, Oxford 1998, 58. 9 David Copperfield, ed. Jeremy Tambling, London 2004, 90. All references abbreviated as DC are to this edition.

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man character traits, 10-year-old David follows Oliver Twist’s footsteps and manages to eke out a meagre existence. Brought to the brink of death by hunger and poverty, David is, however, not so much forced to eat the scraps of food reserved for dogs as he is is compelled to sell both his waistcoat and his jacket as »a means to keep off the wolf a while« (DC, 191). Reading the novel as a conflation of the 18th-century picaresque novel with the 19th-century sentimental bildungsroman, one is struck by the fact that Dickens not only makes an explicit reference to Hobbes’s anthropology, but that he also shows us a darkened universe in which even a child is not exempt from the assaults of animal nature. The end of David’s prelapsarian existence and his initiation into the animal world is marked by the day when the empty dog kennel is suddenly inhabited by a big ferocious dog – »deep-mouthed and black-haired« (DC, 55). From then on, David seems to be flung into a world that is antagonistic, predatory and teeming with animalised human beings. With the small sum of money that he receives from the »claws« (DC, 196) of a monstrous shopkeeper David temporarily manages to keep the wolf at bay and to prevent his degeneration into a beast. But to what extent his life can be understood in terms of liminality and Hobbesian ideas of society as a wolf community, can be ascertained by various other references which are unobstrusively distributed throughout the novel. Seen in the context of paradigm shifts in Victorian anthropology, the simple facts that David uses »a great deal of bear’s grease« (DC, 278) to make himself attractive for the eldest Miss Larkin, that he is forced to fight with butchers and to have raw beefsteaks applied to his sore eyes are further evidence of anthropological ambiguity; and even the few hints at Shakespeare’s Sonnet 144 and Macbeth are more than indicative of the extent to which David’s adolescence oscillates between human dignity and animal ferocity. When the first-person narrator characterises Agnes as »the better angel« (DC, 278) in his life, he implies that, on the analogy of the triangular constellation in Shakespeare’s sonnets, there must also be a »worser spirit« that threatens his feeble equilibrium.10 Taking into account the fact that the genders of Shakespeare’s sonnet are reversed in Dickens’s novel, the bad angel eager to »fire [David’s] good one out«11 can only be identified with Steerforth who causes not Agnes’s, but Emily’s ruin. What in the context of the novel’s liminality is revealing is the fact that Steerforth not only has the impact of a magician on Peggotty’s family, who insidiously draws everybody 10 Sonnet 144, l, 4. Shakespeare’s Sonnets, ed. Katherine Duncan-Jones, London 2006, 403. 11 Ibid., l, 14.

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into a »charmed circle« (DC, 325) and finally leaves them »bewitched« (DC, 325), but that he also enjoys fashioning himself as an overreacher (»Ride over all obstacles, and win the race!« DC, 434) and homme fatal who unscrupuously wreaks havoc on the tranquillity of Peggotty’s ark. Slightly misquoting Macbeth – »Why, being gone, I am a man again« (DC, 330) –, he highlights both the tragedy’s pivotal theme of equivocation and his own status as a violator of ontological and moral borders. In the lines immediately preceding the quotation in the play, Shakespeare’s Macbeth argues with Banquo’s ghost and challenges it to appear »like the rugged Russian bear, / The arm’d rhinoceros, or th’ Hyrcan tiger,«12 since the realm of animals is much more preferable to him than that of ghosts and revenants. Translated into the context of Dickens’s novel, Steerforth’s reference to Macbeth is not only meant to stress David’s position as that of Banquo’s reproachful ghost, it is also ample proof of the fact that Steerforth, the selfstyled »capricious fellow« (DC, 331), is a dangerously protean character with the capacity to drag his fellow beings into the regions of monstrosity and sinister liminality. The most strikingly liminal character in the Darwinian context of the novel is, however, Uriah Heep. His »snaky undulation« (DC, 385) and the snail-like traces that his fingers seem to leave on the book pages clearly relate him to a disgusting reptile, towards which David however inevitably feels attracted: »Uriah Heep [… ] had a sort of fascination for me« (243). To what extent this fascination is contrasted with and eventually eclipsed by depictions of Uriah’s repulsive grotesqueness is made evident when the narrator imagines him as a chimera in which the human side is almost completely usurped by numerous incompatible bestial attributes: apart from his reptile qualities, he is described as a »red fox« (DC, 524), a bat, a vulture, a »malevolent baboon« (DC, 579) and a devilish incubus (DC, 781) that, like a suffocating parasite, drains its victim of all energy. As a Hittite and one of the 37 warriors in David’s army (2 Sam 23, 39), the biblical Uriah is truly a victim who is not only deceived by his wife Bathseba, but also assassinated at the behest of David. As if to play again with the expectations of his readership, Dickens shows Uriah not as a heroic victim, but as a scheming villain who makes an ostentatious display of his humbleness only to maliciously victimise Mr Wickfield and Mr Micawber. Various references to his red hair and to the range of negative animals, which in early modern allegorical discourses symbolised heresy, witchcraft and Jewish perversities, are ample evidence of the fact that Uriah Heep is not only iconographically 12 Macbeth III, iv, 99 f. (The Arden Shakespeare), ed. Kenneth Muir, London 2006, 95.

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related to Fagin, but that his bestial otherness is also invested with vague anti-semitic undertones. There is no denying that, from an anthropological perspective, chapter 25 is of utmost importance. After his initial attraction for Uriah Heep has given way to outrage and disgust, the protagonist suddenly finds himself in a situation in which he cannot help offering the monstrous intruder accommodation and even goes to great lengths to make him accept his bedroom. But instead of sharing the same fate with Coleridge’s Christabel, who, in the course of the night, becomes spellbound by her mysterious room mate, the serpent-like Geraldine, David is filled with aversion to his guest’s liminality and rebels not only against the creature’s pernicious influence, but also against the possible psychological implication that he and Uriah could be doppelgänger with the latter epitomising the protagonist’s darker and bestial sides:13 I never shall forget that night. I never shall forget how I turned and tumbled; how I wearied myself with thinking about Agnes and this creature. [̷ ] When I awoke, the recollection that Uriah was lying in the next room sat heavily on me like a waking night-mare; and oppressed me with a leaden dread, as if I had had some meaner quality of devil for a lodger. (DC, 391)

At this point in the novel, it is increasingly evident that the moral categories of good and bad are more clearly differentiated and that the roles of the devil and the (female) agnus Dei are more sharply contrasted. Utilising Gothic elements, which are reminiscent of Heinrich Füssli’s well-known painting Der Nachtmahr / The Nightmare (1782), Dickens, on the one hand, depicts Uriah like a supernatural power that insidiously encroaches upon its victim’s dreams. What, however, reveals Dickens’s ambivalent attitude towards the Romantic age and its images is the fact that he instantaneously undermines the uncanny effects of his narration and shows Uriah for what he is: a mean devil without Miltonic grandeur, a parasitical troublemaker, who, despite his various theriomorphic attributes, aptly fits into the 19th-century category of the villain as a petty bourgeois.14 When David later boxes his beastly antagonist’s ears, he emphatically exorcises the monstrous animal in himself, but this act of exorcism is stylistically prefigured when the first-person narrator makes use of the device of irony and parody that subjects the monster to a 13 Harry Stone, Dickens and the Invisible World. Fairy Tales, Fantasy and NovelMaking, Bloomington 1979, 222. 14 Cf. Norbert Lennartz, »The Bourgeois as a Villain: Representations of Evil in Nineteenth-Century British Fiction«, in: Jochen Achilles, Ina Bergmann (eds.), Representations of Evil in Fiction and Film, Trier 2009, 77 – 93.

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process of quick deconstruction and reveals the ludicrousness of the »redheaded animal« (DC, 389). Compelled to steal into the room and to have a look at the sleeping devil, David is faced with an example of bathos: There I saw him, lying on his back, with his legs extending to I don’t know where, gurgling taking place in his throat, stoppages in his nose, and his mouth open like a post-office. He was so much worse in reality than in my distempered fancy, that afterwards I was attracted to him in very repulsion [ …] (DC, 391)

The comparison of Uriah’s open mouth to a post-office is not only an example of Dickens’s humour, it is also the first-person narrator’s farcical attack on what is considered to be the animal’s most threatening feature: the mouth. When later on he asks Mrs Crupp, his landlady, to air the room in the morning so that it will be »purged« of Uriah’s infectiously bestial influence, as a writer he has already made the first great step in purging his narrative of the lurking beast by reverting to the grotesque and by changing Uriah’s face into a commonplace thing.

II. Having thus lived up to countless liminal situations and managed to keep the Darwinian jungle around him in check (which even involves becoming a vegetarian or a »graminivorous animal«; DC, 542), David cannot help realising that it proves to be far more frustrating to elevate his wife above the level of a lap-dog. Dora, who plunges David into »an abyss of love« (DC, 397), has such an intimate relationship with her dog Jip that she is not only constantly kissing and caressing the dog, but also addressing it as a soul-mate, as an indispensable confidant: We are not going to confide in any such cross people; Jip and I. We mean to bestow our confidence where we like, and to find out our own friends, instead of having them found out for us – don’t we, Jip? (DC, 403)

Humanised dogs are not a rarity in Dickens’s work. According to Frank A. Gibson, the fictional dogs in Dickens even have the position of »wellrounded characters«.15 In The Old Curiosity Shop, Nell sympathises with dancing dogs which are humiliated and forced to stand »upright as a file of soldiers«.16 But the humanisation of Jip has assumed such alarming propor15 16

»Dogs in Dickens«, The Dickensian 53 (1957), 145 – 52, here 145. The Old Curiosity Shop, ed. Angus Easson, London 1985, 203.

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tions that man and animal have not only become interchangeable, but also exclusive to others in their indecorous intimacy. Accustomed to the microcosm defined by Jip’s whims, Dora proves to be most unfit for the Darwinian struggle of existence. Confronted with economic obstacles, she collapses and is seized with fits of weeping so that David, the harbinger of common sense, is compelled to denounce himself as »a remorseless brute and a ruthless beast« (DC, 548). It is a paradox in this representation of a Victorian anti-marriage that the more David tries to mould his wife’s undeveloped mind, to acquaint her with culture and Britain’s literary heritage, the more he reveals himself as a monster that intrudes upon »a Fairy’s bower«, which is exclusively inhabited by his wife and her dog. David M. Wilkes even goes so far as to say that in marrying Dora David »reproduce[s] the harmful behavior of his spidery stepfather, Edward Murdstone«.17 Even though David’s courtship coincides with Mr Spenlow’s death, his influence on Dora can scarcely be compared to the destructive fundamentalism with which Mr Murdstone disrupts little David’s Edenic existence. Seen in the context of the teleological pattern in the bildungsroman, it is rather David’s life that is severely hampered by Dora’s liminality, by her precarious state between wife and child, between pet and infantilised femme fragile. In contrast to Uriah Heep, who openly jeopardises society both with his chimerical otherness and reptile ugliness, Dora, whom David revealingly addresses as »my pet« (DC, 611), seems to subvert the protagonist’s effort at »earnestness« (DC, 613), at sticking to the »golden rules« of Victorian diligence by her disconcertingly close and symbiotic affinity with her dog. In order to emphasise Dora’s ontologically regressive status as a pet-like creature, Dickens finally has Dora and Jip die simultaneously: at the moment when Agnes comes to announce Dora’s death, »[Jip] lies down at my feet, stretches himself out as if to sleep, and with a plaintive cry, is dead« (DC, 774). Dogs as characters’ alter egos seem to pervade Victorian literature and culture. As Teresa Mangum argues, the profusion of animal memorials and the exaggerated affection for animals are clearly evidence of »a profound shift in human-animal relations during the 19th century«.18 It is again Darwin who gives this new perspective on animals a theoretical underpinning. Both in his 1872 study The Expression of the Emotions in Man and Animals and in his 1888 treatise The Descent of Man, he tries to prove the fact that »Dickens ›David Copperfield‹«, Explicator 51 / 3 (1993), 157 – 59, here 158. Teresa Mangum, »Animal Angst: Victorians Memoralize their Pets«, in: Deborah Denenholz Morse, Martin A. Danahay (eds.), Victorian Animal Dreams. Representations of Animals in Victorian Literature and Culture, Aldershot 2007, 15 – 34, here 17. 17 18

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animals have the same range of feelings which humans have: »Most of the more complex emotions are common to the higher animals and ourselves.«19 Darwin’s books also seem to cater to »the longing for reciprocal ardor that innumerable Victorians felt in the presence of animals«20 and wanted to have represented in countless animal portraits by Landseer and works of fiction. Thus, Dickens seems to meet the demands of the new literary market, when, in Oliver Twist, he shows Bill Sikes’s dog, Bull’s-eye, as »a doppelgänger for Nancy«21 or Dora and Jip in a dubious human-animal relationship, but he also shows the reversal of the increasing anthropomorphisation of animals in Victorian literature: the bestialisation of man, man’s relapse into an atavistic creature, disgusting in its brutishness and rapacious desires. In the context of 19th-century animal discourses, Dickens’s narratives thus seem to provide the missing link between Romantic idealisations of animals and later (anti-)Darwinian tendencies to see man in terms of an animal in human shape. While certain strata of Victorian society were attracted by the »newly institutionalized dog fancy«,22 representations of dogs in Victorian literature increasingly pinpoint the dangerous hybridisation not only of classes, pedigrees, but also of species. Quilp, the malicious dwarf in The Old Curiosity Shop, is not only closely related to a shaggy wharf dog; in the »demondance« around a dog-kennel,23 he proves to be even more monstrous than the wolf into which Pip is threatened to be changed by the villain Orlick in Great Expectations. But while the outbreak of wolfish and monstrous behaviour in man is still checked in Dickens’s novels either by the death of the incorrigible villains (Quilp, Sikes, Fagin) or by the triumph of loyalty and humanity, 19th-century literature increasingly reflects man’s awareness of the fact that a facile return from bestiality to humanity is illusive and devoid of all the gestures of pathetic grandeur. At the moment when Othello realises that in his incredulity he has degenerated into a Turk and a »circumcis’d dog«, he does not hesitate to stab himself in an act of heroic self-effacement;24 in the 19th century, attempts like this at restoring the generic order do not only become rare, the relationship between man and animals (and The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, London 1888, 71. Mangum, »Animal Angst«, 22. 21 Grace Moore, »Beastly Criminals and Criminal Beasts: Stray Women and Stray Dogs in Oliver Twist«, in: Victorian Animal Dreams, 201 – 14, here 205. 22 Harriet Ritvo, The Animal Estate. The English and Other Creatures in the Victorian Age, Cambridge 1987, 97. 23 The Old Curiosity Shop, 228. 24 Othello V, ii, 353, (The Arden Shakespeare), ed. E. A. J. Honigmann, London 2004, 331. 19 20

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dogs in particular) also becomes more and more a matter of precarious liminality. Considering the fact that the dog itself is a creature of special liminality (between wolfish ferocity and human civilisation), Byron inserted an episode about a spaniel into his Regency epic poem Don Juan and thus paved the way for mid 19th-century Darwinian discourses. Unlike Dora’s Jip, which assumes the role of a guardian of his human and infantilised alter ego, Juan’s lap dog becomes the victim of man’s excessive savagery. Having »ravenously« eaten their provisions, some of the survivors from the shipwreck of the Trinidada decide to satisfy their raging hunger by eating the dog: [… ] And hunger’s rage grew wild, So Juan’s spaniel, spite of his entreating, Was killed and portioned out for present eating.25

Eating the dog the boat’s crew in Byron’s poem not only challenges the Romantic notion of fellow-feeling, which included the animal world and caused poets like Percy B. Shelley to become inveterate vegetarians; the quotation also underlines the fact that man in Byron’s universe exceeds the dog in savagery and that no single person is exempt from this sudden onset of deterioration. While Juan at first refuses to participate in the atrocious consumption of his dog, it does not take him long to feel »all the vulture in his jaws« and to take one of the dog’s forepaws, which he shares with his tutor Pedrillo. Having eschewed all taboos which had detained man from devouring his most faithful animal companion, Byron’s shipwrecked people are launched on a downward slope towards cannibalism: deprived of hope and the illusion of man’s theomorphic qualities, they can no longer suppress the rising »longings of the cannibal« and conceal the fact that their eyes have turned »wolfish« (II, 72, 576). What Byron seems to emphasise is that, in a world which has been completely turned upside down, the roles of dogs and men have been totally reversed: as a lap dog, the spaniel has been so much domesticated that it meets its untimely death even without fierce restistance, whereas the men in the boat not only turn into dogs, but into a pack of wolves that eventually perish with spine-chilling »hyena laughter« (II, 79, 632). What is scarcely taken into account by the biographers from Forster to Ackroyd and Slater is the fact that Dickens was not only familiar with Wordsworth’s affirmative Prelude,26 but also with Byron’s texts. Although 25 Don Juan, ed. T. G. Steffan, E. Steffan, W. W. Pratt, Harmondsworth 1986, II, 70, 558 – 560. 26 Slater, Dickens, 316.

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not approving of Byron’s »gloomy greatness«,27 Dickens does not hesitate to quote Byron and even to make allusions to Don Juan in his letters.28 Comparing the anthropological concepts of both writers we learn that Dickens seems to be as alert as Byron to the fact that the image of the dog as a Cerberus-like guardian of ontological and cultural boundaries had become dubitable29 and that boundaries between man and animal had been dynamised at least since Lamarck’s Philosophie Zoologique (1809).30 But while the Romantic enfant terrible shows man hopelessly at the beck and call of ruthless nature – »’Twas nature gnawed them to this resolution / By which none were permitted to be neuter« (II, 75, 598) –, Dickens leaves his readers in no doubt that his representations of theriomorphism are stages which man in his dialectical career is called upon to combat and to overcome. There is no denying that, as Natalie McKnight argues, Dickens takes a »humbling view of humans«31 and that in his novels there are liminal characters like Quilp that in their »very doglike manner« are irretrievably beyond redemption. But in their grotesque otherness they remind the reader of fairy tale creatures, of evil imps and evolutionary setbacks which the protagonist is eventually able to fend off and to destroy. As a sign of his anthropological optimism, which conflates 19th-century ideas of evolutionism with Bunyan’s concept of eschatological progess,32 Dickens has his protagonists not only successfully disentangle themselves from theriomorphic temptations, but also follow upward paths as they are indicated by Agnes’s »solemn hand upraised towards Heaven« (DC, 774). Not so in Byron’s poem: the dog- and man-eating monsters are no longer 27 »Letter to R. S. Horrell (25 November 1840)«, in: The Letters of Charles Dickens, 12 vols., II, ed. Madeline House, Graham Storey, Oxford 1969, 155. 28 Cf. »Letter to Ms Burdett Coutts (15 August 1849)«, in: The Letters of Charles Dickens, V, ed. Graham Stroey, K. J. Fielding, Oxford 1981, 594. It is striking that when Dickens refers to Byron’s Don Juan, it is in the context of the ambivalent relationship between dogs and humans. Suffering from a severe cold, Dickens compares his cough to a quote from Byron’s poem (I, 123, 977), »the [faithful] watch-dog’s honest bark«. 29 Cf. Roland Borgards, »Hund, Affe, Mensch. Theriotopien bei David Lynch, Paulus Potter und Johann Gottfried Schnabel«, in: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards (eds.), Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Geistesgeschichte, Göttingen 2009, 102 – 39, here 105. 30 Cf. Natalie McKnight, »Dickens and Darwin: A Rhetoric of Pets«, Dickensian (2006), 131 – 43, here 131. 31 Ibid., 142. 32 To what extent 19th-century anthropology is moored in Bunyan’s image of a pilgrimage beset with dangers and monsters can be ascertained not only in Dickens’s subtitle of Oliver Twist – »The Progress of a Parish Boy« –, but also in novels by Charlotte Brontë and George Gissing.

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fairy tale creatures; on the same ontological level as sharks, tigers and other predatory beasts man has either lost his ability to read metaphysical signs or interprets them according to the imperatives of his belly: »They would have eat her [the beautiful white bird reminiscent of dove of the Old Testament], olive branch and all« (II, 95, 763). As the narrator of Byron’s poem laconically states, man’s degeneration into an animal is inherent in the human condition and can only be insufficiently concealed by cant and other subterfuges of civilisation: But man is a carnivorous production And must have meals, at least one meal a day. He cannot live like woodcocks upon suction, But like the shark and tiger must have prey. (II, 67, 529 – 32)

When Carlyle advises his Victorian readers to shut their Byron and to open their Goethe,33 his misgivings about the Romantic’s pessimism are certainly founded on such passages of stark Swiftian anthropological cynicism as that quoted above. Even though Byron’s death in 1824 affected almost all Victorian writers and poets, 19th-century readers were disconcerted by the fact that, apart from the various erotically risqué episodes and puns, Don Juan shattered their beliefs in man’s dignity. More than any other literary work of the early 19th century, Byron’s crude biologism in Don Juan anticipates concepts of the Naturalist bête humaine34 and ties up with later representations of liminal characters and human dogs which seem to reverse both Dickens’s and Darwin’s ideas of evolutionism.

III. One of the numerous late Victorian human dogs is Jim Saunders in George Moore’s novel Esther Waters (1895). It is hardly coincidental that his family is forced to earn money by making toy dogs. Completely absorbed by the gratification of his belly’s desires, he enters his house without speaking a word and is only intent on »sniffing the odour of the meat«.35 Reduced to the sensation of smelling, he is a dog in human shape, a tyrant of his family who eventually outlives his wife (who dies in childbirth) and 33 Quoted in: Jerome H. Buckley, The Victorian Temper. A Study in Literary Culture, Cambridge 1981, 36. 34 See also Norbert Lennartz, »The bête humaine and its Food in 19th-Century Naturalist Fiction«, in: Marion Gymnich, Norbert Lennartz (eds.), The Pleasures and Horrors of Eating: A Cultural History of Eating in Literature and the Arts, Göttingen 2010, 255 – 271. 35 Esther Waters, ed. David Skilton, Oxford 1995, 102.

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emigrates to Australia to start a new existence in the theriomorphic atmosphere of the Australian bush. His life in the Australian bush will certainly be different from that which the Micawbers and Mr Peggotty seem to lead. Seeing Australia in terms of a new Arcady as it was propagated by Samuel Sidney, Dickens – who never visited Australia to become as disillusioned as he was in America – idealised the country that was formerly synonymous with Botany Bay. In Dickens’s Australia, not only the impediments of industrialised society, the struggle and moral pressure are missing; from his idealising perspective, it is also a country in which precarious forms of liminality are non-existent and the Romantic dream of a pantisocracy is suddenly deemed feasible. Thus, by the end of David Copperfield, we learn that Mr Micawber – »wielding the rod of talent and power in Australia« (DC, 815) – has become a magistrate and eventually found an audience for his »smoothly-flowing periods of his polished and highly ornate address« (876). Dickens’s image of Australia as a Pickwickian place of conviviality, bar of Darwinian struggle, not only clashed with later representations of Australia as an ominous wilderness, but also with other dystopian islands in which liminal monsters have established the law of the jungle. In this respect, H.G. Wells’s grim theological allegory The Island of Doctor Moreau (1897) not only challenged Dickens’s concept of moral progress, it also uprooted the Victorians’ illusive image of man as a hero, as a coloniser of wildernesses who, according to Kipling, was chosen to bear the »white man’s burden« and to civilise creatures, »half devil and half child«.36 The humanised animals in Wells’s novel are hardly comparable to Dickens’s dogs in The Old Curiosity Shop, which have learnt how to stand on their hind-legs and drop onto their fore-legs as soon as they have failed to make an impression on their master. Every time Doctor Moreau’s creatures drop onto their fore-legs, the first-person narrator, Edward Prendick, cannot help noticing that the constructions of civilisation, the rituals and »insanest ceremon[ies]«37 which the monsters were made to observe are feeble frameworks in the face of the backlash of crude animal nature. Like Oliver and David, Prendick seems to be surrounded by a menagerie of beast-like creatures: »There were several Wolf creatures, a Bear-Bull, and a Saint Bernard Dog Man« (83). But while Dickens’s protagonists constantly revolt against the animal grotesqueness of their adversaries and thus make evident that man’s aesthetic standards are not liable to change, Prendick loses his disgust 36 »The White Man’s Burden« l, 8, in: Rudyard Kipling’s Verse. Definitive Edition, London 1946, 323. 37 The Island of Doctor Moreau, ed. Patrick Parrinder, London 2005, 58. All references are to this edition.

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at their ugliness and gradually grows accustomed to the monsters around him (and in him): »I say I became habituated to the Beast People, that a thousand things that had seemed unnatural and repulsive speedily became natural and ordinary to me« (84). When the whole rout of man-beasts suddenly pounces on the Leopard Man in order to punish him for infringing upon the laws of civilised man and tasting the blood of a rabbit, Prendick is suddenly absorbed in the drift of vindictive and predatory animals: [ …] and I, too, was swung round by the magnetism of the movement. In another second I was running, one of a tumultous shouting crowd, in pursuit of the escaping Leopard Man. (91)

Considering the fact that, by the end of the 19th century, Wells depicts a world in which insanity is paramount and in which evolutionary thought has been replaced by nightmarish notions of atavism and decline, one is hardly surprised to see that, at the very moment when the liminal creatures become aware of the fact that their Frankensteinian creator has died, they relapse into their animal behaviour almost as quickly as Byron’s shipwreck victims maddened by hunger. What illustrates this final collapse of tentative human civilisation is, on the one hand, the disintegration of language, the transformation of words into inarticulate gibberish and, on the other hand, the destruction of the dog and the triumph of the Hyaena-Swine, a creature of multifaceted liminality: My St Bernard creature lay on the ground dead, and near his body crouched the Hyaena-Swine, gripping and quivering flesh with misshapen claws, gnawing at it and snarling with delight. (125)

While Nietzsche sees the death of God as a long sought-for opportunity to get rid of what Blake defines as the »mind-forg’d manacles« and consequently propagates the advent of the superman (»Des Übermenschen Schönheit«),38 it is Wells who, in the wake of Byron and other anthropological sceptics, sees man not only involved in a rapid process of devolution, but also succumbing to the survival of the most monstrous. It is open to conjecture why Wells was not in favour of Dickens’s novels and why he emphasised the fact that the titular (anti-)hero of The History of Mr Polly »never took kindly to Dickens«,39 but one plausible explanation is certainly Wells’s anthropological pessimism which grossly differs from Dickens’s more moderate representations of liminality. While Uriah Heep, Fagin and Quilp seem to fulfil the function of Shakespeare’s Caliban and temporarily 38 Also Sprach Zarathustra. Werke in drei Bänden, ed. Karl Schlechta, Munich 1955, II, 346. 39 The History of Mr Polly, ed. Simon J. James, London 2005, 120.

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threaten to subvert society, they are more than outbalanced by the numerous Ariels in Dickens’s novels, the assortment of lovable, good-natured and eccentric individuals, who, like Betsy Trotwood, Peggotty, Traddles and Micawber, combat the onset of evil (even if it is only by stoically drawing skeletons on desks). This motley crew of philanthropists derived from Fielding, Smollett and Sterne not only keeps the bestial monsters, the social incubi and the various subverters of evolution in check, they, to a certain extent, also contradict Mr Omer, the asthmatic undertaker and amiable counterpart to sadistic Mr Sowerberry in Oliver Twist, when he defines life exclusively in terms of a downward movement: »we are all drawing on to the bottom of the hill, whatever age we are, on account of time never standing still for a single moment« (DC, 740). Mr Omer’s view of life as a continuous process of decline is far from Darwinian discourses of liminality; it is rather the melancholy reminder of the fact that life is a perpetual preparation for death. As such it does not run counter to the novel’s affirmative message that man is neither at the beck and call of hostile nature (as in Byron and Wells) nor on the same ontological level with dogs. In the course of a complicated educational process, Dickens’s protagonists learn to overcome the lure of the animal and the canine sides of their existence. In this respect, Dickens’s novels (despite their array of humanised and spoilt dogs) are a last humanitarian plea, which by the beginning of the 20th century is almost parodied by novels in which protagonists are not reluctant to emulate dogs and even to take them as a source of erotic inspiration. In this context, the conception of Rudy in James Joyce’s Ulysses is glaringly antiDickensian and the trajectory for many works of art showing man as a beast ab ovo: »Must have been that morning in Raymond terrace she was at the window, watching the two dogs at it by the wall of the cease to do evil. [ …] Give us a touch, Poldy. God, I’m dying for it. How life begins.«40

40

Ulysses, ed. Jeri Johnson, Oxford 1998, 86.

»Selbst die Romane eines Balzacs erreichen nicht die gleiche Tiefe«. Waldemar Gurian als Leser von Georges Bernanos Von Joris Lehnert

I. Waldemar Gurian, deutscher katholischer Publizist russisch-jüdischer Herkunft, wurde 1902 in Sankt-Petersburg geboren, siedelte aber schon als Kind mit seiner Mutter nach Deutschland über. 1934 emigrierte er in die Schweiz, bevor er 1937 zum Professor für Politikwissenschaft an der Universität Notre Dame in den Vereinigten Staaten berufen wurde. Wie Georges Bernanos bewegte er sich also während seines Lebens in diversen Gefilden, sowohl geographischen als auch thematischen. Als Publizist schrieb er während der Weimarer Republik in verschiedenen katholischen Zeitschriften wie Abendland, Hochland oder Das Heilige Feuer sowie in katholischen Zeitungen und ihren kulturellen und literarischen Beilagen wie die Kölnische Volkszeitung, die Rhein-Mainische Volkszeitung oder Germania. Sein Interesse galt zu diesem Zeitpunkt ganz besonders der französischen Kultur. Während der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre – seinen sogenannten Godesberger Jahren1 – machten Waldemar Gurians unbestreitbare und nachweisliche Kenntnisse der choses françaises aus ihm, der noch nicht einmal 30 Jahre alt war, einen wahren Frankreich-Spezialisten, besonders auf dem Gebiet des französischen Katholizismus, seiner Geschichte sowie seiner Konfrontation mit der Moderne, und der Action française, der nationalistischen und monarchistischen Bewegung von Charles Maurras und des von ihm angeführten integralen Nationalismus. Dieses Interesse für die französische Kultur – Früchte einer angestrengten Arbeit2 1 Heinz Hürten, Waldemar Gurian. Ein Zeuge der Krise unserer Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte bei der katholischen Akademie in Bayern, Reihe B: Forschungen Band 11), Mainz 1972, 25. 2 Ibid., 14. Bemerkenswert ist, dass der Bonner Romanist und Spezialist der Bewegung Le Sillon von Marc Sangnier, Hermann Platz, Gründer und Herausgeber von Abendland, derjenige ist, der dieses Interesse Gurians für Frankreich geweckt

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für diesen von Grund auf vertrauten Intimkenner der russischen Literatur und Kultur3 – führte ihn schnell dazu, sich für die Literatur zu interessieren, so dass sie zu diesem Zeitpunkt seines Lebens zum Grundelement seiner publizistischen Arbeit wurde. Wenn er auch Rezensionen von François Mauriac oder Julien Green4 veröffentlichte, so galt doch das Hauptinteresse seiner Arbeit besonders drei Hauptfiguren: Diese Triade bestand aus dem bereits ein Jahrzehnt früher verstorbenen Léon Bloy sowie seinen Zeitgenossen Paul Claudel und Georges Bernanos, Fahnenträger eines Renouveau catholique, der damals in der Literatur einen authentischen Aufschwung5 erlebte. Aus dieser Autorengruppe, die in Gurians Augen für sich genommen wahre literarische Monumente sind, werden wir im Folgenden unser Interesse seiner Bernanos-Rezeption schenken, um damit die ihm eigene Literaturkonzeption zu illustrieren. Gurian las und rezensierte vor allem als Katholik und als Publizist. Letzerer sollte, laut Gurian, aktiv in der europäischen Krise wirken; er sollte nicht nur gegen die moderne Welt kämpfen, sondern auch als Missionar in dieser modernen Welt wirken, auch mittels der Literaturkritik, aber immer aus einer katholischen Perspektive heraus.6 Unmittelbar nach Erscheinen von Bernanos Erstlingswerk in Frankreich und noch vor der deutschen Übersetzung7 beginnt Gurians Bernanos-Rehat. Ferner ist auch bemerkenswert, dass er bei Gurian dennoch kaum, wenn überhaupt Erwähnung findet. Über Hermann Platz siehe u. a. Hans-Manfred Bock, »Der Abendland-Kreis und das Wirken von Hermann Platz im katholischen Milieu der Weimarer Republik«, in: Michel Grunewald, Uwe Puschner, Hans-Manfred Bock (Hgg.), Le milieu intellectuel catholique en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1871 – 1963) / Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871 – 1963), Convergences 40, Bern u. a. 2006, 337 – 362 und Thomas Pittrof, »Hermann Platz als Vermittler des Renouveau catholique in Deutschland« in: Roman Luckscheiter, Wilhelm Kühlmann, Gerhard Poppenberg (Hgg.), Moderne und Antimoderne: Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur (Catholica 1), Freiburg 2008, 101 – 130. 3 Seine ersten publizistischen Arbeiten Anfang der zwanziger Jahre widmeten sich so z. B. Fjodor Dostojewski, Boris Savinkov oder Peter Tschaadajew. Ferner wurde er in den dreißiger Jahren ein renommierter und anerkannter Spezialist des Bolschewismus. 4 Wie Heinz Hürten notiert, rezensierte Gurian sie in geringerem Maße und bei Weitem nicht mit der Achtung, die er Bloy, Claudel oder Bernanos entgegenbrachte, ibid., 27. 5 Cf. Veit Neumann, Die Theologie des Renouveau catholique. Glaubensreflexion französischer Schriftsteller in der Moderne am Beispiel von Georges Bernanos und François Mauriac (Regensburger Studien zur Theologie 65), Frankfurt am Main 2007, 81 – 91. 6 Cf. Waldemar Gurian, Der katholische Publizist, Augsburg 1931, 17.

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zeption mit der Rezension von Sous le soleil de Satan, das den Ruf seines Autors augenblicklich begründete. Der katholische Publizist widmete ihm einen dreispaltigen Kommentar in der Sonntagsausgabe der Kölnischen Volkszeitung vom 26. September 1926.8 Ebenso wird er anlässlich der 1929 in einem einzigen Band erschienenen deutschen Übersetzung von L’imposture (1927) und La joie (1929), die unter dem Titel Der Abtrünnige9 veröffentlicht wurde, einen drei Seiten langen Artikel in Abendland 10 über Bernanos verfassen. Zwei Monate später greift er erneut in Abendland 11 zur Feder, um auf eine für Bernanos sehr ungünstige Kritik zu reagieren. Die Bernanos und seiner Aktualität gewährte (Be)Achtung gehört also zu seinem besonderen Interesse für die französische katholische Literatur. Sie spiegelt aber vor allem Gurians Konzeption der Literatur wider: Das Bernanos und seinem Engagement gewährte Interesse sowie die Kommentare und Analysen seiner ersten Veröffentlichungen zeigen die Heteronomie der Literatur für den katholischen Schriftsteller.

II. Im September 1926, nur fünf Monate also nach seiner Erscheinung in Frankreich, berichtete Waldemar Gurian bereits ausführlich über den ersten Roman von Georges Bernanos. Der Berichterstatter erklärt von Anfang an, welche Gründe ihn dazu geführt haben, sich für dieses Erstlingswerk zu interessieren: Nicht nur war der sofortige Erfolg des Buches, der seinen Autor umgehend in der »République des lettres«12 etablierte, auschlag7 Georges Bernanos, Die Sonne Satans: Ein Roman. Berechtigte Übertragung Friedrich Burschell, Jakob Hegner, Hellerau 1927. Gurian kündigt sie bereits vorab in der Rezension an. 8 Waldemar Gurian, »Unter der Sonne Satans«, Kölnische Volkszeitung Nr. 170, Sonntagsausgabe, 26. September 1926. 9 Georges Bernanos, Der Abtrünnige: Ein Roman. Übertragung Georg Moenius, Friedrich von Opelln-Branikowski, Jakob Hegner, Hellerau 1929. 10 Waldemar Gurian, »Der Abtrünnige. Ein neuer Roman von Bernanos«, Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik u. Wirtschaft, 4. Jahrgang Heft 11 / 12 (August / September 1929), 356 – 358. 11 Waldemar Gurian, »Untheologische ›Theologie‹ als Kampfmittel. Eine Entgegnung auf Dr. Frobergers Bernanos-Kritik«, Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik u. Wirtschaft, 5. Jahrgang Heft 3 (Dezember 1929), 101 – 102. 12 Gurian merkt so, dass innerhalb einiger Wochen ca. 50 000 Exemplare des Buches verkauft wurden und dass die Kritiker – aller Seiten – es einstimmig lobten. Cf. darüber Josef Jurt, La réception de la littérature par la critique journalistique. Lectures de Bernanos 1926 – 1936, Editions Jean-Michel Place (Paris 1980), 53 – 123.

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gebend, sondern auch und vor allem die Reihe, in der der Roman publiziert wurde. Folglich bezieht sich der Anfang seiner Rezension expressis verbis darauf: »Roseau d’or – so heißt eine Buchreihe, welche der Verlag Plon in Paris seit vorigem Jahr herausgibt«. Bemerkenswert ist außerdem, dass die beiden ersten Absätze des Artikels ausschließlich dieser Reihe gewidmet sind, und der Name Bernanos erst nach einer langen Einführung Erwähnung findet. Diese Darstellung, die nicht nur dazu dient, die intellektuelle Begegnung mit Bernanos zu präsentieren, sondern auch – und vor allem – die Verständnisbedingungen von Gurians Interpretationssystem zu erkennen, ist ganz eng mit einem Namen, nämlich dem Jacques Maritains verbunden. Voller Bewunderung konstatiert Gurian: »Sie [die Buchreihe] steht unter der geistigen Leitung Jacques Maritains, des großen katholischen Philosophen«13. Der französische Philosoph ist Gurian schon vor seiner Beschäftigung mit Bernanos vertraut: Er hatte bereits im März des gleichen Jahres einen langen Artikel über den thomistischen Philosophen, seine Gedankenwelt und sein Werk verfasst.14 Zudem schrieb er auch in der kulturellen Beilage der Germania eine Woche vor der Rezension von Sous le soleil de Satan einen ausführlichen Kommentar über den Briefwechsel zwischen Jacques Maritain und Jean Cocteau15. Die Reihe Le Roseau d’or existierte damals schon seit zwei Jahren und Bernanos Roman war der siebte Band. Diese Buchreihe war unter der Leitung von Jacques Maritain selbst als ästhetische und literarische, gegen die NRF gerichtete Gegenbewegung gegründet worden und unter ihren Herausgebern befanden sich berühmte Literaten wie Stanislas Fumet, Henri Massis oder Frédéric Lefèvre.16 Ihr Ziel war es, durch ein erweitertes Herausgeberschaftsprogramm, das auch die Chroniques du Roseau d’or17 sowie die Zeitschrift Vigile umschloß, Verbindungen zwischen der katholischen Tradition, der Literatur und den Künsten zu schaffen.18 Laut Michael Einfalt gilt sie vor allem als zusätzliche Waldemar Gurian, »Unter der Sonne Satans«. Waldemar Gurian, »Jacques Maritain«, Kölnische Volkszeitung Nr. 210, 21. März 1926. 15 Waldemar Gurian, »Der Dichter und der Philosoph. Der Briefwechsel CocteauMaritain«, Das neue Ufer, Kulturelle Beilage der Germania 38 (1926). 16 Cf. Michel Bressolette, »Jacques Maritain et Le Roseau d’or«, Littératures 9 – 10 (1984), Mélanges offerts au Professeur René Fromilhague (Publications de l’Université de Toulouse-Le Mirail), 291 – 297. 17 Von der Gurian flüchtig erwähnt, dass die letzte Ausgabe den ersten Teil des erst vier Jahre später veröffentlichten Soulier de satin von Claudel enthält: Gurian, »Unter der Sonne Satans«. In der Tat gab Claudel bereits 1925 in der Dezember-Ausgabe der Chroniques du Roseau d’Or die Seiten des Ersten Tages des Soulier de satin, an dem er seit 1919 arbeitete, heraus. Michel Bressolette, »Jacques Maritain et Le Roseau d’or«, 295. 13 14

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Strategie, um unmittelbaren Zugriff auf das literarische Feld zu nehmen und damit die Vorherrschaft des Geistigen über die Literatur zu begründen.19 Die Verbindung zwischen Bernanos, Gurian und dessen Literaturkonzeption liegt hierin: Seit einiger Zeit schon setzte sich Waldemar Gurian mit Jacques Maritain geistig auseinander, denn als Antwort auf die intellektuelle Krise der Zeit war er, der selber zum Katholizismus konvertiert war, von dem Thomismus dieses Bekehrten20 angezogen. Selbst wenn Gurian die französischen Kritiken über den ersten Roman von Bernanos mit in seine Rezension aufnimmt (»Meisterwerk«, »das bedeutendste literarische Ereignis der letzten Jahre«), so macht er dennoch daraus eine besondere, persönliche Lektüre, die sich von den französischen abhebt: Sous le soleil de Satan übertrifft für ihn bei Weitem die Comédie Humaine. Josef Jurt stellt in den 87 im selben Jahre in Frankreich veröffentlichten Rezensionen von Sous le Soleil de Satan in der Tat fest, dass Bernanos Werk von den Kritikern nie in Zusammenhang mit Balzacs Meisterwerk gesetzt wurde. Die französische Kritik assoziierte Bernanos lediglich mit Barbey d’Aurevilly (25 Mal) oder Bloy (16 Mal), der Name des Autors der Comédie Humaine wurde aber nie in Zusammenhang mit Bernanos erwähnt.21 Gurians Kritik ist also vollkommen originell und wohl begründet22: Ja, selbst die Romane eines Balzacs erreichen nicht die gleiche Tiefe – trotz ihrer magischen Elemente – wie das Werk Bernanos. Man kann die Behauptung wagen, 18 Cf. Veit Neumann, Die Theologie des Renouveau catholique, 186 – 191 und Michael Einfalt, Nation, Gott und Modernität. Grenzen literarischer Autonomie in Frankreich 1919 – 1929, Tübingen 2001, 333 – 343. 19 Michael Einfalt, »Jacques Maritain et le champ littéraire français des années 20 : catholicisme versus autonomie littéraire«, Regards Sociologiques 17 / 18 (1999), 137 – 147, hier 144. 20 Der Übertritt von Maritain zum Katholizismus fand übrigens unter doppeltem Einfluss statt: einem religiösen mit dem Abbé Clérissac, einem Wegbegleiter der Action française; aber auch einem literarischen mit Léon Bloy. Aufgrund Maritains Lektüre von Bloys La femme pauvre gilt dieser als Auslöser seiner Konversion und Bloy wurde sogar Maritains Pate. Gurian wird später die Briefe von Léon Bloy rezensieren und dabei auch seine Bewunderung ausdrücken: »Wer sie [die Briefe] gelesen hat, wird nicht mehr wagen, an der Echtheit Léon Bloys zu zweifeln, seiner Kritik der Zeit nur reine literarische Bedeutung zu haben«: Waldemar Gurian, »Die Briefe Léon Bloys an Jacques Maritain«, Werk und Wert, Literarische Beilage zur Germania 2 (1929). 21 Cf. Josef Jurt, La réception de la littérature par la critique journalistique, 88 – 90. 22 Der Einfluss von Balzac war nämlich für Bernanos, der mit dreizehn Jahren die komplette Comédie Humaine bereits gelesen hatte, ausschlaggebend. Außerdem glaubte Bernanos, dass die in der Jugend gemachten Erfahrungen für den Rest des Lebens prägend seien. Cf. Michael Kohlhauer, Bernanos und die Utopie, Marburger romanistische Beiträge 2, Marburg 1992, 95.

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daß es ihm gelungen ist, das Geheimnis der Gesellschaftswelt, die in der Comédie Humaine so unvergleichlich dargestellt wird, zu enthüllen: Der Ausgangspunkt des Sous le soleil de Satan besteht darin, sie in Frage zu stellen.23

Er preist Bernanos, da er mit seinem Werk den ausschlaggebenden Sinn der göttlichen Transzendenz tatsächlich beweist. Dabei ist er nicht nur Honoré de Balzac, sondern auch Marcel Proust weit überlegen. Der Autor von À la recherche du temps perdu scheint plötzlich farblos und die Psychologie seiner Werke scheint im Vergleich mit der Bernanos auch banal, ohne wirkliche Tiefe: Bernanos [… ] hat die entscheidende Bedeutung der Uebernatur für alles Sein gezeigt, also nicht nur als These verfochten – sondern in konkreten Situationen und an lebendigen Menschen unmittelbar anschaulich gemacht; wie blaß erscheint etwa die so vielgerühmte Psychologie eines Marcel Proust, die sich stets um menschliche Banalitäten dreht und der die letzte Tiefe fehlt, weil sie von Gott nichts weiß, neben der übernatürlich bestimmten seelischen Kämpfen im Romane von Bernanos.24

Auf dem Hintergrund dieses Vergleichs ist Gurians Lektüre von Sous le soleil de Satan voller Begeisterung, auch wenn er die in Frankreich um das Buch ausgelösten Kontroversen ebenfalls wiedergibt. Für ihn sind sie im Gegenteil das Zeichen des bewundernswerten Charakters von Bernanos Werk, das »große unerschöpfliche Reichtümer«25 birgt: Man fand es kompositionstechnisch betrachtet verkehrt, daß in ihm plötzlich die Figur des Skeptikers auftaucht. Aber ist dieser Schluß in Wirklichkeit nicht gerade ein frappanter Beweis für den glänzenden Aufbau des Romans? Mouchette, der vom Teufel besessenen Frau, der Repräsentantin ungeordneter Sinnlichkeit, steht Saint-Marin, der vom Teufel besessene Mann, der Repräsentant der ungeordneten Geistigkeit (die sich von ihrem natürlichen Objekt, der Wirklichkeit, getrennt hat) gegenüber. Anfang und Ende des Werkes zeigen in konkreten Gestalten die Sünde, gegen die Abbé Donissan kämpft. Nun wäre es aber auch falsch, zu meinen, Abbé Donissan sei für Bernanos die einzige Möglichkeit zum heiligen Leben – Bernanos kenne nur die zu Gott führende Unruhe. Gleich nach der Erscheinung des Teufels trifft Donissan einen einfachen Mann aus dem Volke, der sich durch nichts auszeichnet als durch treue Erfüllung seiner Alltagspflichten. Und von diesem Manne weiß Donissan gleich, daß er ein Gerechter ist.26

Die Kritiken an dem Aufbau des Buches werden von Gurian zurückgewiesen, da er – ganz im Gegenteil – für ihn den Interpretationsschlüssel des Romans darstellt. So ist der Prolog Histoire de Mouchette, der auf den ersten 23 24 25 26

Waldemar Gurian, »Unter der Sonne Satans«. Ibid. Ibid. Ibid.

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Blick überflüssig, ja sogar zwecklos erscheinen kann27, da Mouchette in den anderen Teilen des Romans keine bedeutsame Rolle spielt, im Gegenteil fundamental: Gurian unterstreicht, dass wie für Mouchette, von der niemand erkennt, wer ihr wahrer Herr ist, das Hauptproblem der zeitgenössischen Gesellschaft hier aufgeworfen wird: »Dieser Prolog zeigt nämlich mit einer geradezu erschreckenden Deutlichkeit, daß die Welt, die Gesellschaft nichts mehr vom Wesen der Sünde weiß und daß sie daher den Sünder nicht von seiner Besessenheit durch Satan, den Herrscher der Finsternis, zu befreien vermag«28. Und insbesondere das von Bernanos in seinen Roman eingeführte übernatürliche Element – Satan als Darstellung des Bösen – erlaubt es, überhaupt den problematischen Charakter, die Nichtigkeit der Welt, wie sie bei Balzac dargestellt wurde29, hervorzuheben. III. Ebenso wie das Böse ist das Übernatürliche ein Zentralelement in Bernanos’ Romanen und die Inkarnation des Heiligen gewährt seinem Werk einen Eigencharakter, von dem Gurian die Kraft und die Bedeutung für die irdische Welt unterstreicht und begrüßt: Der Heilige in der Welt ist für Bernanos nicht nur reine theoretische Forderung, sondern eine Realität. Gerade dadurch wird sein Roman zu einem heute besonders aktuellen Werke [ …] Damit sind wir an der Stelle angelangt, von der das neue Werk von Georges Bernanos als einer im Schrifttum unserer Zeit einzigartigen Erscheinung am deutlichsten zu sehen ist. Im Abtrünnigen wird der Sieg des Heiligen über das Böse in der Welt als Realität geschildert. Nicht als eine theoretische Fiktion, nicht in optimistischer Färbung: Denn er bleibt den Augen dieser Welt verborgen. Herr de Clergerie wird 100 Jahre alt, und seine Tochter stirbt eines peinlichen Todes – wenigstens für die Augen des Fleisches. Aber die aus den äußeren Vorgängen zu sprechen scheint, ist nicht das Wesentliche. Denn auch diese Welt lebt nur von der Gnade, die in Gestalten wie dem Abbé Chevance und Chantal de Clergerie wie ein Blitz in sie einbricht, um ihre Rettung vor dem Bösen kämpfend.30 27 Josef Jurt gibt so z. B. die in Le Correspondant vom 25. Juli 1926 erschienene Kritik des Père Tronquedec – von dem Gurian auch die Bernanos-Kritik gelesen hatte – wieder: »cette histoire de séduction et de meurtre aurait pu être sinon supprimée, du moins réduite«. Josef Jurt, »Une parole prophétique dans le champ littéraire«, Europe 789 – 790 (1995), 75 – 88, hier 79. 28 Waldemar Gurian, »Unter der Sonne Satans«. 29 »Erst das übernatürlich bestimmte Auge von Bernanos bemerkt die Fragwürdigkeit, die Nichtigkeit der Welt, wie sie etwa in der Comédie Humaine Balzacs dargestellt ist«, ibid. 30 Waldemar Gurian, »Der Abtrünnige. Ein neuer Roman von Bernanos«.

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Über die im August-September 1929 in Abendland erschienene Kritik der Übersetzung von L’imposture und La joie ist zu bemerken, dass das Werk an sich sowie dessen Übersetzung von Gurian besprochen werden. Er besteht zum einen darauf, dass die Übersetzung zu loben sei, er kritisiert aber auch scharf die Entscheidung, die beiden Romane in einen einzigen Band zusammenzufassen. Auch wenn La joie die bereits 1927 angekündigte Folge von L´imposture ist, handelt es sich hier tatsächlich um zwei durchaus verschiedene Romane. Die beiden in ein gemeinsames Buch zusammenzustellen und zu übersetzen, und dazu noch unter dem Titel Der Abtrünnige, ist also ein Schritt, den Gurian für sehr fragwürdig hält: Denn der Kampf um den Glauben des Abbé Cénabre, der das Thema des Werkes bildet, wenigstens den Vorwurf darstellt, um den sich seine zentralen Gestalten gruppieren und in ihrer Eigenart sichtbar werden, endet nicht mit einer Niederlage. Die übernatürliche Aufopferung seiner Gegenspieler, des demütige-kindlichen, seelendurchschauenden Abbé Chevance und seines Beichtkindes Chantal, der begnadeten Tochter des jämmerlichen, nur ein Scheinleben führenden Akademikers de Clergerie – die ein Kenner wie Pfarrer Mumbauer »eine der wunderbarsten Jungfrauengestalten der Weltliteratur« genannt hat – ist nicht vergeblich gewesen.31

Die Titelwahl ist nicht das Einzige, was Gurian den Übersetzern Friedrich von Opelln-Branikowski und dem Priester Georg Moenius vorhält. Georg Moenius selbst war außerdem auch Übersetzer und Kommentator von Henri Massis bei dem gleichen Verlag32, Herausgeber der katholischen Wochenschrift Allgemeine Rundschau, und Autor des ein Jahr zuvor erschienenen Buches, Paris, Frankreichs Herz33, das Gurian einige Monate früher schon sehr kritisiert hatte, aufgrund seiner zu engen Verbindung zwischen dem Klassizismus und dem Katholizismus, so wie es in der Doktrin der Action française zum Ausdruck kommt.34 Gurian bemängelt und bedauert mehrmals die in der Übersetzung erfolgten Kürzungen, da diese herausgeschnittenen Passagen von größter Bedeutung für das Verständnis Ibid. Henri Massis, Verteidigung des Abendlandes, Einführung u. Übers. v. Georg Moenius, Jakob Hegner, Hellerau 1930. 33 Gregor Moenius, Paris, Frankreichs Herz, München 1928. Cf. über Moenius Gregory Munro, »Georg Moenius«, in: Jürgen Aretz, Rudolf Morsey, Anton Rauscher (Hgg.), Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhundert (Zeitgeschichte in Lebensbildern 10), Münster 2001, 131 – 141. 34 Waldemar Gurian, »Das Frankreichbuch von Georg Moenius«, Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik u. Wirtschaft, 4. Jahrgang Heft 7 (April 1929), 220 – 221. Wohlgemerkt ist dieses Buch der Bericht einer Frankreichreise aus dem Jahre 1927, während der Moenius zahlreiche Freundschaften knüpfte, gerade besonders in den literarischen Kreisen der Action française. Cf. Gregory Munro, »Georg Moenius«, 133. 31 32

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der spezifischen Besonderheiten von Bernanos’ Werk sind. Der zweite Teil des Romans, in dem Pernichon eine zentrale Rolle spielt, ist beispielsweise in der deutschen Übersetzung herausgenommen – die Nachricht seines Suizids ist nur en passant erwähnt –, obwohl die Figur Pernichons doch eine grundlegende Bedeutung besitzt. Pernichon stellt nämlich das Spiegelbild und Pendant von Abbé Cénabre dar, was dazu führt, den Kleriker zu demaskieren: Pernichon ist der Entlarver von Abbé Cénabre, der bis vor seinem Unglauben durch ein System kunstvoller Selbsttäuschungen, durch eine geschickt verborgene Flucht vor der Selbsterkenntnis geflohen ist. [ …] Pernichon ist die Entsprechung zu Abbé Cénabre, der Spiegel, in dem er sich selber erkennt – gewiß verzerrt, karikiert, der natürlichen Größe und Intelligenz entbehrend – aber was macht das auch? Pernichon ist nur eine Modifikation seines Wesens. Und dadurch zwingt er Abbé Cénabre, jene Selbstanalyse zu vollziehen, die er von Pernichon so schonungslos verlangt hatte.35

Vor dem Hintergrund der Kürzungen betont Gurian zudem, dass die Verständlichkeit für die deutschen Leser überwiegend nicht gegeben sei, da es ihnen an Möglichkeit fehle, die Aktualität von Bernanos Werk, das eben in einem ganz bestimmten Kontext verankert ist, zu fassen. So führt der Fakt, dass die Figur des Mgr. Espelette wegen der Auslassungen nur am Rande der deutschen Fassung Erwähnung findet, dazu, sich als Leser nicht mehr für ihn zu interessieren, obwohl er eigentlich Mgr. Jullien, den Bischof von Arras, verkörpern soll. Somit könnten die deutschen Kommentatoren, seien sie mehr oder weniger Experten der choses françaises, im Gegensatz zu den französischen Lesern die verwendeten Referenzen und Analogien oft nicht verstehen. Dahingegen konnten die französischen Kritiker Bernanos’ Werk im Schein seiner sofort erkennbaren Sympathien für die Action française – auch nach der päpstlichen Verurteilung – rezensieren und kommentieren. All das – sowie auch die Ähnlichkeit zwischen dem Abbé Cénabre und dem Abbé Bremond – entging aber meist den deutschen Kritikern.36 Die Veröffentlichung von Der Abtrünnige erregte die Gemüter und führte zu weiteren Kommentaren37, wie dem eines Priesters elsässischer HerWaldemar Gurian, »Der Abtrünnige. Ein neuer Roman von Bernanos«. »Wie wenig es auf sie [alle aktuellen Anspiegelungen, die der französischen Kritik verständlicherweise besonders aufgefallen sind] ankommt – der uneingeweihte Leser merkt sie gar nicht –, beweist die Tatsache, daß Kritiker wie Pater Muckermann S.J., Gottfried Hasenkamp und Pfarrer Mumbauer, von den Action-française-Sympathien Bernanos gar nicht reden«, ibid. 37 Cf. Nathalie Mälzer-Semlinger, Die Vermittlung französischer Literatur nach Deutschland zwischen 1871 und 1933, Inauguraldissertation am Fachbereich Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, 2009, 251sq. 35 36

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kunft, Josef Froberger38, einstiger Provinzialsuperior der Missionsgesellschaft der Weißen Väter, ehemaliger Redakteur der Kölnischen Volkszeitung sowie Mitarbeiter der Zeitschrift Der Gral und seit 1910 Publizist in Bonn.39 Diese Stellungnahme führte Gurian dazu, vehement zu reagieren und dabei Bernanos in Schutz zu nehmen. Als Gegner Bernanos’ bezieht sich Froberger in seinem in der Sonntagsbeilage der Kölnischen Volkszeitung erschienenen Artikel sowohl auf Unter der Sonne Satans als auch auf Der Abtrünnige und wirft dem französischen Schriftsteller vor, einen Standpunkt zu vertreten, der der Kirche nicht gerecht wird. Aus diesem Grund bedauert Froberger heftig die in Deutschland für Bernanos ausgelöste Bewunderung: »Man ist leider in weiten katholischen Kreisen Deutschlands in eine Verhimmelung des Romans ›Der Abtrünnige‹ verfallen«40. Dabei hält er Bernanos sowohl literarische Argumente entgegen – wie beispielsweise die Erfindung abstrakter und psychologisch gestörter Figuren – als auch religiöse Argumente, nämlich die einer allzu sehr persönlichen und vor allem irrigen Vorstellung Gottes: Der Dichter sieht nämlich keine konkreten Menschen, wie sie sich in der Wirklichkeit bewegen, sondern er konstruiert eine übertreibende These, der er Menschen anpaßt […] Außerdem befinden sich die Menschen, die Bernanos darstellt, vielfach in einem Zustande geistiger Gestörtheit oder mindestens in einem Zustande hochgradiger Ueberspannnung. [ …] Bernanos hat überhaupt eine eigene Auffassung von Gott. Für ihn ist Gott ein strenger Herr, dem man nur in Furcht und Zittern dienen darf. Er kennt nur jene Ausdrücke der Heiligen Schrift, die für eine solche Auffassung zu sprechen scheinen […]. Er glaubt, seine Gottesidee im Alten Testament bestätigt zu finden, er reißt Stellen aus dem Zusammenhange, die nicht das beweisen, was er in sie legt. [ …] Bernanos führt einen leidenschaftlichen Kampf gegen alle religiöse Sentimentalität [ …] Er will das Dämonische in der jetzigen Welt aufdecken, er sieht den Satan an allen Orten am Werke.41

Gurian reagiert heftig auf das, was er als Angehöriger des von Froberger angegriffenen Bernanos-Verehrerkreises als Verleumdung betrachtet.42 Eine Liste von Kritikern43, die Bernanos’ Werken zugetan sind, gilt Gurian als 38 Josef Froberger, »Die Theologie von Georges Bernanos«, Kölnische Volkszeitung: Im Schritt der Zeit, 3. November 1929. 39 Cf. Konrad Feilchenfeldt (Hg.), Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert, Bd. X, Zürich / München 2007, 146 – 147. 40 Josef Froberger, »Die Theologie von Georges Bernanos«. 41 Ibid. 42 Waldemar Gurian, »Untheologische ›Theologie‹ als Kampfmittel. Eine Entgegnung auf Dr. Frobergers Bernanos-Kritik«. 43 Er zitiert so z. B. den Pater Mumbauer, der gerade als Bezug für Froberger galt, und unterstreicht dabei, wie positiv seine im Literarischen Handweiser erschienene

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Ausgangspunkt seiner Erwiderung und soll dazu führen, Frobergers Kritik als isolierte Stimme in der deutschen katholischen Landschaft zu deklarieren und zu verurteilen. Als Antwort gegen die Vorwürfe, die die Orthodoxie von Bernanos in Zweifel ziehen, führt Gurian mangelnde theoretische Argumentation ins Feld. Frobergers Vorwürfe seien lediglich die Illustrierung einer einzelnen persönlichen Meinung und stünden ohne jeglichen Zusammenhang mit der Kirchenlehre: »Die Überschrift Theologie dient dazu, höchst private, jedenfalls mit der Lehre der katholischen Kirche in keinem Zusammenhang stehende Meinungen den katholischen Lesern vorzubringen«44. Bernanos’ Befürworter beurteilt diese Methode, ganz im Gegenteil, als gefährliche Methode und sieht darin eine betrügerische Aneignung der kirchlichen Autorität, die der Kirche nur Schaden zuführen könne: »Kompromittiert es nicht die katholische Theologie, wenn in ihrem Namen rein zeitgeschichtliche und ästhetische Urteile gefällt werden[?]«45. Gurians Erwiderung ist grundlegend katholisch, er sieht sich als Verfechter sowohl der katholischen Kirche als auch einer Haltung, die Bernanos in seinen Romanen der Gnade und dem Heiligen gegen das Böse zuschreibt. Sie sollen dazu dienen, die zeitgenössische Welt zu erläutern und zu verstehen und sind für ihn zudem äußerst legitim. Nirgends versündigt sich Bernanos gegen die Kirche oder ist der Heterodoxie schuldig: »Und wenn Froberger Bernanos den Rat gibt, den Teufel zuerst sonstwo in der weiten neuheidnischen Welt zu suchen als ihn gleich in das Heiligtum der Kirche zu verpflanzen (!), so kann man ihn nur bitten, Das Leben des heiligen Pfarrers von Ars, das der Theologe Trochu verfaßt hat […] zu lesen. Dort findet sich ein ganzes Kapitel: Der Pfarrer von Ars und der Teufel«46. Entgegen Frobergers Anschuldigungen zeigt also Bernanos in seinen Romanen laut Gurian den wahren Weg auf, dem es zu folgen gilt. IV. Waldemar Gurian liest und rezensiert Bernanos Romane als ausgemachter Katholik, der von der Rolle der Literatur als Ausweg aus der europäischen geistlichen Krise der Zeit überzeugt ist. Wie Heinz Hürten bemerkt, glaubte Gurian trotz seiner Bewunderung und seines Enthusiasmus für das französische renouveau catholique nicht an eine rasche und wesentliche Kritik für Bernanos war. Die Kritik in der Bücherwelt von Kaplan Mecklenbeck wird ebenso erwähnt wie die von Pater Pfleger in Hochland, Ibid. 44 Ibid. 45 Ibid. 46 Ibid.

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politische und religiöse Wende in Frankreich.47 Ziel Gurians war nicht nur, ein geistiges Vorbild zu schaffen, sondern mit Bernanos auch die Legitimität der katholischen Literatur und infolgedessen auch ihre nötige Heteronomie der göttlichen Transzendenz gegenüber zu beweisen. Maritain, Gurians Vorbild überhaupt48, weist der Kunst und der Literatur die präzise Funktion zu, Ausdruck von Gottes Ehre zu sein und der einzigen katholischen Wahrheit untergeordnet zu sein.49 Auch für Gurian soll sich demnach die Literatur dem Vorrang des Geistlichen unterwerfen.50 Die Schlussbetrachtung seiner Rezension des Briefwechsels zwischen Maritain und Cocteau erklärt den in seiner Bernanos Rezeption gelesenen Enthusiasmus: Ich wüßte kein zweites Dokument unserer Zeit, das gleich klar, entschieden und machtvoll wie der Briefwechsel Cocteau-Maritain dem Künstler gerade als Künstler sagt: Ob du es willst oder nicht, du schaffst nach dem Bilde der Schöpfung Gottes. Willst du dich vernichten, so stelle die Kunst in den Dienst des Nichts. Willst du dich bewahren, so erkenne die Kraft, aus der heraus du schaffst, das ewige Leben, ohne das die Schöpfung aufhören würde, zu sein!51

Und die Romane von Georges Bernanos verkörpern bestens diese Unterwerfung. Wie er es selbst erkennt, gehört Waldemar Gurian bereits seit der Veröffentlichung von Bernanos’ erstem Roman zu seinen Verehrern. Der Grund dafür ist klar: Die Kraft seiner Botschaft macht aus ihm einen Autor, der den anderen überlegen ist. Für Gurian verkörpert Bernanos den katholischen Schriftsteller schlechthin, obwohl er auch zugibt, dass Bernanos’ Romane wegen ihrer Komplexität nicht für alle Leser bestimmt und zugänglich sind. Sie folgen nicht dem Kanon des traditionellen Romans: »Es geht Bernanos nicht darum, den Leser für einige Stunden angenehm zu unterhalten und ihm nebenbei – wie es etwa bei Bordeaux oder Bourget der Cf. Heinz Hürten, Waldemar Gurian, 27. »Hoffentlich ist es [ …] gelungen, zu zeigen, welche Bedeutung Maritain nicht nur für das französische, sondern auch für das deutsche Geistesleben hat. In ihm besitzt unsere Zeit einen Thomisten, für den der Thomismus lebendige Gegenwart ist. Seine Werke sind vielleicht wie keine anderen der Gegenwart geeignet in die philosophia perennis einzuführen«, Waldemar Gurian, »Jacques Maritain«. 49 Michael Einfalt, »Jacques Maritain et le champ littéraire français des années 20«, 147. 50 »Eine für sich bestehende Literatur gibt es nicht. Nicht als ob die Literatur Dienerin ausserkünstlerischer Zwecke sei. Aber sie ist unmöglich keine Literatur, die ihren Namen verdient, weil sie nicht mehr vom Wissen getragen ist, dass sie den Zugang zu einer objektiven Welt vermittelt; dass sich in ihr die Symbolik und Schönheit und Form der Schöpfung Gottes zeigt«, Waldemar Gurian, »Bloy, Maurras, Maritain. Ein Nachwort«, Orplid 3 (1926 / 27), 57 – 66, hier 66. 51 Waldemar Gurian, »Der Dichter und der Philosoph. Der Briefwechsel CocteauMaritain«. 47 48

Waldemar Gurian als Leser von Georges Bernanos

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Fall ist – einige ernste Wahrheiten zu vermitteln«52. Und somit wird Bernanos als ein nicht nur für die Literatur, sondern auch für die Welt, wie sie tatsächlich ist, nötiger Schriftsteller wahrgenommen: Seine Siege des Heiligen gegen das Böse sollen die Leserschritten lenken und den richtigen Weg weisen. Er personifiziert so die Kräfte des katholischen Schriftstellers, denn seine Romane symbolisieren das, was der katholische Roman sein soll.53 Zusammen mit Léon Bloy, der mit seinem Symbolismus und seiner Aversion gegen das Bürgertum eine starke Anziehungskraft auf Waldemar Gurian ausübte, und mit Paul Claudel, der für ihn den katholischen Dichter als geistlichen Führer heiligte54, nimmt Georges Bernanos, mit seiner Fähigkeit, die Realität mit seinem katholischen Glauben voll und ganz wiederzugeben, eine wesentliche und entscheidende Stelle für Gurian ein.

Waldemar Gurian, »Unter der Sonne Satans«. »Und zwar werden [zentrale Ereignisse] nicht nur (wie etwa bei Mauriac) psychologisch, als Voraussetzungen der Charaktere mit einer ›katholischen Sensibilität‹ (die nur negativ als unbestimmtes Sündenbewußtsein zum Ausdruck kommt, wie etwa in Greens Romanen als Tragik der in der Immanenz bleibenden Leidenschaften) behandelt, sondern sie stehen direkt im Mittelpunkt des Werkes. Die übernatürliche Welt der Kirche soll also in ihnen erfaßt werden. [ …] Die Helden seines Werkes sind lebendige Menschen, nicht nur typologische Figuren«, Waldemar Gurian, »Der Abtrünnige. Ein neuer Roman von Bernanos«. 54 Cf. Heinz Hürten, Waldemar Gurian, 26 f. 52 53

»Apocalypse Now«. Endzeitvisionen im Werk von Friedrich Dürrenmatt, Günter Grass und Michael Cordy Von Christoph Bartscherer Apokalyptische Daseinsentwürfe, also Visionen von Weltuntergang und Gottesherrschaft, haben die Menschen seit jeher fasziniert. Trotz unterschiedlicher historischer Ausgangslage haben sie das menschliche Geschichtsdenken immer wieder nachhaltig beeinflusst. Im abendländischen Raum haben sie ihren Ursprung in der frühjüdischen Apokalypse des Buches Daniel, dem Weltende-Monolog Jesu und der Offenbarung des Johannes. Von diesen Frühformen aus vermochte sich das apokalyptische Erlösungsmodell – mit seinen beiden Polen Untergang und Neuanfang – als zeitübergreifendes Instrument historischer Sinnstiftung kontinuierlich zu behaupten. Vor allem an markanten Wendezeiten der Geschichte wie den Jahrhundert- und Jahrtausendschwellen, aber auch in äußeren Krisensituationen wie Krieg und Verfolgung, erfreuten sich apokalyptische Themen einer erstaunlichen Virulenz.1 Davon vermögen besonders die zahlreichen Realisierungen auf dem Gebiet der Literatur- und Kunstgeschichte ein beredtes Zeugnis abzulegen. Apokalyptisch war nicht nur der Ausbruch nationaler Emotionen gegen Napoleon, wie er sich in der Literatur der Romantik niederschlug.2 Apokalyptisch war auch die Symbolik der Expressionisten mit ihren Visionen vom Weltende und vom neuen Menschen3 sowie die Texte der inneren Emigration, die nach 1945 den Einbruch des Bösen in die Geschichte mit endzeitlichen Deutungsmustern zu erklären suchten.4 Und auch heute haben apokalyptische Untergangsszenarien wieder Kon1 Vgl. Wolfgang Frühwald, »Einleitung zum Symposium Apokalypse und Antichrist in der europäischen Literatur«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 29 (1988), 219 – 223, hier 219. 2 Vgl. Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland (dtv 4488), München 1988, 152 ff. 3 Vgl. Detlev Dormeyer / Linus Hauser, Weltuntergang und Gottesherrschaft (Topos-Tb. 196), Mainz 1990, 26 f. 4 Vgl. Karl-Josef Kuschel, Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Serie Piper 637), München 1987, 30 ff. und 68 ff.

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junktur. Die ungezählten Untergangsängste, die in den letzten drei Jahrzehnten durch die deutsche Literatur geisterten, belegen dies nachdrücklich. Günter Grass’ Die Rättin und Christa Wolfs Störfall – beides dystopische Entwürfe einer atomaren Selbstzerstörung der Menschheit – stellen dabei nur die prominente Spitze eines beträchtlichen Eisbergs dar.5 Doch worin besteht eigentlich der Reiz apokalyptischer Erklärungsmodelle? Welchem Umstand verdanken sie ihre verblüffende Attraktivität? Offensichtlich entsprechen apokalyptische Deutungen dem menschlichen Bedürfnis, das aktuelle Zeitgeschehen geschichtlich zu orten und die Angst vor dem Kommenden symbolisch zu verarbeiten. Apokalypsen sind Versuche, durch symbolisches Sprechen Ereignisse verständlich zu machen, ihren Sinn zu deuten und dadurch Orientierung zu vermitteln. Sie erfüllen die Funktion der Sinnstiftung. Durch sie wird der eigene Ort im Geschichtsverlauf bestimmt und das Ziel der Geschichte vorgegeben.6 Wer indessen nach einer festen Struktur oder Typologie apokalyptischen Denkens forscht, dem wird zunächst sein dualistischer Grundzug ins Auge stechen. Immer wieder ist es der Dualismus von Gut und Böse – von Gott und Satan, dem Lamm und dem siebenköpfigen Tier –, ist es der Gegensatz von Untergang und Erneuerung, von Weltgericht und neuem Jerusalem, die das apokalyptische Geschichtsmodell konstituieren. Der Dualismus zwischen dem Heute und dem Morgen, zwischen der alten und neuen Welt, ist dabei durchaus qualitativ gemeint und birgt entsprechende moralische Implikationen. Die alte Welt ist defizient, voll Elend, Schmerz und Tod, sie ist verdorben und böse. Die neue Welt ist vollkommen, rein und gut, sie ist eine Welt des Glücks, der Freude und des Lebens. Um dieses moralische Spannungsgefälle aufzulösen und mit einem Ziel zu versehen, passt es der Apokalyptiker in ein bipolares Zeitsystem ein: Er konstruiert ein Vorher und Nachher, zwischen denen es keine Vermittlung, sondern nur einen radikalen Umschlag, nämlich die umfassende Erneuerung des Seins durch die Vernichtung des Alten gibt.7 Diese antithetische Grundstruktur veranlasste den Literaturwissenschaftler Klaus Vondung, den Apokalypsebegriff als ein Spannungsverhältnis zwischen den Polen von innerweltlicher Defizienz einerseits und transzendenter Fülle andererseits zu definieren.8 Der Schwerpunkt des durch das apokalyptische Szenario beschriebenen Entwicklungsprozesses liegt dabei 5 Vgl. Karl-Josef Kuschel, Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1997, 81 ff. 6 Vgl. Vondung, 114 ff. 7 Ibid., 20 ff. 8 Ibid., 64 f.

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eindeutig auf dem Pol der Fülle. Auf ihn zielt das apokalyptische Geschehen. Denn er symbolisiert jenen Zustand zeitüberwindender Transzendenz, in dem die Grenze der Kontingenz überschritten und der Zustand geschichtsloser Glückseligkeit für immer erreicht wird. Was damit gemeint ist, erläutert Klaus Vondung wie folgt: Während das Erzählen von Geschichte sich von einem Anfang zu einem Ende bewegt, das Erzählen der Heilsgeschichte gar von dem Anfang zu dem Ende, beginnt die apokalyptische Vision mit dem Ende und endet mit dem Anfang. Sie beginnt mit dem Ende der bisherigen Geschichte; nur dies Ende ist wichtig, die frühere Geschichte verliert sich aufgrund ihrer Sinnlosigkeit im Dunkel des Desinteresses. Und sie endet mit dem Anfang, nämlich dem Anfang der neuen, vollkommenen Existenz, die sich in die Zeitlosigkeit ohne Ende erstreckt.9 (Hv. Vondung)

I. »Wir sind die Herren der Apokalypse« – Grundsätzliches zum Thema Weltuntergang in der Gegenwartsliteratur Auffällig ist nun, dass in der Gegenwartsliteratur die dualistische Grundkonstitution des apokalyptischen Geschichtsdenkens vernachlässigt wird. Die dem biblischen Apokalypsemodell inhärente Spannung von innerweltlicher Defizienz und transzendenter Fülle, die die Simultaneität von Vernichtung und Erlösung, alter und neuer Zeit, Untergang und Neuanfang garantierte, wird aufgegeben und in Richtung eines universalen Untergangsszenarios vereinseitigt: Anstelle der Neuschöpfung im Zeichen der Fülle, des Aufgehens eines neuen paradiesischen Menschheitssterns, tritt in der deutschen und europäischen Gegenwartsliteratur der irreversible Urknall, das tödliche Licht der Selbstvernichtung. War noch in den literarischen Untergangsvisionen des Renouveau catholique nach 1945 die Apokalypse ein Zerreiß- und Umschlagpunkt, an dem alle bisherige Geschichte vernichtet wurde, um Raum für eine zeitlose, außerhalb der Geschichte stehende Zeit göttlicher Erfüllung zu schaffen, so erscheint sie in der Gegenwart nur noch als Chiffre endgültiger Zerstörung: Die zukunftsweisende »Sinnfigur des ›Danach‹«, die sich in der neutestamentlichen Vision eines kommenden Friedensreichs ankündigt, hat sich verflüchtigt, die »Idee einer regulativen Zeitenfolge« ist hinfällig geworden. Die sündhafte Welt wird nicht durch die Apokalypse und die Apokalypse nicht durch das himmlische Jerusalem abgelöst.10 Karl-Josef Ibid., 97. Vgl. »Einleitung zu Apokalypse. Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts«, hg. Gunter G. Grimm, Werner Faulstich, Peter Kuaon (st 2067), Frankfurt am Main 1986, 7 – 13, hier 8 f. 9

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Kuschel umreißt den zutiefst pessimistischen Grundansatz gegenwärtiger Apokalypse-Rezeption treffend, wenn er bilanziert: Aus dem biblischen Motiv der Apokalypse hat die moderne Literatur inhaltlich weder die göttliche Gerichtsdimension noch […] die Hoffnungsperspektive für einen ›neuen Himmel und eine neue Erde‹ rezipieren können. Rezipiert aber wurde die universale Perspektive apokalyptischen Denkens: ein Gefühl für die fortgeschrittene Bedrohung der Menschheit als ganzes, eine Sensibilität für die unausweichlich scheinende Angst vor dem Untergang der Welt, die potentielle Auslöschung der Schöpfung schlechthin in einem Szenario, das die Apokalypse des Johannes in der Tat als das aktuellste Buch auch in der heutigen Literatur erscheinen läßt.11

Hintergrund dieser Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit ist das gigantische Bedrohungspotential, das die Menschheit in den letzten Jahrzehnten durch ihre blauäugig-naive Technikbegeisterung, rücksichtslose Ausbeutung der Natur und politische Unvernunft heraufbeschworen und als unausweichliches Strafgericht über sich selbst verhängt hat. Ob abruptes Nuklearinferno, ob schleichendes Ende durch eine globale Klimakatastrophe oder grimmiger Hungertod durch die voranschreitende Bevölkerungsexplosion – was bedeutende Schriftsteller fast aller Kulturnationen dazu antreibt, sich mit dem Thema Weltuntergang auseinandersetzen, ist das Bewusstsein, dass die Geschichte der Menschheit an ihr Ende gekommen ist und unausweichlich auf eine militärische, ökologische oder demographische Katastrophe: ein Endzeitszenario ohne die Möglichkeit einer Umkehr, zusteuert.12 »Die Sintflut ist machbar, der globale Holocaust herstellbar, die Apokalypse geschichtlich planbar geworden«13 – und zwar durch den Menschen selbst. Das ist die bittere Erkenntnis, die Autoren wie Rolf Hochhuth, Günter Grass, Christa Wolf und Günter Kunert erschreckend klar vor Augen steht. Der heutige Mensch bedarf also gar keiner göttlichen Instanz mehr, die über sein sündiges Tun richtet, da er durch sein blindes Vertrauen in die Technik der Allmacht der Maschine Vorschub geleistet und sich längst selbst gerichtet hat. Vom technischen Fortschritt überrollt, wird er zum Sklaven seiner eigenen Erfindungen oder, mit den Worten von Günther Anders gesprochen: »Die prometheisch seit langem ersehnte Omnipotenz ist, wenn auch anders als erhofft, wirklich unsere geworden. Da wir die Macht besitzen, einander das Ende zu bereiten, sind wir die Herren der Apokalypse.«14 11 Karl-Josef Kuschel, »Apokalypse«, in: Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Formen und Motive, hg. Heinrich Schmidinger, Mainz 1999, 543 – 568, hier 566. 12 Einleitung zu Apokalypse, 7. 13 Vgl. Kuschel, »Apokalypse«, 556.

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In dieser Zeitdiagnose von Günter Anders klingt an, was für die skeptische Grundstimmung der Gegenwartsliteratur bezeichnend ist: der Verlust des heilsgeschichtlichen Urvertrauens und damit die Unmöglichkeit eines durch Gott gesetzten Neuanfangs. Apokalyptische Literatur im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert hat sich aus dem Horizont der Bibel gelöst, hat deren heilsgeschichtliche Zielgerichtetheit säkularisiert und ihre Dynamik ins Weltliche verschoben, um den Unheilszusammenhang menschlichen Handelns sichtbar zu machen. Die Schreckensvision eines von Gott verlassenen und dem Nichts verfallenen Weltalls, wie sie Jean Paul in seiner Rede des toten Christus entwirft, ist zum Ausgangspunkt ihres endzeitlichen Denkens geworden. Und die von Heinrich Heine ausgegebene und von Friedrich Nietzsche aufgegriffene Parole vom Tod Gottes hat sich in ihr so nachhaltig sedimentiert, dass in den von ihr entwickelten Endzeitszenarien an die Stelle Gottes der seinen Schöpfer nachahmende Mensch getreten ist. Doch da ihm der Versuch, sich mit Hilfe der Technik die göttlichen Attribute der Allgegenwart, Allwissenheit und Unsterblichkeit anzueignen, nur partiell gelingt, kommt er über den Status eines unvollkommenen Retorten- und »Prothesengott[s]«15 (Sigmund Freud) nicht hinaus. Entsprechend fehlt dem von ihm selbst herbeigeführten Weltuntergang auch die Grandezza des heilsgeschichtlichen Finales: Harmagedon, die apokalyptische Entscheidungsschlacht zwischen Himmel und Hölle, verkommt in den literarischen Untergangsvisionen der Gegenwart zur Farce des entthronten Menschengottes, der seine hybriden technischen Allmachtsträume mit einem totalen und irreversiblen Akt der Selbstauslöschung bezahlen muss. In seinem Zeitungsessay Zur Apokalypse. Eine Strafpredigt hat Günter Kunert diesen Gedanken im Rückbezug auf die Johannesapokalypse mit den Worten umrissen: Gott ist verstummt, wie wir wissen, und hat sich von uns abgewandt, da wir es unternommen haben, uns an seine Stelle zu setzen. Und wir haben es geschafft. Die von uns erzeugten Wunder sind erstaunlicher als die einst von ihm verursachten. Ja, sie sind eigentlich gar keine Wunder mehr, sondern nur noch gelungene Problemlösungen im Reich der Naturwissenschaften. Die Wiedererweckung der Toten findet längst auf den Intensivstationen unserer Kliniken statt. Und Blinde sehen und Lahme gehen zu machen erreicht die mit der Medizintechnik verbündete Chirurgie am laufenden Band. Wir erheben uns in die immer leerer werdenden Himmel. Wir psychiatrieren von Dämonen Besessene. Purgatorium und Inferno stellen wir mittels Atomkraft her. Und wenn wir wollten, so könnten wir mit 14 Günther Anders, »Über die Bombe und die Wurzeln unserer ApokalypseBlindheit«, in: ders., Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, 239. 15 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Studienausgabe, hg. Alexander Mitscherlich u. a., Bd. IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, 7. Auflage Frankfurt am Main 1994, 222.

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einem Knopfdruck die ganze Schöpfung verschwinden lassen, und zwar in weniger als in sieben Tagen und in sieben Stunden. Nichts ist uns unmöglich, oder doch fast nichts. Wir sollten uns da nicht für gottgleich halten?16

Das traditionelle – biblische – apokalyptische Geschichtsdenken setzt die heilsgeschichtliche Betrachtungsweise voraus. Geschichte erhält einen Sinn, indem sie als eine von Gott gelenkte Kette von Ereignissen von der Schöpfung bis zur Erlösung gedeutet wird. Der Weltuntergang wird gemäß diesem Geschichtsmodell als eine von Gott gesetzte Tat gedacht. Das 18. Jahrhundert bricht mit dieser heilsgeschichtlichen Tradition. Jetzt wird Geschichte als menschlicher Selbstverwirklichungsprozess verstanden und damit die Apokalypse in die Verfügungsgewalt des Menschen gegeben. »Im Zeitalter der Aufklärung«, so die Herausgeber des Sammelbandes Apokalypse zu »Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts«, löst das optimistische Dogma von der Erziehbarkeit des naturhaft guten Menschen das eschatologische Trauma vom schwachen, zur Sünde prädestinierten Menschen ab. Die Aufklärung transportiert die messianische Hoffnung ›künftiger besserer Zeiten‹ ins Diesseits, gleichsam als säkularisierte Heilsgeschichte. Das 19. Jahrhundert bindet diese Aufwertung der menschheitlichen Position an den technischzivilisatorischen Fortschritt, an die Stelle einer eschatologischen Gottesreichhoffnung tritt eine innerweltliche, sozial und eudämonistisch definierte Erwartung.17

Auf welch brüchigem Boden dieses von menschlichen Allmachtsphantasien getragene Wunschdenken tatsächlich fußte, zeigte das 20. Jahrhundert, das sich als eine Offenbarung ganz anderer Art erwies: Wir heutigen sind zwar Erben dieser Aufwertung des Menschen, aber die Fortschrittsgewissheit hat sich seither gravierend relativiert. [ …] So hat sich im 20. Jahrhundert die Ambivalenz der Aufklärung ernüchternd manifestiert; Skepsis, ja Pessimismus, aus der Freiheit zur Selbstverwirklichung werde eine Freiheit zur Selbstvernichtung, gewinnt an Boden.18

II. »Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe« – Apokalyptisches bei Friedrich Dürrenmatt Dass die gegenwärtige Menschheit tatsächlich im Begriff steht, sich selbst zu vernichten, hat nach 1945 kein Autor mit solcher Logik und Stringenz zum Ausdruck gebracht wie der Schweizer Erzähler und Dramatiker Fried16 Günter Kunert, »Zur Apokalypse. Eine Strafpredigt«, Neue Rundschau 101 (1990), 19 f. 17 Einleitung zu Apokalypse, 8. 18 Ibid.

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rich Dürrenmatt. Die apokalyptischen Bestandaufnahmen und Visionen Dürrenmatts sind auch heute noch so beklemmend aktuell, weil es dieser bereits 1990 verstorbene Autor wie kein Zweiter verstanden hat, die politischen Menetekel der Gegenwart zu deuten und den Irrwitz einer systematisch auf ihren eigenen Untergang zustrebenden Menschheit literarisch darzustellen. So hatte Dürrenmatt zum Beispiel diagnostiziert, dass die atomare Abschreckungspolitik die Gefahr eines »Menschheits-Auschwitz« berge, weil es historisch erwiesen sei, dass sich die Atommächte »mindestens zwölf mal« gefragt hätten, »ob man Atomwaffen anwenden soll« oder nicht.19 Zwar sei die Abschaffung der Bombe eine Illusion. Denn zum einem sei die Aufrüstung ein enormer Wirtschaftsfaktor, der Unsummen von Geld einbringe: »An der Aufrüstung sind international 100 Millionen Menschen beteiligt. Weltuntergänge sind teuer und arbeitsstiftend.«20 Zum anderen sei es utopisch, die naturwissenschaftliche Erkenntnis zurücknehmen, die Bombe abschaffen und sich in ein ökologisches Paradies einspinnen zu wollen: »Es gibt keine Möglichkeit, Gedanken, die einmal gedacht sind, zurückzunehmen. Sie dringen immer wieder durch. Es gibt also keine Rückkehr zu Paradiesen.«21 Was aber durchaus im Bereich des Machbaren liegt, ist, »den ungeheueren Zerstörungsprozeß, der sich heute vollzieht, zu bremsen«22 und zu verlangsamen. Durch entsprechende Abrüstungsverhandlungen hätten wir es selbst in der Hand, den seidenen Faden, an dem das »Damoklesschwert« der Atombombe über unseren Häuptern hängt, durch ein »Drahtseil« zu ersetzen.23 Eine allzu optimistische Einschätzung der Lage hält Dürrenmatt allerdings für unangemessen – und das aus zwei Gründen. Denn erstens hat nicht nur die atomare Aufrüstung, sondern der gesamte durch uns ausgelöste Zerstörungsprozess – einschließlich Umweltverschmutzung, Klimawandel und Bevölkerungsexplosion – eine solch große Eigendynamik erreicht, dass alle Gegenmaßnahmen bereits »zu spät«24 sind und die Katastrophe im Grunde unausweichlich ist: »Die Lage wird immer irrationaler. Ich vergleiche das damit, dass man in einem Zug sitzt, der wie wahnsinnig in eine falsche Richtung fährt, und einige, die erkennen, dass er in eine falsche Richtung fährt, rennen gegen das Ende des Zuges.«25 Und zweitens 19 Friedrich Dürrenmatt, Im Bann der ›Stoffe‹. Gespräche 1981 – 1987, hg. Heinz Ludwig Arnold, Zürich 1996, 269. 20 Ibid., 261. 21 Friedrich Dürenmatt, Die Entdeckung des Erzählens. Gespräche 1971 – 1980, hg. Heinz Ludwig Arnold, Zürich 1996, 271. 22 Ibid. 23 Dürrenmatt, Im Bann der ›Stoffe‹, 272. 24 Dürrenmatt, Die Entdeckung des Erzählens, 34. 25 Dürrenmatt, Im Bann der ›Stoffe‹, 270.

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ist der Mensch selbst ein zu unverlässlicher und unberechenbarer Patron, als dass ein Akt der Selbstvernichtung kategorisch ausgeschlossen werden kann: »Wer will den Atomkrieg? Kein Mensch will den Atomkrieg. Wo liegen die Probleme? Beim Menschen selber.«26 Das Beispiel Tschernobyls hat für Dürrenmatt gezeigt, dass in unserer »Welt der Pannen« die Wahrscheinlichkeit der Selbstzerstörung der Menschheit durch einen Betriebsunfall immer größer wird und die gottgewollte Apokalypse durch einen banalen »Weltuntergang aus technischem Kurzschluss, Fehlschaltung« abgelöst wird: »So droht kein Gott mehr, keine Gerechtigkeit, kein Fatum, sondern Verkehrsunfälle, Deichbrüche infolge Fehlkonstruktion, Explosion einer Atombombenfabrik, hervorgerufen durch einen zerstreuten Laboranten.«27 Damit ist aber die Zeit der Helden und des großen, sich mit Schuld beladenden Individuums vorbei, wie es noch Friedrich Schiller in Dramen wie Wallenstein gestaltet hat, und die Epoche der im Kollektiv vereinten, jeder Verantwortung baren Mitläufer angebrochen. Dass freilich ausgerechnet ihr vermeintlich bedeutungsloses Tun den Untergang unserer »gesichtslosen Welt« herbeiführen kann, ist nur noch mit den Mitteln der Groteske darstellbar: In der Wurstelei unseres Jahrhunderts [… ] gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. [ …] Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld: Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat. Uns kommt nur noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe, wie ja die apokalyptischen Bilder des Hieronymus Bosch auch grotesk sind. Doch das Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtlosen Welt, [ …] unsere[r] Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.28

Die Apokalypse wird kommen, sie ist unausweichlich. Ja, sie ist im Grunde schon da und vollzieht ihr Zerstörungswerk mitten unter uns – oder, um es mit dem Titel von Francis Ford Coppolas filmischem Endzeitepos zu sagen: »Apocalypse Now«, hier und jetzt, in diesem Moment in unserer Welt. Das ist ein Kerngedanke Dürrenmatts, den er in zahlreichen Werken variiert. Als Dichter und als Maler – neben dem Schreiben war Dürrenmatts zweite große Leidenschaft bekanntlich die bildende Kunst – Ibid. Friedrich Dürrenmatt, Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte, in: derselbe, Gesammelte Werke 5. Erzählungen, Zürich 1996, 271. 28 Friedrich Dürrenmatt, Theaterprobleme, in: ders., Gesammelte Werke 7. Essays, Gedichte, Zürich 1996, 59. 26 27

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hat er deshalb mit Vorliebe immer wieder auf religiöse Urbilder und mythische Archetypen zurückgegriffen, die die Zwangsläufigkeit und Schicksalhaftigkeit des drohenden Untergangs illustrieren: auf die Archetypen vom Minotaurus, Atlas, der Sintflut und dem Turmbau zu Babel. In dem 1970 entstandenen und als »Übungsstück für Schauspieler« konzipierten Porträt eines Planeten29 führt uns Dürrenmatt den absurden Totentanz einer Welt vor Augen, die dem Untergang geweiht ist und unmittelbar vor ihrer Auslöschung durch eine naturwissenschaftliche Katastrophe, der Verwandlung der Sonne in eine Supernova, steht: »Ich zeige die heutige Welt im letzten Augenblick. Eine Fiktion, um sie der Gegenwart zu zeigen. Die Apokalypse ist für mich ein Lichtblitz, der die fotografische Aufnahme ermöglicht.«30 Und in diesem »Lichtblitz« des direkt bevorstehenden Weltendes hält Dürrenmatt das Fehlverhalten einer orientierungslos auf ihren Untergang zutreibenden Menschheit in zahlreiche Einzelaufnahmen fest. Das Stück, das Dürrenmatt nachträglich als eine notwendige »künstlerische Sackgasse«31 bezeichnet hat (»Ich brauche [… ] die künstlerischen Katastrophen, um weiterzukommen, sonst schreibt man ja immer das gleiche«32), spielt – mit Hilfe von vier Schauspielerpaaren in wechselnden Rollen – nach Art einer Fuge das selbstmörderische Verhalten einer Menschheit durch, die zur Einsicht unfähig ist und deren kollektiver äußerer Untergang nur eine »Spiegelung«33 und Projektion der sich in der Psyche des Einzelnen vollziehenden inneren Apokalypse darstellt. Den dramatischen Höhepunkt dieser Endzeitposse bildet denn auch eine Irrenhausszene34, in der durch vier »Geisteskranke« die selbstzerstörerische Absurdität menschlichen Denkens und Handelns sichtbar gemacht wird: Da ist der Sozialist, der erkennen muss, dass sein Engagement für soziale Gerechtigkeit und persönliche Freiheit nutzlos war, weil es die Menschen nicht wirklich glücklicher gemacht hat. Da ist der Atomwissenschaftler und Kosmologe, dessen Lebenswerk, das Finden der Weltformel, sinnlos geworden ist, weil diese nur noch von Computern verstanden wird. Der Kunstmaler, der konsequent den Weg von der konkreten zur abstrakten Kunst gegangen ist und in seinem Schaffen schließlich einen so hohen Abstraktionsgrad erreicht hat, dass er das Nichts durch das Nichts: durch das reine Wegdenken des Wahrgenommenen, darstellt. Und der KZ-Leiter, der sich für einen großen Ästhe29 Friedrich Dürrenmatt, Porträt eines Planeten. Übungsstück für Schauspieler (1970), in: ders., Gesammelte Werke 2. Stücke 2, Zürich 1996, 715 – 810. 30 Dürrenmatt, Die Entdeckung des Erzählens, 15. 31 Ibid., 79. 32 Ibid. 33 Ibid., 18. 34 Dürrenmatt, Porträt eines Planeten, 782 – 788.

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ten und wahren Humanisten hält, weil er auf den Massengräbern der vergasten Häftlinge Blumengärten anlegte, die nirgendwo so gediehen und blühten wie dort. – Es ist nicht zu verkennen: So sehr sich diese vier Männer durch ihren Lebensweg und ihre Intention auch voneinander unterscheiden, sind sie für Dürrenmatt doch alle beispielhaft für die irrwitzige Logik und den Wahnsinn einer Welt, die unter dem Anschein äußerer Normalität drauf und dran ist, sich selbst zu eliminieren. Diesen Gedanken einer verrückten, an ihrem eigenen Irrsinn zugrunde gehenden Welt hat Dürrenmatt noch viel effektvoller in seinem Meisterwerk Die Physiker35 in Szene gesetzt. Zur Grundidee dieser Tragikomödie, deren zentrales Thema die unausweichliche Gefährdung der Welt durch die moderne Kernphysik ist, wählt Dürrenmatt dabei eine beliebte Variante des Topos von der Welt als Irrenhaus: In grotesker Umkehrung werden von ihm die Insassen einer Nervenheilanstalt zu Sinnbildern der Vernunft und Humanität erhoben, während gleichzeitig die sie kontrollierende weltliche Instanz als Personifikation des unsere Wirklichkeit beherrschenden Wahnsinns demaskiert wird. Die Verrückten erscheinen so als die wahrhaft Weisen, während die vermeintlich Normalen sich als die tatsächlich Verrückten offenbaren – eine Perversion mit apokalyptischen Folgen, wie Dürrenmatts Stück demonstriert. Denn in ihm hat sich der genialste Physiker der Welt, Johann Wilhelm Möbius, dem es gelungen ist, das System aller möglichen Erfindungen: die Weltformel, zu entdecken, freiwillig in die Obhut einer privaten Nervenklinik begeben, um die Menschheit vor den verheerenden Folgen seiner Entdeckung zu schützen und den drohenden Weltuntergang abzuwenden. Aus Verantwortungsgefühl hat er bewusst sein Wissen zurückgenommen, indem er das Manuskript mit der Weltformel verbrannt und sich die »Narrenkappe«36 eines von König Salomon heimgesuchten Propheten übergezogen hat. Doch seine Verstellungskünste, die vom hohen Ethos des verantwortungsbewussten Wissenschaftlers motiviert werden, kommen zu spät. Zwar gelingt es ihm noch, die Geheimagenten Kilton alias Newton und Eisler alias Einstein – beides selbst Kernphysiker, die sich im Dienst der beiden Supermächte USA und Sowjetunion in die Anstalt einschleusen ließen, um Möbius’ Entdeckung zu stehlen – durch eine furiose »Narrenrede« von der Sinnhaftigkeit des von ihm eingeschlagenen Weges zu überzeugen und auf seine Seite zu ziehen: 35 Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker, in: ders., Gesammelte Werke 2. Stücke 2, Zürich 1996, 131 – 210. 36 Ibid., 196.

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Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen. Es gibt keine andere Lösung, auch für euch nicht. [ …] Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff. [ …] Entweder bleiben wir im Irrenhaus, oder die Welt wird eines. Entweder löschen wir uns im Gedächtnis der Menschen aus, oder die Menschheit erlischt.37

Indes lässt sich das durch die Weltformel ausgelöste Unheil nicht mehr aufhalten und das einmal gedachte Wissen nicht mehr zurücknehmen. Die weltberühmte Anstaltsleiterin Dr. h.c. Dr. med. Mathilde von Zahnd erklärt die drei Physiker zu ihren persönlichen Gefangenen. Sie offenbart ihnen, dass sie ihr Spiel durchschaut, Möbius’ Manuskript photokopiert und durch die Auswertung seiner Erkenntnisse einen gigantischen Trust errichtet hat. Denn auch ihr sei der König Salomon erschienen, um durch sie die Weltherrschaft zu ergreifen. Damit ist die Welt in die Hände einer verrückten Irrenärztin gefallen. »Hinter den drei Kernphysikern aber schließen sich«, wie Claus Schmid treffend zusammenfasst, »die Anstaltsgitter für immer. Als Einstein, Newton und Salomon erscheint ihnen der selbstgewählte Wahnsinn als die einzig sinnvolle Existenzform in einer Welt, die dem eigenen Untergang entgegensteuert.«38 Die Zwangsläufigkeit, mit der dieser Prozess vonstatten geht, hat Dürrenmatt in seiner frühen Erzählung Der Tunnel 39 (1952) dargestellt. Die apokalyptische Erfahrung des drohenden Weltendes wird hier aus der Perspektive eines 24-jährigen Studenten geschildert, der einen Zug besteigt, um eine zweistündige Routinefahrt zurückzulegen. Doch während der Fahrt ereignet sich etwas Unerwartetes und Schreckliches: Der Zug fährt in einen nicht endenden, ins Erdinnere führenden Tunnel und beginnt »mit Sterngeschwindigkeit in eine Welt aus Stein zu rasen«40, ohne freilich vorerst darauf aufzuprallen. Gemeinsam mit einem Schaffner arbeitet sich der stutzig gewordene Student deshalb bis zum Triebwagen vor, um den Lokomotivführer zur Rede zu stellen und zum Anhalten des Zuges aufzufordern. Zu seinem Entsetzen jedoch muss er feststellen, dass der Führerstand leer ist, da der Fahrer längst abgesprungen ist. Seltsam gebannt und fasziniert Ibid., 196 f. Claus P. Schmid, »Die Physiker«, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon, hg. Walter Jens, Studienausgabe, München o. J., Bd. 4, s. v. Dürrenmatt, Die Physiker, 931. 39 Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel, in: ders., Gesammelte Werke 5. Erzählungen, Zürich 1996, 215 – 230. 40 Ibid., 225. 37 38

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drückt er daraufhin sein Gesicht gegen die Glasscheibe des Führerstandes und beobachtet mit »weit geöffneten Augen«, wie der Zug unaufhaltsam in den Abgrund rast. Auf die Frage des Schaffners, was sie jetzt tun sollen, antwortet der Vierundzwanzigjährige, »ohne sein Gesicht vom Schauspiel abzuwenden [… ] mit einer gespensterhaften Heiterkeit […]: ›Nichts‹.«41 Mit großer Plausibilität wurde in der jüngeren Forschung darauf hingewiesen, dass die eigentliche Pointe der Geschichte im Einbruch des Schrecklichen und Abgründigen in eine vermeintlich heile und geordnete Welt besteht: Dürrenmatt wolle uns darauf aufmerksam machen, dass das Ungeheure hinter den Kulissen laure und nur darauf warte, uns sein Medusenhaupt zu zeigen.42 In der Tat: Diese Erzählung führt uns vor Augen, dass unter der dünnen Schicht von Konvention und Zivilisation ein alles verschlingender Abgrund liegt, der die jederzeit mögliche Erfahrung des Sturzes ins Nichts impliziert. »Apocalypse Now«, hier und jetzt, in diesem Moment, mitten in unserer Welt.43 Aufschlussreich ist aber auch die sachlich-distanzierte Haltung, mit der der Student die sich anbahnende Katastrophe registriert. Wenn es im Text über das Geschehen im Führerhaus heißt, er habe den abenteuerlichen Sturz ins Erdinnere mit »weit geöffneten Augen [… ] ohne sein Gesicht vom Schauspiel abzuwenden«44 beobachtet, dann ist dies keine belanglose ChaIbid., 230. Kuschel, Im Spiegel der Dichter, 199 f, 201. 43 In dem ursprünglichen – später von Dürrenmatt gestrichenen – Schluss von Der Tunnel hatte der Student auf die Frage des Schaffners geantwortet: »Gott ließ uns fallen. Und so stürzen wir denn auf ihn zu.« (Vgl. Kuschel, Im Spiegel der Dichter, 195) Deshalb ist es plausibel, wenn Karl-Josef Kuschel diese Erzählung religiös im Sinn einer Rebellion gegen das harmonisierende, die bürgerliche Ordnung sanktionierende Gottesbild der bürgerlichen Sonntagschristen interpretiert: »Gott ist kein Ordnungsgarant, sondern kann wie ein verschlingender Abgrund sein. Gott selbst ist die Möglichkeit des Schrecklichen und Unheimlichen!« (203) Dieser Deutung entspricht, dass der Pastorensohn Dürrenmatt während der Niederschrift von Der Tunnel sich intensiv mit dem Werk Kierkegaards und Karl Barths auseinandersetzte, weil ihm an einer Wiederbelebung des Unheimlichen und Abgründigen in der Gott-Rede gelegen war. (204) – Die nachträgliche Streichung des ursprünglichen Schlusses zugunsten des Wortes »Nichts« lässt sich aber auch anders, als eine Absage an Gott und den durch ihn vermittelten Sinn, verstehen. Die Kierkegaardsche Kategorie des existenzentscheidenden »Augenblicks«, auf den das ganze bisherige Leben des Protagonisten der Erzählung ausgerichtet war, würde dann keinen Einbruch des Göttlichen, sondern das Gegenteil: den Einbruch des Nichts und damit den freien Fall in den bodenlosen Schlund der Gottlosigkeit und Sinnleere bedeuten. Für diese Interpretation spricht eine Aussage, die der späte Dürrenmatt über sein Verhältnis zum Gottglauben gemacht hat: »Ich bin Atheist. [… ] Ich halte Gott für die fruchtbarste und zugleich furchtbarste Fiktion des Menschen.« (Dürrenmatt, Im Bann der Stoffe, 263.) 44 Dürrenmatt, Der Tunnel, 230. 41 42

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rakterisierung, sondern eine Anspielung auf Dürrenmatts eigene Grundhaltung. Denn Dürrenmatt selbst hat sich als einsamen Chronisten und Beobachter der unausweichlichen Apokalypse verstanden, der den vor seinen Augen sich vollziehenden Zerfalls- und Selbstzerstörungsprozess analysiert und künstlerisch bewältigt. In einem 1980 geführten Interview gesteht er: Ich bin ein alter Mann, Diabetiker seit 30 Jahren, ich hatte zwei Herzinfarkte; wie viele Jahre ich noch vor mir habe, weiß ich nicht. Ich bin ein Mensch, der in der Einsamkeit lebt. Und ich arbeite drauflos, an einer verrückten Logik. Ich erkenne, die Menschheit geht unter, es gibt eine Katastrophe. Und mein Schicksal ist es, Analytiker dieser Katastrophe zu sein.45

Gleichwohl lehnt es Dürrenmatt ab, deshalb in eine defätistische Haltung zu verfallen. Wie der Protagonist seiner Erzählung, der den Absturz ins Nichts mit »gespensterhafter Heiterkeit« erlebt, setzt Dürrenmatt die Waffe des schwarzen Humors gegen jede Anwandlung von Resignation ein. Als »instinktive Gegenbewegung dem Pessimismus und dem Optimismus gegenüber« symbolisieren Ironie und Sarkasmus für ihn die Denk- und Handlungsweise des Trotzdem, in dem sich »ein freiwilliger Verzicht auf eine endgültige Weltkonzeption, ein geistiger Abwehrreflex gegen absolute Thesen, eine lebensnotwendige Dialektik« ausdrückt.46 Dass Apokalypse vor allem mit dem Tod Gottes und dem Wegfall seiner sinnvermittelnden Funktion zu tun hat, veranschaulicht Dürrenmatt in seiner späten Novelle Der Auftrag47. In diesem grotesken, in 24 Bandwurmsätzen komponierten Endzeitspektakel, das den bezeichnenden Untertitel Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter trägt, geht es um den totalen Überwachungswahn einer technisch hochgerüsteten, von Satelliten und komplizierten Überwachungssystemen beherrschten Welt, die mit dem Gottesbegriff ihr inneres Sinnzentrum verloren hat und nun orientierungslos – oder besser gesagt: mit der Methodik des Wahnsinns – auf ihren Untergang zusteuert. Denn: Mit dem Tod Gottes hat die Menschheit die entscheidende Instanz verloren, die ihr bis dahin Sinn verlieh. Wie wir aus dem Mund des Logikers D., dem scharfsinnigen Kommentator des Geschehens, erfahren, kommt unserem Handeln nämlich nur deshalb eine Bedeutung zu, weil es Gott, der reines Beobachten ist48, bislang mit seinem Blick begleitet und in einen höheren Sinnzusammenhang gestellt habe. Das Verschwinden des göttlichen Beobachters habe damit gravierende Folgen für Dürrenmatt: Die Entdeckung des Erzählens, 326. Ibid., 39. 47 Friedrich Dürrenmatt, Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter, in: ders., Gesammelte Werke 5, 449 – 548. 48 Ibid., 531. 45 46

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das Selbstverständnis der Menschheit, wie der überall ausgebrochene Observierungswahn zeige. »Die Menschen«, so der Logiker D., litten unter dem Unbeobachtet-Sein wie er, auch sie kämen sich unbeobachtet sinnlos vor, darum beobachteten alle einander, knipsten und filmten einander aus Angst vor der Sinnlosigkeit ihres Daseins angesichts eines auseinanderstiebenden Universums mit seinen Milliarden Milchstraßen [… ], eines Alls unaufhörlich durchzuckt von explodierenden und dann in sich zusammensackenden Sonnen, wer anders sollte den Menschen da noch beobachten um ihm einen Sinn zu verleihen als dieser sich selbst, sei doch gegenüber einem solchen Monstrum von Weltall ein persönlicher Gott nicht mehr möglich, ein Gott als Weltregent und als Vater, der einen jeden beobachte, der die Haare eines jeden zähle, Gott sei tot, weil er undenkbar geworden sei.49

Gleichnishafte Verkörperung dieser schizoiden Welt ist der Kameramann und Fotograph Polyphem, der die Stelle des beobachtenden Gottes eingenommen hat, indem er durch verobjektivierende Akte des Fotografierens und Filmens die Welt um sich herum einfängt. Polyphem, der seinen Namen von dem einäugigen Zyklopen in Homers Odyssee erhalten hat, weil er »die Welt durch ein einziges rundes Auge mitten auf der Stirne wie durch eine Kamera erlebt«50, versucht, sich der Wirklichkeit dadurch zu bemächtigen, dass er sie mit Hilfe seiner Kamera festhält und durch das Zerschneiden der Filme in einzelne Fotographien die Zeit anhält. Seiner Vorstellung des aseptisch die Realität beobachtenden Gottes hat er sein Verhalten als Kameramann angeglichen: Mitleidslos und distanziert hat er sich auf das Festhalten von Mordszenen spezialisiert, um sich zum Herrn über das Leben zu machen. Doch dieses pathologische Verhalten ist kein Einzelfall. Polyphems manischem Beobachtungszwang entspricht der Observierungswahn der ihn umgebenden Welt. Er selbst lebt in den labyrinthischen Gängen einer unterirdischen Beobachtungsstation, die in der nordafrikanischen Wüste speziell dazu eingerichtet wurde, die Waffen der sich in einem Scheinkrieg bekämpfenden Großmächte auszuspähen. Inzwischen freilich wurde das dafür abgestellte Beobachtungsteam durch Computer und Satelliten ersetzt, so dass Polyphem und sein wahnsinniger Freund Achilles die letzten Bewohner der Anlage sind. Beide sind Relikte einer untergegangenen Epoche menschlichen Beobachtens, die durch das Zeitalter der Maschinen abgelöst wurde. So hat der Einsatz moderner Observierungstechnik Polyphems Allmacht als Beobachter gebrochen und ihn zum entthronten Gott gemacht (»er, Polyphem, sei ein gestürzter Gott, seine Stelle habe nun ein Computer eingenommen, den ein zweiter Computer beobachte«51), der 49 50 51

Ibid., 463 f. Ibid., 532. Ibid., 533.

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seinem baldigen Untergang entgegenharrt. Bezeichnenderweise kommt der Entmachtete durch eine satellitengesteuerte Rakete ums Leben.

III. »Ein katastrophales Buch in einer katastrophalen Zeit« – Günter Grass’ Endzeit-Roman Die Rättin Die gedankliche Folie zu Dürrenmatts apokalyptischer Vision bildete ein Text, auf den auch Günter Grass in seinem Endzeitepos Die Rättin rekurriert: auf Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei. In dieser kleinen Schrift, die Jean Paul als Erstes Blumenstück in seinen Siebenkäs-Roman aufnahm, verkündet – wie der Titel schon sagt – der Gottessohn selbst das »Dysangelium« (Walter Rehm) vom Tod Gottes.52 Was der tote Christus auf seiner Gottsuche durch die endlosen »Wüsten des Himmels« erfahren musste, ist in der Tat eine Botschaft des Schreckens. Den Vernichtungssog des apokalyptischen Totenmeers vor Augen, in welches eine Weltkugel nach der anderen hinabstürzt und verglimmt, muss er der verwaisten Menschheit resigniert mitteilen: dass dort, wo er den allumfassenden Blick des göttlichen Vaters erwartete, ihn eine »leere bodenlose Augenhöhle« anstarrte; dass da, wo er auf den personhaften Garanten einer überweltlichen Geschichtsmacht zu treffen hoffte, er auf das kalte Gesetz der Notwendigkeit stieß; dass also in Wirklichkeit das Nichts dieses Dasein regiere, das nun seiner endgültigen Vernichtung durch die »Riesenschlange der Ewigkeit« entgegengehe. In Jean Pauls apokalyptischem Alptraum hat die Menschheit mit dem Tod Gottes ihr Sinnzentrum verloren. An die Stelle des liebenden Blicks des göttlichen Vaters ist eine »leere bodenlose Augenhöhle« getreten. Ihr ausdrucksleeres Starren ins Nichts offenbart die Kontingenz und Bedeutungslosigkeit eines Daseins, in dem sich die Trostfunktion des heilgeschichtlichen Apokalypse-Modells verflüchtigt hat: Die Apokalypse in Jean Pauls Rede mündet nicht in die Utopie eines neuen Jerusalems, sondern in den Angsttraum eines unerlösten Weltendes. Dürrenmatt knüpft in Der Auftrag hintergründig an Jean Pauls Schreckensvision an und transponiert sie in die Gegenwart, indem bei ihm der Mensch die Position des göttlichen Beobachters einnimmt und mit Hilfe der Technik das durch Gottes Tod freigewordene Vakuum füllt: In die »leere bodenlose Augenhöhle« des Nichts werden Fotoapparat, Kamera und Satellit montiert, die in imitatio dei das Vorhandensein eines über52 Vgl. hierzu Christoph Bartscherer, Heinrich Heines religiöse Revolte (Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 6), Freiburg im Breisgau u. a. 2005, 155 f.

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weltlichen Beobachters suggerieren. Doch der Prothesengott Mensch bezahlt für diesen prometheischen Usurpationsakt mit seinem Sturz und seiner Entmachtung durch die Maschine. Günter Grass geht in die Die Rättin noch einen Schritt weiter. Der 1986 erschienene Roman, in dem sich die Ratlosigkeit des Autors über das Scheitern der Abrüstungsverhandlungen von 1983 widerspiegelt, ist eine Art Abgesang auf das Menschengeschlecht mit seinem ungebremsten Fortschrittsoptimismus, seiner naturfeindlichen Technikbegeisterung und seinem atomaren Aufrüstungswahn: Durch einen selbstverschuldeten Nuklearkrieg hat sich die Menschheit selbst ausradiert und den Platz für die Spezies der Ratten freigemacht. Dank ihrer Klugheit und Anpassungsfähigkeit haben nämlich alleine die Ratten das atomare Inferno überlebt und beherrschen nun die Erde. Einzige Ausnahme in dieser reinen Rattenwelt bildet der Erzähler, der als »letzter Mensch«53 in einer Raumkapsel die Erde umkreist und aus der Vogelperspektive die verwüsteten Städte und Landschaften der menschenleeren Welt überschaut. Allerdings ist selbst seine Existenz nicht gesichert. Der Roman ist als ein Rededuell zwischen dem Erzähler und seiner domestizierten Hausratte konzipiert, als »permanentes Streitgespräch«54, das durch das Motiv des Traums miteinander verknüpft ist: Sowohl der Erzähler als auch die Rättin geben vor, den jeweiligen Gesprächspartner nur zu träumen, so dass beide Gefahr laufen, ein reines Produkt der Fiktion des anderen zu sein. Bis zum Schluss bleibt offen, wer wen träumt.55 Teil dieses Traumduells ist es nun, dass die Rättin in die Rolle von Jean Pauls totem Christus schlüpft und eine Rede vom Müllberg herab, dem Weltgebäude der Ratten, auf den Exitus der Menschheit hält.56 Damit hat Grass die von Jean Paul und Friedrich Dürrenmatt entworfenen Endzeitvisionen nachhaltig radikalisiert und verschärft: Bei Jean Paul war mit dem Verschwinden des göttlichen Auges für den Menschen der Abgrund des Nichts sichtbar geworden. Bei Dürrenmatt hatte der Mensch diesen Abgrund zu überbrücken gesucht, indem er sich mit Hilfe der Technik selbst in das allgegenwärtige Auge des göttlichen Beobachters verwandelte. Bei Günter Grass hingegen wird die Möglichkeit der menschlichen Perspektive generell in Frage gestellt, weil durch das nukleare Inferno sich der Mensch 53 Günter Grass, Die Rättin, in: ders., Werkausgabe in 10 Bänden, hg. Volker Neuhaus, Bd. 8, Darmstadt 1987, 279. 54 Günter Grass, »Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen«, in: ders., Werkausgabe in 10 Bänden, Bd. 10: Gespräche, 346. 55 Vgl. Angelika-Hille Sandvoß, »›Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen‹. Nachwort zu Die Rättin«, in: Günter Grass, Die Rättin, 462. 56 Vgl. Günter Grass, Die Rättin, 11 – 13, 166.

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selbst vernichtet hat. Fortan ist er aus allen apokalyptischen Phantasien für immer verschwunden. Damit fehlt in Grass’ Roman die Hoffungsperspektive, die Jean Pauls Endzeitvision entwirft. Die Rede des toten Christus ist bei näherer Betrachtung nämlich nicht ein kämpferischer Aufruf zum Atheismus, sondern dessen apodiktische Antithese: ein indirektes Plädoyer für die Existenz Gottes und ein Weiterleben nach dem Tode.57 Demgemäß wird die beklemmende Todesvision Christi zum Traum erklärt, aus dem eine von Todesnot gepeinigte Seele aufatmend erwacht. Vor Freude weinend erkennt der Erzähler, dass die Nachricht vom Tod Gottes nichts als ein nächtlicher Spuk war und er vor dem Angesicht des »unendlichen Vaters« auf dieser »frohe[n] vergängliche[n] Welt« weiterleben darf. Insbesondere der Anfang der Rede, der für die »Kühnheit« der Dichtung sich entschuldigende »Vorbericht« des Erzählers, signalisiert, dass Jean Paul mit Hilfe einer Ästhetik des Erhaben-Schrecklichen zur Umkehr bewegen und durch die Androhung der Todverfallenheit einer gottlosen Welt seine Leser zum Glauben an einen gütigen Gott der Liebe auffordern möchte. Durch das Aufzeigen der Vernichtungsgewalt des »Nichts« wird ein notwendiger Prozess der Läuterung eingeleitet, der zur inneren Gesundung des Rezipienten führen soll. Jean Pauls Rede ist heilsam, weil sie nach dem Heraufbeschwören einer gottlosen Apokalypse die – einem spirituellen Erweckungserlebnis gleichende – Rückgewinnung der Liebe Gottes feiert.58 Ganz anders Günter Grass’ apokalyptischer Alptraum. Hier gibt es kein erlösendes Erwachen, keine beglückende Rückkehr zu Gott, ja nicht einmal zu seinem sterblichen Ebenbild, dem Menschen. Der Roman bleibt bis zu seinem Ende in einem Zustand der Ungeklärtheit, des nicht auflösbaren »Oszillierens zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, Realität und Traum«59. Die das ganze Buch leitmotivisch durchziehende Frage, ob es den Menschen noch gibt oder nicht, bleibt unbeantwortet. Sie wird vertagt und an die Einsicht und das künftige Handeln des Menschen geknüpft. Es fehlen in Die Rättin also die Hoffnungsperspektive und die Trostfunktion des biblischen Apokalypse-Entwurfs, die Jean Paul durch das Erwachen des Erzählers nachträglich wieder einführt. »Es ist«, wie Günter Grass selbst erläutert, »ein katastrophales Buch in einer katastrophalen Zeit. Es entspricht unserer Zeit, unserer Lage. [ …] es ist kein Buch, das Hoff57 Vgl. das Kapitel »Ein indirektes Plädoyer für Gott: Jean Pauls Rede des toten Christus«, in: Christoph Bartscherer, Heinrich Heines religiöse Revolte, 158 f. 58 Ibid. 59 Karl-Josef Kuschel, »Der Alptraum vom Ende der Menschheit: Günter Grass«, in: ders., Im Spiegel der Dichter, 86.

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nung vortäuschen, sondern Einsicht vermitteln, Erschrecken vermitteln möchte.«60 Erst durch das Wachrufen dieser Affekte kann wieder Vertrauen auf die Zukunft der Menschheit entstehen. Da der angstfreie Mensch für Grass nämlich gefährlich ist61, arbeitet er – ähnlich wie Jean Paul – mit einer Ästhetik des Schreckens, um seine Zeitgenossen zur Umkehr zu bewegen und durch eine »literarische Schocktherapie«62 (Beate Pinkerneil) vor der immer wahrscheinlicher werdenden Katastrophe zu bewahren. Durch das Aufzeigen der dem Menschen eigenen Vernichtungsgewalt soll ein Prozess des Umdenkens eingeleitet werden. Insofern könnte auch Günter Grass’ Roman heilsam wirken, indem er durch die Illustration einer diesseitigen Apokalypse den Sinneswandel des sich seiner Schuld und Verantwortung bewusst werdenden Menschen fördert. Mit Nachdruck hat Günter Grass darauf verwiesen, dass die in Die Rättin geschilderte Apokalypse rein weltlicher Natur ist und sich von der heilsgeschichtlichen Apokalypse-Tradition grundlegend unterscheidet. Es handelt sich bei ihr eben nicht um eine unerklärbare Katastrophe oder ein unabwendbares Verhängnis, das – wie im Mittelalter – im Rückgriff auf das Bilderarsenal der Johannesapokalypse religiös verortet, als göttlicher Eingriff interpretiert und bewältigt werden kann. Der immer wahrscheinlicher werdende Weltuntergang von heute, den der Roman beschreibt, ist »reines Menschenwerk«63 – ist für Grass logische Folge der uneingeschränkten Anhäufung atomaren Vernichtungspotentials, der rücksichtlosen Zerstörung der Natur und der Gleichgültigkeit der reichen Industrienationen gegenüber den bereits 1986 jährlich rund 40 Millionen Hungertoten in den Dritte-Welt-Ländern. »Es handelt sich hier nicht«, wie der Autor in einem Interview mit Beate Pinkerneil betont, um eine Apokalypse im Sinne des Johannes auf Patmos. Also kein dunkles Schicksal ist verhängt, kein Buch mit sieben Siegeln liegt auf. Es ist alles Menschenwerk, was an Bedrohung da ist. Darunter eben die Selbstzerstörung des Menschengeschlechts. Also kann es auch nur Menschenwerk sein, wenn man es abwenden will. Es gibt keine Ausrede. Man kann nicht sagen, das ist von oben verhängt als Schicksal, dem können wir nicht entfliehen. Wir können ihm entfliehen, wenn wir tätig werden dagegen.64

Aber weil die Menschheit zur Entstehungszeit des Romans nicht wirklich tätig wird, weil die Abrüstungsverhandlungen gescheitert sind und der 60 61 62 63 64

Grass, »Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen«, 360. Ibid., 361. Ibid., 360. Ibid., 352. Ibid., 342.

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Wahnsinn des Wettrüstens bedenkenlos fortgesetzt wird, und wir in einem gefährlich Zustand der Indifferenz und Verdrängung leben, hat die »Vernichtung der Menschheit«65 für Günter Grass bereits begonnen und findet der Untergang unseres Planeten unmittelbar vor unseren Augen statt: »Apocalypse Now«, hier und jetzt, in diesem Moment, mitten in unserer Welt.66 Die Rättin ist ein Untergangsroman, in dem der Autor von unserer Welt Abschied nimmt und viele Dinge in einer Form beschreibt, als sähe er sie zum letzten Mal.67 Mit Absicht sucht Günter Grass in ihm nicht nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, sondern adaptiert vorhandene Stil- und Gattungstraditionen, um vor ihrem endgültigen Verschwinden noch einmal an sie zu erinnern. Der Roman ist ein »Endzeit-Buch«, zu dessen Programmatik es gehört, »noch einmal alle literarischen Traditionen im Sinne eines Nekrologs aufzurufen – die Verweise reichen von den Anfängen einer deutschen Nationalsprache im Bibeldeutsch Martin Luthers bis zur Science-Fiction-Literatur (etwa George Orwells 1984)«.68 Auch das eigene Werk wird nach Art eines Epilogs noch einmal memoriert. »Die Rättin erweist sich so«, wie in der Forschung treffend erkannt wurde, als ein letztes Pandämonium früherer Romangestalten des Autors, an fast alle vorangehenden Bücher Grass’ wird angeknüpft, sei es motivlich, personell oder strukturell. Diese Selbstzitate sind zu verstehen als Nachruf auf das eigene schriftstellerische Werk – und die darin enthaltenen exemplarischen Menschenschicksale – in einer dem Untergang geweihten ›Humanzeit‹.69

Zu dieser Technik der erinnernden Vergegenwärtigung gehört bei Grass vor allem die Montage und Umdeutung von Schlüsseltexten der Weltlitera65 Günter Grass, »Die Vernichtung der Menschheit hat begonnen. Rede zur Verleihung der Internationalen Antonio-Feltrinelli-Preises«, in: ders., Werkausgabe in 10 Bänden. Bd. 9: Essays, Reden, Briefe, Kommentare, 830. 66 Davon zeugen für Grass unter anderem auch die 1986 veröffentlichten Berichte des »Club of Rome«: »Diese Berichte sind unsere nüchterne Offenbarung. Kein von den Göttern oder dem einen Gott verhängtes Strafgericht droht uns. Kein Johannes auf Patmos schreibt seine dunklen, den Untergang feiernden Bilder nieder. Kein Buch der ›Sieben Siegel‹ wird und zum Orakel. Nein, sachlich unserer Zeit gemäß schlagen zu Buche: Zahlenkolonnen, die den Hungertod bilanzieren, die Statistik der Verelendung, die ökologische Katastrophen zur Tabelle verkürzt, der ausgezählte Wahnsinn, die Apokalypse als Ergebnis eines Geschäftsberichtes. Strittig sind allenfalls noch die Stellen hinter dem Komma, nicht mehr der unabweisbare Befund: Die Vernichtung der Menschheit durch die Menschen auf vielfältige Weise hat begonnen.« (Günter Grass, »Die Vernichtung der Menschheit hat begonnen«, 830.) 67 Günter Grass: »Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen«, 351. 68 Bernhard Setzwein, »Günter Grass Die Rättin«, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 6, s. v. »Grass«, 803. 69 Ibid.

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tur. So erklärt es sich, dass der Roman neben Jean Pauls Rede des toten Christus dezidiert auch auf Gotthold Ephraim Lessings theologische Hauptschrift Die Erziehung des Menschengeschlechts Bezug nimmt, um sie nach Art eines Palimpsests ins Weltliche zu übertragen. Grass unterzieht den Fortschrittsoptimismus und die Vernunftgläubigkeit, die von Lessings Aufklärungsschrift ausgehen, einer gründlichen Revision. Denn Lessing hatte – in Anlehnung an Joachim von Fiores chiliastische Lehre von den drei Zeitaltern (des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes) – Geschichte als eine sinnvolle stufenförmige Entwicklung interpretiert, die sich rückblickend als Optimierung und Höherentwicklung des Menschen verstehen lässt. Im Sinne der Säkularisierungstendenz der Aufklärung hatte er prophezeit, dass der vorgesehene Endzustand des Menschen nicht mehr durch Gott herbeigeführt werde, sondern dass der Mensch seine Erziehung selbst in die Hand nehmen und den Zustand der Vollendung kraft seiner Vernunft erreichen werde.70 Doch dieses Unternehmen ist für Grass, der eigentlich von der europäischen Aufklärung herkommt und zunächst selbst an die Möglichkeit einer »Erziehung des Menschengeschlechts« geglaubt hat71, fehlgeschlagen, da sich der Mensch als nicht lernfähig erwiesen hat. In Die Rättin ist darum nach Grass’ eigener Aussage unmissverständlich auch »vom Scheitern der Aufklärung zu berichten, von dem großem Ziel zum Beispiel der Erziehung des Menschengeschlechts«72. Als »Sackgasse« hat sich dabei vor allem der Fortschrittsoptimismus mit seiner »Verkürzung des Vernunftbegriffs auf das Technische, das Machbare« erwiesen.73 Längst hat sich der durch die Aufklärung eingeleitete Fortschrittsprozess in einer Weise verselbständigt und beschleunigt, dass er der menschlichen Verfügungsgewalt entglitten ist. In unserem technischen Zeitalter wurde das große Ziel der Aufklärung: die Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen, durch die Dominanz der Maschine außer Kraft gesetzt.74 »Wir fangen an«, wie Grass beklagt, »aufgrund des technischen Fortschritts [… ] menschliche Verantwortung an Computer zu delegieren. Das ist im Gegensatz zum Prozeß der Aufklärung, wo der Mensch mündig werden sollte, freiwillige Entmündigung. Wir delegieren Verantwortung an Apparate, werden frei von Verantwortung, verantwortungslos.«75 In einem der zentralen Gedichte des Romans wird die »Erziehung des Menschen70 71 72 73 74 75

Vgl. Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, 57 – 60. Grass, »Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen«, 347 f. Ibid., 348. Ibid. Ibid., 362. Ibid., 352.

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geschlechts« deshalb durch irgendeinen »unaufgeklärt[en]«, dummen »Zufall« abgeschlossen, der die nicht mehr anzuhaltende Kettenreaktion des atomaren Schlagabtausches in Gang setzt. Lessings Erziehungsprojekt endet bei Grass sarkastisch mit der »Große[n] Helligkeit« einer globalen Nuklearexplosion – einem Schlussakt der ›Aufklärung‹ oder, wie es noch treffender im Englischen heißt, des ›Enlightenment‹, auf das ewige Finsternis folgt.76 IV. »Gott möchte, dass die Menschen [ …] ihn nicht mehr brauchen« – Der metaphysische Thriller The Lucifer Code von Michael Cordy Eine Endzeitvision ganz anderer, gleichwohl nicht weniger wirkkräftiger Art entwirft der britische Bestsellerautor Michael Cordy in seinem metaphysischen Thriller Lucifer (dt. Lucifer. Träger des Lichts77). Cordy, der über zehn Jahre lang Marketingleiter in einem englischen Konzern war, bevor er diesen Beruf an den Nagel hängte, um seiner Faszination für die Genforschung nachzugehen und sich auf das Schreiben von Wissenschaftsthrillern zu verlegen, ist ein Paradebeispiel dafür, dass das Thema Apokalypse nicht nur in den intellektuellen Rochaden der Literaturelite eine Rolle spielt, sondern schon längst zum Standardrepertoire der gehobenen Trivial- und Unterhaltungsliteratur gehört. Dafür steht sein 1997 veröffentlichter Roman Lucifer paradigmatisch ein. Aufbau und Erzählweise des Buches entsprechen zunächst einmal eindeutig dem klassischen Muster des Kriminalromans. In seiner Oberflächenstruktur zieht der Roman, der an der Peripherie zur literarischen Utopie angesiedelt ist und das Gefahrenpotential einer sich immer mehr vom Menschen entfernenden Neurophysik und Computertechnik aufzeigt, denn auch alle Register des klassischen Thrillers: Er verfügt über einen chronologisch-sukzessiven Erzählverlauf, eine sich von Aktion zu Aktion steigernde Handlungsdynamik und eine dezidierte Zukunftsspannung, die das Interesse des Lesers auf den Ausgang des geschilderten Abenteuers lenkt. Und wie immer im Thriller geht es in Lucifer um den Kampf zwischen Gut und Böse: um die urbildhaft-archaische Auseinandersetzung zwischen dem – mit dem Siegel des Außergewöhnlichen gekennzeichneten – Helden und seinem ebenbürtigen Kontrahenten, dem mit fast überirischen Qualitäten ausgeVgl. Grass, Die Rättin, 169 f. Von nun an wird im Text aus folgender deutscher Übersetzung zitiert werden: Michael Cordy, Lucifer. Träger des Lichts, aus dem Englischen übers. Sepp Leeb, 2. Auflage München 2004. 76 77

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statteten »master criminal«, der an der Ausführung seines diabolischen Weltvernichtungsplans gehindert und in einem letzten Entscheidungskampf bezwungen werden muss. All diese Stilelemente des klassischen Thrillers werden von Cordy meisterlich bedient und garantieren seinem Roman hohe Auflagenzahlen. Doch diese genretypische Virtuosität ist kein Nachweis für die Trivialität seines Buches. Denn bei all seiner handwerklichen Routine ist Cordy kein flacher Unterhaltungs- und Trivialautor, der seine Leser mit gängigen weltanschaulichen Stereotypen und seichten Erklärungsmustern zufrieden stellen möchte. Ihm geht es in Lucifer um weit mehr: um die Thematisierung und Erörterung ethischer und metaphysischer Fragestellungen wie die Gefahren der Technik, die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes. Doch der Reihe nach. Wovon handelt dieser in einer nahen Zukunft spielende Roman? Der spanische Kardinal Xavier Accosta ist zum Oberhaupt der größten Kirche der Welt aufgestiegen. Der charismatische Anführer einer von Rom abgefallenen Bewegung namens Kirche der Seelenwahrheit hat sich zum Ziel gesetzt, die Kirche von innen heraus zu reformieren, indem mit Hilfe von Wissenschaft und Technik die Existenz Gottes bewiesen werden soll. Während den etablierten Religionsgemeinschaften die Gläubigen in Scharen davonlaufen, kreuzt der wegen seiner Kleidung der »Rote Papst« genannte Renegat auf seiner »Roten Arche« die Weltmeere, hält »virtuelle Gottesdienste« im »Optinet« und bedient sich eines Teams namhafter Wissenschaftler, um sein mysteriöses »Seelenprojekt« zu realisieren: Mit Hilfe eines neu entwickelten, die Erkenntnisse der Quantenphysik nutzenden Verfahrens möchte der technikbesessene Accosta den Glauben an Gott in unumstößliches Wissen verwandeln, indem er den Weg der menschlichen Seele über den Tod hinaus nachzeichnet. Um der sterbenden Seele, die beim Tode den Körper in Form einer kohärenten Ansammlung von Photonen – als Einstein-Bose-Kondensat – verlässt, jedoch wirklich folgen zu können, müssen in qualvollen Experimenten Hunderte von Menschen getötet und ihr Sterbeprozess rekonstruiert werden. Nur so lässt sich die als Interferenzmuster oder »Seelenstrichcode« erscheinende individuelle Wellenlänge der Seele gewinnen, die eine Kommunikation mit ihr aus dem Jenseits möglich macht. Accosta braucht diesen individuellen Strichcode, da er das Experiment an sich selbst durchführen lassen möchte. Er hält sich für den »zweiten Messias«, der den Menschen durch seine technisch bewerkstelligte Wiederauferstehung die Frohbotschaft von der Existenz Gottes aus dem Jenseits verkünden möchte. Aber sein Versuch schlägt fehl. Was als größtes Medienereignis der Geschichte, als Übertragung der virtuellen Auferstehung und Apotheose des Roten Papstes gedacht war, gerät zum Desaster. Statt des

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angekündigten neuen Evangeliums, das Gottes Herrlichkeit und Liebe bestätigen soll, vermag der Verstorbene nur zu berichten, dass Gott nicht existiere und der wahre Herrscher der Welt Satan sei. Satan aber habe ihn dazu bestimmt, das unmittelbar bevorstehende Kommen der vier Reiter der Apokalypse zu verkünden. Diese folgt stehenden Fußes, und zwar in Form von zwei gewaltigen technischen Katastrophen. Der erste apokalyptische Reiter sorgt durch einen globalen Stromausfall für soziale Unruhe und Aufruhr, der zweite durch einen Zusammenbruch aller Daten- und Onlinesysteme für einen weltweiten Informationsnotstand, eine digitale Hungersnot. Und schon schicken sich der dritte und vierte Reiter an, durch das Auslösen einer atomaren Kettenreaktion Krieg und Tod auf die Erde zu bringen. Aber noch bevor sie ihr apokalyptisches Vernichtungswerk umsetzen können, greifen die Computerspezialistin Amber Grant, der Neurophysiologe Miles Fleming und der Führer des Jesuitenordens, Pater Peter Riga, in das Geschehen ein, um die Welt vor ihrem drohenden Untergang zu retten: Sie alle haben erkannt, dass die bisherigen apokalyptischen Zeichen keine überirdischen Manifestationen, sondern von Menschenhand erzeugte Katastrophen sind, hinter denen ein irdischer Agent des Satans steckt: der geniale Quantenphysiker und Informatiker Bradley Soames. Soames, der sich selbst vor jedem Sonnenlicht schützen muss, da er an Xeroderma Pigmentosum, einer Hautkrebs erzeugenden Lichtüberempfindlichkeit, leidet, ist die Entwicklung eines auf optischen Schaltkreisen basierenden Computers, eines mit Lichtgeschwindigkeit arbeitenden Photonenprozessors, gelungen, der mit Hilfe des Optinet, des optischen Internets, den ganzen Weltmarkt erobert hat. Um die absolute Kontrolle über das neue, lichtgesteuerte Daten- und Informationsnetz zu gewinnen, hat er in einer geheimen Zweigstelle seiner Firma in Alaska einen gigantischen Supercomputer mit dem Namen »Lucifer« entwickelt, durch den die apokalyptischen Zeichen verursacht und umgesetzt werden: »Er ist die Gestalt gewordene Kraft unseres Herrn, das Werkzeug, um seine dunkle Aufklärung auf der ganzen Welt zu verbreiten.«78 Bradley Soames ist also der Kopf der apokalyptischen Verschwörung. Er war es auch, der hinter den vermessenen Seelenexperimenten des Roten Papstes stand. Um dem ganzen Spuk ein Ende zu bereiten, muss also diesem teuflischen Intriganten das Handwerk gelegt werden. Und tatsächlich gelingt es Amber Grant und Miles Fleming, sich in Soames’ Reich einzuschmuggeln, das »Lucifer«-Programm zu deaktivieren und den Verschwö78

Cordy, Lucifer, 347.

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rer zu bezwingen: Soames fliegt mitsamt »Lucifer« in einer gewaltigen Explosion in die Luft. Wir kennen solche oder ähnliche Schlusssequenzen, in denen der master criminal bezwungen und sein Imperium zerstört wird, zuhauf aus der gängigen Thriller- und Science-Fiction-Literatur. Das Besondere an Cordys Roman ist allerdings, dass er dieses gattungsspezifische Schema durchbricht und ein kühnes, collagenartiges Spiel mit literarischen Vorlagen betreibt, das in seiner weltanschaulichen Wucht und seinem finalen Pathos an Schlüsseltexte der Weltliteratur erinnert. Wie Dürrenmatt und Grass adaptiert auch Michael Cordy bewusst das endzeitliche Modell von Jean Pauls Rede, um die apokalyptische Dimension des Geschehens zu unterstreichen. Gleich zwei Mal, am Ende des zweiten und dritten Buchs, orientiert er sich an dem von Jean Paul vorgegebenen Konzept des in einer Endzeitrede gipfelnden Schlussakts, um die Handlung dramatisch zuzuspitzen. Immerhin stehen, wie bei Jean Paul, Sein oder Nichtsein der Welt und Gottes auf dem Spiel. Allerdings bemüht sich Cordy, das durch Jean Paul vorgegebene Rahmenmodell auf die Moderne zu übertragen und theologisch zu überbieten. Die erste seiner Jean-Paul-Adaptionen, Accostas rhetorisches Vermächtnis, ist denn auch eindeutig als »Rede des toten Papstes, aus dem Höllenschlund Satans heraus, dass kein Gott sei« inszeniert. Cordy belässt es also nicht bei der Botschaft, dass es Gott nicht gibt, sondern er radikalisiert Jean Pauls apokalyptischen Alptraum, indem er die Stimme des roten Papstes aus dem Totenreich verkünden lässt, dass der wahre Herrscher der Welt Satan sei. Deshalb gebe es keinen Lebenssinn, keine höhere Gerechtigkeit, kein Entrinnen aus unserem entropischen, durch Willkür und Leid bestimmten Dasein. Und deshalb würden auch die vier Reiter der Apokalypse seiner Totenrede folgen, um die Wahrheit seines Dysangeliums zu bezeugen.79 Die zweite Jean-Paul-Adaption, Bradley Soames’ Epilog, stellt eine weitere Verschärfung der literarischen Vorlage dar. Hier handelt es sich um eine von Cordy grandios in Szene gesetzte »Rede des zweiten Sohns Gottes vom Weltgebäude herab, dass Gott sich um des Menschen willen von seinem Ebenbild verabschiedet hat«. Schon die äußere Ausgangslage verdeutlicht, auf welche Weise Cordy Jean Pauls Rede situativ persifliert und dramaturgisch zuspitzt: Der von Miles Fleming körperlich überwältigte Soames baumelt an der Hand seines Bezwingers über dem Abgrund, in dem gleichgültig und kalt die globusartige, mehrere Meter große Lichtkugel von »Lucifer« kreist. Mit dem Mute der Verzweiflung versucht der Besiegte in einer bekenntnishaften Schlussrede – einem rückhaltlosen Akt der Selbst79

Ibid., 291 – 294.

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offenbarung – das Ruder noch einmal herumzureißen und Fleming von der Notwendigkeit der von ihm heraufbeschworenen Apokalypse zu überzeugen: »Lucifer« dürfte unter keinen Umständen daran gehindert werden, die Vernichtungsmächte von Krieg und Tod, also das dritte und das vierte Zeichen der Apokalypse, über die Erde zu bringen, weil davon das metaphysische Heil und die Selbstbefreiung des Menschen abhänge. Es gehe darum, das Unkraut des Glaubens auszureißen und die tödlichen Nägel des Unglaubens in den Sarg der Religion zu schlagen. Denn die Religion habe, anstatt den Menschen zu befreien, ihn durch Strafe und Schuld geknechtet. Diese Fesseln müssten gesprengt und ein für allemal vernichtet werden. Deshalb die Prophezeiung des Roten Papstes und deshalb die vier Zeichen der Apokalypse. Denn Gott möchte, »dass die Menschen, die Krone der Schöpfung, endlich mündig werden und ihn nicht mehr brauchen«80. Darum habe er nach Jesus »einen zweiten, dunkleren Sohn« geschickt, »um ein für alle Mal zu beweisen, dass Gott nicht existiert« und nur der Teufel die Welt regiert.81 Dieser zweite Sohn Gottes aber sei er selbst, Bradley Soames: Ich bin sowohl Lucifer als auch Gottes Sohn. Ich bin Gottes Werkzeug. Ich bin das Höllenfeuer, das Leid und Verzweiflung über die Menschheit bringt. Aber ich bin auch die läuternde Flamme, die den Boden bereitet für eine künftige, widerstandsfähigere Saat.82

Mit diesem grandiosen Schlusswort überbietet Cordy das Thema von Jean Pauls Rede, indem er den genialen Wissenschaftler Soames zum Gottessohn in der Nachfolge Luzifers erhebt, der im Sinne der Aufklärung Licht in das Dunkel der Menschheit bringen und ihre Autonomie erkämpfen will. Die Mündigkeit des Menschen wird dabei, ähnlich wie in Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts, auf eine Weise erstrebt, dass Offenbarung säkularisiert und in die Hände des Menschen gelegt wird. Wie bei Lessing wird der göttliche Akt der Offenbarung durch einen Erziehungsprozess abgelöst, der den Menschen in die Lage versetzen soll, sich aus Gottes Führung zu lösen und das Gute nicht in Erwartung himmlischer Belohnungen, sondern um seiner selbst willen zu tun. Soames scheitert. Sein Erziehungsprojekt wird durch die Intervention von Miles Fleming, der ihn physisch überwältigt, und Amber Grant, die ihn geistig bezwingt und das »Lucifer«-Programm deaktiviert, zunichtegemacht. Des Ziels seiner Sendung beraubt, stürzt der entmachtete Selbstgott rücklings in die Tiefe, um mit gebrochenem Rückgrat auf dem lichtdurch80 81 82

Ibid., 354. Ibid. Ibid., 356.

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fluteten Feuerofen von »Lucifer« zu verenden. Wie eine Verbindung aus Prometheus und Christus, an den Fels der modernen Technik und das Kreuz seiner eigenen Erfindung geschlagen, endet er mit ausgebreiteten Armen als Gekreuzigter, der noch im Sterben in der Rolle des sich für das Heil des Menschen opfernden Gottessohns verbleibt. »Vergib mir, Vater«, so sein Jesus nachempfundener und sein Scheitern besiegelnder Todesschrei, »ich habe ihnen zu helfen versucht.«83 Diese Anverwandlung des gekreuzigten Christus ist jedoch lediglich eine dem Wahnsinn entsprungene Attitüde. Sowohl auf der Symbol- als auch auf der Handlungsebene entlarvt der Roman Soames als »falschen Propheten«, der sich hinter der Maske des harmlosen Wissenschaftlers verbirgt, in Wirklichkeit aber ein reißender Wolf ist, den man an den Früchten seiner Arbeit erkennen kann (Mt 7, 15 – 23): Als Herr der Apokalypse will Soames einen globalen Atomkrieg auslösen, der Millionen von Menschen den Tod bringen würde. Im Gegensatz zu Jesus führt sein Erlösungswerk also nicht über den Weg der Liebe zum Frieden, sondern über Gewalt und Krieg zum Tod. Auf der Motiv- und Zeichenebene findet diese Enttarnung des Lügenpropheten ihre Bestätigung. Soames wird von zwei dämonenhaften Wölfen begleitet, die er als Mordwaffe einsetzt und die ihrem sterbenden Meister mit einem Sprung in den Abgrund folgen. Er selbst ist ein Lichtbringer, der aufgrund einer Hautkrankheit das Licht nicht verträgt und wie ein Herr der Finsternis stets in abgedunkelten Räumen residiert. Es ist überdeutlich, auch wenn Cordy von einer unmittelbaren Bewertung von Soames absieht: Dieses Computer- und Physikgenie, das wie Satan in John Miltons Paradise Lost oder Stawrogin in Dostojewskis Die Dämonen Züge des edlen Verführers trägt, ist kein Heilsbringer, kein zweiter Christus. Liebe und Heil geht von diesem selbstberufenen Herrn der Apokalypse gerade nicht aus – wie überhaupt der Themenkomplex Apokalypse in diesem Roman negativ besetzt ist. Für die Perspektive von Trost und Hoffnung steht hingegen – als unfreiwillige Prophetin der Frohbotschaft – Soames’ Gegenspielerin ein, die Computerspezialistin und Katholikin Amber Grant. Als siamesischer Zwilling geboren und als Kind von ihrer Schwester Ariel durch eine komplizierte Kopfoperation getrennt, lebt sie an der Schwelle zwischen Leben und Tod, weil sie noch Teile des Gehirns ihrer während der Operation verstorbenen Schwester in sich trägt und von Ariel immer wieder an die Grenze des Todes gerufen wird. Sie, die wegen ihrer unmittelbaren Nahtoderfahrung von Soames als »Versuchskaninchen«84 eingesetzt wurde, um der Frequenz der sterbenden Seele auf 83 84

Ibid., 360. Ibid., 151.

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die Spur zu kommen, erfährt im Traum die Vereinigung mit der sich von ihr verabschiedenden Schwester. Von Ariel an die Pforten des Jenseits geführt, darf Amber Grant in einem »atemberaubenden Moment der Erleuchtung« einen Blick hinter die Grenzen des Irdischen werfen: »Wie ein Bergsteiger, der von einem Berggipfel auf eine sonnenbeschienene Ebene herabblickt, kann sie deutlich sehen, wohin ihre Schwester gegangen ist. Und ihre Adoptivmutter. Und alle, die sie geliebt hat.«85 Ihre Vision ist, auch wenn sie sich – wie jede mystische Erfahrung – des sprachlichen Zugriffs entzieht, das vollkommene Gegenteil und die positive Kontrafaktur der Schreckensbotschaft des Roten Papstes – und damit auch von Jean Pauls apokalyptischem Alptraum. Miles Fleming, ihrem atheistischen Mitstreiter und späteren Mann, wird sie jedenfalls berichten: Ich weiß, wohin meine Schwester gegangen ist, weil sie es mir gezeigt hat. Näher möchte ich mich dazu nicht äußern, weil sich das, was ich gesehen habe, nicht beschreiben lässt – jedenfalls ist sie im Jenseits gut aufgehoben. Das habe ich nicht gesehen, das habe ich gespürt. Es ist ein Ort, an dem es kein Leid gibt. In diese sonnigen Gefilde reicht der Schatten des Schmerzes nicht. Am ehesten ließe es sich wohl als ein Zustand der Glückseligkeit beschreiben.86

85 86

Ibid., 261. Ibid., 294.

König Markes Geschichte, 2003 von ihm selbst erzählt – Viola Alvarez’ Arbeit am Mythos ›Tristan und Isolde‹ Von Brigitte Spreitzer Die deutsche Autorin Viola Alvarez – graduierte Germanistin und Historikerin – hat zwischen 2003 und 2006, von der Mediävistik weitgehend unbemerkt, drei umfassende Mittelalterromane vorgelegt: Das Herz des Königs (2003), Wer gab Dir, Liebe, die Gewalt (2005) und Die Nebel des Morgens (2006). Mit ersterem führte sie (zeitgleich mit Raoul Schrott und seinem Tristan da Cunha) die produktive deutschsprachige Tristan-Rezeption ins 21. Jahrhundert. Um diesen soll es im Folgenden gehen. Nach rund 1000 Jahren Rezeptionsgeschichte1 verspricht uns ein fiktiver Autor namens Marke auf dem Titelblatt nichts Geringeres als endlich die Wahrheit: Das schöne und traurige Leben von Marke Herrscher zu Tintâgel von ihm selbst erzählt.2 Auf der Rückseite des Titelblattes erfahren wir des weiteren, dass »in diesem Roman ( …) bisweilen Motive aus den mittelalterlichen Tristan-Romanen Eilharts von Oberge und Gottfrieds von Straßburg verarbeitet« werden. Wenden wir uns zunächst diesen paratextuellen Gattungssignalen zu. Mit der Formulierung »von ihm selbst erzählt« greift Alvarez einen Topos auf, wie er etwa mit Defoes Robinson Crusoe (The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe ( …). Written by himself, 1719) in die Weltliteratur eingegangen ist und in jüngster Zeit von Peter Handke ebenfalls für die Bearbeitung eines traditionsreichen literarischen Stoffs eingesetzt wurde: Don Juan (erzählt von ihm selbst).3 Alvarez inszeniert mit diesem Kunstgriff bereits im Paratext der Titelgebung ein doppeltes Spiel mit der Fiktion: Mit dem Gattungsindex der Autobiografie 1 Erste mündliche Versionen des Tristan-Stoffes lassen sich ab dem 10. Jahrhundert fassen. Vgl. Volker Mertens, »Der Tristanstoff in der europäischen Literatur des Mittelalters«, wagnerspectrum 1 (2005), 11 – 42, hier 11. 2 Viola Alvarez, Das Herz des Königs. Das schöne und traurige Leben von Marke Herrscher zu Tintâgel von ihm selbst erzählt, Bergisch Gladbach 2005 (= BLT 92187) [1. Aufl. 2003], Titelblatt. In der Folge im Text mit der Sigle HdK zitiert. 3 Peter Handke, Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt am Main 2004.

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wird augenzwinkernd auf historische Wahrheit über »Marke Herrscher zu Tintâgel« gepocht, und gleichzeitig werden die LeserInnen schon hier dazu verführt, zu vergessen, dass es sich beim Tristan-Universum um Literatur handelt und nicht um Historie. Als würde der historische Roman samt seiner definitorischen Matrix auf den Kopf gestellt, wird hier nicht Geschichte in Fiktion übergeführt, sondern Fiktion in (fingierte) Geschichte. Marke entledigt sich seiner Literarizität und stellt klar, wie es wirklich war. Das Herz des Königs kann also allenfalls ein historischer Roman zweiter Ordnung sein; das Werk spielt mit den Gattungsfloskeln und stellt damit – und in seiner noch zu analysierenden Gesamtstruktur – Historiografie als solche zur Disposition. Dass die Romanhandlung historisierend Ende des 5., Anfang des 6. Jahrhunderts4 situiert wird, ändert nichts an dieser gattungsmäßigen Weichenstellung. Worum es sich ›wirklich‹ handelt, teilt die Autorin im weniger zentral gesetzten, bereits zitierten Paratext der Titelrückseite einem mediävistisch geschulten Fachpublikum mit, das Das Herz des Königs somit in die Rezeptionsgeschichte des Tristan-Stoffs mit Gottfrieds und Eilharts Tristan als die unmittelbaren Prätexte einordnen kann. Was heißt das für die Gattungsbestimmung des Romans? Dem Tristan-Stoff wird inzwischen der Rang eines europäischen Mythos zugesprochen.5 Friedrich und Quast sehen zusammenfassend das mythische Potenzial der Stoffbearbeitungen in der besonderen Gestaltung der Tristan-Liebe als ehebrecherischer Liebe, in der mythischen Dimensionierung der Liebe durch die Imagination einer Heterotopie – eines anderen mythischen Ortes, der den Liebenden allein vorbehalten bleibt.6 Psychoanalytisch betrachtet als eine Form der Bewältigung von Grundkonflikten,7 als eine über lange Zeiträume tradierte kollektive Wunschfantasie, die bestimmten Abwehrprozessen unterliegt,8 lässt sich der Mythos-Begriff definitorisch klar auf den 4 Vgl. etwa die Anspielung auf die Gründung von St. Materiana und die Situierung des »Jetzt« der Romanhandlung 50 Jahre später; HdK, 214. St. Madrun, einer Legende nach die Gründerin von St. Materiana, starb um 500. Vgl. David Hugh Farmer, The Oxford Dictionary of Saints, 2., korr. Aufl., Oxford 1979, 255 u. Agnes B. C. Dunbar, A Dictionary of Saintly Women, Bd. II, London 1905, 3 u. 67. 5 Vgl. mit weiteren Literaturhinweisen Tomas Tomasek, Gottfried von Straßburg (RUB 17665), Stuttgart 2007, 249. 6 Vgl. Udo Friedrich, Bruno Quast, »Mediävistische Mythosforschung«, in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. Udo Friedrich, Bruno Quast, Berlin 2004, IX – XXXVII, hier XXX. 7 Vgl. Gertrud Höhler, »Die Schlüsselrolle des Ödipusmythos. Zu Sigmund Freuds Mythos-Begriff«, in: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 36), hg. Helmut Koopmann, Frankfurt am Main 1979, 321 – 339; hier 330 mit Bezug auf den Freudschen Mythosbegriff.

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Tristan-Stoff beziehen. Mit Ioana Craciun literaturwissenschaftlich operationalisiert, kann man den Mythos als ein System von aufeinander bezogenen literarischen Werken definieren, der ausschließlich in seiner ästhetischen Gestaltung lebt und im Rahmen der Intertextualitätstheorie betrachtet Prä-Text ist. Jede neue Version steht in einem weit verzweigten Netz von konvergierenden literarischen Werken, die im Rezeptionsakt vergleichend aktualisiert werden, und ist Teil einer immerwährenden Metamorphose des Mythos – Mythopoesis.9 In diesem definitorischen Feld ist Das Herz des Königs – in der Gattungsinszenierung der Autorin fiktiver historischer Roman, fiktive Autobiografie – zu verorten: ein mythopoetischer Roman, dessen unmittelbare Prätexte die genannten, rezeptionsästhetisch gesehen aber potenziell alle den Mythos konstituierenden Texte bilden. Eine (auf den deutschsprachigen Raum beschränkte) kursorische Positionsbestimmung von Alvarez’ Roman innerhalb des so verstandenen Tristan-Mythos lässt sich vorab folgendermaßen skizzieren: Von Emil Lucka und Georg Kaiser kennen wir die schon in der Titelgebung apostrophierte Option des Perspektivenwechsels und der Umfokussierung in der Figurengestaltung. Lucka lenkt mit seinem Roman Isolde Weißhand 10 1909 den Blick auf jene weibliche Nebenfigur, an der die absolut gesetzte Liebe zwischen Tristan und Isolde ihre Unbedingtheit verliert, ohne jedoch die Positivität und Idealität der ›wahren‹ Isolde anzutasten. Georg Kaiser rückt in seinem 1913 fertig gestellten, aber erst 1931 uraufgeführten Drama König Hahnrei 11 die Figur des Marke in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – Marke wird als gleichzeitig ausgeschlossener und partizipierender Dritter zwar in seiner Rolle radikalisiert, aber nicht – wie bei Alvarez – aus seiner Rolle geholt. Auch Herbert Rosendorfers Hörspiel (1993)12 verspricht mit dem Titel Brangäne, eine zentrale Neben- zur Hauptfigur zu machen, ironischerweise ohne dies tatsächlich einzulösen: Brangäne bleibt konzeptio8 Vgl. Rolf Vogt, »Mythos, Mythologie«, in: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, hg. Wolfgang Mertens, Bruno Waldvogel, 3., überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart 2008, 484 – 487, hier 485. 9 Vgl. Ioana Craciun, »Mythos und Intertextualität. Prolegomena zu einer literaturwissenschaftlichen Mythostheorie«, Zeitschrift der Germanisten Rumäniens 9, 2000, H. 17 – 18, 65 – 69. Online im Internet: http://www.e-scoala.ro/germana/ ioana_craciun2.html, 2 [Stand 11. 4. 2011]. 10 Vgl. Emil Lucka, Isolde Weißhand. Ein Roman aus alter Zeit (Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane 6,11), Berlin [1915]. 11 Vgl. Georg Kaiser, »König Hahnrei«, in: G. K., Werke, hg. Walther Huder, Bd. 1: Stücke 1895 – 1917, Frankfurt am Main [u. a.] 1971, 369 – 454. 12 Vgl. Herbert Rosendorfer, Brangäne oder Hochzeitsnacht in Stellvertretung. Ein fürstliches sowie altkeltisches Trauerspiel in 13 Szenen und einem Epilog, München o. J. [ca. 1993].

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nell die Brangäne der mittelalterlichen Versionen, mit der (die tituläre Ironie auf die Spitze treibenden) Zutat, dass sie aus der Handlung verschwindet; nicht einmal ihres Namens kann sich die gealterte Isolde mehr entsinnen. Die deutschsprachige mythopoetische Arbeit am Tristan des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ist insgesamt als Demontage zu charakterisieren. Ingomar Kieseritzky und Karin Bellingkrodt ziehen in ihrem 1986 erstmals ausgestrahlten Hörspiel Tristan und Isolde im Wald von Morois oder der zerstreute Diskurs13 den innersten Kern des Liebesmythos in die Realität triefender Nasen und das »fäkalienloch«14 verstopfender (anachronistischer) Damenbinden; das Liebesbegehren des am Wunschort angekommenen und dort gefangenen Paares pendelt aus im Vakuum, das entsteht, wenn der Input von außen sistiert und der Koitus bis zum Überdruss in allen Varianten vollzogen ist. Bei Norbert Silberbauer (1994)15 ist Gottfrieds Tristan nur noch Lektüre16, die des Protagonisten Träume von der außergewöhnlichen Affäre nährt. Weltentrückte Mythe und handfeste Pornografie prallen im in einer Schottergrube geparkten Wagen ›Tristans‹ (im ›echten‹ Leben heißt er bloß Franz) ungebremst aufeinander, als dieser mit einer ihrem verehelichten Universitätsdozenten der Germanistik die Hörner aufsetzenden ›Isolde‹ (im ›echten‹ Leben heißt sie bloß Veronika) seinen Gottfried in die genitale Realität umsetzt. Dagegen nimmt sich die Erosion des Liebesmythos in Raoul Schrotts Tristan da Cunha17 (2003) schon fast wieder harmlos aus. Schrott probiert die Tristan-Konstellation auf den verschiedensten Text-Ebenen in verschiedensten Varianten durch, um letztendlich das Scheitern der Liebes-Utopie als solcher vor Augen zu führen. Das tote Kind im Leib der Noomi Morholt18 (eine der ›Isolden‹ des Romans) verweist allegorisch auf die Unfruchtbarkeit der Tristan-Liebe, die als Projektion der Sehnsucht nach Totalisierung des eigenen Selbst auf den anderen als zutiefst narzisstisches Unterfangen demaskiert wird. Viola 13 Vgl. Ingomar Kieseritzky, Karin Bellingkrodt, »Tristan und Isolde im Wald von Morois oder der zerstreute Diskurs«, in: I. K., K. B., Tristan und Isolde im Wald von Morois oder der zerstreute Diskurs. Dialoge, Graz 1987, 5 – 66. 14 Ibid., 47. 15 Vgl. Norbert Silberbauer, Franz. Roman, Wien 1994. 16 Ähnlich fungiert schon bei Storm die Gottfried-Lektüre als Aphrodisiakum, jedoch ohne dass der Autor von diesem Mechanismus metareflektierenden Abstand nehmen und ihn zu einer Demontage des Mythos nützen würde. Vgl. Theodor Storm, »Späte Rosen«, in: Th. St., Sämtliche Werke in vier Bänden (Bibliothek deutscher Klassiker 19), hg. Karl Ernst Laage, Dieter Lohmeier, Bd. 1: Gedichte, Novellen, 1848 – 1867, hg. Dieter Lohmeier, Frankfurt am Main 1987, 427 – 438. 17 Vgl. Raoul Schrott, Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde. Roman (Fischer Taschenbuch 16464), Frankfurt am Main 2006. 18 Vgl. ibid., 682 f.

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Alvarez nun setzt auf der Ebene der Figurenumgewichtung an, die sie dazu nutzt, das längst zur Ikone gewordene Paar, den Mythos ›Tristan und Isolde‹ als solchen zu stürzen. Zum ersten Mal ist Isolde per se und von Anfang an schlicht nicht begehrenswert, ist Tristan nicht mehr als ein verkorkster, wenn auch hochbegabter Musiker, welcher das Interesse an Isolde recht schnell wieder verliert und sich den LeserInnen als pickeliger, zu dünn geratener Jüngling einprägt, der gerade dabei zu sein scheint, aus der Garde weltliterarischer Glanzfiguren abzudanken. Kein tragisches Scheitern einer tragischen Liebe, sondern die Ridikülisierung eines (von Tristans Seite) kurzlebigen ›Gefühlchens‹, das zwei Loser aneinanderhält. Das Herz des Königs folgt dem für postmoderne Literatur und Kunst charakteristisch gewordenen Prinzip der Mehrfachcodierung.19 Verlag, Titelgebung und Umschlaggestaltung geben den Text als leicht konsumierbaren Liebesroman aus, der die Bedürfnisse eines durchschnittlichen LübbePublikums abzudecken verspricht. Der Roman ist durchgehend so angelegt, dass er auch ohne jegliche Kenntnis der Prätexte lesbar bleibt und im Rahmen eines auf Unterhaltung ausgerichteten Erwartungshorizontes verstanden und rezipiert werden kann. Den KennerInnen eröffnet die Lektüre hingegen ein vielschichtiges und multiperspektivisches intertextuelles Spiel, dessen Komplexität im Folgenden erkundet werden soll. Liegt der Hauptakzent der Geschichte auf der als Analepse angelegten fiktionalen autobiografischen Erzählung Markes, inszeniert der Roman durch die Montage einer Vielzahl von anderen Stimmen jedoch Polyphonie: Zu Wort kommen der fiktionalen autobiografischen Erzählung Markes entstammende Figuren (die Loba, der Majordomus, die Äbtissin von St. Materiana, Philipp of Cowley, Bischof von Salisbury, und Ruâl der Ältere und der Jüngere), Personen, die außerhalb des explizierten Horizonts des fiktiven Autobiografen bleiben, aber mit ihm vertrauten Figuren in Verbindung stehen (Enzio Vito II. von Avignon, Spione der Loba und ein Rechnungsbuch-Schreiber des Bischofs von Salisbury), anonyme oder namentlich genannte Verfasser von Liedern, die Verfasserin einer Klosterchronik und namenlos bleibende Fratres von St. Materiana, die Cornwalls Chronik für Markes Familie führen. Neben der Autobiografie fingiert die Autorin also Textsorten wie Chronik, Brief, Rechnungsbuch und verschiedene Subtypen des Lieds. Wie noch im Einzelnen gezeigt werden wird, stellt sie mit dieser 19 Vgl. dazu etwa Dieter Borchmeyer, »Postmoderne«, in: Moderne Literatur in Grundbegriffen, hg. Dieter Borchmeyer, Viktor Žmegacˇ, Frankfurt am Main 1987, 306 – 316, hier 310 f. Berühmte Beispiele dafür sind Umberto Ecos Roman Der Name der Rose, der auch als bloßer Detektivroman gelesen werden kann, und Patrick Süskinds Roman Das Parfum, der beim Massenpublikum nicht mehr als ein Krimi sein muss.

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Collage aus fingierten historischen Quellen historische Realität als solche zur Disposition. Vor dem Hintergrund des (im obigen Sinn intertextuell definierten) grand récit des Mythos spricht nun Marke als Autobiograf die Wahrheit – aber die nachfreudianischen postmodern geschulten LeserInnen wissen, wie’s ohnehin um die Wahrheit des Autobiografischen bestellt ist, und schon gar von Figuren, die nur in Roman-Universen gelebt haben. Und bei aller Spannung und Identifikation muss ihnen bisweilen einfallen, dass auch der ›historische‹ Marke von Alvarez eine raffiniert ausgedachte Romanfigur ist – wenn die alternativen ›Quellen‹ wiederum Markes Mythos zum grand récit machen, den sie dekonstruieren, während sie ihrerseits in ihrem Anspruch auf Historizität von Markes Wahrheitsdiskurs dekonstruiert werden. Was bleibt, ist die subjektive, gerade jetzt generierte Wahrheit dessen, der sie dafür hält. Wenn Alvarez Das Herz des Königs mit einem als solchen ausgegebenen Auszug aus »Cornwalls Chronik« (HdK, 8) beginnen lässt, noch bevor Marke mit dem »Ich« autobiografischen Erzählens anhebt (HdK, 9), setzt sie schon im Auftakt diesen Hiatus zwischen offizielle und persönliche Geschichtsschreibung, deren Diskurse durchwegs in konterkarierender Spannung zueinander stehen. Die LeserInnen sollen mitverfolgen, wie aus persönlichem und authentischem (Er-)Leben geschriebene, öffentliche Geschichte wird – mit all ihren Reduktionen, Hinzudichtungen, Verfälschungen und Beschönigungen. Dass gerade diese Chronik in fingiertem Mittelhochdeutsch gehalten ist, dem jeweils in quasi philologischer Aufarbeitung die ›Übersetzung‹ ins Neuhochdeutsche folgt, unterstreicht das Spannungsverhältnis zwischen dem, was das moderne Publikum für die historische Wahrheit zu halten gelernt hat, und dem privaten Dokument der Autobiografie: Langehrwürdig überlieferte depersonalisierte Schriftsprache erscheint zunächst bei weitem ›wahrer‹ als der persönliche Erinnerungsstrom einer einzelnen Figur; ihr traditioneller Wahrheitsanspruch kann so als Wahrheitseffekt von Textsortenindex und Schriftlichkeit decodiert werden. Eine andere Weise, den LeserInnen in statu nascendi zu zeigen, wie Geschichte im Wortsinn gemacht wird, ist die Montage von Briefen anderer Romanfiguren in die Abfolge der Erinnerungsteilstücke der fiktiven Autobiografie. Durch die Namengebung mit dem Nimbus historischer Persönlichkeiten versehen (etwa »Michaele de Zwyyntek, Majordomus von Tintâgel zu Cornwall«, »die ehrwürdige Äbtissin Perpetua des Klosters zur guten Pforte bei St. Materiana«,20 »Konstanze von Aquitanien, genannt die Loba«, »Bischof Enzio Vito II. von Avignon«,21 »Philipp of Cowley, 20 21

HdK, 14. HdK, 70.

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Bischof von Salisbury«22), agieren und intrigieren verschiedene Figuren ihren jeweiligen persönlichen und politischen Machtinteressen folgend rund um Marke als dem König von Cornwall. Auch in diesen fingierten historischen Quellen setzt Alvarez Sprache als Echtheitssignal ein: Floskeln aus der mittelalterlichen Urkundensprache – etwa »Seiner Exzellenz, dem Herrn Bischof Enzio Vito von Avignon23, dem Diener der hochheiligen römischen Kirche, entbietet seine treue Verbündete und Freundin, ihre durch GOTTES GNADE allzeit erhabene Fürstin von Pyrn, schuldig steten und aufmerksamen Gehorsam, ihren freundschaftlichen Gruß, etc.« (HdK, 70) – verstärken den Eindruck der Historizität und stehen ebenfalls im Kontrast zum Sprachduktus der fiktiven Autobiografie, deren modernes Neuhochdeutsch das Jetzt der sich an ihr Leben erinnernden Privatperson markiert. Umgekehrt handelt der Roman, wie eingangs schon angedeutet, auf seiner Metaebene die Wahrheitsfrage als Frage nach dem Verhältnis zwischen Lebensrealität und Fiktion ab. Indem Das Herz des Königs sich als die spät, aber doch nachgelieferte Wahrheit über das literarische Paar Tristan und Isolde bzw. Marke und Brangaene24 deklariert, spielt der neue Roman insgesamt mit der Fiktion, Geschichtsdokument zu sein und seine Vorgänger als bloße Fiktion zu entlarven. Auch im Detail liegt der Akzent immer wieder auf dieser Thematik: Zum Beispiel ist die echte, die Alvarez’sche Isolde so hässlich und dumm, dass ihre Mutter besonders viele Sänger bezahlen musste,25 um ihre angebliche Schönheit und Intelligenz besingen zu lassen und sie auf diese Weise doch an den Mann zu bringen. Oder im Zuge der Schilderung des in der Feder von Alvarez wenig ruhmreichen Kampfes zwischen Tristan und Morgan meint Marke: »glaubst du tatsächlich, dass die meisten Heldengeschichten einsamer Ritter sich je anders zutragen?« (HdK, 354) Und während die LeserInnen schon längst wissen, was sich in der Hochzeitsnacht wirklich abgespielt hat, lässt Alvarez hintennach »Gryffin den Schwärmer Das Lied von Leid und Liebe der Schönen Isold« tönen, das, Gottfried anzitierend26, die Farce vom liebesblinden, die eine von der anderen nicht unterscheiden könnenden Marke transportiert: Ach, was musst Isolden Schmerzen leiden, weh, schön Isold, weh,

HdK, 134. Bischof Enzio von Avignon im Text kursiv – wohl die Gepflogenheit mittelalterlicher Urkunden mit modernen typografischen Mitteln imitierend, Namen etwa durch Majuskeln oder Größerschreiben hervorzuheben. 24 So die Schreibung bei Alvarez. 25 Vgl. HdK, 360, 368, 396. 26 Vgl. G, II, 12603 ff. u. 12670 f. 22 23

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Brigitte Spreitzer Dass der alte König wollt sich an ihr weiden, weh, schön Isold, weh. Am Hochzeitsabend berief er sie in seine Kammer, weh, schön Isold, weh, Und ob das Herz ihr weinte für Tristans Jammer, weh, schön Isold, weh, Musst sie ihm nun geben ihren heimlichen Hort, weh, schön Isold, weh, Grimm Marke, der Alte, nahm wie Messing Gold, weh, schön Isold, weh, Indes Tristan sang und spielte die Harfe, rief, weh, schön Isold, weh, (… ). (HdK, 407)

Die Ironie erreicht ihren Höhepunkt, wenn Alvarez Thomas von Britannien auftauchen lässt, »ein[en] sehr von sich eingenommene[n] Mönch oder Schreiber im Dienste Philipps« (HdK, 257), der viele Gerüchte über Tristan und Isolde in Umlauf gesetzt und dabei »Marke ( …) eine schlechte Rolle zugedacht« habe (HdK, 510 f.), während doch Gottfried im Prolog zu seinem Tristan gerade Thomas als denjenigen lobt, der im Gegensatz zu anderen die richtige und wahre Geschichte erzählt.27 Subtil auch, dass es Thomas und nicht (der explizit als Verfasser eines der Prätexte ausgewiesene) Gottfried ist, der hier explizit desavouiert wird: Der mittelalterliche Dichter hat sich also an die falsche Quelle gehalten und ist den Lügengeschichten seines Gewährsmannes aufgesessen. Aber das Spiel mit einem der wichtigen Weichensteller des Mythos von Tristan und Isolde geht noch weiter. Thomas’ erstmalige Erwähnung erfolgt im Zusammenhang mit seiner Nennung in den »Rechnungsbüchern des Bischofs von Salisbury, Lord Philipp of Cowley«, wo in der Ausgabenliste vermerkt ist: »Für einen Mantel für den Sänger Thomas Pidgeon 3 Denare« (HdK, 232). Der Bischof von Salisbury als Wolfger von Erla, Thomas an der Stelle Walthers im einzigen gesicherten außerliterarischen Dokument, in dem der Sänger als historische Person Erwähnung findet – mit Pidgeon an das englische Homophon ›pigeon‹ / Taube anschließend und damit Thomas und Walther im Vogel verbindend, mit der Sekundärbedeutung von ›pigeon‹ als Dummkopf aber wiederum auf Thomas abzielend, den Alvarez damit so ganz nebenbei als eigenen Vorgänger gänzlich in die Bedeutungslosigkeit sinken lässt. Es entspricht dem Grundprinzip der Devalorisierung des Mythos durch die Autorin, dass die aus den Prätexten bekannte Handlung erst ab etwa der 27

G, I, 131 ff.

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Mitte des Romans einsetzt, während die erste Hälfte der Kindheit Markes bis zu seiner Krönung in Cornwall gewidmet ist. Dass aber mit dem gewohnten Plot nicht so ganz zu rechnen ist, erfahren die LeserInnen bereits in den ersten Erinnerungssequenzen Markes: Ich will nicht an Isolde denken. Viele glauben noch immer, dass mich der Schmerz zerreißt, die unerwiderte Liebe, die gekränkte Eitelkeit des gehörnten, ältlichen Ehemannes. Das ist alles Unsinn. Beim Gedanken an diese halbgare irische Gans empfinde ich nichts als die grenzenlose Langeweile, die mich schon überkam, als ich sie zum ersten Mal sah und mich schweren Herzens mit dem Gedanken vertraut machen musste, dass dieses dümmliche junge Ding an meiner Seite Königin werden würde. (… ) Doch der Gedanke an Isolde ist untrennbar verbunden mit der Erinnerung an die Frau, die wie eine Welle über mich hingespült ist und Land genommen hat. Die Frau, deren Mann ich gewesen bin, die meine wirkliche Königin war. Brangaene. (HdK, 13)

Dass Marke und Brangaene ein Paar werden, greift Alvarez nicht aus der Luft. Charakteristisch für ihre radikale Uminterpretation der Prätexte durch deren close reading fußt ihre Neuperspektivierung durchgehend auf der konsequenten Lektüre (zumeist) Gottfrieds. Die Geschehnisse in der Hochzeitsnacht erwecken bei Gottfrieds Isolde bekanntlich die Sorge, Brangaene als die untergeschobene Braut könne sich in Marke verlieben: si sorgete sêre und vorhte harte starke, Brangaene ob sî ze Marke dekeine liebe haete (… ). (G, II, 12702 ff.)

Alvarez’ Roman spielt diese Möglichkeit durch und treibt sie auf die Spitze: Marke und Brangaene verlieben sich nicht nur, sondern die Realität und Qualität ihrer Liebe stößt Tristan mit Isolde vom Sockel und substituiert sie. Wie Gottfried präsentiert auch Alvarez die Eltern-Vorgeschichte Tristans in einem Kapitel, das sie Rüdiger Krohns Ausgabe des Gottfried’schen Tristan folgend mit »Riwalîn und Blanscheflur« betitelt. Zur auch im Prätext angelegten politischen Begründung der in Cornwall nicht lebbaren Liebe Riwalîns und Blanscheflurs tritt im modernen Roman das von der Autorin durchweg eingesetzte Element der Psychologisierung, die durch das Auserzählen von Markes Vorgeschichte möglich wird. Blanscheflur ist ohne Vater aufgewachsen; den um sieben Jahre älteren Bruder lernt sie erst im Alter von 14 Jahren kennen, als er als König nach Cornwall zurückkehrt und die Mutter, die ihm den Thron nicht übergeben will, kurzerhand ins nahegelegene Kloster, nach St. Materiana, verbannt und dem dortigen elenden Tod ausliefert. Marke wird somit zur bewunderten Vaterfigur, an deren

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Seite sie statt der Mutter stehen kann. Der Bruder – ab dem 7. Lebensjahr nicht nur vaterlos geworden, sondern auch von der Mutter getrennt – genießt diese Konstellation, der Alvarez eine offensichtlich ödipale Struktur verleiht, ohne sie ins manifest Inzestuöse kippen zu lassen. Auf dieser Folie wird seine Weigerung, Blanscheflurs Liebe zu Riwalîn anzuerkennen, psychologisch motiviert und als auf die Geschwisterebene verschobene ödipale Problematik transparent gemacht. In der konkreten Ausgestaltung dieses Handlungsstrangs wendet Alvarez ein intertextuelles Verfahren an, wie es Raoul Schrott in seiner zeitgleich erschienenen Tristan-Annäherung poetologisch expliziert: einen guten Schriftsteller unterscheidet von einem schlechten Schriftsteller, habe ich irgendwo gelesen, daß der schlechtere Anleihen nimmt, während der bessere klaut – weil die Kunst darin liegt, das Diebesgut so gut in den eigenen Zeilen zu verstecken, daß es sich fügt, nicht auffällt und wie aus einer Feder ist.28

Das verhüllte Liebesgeständnis Blanscheflurs bei Gottfried – »ach süeze, waz hân ich getân?« sprach aber der höfsche Riwalîn. si sprach: »an einem vriunde mîn« dem besten den ich ie gewan, dâ habet ir mich beswaeret an.« (G, I, 752 ff.)

– finden wohl nur kundige LeserInnen in folgender Passage wieder: »Hinter den Zelten hörte ich, wie die Prinzessin Blanscheflur dem Herrn aus der Bretagne vorwarf, er habe eine ihr nahe stehende Person zutiefst gekränkt.« »Eine ihr nahe stehende Person?« »Wörtlich äußerte Eure erhabene Schwester: Ihr habt meinen besten Freund so traurig gemacht, dass ich auch ganz betrübt bin.« (HdK, 259)

Im Konkreten nutzt die Autorin dieses im Prätext angelegte kokettierende Verhüllungsspiel Blanscheflurs zur ironischen Darstellung eines hier noch ahnungslosen Marke, der gar nicht auf die Idee kommt, jemanden anderen für den ›besten Freund‹ zu halten als sich selbst. Er ist ganz der ödipale Bruder / Vater, der im Geliebten der Schwester / Tochter den drohenden Rivalen sieht und dabei so weit geht, dass er deren Glück der eigenen unbewussten Fixierung opfert. In einleuchtender Analogie zum Konzept Gottfrieds, nach dem die Elternvorgeschichte das Schicksal des Protagonisten-Paares präfiguriert, begegnet nun bei Alvarez im »Lied des Kurvenal von Canoel auf den Herzenskummer der schönen Blanscheflur« die dem Prolog von Gottfrieds Tristan entstammende Sentenz: 28

Schrott, Tristan da Cunha, 572.

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swem nie von liebe leit geschach, dem geschach ouch liep von liebe nie liep unde leit diu wâren ie an minnen ungescheiden. (G, I, 204 ff.)

Bei Alvarez: Wer nie wusste, was Liebesleid ist, Der weiß auch nie, was Liebe ist. (…) Kummer und Liebe gehen Hand in Hand, Wie Leben und Tod (HdK, 268 f.).

Auch hier wird das direkte Zitat eingesetzt, nun aber durch das Pastiche mittelalterlicher Liedkunst gezielt markiert als fremdes / anderes Textmaterial, das die Aufmerksamkeit erneut auf die (fingierte) Historizität des Geschehens lenkt. Die ›Autorschaft‹ Kurvenals (der im Herz des Königs sonst keine Rolle spielt) wird so zu einem weiteren Beispiel für das den Roman charakterisierende Spiel mit verschiedenen Ebenen von Fiktionalität. Eine literarische Figur des Hypotextes wird im Hypertext zum Lieddichter, der Romangeschehnisse kommentiert, als gehe es um reale Personen und Begebenheiten, sodass auf der einen Seite Literarizität quasi zum Verschwinden gebracht wird, während auf der anderen Seite ein weiteres Mal zur Beobachtung gestellt wird, wie ›echtes‹ Leben in Literatur eingeht. Über das wörtliche oder indirekte Inhaltszitat hinaus verwebt Alvarez auch formale Anspielungen auf Gottfrieds Tristan in ihren Text. So zitiert sie in einem von ihr so genannten »Herrenpreis«, der die Kämpfe Markes sowie seines Ziehvaters und seines Ziehbruders gegen Morgan in einer Art Pastiche des Heldenliedes besingt, Gottfrieds Technik des Akrostichons. Wie Gottfried im Prolog den Namen seines Gönners Dietrich versteckt, ergeben im »Herrenpreis des armen Dichters Romuald« ganz in Analogie zu den ersten Strophen des Tristan-Prologs die jeweiligen Anfangsbuchstaben der einzelnen Strophen den Namen des Besungenen ›Gordec‹ (HdK, 52). Auch in diesem Beispiel wird das Lesepublikum darauf aufmerksam gemacht, wie Heldengeschichten entstehen: Kein anderer als Gordec wird es sein, der den armen Dichter Romuald für seine eigene dichterische Heroisierung bezahlt hat. Wie bereits angeklungen, wird nun dem Herzstück des Mythos, der verbotenen Liebe Tristans und Isoldes mit Marke als dem störenden Dritten, zentral mit dem Instrument der Parodie zu Leibe gerückt. Wirkt die Komik per se schon durch die Verzeichnung Tristans und Isoldes aus der desillusionierenden Sicht eines den beiden an Alter und Reife haushoch überlegenen Marke, kommt sie für ein kundiges Publikum, das Das Herz des Königs auf der Folie der Prätexte (bis hin zu Wagner als Höhepunkt der Ikonisie-

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rung des tragischen Paares) liest, erst im Akt intertextueller Rezeption mit allen Nuancen zum Tragen. Einem der Grundprinzipien der Parodie entsprechend, wird Tristan und Isolde der Nimbus des Erhabenen genommen; den Status des Sakralen, den das Paar spätestens mit Wagner erreicht hat, verlieren sie restlos unter dem profanisierenden Blick Markes. Indem gegen die glühend romantische die nüchtern realistische Perspektive gesetzt wird, wird erstere dem Lächerlichen preisgegeben – erzähltechnisch beispielsweise durch das ›Zoomen‹ aufs Detail bei einer per se schon als hässlich gezeichneten Isolde: Isolde starrte den Sänger [Tristan] tränenblind an, und von ihren offenen Lippen troff ein dünner Speichelfaden, so eingenommen war sie von seinem Spiel. Ich [Marke] musste wegsehen. (HdK, 390)

Überhaupt wird die obligate Schönheitsbeschreibung, wie wir sie topisch aus der mittelalterlichen Literatur kennen, ersetzt durch ihr Gegenteil: Das Bild der Gottfried’schen Isolde als unbeschreiblich schöner, intelligenter und begabter junger Frau29 ist die Folie, vor der die Alvarez’sche Isolde in ihrer Hässlichkeit, Dümmlichkeit und Unreife dem Gelächter anheimfällt. Zum ersten Male sah ich in das Gesicht der vielfach besungenen Isolde von Irland, der Legende an Schönheit, Liebreiz und was weiß ich. (… ) Zum Glück kam das Volk auf dem Felsen nicht nahe genug heran, um sich von der völligen Verfehlung aller Lieder überzeugen zu müssen. Ihr Gesicht war länglich und schmal, große blassblaue Augen, umrahmt von dichten rötlichen Wimpern, standen viel zu eng beieinander. Ihre Nase war klein, platt und sommersprossig ( …). Sie hatte seltsam geformte Lippen, die sie ohne Anstrengung und Verzerrung der unteren Kinnpartie nicht schließen konnte, da ihr die zwei Vorderzähne nach außen gewachsen waren wie bei einem Kaninchen. Sie lächelte scheu und zwinkerte unstet mit den Augen. (HdK, 366 f.)

Keinen Augenblick erscheint Marke wie in den Prätexten als gehörnter Ehemann, der von einem intelligenten Liebespaar schlau hinters Licht geführt wird und in seiner emotionalen Abhängigkeit von Isolde die Augen blöde vor der Wahrheit verschließt. Er ist es vielmehr, der Isolde weder vor dem ersten Treffen je haben wollte noch nach dem ersten Treffen je begehrt. Die versuchten Listen Tristans und Isoldes, wie sie besonders die mittelalterlichen Prätexte prägen, sind so wenig ernst zu nehmen, dass sie nicht einmal die Mühe des Entlarvtwerdens wert sind, und zudem ist besonders Isolde viel zu einfach im Geiste, um überhaupt etwas verbergen, geschweige denn je die raffinierte Doppelrede des Gottfried’schen Prätextes führen zu können. Einzig ihre Dummheit ist es denn auch, die die Sache für Marke gefährlich werden lässt, für den die Liaison zwischen Tristan und Isolde 29

Vgl. etwa G, I, 8253 ff.

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ausschließlich auf der politischen Ebene von unangenehmer Relevanz ist. So wird der auch bei Alvarez von Tristan und Isolde versuchsweise inszenierte Brauttausch der Hochzeitsnacht zu einer Slapstick-Komödie, die neben der parodistischen Herabsetzung des kaum postpubertären Paares der weiteren, durchaus humorvollen Anbahnung der Beziehung zwischen Marke und Brangaene dient. Wenn auch mit dem neuen Paar, wie noch gezeigt werden wird, die Utopie erfüllter Liebe re-konstruiert wird, ist es gerade die Ebene des Humors, mit der Alvarez dieser Beziehung gegenüber der narzisstischen Qualität der amour fou zwischen Tristan und Isolde kontrastierend den realen Boden einer reifen Objektbeziehung verleiht. Das nächtliche Treffen Brangaenes und Markes in dessen Schlafzimmer gibt der Autorin auch die Gelegenheit, die Kenntnis (vom Roman in seiner Gesamtstruktur ja längst problematisierter) historischer Realität schelmisch für sich in Anspruch zu nehmen: Und dann begann sie [Brangaene] ihre Erzählung, die die einzige Wahrheit ist, die es jemals über die Geschichte zwischen Tristan und Isolde gegeben hat. (HdK, 395)

Mit leiser Ironie setzt sie sich damit in Opposition zu den Prätexten, während sie doch gleichzeitig ganz deren Tradition folgt – man denke nur an Gottfried, der im Prolog mit den Worten Ich weiz wol, ir ist vil gewesen, die von Tristande hânt gelesen; und ist ir doch niht vil gewesen, die von ihm rehte haben gelesen. (G, I, 131 ff.)

seinen Wahrheitsdiskurs etabliert. Von Isoldes Mutter als Erleichterung für den Einstieg in die Ehe gedacht, ist es irischer Branntwein der stärksten Sorte, der bei Alvarez den Minnetrank repräsentiert. Während Brangaene bei der Überfahrt zwei Tage seekrank an Deck verbringen muss – auch das in deutlicher Analogie zu Gottfrieds Tristan (G, II, 11648 ff.) –, haben Tristan und Isolde das Fässchen gefunden, angezapft und gemeinsam binnen weniger Stunden geleert. Es hatte sie zueinander geführt wie Tiere in der Hitze. Ich fand schon immer, dass Wein den Menschen nur schneller Gelegenheit gibt, das zu tun, was sie ohnehin tun wollen. (HdK, 397 f.)

Entmythisierung durch knochentrockene Realitätsschau – dieses Grundprinzip der Alvarez’schen Mythopoesis macht dem Minnetrank als Herzund Kernstück des Mythos umstandslos den Garaus. Variierend wieder aufgenommen wird das Motiv zu einem späteren Zeitpunkt, als es darum geht, Tristans erloschenes Interesse für Isolde neu zu wecken, um Marke vor deren nächtlichen Avancen zu schützen, nachdem der entmythisierte

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Alvarez’sche Petitcrü in seiner Funktion, als Schoßhündchen Isolde von sexuellen Überfällen auf den ihr angetrauten König abzulenken, versagt hat. Wenn sich Marke und Brangaene hinter »knorrigen Obstbäumen« verstecken, »zu allen Heiligen« flehend, »den Plan aufgehen zu lassen« (HdK, 473), nämlich Tristan durch »Sizilischen« und einen »Puder aus Tollkirschen, der die Augen schwarz machte« (HdK, 473), zum erneuten Koitus mit Isolde zu veranlassen, ist es wieder die intertextuelle Konstellation, auf deren Basis die Parodie operiert. Das nächtliche Lauern Markes und Brangaenes hinter »knorrigen Obstbäumen« parodiert die Baumgarten-Szene Gottfrieds, dem generell die Lektüre steuernden Ziel folgend, das Bild eines in der Vorlage latent lächerlichen und bedauernswerten Marke auszulöschen. Auch das Schwinden von Tristans Liebe hat ihren intertextuellen Anker – bei Eilhart schon genuin in der zeitlich begrenzten Trankwirkung,30 bei Gottfried im Verlust unverbrüchlichen Liebesvertrauens nach der Trennung von Isolde. Immer weiter dem Ziel der Entmythisierung und Entmystifizierung folgend, stellt Alvarez die in den Prätexten angelegte Überantwortung dieses Geschehens an höhere Mächte (Eilhart) bzw. die psychologisierend gezeichnete Tragik einer am Außen beinahe zerbrechenden Liebe (Gottfried) auf den Boden nüchterner Realität. Erste Beziehungsversuche Pubertierender gehen halt einfach bald wieder zu Ende; und außerdem macht’s den auf Provokation abzielenden Jungen schnell keinen Spaß mehr, wenn die Alten sich gar nicht echauffieren – mehr nicht (HdK, 473 f.). Weitere Aufnahmen von Motiven aus den Prätexten – etwa das Gottesurteil31 und die Weißhand-Handlung32 oder auch das zweimalige Aufgreifen der Gandin-Szene33 und die unter anderem dahingehend modifizierte Parabel vom Hemdentausch, dass das ›Hemd‹ der reifen Frau Brangaene durchaus schon gebraucht ist34 – lassen sich sämtlich mit dieser Intention der Entmythisierung und Entmystifizierung durch Realitätszufuhr charakterisieren. In diesem Licht bekommt die Gattungsstrategie ›historischer Roman‹ eine ganz andere Dimension, als ihm eine herkömmliche Rezeptionshaltung zuweist, wenn sie von historischen Romanen wissenschaftlich verifizierbare Wahrheit erwartet35: Das Register ›historisches Erzählen‹ ist 30 Vgl. Eilhart von Oberg, Tristrant und Isalde (nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346; Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 4), hg. Danielle Buschinger, Berlin 2004, 71, V. 2385 ff. (2279 ff.). [Die Versangabe in Klammern bezieht sich auf die Ausgabe Lichtensteins.] 31 G, II, 15047 ff. u. HdK, 478 ff. 32 Vgl. Eilhart von Oberg [Anm. 30], 176 ff., V. 5905 ff. (5678 ff.) u. HdK, 486 ff. 33 G, II, 13097 ff. u. HdK, 382 ff., 456 ff. 34 G, II, 1 2798 ff. u. HdK, 442.

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als Text-Strategie zu begreifen, die der Literarizität des Mythos die (selbstverständlich fingierte und wie gezeigt durch vielfache Brechung ständig problematisierte) Historizität irdischen Menschenlebens entgegensetzt – Auto-Bio-Grafie versus Mythos ist in diesem Sinn das poetologische Thema des Romans. Destruktion der Tristanminne und rekonstruierendes Erschreiben einer Alternative zur narzisstischen Objektwahl prägen nun wie bereits angedeutet den Entwurf der Beziehung zwischen Marke und Brangaene. Intertextuell betrachtet, kommt es zu einer Verschiebung bestimmter Elemente der Tristan-und-Isolde- auf die Marke-und-Brangaene-Handlung. Bei Alvarez müssen sich Marke und Brangaene Listen ausdenken, um ihre heimliche Liebe leben zu können, sind sie es, die, wenngleich völlig neu akzentuiert, den symbolischen Ort der Minnegrotte aufsuchen, und sind sie es, die den gleichfalls neu akzentuierten Liebestod sterben, während Tristan und Isolde auch der gemeinsame Tod von Isolde Weißhands Hand nicht vereint.36 Und wieder ist, um mit Raoul Schrott zu sprechen, das Diebesgut so gut zwischen den Zeilen versteckt, dass man seinen Gottfried fast auswendig können muss, um in Brangaenes schlichter Antwort auf Markes stammelndes Liebesbekenntnis die wörtliche Rede des mittelalterlichen Dichters wiederzuerkennen, statt es der stilsicheren Feder von Alvarez zuzuschreiben: Îsôt sprach: »hêrre, als sît ir mir.« (G, II, 12028) Und Brangaene sprach: »Herr, all das seid Ihr mir.« (HdK, 424)

Die Liebe zwischen Marke und Brangaene fasst Alvarez durchgehend im Symbol des Meeres. Auch dies legitimiert sie intertextuell: In den mittelalterlichen Prätexten muss Tristan Morold, dessen Etymologie mit ›Meer‹ verbunden wird,37 auf einer Insel im Meer besiegen, um die Vatergebundenheit zu überwinden und sich genau jene Wunde (symbolischer Kastration) einzuhandeln, die ihn wiederum übers Meer zum insularen Irland führen soll, wo das kategorisch Weibliche ihn heilt und zur heterophilen Identifizierung bringt.38 In diesem Sinne ist auch bei Alvarez Brangaene »wie 35 So auch Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans (Literatur – Imagination – Realität 11), Trier 1995, 56: »Historische Romane reproduzieren kein vergangenes Geschehen, sondern erzeugen mit fiktionalen Darstellungsmitteln fiktionale Geschichtsbilder, sodass die Frage nach ›Wirklichkeitstreue‹ eine kategoriale Verfehlung ist.« 36 HdK, 487. 37 Vgl. Christoph Huber, Gottfried von Straßburg: Tristan (Klassiker-Lektüren 3), 2., verb. Aufl., Berlin 2001, 66. 38 Vgl. dazu zusammenfassend ibid., 67 ff.

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eine Welle«, die über Marke »hingespült ist und Land genommen hat« (HdK, 13); sein Leben und die Erinnerung daran in der Rückschau der fiktiven Autobiografie werden als Reise apostrophiert, die »auf ein Ziel zuführt, auf die Frau, die [s]ein Meer wurde. Auf Brangaene.« (HdK, 17) Und im ersten Liebesgeständnis formuliert er: »Ihr seid das große Meer, in dem ich nun für immer verloren gegangen bin, und ich will es nicht ändern.« (HdK, 424) – so wie auch bei Gottfried im ersten Liebes-Dialog zwischen Tristan und Isolde das Symbol des Meeres erscheint, wohl schon beim mittelalterlichen Autor nicht nur, um mit der Rede von lameir ein zwischen Meer, Liebe und Bitterkeit aufgespanntes Wortspiel zu treiben39, sondern auch, um das Phänomen Liebe mit der Unendlichkeit und überwältigenden Kraft des Meeres zu verbinden. Dies im Besonderen ist die Komponente, die im Herz des Königs aufgenommen und intensiviert wird. Es ist daher nur konsequent, dass die Alvarez’sche Minnegrotte ihre Modifikation vor dem Hintergrund dieser Symbolik erfährt: Unter der Belastung des täglichen Versteckspiels am Hof wünscht sich Brangaene einen Tag am Meer, ganz allein mit Marke. Erzählen Gottfrieds Tristan und Isolde einander in und vor der Minnegrotte senemaere von zu ihrer Zeit berühmten Liebespaaren (G, II, 17182 ff.), klopft Marke Brangaene Gedichte und Lieder aus [s]einer Jugend, schmalzige Gesänge von Liebe und Weh, von denen [er] kaum den ersten Vers erinnerte, das Rückgrat herauf und herunter ( …). (HdK, 462)

Wie Tristan und Isolde bei Gottfried, der ja schon im Prolog zu seinem Tristan das unaufhebbare Ineinander von Glück und Leid40 zum Grund wahrer Liebe erklärt, erleben Marke und Brangaene an der Begrenztheit dieses einen Tages vollkommenen Glücks, »dass [ihr] Leben beides war – höchste Wonne und tiefste Verzweiflung.« (HdK, 463) – so wie Marke schon in der ersten Liebesbegegnung mit Brangaene genau jenes Paradoxon an sich erfährt, das Gottfried vom Prolog an nicht müde wird zu betonen: Etwas regte sich in meinem Inneren, brach auf, strömte aus. Und als sie mir dann zulächelte, mit diesem Lächeln, das mir immer währenden Schmerz und immer währendes Glück zugleich verhieß, den Glauben an Heilung und die Krankheit der Liebe zugleich, da lebte ich. Zum ersten Mal in meinen zweiundfünfzig Jahren lebte ich. Ich lächelte zurück. (HdK, 425)

Brangaenes Liebe macht einen König lebendig, den die von den Eltern anbefohlene Unterdrückung seiner Gefühle petrifiziert hat41. Als er Brangaene 39 Vgl. G, II, 11986 ff. und HdK, 377, wo Brangaene sogar die französische Sprache übernimmt, mit der auch Isolde den Liebesdialog beginnt. 40 G, I, 45 ff. 41 HdK, 18 ff., 29 ff.

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verloren zu haben glaubt, erscheint diese in seiner Kindheit grundgelegte psychische Verletzung als körperliches Symptom: Das Krankheitsbild, das Alvarez von Marke zeichnet, entspricht weitgehend der Myositis ossificans progressiva – eine bis zur völligen Bewegungsunfähigkeit fortschreitende Verknöcherung des Binde- und Stützgewebes des Körpers.42 Die MOP steht hier symbolisch für die psychische Starre eines Marke, der nicht einmal mehr eine Grabplatte brauchen wird, weil sein eigener Körper zum steinernen Grab geworden ist (HdK, 491). Hierin gründet auch die Sinnhaftigkeit der Erzähltechnik des Romans: Als Analepse angelegt, die mit dem Einstieg in die Erzählung einen bewegungsunfähigen König präsentiert und am Ende dessen Re-Mobilisierung vorführt (HdK, 498 ff.), statuiert der Roman die Auto-Bio-Grafie, das Erinnern und Erzählen Markes als Prozess der Heilung. Geradezu choreografisch komponiert die Autorin diesen Prozess als ein erinnerndes Zugehen Markes auf die nach einem unaufgelösten Zwist verschwundene Brangaene, welche ihrerseits von dem Moment an, da Marke seine Erinnerungsarbeit aufnimmt, wieder damit beginnen kann, auf ihn zuzugehen. Genau in dem Moment, als Marke sich bis in die Gegenwart (im vollen psychoanalytischen Wortsinn) durchgearbeitet hat, kann Brangaene bei ihm ankommen, psychodynamisch betrachtet, weil es erst jetzt in ihm den Raum gibt, in den sie treten kann.43 Erlangt Marke mit Brangaenes Ankunft seine Bewegungsfähigkeit zurück, findet sie mit ihm zumindest symbolisch die Stimme wieder, die der auf die Königsmacht schielende Majordomus de Zwyyntek (sie nach Sankt Materiana verbannend und Marke vorspiegelnd, sie habe ihn freiwillig verlassen) ihr in einem Akt der Verstümmelung genommen hat. Was Alvarez hier unternimmt, ist die Veranschaulichung eines tiefenpsychologischen Prozesses mit literarischen Mitteln: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten sind nach Freud die wesentlichen Elemente jener Leistung, die die AnalysandInnen im psychoanalytischen Prozess zu vollbringen haben, um psychische Gesundheit (wieder) zu erlangen,44 welche die Psychoanalyse neben der Arbeits- und 42 Vgl. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, ICD-10-GM, Version 2010, M61.1. Online im Internet: http:// www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2010/block-m60-m63.htm [Stand 11. 4. 2011] u. HdK, 9, 486, 488. 43 Intertextuell betrachtet, steht hier natürlich die Eilharttradition im Hintergrund, in der Isolde als Heilerin zum todkranken Tristan kommt (vgl. Eilhart von Oberg, Tristrant, 305 ff., V. 9458 ff. [9250 ff.]) – zu spät allerdings, während bei Alvarez Marke zum Zeitpunkt der Ankunft Brangaenes noch lebt und bei Bewusstsein ist. 44 Vgl. Sigmund Freud, »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II)«, in: S. F., Studienausgabe, Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik (Fischer Taschenbuch 7311), hg. Alexander Mitscherlich [u. a.], korr. Fassung der 1. Aufl., Frankfurt am Main 1982, 205 – 215.

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Genussfähigkeit zentral als Liebesfähigkeit definiert.45 Hierin unterscheidet sich Alvarez’ Mythopoesis vom Gros der produktiven Tristan-Rezeption des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts: Im Gegensatz etwa zu Rosendorfer, Kieseritzky und Bellingkrodt, Silberbauer und auch Schrott gibt sie den Glauben an die Möglichkeit der Liebe nicht als solchen preis. Destruiert wird der Mythos ›Tristan und Isolde‹ und damit der Mythos einer Liebe, die, bei Wagner auf die Spitze getrieben, narzisstisch bleibt, weil sie im anderen nicht das Du, sondern das Ich sieht: ISOLDE: Du Isolde, Tristan ich, nicht mehr Isolde! TRISTAN Tristan du, ich Isolde, nicht mehr Tristan!46

Kon-struiert wird das Phänomen Liebe als Existenzial und Radikal, das alles bisher Gültige außer Kraft setzen47, Versehrtes wieder heil und Totes wieder lebendig machen kann. Wenn Marke nun in der (von der agonalen Sinnesverwirrung geschenkten) Fantasie, mit Brangaene ins Meer einzugehen, beseligt in ihren Armen sterben kann (HdK, 507 ff.), restauriert sie nur scheinbar den Liebestod, wie ihn Wagner, ebenfalls im Symbol des Meeres, in der letzten Arie Isoldes inszeniert: Heller schallend mich umwallend, sind es Wellen sanfter Lüfte? Sind es Wogen wonniger Düfte? Wie sie schwellen, mich umrauschen, soll ich atmen, soll ich lauschen? Soll ich schlürfen, untertauchen?

45 Vgl. Thomas Auchter, Laura Viviana Strauss, Kleines Wörterbuch der Psychoanalyse, Göttingen 2003, 26. 46 Richard Wagner, Tristan und Isolde. Textbuch (Serie Musik Atlantis Schott 8036), Einführung u. Komm. Kurt Pahlen unter Mitarbeit Rosmarie König, 4., neu durchges. Aufl. 1998, 157. 47 Vgl. explizit HdK, 429.

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Süß in Düften mich verhauchen? In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Welt-Atems wehendem All – ertrinken, versinken – unbewußt – höchste Lust!48

Wagners Paar erscheint von Beginn der Symbolisierung des Minnetranks als Todestrank an als todessüchtig49 und damit diesseitsnegierend. Die Negation der Realität wird bei Alvarez hingegen im gesamten Roman als zutiefst unheilvoll markiert. Wagners Isolde stirbt dem Geliebten todesselig nach, Alvarez’ Brangaene hält den sterbenden Marke bei klaren Sinnen im Arm (HdK, 509) und hindert somit die RezipientInnen daran, gemeinsam mit Marke das Realitätsbewusstsein zu verlieren – ganz im Gegensatz zu Wagner, der seine HörerInnen mit Tristan und Isolde berauscht mitsterben lässt. De Zwyyntek ist es, der Brangaene ermordet und vor Wut rasend dem Meer überantwortet (HdK, 510) – das nimmt dem Liebestod und dem Romanschluss die Romantik, die Alvarez zunächst anzubieten scheint, wenn sie Markes beinah ekstatische Verklärung poetisch ausmalt. Was ihre Liebestod-Variante mit dieser Nuancierung mitteilt, ist somit nicht die (von Wagner mit Schopenhauer genährte) Philosophie der Weltabkehr, sondern die Überzeugung, dass die Liebe den Tod zu transzendieren vermag. Resümierend kann Das Herz des Königs im Zusammenhang mit Entwicklungstendenzen des historischen Romans seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Mit Nünning lassen sich diese »schlagwortartig als ein Wandel von fiktionalisierter Historie zur metahistoriographischen Fiktion bezeichnen.«50 Innovative Ausprägungen des modernen historischen Romans auf dem Weg in die Postmoderne »verlagern den Akzent von der Darstellung eines vergangenen historischen Geschehens auf die Metaebene der historiographischen Rekonstruktion, indem sie die Möglichkeiten und Grenzen des Versuchs beleuchten, geschichtliche ProWagner, Tristan, 231. Vgl. ibid., 55, 61, 67, 85 f., 133, 147 ff., 173 f., 189 ff., 215 ff., 229 f. 50 Ansgar Nünning, »Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans«, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. Daniel Fulda u. Silvia Serena Tschopp, Berlin / New York 2002, 541 – 569, hier 547. 48 49

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zesse ( …) literarisch darzustellen.«51 Alvarez etabliert diese historiografische Metaebene durch die Montage verschiedener fingierter historischer Quellen, die derart angelegt ist, dass historische Wahrheit als solche fraglich wird. Mit diesem Spiel mit der Fiktionalität, der intertextuellen Grundanlage, dem intensiven Einsatz der Parodie sowie des Pastiche und damit der Stil- und Gattungspluralität, dem erzähltechnischen Instrument der Montage, der Aufhebung der Grenze zwischen U- und E-Literatur durch Mehrfachcodierung sowie insgesamt mit der Rückkehr zu einem auf Spannung bedachten Erzählen trägt Das Herz des Königs wesentliche Charakteristika des postmodernen Romans.52 Was Alvarez’ Text von diesem unterscheidet, ist letztlich nur der Grad des Spiels mit der Intertextualität, der Metafiktion, der Multiperspektivität und der Polyphonie:53 Markes Perspektive bleibt insgesamt doch ebenso zentral, wie die Linearität des Erzählens gewahrt wird. Wenn Stephanie Wodianka in ihrer 2009 erschienenen Studie zu Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik zeitgenössischer Mittelalterrezeption von einer »zwischen Mythos und Geschichte stehende[n] Konjunktur des Mittelalters«54 spricht, umreißt sie genau jene Koordinaten, innerhalb deren sich auch Das Herz des Königs verorten lässt. Michel Stanesco verweist mit Le Goff und Isidor darauf, dass gerade dies zutiefst mittelalterlich ist: »Das Mittelalter verweigert sich ( …) der Zweiteilung nach dem Oppositionssystem ›histoire‹ – ›fiction‹, um sich ( …) an einem ›troisième lieu‹ wiederzufinden, dem der ›argumenta‹, quae et si facta non sunt, fieri tamen possunt.«55 Die Nach-Schreibung genau dieser poetologisch-historiografischen Position macht Das Herz des Königs neben den inhaltlichen Komponenten zu einem Dokument zeitgenössischer Rezeption, das mittelalterliche Denkweisen in der literarischen Reinszenierung unmittelbar nachvollziehbar werden lässt. Gegen eine populärkulturscheue Mediävistik, die mit der Vermarktung des Mittelalters Verfälschung und Trivialisierung heraufziehen sieht, betont Groebner 2008: »Wenn wir den Gebrauch von historischem Material als etwas begreifen, das nicht einfach durch die überlieferten Texte Ibid. Vgl. etwa Borchmeyer, »Postmoderne«, 308, 310 f. u. Paul Michael Lützeler, »Einleitung. Von der Spätmoderne zur Postmoderne«, in: Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Fischer Taschenbuch 10957), hg. Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main 1991, 11 – 22, hier 13. 53 Vgl. dazu Nünning, »Von der fiktionalisierten Historie«, 554 f. 54 Stephanie Wodianka, Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur (spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature 17), Berlin / New York 2009, 36. 55 Michel Stanesco, »Mittelalter und erzählende Identität. Anmerkungen über den Dialog zwischen Fiktion und Geschichte«, in: Fiktionalität im Artusroman, hg. Volker Mertens, Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1993, 1 – 10, hier 8. 51 52

König Markes Geschichte, 2003 von ihm selbst erzählt

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und Artefakte selbst determiniert, sondern jeweils neu von den Zeitgenossen mit Wirkung und Wirklichkeit versehen wird (…), dann sind die Mittelalterinszenierungen der Populärkultur heute genau das wirkungsmächtige Mittelalter, das uns umgibt und vorgibt, was Mittelalter denn genau ist.«56 Vor dem Alvarez’schen Mittelalter müssen sich selbst genaue Kenner der Quellen nicht fürchten.

56 Valentin Groebner, Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008, 144.

»To come out roughly at the other side«. Die Ethik der Fiktion und der englische Gegenwartsroman Von Ina Schabert »In or about December, 1910, human character changed«, stellt Virginia Woolf pointiert fest, um klar zu machen, wie radikal der Wandel im Subjektverständnis ist, den der neue Bewusstseinsroman markiert.1 Im Jahr 2000 oder 2001 veränderte sich der Charakter von Autoren und Autorinnen, könnte man sagen, um eine ›ethische Wende‹ in der englischen Erzählliteratur zu signalisieren. In der Romanpraxis wie in der Theorie gelten nun so altmodische Postulate wie Wirklichkeitsnähe, Ehrlichkeit, und mitmenschliche Empathie wieder als erstrebenswerte Ziele. Eine Gruppe, die sich »The New Puritans« nennt, artikuliert 2000 die Umorientierung in einem dogmatischen Manifest. Gefordert wird ein schlichtes, technisch unkompliziertes, auf die eigene zeitgenössische Lebenswelt bezogenes, in den konkreten Details korrektes, moralisch konturiertes Erzählen. Die provokativ biederen Postulate des Manifests hat zwar glücklicherweise kein Schriftsteller voll realisiert, aber es setzt ein Zeichen. 2001 erscheint eine Sammlung programmatisch intendierter philosophischer und literaturtheoretischer Essays unter dem Titel After Postmodernism: The New Millenium. Unter dem Leitwort eines ontologisch und epistemologisch begründeten critical realism mahnt der Sammelband die Wende zu einer verantwortungsbewussten Fiktion an, die sich lebensweltlicher Wahrheit verpflichtet fühlt. Der Romantheoretiker Andrew Gibson legt bereits zwei Jahre zuvor in dem einflussreichen Buch Postmodernity, Ethics and the Novel (1999) den Romanautoren nahe, sich an der Philosophie von Emmanuel Lévinas auszurichten, und in ihren Werken deren Ethik der Alterität zu praktizieren. Die Attentate des elften September 2001 verstärken die sich abzeichnende Bereitschaft, von freiem Spiel zu engagiertem Schreiben zu konvertieren. Der Postmoderne wird nun vorgeworfen, keine angemessene Antwort auf die drängenden Probleme der Gegenwart geben zu können. 1 Virginia Woolf, »Mr Bennet and Mrs Brown«, in: Collected Essays, 4 vols., London 1966 – 67, vol. 1, 320.

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Autoren und Autorinnen, die zuvor modernes und postmodernes Raffinement gepflegt haben, finden zu einem Romanstil, der den Realitätsbezug traditioneller Sachtexte imitiert und dessen humanistisches Ethos und soziales Engagement der Immigrantenliteratur, die diese Werte immer gepflegt hat, in nichts nachsteht. A. S. Byatt zum Beispiel hat im früheren Erfolgsroman Possession: A Romance (1990) einer überschwänglichen Freude an postmodernen Verhaltens- und Deutungsmustern gefrönt. In The Biographer’s Tale von 2001 hingegen lässt sie den Protagonisten der Erzählung gleich zu Beginn seinen absoluten Überdruss an postmoderner Denkartistik und Bedeutungsproduktion erklären und von seinem literaturtheoretischen Studium zu spezialisierten Recherchen in den Bereichen von Biographie, Geographie und Naturwissenschaft überwechseln. Christine Brooke-Rose hat sich mit Texten wie Algamemnon (1984) und Textermination (1991) als eine der mutigsten dekonstruktivistischen Autorinnen in England (bzw. im selbstgewählten Exil in Paris) profiliert. 2006 aber veröffentlicht sie einen ganz anderen ›Roman‹ mit dem Titel Life, End of. Der als Registereintrag neutral gefassten Ankündigung folgt der ergreifende, offensichtlich weitgehend autobiographische Bericht über die zunehmend reduzierte Existenz einer schwerbehinderten alten Frau, die mit sarkastischem Humor um die letzte Menschlichkeit eines Lebens kämpft, das fast keines mehr ist. Die Beckettsche Fabel der Rückkehr des Menschen ins Nichts ist vom philosophischen Denkspiel weg ins Emotionale und Ethische gewendet worden. Patricia Duncker hat noch 1999 in James Miranda Barry den Freuden des gender bending als Transvestismus und theaterspezifischem cross casting gehuldigt. Ihr Roman Miss Webster and Chérif (2006) hingegen präsentiert als Protagonistin eine altmodische alte Dame, deren moralische Strenge sich auf die Sinnwelt klassischer Literatur zurückbezieht, und die sich mutig und einfallsreich, mit ihren Ersparnissen und nötigenfalls mit ihrer Handtasche als Waffe, für die Rechte und das Leben eines arabischen Studenten in England einsetzt. Der frankophile Autor Julian Barnes veröffentlichte 1985 mit Flaubert’s Parrot einen witzigen Roman über Gustave Flaubert. Auf übermütig geistreiche Art wurde hier die Konstruktqualität eines jeden Fremd- oder Selbstbildes belegt. Barnes’ Arthur & George von 2006, wiederum eine fiktionale Biographie über einen Schriftsteller, in diesem Fall Arthur Conan Doyle, ist ein Buch ganz anderer Art. Wie eine konventionelle Biographie erzählt es eine Vita weitgehend chronologisch, ›von der Wiege bis zur Bahre‹, wobei es sich ohne Rücksicht auf formale Brillanz oder Geschlossenheit an überlieferte Fakten hält. Im Zentrum steht dabei nicht Conan Doyle als Autor bekannter Detektivromane, sondern sein mutiges Engagement im Justizfall Edalji, der englischen Dreyfuss-Affäre. Kennzeichnenderweise behindert – in Barnes’ Darstellung des Geschehens – die literarische Imagination des Schöpfers der Sherlock-Holmes-Geschichten

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die richtige Einschätzung seiner gesellschaftlichen und politischen Lebenswelt. Das Misstrauen gegenüber literarischen Fiktionen, das sich in den zuvor erwähnten Romanen nur indirekt zeigt, wird hier explizit: Literarische Kunst ist eine Sache; sich der Realität zu stellen ist eine andere und wichtigere – dies lernt Conan Doyle und mit ihm der postmodern infizierte Leser in Barnes’ romankritischem Roman.

I. Dichter können nicht lügen, weil sie gar nicht erst den Anspruch erheben, faktische Aussagen machen zu wollen. Zugegebenermaßen bewegen sie sich frei im Reich der Imagination. So das klassische Gegenargument gegenüber Platons Vorschlag, die Poeten als schädliche Lügner aus dem Staat zu vertreiben. In der Postmoderne gilt diese Fiktionalität des Worts, mit der sich vormals die Dichter eine besondere Freiheit einräumten, ganz allgemein. Wörter beziehen sich nicht auf Sachen, sondern auf ein Diskurssystem; Texte sind verbale Konstrukte, deren Wahrheit und Wirklichkeitsbezug nicht überprüfbar sind. »What happened to the truth is not recorded« – was wirklich geschah, ist nirgendwo aufgezeichnet, lautet refrainhaft der amüsierte Kommentar zu einer Zusammenstellung unauflösbar widersprüchlicher biographischer Textzeugnisse in Flaubert’s Parrot.2 Postmoderne Literatur feiert die Allgegenwart und den Reichtum von Fiktionen; sie definiert den Menschen als ein unentwegt und notwendigerweise Geschichten erfindendes Wesen. Salman Rushdie in Haroun and the Sea of Stories oder Graham Swift in Waterland räumen Märchen und Mythen, Geschichtsdokumenten und persönlichen Erinnerungen ein- und denselben Status ein und vermischen sie. Alles ist Teil eines immer unschlüssig bleibenden Versuchs, die individuelle, gesellschaftliche und allgemein menschliche Situation zu erfassen und zu deuten. Ungehindertes Erzählen gilt Swift als elementares Bedürfnis; für Rushdie ist es Indiz eines guten Gemeinwesens. Nach-postmodernes Denken hingegen hält dazu an, sich um die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Aussagen zu bemühen, auch wenn absolute Wahrheit nicht zu haben ist. »Truth is relative to be sure but there is still both truth and error (as well as lies!)«, konstatiert nun die Romantheorie im Rückbezug auf Karl Poppers Theorie der empirischen Falsifikation.3 Nach-postmoderne Literatur warnt vor Verwechslungen von 2 3

Julian Barnes, Flaubert’s Parrot, London 1985, 65. José López, Garry Potter, Einleitung zu After Postmodernism, London 2001, 9.

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Fiktionen und Tatsachenberichten. Sie konstruiert innerhalb ihrer fiktionalen Welten Fabeln, in denen die Unterschiede hervortreten und beachtet werden sollten – Unterschiede zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen Imagination und Erfahrung, zwischen Wunschdenken und dem Respekt vor dem, was geschehen ist. Grenzverwischungen zwischen faktischer Aussage und Fiktion sind, so zeigt sie, von Übel. Kunstvolle Konstrukte von Realität – seien es nicht-literarische oder literarische Konstrukte – werden, sobald sie das (innerfiktional) reale Geschehen verfälschen oder überdecken, mit platonischer Strenge als Lügen geächtet. Freies Fabulieren führt in den nach-postmodernen Romanwelten nicht zu kreativer Bereicherung; es erweist sich nicht, wie in Rushdies Haroun oder Swifts Waterland, als Hort der Humanität und Strategie des kollektiven Überlebens. Vielmehr, so zeigen diese Texte, tut man Unrecht, fügt anderen Menschen Schmerz zu, verursacht gar deren Tod, wenn man der Imagination freien Lauf lässt. Protagonisten, deren Handeln von ihrer Phantasie bestimmt wird, werden nicht glücklich mit ihrem Werk, sie bereuen es in der Rückschau. Fiktionalität, Fabulieren, Phantasieren, vormals mit Freiheit, Toleranz und jouissance assoziiert, werden nun eher mit Scham, Lüge, und Leid zusammengebracht. In Form allgemeiner Skepsis wirkt die postmoderne Erfahrung allerdings weiter: die fiktionskritischen Erzählungen, seien sie in vormodernem, modernem und postmodernem Stil gehalten, stehen, indem sie die ideologischen Implikationen des eigenen Stils zugleich anzweifeln, sämtlich unter dem Zeichen der Ironie.

II. Nicht wenige Gegenwartsromane befassen sich mit Fragen des Romanschreibens, Fragen nach der Schreibweise, der Verantwortung des Autors, der veränderten Rolle des Lesers. Solange eine neue Art des Erzählens noch gesucht wird, wird unvermeidlich Altes in neuer Funktion eingesetzt. Auffallend häufig greift zeitgenössisches Erzählen auf Verfahren des psychologischen Realismus zurück. Es kann einen Retro-Charme aufweisen, besonders, aber nicht nur dort, wo es zugleich in frühere Epochen, in die viktorianische Zeit oder die ernsten Jahre vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg zurückführt. Doch das alte Schreiben ist nicht ganz das alte. Es ist allerdings nicht leicht, den Unterschied zwischen ›Vor-Postmoderne‹ und ›NachPostmoderne‹ festzumachen. Terry Eagleton erfasst zu Beginn seiner Postmoderne-Kritik, The Illusions of Postmodernism (1996), die Eigenheit nachpostmodernen Schreibens als eine subtile Differenzqualität, die auf einen Erfahrungsprozess verweist:

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[ …] there may be a kind of pre-postmodernism which has worked its way through post-modernism and come out roughly on the side where it started, which is by no means the same as not having shifted at all.4

Bei den Autoren und Autorinnen, die zuvor selbst postmodern geschrieben haben, hat die veränderte Erzählweise für diejenigen, die die Veränderung lesend miterfahren, von vornherein einen doppelten Boden. Vor dem Hintergrund des zuvor praktizierten Raffinements wird sie als Understatement, als eher provisorisch anmutende Zurücknahme der eigenen schriftstellerischen Kunst empfunden, im Übergang zu etwas Anderem, noch nicht Erreichtem. Die Distanz zur vorgeführten Erzählschlichtheit wird gelegentlich explizit gemacht. Etwa wenn Ian McEwans Erzähler in On Chesil Beach (2007) die vergangene naive Welt der 1960er Jahre kommentiert, die das Buch mit ebenso traditionellem Erzählen evoziert:5 While one heard of wealthier people going in for psychoanalysis, it was not yet customary to regard oneself in everyday terms as an enigma, as an exercise in narrative history, or as a problem waiting to be solved.6

Toby Litt, der den ›New Puritans‹ nahestand, macht im Roman Finding Myself (2003) die Problematik der nach-postmodernen Rückkehr zu vorpostmodernem Erzählen zu seinem Thema. Die innerfiktionale Autorin in diesem Text, die Erfolgsschriftstellerin Victoria About, plant einen Roman, der viktorianischen Realismus mit Virginia Woolfs psychologischer Subtilität verbinden soll. Victoria weiß, dass ein solches Unterfangen einiger Manipulation bedarf, und so entwirft sie nach Maßgabe ihrer literarischen Ambition ein Plot und setzt entsprechend dieses Entwurfs, den sie in einer Synopse zu Beginn festhält, ein reales Geschehen in Gang. Ihr Ziel ist: »a novelisation of something that really happened. Not something that has already happened, but something that will – because I make it [ …] happen.«7 Die in Frage gestellte Fähigkeit traditioneller Fiktion, Wirklichkeit zu erfassen, soll also dadurch neu gesichert werden, dass Wirklichkeit der Fiktion entsprechend organisiert wird. Um die vorherbestimmte interpersonelle Dynamik ins Werk zu setzen, zu beobachten und schriftlich festzuhalten, lädt Victoria zehn Gäste, zumeist alte Freunde, zu gemeinsamen Ferien ein. Durch geheime Mikrophone und Kameras weitet sie deren Beobachtung bis in die intimen Räume hinein aus und erstellt auf dem SpeiTerry Eagleton, The Illusions of Postmodernism, Oxford 1996, viii f. Thematik und Psychologie erinnern an Romane wie Margaret Drabbles The Millstone (1965). 6 Ian McEwan, On Chesil Beach, London 2008, 21. 7 Toby Litt, Finding Myself, London 2003, 3 (Kursivdruck im Original). 4 5

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cher authentische Computer-Protokolle vom Leben der Anderen. Der Abstand zwischen Leben und Text soll auf diese Weise so gering wie möglich gehalten werden. Der zugleich literarische Charakter des reality television scheint durch entsprechende Vorgaben gesichert: Das für den Zweck angemietete Country House am Meer ist der traditionelle Raum für einen englischen Gesellschaftsroman; die Aufzeichnungen der achtundzwanzig gemeinsamen Tage werden eine Kapitelfolge von Buchlänge ergeben; die handverlesenen Gäste weisen die Individualität von literary characters auf; ihre Bildung und Intelligenz garantieren, dass die Unterhaltungen zu geistreichen Romandialogen werden; das Maß an sozialen und erotischen Spannungen zwischen ihnen verspricht jenes traditionelle Plot, welches die Autorin in der Synopse skizziert hat. Als besondere Highlights sind Entsprechungen zu Events in Virginia Woolfs Landhausroman To the Lighthouse eingeplant. Bereichert und verifiziert durch die Lauschaktion soll das so entstandene Ferienprotokoll einen ganz neuen Grad an Wahrheit erreichen. Aber die Kontingenz der Lebenswelt geht in vielfacher Weise gegen den schönen Plan an. Die Gäste verhalten sich nicht entsprechend der Vorgaben. Rasch erahnen sie die geheime Beobachtung und entdecken deren Technik; sie bringen die Synopse in Erfahrung, gemäß der, in der Weitsicht der Autorin, ihre Beziehungen sich entwickeln sollen. Dies führt nicht nur dazu, dass sie sich misstrauisch gegen Victoria wenden; sie nutzen deren Observation für ihre eigenen Ziele. Vielfältige, im kollektiven Ineinanderspiel sich gegenseitig beeinflussende Inszenierungen überlagern und verdrängen Victorias Masterplot: Theatralische Szenen in den Schlafzimmern werden als Lockmaterial für die ahnungslos protokollierende Autorin ausgebreitet; die Einbildung einer zum literarischen Klischee des Landhausromans passenden Geistererscheinung verbreitet unsubtile Hektik; stilisierte Berichte einzelner Gäste von der Abhöraktion gehen an die Regenbogenpresse; deren grobschlächtige journalistische Phantasien infiltrieren wiederum das Leben im Landhaus. Die Deutungsmacht des viktorianischen Erzählers oder des Woolfschen zentralen Bewusstseins lässt sich also auch in Verbindung mit einer Gestaltungsmacht über das reale Geschehen nicht mehr aufrecht erhalten. Die innertextuelle Autorin verzichtet schließlich darauf, die Computerprotokolle, Dokumente ihrer von der andersartig sich entwickelnden Wirklichkeit zum Scheitern gebrachten literarischen Imagination, zu veröffentlichen. Dass sie uns trotzdem publiziert vorliegen, ist ihrer Editorin zu verdanken, die die Texte heimlich von Victorias Laptop herunterkopieren ließ. Sie redigiert sie allerdings massiv gemäß ihrer eigenen Erinnerung, ihrer Eitelkeit und ihres literarischen Geschmacks. Das derart überarbeitete, an (lesbar gebliebenen)

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Ausstreichungen, Einfügungen und Änderungen reiche Manuskript wird in der Buchpublikation zudem ergänzt durch abschließende Beurteilungen des Geschehens von Seiten der übrigen Gäste. Die also ausgestellten Varianten illustrieren, wie ein sich in intersubjektiver Dynamik entwickelndes Ereignis in seiner nachträglichen Re-präsentation wiederum durch diese Dynamik bestimmt wird. Die subjektive Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Erfahrungsweisen, Erinnerungen und Beurteilungen ist unvermeidlicherweise integraler Teil der menschlichen Realität. Was Litts Relativismus von postmodernen Fiktionen unterscheidet, ist, dass er ein verantwortungsbewusstes Verhalten innerhalb des so beschaffenen Lebens anmahnt. Sich ein Bild von der menschlichen Wirklichkeit zu machen, ist in seiner Welt nicht vornehmlich ein epistemologischer, sondern ein moralischer Akt. Dieses Bild durch eine voyeuristische Aktion zu gewinnen, ist – wie er über seine romanimmanente Autorin zeigt – als Geste der Überheblichkeit sowohl moralisch verwerflich als auch schriftstellerisch abwegig. Der distanzierte Beobachter zieht, anstatt sich der Alterität des anderen zu öffnen, Barrieren des Missverständnisses hoch. Victoria schämt sich am Ende über die Sturheit und Arroganz, mit der sie sich weigerte, sich auf die anderen einzulassen: »I’ve been so mad, so isolated; crouching hidden behind my project, I haven’t been able to recognise that them being here is an act of generosity; a gesture of trust.«8 Schriftstellerische und lebensweltliche moralische Dimensionen werden in diesem Schuldbekenntnis überblendet¸ das Verhältnis zwischen dargestellten und darstellenden Personen wird als eine integrale zwischenmenschliche Beziehung aufgefasst. III. Der Weg zurück zum vormodernen mimetischen Erzählen ist versperrt, wie Litt an Victoria Abouts quasi-naturalistischem Schreibprojekt zeigt, dessen experimentelle Versuchsanordnung scheitert. Andere Romane führen Charakteristika postmoderner Erzählweisen vor, um deren Defizite offenkundig zu machen. Der Protagonist, die Protagonistin solcher Texte zieht die sprachlichen und literarischen Register freien Fabulierens, um die (innerfiktionale) Lebenswelt zu begreifen, sie sich geistig zu eigen, emotional beherrschbar zu machen. Lesern und Leserinnen wird zugleich zu verstehen gegeben, dass in diesem Prozess Verfälschung und Selbstbetrug im Spiel sind. Die vorgeführte Herstellung von Fiktion arbeitet gemäß dekonstruktivistischer Literaturauffassung intensiv mit intertextuellen Mit8

Litt, Finding Myself, 271.

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teln, wird angeregt von diversen literarischen Erzählmustern wie z. B. der Romanze, des Melodramas, des Detektiv- und Agentenromans, des leitmotivisch gestalteten Bewusstseinsromans. Und wie im klassischen Vorbild des Don Quijote hat das einen doppelten Effekt. Autor und Leserschaft ermöglicht das Verfahren hier wie dort, liebgewordene Freuden der Imagination weiter zu genießen, während ihnen zugleich die Notwendigkeit nahegelegt wird, solchen Freuden zu entsagen. Anders als in Cervantes’ ergötzlichem Roman führt die Verfertigung der Welt gemäß literarischer Muster in nach-postmodernen Erzählungen nicht bloß zu der Zerstörung von Weinschläuchen, dem Niedermetzeln von Schafen und dem Zerhauen von Marionetten. Sie zieht irreparable menschliche Katastrophen nach sich. Michael Frayn lässt im Roman Spies (2002) den gealterten Ich-Erzähler Stephen Wheatley auf eine quijoteske Phase in der Kinderzeit zurückblicken. Vor gut fünfzig Jahren, während des Zweiten Weltkriegs, hat der damals Dreizehnjährige zusammen mit einem Freund aus wenigen Indizien eine Geschichte gemacht, die den beiden ein spannendes Rollenspiel bescherte. Mit der Folge, dass schließlich das gesamte, durch die Kriegsbedrohung ohnehin gefährdete Vorstadtleben zusammenbrach. Der Erzähler erinnert sich an den Moment, in dem der Freund den Anstoß zur zentralen innerfiktionalen Fiktion gab, von der er in postmoderner Art fasziniert war. I think I also understand that he’s more than a protagonist in the events we’re living through – that he’s in some mysterious way their creator. He’s done it before [ …]. In each case he uttered the words, and the words became so. He told the story, and the story came to life. Never before, though, has it ever become real, not really real, in the way that it has this time. So now I sit gazing at him, waiting for him to announce how we’re going to conduct the adventure he’s launched us upon.9

Die outrierte Art der Einführung weckt im Leser von vornherein Zweifel daran, dass die Geschichte ins Wahre trifft, ins »really real«. Das Abenteuer soll darin bestehen, die vermutete Spionagetätigkeit der Mutter des Freundes für die Deutschen aufzudecken. In dem, was folgt, verquicken sich literarische Phantasie und Voyeurismus zu einem explosiven Denk- und Handlungsgemisch. Dessen zerstörerischer Effekt ist der, dass nicht, wie die Kinder es sich ausdenken, ein imaginäres Spionagenetz aufgedeckt, sondern ein naher Verwandter in den Tod getrieben wird, ein englischer Bomberpilot, der aus Gewissensgründen desertiert war und sich versteckt hielt. Alle literarischen Gewebe, die die Jungen aus ihren Beobachtungen verfertigten – spy story, ghost story, love story, Hamlet-and-Gertrude story – haben, so wird in der Retrospektive klar, die (innerfiktionale) Realität dras9

Michael Frayn, Spies, London 2002, 53.

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tisch verfehlt. Die Unkenntnis, Unsensibilität und Inhumanität, die sie bei der Projektion ihrer Imagination auf die Lebenswelt zeigen, wird zwar durch ihr kindliches Alter entschuldigt, doch für den nach über fünfzig Jahren zurückblickenden Erzähler bleibt die Erinnerung eine Belastung. Eine komplexere, literaturtheoretisch explizitere Variante des nach-postmodernen Don Quijote-Romans ist Ian McEwans Roman Atonement (2001). Der Autor selbst macht zu Beginn auf die Parallele zu Jane Austens Northanger Abbey, der prominenten englischen Version quijotesker Wirklichkeitsverkennung, aufmerksam. Das innerfiktional reale Geschehen betrifft das Schicksal des jungen Paares Robbie und Cecilia. Unmittelbar nachdem die beiden sich ihrer Liebe bewusst wurden, wird die Beziehung durch die unzutreffende Bezichtigung Robbies, ein Kind missbraucht zu haben, auseinandergerissen. Robbie wird nach vierjährigem Gefängnisaufenthalt als Soldat nach Frankreich geschickt und stirbt dort Anfang Juni 1940 im militärischen Fiasko von Dünkirchen an den Folgen einer Verwundung; Cecilia kommt im Herbst desselben Jahres bei dem Bombenangriff auf die Londoner U-Bahnstation Balham um. Nur für eine Stunde haben sich die beiden, vor der Abreise Robbies nach Frankreich, noch einmal in einem Londoner Coffeehouse treffen können. Das Thema des Romans ist der imaginative und literarische Umgang mit diesem Geschehen. Protagonistin und dominante Perspektiventrägerin ist Cecilias jüngere Schwester Briony – zu Beginn wie Frayns Stephen 13 Jahre alt. In den 1930er Jahren lebt sie im abgeschirmten Landhaus ihrer Eltern als frühreifes Schriftstellerinnen-Genie in ihrer geistigen Wunschwelt. Diese wird gestört durch die Annäherung Robbies an Cecilia. Die eifersüchtige Briony rächt sich, indem sie Robbie durch ihre falsche Aussage ins Gefängnis bringt. Das Vergehen wattiert sie in ihre Phantasie ein: »the world she ran through loved her and would give her what she wanted and would let it happen. And then, when it did, she would describe it«.10 Ihr literarisches Credo inspiriert sich an einer postmodern vereinfachten Ästhetik der klassischen Moderne: was zählt, ist das subjektive innere Erleben, und das kann sich frei und wertfrei konstituieren: »She need not judge. There did not have to be a moral.« (40) Einige Jahre nach dem Vorfall, zu Beginn des Kriegs, verfasst Briony eine erste literarische Version des Geschehens mit dem Titel Two Figures by a Fountain, die sich auf den Moment beschränkt, da sie eine intime Beziehung zwischen Robbie und ihrer Schwester zu vermuten beginnt. Er wird stilisiert zu einem Woolfschen Augenblick, in dem die drei Bewusstseinsströme 10 Ian McEwan, Atonement, London 2007 (nachfolgende Seitenverweise eingeklammert im Text).

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der involvierten Personen sich kunstvoll kreuzen, durch Licht- und Steinsymbolik, granite and rainbow, bestimmt: What excited her about her achievement was its design, the pure geometry and the defining uncertainty which reflected, she thought, a modern sensibility. The age of clear answers was over. So was the age of characters and plots. [ …] she no longer really believed in characters. These were quaint devices that belonged to the nineteenth century. (281)

Der Herausgeber der Literaturzeitschrift, dem sie das Manuskript anbietet, lehnt es mit einem ausführlichen kritischen Kommentar ab.11 Er moniert die unklaren Grenzziehungen zwischen den Personen sowie das Fehlen jeglicher Einbindung ihrer Gedankengewebe in ein äußeres Geschehen. Hellsichtig schlägt er vor, dass sich in einer überarbeiteten Fassung das beobachtende Mädchen auf fatale Weise zwischen die beiden anderen drängen könnte (313). Diese Anregung, die hinter der Fiktion die Wahrheit erahnt, stößt Briony aus der ästhetischen in die Welt moralischer Werte: »Did she really think«, so fragt sie sich nun, »she could hide behind some borrowed notions of modern writing, and drown her guilt in a stream – three streams! – of consciousness?« Und sie gesteht sich ein: »The evasions of her little novel were exactly those of her life« (320). Der Roman demonstriert sodann mit ihrem späteren Schriftstellerleben, wie moralische und literarische Überlegungen sich ineinander verquicken. Eine ein Jahr später geschriebene Erzählung stellt den poetischen Moment des früheren Kurzromans in den Kontext einer äußeren Handlung, klammert jedoch ihre Schuld weiterhin aus. Diese beginnt sie in sieben weiteren Textfassungen ab 1947 aufzuarbeiten. 1999 liegt die endgültige Version vor, die einzige, die in McEwans Text erzählt wird. Die Charaktere sind hier in nach-postmoderner Manier klar durchgezeichnet, das Geschehen wird über realistisch geschilderte Episoden vermittelt; Archivstudien bürgen für faktische Genauigkeit in historischen Einzelheiten. In einem Zusammentreffen mit Cecilia und einem von Dünkirchen zurückgekehrten Robbie wird Briony hier dazu gebracht, lebensweltliche Lüge von literarischer Imagination klar zu unterscheiden und ihre fatale Falschaussage als Unwahrheit zu qualifizieren. Sie verspricht, die Aussage öffentlich zu korrigieren und damit Robbies Rehabilitierung zu ermöglichen. Robbie und Cecilia haben, so erfährt man, den ersehnten Honeymoon in einem Cottage in Wiltshire verbracht; der Bombentod von Cecilia bleibt ausgeklammert, sodass für das Paar die glückliche Zukunft suggeriert wird, die es nie erleben durfte: 11 Der (fiktionale) Kommentar wird Cyril Connolly zugeschrieben, dem klugen und hochgeschätzten Gründer der engagierten Literaturzeitschrift Horizon (1940 – 1949), die während des Kriegs eine wichtige Rolle im intellektuellen Leben Englands spielte.

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the lovers survive and flourish. As long as there is a single copy, a solitary typescript of my final draft, then my spontaneous, fortuitous sister and her medical prince survive to love. (371)

Tatsächliche Schuld wird durch eine Erfindung wieder gut gemacht. Der Versuchung, Faktisches und Fiktionales zu vermischen, kann die Autorin somit bis zuletzt nicht widerstehen – auch wenn sie ihr Fabulieren nun zum literarischen Wohl und nicht mehr zum lebensweltlichen Schaden der Betroffenen einsetzt. Für den Leser, dem die Version mit dem Happy End erzählt worden ist, kommt ihr am äußersten Schluss des Romans nachgeliefertes Eingeständnis, sie habe sich das glückliche Ende als postume Wiedergutmachung für die Jahrzehnte zuvor umgekommenen Liebenden ausgedacht, als Schock.12 Die Irritation stößt ihn auf die Frage. ob solches Fabulieren, auch wenn es im Medium der Fiktion erscheint, zulässig ist.13

IV. Literarische Autorschaft, so machen englische Gegenwartsromane deutlich, hat moralische Implikationen. Das bedeutet nicht, dass dogmatische Anleitungen zum Erzähl- und Schreibverhalten gegeben werden. Vielmehr werden komplexe Welten entworfen, in denen sich das Erzählen in ver12 Im Film (deutscher Titel: Abbitte) wird das Fiktive dieser Episoden von vornherein durch reserviertes Spiel und unrealistische Beleuchtungseffekte angedeutet. 13 Die Beurteilung fällt kontrovers aus: Claudia Schemberg (Achieving ›At-onement‹: Storytelling and the Concept of the Self in Ian McEwan’s The Child in Time, Black Dogs, Enduring Love and Atonement, Frankfurt am Main 2004) hält die Tat durch das literarische Bekenntnis für gesühnt; Briony ist mit sich selbst versöhnt. Ellen D’hoker (»Confession and Atonement in Contemporary Fiction: J. M. Coetzee, John Banville, and Ian McEwan«, Critique: Studies in Contemporary Fiction 48 [2006], 31 – 43) betont ähnlich das Gelingen des Sühneakts im Sinne der Selbstfindung. Lynn Wells (»The Ethical Otherworld: Ian McEwan’s Fiction«, in: Philip Tew, Rod Mengham [Hgg.], British Fiction Today, London 2006, 117 – 127) kritisiert hingegen den rein literarischen Sühneakt als egoistische Phantasie. James Phelan (»Narrative Judgment and the Rhetorical Theory of Narrative: Ian McEwan’s Atonement«, in: J. P., Peter Rabinowitz [Hgg.], A Companion to Narrative Theory, Maldon 2005, 322 – 336) weist darauf hin, dass der einzige Akt der Wiedergutmachung in der realen Welt, nämlich die öffentliche Zurücknahme der falschen Beschuldigung, durch den bloßen Akt der Phantasie ersetzt wird. Für ihn stellt sich die Frage, wie McEwans Komplizenschaft in diesem Selbsttäuschungs- und Lesertäuschungsmanöver zu veranschlagen ist. Friedrich Wilhelm Neumann (»The Artifice of Fiction Can be Taken for Granted: Pragmatische Epistemologie und Moral in Ian McEwans historischem Roman Atonement«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 46 [2005] 331 – 346) interpretiert Brionys Fiktion als eine typisch postmoderne Selbstermächtigungspose, die McEwan durch die Parodie bloßzustellen beabsichtigt.

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schiedenartiger Weise entwickelt und auswirkt. Es wird vorgeführt, wie mit dem literarischen Wort, sei es beabsichtigt oder nicht, Sachverhalte in der äußeren Welt geschaffen und verändert werden. Die Verantwortung für das eigene Wort erscheint somit als bedeutsam. Der Leser wird zum Nachdenken über schlechtes und gutes lebensweltliches und literarisches Erfinden, Konstruieren und Erzählen gebracht. Er muss sich eine eigene Position erarbeiten angesichts der unvermeidlich subjektiv perspektivierten, oft verzerrenden und manchmal offensichtlich falschen Berichte sowie der einseitigen Selbstentschuldigungen und Selbstverurteilungen der innerfiktionalen Autoren.14 Die Romane bieten ihm einen ethical space im Sinne von Martha Nussbaum, einen offenen ethischen Raum, in dem sich metaliterarische moralische Aufmerksamkeit, Sensibilität und humane Urteilskompetenz in idealer Weise schulen können.15 In Finding Myself, in Spies und in Atonement wird die moralische Sicht auf das Erzählen explizit angemahnt. Wirklichkeitsfremde Erzählplanung und unwahres Erzählen lassen sich vom Leser klar ausmachen, nicht zuletzt aufgrund dessen, dass innerhalb der Romane ja auch das, was wirklich geschehen ist, textuell vermittelt wird, während in der Lebenswelt solche Sachverhalte erst diskursiv zu erstellen sind. Letztlich bleibt jedoch in der Schwebe, ob und inwieweit ein subjektives Fehlverhalten der Personen vorliegt, die die Geschichten entwerfen. Falsch verstandene Aufklärungspflicht (Spies), wohlgemeinte Täuschung (Finding Myself), oder auch juristische Probleme (Atonement) behindern das Erkennen und Bekennen der Vergehen. Die zur Beurteilung anstehenden Erzählungen der jungen innerfiktionalen Autor(inn)en werben durch die Ich-Form um Verständnis und Sympathie; auch der Unterhaltungswert, den ihre spannenden Geschichten haben, wirkt sich zu ihren Gunsten aus. Die nachträglichen strengen Selbstverurteilungen der Erzähler in Finding Myself und Spies dürften auf Seiten des Lesers Versuche ihrer Entschuldigung und Rechtfertigung provozieren. In Finding Myself wird das, was innerhalb der Erzählung als moralisches Vergehen einer egozentrischen Autorin erkannt wird, auch in einer als Anhang mitgelieferten brieflichen Kommentierung der involvierten Personen als zum Teil heilsamer Eingriff in ihre eigene Persönlichkeitssphäre umgedeutet und dankbar erinnert. Andererseits erscheint die Selbstrechtfertigung 14 Einen Ansatz zur systematischen Untersuchung des Zusammenhangs von Perspektivenführung und ethischer Dimension bietet Wolfgang G. Müller, »An Ethical Narratology«, in: Astrid Erll, Herbert Grabes, Ansgar Nünning (Hgg.), Ethics in Culture: The Dissemination of Values through Literature and Other Media, Berlin 2008, 117 – 130. 15 Martha Nussbaum, Love’s Knowledge: Essays on Philosophy and Literature, New York 1990.

Die Ethik der Fiktion und der englische Gegenwartsroman

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der Erzählerin durch eine fiktionale ›Abbitte‹ nicht jedem Leser abwegig, wie die wissenschaftliche Rezeption der Romans zeigt.16 Literarische Werke, so befindet Colin McGinn, verhalten sich zur philosophischen Ethik wie die auslegungsoffenen biblischen Parabeln zu den Zehn Geboten.17 Ein analoges Verhältnis besteht zwischen nach-postmodernen fiktionskritischen Romanen und normativer Romantheorie.

16 17

Cf. Anm. 13. Colin McGinn, Ethics, Evil and Evil in Fiction, Oxford 1997, 171 – 172.

KLEINE BEITRÄGE

Pierre Béhars Rezension der historisch-kritischen Lohenstein-Ausgabe – eine Entgegnung Von Lothar Mundt Anlass dieses kleinen Beitrags ist die im letzten Jahrgang, 51 (2010), 440 – 447, dieses Jahrbuches erschienene Rezension von Pierre Béhar (im folgenden abgekürzt: B.) zu dem von mir bearbeiteten Text- und Kommentarband von Daniel Caspers von Lohenstein Trauerspielen Agrippina und Epicharis, mit dem die im Verlag Walter de Gruyter (Berlin / New York) erscheinende historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Werke 2005 eröffnet wurde. Bei der Erörterung unterschiedlicher Aspekte und Detailfragen meiner Editions- und Kommentararbeit kommt B. zu ausschließlich negativen bzw. ablehnenden Bewertungen, wobei er diese allerdings z. T. aufbaut auf schiefen oder schlechthin falschen Darstellungen von Sachverhalten, die in den beiden Teilbänden der Ausgabe zu finden sind, und zwar in einer so massiven und doktrinären Art, dass eine Richtigstellung innerhalb des von B. genutzten Publikationsorgans unbedingt geboten schien. Dieser Richtigstellung unrichtiger Behauptungen B.s in dem sich gleich anschließenden Abschnitt I füge ich zwei weitere Abschnitte an, in denen ich auf kritische Anmerkungen B.s eingehe, die m. E. unberechtigt sind, aber grundsätzliche Fragen des Kommentierens und der historisch-kritischen Textredaktion berühren, in der Hoffnung, über den unerfreulichen Anlass hinaus ein wenig zur Klärung dieser Sachfragen beitragen zu können.

I. 1. Gleich am Anfang seiner Rezension, 440, schreibt B., ich hätte mich bei der Edition der Agrippina und der Epicharis »nach den Drucken von 1665 und 1685 gerichtet« und diese »fälschlicherweise als ›einzige zu Lebzeiten des Autors erschienen‹ bezeichnet [ …], da Lohenstein 1685 bereits seit zwei Jahren tot war«. Dies ist unzutreffend, denn für beide Dramen

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Lothar Mundt

wurden die Texte der zu Lohensteins Lebzeiten erschienenen Drucke des Jahres 1665 zugrunde gelegt. Lesarten der postumen Nachdrucke (1685, 1701 und 1724) sind in den kritischen Apparat eingegangen. In meinem Editionsbericht ist dies eingehend dargelegt (s. hier 574 ff. u. 582 ff.). 2. Grob fehlerhaft ist auch die Mitteilung auf S. 446, ich hätte die bibliographischen Angaben in meinen Autoren- und Werklisten zu den Lohensteinschen Trauerspiel-Anmerkungen »systematisch den modernen Editionen dieser Autoren und Werke entnommen«. Das Gegenteil ist richtig. Soweit nur irgend möglich, wurden anhand der Bestände der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Berliner Staatsbibliothek sämtliche Zitate anhand zeitgenössischer Ausgaben, die Lohenstein benutzt hat oder benutzt haben könnte, verifiziert und die entsprechenden Titel in der Liste verzeichnet. Der Vorwurf B.s geht schon deshalb ins Leere, weil es von der frühneuzeitlichen Fachliteratur, die Lohenstein ausgewertet und ausgeschrieben hat, in aller Regel keine modernen Editionen gibt. Eine Ausnahme innerhalb meiner Nachweise bilden allerdings Zitate aus lateinischen und griechischen Klassikern. Diese werden aus Gründen der Praktikabilität für den Benutzer unserer Ausgabe nach modernen Editionen nachgewiesen – wobei aber in allen Fällen, in denen Textabweichungen feststellbar waren, zwei bis drei zu Lohensteins Zeiten erschienene Ausgaben verglichen wurden. All dies ist in meiner Ausgabe mit ausführlichen Erklärungen nachzulesen (Bd. 1, 602; Bd. 2, 806 – 808). Um den Leser auf die Problematik der Benutzung moderner Editionen antiker Autoren in diesem Zusammenhang aufmerksam zu machen, habe ich eine Reihe von instruktiven Beispielen zu dem auf dem philologischen Fortschritt beruhenden Wandel von Lesarten vom 17. bis zum 20. Jahrhundert angefügt (Bd. 1, 599 – 601) – inwiefern damit ein »Anachronismus« (446) begangen wurde, erschließt sich mir nicht. 3. Schlechthin abseitig ist auch der Vorwurf, ich hätte in meine ausführliche Darstellung der Biographie der historischen Agrippina »auch die letzten Ergebnisse der heutigen Forschung, die bestimmte Aussagen des Tacitus in Frage stellen« (446), untergemengt und so ein Bild der Agrippina erzeugt, das Lohenstein fremd gewesen sei. Tatsächlich habe ich nur alles zusammengetragen, was sich in den einschlägigen, von Lohenstein ausgiebig genutzten Quellen (Tacitus, Sueton, Cassius Dio) findet – so gut wie alle darin angesprochenen Details wird man entweder im Dramentext oder irgendwo in den Anmerkungen Lohensteins wiederfinden.

Pierre Béhars Rezension der Lohenstein-Ausgabe

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II. Bei der Besprechung textkritischer Fragen beschränkt sich B., um »den Rahmen einer Rezension nicht zu sprengen« (440), auf die Diskussion der Gestaltung der Interpunktion, bei der ich mich, den Grundsätzen unserer Ausgabe entsprechend, ebenso wie bei der Graphie, strikt an die zugrunde gelegten Drucke des Jahres 1665, als die einzigen überlieferten autorisierten Textzeugen, gehalten habe, abgesehen von wenigen Einzelfällen, in denen eine Änderung zur Vermeidung von Missverständnissen unbedingt notwendig schien. Die Interpunktion dieser Drucke weist eben die Inkonsequenzen auf, die man von unzähligen Druckerzeugnissen der Barockzeit zur Genüge kennt, also einen unterschiedlichen Grad der Markierung syntaktischer Gliederungen (Appositionen z. B. sind manchmal in Virgeln eingeschlossen, manchmal nicht) und eine undifferenzierte Verwendung unterschiedlicher Satzzeichen (z. B. kann vor einem Relativsatz ebenso eine Virgel wie ein Semikolon stehen, und ein Satz kann ebenso mit einem Punkt wie einem Semikolon oder einem Doppelpunkt, sogar mit einer Virgel geschlossen werden). Bei syntaktischen Einschnitten am Versende steht oft überhaupt kein Satzzeichen, offenbar weil der dort durch die Typographie gegebene Einschnitt schon als hinreichend angesehen wurde – ähnlich wie man heute auch hinter Kapitel- oder Gedichtüberschriften keinen Punkt mehr setzt. B. glaubt, dass »mit absoluter Sicherheit behauptet werden« könne, dass der »vorliegende Text [ …] nicht der von Lohenstein verfasste Text« sei, sondern vielmehr der von einem unordentlich und sorglos arbeitenden Setzer »entstellte Text« (441). B. glaubt auch aufgrund seiner Kenntnis der in der Breslauer Handschrift R. 3156 enthaltenen autographen Entwürfe zu Teilen des Ibrahim Sultan feststellen zu dürfen, »dass Lohenstein die [!] Interpunktionsregeln genau kannte und befolgte und darüber hinaus die an den Drucker bestimmte Handschrift besonders pflegte; dass es sich hier also um eindeutige Satzfehler handelt« (441). Leider gibt B. nicht an, welches »die [!] Interpunktionsregeln« der Barockzeit, an die Lohenstein sich gehalten haben soll, waren und wo man sie finden kann. Den Textbeispielen auf S. 441, in denen er, in Anlehnung an Justs Edition von Lohensteins Trauerspielen, vorführt, wie die Originaldrucke in dieser Hinsicht den Autorabsichten getreu zu emendieren wären, ist zu entnehmen, dass ihm eigentlich, ebenso wie Just, die Interpunktionsregeln unserer Zeit vorschweben – bis hin zu einer präzisen Funktionsregeln folgenden Setzung von Virgel (entsprechend unserem Komma) und Semikolon, Punkt und Doppelpunkt. Was aber jene Handschrift betrifft, so lassen sich bei genauerer Durchsicht des gesamten Textkonvoluts an verschiedenen Stellen genau die gleichen Besonderheiten der Interpunktion feststellen, die B. als verbesserungsbedürftige Fehler dem zeitgenössischen Setzer anlastet. Zum Beweis

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führe ich die folgenden fünf Passagen aus den handschriftlich überlieferten Textstücken zum Ibrahim Sultan an (zu anderen Dramen Lohensteins existiert keine handschriftliche Überlieferung!). Man beachte, dass Lohenstein hier anstelle von Virgeln durchweg Kommata verwendet. Hingegen wirft die_e jener für: daß _ie die große Armenierin eine Buhl_chaft des Jbrahims mit Gifte hingerichtet habe. (Bl. 14r) Wir müßen dir im Waßer Opfer brennen Dichs Haupt der welt, der Länder Sonne nennen. (Bl. 18r) Wer lernt nun nicht des Himmels Wunder _chlüße: daß, weil’s Verhängnüs Mich hat untern Krebs gethan in Mir _o Sonn’ als Glück nur rückwerts lauffen kan? (ebd.) Wenn aber Rom des Löwen Sitz und Hauß denn [= den] Löwen wird zu _einer Sonne kriegen wird er ein Horn dem Monden le_chen aus; (Bl. 18v) Peit_cht’ [!] ewig ihn mit eurer Schlangen=Rutte Denn wer durch Brun_t dem Teufel _ich vermählet; dem wird die Glutt zum Brauttbett’ auserwehlet. (Bl. 19v)

Die Handschrift kann also keineswegs zur Abstützung von B.s Forderung nach einer strikt regelgeleiteten normierenden Interpretation entsprechend modernen Gepflogenheiten dienen. Wollte man B.s Grundsätzen folgen, so wiederholte man nur den Hauptfehler von Justs Edition, die B. anscheinend immer noch für vorbildlich hält (442), d. h. man stellte einen historisch in keiner Weise zu legitimierenden Mischtext her und öffnete, da Entscheidungen auf dem Gebiet der Interpunktion sehr oft interpretatorische Entscheidungen voraussetzen bzw. präjudizieren, editionsphilologischer Willkür Tür und Tor. Den »echten, vom Verfasser konzipierten Originaltext«, an den lt. B. eine kritische Edition »sich bemühen soll, möglichst nah […] heranzukommen« (442), kennen wir nun einmal nicht und können wir auch nicht rekonstruieren. Einzige Textzeugen sind bei den Barockdichtern in der Regel ausschließlich die überlieferten Drucke, und diese sind deshalb unbedingt zu respektieren, wie immer sie beschaffen sein mögen. B. glaubt einen Widerspruch zu erkennen zwischen unserer strikten Vorlagentreue bei den Dramentexten und bestimmten begrenzten Regulierungen innerhalb des von Lohenstein beigegebenen Anmerkungsteils, nämlich der Ergänzung von Punkten hinter Ordnungszahlen oder abgekürzten Wörtern, die der Setzer vergessen hatte oder die wegen schadhafter oder abgenutzter Typen nicht mitgedruckt worden waren. Ein solcher Widerspruch besteht nicht, denn jene Maßnahmen bedeuten nur eine Komplettierung einer klar erkennbaren und sonst fast stets befolgten Regel, ohne jede Gefahr eines den Textsinn möglicherweise verschiebenden Eingriffs, die bei

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weitergehenden normierenden Interpunktionsregulierungen, wie B. sie empfiehlt, stets gegeben ist. III. B. beanstandet an den kommentierenden Teilen unserer Ausgabe von Agrippina und Epicharis, dass in ihnen »Grundkenntnisse und -erkenntnisse über die beiden Trauerspiele« (446) übergangen würden. Gemeint sind damit hochspekulative, bis heute unbewiesene Hypothesen, die B. selbst zuerst in seiner 1988 erschienenen Habilitationsschrift Silesia Tragica dargelegt1 und in einem 16 Jahre später gedruckten Tagungsbeitrag2 wiederholt hat. Im Kontext der Rezension unserer Lohenstein-Ausgabe breitet er nun seine Gedanken, entrüstet über deren Nichtberücksichtigung, wieder ohne irgendeinen Beweis, noch einmal aus (443 – 446). Jene Hypothesen besagen, kurz gesagt, dass die Hauptgestalten beider Trauerspiele, Agrippina und Epicharis, Allegorien für das unter dem Druck der Rekatholisierung stehende Schlesien seien und sich hinter der Maske des Muttermörders und blutigen Tyrannen Nero eigentlich Kaiser Leopold I. verberge.3 Ausgangspunkt ist ein schlichtes Vorurteil: dass nämlich Lohenstein als protestantischer Autor angesichts der konfessionellen Bedrängnisse seiner Heimat gegen das Oberhaupt der habsburgischen Herrschaft, von der diese Bedrängnisse ausgingen, nur Hass habe empfinden können4 und dieser sich in jenen beiden Trauerspielen niederschlage, während Lohenstein sich späterhin »immer mehr – sei es aus Opportunismus, sei es aus Überzeugung – zu Leopold bekannte«5. Tatsächlich gibt es jedoch in Lohensteins Gesamtwerk keinerlei Hinweise darauf, dass er an den konfessionellen Fragen seiner Zeit sonderlich interessiert oder gar von ihnen persönlich berührt gewesen wäre, 1 Pierre Béhar, Silesia Tragica. Epanouissement et fin de l’école dramatique silésienne dans l’œuvre tragique de Daniel Casper von Lohenstein (1635 – 1683) (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 18), Wiesbaden 1988, Bd. 1, 41 – 46 u. 52 – 60. 2 Pierre Béhar, »Der Widerstand gegen die Habsburger im Werk Daniel Caspers von Lohenstein«, in: ders., Herbert Schneider (Hgg.), Der Fürst und sein Volk. Herrscherlob und Herrscherkritik in den habsburgischen Ländern der frühen Neuzeit. Kolloquium an der Universität des Saarlandes (13. – 15. Juni 2002) (Annales Universitatis Saraviensis 23), St. Ingbert 2004, 269 – 291. 3 Mit dieser politischen Deutung der beiden Dramen verbindet B. auch eine neue, ebenso spekulative Theorie über ihre Entstehungsdaten. Vgl. Béhar, Silesia Tragica, Bd. 1, 41 – 46. In die gleiche Richtung ging schon ein 1983 veröffentlichter Aufsatz: Pierre Béhar, »Zur Chronologie der Entstehung von Lohensteins Trauerspielen«, Daphnis 12 (1983), 441 – 463, hier insbes. 461 f. 4 Vgl. Béhar, »Der Widerstand gegen die Habsburger«, 276. 5 Béhar, »Zur Chronologie«, 462.

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abgesehen von einem einzigen Dokument, einem in der Breslauer Handschrift R. 3156 überlieferten Brief an Hoffmannswaldau vom 4. 10. 1669, in dem er sich bedauernd über bestimmte schon getroffene und noch bevorstehende Entscheidungen des Kaiserlichen Rates in Wien über die Kirchen in Lossen und Trebnitz (Niederschlesien) äußert. B. hat als erster auf den Inhalt dieses Briefes aufmerksam gemacht6, liefert aber keine Informationen über seine konkreten historischen Bezüge, deren Erhellung aber unbedingt nötig wäre, um Lohensteins Kommentar zu den in dem Brief nur angedeuteten Vorgängen einordnen zu können. Der Widmungsbrief an Otto von Nostitz, kaiserlichen Landeshauptmann der Herzogtümer Schweidnitz und Jauer, den B. immer wieder anführt, um seinen Hypothesen Plausibilität zu verschaffen7, ist, anders als B. will, tatsächlich ein Dokument der persönlichen Verehrung, sowohl für den Adressaten selbst wie auch für seinen Herrn, Kaiser Leopold, nicht anders als die beiden poetischen Huldigungen, die Daniel Czepko 14 Jahre früher, 1651, beim Amtsantritt des Otto von Nostitz, hatte im Druck erscheinen lassen8. Um seine höchst problematische, vorurteilsgeleitete Auffassung, dass dieser Brief eigentlich eine kaum verhüllte Drohung an das Kaiserhaus sei, zu belegen, weist B. wiederholt9, zuletzt in seiner Rezension (445), auf einen angeblich doppeldeutigen Satz in dieser Widmung hin. Die von B. angenommene zweite Bedeutung dieses Satzes ist jedoch im Hinblick auf seine grammatische Struktur ebenso inakzeptabel wie im Hinblick auf den Kontext; als Beleg oder auch nur Plausibilitätsargument für B.s These besagt der Satz also überhaupt nichts. Wären die Dinge tatsächlich so gewesen, wie B. sie darstellt, wäre kaum zu erklären, weshalb der kaiserliche Hof die Familie eines gegen ihn feindlich eingestellten Dichters und Juristen 1670 geadelt hat oder weshalb der Breslauer Magistrat einen Habsburg-Hasser zum Syndikus und Obersyndikus ernannt und 1675 ausgerechnet einen solchen Mann auch noch mit einer für die Stadt sehr wichtigen Mission an den Wiener Hof entsandt haben sollte (die Reise war bekanntlich erfolgreich und brachte Lohenstein den Titel eines Kaiserlichen Rates ein). Der Wiener Hof verfügte sicher über genügend Gewährsleute in Schlesien, die ihn über die wahre Gesinnung Lohensteins hätten aufklären können, und ein literatur- und kunstinteressierter Mann wie Otto von Nostitz wäre dank der rhetorischen Schu6 7

287.

Béhar, Silesia Tragica, Bd. 1, 61; Bd. 2, 451, Anm. 159. Béhar, Silesia Tragica, 59 f.; ders., »Der Widerstand gegen die Habsburger«, 285 –

8 Daniel Czepko, BASILIKON DWRON: Panegyricus [ …] Dn. Ottoni L.B. a Nostitz. In: ders., Sämtliche Werke, hg. Hans-Gert Roloff, Marian Szyrocki, Bd. 2,1, bearb. Lothar Mundt, Ulrich Seelbach, Berlin / New York 1996, 292 – 309. 9 Béhar, Silesia Tragica, Bd. 1, 60; ders., »Der Widerstand gegen die Habsburger«, 287.

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lung, über die er ebenso wie alle anderen gebildeten Zeitgenossen verfügt haben dürfte, durchaus in der Lage gewesen, feindselige und drohende Passagen des Widmungsbriefes als solche zu erkennen und die geeigneten Folgerungen daraus zu ziehen. Um die trotz aller konfessionspolitischen Bedrängnisse bei schlesischen Dichtern wie Czepko10 oder Lohenstein offenbar wirklich ernst gemeinte Verehrung des Kaiserhauses verstehen und einordnen zu können, ist ein Blick auf die neulateinische Literatur des 16. Jahrhunderts hilfreich, deren Erbe die gelehrte deutsche Barockliteratur im Gefolge des Opitzschen Literaturprogramms angetreten hat. Es gibt seit dem 15. Jahrhundert eine umfangreiche Produktion an lateinischen Dichtungen, die das Lob des Hauses Habsburg und einzelner seiner Mitglieder zum Inhalt haben.11 An dieser poetischen Habsburg-Panegyrik haben sich auch protestantische deutsche Autoren beteiligt, z. B., um nur drei bekannte Namen zu nennen, Nikodemus Frischlin (1547 – 1590)12, Heinrich Meibom d. Ä. (1555 – 1625)13 und Nikolaus Reusner (1545 – 1602)14. So wenig wie diese sich – merkwürdig genug – in ihrer Habsburg-Verehrung durch die Ereignisse und Folgen des Schmalkaldischen Krieges haben irre machen lassen, so wenig hinderten die vom Wiener Hof ausgehenden Bedrückungen der Rekatholisierung Schlesiens protestantische schlesische Dichter wie Czepko und Lohenstein im 10 Ein Zeugnis für Czepkos Habsburg-Verehrung ist seine unter dem Titel Ferdinandinum 1654 erschienene umfangreiche, im Stil der Inscriptio arguta abgefaßte lateinische Trauerschrift zum Tode König Ferdinands IV.: Czepko, Sämtl. Werke, Bd. 2,1, 315 – 455. 11 Seit 1995 läuft am Institut für Klassische Philologie der Universität Wien unter der Leitung von Franz Römer ein Forschungsprojekt, das sich die Erfassung und Erschließung dieses Literaturzweigs zum Ziel gesetzt hat. Vgl. Franz Römer, Elisabeth Klecker, »Poetische Habsburg-Panegyrik in lateinischer Sprache. Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek als Grundlage eines Forschungsprojekts«, Biblos-Schriften 43 (1994), H. 3 / 4, 183 – 198. 12 Nikodemus Frischlin, Panegyrici tres de laudibus DD. Maxaemyliani II. et Rodolphi II. Maxaemyliani F. Romanorum Impp. [… ]. Lectori: Habes in his libris decem Austriacorum Caesarum historiam tanta brevitate tantoque studio comprehensam, ut maiori vix possit, Tübingen 1577. 13 Heinrich Meibom, Imperatorum ac Caesarum Romanorum ex familia Austriaca oriundorum descriptiones breves et succinctae Vergiliano carmine contextae, Helmstedt 1589. – Siehe hierzu Johannes Amann-Bubenik, »Centonendichtung als Habsburg-Panegyrik«, Humanistica Lovaniensia 48 (1999), 234 – 250, hier 235 – 246. 14 Nikolaus Reusner, »In Caesares Austriacos epigrammata«, in: Meibom, Imperatorum ac Caesarum [ …] descriptiones, C3r – C4r. Vgl. auch die Hinweise bei Johannes Amann-Bubenik, »Kaiserserien und Habsburgergenealogien – eine poetische Gattung«, in: Tradita et inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike, hg. Manuel Baumbach (Bibliothek der Klassischen Altertumswissenschaften, N.F., 2. Reihe, 106), Heidelberg 2000, 73 – 89, hier 78 f.

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17. Jahrhundert daran, die alten deutschen Traditionen der Verehrung und poetischen Überhöhung des Kaiserhauses fortzuführen. Immerhin räumt B. ein, dass die Ergebnisse seiner Forschungen »kritisiert bzw. bestritten« werden dürften (446); auf keinen Fall aber dürften sie »verschwiegen werden, vor allem in einer wissenschaftlichen Edition« (ebd.). Damit verkennt er aber die wesentlichen Aufgaben eines Kommentars. Dieser hat zum Verständnis des Textes notwendige sachliche und sprachliche Erläuterungen auf gesicherter Grundlage zu liefern, auf editionsphilologisch problematische Textstellen aufmerksam zu machen, auch das Für und Wider textkritischer Entscheidungen zu diskutieren. Eine Auseinandersetzung mit älteren oder aktuellen, meist schnell veraltenden oder überholten germanistischen Interpretationsansätzen hat in einer auf lange Verwendbarkeit angelegten historisch-kritischen Ausgabe keinen Platz – abgesehen von den selten auftretenden Fällen, dass sie zur Klärung einer textkritischen Einzelfrage etwas beizubringen hätten. B.s Hochschätzung interpretierender Beigaben geht so weit, dass er selbst den Wert der von uns in vollem Umfang beigebrachten bibliographischen Nachweise und Zitatübersetzungen zu Lohensteins gelehrten Anmerkungen dadurch in Frage gestellt sieht, dass die seiner Meinung nach »einzige [!] wirklich notwendige Information« (446) nicht mitgeliefert werde – nämlich eine Deutung der Funktion jener Anmerkungen. Seine hierzu apodiktisch nachgelieferte Deutung, dass Lohenstein keine Quellennachweise beibringen, sondern nur »enzyklopädisches Wissen [… ] vermitteln« (446) wollte, stellt die Tatsachen allerdings auf den Kopf. Tatsächlich kam es Lohenstein darauf an, für die in seinen Dramen geschilderten wesentlichen Abläufe deren historische Faktizität möglichst lückenlos durch penible Quellennachweise zu belegen; und nicht »die wirklichen Quellen bleiben meistens verborgen» (446), sondern in der Regel nur zeitgenössische literarische Vorbilder, über die sich Lohenstein gewöhnlich ausschweigt. Über die reinen Quellennachweise hinaus bietet Lohenstein allerdings dem Leser auch noch ein buntes Allerlei an gelehrten Kuriositäten oder auch enzyklopädischem Wissensstoff – in besonders reicher Fülle in den Anmerkungen zur Sophonisbe.

Creative Paean: The Childbirth Image in Nietzsche’s Götzen-Dämmerung (Twilight of the Idols) (1889) and D. H. Lawrence’s Women in Love (1920) By Steven Doloff I. Scholars have widely commented on the meaning of the West African wooden carving of »a woman sitting [ …] in child-birth [ …] conveying the suggestion of the extreme of physical sensation, beyond the limits of mental consciousness« in D. H. Lawrence’s 1920 novel Women in Love, first noticed by the character Gerald Crich in the sixth chapter »Crème de Menthe« (WL 74), discussed by Crich and Rupert Birkin in the following »Fetish« chapter (WL 78 – 9), and then indirectly evoked by Birkin’s meditation on another such carving twelve chapters later (in »Moony« [WL 252 – 4]). Horace Gregory declares the carving »the most important figure in the book« and, in his less commonly held view, that it constitutes a »perfect representation of life,« a »standard« for the »purpose [ …] essence [ …] [and] function« of an idealized sexual existence »as opposed to the imperfect human beings surrounding her« (45 – 47). Inez R. Morris’s darker analysis is that »the suggestion of death and destruction implied in […] the African sculpture is one of the most consistent symbolic meanings in the whole of Women in Love« (227). She contrasts Gerald’s instinctive ambivalence towards the statue’s import of »dissolution of which he [Gerald] is an essential [ …] part in the novel« (269) with its more enlightening effect on Birkin, whom it propels through a dialectic thought process from »reverence« for the carving’s sensual affirmation, to rejection of its »purely sensual« degenerative implications, and finally to (vis-à-vis his relationship with Ursula) a more vital and creative balance of physical and spiritual perspectives (272). While the fetish’s sensation-bound negative significance remains uppermost for Morris (as it does for most critics), she does note (citing Gregory) that Lawrence’s choice of a childbirth image for the statue paradoxically conveys meanings of both destruction and creation, underscoring the »inevitability of pain, suffering and death« that must precede new life’s emergence (279 – 80).

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James C. Cowan sees the fetish in labor as among the »central art symbols in Women in Love« (62) and conducive to Birkin’s »glimpse into the abyss« of a culturally destructive absolute sensual consciousness (66). Similarly, Tony Pinkney perceives the novel as »heavily preoccupied« with statuettes and carvings and expressive of a mostly negative pattern of womb imagery (80). For him, the rigors of labor displayed by the fetish ironically signify the apocalyptic dissolution of an African culture (86 – 87). Anne Fernihough views Lawrence as ambivalently balancing disparate metaphors in the fetish’s stark image of labor: a regressive self-alienating state of sheer sensation correspondent to that of the devolved experience of the »labor« (in the Marxist sense) of Crich’s »insect«-like mine workers versus a creative struggle (as engaged in by Birkin and Ursula) for the emergence of a more conscious being, reintegrating mind and body (73 – 75). Fernihough also points out additional allusions in the novel to pregnancy and childbirth, and Lawrence’s sustained »juggling« of the multifaceted term »labour« (52 – 4). Jack Stewart expands on Morris’s argument that the childbirth carving serves as a symbolic touchstone initiating »the central dialectic« of the novel as reflected in Gerald’s and Birkin’s divergent responses to it (113). While »Gerald fears and resents the abandonment to sensation he sees in the fetish« (and intuits in himself), Birkin’s more comprehensive understanding of the fetish’s message of both »sensual authenticity« and psychic entropy provokes in him rather a salubrious »process of empathy and introspection« that yields »a visionary awareness of cultural dynamics« (96, 107, 111).

II. Speculation as to Lawrence’s inspiration for this evocative carving, found in the character Halliday’s London flat, has for the most part focused on actual African statues the author may possibly have seen and on books about such artifacts he read or might have read.1 1 David Farmer, Lindeth Vasey and John Worthen, in their Cambridge edition of Women in Love, cite the following biographical details in the explanatory notes (WL 538, 539) to the novel’s description of the carving. Cecil Gray states that Philip Heseltine, a close friend of Lawrence’s from 1915 on (and upon whom it is believed the novelist in part based the character Halliday), possessed many such carvings, or »African fetishes« (Gray, 144). Another friend of Lawrence’s, Mark Gertler, owned an African carving of this kind by 1915 as well (Gertler, 85). Farmer et al note that Lawrence’s correspondence includes a request by the novelist in 1916 of an expected visitor, Lady Ottoline Morrell, to bring him books on »anything really African, Fetish Worship or the customs of the primitive tribes,« and a letter also from 1916 in

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But, as the editors of the Cambridge edition of Women in Love have noted, real African carvings of single figures specifically engaged in childbirth are »apparently unknown« (WL 538). If this is, in fact, the case, then Jack Stewart’s opinion that the novel’s »motif of a woman in labor [embodied by the fetish] may be largely imagined« (108) would seem reasonable. And yet a plausible literary inspiration for this symbolically laden childbirth figure, if not an intentional allusion in it, may be a passage in Friedrich Nietzsche’s Götzen-Dämmerung (Twilight of the Idols) (1889), a book from which Lawrence, it’s already been argued, lifted both imagery and ideas for other of his works.2 In this late volume of the philosopher’s that synoptically revisits familiar ideas and themes from his earlier writings, Nietzsche closes the book with a paean to the essential, »Hellenic instinct« as expressed in the Dionysian affirmation and symbolism of sexual generation, and specifically of childbirth: Denn erst in den dionysischen Mysterien, [ …] die Grundtatsache des hellenischen Instinkts aus – sein »Wille zum Leben« [ …] das wahre Leben als das Gesamt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit. Alles einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die »Wehen der Gebärerin« heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz […]. Damit es die ewige Lust des Schaffens gibt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muss es auch ewig die »Qual der Gebärerin« geben [… ]. (Werke, Zweiter Band, 1031.)3 which Lawrence praises Sir E. B. Tylor’s Primitive Culture (1871), a two volume set including much on fetishism (2L 510 – 11, 593). 2 John B. Humma, in Metaphor and Meaning in D. H. Lawrence’s Later Novels, notes that in Lawrence’s novella The Ladybird (1923), »Nietzsche […] is constantly present« in a variety of ways, from the story’s »Apollonian-Dionysian polarity« in theme (the central male character’s name is »Dionys«) to its use of the image of »Dionys’s ›hammer‹ [… ] clearly taken from Nietzsche’s Twilight of the Idols, whose subtitle is How One Philosophizes with a Hammer« (23, 23 fn). Humma further points out in his essay »D. H. Lawrence as Friedrich Nietzsche,« that in Apocalypse, Lawrence again echoes Nietzsche’s Twilight of the Idols in condemning Socrates for the infections of rationalism and idealism that ended the vibrant relationship the early Greeks had with Nature (113 – 114). In Twilight of the Idols, immediately preceding the childbirth passage, Nietzsche charges the »Moral- und Ideal-Schwindel[ ] der sokratischen Schulen« (»Socratic school’s moralistic and idealistic swindles«) with destroying the healthful primacy of »jener starken, strengen, harten Tatsächlichkeit, die dem älteren Hellenen im Instinkte lag« (»instinct for the older Hellenes«) (Werke, 2. Bd., 1029). Similarly, in Apocalypse, Lawrence opines »it is almost impossible for us to realize what the old Greeks meant by god, […]with the coming of Socrates […] the cosmos died« (A 95 – 96).

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As Colin Milton has observed, »the intellectual kinship between D. H. Lawrence and the nineteenth century German philosopher Friedrich Nietzsche has been widely recognized« and that »Nietzschean ideas underly [sic] and determine the large-scale patterns and structures of Lawrence’s writing [ …] [constituting] a subtle and powerful interpretive framework for reading the novels, stories, poems, and plays« (1, 19). So it is no surprise then that were Lawrence to have deliberately appropriated the childbirth image he presents in Women in Love from the Götzen-Dämmerung passage above, it would fit quite comfortably into a complex of other Nietzsche allusions and notions already critically recognized as permeating the novel. Not only are such Nietzschean catch phrases as »Wille zur Macht« (The Will to Power), »the Dionysic [… ] way« and »übermenschlich« (superhuman) explicitly deployed in the text (WL 150, 251, 394), but as Ronald Gray has argued, in Women in Love »Lawrence ranges up and down Nietzsche’s ideas, the Dionysian and the Apolline; Dionysus and Christ; the ›master-morality‹ of Gerald Crich displayed in the organizing of his industry; the need for man to be surpassed in the course of evolutionary creation; the achievement of a state beyond good and evil; the dominance of the male over the female; the aristocratic temper contrasted with slave-temper; the need for self-annihilation in order to transcend the self […]« (192). Indeed, Lawrence may have found Nietzsche’s sanctified »torment« of childbirth so apt a trope for the creative experience in the novel as to metaphorically anticipate and underscore it in his foreword to the 1920 first American edition of Women in Love: Man struggles with his unborn needs and fulfillment. New unfoldings struggle up in torment in him, [ …] This struggle for verbal consciousness should not be left out in art. It is a very great part of life [ …]. It is the passionate struggle into conscious being. We are now in a period of crisis. Every man who is acutely alive is acutely wrestling with his own soul. The people who can bring forth the new passion, […] will en3 »For only in the Dionysian mysteries [ …] does the fundamental fact of the Hellenic instinct express itself—its ›will to life‹ [… ] true life as collective survival through reproduction, through the mysteries of sexuality. Thus, for the Greeks, the sexual symbol was the ultimate revered symbol, the authentic, deep meaning in all ancient piety. Every element of the act of reproduction, of pregnancy and birth, awoke the highest and most festive feelings. In the teachings of the mysteries, pain is declared holy; ›the pangs of the childbearer‹ make pain in general holy – all becoming and growth, everything that vouches for the future requires pain […] For there to be the eternal joy of creation, for the will to life to affirm itself eternally, there must also eternally be the ›torment of the childbearer‹ [ …].« ( Twilight of the Idols, 90)

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dure. Those others that fix themselves in the old idea, will perish with the new life strangled unborn within them (WL 485 – 486).4

Works Cited Cowan, James C., D. H. Lawrence and the Trembling Balance, Univ. Park, PA 1990. Fernihough, Anne, D. H. Lawrence: Aesthetics and Ideology, Oxford 1993. Gertler, Mark, Mark Gertler: Selected Letters, ed. Noel Carrington, Rupert HartDavis, 1965. Gray, Cecil, Peter Warlock: A Memoir of Philip Heseltine, London 1938. Gray, Ronald, »Women in Love and the German Tradition in Literature«, in: D. H. Lawrence: The Rainbow and Women in Love: A Casebook, ed. Colin Clarke, London 1969, 188 – 202. Gregory, Horace, D. H. Lawrence: Pilgrim of the Apocalypse, 1933, Freeport (NY) 1970. Humma, John B, Metaphor and Meaning in D. H. Lawrence’s Later Novels, Columbia (MO) 1990. Humma, John B., »D. H. Lawrence as Friedrich Nietzsche«, Philological Quarterly 53.1 (1974), 110 – 120. Lawrence, David Herbert, Apocalypse and the Writings on Revelation, ed. Mara Kalins, Cambridge 1980. Lawrence, David Herbert, Women in Love, ed. David Farmer, Lindeth Vasey, John Worthen, Cambridge 1987. Lawrence, David Herbert, The Letters of D. H. Lawrence, Vol. II., ed. George J. Zytaruk, James T. Boulton, Cambridge 1981. Milton, Colin, Lawrence and Nietzsche: A Study of Influence, Aberdeen 1987. Morris, Inez R., »African Sculpture Symbols in Women in Love«, College Language Association Journal 28.3 (1985), 263 – 280. Nietzsche, Friedrich, Werke in drei Bänden, München 1955. Nietzsche, Friedrich, Twilight of the Idols Or, How to Philosophize with the Hammer, trans. Richard Polt, Indianapolis (IN) 1997. Pinkney, Tony, D. H. Lawrence and Modernism, Iowa City 1990. Stewart, Jack F., The Vital Art of D. H. Lawrence: Vision and Expression, Carbondale (IL) 1999.

4 This foreword may help to suggest Lawrence’s separate use in Women in Love of the positive Nietzschean symbol of creative / painful childbirth apart from the negative inference of cultural decay Birkin eventually draws from the African artifacts.

Fluktuierende Anzüglichkeit. Zu Alois M. Haas’ Buch über Mystik und Postmoderne1 Von Bernhard Teuber Ego dixi: ›Dii estis / et filii Excelsi omnes.‹ // Vos autem sicut homines moriemini / et sicut unus de principibus cadetis. (Psalmus 82, 6 – 7 iuxta Novam Vulgatam.) – »Ich habe wohl gesagt: Ihr seid Götter / und allzumal Söhne des Höchsten; // aber ihr werdet sterben wie Menschen / und wie ein Tyrann zugrunde gehen.« Diese Psalmverse haben jüngst dank des Films über die Mönchsgemeinschaft von Tibhirine im algerischen Teil des Atlas-Gebirges eine gänzlich unerwartete Resonanz gefunden. In Anlehnung an die Psalmstelle ist der 2010 in Cannes preisgekrönte Film von Xavier Beauvois benannt: Des hommes et des dieux (»Von Menschen und Göttern«), und die beiden Verse werden gleich anfangs in die Titeltotale eingeblendet, so dass sie für die erzählte Geschichte das Motto abgeben. Der fulminante Erfolg des Films in der europäischen Öffentlichkeit, in der französischen allzumal (aber auch in der deutschen am Jahreswechsel 2010 /11), war nicht vorherzusehen; und auch die ungewöhnlichen Psalmworte dürften nur Wenigen bekannt sein. Im Zusammenhang des Films bringen sie zum Ausdruck, dass das klassisch monastische Streben nach Gottgleichwerdung nicht billig zu haben ist, sondern dass es um den Preis einer tödlichen Gewalt erkauft wird, die der Suchende auf dem Weg zum Gottsein erleidet und die ihn paradoxerweise verwechselbar macht mit den Gewalttätern selbst. Es ist eine gewiss nicht gesuchte Koinzidenz, dass die fremdartige und vielerorts wohl vergessene Psalmstelle auch im hier anzuzeigenden Essay des vielfach ausgezeichneten Zürcher Germanisten-Emeritus und Mystikforschers Alois Maria Haas ihren Platz hat (122 f.) – und zwar keineswegs als unmittelbares Zitat aus dem alttestamentlichen Psalter selbst, sondern als ein Bibelwort, das Augustinus in einer seiner Predigten über den 1. Johannesbrief kommentiert (In epistulam Ioannis ad Parthos tractatus IV, 6) – übrigens ganz im Sinne der patristischen Vorstellung von der deificatio, der 1 Alois Maria Haas, Wind des Absoluten – Mystische Weisheit der Postmoderne?, Einsiedeln / Freiburg im Breisgau 2009, 151 Seiten.

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Gottwerdung des Menschen in Folge der Menschwerdung Gottes – und auf welches wiederum Erich Przywara in seinem Augustinus-Buch von 1934 ausdrücklich verweist. Aber diese nicht intentional gesuchte Koinzidenz belegt doch auch die hohe Aktualität eines Bandes, der Überlegungen zum Weiterwirken mystischer Intuitionen in Theoriedebatten und medialen Zeugnissen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zu seinem Thema macht und der darum seinem Gegenstand in einer historischen Tiefendimension gerecht zu werden sucht, die auf dem weiterhin florierenden Büchermarkt zu Fragen der Postmoderne ihresgleichen suchen dürfte. Das gleich mehrfach verschachtelte, über Augustinus und Przywara hergeleitete Psalmzitat ist dem Verfasser keineswegs unterlaufen, und es entspringt auch nicht einem intertextuellen Spieltrieb, sondern es ist charakteristisch für die Besonderheit von Haas’ Fokus, der Bestände christlichen Wissens und christlicher Tradition in ihren mannigfachen kulturellen Kontexten, Ein- oder Umbettungen und auch Brechungen in den Blick zu nehmen sucht. Selbst der Rekurs auf die Heiligen Schriften des Judentums und des Christentums kann da nicht von einer inzwischen mehrtausendjährigen Deutungsgeschichte absehen, für welche die Patristik und das daraus hervorgegangene geistliche Schrifttum der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mystiker repräsentativ einstehen, die aber dann wiederum im Dialog mit, vielleicht auch als Protestruf gegen die Theologie der Schulen gelesen werden wollen – beispielsweise bis hin zu den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Natur und Übernatur (vgl. 124 – 126). An ihnen hatte auch der Jesuit Przywara Anteil; sie prägten über viele Jahrzehnte hinweg den theologischen Diskurs, ja sogar die ästhetische Produktion. Heute hingegen drohen sie, wären da nicht noch Gewährsmänner wie Haas, aus dem kulturellen Bewusstsein zu entschwinden – möglicherweise um alsbald andernorts, in den sich derzeit abzeichnenden Diskussionen über den Begriff der Natur, als unheimliche Wiedergänger aufzutauchen. Angesichts des Gesagten kann es nicht wirklich verwundern, dass der mit Nietzsche und dessen Perspektivismus bestens vertraute Verfasser sich bereits im Vorwort – horribile dictu – als »katholischer Intellektueller« positioniert (7).2 Bei deutschsprachigen Zunftgenossen aus dem Umfeld einer kulturprotestantisch dominierten Altgermanistik mag dies Irritationen auslösen und nach ihrem Geschmack den Hautgout des unangebracht Bekenntnishaften verströmen. Nimmt man jedoch das postmoderne Plädoyer für unaufhebbare Pluralität und Diversität ernst, dann ist solche Selbstzuschreibung eher als Ausweis intellektueller Redlichkeit und als sympathi2 Vgl. Haas, Nietzsche: zwischen Dionysos und Christus – Einblicke in einen Lebenskampf, hg. und mit einem biographischen Essay versehen v. Hildegard Elisabeth Keller, Wald 2003.

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sche Geste der Selbstrelativierung zu nehmen: Sie legt offen, im Zusammenhang welcher Wahrheitsspiele die vorgetragenen Stellungnahmen zu verorten sind, und macht en passant deutlich, dass sich der Begriff der Katholizität semantisch anders füllen lässt, als es eine massenmedial konstruierte Wirklichkeit suggeriert, eingeschlossen der vielbeschworene Feuilletonkatholizismus, der seinen Zenit wieder überschritten haben dürfte. In einer globalen Perspektive korrespondiert die Selbst-Attribution »katholisch« zudem einer spiegelsymmetrisch verkehrten Praxis der Fremd-Attribution: Westliche Medien und Institutionen scheuen sich ja keineswegs, islamischen Intellektuellen das Wort zu erteilen, die selbst dann noch als solche etikettiert werden, wenn sie der Sache nach eher als Islamkritiker, wo nicht offenkundige Renegaten einzuschätzen wären. Wie aber soll in der medialen Öffentlichkeit ein übergreifendes Gespräch zwischen Religionen und geistigen Standpunkten möglich werden, wo die einen als Muslime oder auch als Juden das Wort ergreifen dürfen (und sollen), die anderen aber aus einer Position scheinbarer Ortlosigkeit oder vorgeblich säkularer Allgemeinheit heraus argumentieren, die sich bei näherem Hinsehen als ebenso kontextverhaftet und traditions- oder gar religionsgebunden erweist wie die Beiträge der anderen Seiten auch? Haas macht das explizite Eingeständnis, dass der eigene Standpunkt vor dem Horizont eines globalisierten Bildes der Welt gerade in seiner Katholizität durchaus partikular geworden ist. Doch im Gegenzug gestattet es diese Bescheidenheit überhaupt erst, den Grund für einen intellektuellen Austausch auf Augenhöhe zu legen und damit den von Jean-François Lyotard diagnostizierten postmodernen Widerstreit auch exemplarisch ins Werk zu setzen. Bereits der Titel des Bandes Wind des Absoluten unterbreitet ein Gesprächsangebot, das von jedem Konfessionalismus frei und in mehrfacher Hinsicht offen ist. Unter dem Lemma: »Zum Begriff der ›Rettung‹« findet sich in Walter Benjamins Passagen-Werk die Eintragung: »Wind des Absoluten in den Segeln des Begriffs. (Das Prinzip des Windes ist das Zyklische.) Die Segelstellung ist das Relative.«3 Benjamins schöne, der Seefahrtstopik entlehnte métaphore filée, wo nicht Allegorie, beschreibt im energetischen Bild des Windes das Unbedingte (das Absolute) als ein unverfügbares Movens, welches eine Dynamik entfacht (die Segel der Schiffe bläht), deren Anfang und Ende sich empirischer Beobachtung entziehen müssen. In einer geradezu buchstäblichen Auslegung der gewählten Titel-Allegorie zeigt Haas dann in der Einleitung und in acht thematischen Kapiteln seiner Studie auf, wie sich das »Absolute« in den »begrifflichen Segeln« – in Kategorien, Konzepten, Theoriemodellen – jenes zeitgenössischen Denkens ver3 Walter Benjamin, Konvolut N 9, 3, in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1983, Bd. V, 1, 591.

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fangen hat, das er einführend (und in Ermangelung plausibler Alternativbezeichnungen) als »postmodern«, »poststruktural« oder mit nicht geringerem Recht auch als »postsäkular« identifiziert (11). Die Arbeit begrifflicher Exegese an aktuell diskutierten Theorie-Ansätzen führt immer wieder zurück zu den großen Paradigmen geistlichen Schreibens und mystischer Erfahrung; sie beleuchtet so die erstaunlichen Gemeinsamkeiten, aber ebenso die unbestreitbaren Differenzen, die zwischen Postmoderne und klassisch mystischen Traditionen obwalten. Ausgesprochen glücklich gewählt ist die erkenntnisleitende Titel-Allegorie des Windes: Sie ist vielfältig anschließbar, entspricht aber – wiewohl sie in der Durchführung häufig mit Beispielen aus der Geschichte der christlichen Spiritualität belegt wird – gerade nicht einer partikularen Tradition, sondern sie stellt stattdessen eindrucksvoll die Unfassbarkeit oder Unsagbarkeit des zu beschreibenden Phänomens aus. Haas verdankt die Titel-Allegorie nicht von ungefähr einem jüdischen Denker, bei dem das Säkulare und das Religiöse oft voneinander ununterscheidbar sind; und der vorbehaltlose Rekurs auf einen Repräsentanten jüdischer Tradition ist dabei symptomatisch für eine katholische Intellektualität am Puls der Zeit, wenn es sie denn noch gibt (vgl. 18, Anm. 12). Angesichts der Erfahrung von Unbestimmtheits- und Unschärferelationen allerorten liegt die Signatur des postmodernen Denkens Haas zu Folge in einer gesteigerten Sprachskepsis, die bezeichnenderweise an die gängige Unsagbarkeitstopik der geistlichen Schriftsteller anknüpft und genauso wenig wie diese ein Proprium zu benennen vermag. Ist nämlich der theologische Diskurs im Christentum vornehmlich kataphatisch (bejahend) und auf Grund dieser mitunter triumphalistischen Positivität für das moderne Denken nurmehr schwer assimilierbar, hält sich das mystische Sprechen spätestens seit Dionysius vom Areopag (6. Jahrhundert) lieber an die Apophase (Verneinung) oder an die Symbolik des vorbehaltlich Uneigentlichen, insbesondere an die rhetorische Figur der Katachrese. Sie gibt dem Unbenannten und Unbenennbaren absichtlich einen ähnlichen, aber letztlich unpassenden Namen, beispielsweise spricht sie vom ›Bein‹ des Tisches oder vom ›Fuß‹ des Berges. So stimmen mystische Rede und postmoderne Theorie darin überein, dass sie der Sprache ihre Grenzen aufzeigen. Von hier aus bietet es sich förmlich an, einen Blick auf »Wittgenstein und das Unsagbare« (23) zu werfen. Der oft zitierte § 7 des Tractatus logico-philosophicus lautet bekanntlich: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Haas situiert das Axiom einerseits in der Tradition der philosophischen Skepsis seit der Antike, für die »auch das Schweigen Reden ist« (24); vor allem aber möchte Haas die Gültigkeit von Wittgensteins Axiom allein auf die wissenschaftliche Rede beschränkt wissen, welche notgedrungen die Katachrese vermeiden müsse, aber nach Wittgensteins eigener Aus-

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sage dem »nicht Geschriebenen« (dem Mystischen) gegenüberstehe. Das »nicht Geschriebene«, das vom Frühwerk noch planmäßig Ausgegrenzte, kehrt beim späten Wittgenstein im Konzept einer Mannigfaltigkeit der »Sprachspiele« zurück, die von nun an auch andere Zugänge zur Artikulation des Unsagbaren eröffnen. In Wittgensteins Skepsis gegenüber der positiven Kraft sprachlicher Aussagen hallen freilich unüberhörbar Notionen wie die ›Weiselosigkeit‹ (âne wîse) von Meister Eckhart oder die modi nescientia (›Unkenntnis des Modus‹) des frühneuzeitlichen Jesuitentheologen Maximilianus Sandaeus nach. Die Geistesbewegung der Skepsis hat im Abendland, wie man weiß, den Philosophen Pyrrhon zu ihrem Ahnherrn. Haas erinnert daran, dass Pyrrhon, der selbst keine schriftlichen Werke hinterließ, aber Schüler um sich scharte, mit Alexander dem Großen nach Indien gezogen und dort zu den Gymnosophisten, den indischen Weisen, in Kontakt getreten sei. Von daher liegt es tatsächlich nahe, die abendländische Skepsis insgesamt auf indische Wurzeln zurückzuführen und sie in einen sehr engen sachlichen Zusammenhang zur mystischen Sprachauffassung zu stellen. Haas weist in Aufnahme der jüngeren Forschung zwischen dem indischen und dem skeptischen Denken eine interessante Engführung nach, die in ihrer Konsequenz in beiden Traditionen zu einer radikalen Epoché führt: zur Urteilsenthaltung. Kennt man das Verfahren der Epoché im Westen etwa bei Montaigne und dann wieder bei Husserl in der Phänomenologie, so entspricht ihr in Indien die auf Sanskrit so genannte catuskoti (sprich ungefähr: [tschatúskoti], deutsch ›Urteilsvierkant‹), in der logischen Fachsprache auch als das buddhistische Tetralemma bezeichnet.4 Ihre klassische Ausprägung hat die catuskoti im zweiten nachchristlichen Jahrhundert beim buddhistischen Philosophen Nagarjuna gefunden, der auch die Entwicklung des Zen beeinflusste und insgesamt vier Möglichkeiten der Prädikation von Identität unterschied. 1. Bejahung: etwas ist aus sich selbst; 2. Verneinung: etwas ist aus etwas Anderem; 3. Kombination von Bejahung und Verneinung: etwas ist sowohl aus sich selbst als auch aus etwas Anderem; 4. Bestreitung sowohl von Bejahung als auch von Verneinung: etwas ist weder aus sich selbst noch aus etwas Anderem (vgl. 44 f.). Grundsätzlich schließt jede dieser Möglichkeiten die anderen drei bereits aus. Weiterhin sind die Fälle (3.) und (4.), die einem Gegenstand kontradiktorische Prädikate zugleich zusprechen oder zugleich absprechen, mit der aristotelischen Logik des Abendlandes kaum mehr vereinbar. In extremer Zuspitzung scheint Nagarjuna darüber hinaus aber auch noch Fälle zu kennen, in denen alle vier Aussagetypen zu verwerfen sind: Damit ist aus indischer Sicht die gänzliche Unsagbarkeit 4 Vgl. Hans P. Sturm, Weder Sein noch Nichtsein – Der Urteilsvierkant (catuskoti) und seine Korollarien im östlichen und westlichen Denken, Würzburg 1996.

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des Absoluten plastisch beschrieben; Haas korreliert sie überzeugend mit der hyperagnoia (›Überunwissenheit‹) areopagitischer Provenienz und fasst die catuskoti insgesamt als ein Instrument auf, die diskursive Rede der Wissenschaft vom Standpunkt der Weisheit aus zu befragen und auch zu hinterfragen. Eine entscheidende Pointe erhalten Haas’ Überlegungen deswegen, weil die Suspension des ›Urteilsvierkants‹ mit der daraus erwachsenden Epoché nicht nur mystische Unsagbarkeit impliziert, sondern weil sie auch das von Husserl und danach von Heidegger gebrauchte Verfahren der phänomenologischen Reduktion vorwegnimmt, welches kürzlich von Jean-Luc Marion wieder ins philosophische Gegenwartsgespräch eingeführt wurde. Doch die phänomenologische Reduktion begegnet nicht nur in Indien und bei den Skeptikern der Antike, sondern auch – dies ist die vielleicht originellste Entdeckung der Studie – bei Meister Eckhart, wo sie unter zwar wohlbekannten, aber oft nur oberflächlich oder etwas bieder gelesenen Begriffen wie gelâzenheit (lateinisch resignatio) und abgescheidenheit zu entdecken ist. Um diese Behauptung zu belegen, bietet Haas eine Lektüre der Predigt vom Reich Gottes, die seinerzeit von Alain de Libéra und Émilie Zum Brunn kommentiert wurde. Auch noch in jüngerer und jüngster Zeit hat es ja nicht an intelligenten und gutgemeinten Versuchen gemangelt, Meister Eckhart als einen auf arabischem Wissen und scholastischer Gelehrsamkeit fußenden, im Ergebnis dann aber sehr eigenständigen »Philosophen des Christentums« zu deuten, der gegen den vermeintlichen ›Mystiker‹ Eckhart auszuspielen, ja vor dessen Irrationalismus geradezu in Schutz zu nehmen sei. Ohne in kleinliche, letztlich fruchtlose Polemik einzutreten, dekonstruiert Haas souverän die naive Vorstellung, dass die mittelalterliche und frühneuzeitliche Mystik ein Kontinent sei, der einfach außerhalb des philosophischen Diskurses liege und mit ihm nichts zu tun habe. Wie schon Derrida in Comment ne pas parler (1986 / 87) gezeigt hat, ist natürlich das Gegenteil der Fall, und Haas knüpft mit seiner mutig aktualisierenden Eckhart-Lektüre bruchlos an die eigene Untersuchung von 1996 an, der er den programmatischen Titel gegeben hat: Mystik als Aussage und die allein deshalb jene Anhänger der Irrationalismus-These verstören musste, denen es zwar nicht an philosophiegeschichtlichem Wissen, wohl aber an einem Begriff der Mystik mangelte. Meister Eckharts Loslassen sunder warumbe und sunder mittel (54) schließt zuletzt auch das Loslassen Gottes von Seiten des Menschen ein: Es wird damit zum spiegelverkehrten Bild der Selbst-Erniedrigung und SelbstEntleerung Gottes, von der bei Paulus die Rede ist (Philipperbrief 2, 6 – 8, vgl. 58 f.). Wenn das Eckhart-Kapitel das originellste ist, dann ist das unmittelbar folgende Paulus-Kapitel das aktuellste des Buchs. Im Zentrum

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steht die Exegese des 1. Korintherbriefs 7, 29 – 32, wo es einleitend heißt: Hoc itaque dico fratres / tempus breve est / reliquum est ut qui habent uxores tamquam non habentes sint // et qui flent tamquam non flentes …. (iuxta Vulgatam Hieronymi). – »Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz; fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine, und die weinen, als weinten sie nicht …« Philologisch gesehen geht es einmal mehr um Negation respektive Apophase, nämlich um die Auslegung der verneinten Vergleichungspartikel: griechisch ho¯s me¯, lateinisch tamquam non, deutsch ›als ob nicht‹. Doch intellektuell geht es an dieser sensiblen Textstelle um einen Dialog mit Giorgio Agambens vieldiskutiertem Römerbrief-Kommentar Il tempo che resta (2000, deutsch 2006), welcher dieselben Verse des ersten Korintherbriefs an prominenter Stelle behandelt und als Bestimmung des paulinischen Verständnisses von ›Berufung‹ (griechisch kle¯sis, lateinisch vocatio) deutet. Agamben ist vermutlich als der augenblicklich stärkste Denker anzusehen, auf den das Epitheton des Postsäkularen zutrifft; und mit Agamben ist zugleich der Kontext des eschatologischen Gebrauchs der kurzen Zeit, die noch verbleibt, und der politischen Theologie allgemein aufgerufen, sind konkurrierende Paulus-Deutungen wie die von Heidegger, Jacob Taubes, Gianni Vattimo oder Alain Badiou mit zur Diskussion gestellt. Haas korrigiert Vattimo und nimmt die fachtheologische Kritik an Agambens Paulus-Verständnis ernst; er erinnert aber mit Agamben daran, dass die paulinische ›Berufung‹ in ein Gleichwerden mit dem Messias selbst hineinführt: Vivo autem non iam ego / vivit vero in me Christus (Galaterbrief 2, 20, vgl. 67); dies bedeutet den Weg in die Schwäche der Selbstentäußerung, wie sie sich im schon erwähnten Kenosis-Gedanken des Philipperbriefs manifestiert (64). Kann man da Agamben wirklich noch vorwerfen, wie es getan wurde, dass er die paulinischen Texte krass fehldeutet (vg. 67), dass er mit dem Konzept der »Ununterscheidbarkeit zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen gegenwärtiger und künftiger Welt« (zitiert ebd., 67) gerade das genuin christliche Moment des paulinischen ho¯s me¯ verkennen und Paulus aus seinem christlichen Kontext »verbannen« würde (69)? Haas scheint mir hier selbst unentschieden zu sein, wenn er einerseits solche Einwände anklingen lässt, dann aber doch den Erkenntnisgewinn von Agambens Ansatz anerkennt: Die konsequent judenchristlich apokalyptische Verortung der paulinischen Zeitkonzeption durch Agamben, der sich auf Jacob Taubes und ebenso auf Walter Benjamin berufen kann, macht hier das visionär-utopische Element des Judentums sichtbar, aber das ho¯s me¯ lässt darüber hinaus auch Platz für die Erschaffung eines ›inneren Menschen‹ (homo interior), der sich in eben jener Indifferenzzone zwischen den Gegensätzen bewegt, die Paulus benennt und die in der postmodernen Essayistik erneut attraktiv geworden ist. Damit erweist sich nun auch das paulinische ho¯s me¯ als die Figur einer Gelassenheit,

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einer Epoché, einer gewissermaßen messianischen Reduktion, die allerdings radikaler zu denken wäre als Agambens Plädoyer für eine bloße indifferenza; und all dies fordert unwillkürlich zu der weitergehenden Frage heraus, ob nicht die im Römerbrief am anatomischen Merkmal debattierte Unterscheidung zwischen Juden und Griechen beziehungsweise Judenund Heidenchristentum (circumcisio aut praeputium) ihrerseits in die Indifferenz getrieben worden sein könnte. Dann nämlich hätte – im apokalyptischen Brausen der Predigt des Mannes aus Tarsus – der Wind des Absoluten einen lange für fraglos gehaltenen Begriff des Christentums (die klare Trennung zwischen Jüdischem und Griechischem) schon von Anfang an hinweggefegt. Es folgen die letzten drei Kapitel des Bandes. Zunächst beschäftigt sich Haas mit der ereignishaften Erfahrung von Präsenz und der Ästhetik der Vergegenwärtigung, wie sie bei Proust und Valéry oder in Musils Mann ohne Eigenschaften aufscheint. Doch gegen eine völlige Auflösung des ästhetischen Erlebnisses in reine Präsenz bringt Haas die der Präsenz eingeschriebene Konkomitanz von Absenz und das daraus erwachsende Moment des unhintergehbaren Sinns zur Geltung, was Gumbrechts dichotomische Unterscheidung von Präsenz- und Sinnkultur fragwürdig macht (89). Wiewohl die mystische Rede und auch die klassische Sakramentenlehre die Präsenz Gottes durchaus feiern, zeigt sich, dass erst das Zusammenspiel von Präsenz und Absenz die Möglichkeit eröffnet, auf der Basis des mystischen ›Vierkanturteils‹ eine Absage zu formulieren, die im Namen des Absoluten das bestreitet, was ist (was zur Hand, was präsent ist). Vergleichbar solch einer Durchstreichung des Gegensatzpaares von Präsenz und Absenz ist auch das Konzept des non aliud im Spätwerk des Nicolaus Cusanus (1461 / 62), insofern es »die postmoderne Problematik der ›Differenz‹ in Identität hin überfordert« (112). Für Cusanus ist Gott nicht etwa das Andere der Identität der Welt – also pure Differenz –, sondern nicht einmal deren Anderes (ne aliud quidem), und mithin setzt Gott nicht nur den Gegensatz von Identität und Differenz ebenso gründend wie tragend ins Werk, sondern er übersteigt ihn auch hinein in die coincidentia oppositorum. Anders als bei manchen Postmodernen, welche Differenz und Vielheit reuelos feiern, verheißt der mystische Gottesbegriff des non aliud für Cusanus gerade die »Erlösung von der Differenz, wohin sich sehnt, wer Teil von ihr ist« (113). Die Tradition mystischer Spekulation wird demnach zu einer Instanz, von der aus trotz und vielleicht gerade wegen aller Affinität die Gemeinplätze des postmodernen Denkens noch einmal kritisch beleuchtet werden dürfen. Mit der cusanischen Entdeckung der Sehnsucht nach dem identitär Einen in der Vielheit der Differenzen ist ein Übergang vom cherubinischen zum seraphischen Denken, von der Wesens- zur Brautmystik

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vorbereitet und ein letztlich erotisches Thema angeschlagen, das Haas an Hand der karmelitischen Mystik erläutert, insbesondere im Blick auf Johannes vom Kreuz. Sensible Lektüren von San Juans Gedichten verdeutlichen, dass die sich dort artikulierende Sehnsucht letztlich nicht gestillt, sondern offen gehalten, ins Unendliche aufgeschoben wird. Dieser dauerhafte Verzicht auf die Erfüllung eines Begehrens, das den Mystiker doch als vir desideriorum (Daniel 9, 23, vgl. 114) konstituiert, hätte leicht in psychoanalytische, vornehmlich lacanistische Erklärungsschemata umgemünzt werden können; und Michel de Certeaus Mystik-Deutung hätte dafür einen durchweg respektablen Rahmen abgegeben. Dennoch widersteht Haas einer solchen Versuchung beharrlich, um stattdessen lieber aufzuzeigen, dass das mystische Denken eines San Juan, wenn er die Unbeendbarkeit der Sehnsucht sogar bis in die Ewigkeit hinein fortschreibt (147), an dieser Stelle in einer allerletzten Epoché innehält, bei der das Begehren und die Kenosis in eins fallen, um ununterscheidbar, indifferent zu werden; mit Marion hätte man dies eine ›erotische Reduktion‹ nennen können.5 Die Präsentation der spanischen Übersetzung des Buches, die schon ein paar Wochen vor der deutschsprachigen Originalausgabe erschien,6 erfolgte im Dezember 2009 in Barcelona am Tag nach der Ehrenpromotion des Autors durch die dortige Universitat Pompeu Fabra; ihr hatte er einige Jahre zuvor seine »Bibliotheca mystica et philosophica« gestiftet, die sich mittlerweile zu einem internationalen Forschungszentrum entwickelt hat, an dem man die Morphologien des Heiligen in Moderne und Postmoderne untersucht. Bei dieser Gelegenheit verglich Haas seinen Ansatz mit dem Vorgehen des katalanischen Philosophen und Franziskanertheologen Raimundus Lullus, eines Zeitgenossen von Meister Eckhart, der unter dem entscheidenden Einfluss islamischer Sufi-Mystiker der Frage nach dem Verhältnis zwischen den Attributen oder Namen Gottes und seinem Wesen, zwischen Individual- und Universalbegriffen nachgegangen sei. Anders als bei den Begriffsrealisten des Mittelalters, welche die Existenz der Universalien nicht leugneten, sei deren Existenz in der Postmoderne grundsätzlich strittig. Gleichwohl gebe es eine »fluktuierende Anzüglichkeit« auf das, was für die mittelalterlichen Denker die Universalien oder für Benjamin der Wind des Absoluten gewesen sei. In der Tat haftet dem Denken des Unbedingten – gerade unter den Verhältnissen der Postmoderne und der Postsäkularität – etwas durchaus »Anzügliches« an. Das bloß »Anzügliche« in einen »Bezug«, in veritables Beziehungsdenken zu transfigurieren, welches 5 Vgl. Jean-Luc Marions Kapitel »La réduction érotique«, in: Le Phénomène érotique – Six méditations, Paris 2003, 39 – 50. 6 Viento de lo absoluto – ¿Existe una sabiduría mística de la posmodernidad?, ins Spanische übers. Jorge Seca, Madrid 2009.

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die modern wie postmodern unhintergehbare Erfahrung von Differenz, Diversität, Vielheit nicht einfach in Identität, Gleichheit, Einheit zurückbiegt, sondern ins rechte Verhältnis zum Nicht-Anderen setzt, das unbenennbar und unsagbar – hors-texte – auch und gerade außerhalb der Sprache siedelt, das könnte die Aufgabe eines Intellektuellen sein, auch eines katholischen. Dann vermag der Wind des Absoluten ebenso die kinematographischen Segel eines in Cannes vorgeführten Films in Bewegung zu setzen, wie er auch der postmodernen Weisheitsspekulation eines Mediävisten und Mystikforschers Flügel verleiht.

BUCHBESPRECHUNGEN Kay Malcher, Die Faszination von Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zu aventiurehafter Dietrichepik [Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 60 (294)], Berlin / New York: De Gruyter, 2009. 420 S. Malchers Ziel ist die ›Ehrenrettung‹ der aventiurehaften Dietrichepik, die in der Folge von Heinzles These, diese Texte ahmten den Aventiureweg der Helden des Artusromans1 nach, bedienten sich also der historischen Dietrichepik als Trägerin einer archaischen Heldenliedtradition mit Stoffen aus dem heroic age, ohne deren Bedeutsamkeit zu erreichen, weitestgehend Ablehnung erfahren habe. Seine Argumentation verfolgt zwei Linien: Einerseits möchte er das gemeinsame Prinzip der Handlung und deren Funktion herausarbeiten, andererseits versucht er, die vielgeschmähte Textgestalt aus der Rezeption heraus verständlich zu machen. Ersteres sieht er vor allem in der Behandlung der Rolle der Gewalt, die die ›rechte Herrschaft‹ im Gleichgewicht hält oder nach einer Störung wieder ins Gleichgewicht bringt. Anhand des Eckenliedes hatte Heinzle »sein Modell einer strukturellen Bezogenheit der Texte aventiurehafter Dietrichepik auf das Erzählmodell des klassischen Artusromans [ …] entwickelt« (20); in der Parodierung des höfischen Romans durch das Eckenlied sah er eine Kritik an dessen Minneideologie: Ecke macht sich auf seinem Auszug im Dienste der Königin Seburg verschiedener unhöfischer Vergehen schuldig, angefangen mit der Uneinigkeit darüber, ob Dietrich tot oder lebendig vor die Königin gebracht werden soll, gefolgt von der Ablehnung des Pferdes sowie seinem Auftreten in Bern und Dietrich gegenüber.2 Malcher zufolge ist der zentrale Problemkomplex des Eckenliedes nicht die Minnekritik, wofür der eingefleischte Junggeselle Dietrich nicht die geeignete Positivfolie darstellte, sondern die ideale Herrschaft. Ecke werde wegen seiner unklaren Position 1 »Die Kennzeichnung dieser Texte als ›aventiurehaft‹ […] unterstreicht ihre stoffliche und strukturelle Nähe zum höfischen Aventiure-Roman.« (Joachim Heinzle, Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik (Berlin / New York 1999), 33. 2 »Das ist eindeutige, unverblümte Kritik am Aventiure- und Minnewesen höfischer Observanz.« (Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchung zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung (Zürich / München 1978), 239.

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gefürchtet: Er sei gerüstet wie ein Ritter, könne als Pferdeloser aber keiner sein. Der Kampf mit dem Meerwunder folgt auf Eckes freundlichen Empfang in Trient, worin Malcher »die Grenze zu einer Anderwelt« (76) topologisch markiert sieht. Doch auch das als Kentaur beschriebene Meerwunder spiele wieder auf Eckes Pferdelosigkeit an. Als Ecke Dietrich schließlich im Wald erreicht hat, ist er auf dessen Kooperation angewiesen, da er als Fußgänger den Berittenen nicht erreichen kann. Der Grund sei nicht im Praktischen, sondern in der Statusdifferenz zu sehen, die im Dialog zwischen Ecke und Dietrich mehrfach hervortrete. Weiter will Dietrich die Geschichte von Eckes Brünne erfahren, um herauszufinden, ob sie ihm legitimerweise zustehe, Ecke aber erzählt daraufhin von seinem Schwert »Eckesachs«.3 Als es zum Kampf kommen soll, möchte Dietrich ihn auf den nächsten Tag verschieben: sein kulturell kontrolliertes Handeln steht der triebhaften Hastigkeit Eckes entgegen. (Auch die Rezipienten müssen sich auf Dietrichs Handeln einlassen und erhalten so die Möglichkeit, sich mit seiner kulturellen Überlegenheit zu identifizieren.) Im Warten auf das Tageslicht ist eine Art der Annäherung an die Öffentlichkeit, ein notwendiger Bestandteil legitimen Gewalthandelns zu sehen. Der Ausgang des Kampfes stellt für Dietrich eine Ehrgefährdung dar, obwohl und weil es dafür keine Zeugen gibt. Für Malcher handelt es sich bei der gesamten Konzeption des Eckenlieds um die Präsentation normgerechten Handelns. Ähnliche Konstellationen arbeitet er für den Älteren Sigenot und den Rosengarten heraus. In letzterem sind es die Herrschaftsverhältnisse in Worms, die aus dem Lot geraten sind, wie die anmaßende Forderung Kriemhilds zeigt. Als die Einladung eintrifft, wird auch der Berner Hof unruhig: nach der ersten Reaktion Dietrichs, der den Boten wegen der Botschaft erschlagen will, wird die notwendige Ordnung von Gewalt durch Wolfhart vorgeführt, der den Schutz des Boten durchsetzt. Die Korrektur des Wormser Chaos wird durch Dietrich geleistet, der am Ende der Handlung König Gibeche zum Vasallen nimmt. Nach der Rückkehr nach Bern wird durch ein ›reguläres‹ Turnier die legitime Gewalt wiedereingesetzt. Der zweite argumentative Schwerpunkt liegt auf einer ›gerechten‹ Bewertung der Texte mit Blick auf die Rezeptionssituation der aventiurehaften Dietrichepik: Ein erster Zeuge dafür ist die als unverständlich geltende Eingangsstrophe der Donaueschinger Fassung des Eckenlieds E2. Sie könne nicht ohne Berücksichtigung der in der Handschrift kaum vorhandenen Trennung vom Älteren Sigenot gelesen werden, da es sich um eine rezeptionsbezogene Überleitung ohne Bezug zur Erzählung handele. Auch das 3 Daran knüpfen Interpretationen an, die in den gemeinsam überlieferten Texten Älterer Sigenot und Eckenlied v. a. einen ätiologischen Bericht über Dietrichs Waffen sehen.

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Heldengespräch4 zwischen Fasold, Ebenrot und Ecke werde nur aus der Präsenz des Sprechers / der Sprecher verständlich. »Wenn man hier ein szenisches Bild bemühen möchte: Wo sich Ebenrot und Fasold ansehen, während sie miteinander reden, da scheint Ecke, der sich im selben Raum befindet, eher das Rundum eines impliziten Publikums zu fokussieren. [ …] In diesem Sinne ist unser Text kommunikativ offen: er behauptet eine noch nicht vollständige Geschiedenheit der Räume verbaler Interaktion von epischer Welt und Welt der Rezeption.« (48) Ecke ziehe nicht wegen des Gesprächs aus: sein Entschluss stehe von Beginn an fest, da jedes Rühmen Dietrichs seinen eigenen Ruhm schmälert. Ein ähnlicher Aspekt findet sich auch in Malchers Beobachtungen zum Rosengarten. Dietrich verfügt darin über Informationen zu den im Nibelungenlied berichteten Ereignissen am Wormser Hof, ebenso wie (wohl auch) das Publikum. Der Rosengarten gilt bekanntlich als Sprossdichtung des Nibelungenliedes – in der Erzählchronologie muss hingegen die Handlung des Nibelungenliedes auf die des Rosengartens folgen. Dennoch scheint Dietrich von Bern die Absicht Kriemhilds, ihn für einen Brautwerbungskampf gegen Siegfried nach Worms zu locken, zu erraten: »Insgesamt […] verlaufen die relevanten Grenzen, die durch Wissensniveaus im Rosengarten A markiert werden, nicht zwischen der epischen Welt und der Welt poetischer Kommunikation.« (146) Die Ähnlichkeit der Texte der aventiurehaften Dietrichepik hat zu verschiedenen Erklärungsmustern geführt, die nach Malchers Auffassung der Fehler eint, dass sie eine »Ursprungsfassung« annehmen, während er die Existenz unterschiedlicher Fassungen durch unterschiedliche »Kommunikationsangebote« (295) erklärt. Veränderungen des Textes ergäben sich durch Veränderung in der Rezeption und der poetischen Kommunikation. Die beiden Vulgatversionen (A und D) des Laurin stellten somit nur scheinbar eine diachrone Dimension von Text, eben nicht eine Abfolge einander ersetzender, schriftlich fixierter Zeugnisse dar, sondern fungierten an verschiedenen Orten und in verschiedenen Zusammenhängen. Malcher zeigt, dass die jüngere Fassung des Laurin zu motivieren versucht, was in A noch nicht explizit begründet war – vermutlich, so seine These, weil die Art der Rezeption noch die Möglichkeit bot, im Dialog die erzähllogischen Lücken zu schließen. Im Laurin D werden diese im Text geschlossen, was unter modernen (klassizistischen) Gesichtspunkten zu einer höheren Kohärenz der Erzählung führt. Im Heldensagenkontext 4 Nicht: Aventiuregespräch. »Der Begriff ›Aventiuregespräch‹ [… ] betont die thematische Besetzung der Gesprächssituation, die den Auszug des Helden motiviert und lässt dabei offen, wer in solcherart Gespräche involviert ist.« (40, FN 33)

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selbstverständliche Aspekte wie z. B. der Informationsvorsprung Hildebrands werden begründet. Die Verzerrung der Entfernung zum Zwergenberg wird in der im Laurin A kurz beschriebenen Transgression deutlich.5 Die Ereignisräume sind dort insulare Räume, die durch den Weg des Helden miteinander verbunden werden. Auch der christliche Kampf gegen die heidnischen Zwerge und Riesen, werde in der Version D von der Ausgestaltung des thematischen Rahmens überlagert. Der Leser, dem die unzureichende Motivierung manches Sachverhalts befremdlich erscheine, müsse die spezifische Rezeptionssituation mit bedenken: »Das stellt einen in seinen Potenzialen oft unterschätzten Leim dar, der, was die homogene Wahrnehmung des Heterogenen betrifft, auf andere Art und Weise synthetisiert, als die das Auge auf dem Papier fixierende lineare Schrift.« (383) Den Laurin D sieht Malcher zwar noch nicht als Lesetext, aber als Anpassung an eine Rezeptionsform, die weniger Raum zur Kommunikation bietet. Das vom Autor selbst als »Herzstück« (316) der Arbeit bezeichnete III. Kapitel schafft theoretische Grundlagen für das Verständnis und die Bewertung der aventiurehaften Texte. Malchers Absicht ist es, trotz der Ablehnung der These, aventiurehafte Dietrichepik sei (höfische) Epigonenliteratur6, den Corpus-Charakter der Texte zu zeigen. Den paradigmatischen Verlauf der Handlung möchte er nicht nach Heinzle beschreiben (Gattungskonstituenten: Befreiungsschema und /oder Herausforderungsschema, ein positives Ende, Zagheit Dietrichs), sondern in dem Dreischritt Konfrontation, Domination und Attribution.7 So werde in der aventiurehaften Dietrichepik immer erst die Konfrontation geschildert. (Im Rosengarten beschädigt Kriemhilds Forderung die soziale Ordnung; im Eckenlied beschädigt der Kampf gegen Ecke den Status Dietrichs.) Dazu adaptiert Malcher Lotmans Sujet-Modell: Die räumlichen Relationen bedeuteten ein Kulturschema und konstruierten einen Innen- und einen Außenraum. Der Horizont der Dietrichepik sei die friedenssichernde Monarchie als Gesellschaftsform. Normüberschreitung oder Tabubrechung machten die Handlung aus und 5 Laurin A 893 – 896: »Als si den berc ane sâhen / si wânden er wære nâhen; / an dem andern morgen fruo / kômen si alrêst derzuo.« 6 Der Begriff »späte mhd. Heldendichtung« impliziere eine »epigonale Stellung der Texte bezüglich einer alten, oralen und ehedem ehrenwerten Texttraditionen [sic!]« (193). Die frühere Bezeichnung ›märchenhaft‹ sei auf die einer Anderwelt zugehörigen Gegner, die Bezeichnung ›aventiurehaft‹ auf die Ausfahrten Dietrichs bezogen. 7 In Anlehnung an Rainer Warnings Rekonstruktion des Aktantenmodells von Greimas (R. W.: Formen narrativer Identitätskonstruktion im höfischen Roman, in: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters IV, 1, hg. Hans Robert Jauss und Erich Köhler (Heidelberg 1978), 25 – 59.

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bestimmten den Helden. Die Rückkehr aus dem Außenraum stelle somit eine Bestätigung der Normen des Innenraumes dar. »Der Text kann dann konsolidierende Funktionen für diese übernehmen. Die Ermöglichung von Selbstvergewisserung mag als ein Gratifikationspotenzial 8 solcher Texte gelten.« (225) Dass die Transgression häufig von dem fürstlichen Helden nicht allein, sondern an der Spitze der Gefolgschaft vorgenommen werde, erleichtere diesen Vorgang.9 In der Virginal markiere die Gefangenschaft auf der Burg Mûter den Außenraum, den Dietrich zu durchqueren habe, um zu einem vorbildlichen Herrscher zu werden. Wie im Rosengarten handele es sich dort um eine außer Kontrolle geratene Herrschaft. Die Topographie werde durch sie umgebende vorbildliche Herrschaftsgefüge ergänzt; außerhalb von diesen drohten die Heiden. Durch Dietrichs Abstreifen seiner Passivität könne er zu einem vorbildlichen Herrscher werden, wie die Änderung in seinem Verhältnis zu Hildebrand zeigt. Dietrich sei nach der Episode auf Mûter reifer, aber nicht im Sinne eines Erziehungsprogrammes von Hildebrand, eher im Sinne einer Initiation. Das KräfteVerhältnis Hildebrand-Dietrich kehre sich um, d. h. es nähere sich dem hierarchischen Verhältnis an. Insgesamt ist die rezeptionsorientierte Argumentationsweise sehr überzeugend; man könnte sich allerdings vorstellen, dass sich daraus auch Anschlussmöglichkeiten für Betrachtungen zur Metrik hätten ergeben können. Immerhin ist die Frage nach dem Verhältnis der Strophik zur Mündlichkeit für die Forschung zur Heldenepik nicht ganz irrelevant gewesen. Weitgehend ausgespart bleibt auch der Bezug zu den Texten der historischen Dietrichepik, der v. a. unter Aspekten der Motivübernahme hätte interessant sein können. Denn dass Dietrich als ehrbewusster Ritter den Fußgänger Ecke nicht attackieren mag, lässt sich zwar unter Bezug auf ebendieses Ehrbewusstsein erklären; zugleich scheint sich aber darin (und auch z. B. in der Kampfesverweigerung im Rosengarten) seine traditionelle Zagheit, wie auch in seiner Klage um Eckes Tod (zumindest in E7) seine stereotype Rolle als »armer Dietrich« zu zeigen. Malcher arbeitet über weite Passagen textnah und mit einer beeindruckenden Textkenntnis: Außer dem Wunderer und dem fragmentarischen Goldemar, den Malcher selbst gar nicht zur Heldendichtung10 gezählt wissen 8 Im Gratifikationspotential sieht Malcher »im Text angelegte Möglichkeiten, die für die historischen Rezipienten aktualisierbar waren, während ein damit verbundener Gewinn an Relevanz dem modernen Rezipienten verwehrt bleiben kann« (193, FN 1). 9 Kollektive Grenzüberschreitung finde sich in der Dietrichepik im Rosengarten und im Laurin, singulär nur durch Dietrich in Eckenlied, Sigenot und Virginal. 10 Der mittelalterliche ›Autor‹ erfinde nicht, sondern finde. Lob von Kollegen erhalte und erwarte er demgemäß auch nicht für die Originalität des Erzählten, sondern

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möchte, werden alle Texte der aventiurehaften Dietrichepik behandelt. Mit der aus dem Eckenlied gewonnenen und an den weiteren Texten überprüften These der Demonstration von gerechter, herrschaftlicher Gewalt im Überschreiten von Sujetgrenzen als der Textgruppe gemeinsames Moment, möchte Malcher die Berechtigung der Einteilung erweisen, die er selbst noch im Titel seiner Arbeit »aventiurehafte Dietrichepik« nennt. Damit verpasst er freilich die Gelegenheit, den Terminus wirksam zu ersetzen, dem nach seinen Untersuchungen die Grundlage entzogen wurde. Eine griffige Bezeichnung der als (Sujetgrenzen) transgredierende Dietrichepik beschriebenen Textgruppe bleibt Malcher schuldig. Reinhard Berron, Tübingen Heidy Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob: Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit [Theatrum Helveticum 11], Zürich: Chronos, 2009. Bd. 1 Historischer Abriss, 669 S. Bd. 2 Quellenedition unter Mitarbeit von Regula Gámiz-Brunner und Manfred Veraguth, 402 S. Luzern war im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit während gut 300 Jahren einer der bedeutendsten Spielorte nicht nur in der Eidgenossenschaft, sondern im deutschen Sprachraum überhaupt. Die prachtvollen Aufführungen im 16. Jahrhundert auf dem Weinmarkt, vor allem die Osterspiele, haben längst großes Interesse erweckt und sind außerdem überaus gut dokumentiert. Dennoch war die Theatergeschichte der Stadt am Vierwaldstättersee bei weitem nicht vollständig erschlossen. Neben dem Osterspiel wurden viele andere Stücke und Gattungen sowie die zahlreichen theatralen Handlungen verschiedenster Art kaum berücksichtigt und viele Quellen nicht oder nur ungenügend ausgewertet. Die Berner Habilitationsschrift von Heidy Greco-Kaufmann bietet nun im 1. Band einen umfassenden Abriss der Luzerner Theatergeschichte, der trotz der Fülle des Materials, die da und dort zur Auswahl nötigt, nichts Wesentliches übergeht. Der Begriff Theatergeschichte ist sehr weit gefasst, und es werden auch inoffizielle und verbotene theatrale Handlungen verschiedenster Art gewürdigt. Insgesamt 217, zum großen Teil farbige Abbildungen sind eine wesentliche Ergänzung der Darstellung, dienen doch auch Bilder aus Chroniken und die Giebelbilder der drei Luzerner Holzbrücken für den Stil des Erzählens. Der Goldemar sei somit keine Heldendichtung, da hier behauptet werde, etwas ›anderes‹ zu erzählen, nämlich nicht die Geschichte vom kämpfenden, den Frauen abholden Dietrich, noch dazu von einem namentlich genannten Autor, Albrecht von Kemenaten (389, FN 69).

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zusammen mit chronikalischen und literarischen Texten, Musiknoten, Berichten über Technik und Inszenierungen, Spielerlisten, Abrechnungen aller Art, Zeugnissen zur Bühne und zu Kostümen als Quellen. Die ausführlichsten Informationen sind dabei dem Stadtschreiber und Spielleiter Renward Cysat (1545 – 1614) zu verdanken; er vermittelt auch die Kenntnis des kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrunds sowie des religiösen und weltlichen Brauchtums. Die von Cysat in 22 Folianten aufgezeichneten, nur in Auswahl edierten Collectanea Chronica und denkwürdige Sachen pro Chronica Lucernensi et Helvetiae lassen erahnen, welches Maß an Vorarbeit zu leisten war. Die Berücksichtigung der bildenden Kunst war insofern ein dringendes Erfordernis, als sich diese in der katholischen Schweiz im Gegensatz zur reformierten Bilderfeindlichkeit besonders reich entfaltete und im Zusammenhang mit dem konfessionellen Gegensatz auch bewusst instrumentalisiert wurde. Die Quellenedition des 2. Bandes enthält chronologisch und nach Stichworten geordnet eine große Zahl von Dokumenten aus dem Zeitraum von 1294 – 1701, wobei die Ratsprotokolle und Turmbücher (Gerichtsakten) nach den vorhandenen Registern und die thematisch geordneten Akten systematisch ausgewertet wurden. Die Fülle weiterer Quellen nötigte hingegen zu einem pragmatischen Vorgehen der Auswahl. Stadtpläne waren Hilfsmittel bei der Rekonstruktion theatraler Ereignisse. Die Wiedergabe eines Gesamtplans hätte die räumliche Übersicht erleichtert; immerhin ist die Merian-Vedute aus der Topographia Helvetiae im 1. Band Ersatz dafür. Die beigefügte CD enthält den gesamten Text beider Bände und ebenso die Abbildungen. Sie ermöglicht eine gezielte Suche, berücksichtigt dabei die Relevanz der einzelnen Stellen und ersetzt ein Register. In der Einleitung setzt sich H. Greco-Kaufmann mit den modernen Forschungsperspektiven der Theaterwissenschaft auseinander. Sie distanziert sich ausdrücklich von einer primär literaturwissenschaftlichen, auf Spielund Dramentexte ausgerichteten Darstellung und bezieht alle Formen theatraler Handlungen in die Untersuchung ein. Dabei ergeben sich viele Berührungen zur Volkskunde, zur historischen Ritualforschung und zur Liturgiegeschichte; eine gründliche Erörterung der Beziehungen zwischen der Theatergeschichte und diesen Disziplinen wäre daher wünschenswert gewesen. Die Verfasserin vermeidet jedoch abgesehen davon mit gutem Grund ein Übermaß an theoretischen Erörterungen und die in der modernen Theaterwissenschaft vorherrschende, durch die Ausrichtung auf die Art der Darstellung bedingte Gegenwartsbezogenheit. Über das Wie der Darstellung, über die Aufführungspraxis und über die Rezeption gibt nämlich das Quellenmaterial nur selten Auskunft. Eine Überprüfung theoretischer Konzepte an historischen Beispielen ist nicht beabsichtigt, das Ziel

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ist vielmehr eine umfassende lokale Theatergeschichte vom Anfang des 14. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts im Rahmen der Stadtgeschichte und der Ausbildung von Machtkonstellationen und Identität. Der historische Abriss, dessen wesentliche Ergebnisse im Folgenden zusammengefasst werden, unterscheidet zwei Perioden: die Zeit vor dem entscheidenden Einschnitt der Reformation und das Zeitalter der Konfessionalisierung. Das grundsätzlich chronologische Vorgehen ließ sich allerdings nicht streng durchführen, weil die Vielfalt theatralen Geschehens dazu nötigte, die verschiedenartigen Handlungen gruppenweise zusammenzufassen, und weil in manchem Teilbereich auch eine Kontinuität über die Periodengrenze hinaus fortbestand. Für die erste Periode stehen neben denerwähnten bildlichen und chronikalischen Zeugnissen das Älteste Ratsbüchlein und die Propsteirödel des zum Kloster Murbach gehörenden Klosters St. Leodegar im Hof, das lange Zeit die Grundherrschaft in der Stadt ausübte, als Quellen zur Verfügung. Die zweite Periode ist gekennzeichnet durch die überaus reiche Dokumentation des vielfältigen Theaterlebens, durch eine große Zahl textierter Spiele und in der Spätphase durch die Etablierung der Jesuiten in Luzern. Auf die Darstellung der einzelnen Gruppen inszenierter Handlungen im Rahmen der Alltags- und Festkultur folgt jeweils eine den Zeitraum überblickende Synopse. In der ersten Periode geht es zunächst um Schaukämpfe wie Turniere, inszenierte sportliche Wettkämpfe, Schützenfeste und ähnliche Veranstaltungen; dann um Musik und Unterhaltung von Fahrenden und städtischen Spielleuten bei kirchlichen und weltlichen Festen, Fastnachten und Jahrmärkten. Es folgt die ausführliche Untersuchung Theatralisierter Kulthandlungen. Religiöse Schauhandlungen, oft vermischt mit profanem Brauchtum, Liturgie und Prozessionen erweisen sich dabei als Nährboden für die im 15. Jahrhundert einsetzenden Theateraufführungen, wobei der Klosterbezirk im Hof und die davon abhängige Leutkirche, die St. Peterskapelle, die Hauptschauplätze bildeten. Szenisch ausgestaltet wurde besonders das Geschehen in der Osterwoche. – Das Kapitel über die Prozessionsspiele vor der Peterskirche ist innerhalb der Luzerner Theatergeschichte von zentraler Bedeutung, bietet es doch eine überzeugende Rekonstruktion der mittelalterlichen Entstehungsgeschichte des Osterspiels, an dessen Anfang ein Auferstehungsspiel stand, das bald um Szenen aus dem Neuen und aus dem Alten Testament erweitert wurde und zwei Aufführungstage beanspruchte. Gegen Blakemore M. Evans, The Passion Play of Lucerne (1943), und Oskar Eberle, Theatergeschichte der innern Schweiz (1929), gelingt H. GrecoKaufmann der Nachweis, dass die frühesten Aufführungen nicht in der Hofkirche, sondern auf dem Kapellplatz vor der Peterskapelle stattfanden

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und wesentlich von der Bruderschaft zur Dornenkrone (bestehend aus Laien und Geistlichen) getragen wurden, wobei als politischer Hintergrund das Streben der städtischen Elite nach »Selbstrepräsentation und Machtdemonstration« vorauszusetzen ist. [Die politische Motivation war in allen eidgenössischen Städten eine wesentliche Triebkraft des Theaterspiels.] Im Zusammenhang mit dem Donaueschinger Passionsspiel, das auf einem »Luzerner Urspiel« beruht, wird auch der sogenannte Donaueschinger Bühnenplan einer genauen Untersuchung unterzogen. Er bot bisher nur Rätsel und war Gegenstand heftiger Kontroversen und Spekulationen. Der präzise Nachweis, dass er den Luzerner Kapellplatz und die dortige Anordnung der Szenen darstellt, löst das Rätsel auf überzeugende Weise. Die Berücksichtigung der Luzerner Baugeschichte erklärt dann auch, warum der Schauplatz um 1500 vom Kapellplatz auf den Weinmarkt [ehemals Fischmarkt] verlegt wurde. Dort fand das Osterspiel noch bis 1616 statt. Szenische Vorgänge an der Fastnacht zeigen in Luzern gleiche Züge wie überall in der Eidgenossenschaft, sind aber in Luzern besonders gut bezeugt, dies wiederum vor allem durch Cysat. Als »fasnacht« erscheinen neben den Wochen vor der vorösterlichen Fastenzeit auch Ereignisse fröhlichen Zusammenseins und der Ausgelassenheit im Juni, September, November und Dezember. Im 16. Jahrhundert verengte sich der Begriff auf das Brauchtum vor der Fastenzeit. Als Besonderheit in der luzernischen Festkultur und als zentrale Integrationsgestalt erweist sich vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart die Maskenfigur des Bruders Fritschi. – Der zeremoniellen Inszenierung von Herrschaft und Recht kam in einer Zeit, in welcher der größte Teil der Bevölkerung des Lesens und Schreibens nicht mächtig war, hervorragende Bedeutung zu. Die damit verbundenen ausführlichen Handlungen nahmen durchaus theatralen Charakter an. Überaus aufwändig wurde 1417 der Herrschereinzug König Sigismunds in Szene gesetzt. In der 2. Periode gewannen zunächst Theatrale Handlungen mit konfessionellem Hintergrund wie theatralische Predigten und inszenierte Agitation mit vorgetragenen Flugschriften und Schmähliedern große Bedeutung, woran Thomas Murner in seiner Luzerner Zeit wesentlich beteiligt war. Planvoll durchgeführte Schauereignisse waren Bücherverbrennungen und grausame Hinrichtungen von evangelischen Ketzern. Theater war nicht bloß Spiel, sondern wurde blutiger Ernst. Den Reformator Zwingli verbrannte man zunächst in effigie, und nachdem er auf dem Schlachtfeld gefallen war, führte man ein Gerichtsverfahren über seiner Leiche durch, worauf diese durch den Scharfrichter gevierteilt und verbrannt wurde. – Theatervorstellungen im engeren Sinne waren Bibelszenen von der Art der 1533 zu Ostern aufgeführten Parabel vom verlorenen Sohn, die Hans Salat, der »Wortführer, Dichter und Theatermann der Altgläubigen«, inszenierte.

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Das Beispiel Luzerns zeigt besonders deutlich, wie im katholischen Bibeldrama die Tradition der Bibelszenen des Passionsspiels fortlebte. Gerichtsschreiber wie Salat und Stadtschreiber waren verantwortlich für die Regie bei der theatralen Ausgestaltung politischer und rechtlicher Zeremonien. So wurden die Schreiber zu den wichtigsten Verfassern und Spielleitern des von der Obrigkeit geförderten Schauspiels. – Ein Antichrist- und Weltgerichtsspiel war Zacharias Bletz, ebenfalls Gerichts- und später Stadtschreiber, zu verdanken. Er führte auch Regie bei den Osterspielen. – Auf die Darstellung von Marktplatzspektakel unterschiedlicher Art folgt ein Kapitel über Literarische Fastnachtspiele. Dabei handelt es sich nicht um Fastnachtspiele im engeren Sinn etwa von der Art der Nürnberger, sondern um weltliche, zur Fastnachtszeit aufgeführte Stücke verschiedenen Inhalts. Deren Verfasser sind, abgesehen von Zacharias Bletz, meist unbekannt, und die Texte wurden nicht gedruckt, sind aber von Cysat gesammelt worden. Der von H. Greco-Kaufmann schon früher edierte Convivii Process Cysats, das an der Fastnacht 1593 aufgeführte zweitägige »Riesenspektakel«, erfährt eine ausführliche Würdigung. Es prangert nach einem französischen Vorbild Unsitten und Laster der Fastnachtszeit an. Ein umfangreiches Kapitel, das neben der Aufarbeitung der zahlreichen Sekundärliteratur auch wesentliche Ergänzungen und Korrekturen dazu enthält, ist dem Höhepunkt luzernischen Theaters im 16. Jahrhundert, den Österlichen Staatsschauspielen auf dem Weinmarkt, gewidmet. Schon allein der Schauplatz inmitten repräsentativer bürgerlicher Bauten verrät, dass das Osterspiel geistlichen Inhalts nicht mehr in erster Linie durch die Kirche bestimmt wurde, sondern zur Staatsangelegenheit geworden war. Als dessen Regenten wirkten nacheinander der Chronist Diebold Schilling und dann die Schreiber Salat, Bletz, Hans Kraft und Cysat. Die Rekonstruktion der Simultanbühne und die Veränderungen des Spiels (von keiner Aufführung ist ein vollständiger Text überliefert) werden überzeugend dargestellt. – Etwas merkwürdig mutet zunächst die Kapitelüberschrift Theatrale Auftritte um die Weihnachtszeit an. Sie deutet jedoch auf die mannigfaltige Vermischung religiösen und weltlich-heidnischen Brauchtums hin. Weihnächtliches Umsingen, Sternsingen, Heischebräuche, Maskenzüge, das Treiben wilder Männer vermischten sich; das gilt allgemein von christlicher Religiosität und Geister- und Dämonenglauben. Weihnachtspiele und Dreikönigsspiele haben vermutlich auch stattgefunden, sind aber nicht bezeugt. Hingegen enthält das Osterspiel Weihnachtsszenen. – Unter dem Titel Mirakelspiele wird vor allem das Heiligkreuzspiel Cysats behandelt. – Etwas unorganisch in die Darstellung eingefügt ist das Kapitel Theater des Schreckens, in dem grausamste Strafrituale, Hinrichtungen aller Art vor großem Publikum, oft als eigentliche Volksfeste inszeniert, behandelt werden. Diese

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dienten allerdings nicht einfach der Sensation und Rachgier, vielmehr ging es um die Wiederherstellung öffentlicher Ordnung. – Luzern kannte vor allem gegen Ende des 16. Jahrhunderts auch Heiligenspiele. Diese fanden ebenfalls auf dem Weinmarkt statt, waren aber nicht Theater der ganzen Bürgerschaft, sondern der Stiftsschule. – Zunächst bediente sich auch noch Das frühe Jesuitentheater des Weinmarkts als Schauplatz. Die seit 1574 in Luzern niedergelassenen Jesuiten erlangten seit dem Ende des 16. Jahrhunderts rasch die Vorherrschaft im Theaterspiel, dies in enger Verbindung mit der sich verfestigenden Macht des Patriziats. Ihre zunehmend elitären, volksfremden, mit humanistischem Bildungsgut gesättigten Dramen in lateinischer Sprache, die auch auf die Ausrottung herkömmlichen Brauchtums bedacht waren, brachten schließlich den stadtbürgerlichen Spielbetrieb zum Erliegen, und der Schauplatz verschob sich ganz aus dem Zentrum der alten Stadt in das Gebiet des Jesuitenkollegs und der Jesuitenkirche. Der Anhang des 1. Bandes enthält neben der Bibliographie eine chronologische Aufstellung aller nachweisbaren Aufführungen sowie ein Verzeichnis der Spieltexte und der Regiematerialien, dazu jeweils die entsprechende Sekundärliteratur. Er zeigt nochmals die Reichhaltigkeit des luzernischen Theaterlebens und belegt den Umfang der Arbeit, welche die Verfasserin für diese eindrückliche Theatergeschichte aufgewendet hat. Diese könnte in mancher Hinsicht auch als methodische Anregung für ähnliche Unternehmungen dienen. Hellmut Thomke, Allmendingen bei Bern Gabriela Schmidt, Thomas More und die Sprachenfrage. Humanistische Sprachtheorie und die ›translatio studii‹ im England der frühen Tudorzeit [Anglistische Forschungen Bd. 397], Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2009. 367 S. Die vorliegende Studie geht auf eine Dissertation (München, 2007) im Rahmen des SFB 573 »Pluralisierung und Autorität der Frühen Neuzeit«, genauer im Teilprojekt »Sprachenpluralität im England der frühen Tudorzeit«, zurück, und sie erweist sich – um das Wichtigste gleich vorwegzunehmen – durchgängig als anregender, gründlicher, immer wieder auch innovativer Beitrag zur Bedeutung der Sprachenfrage bei Thomas More im engeren Sinne, und zur Pluralität oder besser zu den soziokulturellen Gemeinsamkeiten und Differenzen innerhalb der ›Gruppe(n)‹, die man – vorschnell und plakativ – gerne als die Humanisten (der frühen Tudorzeit) zusammenfasst. Ihre argumentative Reichweite gewinnt die Studie primär durch ihr methodisch-theoretisches Design: Ausgangspunkt ist die (Re-)Konstruktion

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der höchst ambivalenten Rezeption der Sprach- und Wissenschaftstheorie des »erasmischen« Humanistenkreises zunächst in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts (vgl. 27 ff.), die dann wiederum die Basis für eine weit ausgreifende, historisch-diskursanalytische Analyse des Thomas Morus als Verteidiger erasmischer Sprach- und Wissenschaftstheorie konstituiert. Schwerpunkte dieser detailreichen und durchgängig äußerst textnahen Analysen sind die Auseinandersetzung mit Maarten van Dorp (57 ff.), der Brief an die Universität Oxford (80 ff.), der Disput mit Germanus Brixius (85 ff.), die Utopia (109 ff.), die History of King Richard III und einige kunstkritische Epigramme (135 ff.) und schließlich, systematisch ausdifferenziert, einige (zunächst lateinische) polemische Schriften gegen die Reformation, insbesondere gegen Johann Bugenhagen und Martin Luther (157 ff.). Die überzeugend herausgearbeitete und glänzend kontextualisierte fundamentale Ambivalenz humanistischer Sprachauffassung bei Thomas More, mit »ihrem Lavieren zwischen dem Streben nach präziser Repräsentation (fides im Sinne des Wahrheitspostulats) und effektiver kommunikativer Vermittlung in den historischen Kontext hinein (fides im Sinne des Wahrscheinlichkeitspostulats)« (322), wird im zweiten Teil der Studie in ihren Auswirkungen auf humanistische Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis des Thomas Morus zum zentralen Gegenstand der Untersuchung, wobei der Verfasserin der überzeugende Nachweis einer sachlogisch-konzeptionellen Kontinuität zumindest in den Grundpositionen des Thomas More gelingt, eine argumentative Kontinuität, die von der Utopia, der History of King Richard III, über die Neukonzeption des Lateinunterrichts, bis hin zu den zentralen Frage humanistischer Bibelphilologie (zunächst in Verteidigung des Erasmus, später bis zu den Kontroversen mit William Tyndale) reicht, eine Kontinuität, die von der (früheren) Forschung, die häufig biographisch argumentierte, und auch von der – wiederum biographisch-chronologisch geprägten – üblichen Einteilung der Werke des Thomas Morus in humanistische, reformations-polemische und erbauliche (Towerworks) Schriften, marginalisiert wurde. Mit einem Wort: die Studie markiert einen Meilenstein der Morus- und Humanismusforschung, indem sie diese argumentative Kontinuität und ihre Konsequenzen für die zentralen, zumeist religionspolitischen Kontroversen auch der mittleren Jahrzehnte der Tudorzeit erstmals detailliert (re-)konstruiert und überzeugend in der (internationalen) Forschungsdiskussion kontextualisiert. Darüber hinaus sind es immer wieder auch Detailbefunde, die zu überzeugen verstehen, wie etwa die mehrfach herausgestellten Differenzen innerhalb der keineswegs homogenen ›Gruppe‹ der Humanisten, die einerseits in sachlicher und immer wieder auch sprachlicher Pluralität, andererseits jedoch auch in sehr persönlichen Karrierebestrebungen und Generationskonflikten gründen, wobei sich Letzteres durch die Reformation in-

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tensiviert und letztlich erst durch die bekannten (religions-)politischen Entscheidungen des Herrschers ein vorläufiges Ende findet. Zugleich sind es jedoch auch einige Details, die Kritik provozieren, wiewohl sie primär den (Forschungs-)Stil der Verfasserin betreffen und den beeindruckenden Qualitäten der Studie insgesamt nur wenig abträglich sind. Da ist als erstes, und darin dokumentiert sich vielleicht ein moderner Generationskonflikt (freilich ohne Karriereambitionen), zu erwähnen, dass die Briefe des Thomas More nach der Rogers-Edition traditionell mit Briefnummer (R.) und nicht nur mit der Seitenzahl (durchgängig in den Anmerkungen) zitiert werden, einfach, um die Briefe auch in anderen Editionen (und Übersetzungen) problemlos zu identifizieren. Einige Formulierungen wirken, gerade in einer Studie, die sich so kompetent und sensibel der Analyse von Sprachtheorie und Sprachpraxis widmet, zutiefst befremdlich: dafür zwei Beispiele: S. 227: »[…] John Skeltons politische Satire Speke Parrott, die wohl zwischen 1520 und 1521 entstanden ist« und – sicherlich noch grotesker, da John Frith bekanntlich am 4. Juli 1533 als Ketzer in Smithfield verbrannt wurde – S. 267: »Dieser [sc. John Frith] beendet 1536 ein Zitat aus dem Römerbrief mit der Bemerkung [ …]«. Der Blick in die entsprechende Fußnote zeigt, dass Frith (wie auch einige andere Autoren) aus zweiter Hand zitiert wird, was die irritierende Formulierung vielleicht erklärt, aber nicht entschuldigt. Gleiches gilt für die nicht belegbare, nicht einmal wahrscheinliche Annahme, das »Hexastichon Anemolii« stamme von Pieter Gilles, was durchgängig als gesicherter Wissensbestand ausgegeben wird (109 ff.); und es gilt für den bisweilen eklektischen Umgang mit der einschlägigen Forschungsliteratur, wobei selbstverständlich klar ist, dass diese keineswegs (etwa zur Utopia) erschöpfend ausgewertet werden kann. Dass man darüber hinaus bei einigen Detailaussagen auch durchaus anderer Meinung sein kann als die Verfasserin, bleibt eine Selbstverständlichkeit1: So ist der Rezensent etwa davon überzeugt, dass aus dem Griechischen übersetzte Epigramme des Thomas Morus keineswegs so extensiv interpretiert werden können, wie die Verfasserin dies mit Blick auf eine allgemeine Repräsentationspraxis und Repräsentationsskepsis (136 ff.) tut. Abschließend bleibt, um das hervorragende Gesamtbild der Studie nicht weiter als nötig einzutrüben, nur noch ein amüsantes und vielleicht sogar pikantes 1 Dies schließt naturgemäß auch Fragen des individuellen Schreibstils im engeren Sinne mit ein; und es gilt gleichermaßen auch für die vielen eigenen Übersetzungen aus dem Lateinischen, wiewohl es unverständlich bleibt, warum die Epigramme des Thomas Morus in eigenen Übersetzungen wiedergegeben werden, die keineswegs besser sind als die drei bisher im Druck vorliegenden Übertragungen ins Deutsche (Baumann, Pape, Werhahn), von denen die beiden letzteren auch noch den Vorteil bieten, Versübertragungen zu sein.

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Detail zu erwähnen: dass von den unmittelbar einschlägigen früheren Studien des Rezensenten nur ein Bruchteil (insgesamt 3) überhaupt offen ausgewertet und wiederholt zitiert werden, im Personenregister des Indexes (359 ff.) jedoch nicht erscheinen. Uwe Baumann, Bonn Jean Calvin, Institution de la religion chrétienne (1541). Edition critique par Olivier Millet [Textes littéraires français 598], 2 Bde im Schuber. Genf: Droz, 2008. 1816 S. Pünktlich zum Auftakt des Calvin-Jahres 2009 erschienen, gehört die vorliegende Neuausgabe der Institution de la religion chrétienne zu den Projekten, mit denen die akademische wie reformatorische Welt den 500sten Geburtstag von Jean Calvin (1509 –1564) feierte. Anders aber als beispielsweise im entsprechenden Jubiläumsband der Editions de la Pléiade, Calvin: Œuvres (Edition établie par Francis Higman / Bernard Roussel. Paris: Gallimard, 2009), wird hier keineswegs ein bisher selten oder noch gar nicht veröffentlichtes Werk des Reformators dem Lesepublikum zur Verfügung gestellt. Im Gegenteil: Die Institution de la religion chrétienne, die von Calvin selbst als »clef et ouverture pour donner accès à tous enfans de Dieu à bien et droictement entendre l’Escriture saincte« (»Argument du present livre«, 106 – 111, hier 109) bezeichnet wird, bildet einen wichtigen Eckpfeiler der reformatorischen Lehre, die ja wesentlich auf der Saincte Escriture als doctrine parfaicte fußt. Bedeutung und Bekanntheit der Schrift schlagen sich seitdem in zahlreichen Editionen und Übersetzungen des Textes besonders aus dem Zeitalter der Réforme sowie erneut seit dem 19. Jahrhundert, Moment der régéneration protestante in Frankreich, nieder (cf. dazu die von Olivier Millet beigefügte Bibliographie »Œuvres de Calvin«, 65 – 67 sowie Appendice 2 »Liste chronologique des éditions de l’Institution de la religion chrétienne et des textes apparentés publiés par Calvin de son vivant«, 1719 – 1722). Warum also eine Neuausgabe gerade dieses wohlbekannten und allgemein zugänglichen Textes? Blättert man die von Millet besorgte Edition durch, ist eine Antwort schnell gefunden: Im Gegensatz zu einem Großteil der vorangegangenen Ausgaben, bietet die vorliegende nämlich nicht nur eine Introduction (7 – 51, cf. infra), sowie ein glossaire der »quiproquos sémantiques« (1723) und zwei index (biblique und noms propres), sondern auch den einzelnen Kapiteln ebenso wie den verschiedenen pièces liminaires (Argument, cf. supra, sowie Epistre au roi, 139 – 180) vorangestellte notices. In diesen liefert der Herausgeber eine Zusammenfassung und Kontextualisierung des folgenden Abschnitts, sei es werkimmanent in Bezug auf weitere Passagen der Institution de la religion chrétienne, sei es hinsichtlich des

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historischen, religiösen oder – und darin liegt ein atout der Ausgabe von Millet – literarischen Umfelds von Werk und Autor. Das besondere Interesse des Herausgebers für die literarische Gestaltung des Textes – Millet widmete sich dieses Aspekts bereits in seiner Thèse (Calvin et la dynamique de la parole. Etude de rhétorique réformée, Genf: Slatkine, 1992) – macht dann auch den Rückgriff auf die Version von 1541 und die Aufnahme der Edition in die Reihe der Textes littéraires français verständlich. Tatsächlich betrat Calvin mit der Fassung der »Introduction« [… ] von 1541 Neuland. Bis dato lag nämlich mit der Arbeit von Olivetan (1535) zwar eine Bibelübersetzung ins Französische vor und mit den Werken von beispielsweise Marguerite de Navarre (cf. Miroir de l’âme pécheresse, 1525) existierten auch erste volkssprachliche Texte der Erbauungsliteratur, eine »somme de la doctrine chrétienne« (Introduction, 26, sowie Epistre au roy, 140) war bisher nicht auf Französisch verfasst worden. Vokabular und Stil dieser neuen Form des traité de religion konnten also wesentlich von ihm entwickelt und für die Zukunft geprägt werden. Geht man wie Millet davon aus (cf. »Introduction«, 24), dass Calvin bereits beim Abfassen des lateinischen Texts der Institutio Christiana religionis (1536, sowie überarbeitet 1538 / 39) an eine spätere Übertragung des Textes in die Volkssprache gedacht hatte – und er deshalb auf komplizierte Strukturen und gelehrte Anspielungen weitgehend verzichtete – und macht man sich des Weiteren die Situation des Reformators bewusst, wird die literarische und stilistische Besonderheit der 1541er Version der Institution [ …] offensichtlich. Denn während zum Beispiel Melanchthon und Luther, ganz zu schweigen von den Repräsentanten der ›alten Kirche‹, spätestens seit der Confessio Augustana (1530) über institutionelle sowie akademische Absicherung verfügten, schrieb Calvin sowohl die lateinische als auch die französische Version lediglich auf der Grundlage seiner persönlichen auctoritas – allerdings mit der entsprechenden verve eines converti sowie eines Menschen, der von seiner Sache überzeugt ist und sie deshalb, ganz dem didaktischen Anspruch des gewählten Titels entsprechend, sachlich und deshalb überzeugend darlegt (Die von Calvin selbst als subita conversione bezeichnete réorientation seiner Studien lässt sich auf 1533 /1534 datieren, also in die Zeit unmittelbar vor dem Beginn der Arbeit an der lateinischen Institutio [ …]). Der von Calvin gepflegte »(style) bref, clair et simple« (»Introduction«, 49) sowie beispielsweise seine »disposition logique des phrases« (ibid., 47) sind seiner juristischen wie rhetorischen Ausbildung zu verdanken und zwar durchaus positiv zu bemerken, aber nicht außergewöhnlich. Ein »trait

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majeur du discours calvinien« (»Introduction«, 49) ist hingegen die Art und Weise, in der Calvin mit den Quellen umging: Ganz réformé erwähnte er nur die Bibel sowie einige Kirchenväter. Auf die Ideen und Argumente anderer, seien es Gegner oder Verbündete, spielte er lediglich an oder integrierte und diskutierte sie, ohne deren Urheber explizit zu nennen (»Calvin élabore un discours pour ainsi dire lisse, qui se situe au delà de diverses opinions par rapport auxquelles il se construit, en les utilisant ou en les discutant sans toujours le dire« (ibid., 49/ 50, Hervorhebung von Millet). Gerade weil sich Calvin in der Fassung von 1541 im Text selbst jeder Polemik enthielt, die sachliche Einführung in die doctrine parfaicte de l’Evangile nicht wie in der Ausgabe von 1560, der letzten von Calvin selbst betreuten, von bissigen Attacken auf die papistes durchsetzt ist, wird die erste französische Version der Institution wohl mit Recht als »événement (majeur) dans l’histoire de la prose d’idées française« bezeichnet (Gustave Lanson, Revue historique 54 (1894), sowie erneut Millet, Introduction, 50). Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass Calvin durchaus und bereits seit der ersten Ausgabe der Institutio seine causa nicht nur den coreligionaires überzeugend darlegte, sondern im Epistre au roy, der jeder neuen Ausgabe vorangestellt wurde (cf. Notice de L’Epistre au roy, 121) auch gegen deren Verfolger rhetorisch zu Felde zog. So erklärte der Autor zum Beispiel, er wollte »faire servir ce present livre, tant d’instruction à ceux que premierement j’avoye deliberé d’enseigner, que aussi de confession de Foi envers toy (i. e. François I): dont tu cognoisses quelle est la doctrine contre laquelle, d’une telle rage, furieusement sont enflambez ceux qui par feu et glaive troublent aujourd’huy ton Royaume« (Epistre au roy, 140). Geschickt formulierte Calvin hier einen Gegenangriff, stellte sich selbst ebenso wie seine Anhänger in gutes, die Vertreter der ›alten Kirche‹ aber in schlechtes Licht: Sie waren es nämlich, die den ordre public störten und dank der Wortwahl »furieusement«, »enflambez«, »par feu et glaive«, des Spiels mit dem Feuermotiv und der erhöhten Rekurrenz des >f