Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 40. Band (1999) [1 ed.] 9783428498291, 9783428098293

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 40. Band (1999) [1 ed.]
 9783428498291, 9783428098293

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH N e u e Folge, b e g r ü n d e t v o n H e r m a n n

IM AUFTRAGE DER

Kunisch

GÖRRES-GESELLSCHAFT

HERAUSGEGEBEN

VON

PROF. DR. T H E O D O R B E R C H E M , PROF. D R . V O L K E R KAPP, PROF. DR. F R A N Z L I N K , PROF. D R . K U R T M Ü L L E R , PROF. DR. R U P R E C H T W I M M E R , PROF. D R . A L O I S W O L F VIERZIGSTER B A N D

1999

Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch w i r d i m Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-

gegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Volker Kapp, Romanisches Seminar der Universität Kiel, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Prof. Dr. Franz Link, Eichrodtstraße 1, 79117 Freiburg i. Br., Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt und Prof. Dr. Alois Wolf, Lorettostraße 60, 79100 Freiburg. Redaktionsanschrift:

Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik,

Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena. Redaktion:

Dr. Jutta

Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils i m Umfang von

etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es w i r d dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATUR WISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH VIERZIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N K U N I S C H

I M A U F T R A G E D E R GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N T H E O D O R B E R C H E M , V O L K E R KAPP, F R A N Z L I N K KURT MÜLLER, RUPRECHT WIMMER, ALOIS WOLF

VIERZIGSTER B A N D

1999

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-09829-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

INHALT AUFSÄTZE Alois Wolf (Freiburg i. Br.), Mythisch-heroische Überlieferungen und die literarischen Bestrebungen i m alten Island. Überlegungen zur Edda

9

Martin Neumann (Regensburg), Das >Rationalprinzip< i m Renaissancedialog. Über das Lehren des optimalen Ausnützens von Ressourcen bei Leon Battista Alberti und Pietro Aretino

73

Willi Erzgräber (Freiburg i. Br.), Das Gewissen bei Shakespeare

95

Thomas More Harrington

(Paris), Pascal entre le dogmatisme et le scepticisme

Heinz-Joachim Müllenbrock tes* Don Quijote

(Göttingen), Scotts Waverley

115

als >Respons< auf Cervan139

Olaf Briese (Berlin), Aufruhr der Elemente. Politische Metaphorik bei den Romantikern 155 Paul Neubauer (Freiburg i. Br.), Das Sonettwerk Jones Verys als Spiegel seiner Entwicklung vom Propheten zum Patrioten

177

Paul Geyer (Köln), Zur Dialektik von »mauvaise foi« und Ideologie i n Flauberts Madame Bovary

199

Elisabeth Galvan (Rom), Verborgene Erotik. Quellenkritische Überlegungen zu Thomas Manns Drama Fiorenza

237

Franz Link (Freiburg i. Br.), Houdini, der Entfesselungskünstler, als »Held« seiner Zeit i n der amerikanischen Literatur

255

Frank Leinen (Düsseldorf), Strategien der Verrätselung in Camilo Jose Celas La familia de Pascual Duarte

277

Christian Mair (Freiburg i. Br.), »A Negro epic i n America« oder ein Versepos für die postkoloniale Welt? Z u Derek Walcotts Omeros

305

Barbara Körte (Tübingen), Generationsbewußtsein als Element >schwarzer< britischer Identitätsfiktion

331

Ansgar Nünning (Gießen), »Verbal Fictions?« Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur

351

6

Inhalt

Irmgard Scheitler (Eichstätt), Sind Reisebeschreibungen fiktive Texte? Bemerkungen anläßlich von Barbara Kortes Buch Der englische Reisebericht

381

KLEINE BEITRÄGE Harald Weinrieb

(München), Marc Fumaroli: Doctor honoris causa der Universität

Münster

401

BUCHBESPRECHUNGEN Klaus von See, Beatrice La Farge, Eve Picard, Ilona Priebe und Katja Schulz, Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 2: Götterlieder (Sktrnismdl, Hârbardliôd, Hymiskviöa, Lokasenna, prymskviâa) (von Alois Wolf) 407 Willi Erzgräber; Mittelalter und Renaissance in England. Von den altenglischen Elegien bis Shakespeares Tragödien (von Günther Blaicher) 411 Uwe Baumann, Vorausdeutung und Tod im englischen Römerdrama der Renaissance (1564-1642) (von Wolfgang G. Müller)

Frank-Rutger

Hausmann, Französische

414

Renaissance: Lehrbuch Romanistik

Dorothee Scholl)

(von 417

Giovanni Dotoli, Temps de Préfaces. Le débat théâtral en France de Hardy à la Querelle du »Cid« (von Winfried Floeck) 420 Patrick

Dandrey,

UEloge paradoxal de Gorgias a Molière

Buschhaus)

(von Ulrich Schulz423

Andromède ou le héros a l'épreuve de la beauté. Actes du colloque international organisé au musée du Louvre par Vuniversité de Montréal et le Service culturel du musée du Louvre le 3 et 4 février 1995. Sous la direction scientifique de Françoise Siguret et d'Alain Laframboise (von Volker Kapp) 430 Karin Ehler; Konversation: Höfische Gesprächskultur als Modell für den Fremdsprachenunterricht

(von Heinz L. Kretzenbacher)

433

Paul Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau (von Andreas Gipper)

438

Vera Nünning, A Revolution in Sentiments, Manners, and Moral Opinions. Catharine Macaulay und die politische Kultur des englischen Radikalismus, 1760 -1790 (von Heinz-Joachim

Müllenbrock)

441

Walter F. Greiner und Fritz Kemmler (Hg.), Realismustheorien in England (16921919). Texte zur historischen Dimension der englischen Realismusdebatte (von Eva-Maria Orth)

Manfred

445

Tietz, Die spanische Lyrik von den Anfängen bis 1870 (von Jörg Dünne) 446

Inhalt

Studienausgabe Hans Urs von Balthasar.; Seine frühen Schriften,

(von Stephan Grät-

zel)

450

Michael H. Kater,; Die mißbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich. Aus dem Amerikanischen von Maurus Pacher; Willem de Vries, Sonderstab Musik. Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940 bis 45 (von Frank-Rutger

Hausmann)

Reingard M. Nischik (Hg.), Leidenschaften literarisch

454

(von Paul Goetsch)

457

Louis van Delft, Le Théâtre en feu. Le grand jeu du théâtre contemporain (von Rolf Lohse)

460

Richard Schwaderer, Italienbild und Stimme Italiens in den deutschsprachigen Kulturzeitschriften 1945-1990. Kommentierte Bibliographie (von Volker Kapp) 463 Poesia cantata: die Textmusik der italienischen Cantautori (von Dietmar Fricke) Heinz Ickstadt, Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert:

Transformation

Mimetischen (von Paul Neubauer)

des

470

Ansgar Nünning (Hg.), Eine andere Geschichte der englischen Literatur. Gattungen und Teilgebiete im Überblick (von Stefan Welz) Ansgar Nünning (Hg.), M etzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Personen - Grundbegriffe (von Günter Leypoldt)

466

Epochen, 472

Ansätze 476

Horst-Jürgen Gerigk, Die Russen in Amerika: Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA (von Roland Hagenbüchle)

Namen- und Werkregister (von Jutta Zimmermann)

479

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Mythisch-heroische Überlieferungen und die literarischen Bestrebungen im alten Island Überlegungen zur Edda Von Alois Wolf

I. Vorbemerkung Die Ansicht, daß das alte Island nicht länger als bloßes Schatzhaus altgermanischer Mythen und Heldensagen zu beurteilen sei, setzt sich immer mehr durch. Mediävistische Fragestellungen ergänzen zusehends die früher vorherrschenden rein altertumskundlichen Perspektiven. 1 Hinsichtlich einzelner Aspekte eddischer Dichtung sind solche Neuansätze bereits fruchtbar gemacht worden. 2 Es dürfte sich aber lohnen, das Gesamtphänomen der eddischen Dichtung aus den veränderten Perspektiven heraus in den Blick zu nehmen und die stofflich alten Uberlieferungen möglichst konsequent in den Rahmen des nicht altgermanischen kulturellen Umfelds i m literarischen Haushalt des mittelalterlichen Islands zu stellen. Die Literaturgeschichten erwecken immer noch den Eindruck, daß die eddische Dichtung i m alten Island ein gleichgewichtiger Faktor - wenn nicht gar mehr - neben Skaldik und Prosa gewesen sei. N u n soll die Bedeutung der 274 Kleinoktavseiten der Liederedda nicht kleingeredet werden, die tatsächlichen literarischen Proportionen - auch i m Quantitativen - sind aber stärker zu beachten. Der Erkenntniswert der eddischen Lieder ist, was germanische Mythen und Heldensagen betrifft, nicht gering. Die Snorraedda mit Gylfaginning und Skaldskaparmäl liefert aber in dieser Hinsicht keinen geringeren Beitrag, ohne sich derselben Bewunderung erfreuen zu können. Die Hochschätzung, die der Liederedda zuteil wurde und wird, muß sich demnach auf einen postulierten Mehrwert beziehen, den nur große Poesie zu erzeugen vermag, und auf Authentizität, der gegenüber die Prosageschichten der Snorraedda nur als abgeleitete Produkte gelten können. 1 Aus dem deutschsprachigen Raum sind vor allem die Arbeiten von Klaus von See und Gerd Wolfgang Weber zu nennen. 2

Als Beispiel seien die Hävamäl genannt. Dazu: Bjarne Fidjestol, »Hävamäl og den klassiske humanismen«, Maal og Minne (1992), 1-10. D o r t auch die weitere einschlägige Literatur.

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Alois Wolf

Daß Snorri sich vor allem auf die skaldische Dichtung verließ und so wenig aus eddischen Liedern zitierte, dazu sich grundsätzlich der Prosa bediente, muß zu denken geben und soll mit Anlaß sein, das aus der Sicht neuzeitlicher Forschung verabsolutierte Bild der Edda zu relativieren. Die Suggestivkraft des Namens Edda hatte i m Bewußtsein vieler Forscher und weiter Teile der interessierten Öffentlichkeit den in der später so benannten Textsammlung überlieferten Liedern eine höhere Weihe verliehen. 3 Verstärkt wurde das dadurch, daß der zweite Teil der Sammlung aus Liedern besteht, die dem Kerngebiet der germanischen Heldensagen, der Nibelungensage, entstammen. Der emotional aufgeladene Begriff Heldenlied erhielt zusätzliches Gewicht dadurch, daß man glaubte, in den eddischen Liedern über die Jahrhunderte hinweg etwas vom Urklang des altgermanischen Heldenliedes vernehmen zu können. (Inwieweit es sinnvoll ist, von dem germanischen Heldenlied zu sprechen, sei dahingestellt.) Erhärtet wurde das durch eine Präzisierung, die durch die Autorität Andreas Heuslers kanonische Geltung erhielt. Fünf dieser Lieder erhielten nämlich das ehrwürdige Beiwort alt: Atlilied, Sigurdlied, Hamdirlied, Wielandlied und das sogenannte Hunnenschlachtlied, das nicht in der Edda überliefert ist. Die Auszeichnung, die diesen Liedern damit zuteil wurde, führte zu der die Literaturgeschichten und Handbücher beherrschenden Unterscheidung in ältere und jüngere eddische Heldenlieder; eine bequeme Zweiteilung, die aber den fließenden Ubergängen, der komplexen Uberlieferungswirklichkeit aus Tradieren, Bearbeiten, Neudichten und Verschriftlichen nicht gerecht wird, genausowenig wie die Begriffe Urlied und Sproßlied, die mehr verstellen als erhellen. Heuslers Dictum, wonach Heldensage gleich Heldenlied sei, hat dem >Heldenlied< zusätzliches Gewicht verliehen, das seinem tatsächlichen Platz i m Geschiebe unterschiedlicher Uberlieferungen nicht entspricht. Was das Deutsche angeht, ist auch Genzmers Eddaübersetzung i n diese Betrachtungen einzubeziehen. Genzmers sprachliche Leistung ist bewundernswert; sie machte aber aus den isländischen Texten eine deutsche Überedda, die sich ideologisieren ließ. Eine gegenstandsgemäße Beurteilung der eddischen Überlieferungen auf Island hat folgendes zu berücksichtigen: A u f Island gab es eine ungewöhnlich wache curiositas gegenüber dem Vergangenen. Sie läßt sich in dem Wort fraöi zusammenfassen, das zu einem Schlüsselbegriff der literarischen K u l t u r Islands 3 Heinrich Beck, »Eddaforschung heute: Bemerkungen zur Heldenlied-Diskussion«, in: Helden und Heldensage, O t t o Gschwantler zum 60. Geburtstag (Wien 1990), 1-23. Bjarne Fidjestol, »Oldemors alder. O m diskusjonen kring datering av eddadikta«, in: Eyvindarbök, festskrift t i l Eyvind Fjeld Halvorsen (Oslo 1982), 49-62. Z u den nationalistischen Vereinahmungen der Edda: Stefanie von Schnurbein, »Gjenbruken av eddadiktningen i >völkisch-religiöse Weihespiele< rundt ärhundreskiftet i Tyskland«, Nordica Bergensia (1994), 87-103.

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

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i m 12. und 13. Jahrhundert geworden ist. Die eddischen Überlieferungen rückten schon dadurch in ein Kraftfeld ein, das in der Germania sonst nirgends in dieser Weise gegeben war. Die Isländer hatten es dabei mit unterschiedlichen Vergangenheiten zu tun; mit ihrer eigenen als Kolonialvolk, das starke Bindungen ans norwegische Mutterland und die britischen Inseln aufwies, was sich bei A r i , in der Islendingabök und schließlich in den Sagas niederschlug; mit der Vergangenheit des Mutterlandes, wie sie sich in der Geschichte der norwegischen Könige darstellte; mit dem, was die Bildungseinflüsse aus dem Süden an Vergangenem vermittelten, und schließlich auch mit dem, was man ins Neuland mitgebracht hatte an Mythen und Heldensagen. Auch Letzteres forderte die /rungermanische< Silbenzählen weckte Mißtrauen. Die Nachwirkungen solcher Vorurteile, die der eddischen Dichtung zugute kamen, hielten vor, auch wenn die dafür verantwortliche literaturtheoretische Einstellung nicht mehr gegeben war. Dabei sind die dichterischen Leistungen einzelner Skalden derart beeindruckend, von der Quantität abgesehen, daß man die eddische Dichtung nicht dagegen ausspielen kann. Aus isländischer Sicht - und auf die kommt es an - ist dann noch die volkssprachliche Prosa zu berücksichtigen, die immer mehr zum privilegierten Medium der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Vergangenheiten werden sollte. Eine isolierte Betrachtung eddischer Dichtung verbietet sich.

I I . Zur Einschätzung der eddischen Dichtweise im Norden Der dichterische Haushalt i m mittelalterlichen Nordwesten der Germania wurde früh durch das Aufkommen der Skaldendichtung auf eine neue Grundlage gestellt. Dies vollzog sich zeitlich parallel zur Entstehung der überlieferten eddischen Lieder, deren älteste Strophen nicht vor dem 9. Jahrhundert angesetzt werden können und deren jüngste Hervorbringungen vielleicht erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstanden sind, als die Prosa schon fest etabliert war. Das Aufkommen der prestigiösen Kunst der Skalden kann für die herkömmliche eddische Dichtweise nicht ohne Folgen geblieben sein. Die alte und einfachere Sichtweise in stabenden Langzeilen, die von alten Mythen und Hei-

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Alois Wolf

densagen handelte, dürfte auch durch die ästhetisch ungleich anspruchsvollere Skaldik, die überdies neue Wirklichkeitsbereiche erschloß, eine drastische Herabstufung erfahren haben. O b damit auch die Neigung verbunden war, diese A r t zu dichten zusehends auf das kurzepische Uberliefern alter Mythen und Sagen festzulegen, ist zu erwägen; es könnte nämlich für die erst i m 13. Jahrhundert, als die Skaldik schon längst als verläßliche Quelle galt, einsetzende Verschriftlichung und damit relativ späte Aufwertung dieser Uberlieferungen aus antiquarischem Interesse heraus von Bedeutung gewesen sein. Die nordische Geschichtsschreibung legt dem wikingerhaften König Harald hardräöi kurz vor dessen Tod i m Jahre 1066 zwei Strophen in den Mund, in denen es u m die angemessene Wiedergabe der Furchtlosigkeit geht. 4 Zunächst bedient sich der König eddischer Dichtweise: Framm göngum ver i fylkingu brynjulausir und blär eggjar. Hjälmar skina. Hefkat ek mina. N u liggr skruö värt at skipum niöri.

Gemäß der programmatischen Anlage der Szene ist Harald damit unzufrieden und meint: petta er illa kveöit. Als Uberbietung der eddischen Dichtweise läßt er seine Skaldenstrophe folgen: K r j ü p u m ver fyr väpna, valteigs, brökun eigi, svä bauö Hildr, at hjaldri, haldorö, i bug skjaldar. H ä t t baö mik, J)ars moettusk, menskorö bera foröum, hlakkar iss ok hausar, hjälmstofn i gny mälma.

Zwei grundverschiedene dichterische Systeme und Sensibilitäten werden hier bewußt exemplarisch einander gegenübergestellt. I n der Skaldenstrophe w i r d die Furchtlosigkeit in zwei Anläufen auf poetisch höherer Ebene dargestellt. I n beiden Helmingen kommt es zu Umschreibungen für die Frauengestalt. Hinter dem mutigen Krieger taucht die hetzende Frau auf, wodurch die konkrete Situation in einen größeren Zusammenhang gerückt wird. Von dieser Frau, w o h l der Mutter Olafs und Haralds, weiß man aus Snorris Heimskringla, daß sie Helden aufziehen wollte und keine verbauerten Kleinkönige. I m ersten Helming die Negation, kein Sichverstecken hinter den Schilden; i m zweiten Helming das Positive, das Haupt hoch tragen i n der Schlacht. Die Ausdrücke dafür, kriupum bzw. hatt bera sind wirkungsvoll antithetisch an die Spitze der 4

Snorri Sturluson, Heimskringla

III,

Islenzk fornrit 28 (Reykjavik 1951) 187 f.

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

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Helminge gesetzt. Die Schlacht selbst bekommt mehr Raum zugewiesen als in der eddischen Strophe, w o sie nur indirekt i m Hinweis blär eggjar angedeutet ist. Der erste Helming spricht von brökun vdpna, was sich i m zweiten steigert zur Doppelaussage gny mälma und mattisk [... ] Hlakkar iss ok hausar. Der erste Vers der Strophe endet dabei auf vdpna, der letzte auf malma! Für die Schädel der Feinde, auf die Schwerthiebe niederprasseln, verwendet Harald das prosaische Wort hausar; das eigene Haupt dagegen, das er stolz emporrecken soll, schmückt er mit der Umschreibung hjälmstofn. M i t gegenläufiger Tendenz sind den Schlachtbildern die Umschreibungen für die Frauen zugeordnet. Hier weist der erste Helming die gewichtigere Umschreibung auf: haldorö valteigs hildr; während es i m zweiten bloß heißt: menskorä So entstand ein ausbalanciertes Gebilde, mit dem eddische Aussagen nicht konkurrieren konnten. 5 Die Morkinskinna berichtet ebenfalls eine einschlägige Episode. König Harald und der isländische Skalde pjödölfr werden Zeugen eines Streits zwischen einem Schmied und einem Gerber. 6 Der König verlangt von dem Skalden die poetische Umsetzung dieses Streits ins Mythologische, auf Thor und Geirröd bezogen, hierauf die Transposition ins Heroische, auf Sigurd und Fdfnir. Exemplarisch werden also die beiden Bereiche vorgeführt, aus denen die Skaldik schöpfte. Der Dichter entledigt sich der Aufgabe und w i r d gelobt. Situation und Eigenart der Personen - norwegische Handwerker, Götter, Helden, Riesen und Monster - öffneten nur geringen Spielraum und stellten hohe Anforderungen an den Dichter. Für unsere Fragestellung wichtig ist die Tatsache, daß also am norwegischen H o f i m 11. Jahrhundert Mythen und Heldensage wie selbstverständlich poetisierungsträchtige Manövriermasse sein konnten. A u f das Kombinationsvermögen der Skalden und auf die Verfügbarkeit der alten Stoffe kam es an. Es ist kaum anzunehmen, daß das keinen Einfluß gehabt haben könnte auf das Tradieren und Bearbeiten der eddischen Überlieferungen in diesen Jahrhunderten. Wurde die Skaldik einerseits zur großen Konkurrentin der alten Dichtweise, so trug sie andererseits i n erheblichem Maße dazu bei, daß die i n dieser Dichtweise tradierten Mythen und Sagen i m Gedächtnis erhalten blieben. Die Skalden benutzten diese Überlieferungen als Steinbruch, um ihre kostbaren Kenningar zu komponieren. Wenn Snorri in seiner Edda den angehenden Dichtern ausführliche Informationen bereitstellte, so tat er das nicht etwa, indem er ausgiebig eddische Lieder zitiert hätte. Außer Völuspä-Zitaten fallen Zitate aus anderen eddischen Liedern überhaupt nicht ins Gewicht; er rekapitulierte viel5

I n den Quellen w i r d nirgends über einen Vortrag eddischer Lieder berichtet; das sollte auch bedacht werden, wenn man gar versucht, durch das Aufführen eddischer Dichtungen den >ursprünglichen< Zuständen näherzukommen. 6

Morkinskinna,

udgivet ved Finnur Jönsson (Kopenhagen 1932) 235 f.

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Alois Wolf

mehr die einschlägigen Mythen und Sagen mit eigenen Worten i n Prosa. Der Erzählstoff steht i m Vordergrund, und Snorri fühlte sich offenbar keineswegs an poetische Fixierungen dieser Stoffe nach eddischer Dichtweise gebunden. Diese hat es i n unterschiedlichem Ausmaß und ungleicher Qualität bei bestimmten Sagen gegeben, ihre Verbindlichkeit war aber gegenüber der der skaldischen Dichtung gering. Vorhandensein der eddischen Liedersammlung i m Codex Regius und dessen Vorlagen sind in diesem Zusammenhang zu sehen.

I I I . Die eddischen Traditionen als Teil der isländischen Vergangenheitsbilder Das ungewöhnlich rege Interesse und die mehrfach belegte Kompetenz der Isländer auf dem Gebiet der Vergangenheitskunde erstreckte sich auch auf alte Mythen und Sagen. Die strengen Maßstäbe, die die Isländer bei der Darstellung der eigenen Geschichte und der der norwegischen Könige an die Verläßlichkeit des Wißbaren und Gewußten anlegten, siehe Aris und Snorris theoretische Äußerungen, konnten bei den altgermanischen Überlieferungen mangels Gewährsleuten freilich keine Anwendung finden. Wenn ein Historiker und Skalde wie Snorri i m 13. Jahrhundert diese Stoffe als festhaltenswert einschätzte, und wenn u m 1150 der A b t Nikoläs Bergsson in seinen Reisebericht eine präzise Nibelungengeographie einfügte, teilweise sich auf Aussagen Ortskundiger stützend, so w i r d deutlich, daß die damit verbundene Kunde als Teil einer zwar anderen und sehr fernen, aber doch nicht unwichtigen Vergangenheit betrachtet wurde. Es ist unwahrscheinlich, daß man kein Interesse daran gehabt hätte, sich bei zunehmender Verschriftlichung auch von dieser Vergangenheit - w o z u noch der Mythos kam - Bilder zu machen, denen man bestimmte Merkmale zuzuschreiben für richtig gehalten haben mag. I n der Frühzeit Islands w i r d man altes Gut tradiert haben mit den üblichen überlieferungsbedingten Abnützungserscheinungen und mit gelegentlichen nordischen Modifikationen - siehe die Zyklisierung der Nibelungensage in der Ragnarsdrdpa. Das i m Neuland gestärkte historische Bewußtsein, die Christianisierung und die damit verbundenen europäischen Einflüsse werden dann distanzschaffend gegenüber den altgermanischen Traditionen gewirkt haben. Dabei ist mit einem Fächer von Möglichkeiten zu rechnen. Dieser reichte von naivem Weitergeben alten Traditionsgutes über kaum verhohlene, mit Schauder vermischte Bewunderung bis hin zur Einstufung der älteren Zeiten überhaupt als festhaltenswerte Vorstufen, die auf Späteres vorausdeutbar waren in Analogie zu Versuchen, die heidnische Antike mittels typologischer Sehweise zu vereinnahmen. Daß auch die christlichen Könige, Olaf Tryggvason und Olaf der Heilige, mit der heidnischen Vorzeit konfrontiert werden konnten, ist ein Beleg

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

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für die Präsenz dieser Vorzeit und das Bemühen, sich mit ihr auseinanderzusetzen. 7 O b man von einer Renaissance der Vorzeit i m isländischen Hochmittelalter sprechen kann, sei dahingestellt; eine religiöse Gefahr ging davon nicht mehr aus. Der Begriff Renaissance weckt freilich Assoziationen, die für die Einstellung der Isländer gegenüber der Vorzeit keine Geltung haben; handelt es sich bei diesen Bestrebungen doch nicht u m eine Rückwendung, sondern u m ein verstärktes Sichvergewissern auch dieser fernen Vorzeit. Es ist zu fragen, welches Bild von dieser Vorzeit einzelne eddische Lieder vermitteln und wie der Sammler mit dem Material verfuhr. Der Schritt vom Einzellied zur Sammlung ist von Bedeutung, weil die Sammlung Ansätze zu einer Strukturierung aufweist, freilich nur Ansätze, woraus man schließen kann, daß der Sammler kein ganz schlüssiges Konzept besaß und sein Vergangenheitsbild unscharf war. Höchst unterschiedliches Liedgut, wie Atlakviöa

und Atlamal,

konnte somit

i n die Sammlung aufgenommen werden. So sehr es ein Verdienst Klingenbergs ist, die Sammlung als solche i n den Blick genommen zu haben, so wenig w i r d man seine Deutung, die auf ein total eschatologisiertes Vergangenheitsbild hinausläuft, akzeptieren können. 8 I m 13. Jahrhundert, als auf Island die Verschriftlichung einem Höhepunkt zustrebte, gab es also Kreise, die auch die eddischen Überlieferungen i n diesen Prozeß einbeziehen wollten, gleichsam u m letzte weiße Flecken auf den Vergangenheitsbildern zu beseitigen. Einer skaldischen >Parallelaktion< bedurfte es nicht. Die Verschriftlichung war da durch das reichliche Einfügen skaldischer Strophen i n die Geschichtswerke und beginnenden Sagas bereits gut vorangekommen und hatte durch Snorri überdies eine solide Begründung erfahren. Die Edda weist keine theoretische Begründung auf; ihre Daseinsberechtigung muß also i n den Liedern selbst liegen, so wie sie der Sammler darbietet. Ein sicherer Weg, diese Überlieferungen auf Literaturniveau zu bringen, war es, sie als Träger wertvollen Wissens vorzustellen, u m sie so an dem ungemein positiv besetzten Begriff frxöi teilhaben zu lassen. Wie wichtig das den Bearbeitern der Lieder und dem Sammler war, zeigt sich auch darin, daß es ihnen nicht nur darauf ankam, den Hörern und Lesern diese ferne Vorzeitkunde als fraöi zu präsentieren, sie arbeiteten vielmehr diesen Aspekt i n eine Reihe von Liedern hinein und stellten somit das Personal dieser Lieder, Götter wie Helden, immer wieder auf eine Stufe mit Hörern und Lesern. Das Thema Wissenserfragung nachdrücklich i n die mythische und sagenhafte Frühzeit hineinzutragen und zugleich die mittelalterlichen Zeitgenossen 7 Man denke an den Versuch Odins, Olaf Tryggvason zu vergiften. Snorri stellt es so dar, daß für den christlichen König kein Zweifel darüber bestand, daß »l>ar myndi verit hafa Oöinn, sä er heiönir menn höföu lengi a truat«. (Heimskringla I, 314, s. A n m . 4). 8 Heinz Klingenberg, Edda: Sammlung und Dichtung, logie 3 (Basel 1974).

Beiträge zur nordischen Philo-

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Alois Wolf

von diesem Wissen profitieren zu lassen, war - was nicht Zufall sein dürfte auch ein Anliegen Snorris in Gylfaginning und noch in den Skaldskaparmal. Snorri bediente sich dabei aber der Prosa. Strophen, meist skaldische, erscheinen nur als Zitate. Snorri, selbst ein Dichter, war also an der Bewahrung eddischer Dichtung als Dichtung und nicht bloß als Stoff nicht 1 viel gelegen. I m Spannungsfeld der Medien - auch die Völsungasaga und die piörekssaga sind einzubeziehen - ging es dagegen dem Kompilator der eddischen Dichtungen darum, diese Dichtungen als Dichtungen, dazu aufgewertet als frjeöi, auf breiter Basis i m Bewußtsein literarisch zu verankern. Die Sammlung ist darüber hinaus durch extreme Vorzeitbezogenheit gekennzeichnet. Penetrant ziehen sich die Fügungen dr var... mit ihren Varianten durch die Texte, von der Völuspä bis zu dem Hamöismal. Hinweise, daß das zu Berichtende in einer fernen Vergangenheit spielt, gehören bei diesen Stoffen zur Natur der Sache. Das Hildebrandslied z. B. begnügt sich aber mit dem Vergangenheitstempus und insistiert nicht weiter. Die Einleitungsformel des Beowulf verweist das Geschehen zurück in die geardaga und begnügt sich damit. Die Edda begnügt sich nicht damit; sie schreibt sogar diese Perspektive den Gestalten der Vorzeit zu, wenn z. B. die Götter der drdaga selbst von den ardaga reden wie Dichter und Sammler. Es kommt zu einer Übereinstimmung mit dem Thema frSkaldisierung< nicht nahtlos aufgehen konnte. Nachstehende Betrachtungen einzelner Lieder anhand ausgewählter Textstellen sollen die Schwierigkeiten herausarbeiten, die sich bei dem faszinierenden Versuch ergaben, eddische Uberlieferungen unterschiedlichen Alters und Wesens mit den Intentionen eines hochmittelalterlichen Sammlers zu vereinen.

IV. Z u r Völuspä und zu Götterliedern Die ebenerwähnte skaldische Pose der Einleitungsstrophe, hinter der der Sammler erkennbar wird, versieht die ganze Sammlung mit einem anspruchsvollen Vorzeichen. M i t der amplifizierten Apostrophe allar heigar kindir; meiri oc minni mögu Heimdalar;

w o z u noch valföör

kommt, w i r d sogleich ein star-

kes Register gezogen; besonders >alt< und >authentisch< ist das w o h l n i c h t . 1 1 Wenn es dem Sammler darum ging, einleitend mit massivem Einsatz eine mythologische Kulisse zu schaffen, sollte man deren einzelne Bestandteile, die gleichsam als kostbares Füllmaterial verwendet werden, nicht unbedingt auf die Goldwaage legen. Die Tatsache, daß trotz des aufgewendeten Forscherscharfsinns keine befriedigende Deutung vorliegt, braucht nicht von ungefähr zu sein. Es ist ja zu überlegen, ob i n diesem Verfahren nicht ein durchgehender Gestaltungszug der Sammlung vorliegt, der sich an skaldischer Dichtweise orientiert, die i n ihren kunstvollen Umschreibungen möglichst viel an mythologisch Gewichtigem aufbietet. A u f eindringliche Weise wird, fortgesetzt i n der zweiten Strophe, die eigene Kompetenz i n Sachen Vorzeitkunde herausgestellt. Eddische Dichtung kann also, skaldisch verbrämt, als wichtige Wissensquelle angeboten werden, mögliche Einwände von vorneherein unterdrückend. Angesichts der zerrütteten Überlieferung des aufgezeichneten eddischen Strophenmaterials, die durch die verzweifelten Harmonisierungsversuche mancher Herausgeber nur noch deutlicher wird, ist die hochgestochene Einleitung als Versuch zu sehen, das Wertvolle und Wissenswerte an dieser Überlieferung unter Beweis zu stellen, auch wenn dabei Ungereimtes i n Kauf zu nehmen ist. 11

Edda: Die Lieder des »Codex Regius« nebst verwandten

Denkmälern, hg. Gustav

Neckel, I. Text, dritte umgearbeitete Auflage von Hans K u h n (Heidelberg 1962). Zur vieldiskutierten Wendung heigar kindir sei ein Beleg aus der Wiener Genesis angeführt. D o r t heißt es vom Menschen, den der Teufel verführt hat: »so ist er unreine/sone hat er gemaine/mit heiigen chinden [ . . . ] « , V.848ff. Die altdeutsche Genesis nach der Wiener Handschrift hg. Viktor Dollmayr (Halle 1932). Das berechtigte Unbehagen, das bereits Müllenhof angesichts der Anreden in der ersten Strophe empfand, hat die späteren K o m mentatoren nicht sehr beflügelt. Karl Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, Bd. 5 (Berlin 1891), 87 f.

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

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Folgt man den Ausgaben und der herkömmlichen Interpunktion der dritten Langzeile der ersten Strophe - vildo, at ecy Valföör; vel fyrtelja . . . so ergibt sich, daß der Kompilator drei eindrucksstarke Situationstypen, die nichts miteinander zu tun haben, ja einander zu widersprechen scheinen, einsetzt: I n der ersten Strophe die skaldische Vortragssituation vor dem Obersten der Götter, O d i n selbst; Strophe 28 die typische vera «¿¿-Situation der Seherin und Strophe 66 als Schlußsituation das Versinken der Sprecherin, was an Helreiö Brynhildar und Baldrs draumar erinnert, w o die beschworene mythische Gestalt wieder verschwindet. Die Kommentatoren gehen mit Edda-Enthusiasmus oft verdächtig rasch darüber hinweg oder bemühen sich verzweifelt, diese Situationen i n einen logischen Zusammenhang zu bringen, dessen Fehlen aber eher ein Charakteristikum der Darstellungsweise des Kompilators sein könnte. 1 2 U m eine massive Wirkung zu erzielen, ordnete er möglicherweise das ihm verfügbare Strophenmaterial, das man sich nicht zu straff einheitlich denken darf, diesen drei Situationstypen zu und rückte damit die Sprecherin i n drei verschiedene typische Positionen, u m eine zusätzliche Aufladung des dargebotenen mythologischen Wissens zu erreichen. Statt nach Logik zu fahnden, wäre die Bindung an diese starken Situationsbilder zu würdigen. (Vergleichbares kennt man aus dem europäischen Mittelalter). Die erste Strophe mit der Seherin in Skaldenpose w i r d man nicht weit ins Heidentum zurückverlegen dürfen; vielmehr ist da das vergangenheitsbewußte isländische Mittelalter am Werk, wenn einleitend gar O d i n als der zum Vortrag Auffordernde erscheint und somit das i m folgenden dargebotene Wissen unter die höchste dichterische Autorität der heidnischen Vorzeit gestellt w i r d . 1 3 Für diese Vortragssituation - offenbar in 12

Nordal, s. o. A n m . 10, sah darin offenbar kein Problem, und auch Sveinsson geht darüber hinweg, wenn er feststellt: »Efnisskipun kvaeöisins er ljös, [ . . . ] Madandinn er völva, og segir af J)vi siöar i kvaeöinu, aö hün sat eitt sinn üti.« Einar Olafur Sveinsson, fslenzkar bôkmenntir i fornöld I (Reykjavik 1962) 329. A u c h die neuesten Literaturgeschichten gehen nicht darauf ein. N i c h t folgen kann ich auch Boyer, der von der Prämisse ausgeht »Moreover, as a consummate artist, he [= Dichter der Völuspa) obviously wished to create a w o r k which was esthetically satisfying [ . . . ] . I believe that the Regius text presents an unquestionable unity.« Régis Boyer, » O n the composition of Völuspa«, in: R. J. Glendinning and H . Bessason (Hg.) Edda. A collection of essays (Winnipeg 1983), hier 117. 13 Wenn diese Deutung mit O d i n als Angeredetem auch allgemeine Zustimmung gefunden hat, was sich i n der Interpunktion Kuhns niederschlägt, die valföör als Vokativ festschreibt, so sollte man unter Berücksichtigung des Zustands des Textes die schon früh erwogene Interpretation als Kenning für Dichtung und somit als Objekt i m Satz nicht außer acht lassen: valföör vél gedeutet als List Odins mit Anspielung auf die Gewinnung des Dichtermets. Nordais Einwand (s. o. A n m k . 10, 47) überzeugt nicht. Eine ausgesuchte Kenning wäre gerade für die Einleitung gut vorstellbar; außerdem würde man das ungeschickt banale Adverb vel i n Verbindung mit der Aufforderung zum Vortrag vermeiden. M a n erhielte statt dessen sogar eine nach dem Gesetz der wachsenden Glieder angelegte

Variationsabfolge: valföör vél/forn Dichtung bezogen) erfremst um man. 2*

spiöll f ira/ pan (immer noch auf die vorzutragende

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Odins Halle, Walhall, verlegt - gibt es keine Anhaltspunkte in alten Mythen. Es handelt sich bei diesem gelungenen kühnen Einfall u m ein reines Phantasieprodukt der nachheidnischen Zeit, die eben relativ frei über die alte Mythologie verfügt. Man kann sich vorstellen, daß diese A r t der Präsentation der Liedersammlung beim Publikum, dessen Interesse geweckt bzw. erhalten werden sollte, auf Anerkennung stieß. Dieses auf Odins besonderen Wunsch geäußerte Wissen w i r d als forn spjöll fira bezeichnet. Von der Deutung dieser Stelle, die aufgrund ihrer Position an der Spitze der Sammlung Gewicht hat, hängt viel ab. Die Grundbedeutung von firar ist Menschen. Die Belege, die eine Ausdehnung auf alle Lebewesen nahelegen könnten, sind schwach und lassen sich auch anders verstehen. Weiter ist zu entscheiden, ob fira Genetivus subjectivus ist oder nicht. Die Semantik von spiöll dürfte dafür sprechen. Also: Erzählgut der Menschen, das die Vorzeit betrifft. Bei forn darf man >heidnisch< mitdenken, was den >modernen< Standort der Einleitung markieren würde, w o m i t man rechnen kann. Anne Holtsmark meinte sogar: »fornspiöll fira kommer til a sta i motsetning til goöspjall det nye«. 1 4 Das Vorzutragende wäre somit einzuordnen in das U m feld aus Euhemerismus, wie man ihn aus Snorri kennt, und christlicher Typologie, die ja schon bei der Auseinandersetzung mit der heidnischen Antike einsetzbar war. Diese Auffassung des Genetivs fira bedeutet ferner, daß die Sprecherin nicht eigenes Wissen kundtun will, sondern sich als Sprachrohr dessen fühlt, was einst von Menschen ausgedacht und tradiert wurde. Damit könnte zusammenhängen, daß diese repräsentative einleitende Dichtung, die w i r Völuspa nennen, keinen Titel hat i m Gegensatz zu den folgenden Texten; es handelt sich eben u m spiöll firal Aus der Snorra-Edda wissen wir, daß es eine Vo7»s/^-Dichtung gab. Diesen Text rekonstruieren zu wollen und angeblich Echtes von Unechtem zu scheiden, ist ein Affront gegenüber der komplexen und fließenden Wirklichkeit der Überlieferung. Statt sich an der Bildkraft einzelner VöluspaStrophen, bisweilen auch Strophengruppen, zu berauschen, ist der Befund der einleitenden Dichtung in seiner Gesamtheit zur Kenntnis zu nehmen mit den Brüchen, den dürren Listen, der fehlenden Kohärenz bei manchen halb angedeuteten und rasch fallengelassenen Handlungsfäden, den Repetitionen i m Stilistischen usw. Für den Kompilator stellten sich offenbar diese forn spiöll gleichsam als Kaleidoskop dar, das es ihm ermöglichte, eine Menge wertvollen Wissens festzuhalten. Vom Kompilator, dem es um diese spiöll ging, ist keine konsequente Ausrichtung auf große Dichtung zu erwarten - was nicht heißt,

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Anne Holtsmark übersetzt forn spiöll fira mit menns gamle fragsagn, was die mög-

liche Opposition zwischen Menschenwerk und Gotteswort unterstreichen würde. Anne Holtsmark, Forelesninger over »Völuspa« (Univertitetets Studentkontor 1949), 3 f.

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daß es das in der Völuspd nicht gebe

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und man w i r d auch nicht allzuviel Stim-

migkeit und Kohärenz verlangen können. Von besonderem Interesse könnten für den Sammler jene Passagen i n dem Strophenmaterial zum Weltuntergang gewesen sein, die unleugbar christlichen Einfluß verraten. Diese Stellen mögen, wie N o r d a l und andere annehmen, aus der die Gemüter erregenden Stimmung der ausgehenden Heidenzeit entstanden sein, was freilich späteres Hinzudichten nicht ausschließt, da die eddische Tradition nun einmal nicht fest war. D e m Kompilator, der es mit Uberlieferungsvarianten zu tun hatte und der u m die Würdigung der forn spiöll fira warb, konnten Strophen wie Str. 57, 59, 65 nur recht sein, waren sie doch der Beweis dafür, daß i n diesen forn spiöll fira bereits Vorstellungen erkennbar waren, die man aus dem guöspiall kannte. Eine derartige Vorzeit verdiente es demnach auch, entsprechend in die isländischen Vergangenheitsbilder einbezogen zu werden. Einige weitere Anmerkungen zur Völuspd. Das nordische Heidentum verfügte beim Fehlen einer festen Priesterkaste und von Schriftlichkeit über kein einheitliches i n sich geschlossenes Bild von Entstehung und Vergehen des Kosmos. Snorri bemühte sich, ansatzweise einen durchgehenden Faden herauszuarbeiten. Die Völuspd reiht einschlägiges Strophenmaterial aneinander, wobei die relative Eigenständigkeit der strophisch gebundenen Aussageweise hinzukommt, und tippt mehr an, als sie darlegt; der Schreiber mag da noch ein Ü b r i ges getan haben. Mythologische Kunde, meist i n ziemlich isolierter Form, w i r d i n eddischer Dichtweise festgehalten, wobei Letzteres sicherlich ein wichtiges Anliegen war i n H i n b l i c k auf Prosa und Skaldendichtung. M i t Vorwissen des Publikums konnte gerechnet werden, und die Einordnung des Gebotenen bot kaum Schwierigkeiten. M a n w i r d die eddischen Texte mit mehr Nüchternheit aufgenommen haben, als das vielfach bei der Eddaforschung der Fall war. Wenn man z. B. rühmend hervorhebt, daß die Völuspd bei der andeutenden Schilderung der Erschaffung des Kosmos auf die krasse Materialität der Ausschlachtung des Leibes des Riesen Y m i r verzichtet, so geht das w o h l am Text vorbei. 1 5 Snorris Völuspäzitat bietet die logischere und christlichere Version dr var alda pat er ecci var. Der Codex Regius hat dagegen par er Ymir bygöi. Der Riese w i r d hier immerhin mit dem Uranfang i n Beziehung gesetzt, wenn auch dann andere M y t h e n angetippt werden. I n der vorausgehenden Strophe war bereits von den Riesen die Rede, und so mag sich der fülligere Abvers mit dem mythologisch wichtigen Namen Y m i r angeboten haben; mit ästhetischem Feingefühl oder derbem Materialismus hat das nichts zu tun.

15 So meint Schach: »Eschewing the grotesque popular mythology of his day (as embodied in Grimnismäl, Vafprüdnismdl, and Snorri's Gylfaginning) the poet portrays the creation of the universe in a series of bold pictures [ . . . ] . « Paul Schach, »Some thoughts on Völuspä«, in: Edda , s. o. Anm. 12, 90.

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M i t Strophe 6 ist man bei den regin öll d röcstola , am Beginn der nächsten Strophe ist man bei den Asen - hittuz asir d Iöavelli. Das feierliche Ratschlagen der Mächte in Str. 6, das dort situationsgemäß ist, geht es doch u m Elementares, w i r d Str. 9 mechanisch repetiert und ist auf Nebensächliches bezogen, woraus die dürre Namenliste hervorgeht. Aufzählungen von Namen stehen eben gleichgewichtig neben den >hochpoetischen< Passagen und dürfen nicht ausgeschieden werden. So ist z. B. auch das Valkyriatal i n Str. 30, das den Herausgebern ein Ärgernis war, integrierender Bestandteil des alten Wissens, auch wenn die Walküre Sculd i n Str. 20 bereits als Norne aufscheint und wenn Scögul i m folgenden Vers zu Geirscögul wird, was skaldischen Stileinfluß verrät, wie man aus den Hdkonarmdl weiß. Kostbares mythologisches Namenwissen steht über Logik und neuzeitlicher Ästhetik. I n Str. 28 w i r d die vera «¿¿-Situation beschworen. O d i n erheischt Wissen von der Seherin. I n der folgenden Strophe erfährt man, daß er ihr hringa oc men gibt, was eher an einen gelungenen Skaldenvortrag denken läßt. Dann heißt es von der Seherin: sd hon vitt oc um vitt of verold hveria . Das erinnert an Gylfaginning , Grímnismál und Skirnismaly w o sich das auf den Speziaistuhl in Odins Behausung bezieht: ok pd er Alföör sitr í pví saeti, pd sér hann of alla heima. Man fragt sich, ob nicht in der Völuspd in freiem Verfügen der Seherin etwas zugeschrieben wird, was auf O d i n zutrifft. Man könnte auch auf diesen Vers verzichten, er dient aber, über die Anlehnung an die Odinspose, der Intensivierung des M y t h o l o gischen. Man muß sich auch fragen, was sich der Sammler gedacht hat, als er z. B. die Strophen 21-27 aneinanderreihte, und wie die Leser sich dazu verhalten haben mögen. Die erzählerische Perspektive, die mit dem eddischen Versmaß gegeben ist und i n den Liedern, wenn auch manchmal nur i n bescheidenem Maße, zur Wirkung kommt, fehlt hier weitgehend. Dabei geht es u m reichen Stoff: Tötung der Gullveig, Wanenkrieg, Anekdote mit dem Riesenbaumeister, u m nur das Offenkundige zu nennen. Die Aussagen grenzen ans Kryptische - w o h l nicht nur für uns - und reduzieren sich auf die Häufung mythologischer Elemente, so als sollte mit grundsätzlich eddischer Metrik und Stilistik eine Anlehnung an skaldische Dichtweise angestrebt werden. Die sie/artige Repetition der Halbstrophe pd gengo regin öll [...], die man schon aus den Str. 6 und 9 kennt, w i r d aufgegriffen, dazu kommen die Wiederholungen in Str. 21, der zweimalige H i n weis auf fólcvígy Str. 21, 24, dann die geballte Ladung numinoser Vokabeln in der Str. 23. Alle Anverse sind davon erfüllt. Konnte und sollte man präzise unterscheiden zwischen regin öll, ginnheilog goö, aesir und godin öll? Handelt es sich nicht eher u m poetische Variationen zur Erreichung eines Gesamteffekts i m Vergegenwärtigen des Mythologischen? Dazu liegen auch die Inhalte der beiden letzten Abverse recht nahe beieinander: afrdö gialda ... gildi eiga. Der Sammler wollte w o h l auf diese vor alter Numinosität strotzende Strophe nicht

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verzichten, was über deren Alter nichts aussagt. M a n sollte sich hier an Heuslers Aussage über die Völuspd erinnern. Er sprach von Phantasieheidentum. 16 Statt sich i n mystischem Geraune zu verlieren, ist nüchterne Einschätzung am Platz. Aus den disjecta membra mythischer Uberlieferungen, die die Völuspd bietet, zeichnet sich ein Bild der alten Götter ab, dem es an Ernst nicht fehlt; es geht schließlich, wenn auch nur i n Andeutungen, u m Schicksal, Gold- und Eidbruch. Das könnte auf eine Übereinstimmung mit der Nibelungensage des zweiten Teils der Edda schließen lassen, die nicht zufällig zu sein braucht. Schon früh hat man Einfluß der Heldendichtung auf die Völuspd konstatiert. U m so erstaunlicher ist es dann, daß i n den anschließenden einzelnen Götterliedern ein völlig anderer Ton angeschlagen wird. N i c h t nur das Thema Wissenerfragen w i r d i n den anschließenden drei Odindichtungen auf ganz andere Weise dargestellt, sondern es geht i n den folgenden Texten u m heitere Götteranekdoten. Daß diese lockeren Göttergeschichten so viel Raum einnehmen, könnte ein Fingerzeig sein für die Einstellung des hochmittelalterlichen Sammlers, einerseits das Interesse am Wissen u m seriöse Seiten der Götterwelt als Teil der Vorzeit präsent zu halten, es zugleich aber i m Anekdotischen als grundsätzlich entschärft vorzuführen. Tragik i n heldenepischen Deutungsansätzen der Götterschicksale und breit ausgeführte unterhaltsame Versnovellen würden zusammen als Elemente für die Deutung der Göttervorzeit i n Anspruch genommen und versucht, auf diese Weise diese Vorzeit i n die Vergangenheitsbilder des mittelalterlichen Island einzubringen. Den Stellenwert der Völuspd innerhalb der Sammlung genau bestimmen zu wollen, hätte vielleicht sogar den Sammler überfordert. Der Hinweis auf die neue Erde und den Mächtigen, Str. 59 und 65, rundet schließlich ab und gibt dem Alten, bei all seiner Unvollkommenheit, über den möglicherweise christlich-typologischen Denkansatz eine versöhnliche Note. I n den Havamal w i r d Wissen ausgebreitet, wobei i n die Äußerungen des >Hohen< biblische Weisheiten und antikes Spruchwissen i n den Komplex Vorzeit-frteöi eingegangen sind. 1 7 Das mochte mit dazu beitragen, diese Kunde über die Vorzeit als nützlich erscheinen zu lassen, so daß eine radikale Abwer16 Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung. Nachdruck der 2. Ausgabe (Darmstadt 1957), 191: »Das zweite Menschalter nach dem Ubertritt [ . . . ] war ein möglicher Saatboden für die merkwürdige Schöpfung. Damals stand Island dem Vaterglauben fern und nah genug, daß die Völuspa mit ihrem Phantasieheidentum entstehen konnte«. Man behindert eine sachgerechte Berurteilung der Völuspa, wenn man sie mit Genzmer auf eine Stufe stellt mit Dantes Divina comedia. Die Edda, übertragen von Felix Genzmer (Düsseldorf 1956), 16. 17 Dazu die einschlägigen Arbeiten Klaus von Sees; s. o. Anmk. 2 den Beitrag Bjarne Fidjestols.

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tung dieser Zeit kein Ziel sein konnte. Wie sehr dem Sammler daran lag, Kunde über die Vorzeit als wertvolle fraöi zu empfehlen und aus verschiedenen Quellen dafür geeignetes Material heranzuziehen, aufzubereiten und in die Vorzeit hinein zu verlagern, läßt sich auch an der Exposition der Vafprüönismal erkennen. D o r t äußert sich O d i n selbst über seine Haltung: forvitni mikla qveö ec mer d fornom stöfum. O d i n wird, anachronistisch, zum eifrigen fraöimadr nach A r t des Sammlers eddischer Dichtung. Die 55 Strophen strotzen denn auch vor Vokabular aus dem Sinnbezirk des Wissens. Leitmotivische Fügungen unterstreichen das: segöu pat ..., allz pik froöan kveöa . . . , oder fjölö ec för. M i t der Zählung bis hin zur 12. Frage an den Riesen erhält der Text schematisch-formelhaften Charakter, was die poetische Substanz reduziert und das Lehrhafte betont. Die Einbettung der Wissenserfragung i n einen Wettstreit mit dem Kopf als Einsatz müßte eigentlich für Dramatik sorgen, hat aber, abgesehen vom Hinweis feigom munni, Str. 55, keine Bedeutung. Man denkt an die Gylfaginning, w o es ebenfalls heißt, at hann komi eigi heill üt, nema hann se frööari, es aber nicht einmal zu einem Wettstreit kommt, und schließlich der Spuk mit einem Schlag verschwindet. Die Situation in den Vafprüönismal erinnert auch an den Männervergleich. O b südliche Einflüsse aus Lehr- und Streitgespräch vorliegen, bleibe offen. Aus der vorletzten - nicht der letzten! - Frage Odins, die sich auf seine eigene Todesart bezieht, Str. 52, zu schließen, das Lied sei endzeitlich orientiert, w o r i n überhaupt der Schlüssel zum Verständnis der Sammlung liege, geht nicht an. Auch Frigg denkt nur an das mala oröum, Str. 4, und der Dichter beteuert: för pa Oöinn at freista oröspeki, Str. 5. A m Anfang zeigt sich O d i n begierig nach fornom stöfum y am Schluß nimmt der Riese, der sich geschlagen geben muß, für sich in Anspruch, über forna stafi zu verfügen. Man befindet sich in Gesellschaft mit den goömdlugrHm y von denen am Schluß der Hymiskviöa die Rede ist, Str. 38. 1 8 Wie Dichter und Sammler verwenden auch O d i n und der Riese die typischen Vorzeitsignale, z. B. Str. 55: niemand könne wissen hvat pu (= Odin) iärdaga sagöir ieyra synil Ansätze zur Wissensdichtung, die es in der Uberlieferung gegeben haben wird, wurden zu Perspektiven der darzustellenden Vergangenheit gemacht, und die Interessen der frööir menn des Hochmittelalters mit denen der Götter und Riesen ineinandergeschoben wie die Zeitperspektive auch. I n den Grimnismdl bietet der Sammler Vorzeitkunde in einer Variante dar, i n der die dichterische Gestaltung sich nahezu völlig auflöst in der Aufzählung mythologischen Wissens. Den Text poetisch aufwerten zu wollen, weil man darin den Niederschlag schamanistischer Ekstasen - O d i n zwischen zwei Feu18

Dazu: Klaus von See/Beatrice La Farge/Eva Picard / I l o n a Priebe/Katja Schulz,

Kommentar zu den Liedern der Edda: Götterlieder,

Bd. 2 (Heidelberg 1997), 359.

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ern - sehen könnte, mag religionsgeschichtlich interessant sein, hilft aber über den trocken aufzählenden Ton nicht hinweg. M i t Str. 3 versinkt auch der epische Rahmen und taucht erst Str. 51 wieder auf. Die Spannung zwischen O d i n und Frigg - man denke an die Stelle bei Paulus Diakonus - tritt ganz i n den Hintergrund. Das Ausbreiten mythologischen Wissens verbindet sich i n den Götterliedern mit der Tendenz zur Gestaltung unterhaltsamer Episoden. Wie weit und ob das i n die heidnische Zeit zurückreicht, ist nicht zu entwirren. Die vorliegenden Texte w i r d man am ehesten als Produkte der Zeit ab dem 11. Jahrhundert betrachten können. Die obenerwähnte Episode von König Harald und den Skalden ist bezeichnend für den Umgang mit dem Mythos u m diese Zeit. Das eine oder andere Götterlied ist auch als Versuch zu sehen, unter Auswertung verschiedener Traditionen die alte Götterwelt auszugestalten. I n dem Bemühen der Sagas, die eigene isländische Vergangenheit darzustellen, liegt Vergleichbares vor. Dadurch, daß die Götter selbst ausgiebig zu Worte kommen, erreichte man ein hohes Maß an Verlebendigung und Authentizität. I n dem Anwachsen der Dialoglieder und Rückblicksgedichte i m Heldenliedteil der Edda kann man eine Parallelentwicklung dazu sehen. Ein besonders gelungenes Beispiel für hochmittelalterliche >Möblierung< der Götter-Vorzeit bietet die prymskviöa.

E. O . Sveinsson hielt sie für ein authen-

tisches Produkt der heidnischen Zeit, Jan de Vries setzt sie spät an. E i n alter Mythos mag ja zugrundeliegen, doch kommt es, wie H . M . Heinrichs feststellt, darauf an, was der vorliegende Text dem Leser vorführt. 1 9 Wenn es dem K o m pilator darum gegangen wäre, sich der Götterwelt mit dem gehörigen Ernst zu nähern, hätte er, gerade gegen Schluß dieses Teils der Sammlung, nicht zur prymskviöa

greifen dürfen. Was mit den Völuspa tiefernst beginnt, erhält ein

burleskes Ende. Die vorangehende Lokasenna u. a. stimmen darauf ein. I n den Götterliedern werden die Götter sozusagen live vorgeführt. I n 32 Strophen geht es ohne Umschweife v o m Verlust des Hammers zu dessen Wiedergewinnung. Der Verlust des Hammers wäre für die Götter eine Katastrophe. M a n würde das Lied aber mißverstehen, wollte man eine seriöse endzeitliche Sicht hineindeuten. Wer so wie dieser Dichter mit dem Verlust des Hammers verfährt, hat mit Endzeit und Tragik nichts i m Sinn; von einer Dämonisierung der alten Götterwelt ist man aber ebenso weit entfernt. Etwa 50 Erzählversen stehen über 60 Redeverse gegenüber. N u r das Nötigste w i r d gerafft i n den Erzählversen mitgeteilt. Wo das germanische Heldenlied, 19

Zu «den Götterliedern (Skirnismal,

Harbardsliöd,

Hymiskvida,

Lokasenna, prymsk-

viöa) jetzt den vorzüglichen Kommentar, s. o. A n m k . 18. John L i n d o w »prymskviöa,

Myth and Mythology«, in: Germanic Studies in Honor of Anatoly Liberman, hg. K. G. Gobiirsch, M . B. Mayou, M . Taylor (Odense 1997), 203-213.

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laut Heusler, von Gipfel zu Gipfel stürmt, reihen sich hier die Aussagen meist stakkatoartig aneinander, hüpft die Darstellung gleichsam kurzatmig von Stein zu Stein. Ansätze zu Ausgestaltungen finden sich an bestimmten Stellen, wobei darauf zu achten ist, was das besondere Interesse des Dichters auf sich ziehen kann. So etwa die Ausstaffierung Thors, dessen unglaubliche Freßlust, die Reaktion des liebestollen Riesen. Die humoristische Perspektive kann da voll zur Geltung kommen. Die prymskviöa ist ein gelungenes sekundäres Produkt, das sich den alten Göttern genauso unbefangen nähert wie König Harald und sein Skalde und später Snorri Sturluson. Über den Hergang des Hammerdiebstahls erfährt man nichts, ebensowenig darüber, wieso sogleich der Riese J)rymr verdächtigt wird. Statt dessen erhält man, eine Strophe füllend, ein einprägsames Bild des erzürnten Thor, der w i l d u m sich greift, als er nach dem Erwachen den Hammer vermißt. Es kündigt sich ein gut angelegtes amüsantes Spiel an, dessen Darbietungsweise besondere Beachtung verdient. Einige Beobachtungen zum Einsatz der dichterischen M i t tel. Die Nennung Thors, Vingpörr am Beginn und die skaldische Umschreibung Iaröar burr am Schluß, rahmen die Strophe ein. Die Endreime können hier kein Zufallsprodukt mehr sein, sie gehen zu sehr ins Ohr: vacnaöi/sacnaöi; hrista/ dyja. Der zweite Vers weist auch keinen richtigen Stabreim auf - stns... sacnaöi - was den Effekt des Endreims verstärkt. Auffällig ist auch die Repetition nam at in der dritten Langzeile. Repetitionen dieser A r t - keine Formeln i m Sinn der oral formulaic theory - sind Indizien dafür, daß, i m Verein mit anderen Erscheinungen, die altgermanische Langzeilentradition auf Island einem dichtungstechnischen Veränderungsprozeß unterworfen wurde, der mit dem Aufkommen der Skaldik zu tun haben dürfte. I n der prymskviöa scheinen diese Veränderungen besonders weit gediehen zu sein. I n den ersten 12 Strophen erscheint viermal der Vers oc hann pat oröa allz fyrst um qvaö. Weitere Wiederholungen: Flö pa Loki, Str. 5 und 9; gengo peir... Str. 3 und 12; Hefir pü erindi... Hefi ec erfiöi, Str. 10 und 11. Das wäre leicht fortzusetzen. Die alte Stabreimtechnik mit ihren BetonungsVerhältnissen und der Respektierung der Hierarchie der Wortarten verliert in diesem Text weitgehend an Verbindlichkeit. Dazu kommen die vielen überkreuzten Stäbe, worauf der neue Eddakommentar immer wieder und systematisch hinweist. Das Balladenhafte, ebenfalls eine neuere Erscheinung, ist nicht weniger wichtig. Es finden sich auch Aussageweisen, die manieristisch anmuten, z. B. die parallel gebauten antithetischen Wendungen Str. 5, 3-6: unz fyr ütan kom äsa garöa / oc fyr innan kom iötna heima. Manche Parallelismen erinnern an biblischen Sprachgebrauch, etwa Str. 4: po mynda ec gefa per; pött ör gulli voeri / oc po selia at vjeri ör silfri. Ähnlich Str. 6: greyiom sinom gullbönd snöri / oc mörom sinom mön iafnaöi; auch Str. 32 wäre zu nennen: hon scell um hlaut fyr scillinga /enn högg hamars fyr hringa fiölö.

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Hervorzuheben sind auch die Zitate, die bei der heiterburlesken Orientierung des Textes ins Gewicht fallen. I n der prymskviöa meist den gebenden Teil zu sehen, wie Vertreter der älteren Forschung meinten, ist w o h l verfehlt; die Richtung ist umzukehren. So gibt es Anleihen bei der Völuspa. Es heißt prymr sat d hangt, Str. 6, vom Riesen Eggt>er, Vsp. Str. 42 w i r d dasselbe ausgesagt. Beiden Riesen gemeinsam ist auch die Ästhetisierung: dort schlägt er die Harfe, hier kämmt er seine Luxustiere. Wenn dann J>rymr den A n k ö m m l i n g L o k i fragt, Str. 6: Hvat er meöasom, hvat er mep dlfom, so ist das Völuspäzitat unüberhörbar; dort situationsgemäß als bedrängende Frage vor dem Weltuntergang, wovon i n der prymskviöa keine Rede sein kann. K o m i k durch Deplaziertheit. Statt u m Weltuntergang geht es u m Hammerdiebstahl zum Zweck der Erwerbung einer Braut. Nach Lokis Rückkehr, Str. 14, w i r d erneut auf die Völuspa, dort Str. 9, 23, 25, angespielt: Senn voro ¿esir allir ä pingi. Dazu kommt eine Übereinstimmung mit der Einleitungsstrophe zu Baldrs draumar. Diese Übereinstimmungen - weitere wären anzuführen - können nicht durch den Hinweis, daß vergleichbare Situationen eben ähnliche Formulierungen hervorbringen, entwertet werden. Vor allem in bezug auf die Völuspa liegt bewußter Einsatz von Zitaten vor, der eine distanzierte Haltung gegenüber dieser Tradition voraussetzt. Gemeinsamkeiten mit der Lokasenna, einem besonders despektierlichen Text, erweitern die Basis für diese Haltung. Erwähnt sei noch, daß der Riese, wie er von der Ankunft der vermeintlichen Braut erfährt, Str. 22, reagiert wie O d i n zu Beginn der Eiriksmäl: standiö upp iötna ok sträiö he cd. Daß pymr die Aufgeforderten iötna nennt, spricht nicht für den primären Charakter des Textes; auch die Bezeichnung des Riesen als pursa dröttinn ist pretiös und sekundär. A u f die Hauptattraktion des Liedes, die gelungene Verkleidungskomödie, braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. Ein Produkt aus altheidnischer Zeit ist das kaum, und was für ein Mythos dahinterstehen mag, ist für den vorliegenden Text unwichtig. Die alte Götterwelt ist literarisches Spielmaterial geworden, was nicht abwertend zu verstehen ist. I n zwei Liedern, auf die noch hingewiesen sei, w i r d das ebenfalls auf überraschende Weise vorgeführt, i n Hdbarözlioö und Alvissmal. Aus religionsgeschichtlicher Sicht ist man auf die Harbarözlioö mit deren Konfrontation von Thor und O d i n keineswegs gefaßt. Das Lied mutet an wie eine Amplifikation dessen, was die eingangs erwähnte Anekdote über König Harald und den Skalden berichtet. D o r t soll ein menschliches Geschehen, der Streit zweier Handwerker, ins Mythische und Heroische stilisiert werden, hier ist es umgekehrt. Die Götter Thor und O d i n - Vater und Sohn - stehen einander gegenüber wie ein Landstreicher dem Fährmann. Der Skalde Jsjööolfr faßte den Eindruck jeweils i n einer Strophe ins Bild, das eddische Lied handelt in knapp 60 Strophen den Männervergleich i m Dialog ab. Daß zwischen einem Wanderer und einem Fährmann ein Wortwechsel aufkommen konnte, liegt i n

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der Natur der Sache; man kennt das aus dem Nibelungenlied und, nicht ausgeführt, auch aus dem Waltharius. Die Anwendung dieses Musters auf Thor und O d i n liegt jedoch keineswegs nahe. Die Rolle des unruhigen Wanderers ist übrigens eher O d i n auf den Leib geschrieben als Thor. Geraten da in der Spätzeit bestimmte Merkmale der Götter ins Rutschen? Neben der Wissensdichtung, die die eddischen Götterlieder überschwemmt und auch in die Heldenlieder eindrang, gewinnt bei den Götterliedern das Agonale Bedeutung. Es dürfte durch die Skaldendichtung gefördert worden sein. I n den Vafprüönismdl verbindet es sich mit dem Ausbreiten von Wissen, die Lokasenna bietet eine Variante mit gezielten Schmähungen in Form einer Asenschmutzwäsche; in den Hdrbarözlioö dominiert der Männervergleich, bei dem Thor den kürzeren zieht. Für besonders alt sollte man das Lied nicht halten. Entscheidend ist die literarische Verfügbarkeit der alten Götter, Sagen und Mythen, die eben in der Schreibezeit zusätzlichen Auftrieb gewonnen haben wird. Man hat an diesem Lied vielfach die stilistische Nachlässigkeit gerügt, statt darin ein Indiz für grundsätzliche Verschiebungen i m metrischen Gefüge zu sehen, die nicht zuletzt auf den Einfluß der Skaldik zurückzuführen sein dürften. Thor ist unterwegs; auf die Deutung von heiman sei nicht weiter eingegangen, der Eddakommentar verzeichnet das Nötige. Es scheint, daß für den späten Bearbeiter das feststehende itinerarium Thors - i austrvegi! - nicht mehr unbedingt verbindlich war, so wie man auch aus dem sonst herumschweifenden O d i n den Fährmann machen konnte. Zwar behauptet Thor zweimal, St. 23 und 29, er sei austr gewesen, was seinem üblichen Betätigungsfeld entspricht, doch Str. 30 sagt O d i n von sich dasselbe, allerdings nicht, u m dort Riesen auszurotten, sondern u m lasziven Abenteuern nachzugehen. Grenzen verwischen sich, und manches w i r d vertauschbar. Str. 26 könnte man, wie auch Magnus Olsen bemerkt, in der Lokasenna ansiedeln, desgleichen Thors Drohung, dem Lästerer mit dem Hammer auf den Leib zu rücken. 2 0 Aus diesen Querverbindungen zwischen Liedern ergeben sich Konsequenzen für die Beurteilung der eddischen Texte überhaupt, auch für die Heldenlieder. O d i n nützt Abenteuer Thors z. B. bei Utgaröaloki, wie dieser bei Snorri heißt, zur Schmähung aus und scheut vor Derbheiten nicht zurück: hvarki pü pa poröir... hniöse ne fisal Der Riese, in dessen Handschuh sich Thor versteckt, heißt hier Fjalarr, bei Snorri Skrymir. Auch Namen büßen also ihre Festigkeit ein. I m Männervergleich erklärt Odin, daß ihm die Gefallenen zugehörig seien und zwar die Fürsten, während pörr d pruela kyn y Str. 24. Thor

20

Magnus Olsen, Edda-og skaldekvad.

(Oslo 1960), 40.

Forarbeider

til kommentar; I: Hdrbarösljöö

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

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müßte da eigentlich merken, mit wem er es zu tun hat; ein Anzeichen dafür, daß weniger für den Gesprächspartner als für das Publikum gedichtet ist. Man vermißt bei diesem Text eine Strukturierung des Streitgesprächs. So erscheint die Drohung mit dem Hammer nicht effektvoll am Ende, sondern w i r d bereits früher >verbrauchtaufgeklärtkorrekte< Verse gibt, desgleichen haben sich die BetonungsVerhältnisse beträchtlich verschoben. Ein Festhalten an den zwei Hebungen pro Halbvers ist vielfach kaum noch möglich; das betrifft vor allem die Anverse. So z. B. Str. 2/6: vil ec fliötliga finna Gripi. Dazu stabt da das Adverb mit dem Verb, und der gewichtige Eigenname Gripir geht leer aus. Ahnlich hört sich der A n vers Str. 10/2 heldr horscliga . . . an oder Str. 3/6 enn Hiördis er. Fünfmal setzt dann der Dichter einen Verstyp ein, leicht variiert, der wiederum zeigt, daß die Hierarchie der Wortarten nicht mehr die Regel zu sein braucht: Str. 2/1, 3/1, 8/ 1,10/1, 47/5. So staben i n Str. 8/1 gegn und gern Segöu, gegn konungr, gerr enn ec spyria. De Vries zitiert Str. 10/1 Segöu, itr konungr; ¿ettingi mer... als abschreckendes Beispiel. 27 Auch Häufung von Stäben ist zu erwägen, z. B. Str. 2/ 2: mun sä gramr viö mic ganga at mala (Stab: g und m). Variablen Einsatz von Verstypen bieten auch die Str. 2/5 und 4/2, w o maör ökunnigr einmal den A b vers füllt, das andere M a l auf beide Halbverse verteilt erscheint: Her er maör üti, ökuör kominn. A u f die >normal< stabende Langzeile Str. 9/1 Fyrst muntu y fylkir; föör um hefna kann der Vers oc Eylima allz harms reca folgen, w o man weder mit dem Stab noch mit den Hebungen zurechtkommt. M a n w i r d aber stilistisch >entschädigt< durch bewußte Parallelfügung mit Amplifikation: föör entspricht dann der volle Eigenname des Großvaters Eylimi, und das bloße hefna erhält Ergänzung i m volleren allz harms recal Das Nebeneinander von hefna und reca ist ebenfalls zu beachten. Weitere Parallelismen wären: Str. 6/1: mala namo oc mart hiala, oder Str. 7/6: itr äliti oc i oröum spacr. Hingewiesen sei auch auf die Möglichkeit, A t t r i b u t und Substantiv auseinanderzureißen, Str. 1/6: sä er fastri raör foldo oc pegnom. Str. 9/5 f. wäre auch heranzuziehen: pü munt haröa Hundings sono snialla, fella [...]. Der Dichter baut zu Beginn eine einladende Kulisse auf: Ankunft Sigurds bei Gripir, freundlicher Empfang durch Geitir. Der positive Eindruck verstärkt sich, wenn Gripir auf Sigurds Frage unvermittelt die Unvergleichlichkeit des Fragenden hervorhebt, Str. 7. Dies w i r d zu einem Leitmotiv, Str. 23 und 41, und gipfelt in der abschließenden Würdigung, Str. 51. Damit ist für die folgenden Lieder ein wichtiger Akzent gesetzt. I m Gegensatz zu Haimerl, der von

27 Jan de Vries, Altnordische Literaturgeschichte, Philologie 16 (2. Aufl., Berlin 1967), 156.

*

Bd. I I , Grundriß der germanischen

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Sigurds Schuldbewußtsein und Bußfertigkeit spricht, kann ich nur das betonte Bemühen erkennen, Sigurd massiv zu entlasten. 28 Der Betrug an Brynhild, der einen häßlichen Flecken auf Sigurds Schild darstellen könnte - noch i m Nibelungenlied, freilich i n den Hintergrund gedrängt, bleibt da manches fragwürdig - w i r d von Gripir mit auffälligem Ubereifer ausschließlich auf die Machenschaften der Grimhildr zurückgeführt, Str. 31, 33, 35, 51. Der Vergessenheitstrank w i r d nicht direkt erwähnt, ist aber Str. 31 mitgedacht. Unmittelbar auf die Str. 41, w o r i n Sigurd seine Betroffenheit über den Betrug an Brynhild ausdrückt, folgt Gripirs Rühmung des vorbildlichen Verhaltens Sigurds. Man w i r d darin einen Hinweis daraus sehen dürfen, daß dieser späte Text, der vielleicht sogar, aus welchen Quellen auch immer, erst für die Sammlung zurechtgedichtet wurde, für deren Rezipienten gedacht war, wie Harris vorschlägt. 29 Daß Dichter und Sammler eine derart massive Interpretationshilfe für nötig hielten, läßt vermuten, daß es auch i m hochmittelalterlichen Island eine >Nibelungendiskussion< gegeben hat - man denke an die Handschrift C des Nibelungenliedes! - , bei der es u. a. auch u m unterschiedliche Bewertungen dieser heroischen Vergangenheit gegangen sein dürfte. Der Dichter legt sich die Fragen Sigurds zunächst so zurecht, daß Negatives ausgeschlossen erscheint, Str. 8. Gleich darauf w i r d Sigurds Frage nach seinen Taten auf so auffallende Weise formuliert, daß das Unvergleichliche der Tötung Fäfnirs notwendig daraus hervorgeht, Str. 10. Dann w i r d gezeigt, daß Sigurd sich mit den Aussagen über die hellen Seiten seiner Zukunft nicht zufrieden gibt, obgleich Gripir den Anschein erweckt, er wisse nicht mehr weiter. Sigurd schreckt also auch vor dunklen Seiten nicht zurück, erhält aber sogleich die Versicherung, daß sein Leben untadelig sein werde, Str. 23. Schließlich muß er erfahren, daß seine angeheirateten Verwandten ihn töten werden, worauf die abschließende Rühmung erfolgt. Sigurd bedankt sich und nimmt Abschied. Nebenbei erwähnt, der vorzeitliche Held Sigurd erscheint in der einleitenden Zukunftserfragung bei Gripir in einem anderen Licht als der vorzeitliche Gott O d i n bei der völva. Was Sigurd in dieser Wissensdichtung ohne Groll als unabweisbares Schicksal auf sich nimmt, Str. 53 munat scöpom vinna, ist dann bei den letzten Helden aus der Sippe düsteres Geschehen geworden, das sich auch unausweichlich vollzieht. Dazwischen liegen Schuld und Heillosigkeit, die seit Sigurds Tod die Handlung bestimmen. Der Untergang der Gudrunssöhne ist das letzte Glied in der Unheilskette. Diese Kausalität kann man als sagahaftes Element verstehen, 28

Edgar Haimerl, Verständnisperspektiven

der eddischen Heldenlieder im 13. Jahrhun-

dert, Göppinger Arbeiten zur Germanistik 567 (Göppingen 1992), 79 ff. Die eddischen Lieder werden zu religiösen Traktaten umfunktioniert! 29

S. o. A n m . 24, 348.

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

37

als eine islandisierende Aufwertung der alten Heldenwelt, die i n der betont positiven Einschätzung Sigurds ihren Ansatz hat. Die Voraussagen Gripirs über Gudrun und Brynhild werden in den Fäfnismdl erneut aufgegriffen, was unterstreicht, welche Bedeutung der Sammler diesen Beziehungen beimißt. Bemerkenswert ist auch, daß es nun die Vögel sind, denen diese Prophezeiungen zugeschrieben werden. Man erwartet ja an dieser Stelle nur die situationsbezogenen Angaben über das hinterlistige Verhalten Regins. Der überschüssige Einblick in die weitere Zukunft ist w o h l später Zusatz, der zum Konzept des Sammlers paßt. Auch die Sprechweise w i r d eine andere. Das situationsgemäße Sprechen der Vögel in der dritten Person, Str. 32 ff., weicht nun der Du-Anrede, Str. 40 ff. Zwei Strophen beziehen sich auf Gudrun, drei auf Sigrdrifa. Dabei erreicht die Poetisierung eine beachtliche Dichte, die der Völuspä nicht nachsteht und zu der Gripirs Aussagen sich nicht aufschwingen. So wird, Str. 40, die herrliche Erscheinung der prächtigen Maid gerühmt - gulli gadda - was gesteigert dann in der Einleitungsstrophe des zweiten Gudrunliedes wiederkehrt; i m H i n b l i c k auf Sigurd w i r d königliches Verhalten beschworen. N o c h eindrucksvoller ist das einleitende Bild in Str. 41 mit den groenar brautir. Man betritt damit kostbares Terrain und denkt an die Hakonarmäl und deren groena heima goöa oder an die Völuspa, Str. 59. Man konstatiert eine bewußte Anhebung des Stilniveaus i n Verbindung mit Sigurd und Gudrun, was auch zu verstehen ist als Bemühen, die eddische Dichtung aufzuwerten und punktuell der Kunst der Skaldik anzunähern. Der Sammler wollte mittels der spät anzusetzenden und darum in H i n b l i c k auf das Kommende besonders aussagekräftigen Gripisspä einen positiven Vorzeitakzent setzen, der i m weiteren Verlauf der Sammlung immer wieder durchschlägt. Die dann in diesen Liedern sich ausbreitende, man darf sagen, typische Vorzeitdüsternis kann und soll dadurch freilich nicht beseitigt werden. Diese Vorzeit weist also eine Spannung auf zwischen hell und dunkel, was für unser Verständnis der eddischen Lieder wichtig sein dürfte. N o c h i m zweiten Gudrunlied kommt es zu einer ungewöhnlichen Rühmung Sigurds, wobei sogar biblische Bilder aufgeboten werden, was mit germanischen Ereignisliedern natürlich nichts zu tun hat. 3 0 Das alles ist von anderer Tonalität als die punktuelle Rühmung Gunnars bei der Hortverweigerung oder die Bewunderung für den heroischen Widerstand in den Atlamäl. Dieses Insistieren eines Isländers auf die Einmaligkeit Sigurds ist nicht so selbstverständlich; es übersteigt das bei diesem Stoff zu Erwartende. Der südliche Held Sigurd w i r d i n extremer Weise ausgezeichnet: munat matri maör ä mold koma und solar stötl Der eddische Sigurd w i r d auch als einziger unter den alten Helden mit dem Erfragen und Er30

Dazu Klaus von See, Germanische Heldensage. Stoffe,

Einführung

(Frankfurt 1971), 40 f.

Probleme, Methoden. Eine

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fahren von Wissen verbunden, erhält somit also Anteil an einer unheroischen dichterischen Untergattung, die offenbar als hochwertig angesehenes Medium die ganze Sammlung prägte. N i c h t einmal der Beowulf, dem es an Bewunderern für die düstere Vorzeit keineswegs fehlt, kennt eine vergleichbare Verabsolutierung seines Helden, und das Nibelungenlied mit seiner fortschreitenden Konzentration auf Kriemhilt und Hagen akzentuiert grundsätzlich anders. Sieht man sich i m Norden nach Vergleichbarem um, so könnte man Eyvinds Häkonarmäl heranziehen oder Hallfreds Olafsdrdpa, w o r i n es heißt: Norör eru öll of oröin / auölönd at gram dauöan. Auch Sigvats Rühmung Olafs des Heiligen fällt einem hinsichtlich der Unvergleichbarkeit des Gerühmten ein. Nahe liegt auch eine markante Passage der Njdlssaga, die sich auf das Heldentum Gunnars von Hlidarendi bezieht. Einer der schließlich siegreichen Angreifer sagt: mikinn öldung höfu ver nü at velli lagit, ok hefir oss erfitt veitt, ok mun hans vorn uppi, meöan landit er byggt. Die beiden Olafs waren prominente christliche Herrscher, H ä k o n der Gute und Gunnarr dagegen gehörten noch ins ausgehende Heidentum, das somit durch diese herausragenden Gestalten eine Aufwertung erfuhr. M i t der ungewöhnlichen Betonung der Einmaligkeit Sigurds, wofür die Überlieferung natürlich Ansätze bot, wurde auch die fernere heroische Vergangenheit einer Aufwertung teilhaftig. Einmaligkeitsrühmungen finden sich bereits i n den Helgiliedern, die einerseits durch manche Motive wie auch durch das Zeitsignal am Beginn auf den mythologischen Teil zurückverweisen, andererseits das genealogische Vorspiel des zweiten Teils bilden; mit ihren Superlativen bereiten sie das Auftreten Sigurds vor. Sigurd, der sich, Str. 53, hochgemut von Gripir verabschiedet, hat das letzte Wort: sciliomc heilir! Munat scöpum vinna. Ohne Bitterkeit fügt er sich in sein Schicksal. I n den Fafnismal, Str. 10, äußert er sich i n ähnlicher Weise. M a n sollte dabei nicht nur >altgermanischen< Schicksalsglauben bemühen, vielmehr auch das Näherliegende, Isländische, bedenken, wie man es i n Sagas vorfindet. Die Schicksalsverfallenheit eines Gisli oder Grettir rührt uns freilich ungleich mehr an, doch, wie dem auch sei, der Vorzeitheld Sigurd w i r d in einen aktuellen isländischen Vorstellungshorizont einbezogen. Das ist nicht alles. Das erste Gudrunlied fügt eine bedeutsame Nuance zur Rühmung Sigurds hinzu. Gullrönd sagt zu der über Sigurds Leiche gebeugten Gudrun, Str. 17: yccrar vissa ec dstir mestar manna allra fyr mold ofan; unöir pü hvärki üti ne inni systir min nema hjä Siguröi. Es folgt Gudruns L o b der Einmaligkeit Sigurds, Str. 18: Svd var minn Sigurör hja sonom Giüka sem voeri geirlauer ör grast vaxinn eöa vRichtigkeit< kann dabei i n den Hintergrund treten. So wurde z. B. vermischt, was der Germanist sauber getrennt haben möchte: I n der 4. Str. w i r d berichtet, daß Gothormr mittels Spezialnahrung auf die Mordtat vorbereitet wird; aus einem alten südlichen Lied stammt das w o h l k a u m . 3 2 I n der Völsungasaga geht das der Ermordung Sigurds i m Bett voraus. I m Brot erfährt man aber, daß 31 Grundlegend dazu: Ulrike Sprenger, Die altnordische heroische Elegie, Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsbände 6 (Berlin 1992). Bei der Beurteilung des Heldenliedteils der Edda kann nicht nachdrücklich genug darauf verwiesen werden, daß solche kummervolle Frauentypen mit ihren Klagen überproportional vertreten sind. Das geht an die Substanz und ist nicht abzutun als unerwünschter Einfluß aus

Fremstoffliedern, chansons de toile u. a. 32

Snorri, Ynglingasaga Kap. 34, weiß Derartiges über Ingjaldr zu berichten.

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Sigurd i m Freien getötet wurde. A u f Gudruns Frage, w o denn Sigurd sei, antwortet Högni: sundr höfum Sigurd sveröi högginn. Dieses Entzweischlagen mit dem Schwert hat mit der Ermordung Sigurds, sei es i m Bett oder i m Wald, nichts zu tun, beschreibt aber genau den Tod, der Gothormr von Sigurds Händen ereilt. Ein Fehler des Abschreibers kann da nicht vorliegen, vielmehr geht es u m ein U m - und Weiterdichten und Neuzusammenfügen unter den isländischen Bedingungen, und da konnte man relativ frei mit den alten Stoffen umgehen. Das Ineinander von Motiven und Wendungen aus Nibelungentraditionen und Hunnenschlachtlied in der Atlakviöa, wovon später noch die Rede sein wird, weist in dieselbe Richtung. Die zweite Strophe des Fragments gibt den Grundton an, das Problem der Eide: Mer hefir Sigurör eiöa selda,

{>ä velti hann mic, allra eiöa

selda eiöa,

alla logna; er hann vera scyldi

einn fulltrui!

Dreimal fällt in dieser Strophe das Wort Eide. Z u Beginn mit ohrenfälliger Wiederholung und Kreuzlauf, wobei auch noch der endreimhafte Auslaut auf -a mitspielen dürfte. Es ist beachtlich, wie in dieser Strophe von Vers zu Vers mit stilistischen Mitteln auf die abschließende Aussage hingearbeitet wird, so daß kein Ausweichen mehr möglich ist. Die Fügung eiöa [... ] alla y i m zweiten Vers noch auf A n - und Abvers verteilt und ans Verb selia gebunden, füllt am Schluß den Anvers allra eiöa und ist nun abhängig von der nicht minder gewichtigen substantivischen Wendung einn fulltrui i m Abvers. Das negierte fulltrui korrespondiert dazu an derselben Stelle i m Vers mit alla logna. Durch den Stab einn w i r d Sigurd in den Mittelpunkt gerückt. Diese wirkungsvoll gebaute Strophe ist nicht altes Erbe, sondern eine Leistung mittelalterlicher Isländer; der fulltrui war den südlichen Vorstufen ebenfalls kaum bekannt. A u c h der Rabe, der die Unheilsatmosphäre verdichtet, w i r d mit seiner Botschaft einbezogen. So ein Rabe sitzt auch in der Helgakvida Hundingsbana auf einem Baum. D o r t freut er sich auf reiche Atzung, hier verkündet er den Mördern den Tod. Dabei werden erneut die Eide beschworen, ja sie werden gleichsam sogar zu einer todbringenden Macht: muno vigscä of viöa eiöarl Brynhildr beschuldigt dann Gunnarr des Eidbruchs und prophezeit, daß aus diesem Grund die ganze Sippe zugrunde gehen werde, Str. 16. Demgegenüber preist sie Sigurd als Hüter der Eide, Str. 18, was i n der einprägsamen Schwertmetaphorik gipfelt, Str. 19. Das trennende Schwert zwischen den beiden läßt natürlich an die Tristanmythe denken. Gewiß handelt es sich dabei u m ein internationales Motiv, doch die mittelalterliche Tristansage wurde dafür ein besonders mächtiges Medium. Die Annahme, man hätte i m Norden vor der Übersetzung des französischen Tristanromans nichts darüber gewußt, ist abzulehnen; schließlich hatte schon i m 12. Jahrhundert der Jarl Rögnvaldr über seinen Aufenthalt in Narbonne

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

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gute Kontakte mit dem Süden. Das trennende Schwert, bei Tristan Zeichen für List und Trug, w i r d bei Sigurd zum Symbol der Treue und Keuschheit. Das Grundmuster - Brautwerbung für einen anderen - ist hier wie dort gegeben. Für die Ausgestaltung älterer germanischer Überlieferungen aus isländischmittelalterlicher Sicht heraus sind Anregungen unterschiedlichster A r t zu berücksichtigen. Wenn Brynhild am Schluß der Skamma, Str. 68, erneut auf das trennende Schwert hinweist, ist die sprachliche Fügung anders, was gegen eine feste mündliche Tradition spricht. I m Brot ist die Wortgebung ungleich preziöser und bewußter stilisiert: Skaldischer Einfluß i n der Kenning benvön, gesuchte Wortstellung, die Antithese ütan/innan verbunden mit eldi/eitrdropom. Ein Echo aus einem alten Ereignislied ist also bei dieser Prunkstrophe, auf die es dem Sammler sicherlich ankam, nicht zu vernehmen. Daß alter Grundbestand i m Stofflichen vorliegt, hat nichts mit der konkreten dichterischen Verwirklichung und der Darbietung des Strophenmaterials zu tun. Die Abfolge der Strophen läßt z. B. verglichen mit der Gripispä zu wünschen übrig, was nicht allein auf den Kopisten zurückgehen wird. Hier ist bereits der Sammler gefordert, der offenbar zusammentrug, was ihm einschlägig vorkam und es ihm zu ermöglichen schien, eine ungefähre, vor allem aber beeindruckende Vorstellung vom Geschehen und den Reaktionen Betroffener zu vermitteln. A u f grelle Bilder und die Eindruckskraft einzelner Strophen - gleich welchen Alters und welcher Herkunft - kam es ihm dabei mehr an als auf das Herstellen eines stimmigen Zusammenhangs. M i t Str. 12 - Gunnars schlafloser Nacht und den Äußerungen Brynhilds - schwenkt die D i k t i o n der Strophen auf den zwischen Extremen schwankenden Stil der jungen Atlamäl ein: Parallelismen sollen die Aussage verstärken, Str. 13/1 fot nam at hroera, fiölö nam at spialla, dem einen Raben aus Str. 5 stehen nun Rabe und Adler gegenüber, Gunnarr selbst kann in skaldischer Manier zum herglötuör avancieren, sowie Brynhild in einer Dreierstufung über Brynhild, Buöla döttir zur dis Sciöldunga hochstilisiert wird. (Daß Str. 18 herglötuör auf Sigurd angewandt werden konnte, paßt zu dieser Stilistik!) Die i m Deutschen eingebürgerte Bezeichnung >Altes Sigurdlied< für diesen Text sollte man aufgeben. I n der handschriftlichen Überlieferung hat sie ohnehin keine Stütze, und die einzelnen Strophen und Strophengruppen bieten eine solche ebenfalls nicht. I n der Siguröarkviöa skamma legt der Sammler eine umfassende Variante der Sigurd-Brynhild-Thematik vor, nachdem bereits i m Brot ein einschlägiger Text i n die Sammlung aufgenommen worden war. Bei Atlakviöa und Atlamäl trifft man auf einen vergleichbaren Sachverhalt, auch was die jeweiligen Dimensionen der Texte betrifft. Wie ist diese >unökonomische< Verfahrensweise zu verstehen? Das Schicksal Sigurds und der Untergang der Burgunder haben nachweislich auch auf die Nordleute eine besondere Faszination ausgeübt. Das reicht aber w o h l picht aus, u m das Vorhandensein dieser Mehrfachversionen

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desselben Geschehens zu erklären. Ich frage mich schon seit einiger Zeit, ob da nicht ein Zusammenhang besteht mit der in der europäischen Literatur des M i t telalters stark ausgeprägten Neigung, dieselben Stoffe meist innerhalb enger zeitlicher Grenzen in mehrfach bearbeiteter Form festzuhalten. Man denke an die Ältere und Jüngere Judith in der Vorauer Handschrift, an die Folie Tristan de Berne oder Oxford, an die Bearbeitungen des Alexanderstoffes usw. A u f die möglichen geistigen Hintergründe bin ich an anderer Stelle eingegangen. 33 Hier mag der Hinweis auf dieses übergreifende Phänomen genügen, der der Eddasammlung einen weiteren mediävistischen Horizont eröffnen würde. Was die Siguröarkviöa skamma i n die germanische Vorzeit hineinträgt, ist ein Beitrag zur Anpassung alter Stoffe an die Vorstellungswelt der Isländer des Hochmittelalters. M i t dem einleitenden Zeitsignal dr var... w i r d programmatisch der Rahmen abgesteckt und ist die O p t i k eingestellt. Die Rühmung der Integrität Sigurds setzt sich fort. Die erste Strophe legt den Nachdruck auf die Eide, die zweite unterstreicht das Einvernehmen zwischen Sigurd und den Gjükisöhnen. Der Dichter geht frei mit dem Stoff um, wenn behauptet wird, man habe Sigurd und Gudrun große Schätze angeboten. Daß Sigurd i m Besitz des immensen Drachenhortes war, scheint vergessen zu sein bzw. w i r d zugunsten einer Umorientierung der Thematik unterschlagen. Dann w i r d Gunnars Werbung u m Brynhild angetippt; von einer fragwürdigen Rolle Sigurds erfährt man nichts. I n einem betonten Gegensatz dazu steht die vierte überlange Strophe, die vom keuschen Verhalten Sigurds handelt. Das Schildern von Handlung - Durchreiten des Flammenwalls, Reaktion des Pferdes, Gestaltentausch - tritt ganz zurück. A u c h die D i k t i o n dieser antippenden einleitenden Strophen ist bemerkenswert; sie dürfte bezeichnend sein für die späten Versuche, in älterer Manier zu dichten: Einerseits die erkennbare Absicht zur Stilisierung, andererseits eine damit verbundene Unbeholfenheit. Mehrfach hintereinander, jeweils i m Anvers, w i r d i n stereotyper Weise die Jugend eines der Beteiligten betont. Von Sigurd, der als seggr inn suöraeni bezeichnet wird, heißt es dann, daß er Gunnarr eine jungfräuliche Brynhild übergab. Dabei w i r d auch das Schwert erwähnt, das zwischen den beiden lag. Es kommt auch hier, wenn auch nur i m Ansatz und aus der Sicht des Erzählers, zu einer beschreibenden Verselbständigung dieser symbolträchtigen Waffe: sverö necqviö y mteki mälfän. Es folgt der Hinweis, daß Sigurd Brynhild ne kyssa geröi und auch die Umarmung mied. Sigurd also der makellose Vorzeitheld. Diese Ethisierung ist nicht selbstverständlich. Sie dürfte kaum eine wesentliche Perspektive der betreffenden altgermanischen Lieder gebildet haben; Hildebrandslied, Finnsburglied, die Jörmunrekstrophen der Ragnarsdrdpa, die Walderefragmente lassen keinen 33

Alois Wolf, Gottfried

stadt 1989), 35 ff.

von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde (Darm-

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

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anderen Schluß zu. N u r das Beowulfepos, auf eine umfassende Sicht der heroischen Vorzeit angelegt, insofern also kaum ein primäres sehr altes Zeugnis, stellt einen unvergleichlichen Helden in den Mittelpunkt. Da ein altnordisches Heldenopos fehlt, hätten demnach späte eddische Lieder diese Funktion übernommen und wären auch damit über den Horizont der alten Ereignislieder hinausgegangen. Die fünfte Strophe, mit der die andeutende Exposition zu Ende ist, enthält am Schluß noch einen wichtigen Fingerzeig, der am Ende der 7. Strophe wiederholt wird. Es ist der Hinweis auf die Nornen: grimmar uröir; liötar nornir. Auch darin w i r d man die betont mittelalterlich-antiquarisch orientierte Vorzeitkunde zu sehen haben und weniger uraltes Erbe. A m Schluß des Hamdirliedes w i r d das nochmals bestätigt. Schicksalsverfallenheit als Signatur der Vorzeit - so die Sicht der Spätzeit, was nicht heißt, daß dies der Vorzeit selbst fremd gewesen wäre. Die Stilistik der fünften Strophe läßt - wie auch andere Stellen an biblische Parallelfügungen denken: Hon ser at Ufi löst ne vissi / oc at aldrlagi ecco grand. Der Hinweis auf die Nornen gibt den unheilvollen Akzent. M i t der sechsten Strophe w i r d Brynhild i n Szene gesetzt und die Handlung beginnt. Brynhild w i r d bis zum Schluß die beherrschende Gestalt bleiben. Das Nibelungengeschehen erhält damit eine spezifische Wendung, w o r i n Umdeutungstendenz w i r k t ; das Nibelungenlied w i r d in dieser Hinsicht gegenteilig verfahren. Der Einsatz dieser Strophe ist bedeutsam. Eine typisch nordische Sichtweise kommt zur Geltung, wenn es von Brynhild heißt: ein sat hon üti. Diese Position kündigt Außergewöhnliches an. I n der Völnspd heißt es von der Seherin, Str. 28: ein sat hon üti! A u c h Sagas setzen diese vera «^'-Situation ein, man denke an Hallgerd in der Njäla vor der Tötung ihres ersten und zweiten Gemahls. Die Skamma befrachtet die Situation noch weiter, indem sie eine Brynhild vorführt, die ungestüm ihrem Wunsch Ausdruck verleiht, Sigurd zu besitzen; andernfalls sei sein Leben verwirkt. (Eöa svelti ist auf Sigurd zu beziehen, wie Str. 11 dann zeigt!) A u f diesen Gefühlsausbruch folgen das Bekenntnis der Reue und die Einsicht i n die ausweglose Lage. Das Eindringen in die menschliche Innenwelt erweist sich dabei als erzählerisches Hauptanliegen, was sich i m weiteren Verlauf verstärkt. Das Verb iörask setzt überdies christliches Seelenverständnis voraus. 3 4 Die Verwendung des Pluraldativs oss

34 Schon in ihrem Beitrag aus dem Jahr 1988 hat Ulrike Sprenger die radikale Veränderung i m Menschenbild herausgearbeitet, die eine ganze Reihe eddischer Lieder kennzeichnet und gezeigt, wie die Darstellung innerer Gebrochenheit, Artikulieren des Leidens, psychologisches Erfassen der Personen zu einem Hauptanliegen wird, das ohne die christlichen Einflüsse nicht denkbar wäre. Ulrike Sprenger, »Zum Ursprung der altnordischen heroischen Elegie«, in: Heinrich Beck (Hg.), Heldensage und Heldendichtung im Germanischen, Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 2 ( Berlin 1988), 245-289, hier 247ff.

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statt des zu erwartenden Duals occr y auf Sigurd und sie selbst bezogen, schließt auch Gunnarr und Gudrun i n Brynhilds leidvolle Einsicht ein. I n einem zweiten Einsatz, Str. 8, baut der Dichter die Situation der Str. 6 variiert und erläuternd nochmals auf. Der Abvers aptan hvern bzw. aptan dags deutet Gleichheit der Szene an, vorher statisch sitia üti y nun bewegt ganga innan. M i t der Annahme eines doppelten, der Intensivierung dienenden Einsatzes würde sich auch das Interpretationsproblem der Str. 6 und 8 lösen. A u c h i n der Völuspä hat man es i n Str. 1 und 28 mit einem doppelten Einsatz zu tun! Repetitionen, Doppeleinsätze, Ineinanderschieben unterschiedlichen Uberlieferungsgutes sind Merkmale eddischer Bearbeitungs- und Darbietungsweisen. Die Liebe zu Sigurd ist indirekt präsent i m Gedenken an die glücklichen Nächte, die Gudrun und Sigurd miteinander verbringen. Davon ausgeschlossen - verdeutlicht i m Kontrast ganga ä beö / ganga innan - draußen Brynhild illz umfyld , isa oc iöcla, was sich i n manchen Übersetzungen so darstellt, als sei sie auf die Gletscher hinausgewandert, w o z u dann auch noch grönländischer Ursprung der Dichtung behauptet wurde. Es kann sich aber nur u m einen H i n weis auf die innere Befindlichkeit Brynhilds handeln. Entgegen anderslautenden Deutungen sind isa und iöcla als Pluralgenetive aufzufassen und bilden Appositionen zu illz. Ulrike Sprenger hat auf die dahinterliegende geistliche Metaphorik aufmerksam gemacht, was literarhistorische Konsequenzen hat. 3 5 Das schon von Bugge erwogene Echo aus Ovids Metamorphosen

- auf Medea

bezogen - braucht deshalb nicht ausgeschlossen zu werden, da bekanntlich auch auf Island O v i d beliebte Klerikerlektüre war. Eine bislang noch nicht herangezogene Parallelstelle aus der Narzißfabel wäre ebenfalls zu bedenken. 3 6 M i t hoher Wahrscheinlichkeit tut sich also der literarische H o r i z o n t des europäischen Mittelalters auf. Die Eingangssituation, Str. 6-8, zeigt somit eine Brynhild, die innerlich aufgewühlt und zerrissen ist und i n die das Böse Einzug gehalten hat. Es ist das schon Teil der Psychologisierung, die sich vor allem i n den Reden äußern wird. Aber auch der Erzähler weiß, was die Gestalten fühlen und denken, z. B., Str. 13, Gunnarr. M a n fragt sich, wie es kommen konnte, daß i n den zur selben Zeit florierenden Sagas die Isländer sich eines streng objektiven Stils befleißigten und nur das von außen Erkennbare registrierten. Die Bearbeiter der alten Sagen i n der eddischen Dichtung drangen dagegen ungeniert ins Innere der 35 S. A n m k . 34, 268f.: » [ • • • ] Die Verwendung von glacies zur Charakterisierung des bösen Inneren eines Menschen findet sich schon bei Augustin [ . . . ] « 36

Narziß, von seinem Spiegelbild fasziniert, klagt dieses an: » [ . . . ] Or m'est avis que

je sais bien / Dont est! Unques mais n'en soi rien / Nés fu dedens une montagne / Es roces de terre griffaigne / U tos jors a et noif et glace«. Narcisus. Poème du 12e siècle , hg. M . M . Pelan und N . C. W. Spence, Publications de la faculté des lettres de l'université de Strasbourg (Paris 1964), V. 753 ff.

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Gestalten ein. Die altgermanische Dichtung dürfte da kaum vorgearbeitet haben. Hildebrandslied, Finnsburglied liefern wenig; dabei w i r d man diese paar Texte ohnehin nicht als ganz treue Spiegel des Altgermanischen ansehen dürfen. Das alte Ereignislied war aufgrund seiner Konzentration auf bestimmte Schwerpunkte einer nennenswerten Psychologisierung nicht förderlich. Ganz anders die skaldische Dichtung, zu deren Wesen der Ausdruck subjektiven Empfindens gehört. Man denke an so manche Strophe Hallfreds oder gar an Egils Sonatorrekl Die Psychologisierung in der Skamma steht in Verbindung mit der auch in den Atlamdl zu beobachtenden Tendenz, zerrüttete eheliche Beziehungen zu thematisieren. Der Erzähler läßt sich dabei auf Vielerlei ein und setzt neue Akzente; er sah darin w o h l die Berechtigung für seinen Versuch, die alte Fabel neu zu erzählen. So w i r d Brynhilds Erpressungstaktik gegenüber Gunnarr mit ihren Konsequenzen dargelegt, ab Str. 11. Die i m Brot, Str. 1, gegebene Begründung des Mordes an Sigurd tritt zurück. Die eddischen Bearbeiter scheuten sich nicht, mit den alten Stoffen zu schalten und zu walten. Die höhere Textkritik, durchdrungen von der Vorstellung eines edlen eddischen Urtextes, den es aus den Verderbnissen herauszuschälen gelte, und rasch bei der Hand mit massiven Eingriffen in die Überlieferung, verhinderte möglicherweise die Einsicht in Kompositionsmerkmale und Intentionen dieser wesenhaft späten Bearbeitungen als Werke sui generis. Laut Skamma Str. 11, soll Sigurd sterben, damit Gunnarr ödrom œdri ver dir. Man kann darin eine Nebenbegründung sehen, die den Machtfaktor ins Spiel bringt. Die Äußerung der Brynhild w i r d dann weiter aufgeladen. Str. 12 verlangt sie auch noch den Tod von Sigurds Sohn, bedient sich dabei sprichwörtlicher Redeweise und argumentiert brutal realpolitisch: scalat ala ülf ungan lengi. Das Darstellungsspektrum bei der Schilderung des Verhaltens alter Sagengestalten erweitert sich, was sich auch i n Nebensachen äußern kann. Wenn Gunnarr gesenkten Hauptes dasitzt, so erinnert das an Gebärden Karls in Chansons de geste oder an Artus i n Chrétiens Gralroman. Die Fügung sveip sinom hug, von Gering mit volvit cogitationes übersetzt, weist nicht auf alten Heldenliedstil. Dazu kommt, daß es zunächst heißt reiör varö Gunnarr. Das erwartet man auch nach einer hvöt. Doch statt einer gewaltsamen Reaktion Gunnars, wie sie einer hvöt gemäß wäre, erhält man einen nachdenklichen Gunnarr. Alte Hetzszenentypik löst sich auf. Zwei lange Strophen legen das Innere Gunnars bloß, Str. 13/14, worauf der Dialog mit Högni einsetzt. Zunächst geht es um Gunnars Liebe zu Brynhild, u m deren drohenden Verlust, doch dann ist, Str. 16, plötzlich vom Gold die Rede, worauf H ö g n i emphatisch auf die Eide hinweist, die sie beide an Sigurd binden. Das lenkt zurück zur ersten Strophe. Auch die Beziehung zum Brot ist zu beachten. Dort, Str. 2, beruft sich Gunnarr auf die Eide, die Sigurd ihm geschworen hat. Die Répétition mit Kreuzlauf - svarna eiöa / eiöa svarna wie ein Echo aus dem Brot selda eiöa /

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eiöa selda - kann als bewußte Verschiebung gedeutet werden und braucht keine stumpfsinnige Wiederholung zu sein. I n der Atlakviöa vertritt H ö g n i i m Rahmen des Heldentopos die Stimme der sapientia, nun die einer moralischen Instanz. Str. 19 der Skamma liest sich wie eine Abbreviatur der 3. Str. des Brot, w o r i n H ö g n i auf die Aufhetzung Gunnars durch Brynhild hinweist und dies mit der Eifersucht auf Gudrun begründet. Eine weitere Abbreviatur liegt in Str. 20 vor, verglichen mit Str. 4 des Brot, w o r i n Details der Präparierung Gothorms für den M o r d genannt werden. Wenn in der Skamma Sigurd i m Bett ermordet w i r d und nicht i m Wald, wie i m Brot, so wäre das vielleicht auch als Korrektur zu verstehen. I n der Skamma kommt es zu einer eindrucksvollen und bewußt so angelegten Amplifikation bei der Darstellung dessen, was auf Sigurds Tod folgt, Str. 24-71. Brynhild w i r d dabei zur Zentralfigur. Das weiß man, doch ist näher zuzusehen und festzuhalten, was aufgeboten w i r d bei der Schilderung des Verhaltens der Brynhild. Daraus ergeben sich Rückschlüsse auf das Vergangenheitsbild dieser Texte. Die vera «¿¿-Situation, Str. 6, ließ schon aufhorchen, dazu die gewiß nicht alten Metaphern, die davon künden, daß sich i m Innern Brynhilds das Böse auszubreiten beginnt. Die Aufhetzung zum Mord, ein altes Element, ist eingebettet in jüngere Selbstaussagen, Str. 10 ff. Als Stimme von außen kommt Högnis kurz angedeutete negative Beurteilung Brynhilds, Str. 19, hinzu, was sich in Str. 45 gesteigert wiederfindet, wie auch schon der sterbende Sigurd, Str. 27, Brynhild als die alleinige Urheberin allen Unheils bezeichnet. Ergänzt w i r d das durch die Einblicke, die man aus dem M u n d des Erzählers erhält. U m eine plumpe Abwertung Brynhilds geht es aber nicht. Erzähler bzw. Sammler ließen sich kaum von dem Bemühen leiten, die verschiedenen Facetten i m Verhalten der Brynhild zu einem stimmigen Gesamtbild zu vereinigen, eher lag ihnen daran, diese heroische Vorzeit anzureichern und aufzuladen, was der moderne Leser gelegentlich als unorganisch empfinden mag. Das Material für diese Aufladung der alten Sagen holte man sich aus unterschiedlichen Quellen, setzte sich mit den Sagenüberlieferungen auseinander und, wenn es sein mußte, über sie hinweg. Vor dem M o r d bezieht sich Gunnarr formalistisch darauf, daß Gothormr nicht durch Eid gebunden sei. Die oben erwähnte Repetition eiöa svarna / eiöa svarna vergegenwärtigt unbeholfen aber vernehmlich die Macht dieses Motivs. Die Ermordung selbst w i r d in zwei Versen abgetan, Sigurds Vergeltungshandlung mit dem chanson-de-gestehaften Entzweischlagen des Mörders beansprucht zwei Strophen, dann ist man bei der Wiedergabe der Reaktionen auf die Tat, die i n zwei sich steigernden Anläufen bewältigt werden. Das ganze Geschehen weist also eine aufsteigende Linie auf. Der erste Anlauf vollzieht sich in fünf Strophen. Er handelt von Sigurd und Gudrun, der zweite umfaßt 40 Strophen mit Brynhild i m Mittelpunkt, Gunnarr, H ö g n i und weiteres Personal

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treten hinzu. Ohne das kompositorische Bemühen des Dichters überbewerten zu wollen, ist doch ein bewußtes Gestaltungsprinzip nicht zu leugnen. Z u m ersten Anlauf: Str. 24 w i r d die Situation skizziert. Gudrun, die i m Blut ihres Gatten erwacht. Str. 25 und 29 bilden einen Rahmen, der von der Reaktion der Gudrun handelt und das typische Achtergewicht aufweist: Str. 25 ist nur v o m Zusammenschlagen der Hände die Rede, Str. 29 dagegen führt aus, wie die wilde Gestik der Gudrun drinnen i m Haus die Gefäße zum Erklirren bringt und die Gänse draußen zum Schreien. Dazu kommt noch das Zeugma: kona varp öndo, enn konungr fiörvi, ein in diesem Kontext etwas fragwürdiges literarisches Stilistikum. Innerhalb dieses Rahmens kann Sigurd zur Geltung kommen, wie er Gudrun tröstet und Brynhild beschuldigt, dazu sich rechtfertigt mit der Beteuerung, die Eide nicht gebrochen zu haben. I m Brot ist es Brynhild, die mit Pathos Sigurds Unschuld enthüllt. Diese Verteilung ist kaum Zufall, da in den folgenden 40 Strophen der Skamma Brynhild reichlich Gelegenheit gehabt hätte, Sigurds Unschuld zu beteuern; aber da kam es dem Dichter auf anderes an. Z u m zweiten Anlauf: Gudruns grelle Schmerzensäußerung, Str. 29, bringt Brynhild auf den Plan, Str. 30. Diese Strophe ist übrigens ein Beispiel für das Bemühen antiquarisch interessierter Dichter, auf >alte< Weise zu dichten, was meist nicht ohne linkische Schematik abgeht. Einleitend der Hinweis auf das Lachen der Brynhild, das man auch aus dem Brot oder einer gemeinsamen Quelle kennt; der zweite Vers - eino sinni of öllom hug - ist identisch! I m Kontrast dazu das schrille Weinen der Gudrun - giallan grat - was i m Brot fehlt, so daß sich diese Strophe der Skamma auch wie eine sachte Ergänzung des Brot anhört. Dieses Weinen weist außerdem zurück auf die Worte Sigurds in der 25. Str.: grätaöu Gudrun svä grimmliga, dazu kommt als bequemes Versfüllsel die simple Entsprechung Giüca dottur/Buöla dottir i m jeweiligen A b vers. I n der Laxdoelasaga und Gislasaga hat man Personen- und Konfliktkonstellationen erkennen können, die an die entsprechende Nibelungenproblematik erinnern. N u n handelt es sich bei K j a r t a n / G u d r u n und Gisli/fcorgrfmr u m historische Personen aus der isländischen Frühzeit, wie immer i m einzelnen die Sachlage gewesen sein mag. Die hochmittelalterlichen Isländer, für die die Sagaschicksale unbezweifelbare Wirklichkeit waren, konnten i n diesen Nibelungensagen frappierende Ähnlichkeiten feststellen. Sagawelt und altheroische Vorzeit - ar var alda - rückten über diese Problematik nahe zusammen, was vielleicht dazu beigetragen haben mag, daß i n den bearbeiteten und gesammelten eddischen Liedern diese Thematik besonders ausführlich behandelt wurde. Es wäre also nicht nur einseitig auf die Einwirkung heroischer Überlieferungen auf Sagaschicksale hinzuweisen, sondern auch die schon erwähnte Beeinflus-

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sung in der umgekehrten Richtung zu berücksichtigen; man befindet sich schließlich i n der Schreibezeit! M a n w i r d der Absicht des Dichters der Skamma gerecht werden, wenn man die 41 folgenden Strophen als sein Hauptanliegen betrachtet. Heldenliedhaftes Darstellen von Geschehen tritt zurück, neue Aspekte, literarische Gattungen und bestimmte Themen herrschen vor, woraus man sehen kann, wie man sich damals diese Vorzeit ausmalte. Die bereits erwähnte Psychologisierung vor allem i m Verhältnis der Eheleute zueinander erreicht z. B. i n der 42. Str. einen Höhepunkt, wenn es heißt, daß Gunnarr seine Gemahlin heftig umarmt, u m sie von ihrem unheilvollen Vorhaben abzubringen. Was Gunnarr hier erfolglos versucht, kündigt z. B. i n der Gislasaga t>orkels Gemahlin Asgerör zuversichtlich an, u m eine drohende Ehekrise abzuwenden: hugat hefi ek mer raö... er hlyöa mun ... leggja upp hendr um hals porkatli,

pat

er vit komum i rekkju?

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Die Skamma ist hier nahe bei der Sagawelt. Versuche, auf diese A r t ein tragisches Problem zu lösen, stammen nicht aus alten Nibelungensagen. Die i n Eddaliedern wuchernde Gattung des Rückblicks geht i n der Skamma über den daraus entwickelten Ausblick i n die Zukunft die Verbindung ein mit der nicht minder wuchernden Wissensdichtung. Ausgangspunkt ist der Dialog zwischen Gunnarr und Brynhild, Str. 31 ff., der auf Brynhilds Lachen über den Schmerz der Gudrun folgt. Dieses Lachen, i m Brot Str. 10 makabrer Triumph über die Rivalin, erhält in der Skamma eine unerwartete Wendung. Es erscheint losgelöst v o m Triumph und w i r d zum Vorzeichen für Brynhilds Tod. Das Thema von Brynhilds Tod gewinnt nun immer mehr an Bedeutung und zieht weitere sekundäre Themen an wie z. B. das der Geschwisterbindung zwischen Brynhild und A t l i , Str. 32. 3 8 Damit kann überdies, nicht ohne Gewaltsamkeit, eine weitere wichtige Gestalt eingeführt werden, die erst mit dem Burgundenuntergang auftreten sollte. Es geht offenbar u m eine möglichst massive Aufladung mit sagenhistorischen Reminiszenzen. Gunnarr entwirft dabei ein beeindruckend krasses Bild eines blutenden A t l i mit einer Brynhild, die die Wunden verbindet. Dieses Bild kann sich i m kleinen Rahmen verselbständigen. Der hypothetische Ausblick i n die Zukunft Atlis, der sagenhistorisch nicht gedeckt ist, ist auch als ein Nebeneffekt der Gattung Wissensdichtung zu sehen. I m A n schluß daran gibt Brynhild der Einbeziehung Atlis eine andere Wendung. Sie setzt Gunnars Voraussage eine andere entgegen, wonach A t l i über Gunnarr 37 Vestfiröinga javik 1943), 31.

sögur; hg. Björn K. J)örölfsson, Guöni Jönsson, Islenzk fornrit 6 (Reyk-

38 Etwa zeitgleich tritt i m Nibelungenepos die Geschwisterbindung als mächtiges neues Element in die alte Sagenproblematik ein; erkennbar bereits in der vierten Strophe und wirksam bis hin zu Giselhers Weigerung, Hagen auszuliefern, Str. 2106. Dazu: Alois Wolf, Heldensage und Epos, ScriptOralia 68 (Tübingen 1995), 305 ff. Auch darin wirken übergreifende Tendenzen.

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und H ö g n i die Oberhand behalten und sie überleben werde. Das verträgt sich nicht so recht mit dem Befund der Atlakviöa, paßt aber zu dem, was die piörekssaga berichtet. Die Dichter eddischer Lieder verfügten eben ziemlich frei über die alten Traditionen. Brynhild beginnt ihre Aussagen über Vergangenheit und Zukunft mit der festen Fügung segia mun ec per y Str. 34, was sich Str. 53 wiederholt und i m Schlußvers seine Beglaubigung findet, wenn es, Str. 71, abschließend heißt: satt eitt sagöac. Damit ist ein Aussagerahmen gegeben, der an die Wissenserfragung gemahnt, die man aus anderen eddischen Liedern kennt. Die an die völva angenäherte der Brynhild in Str. 6 würde das stützen. Was die völva für Odin, Gripir für Sigurd, wäre unter anderen Umständen Brynhild für Gunnarr. Die Dichter eddischer Lieder bauen in ihre Bearbeitungen alter Sagen und Lieder mittels der Gattung Wissensdichtung eine zweite Ebene ein, auf der die Beteiligten selbst i m Rückblick und in Vorschau Geschehnisse, Personen und Motive in neuerer Sicht darlegen. Diese Verlagerung der Darstellung ereignisliedhafter Handlungen in die subjektive Perspektive einer beteiligten Person ist ein typischer Beitrag zur Aneignung dieser heroischen Vergangenheit durch die Isländer des Hochmittelalters. Karger und diskreter, weil durch die Stilistik der Sagaprosa begrenzt, aber grundsätzlich nicht so davon verschieden wären z. B. die Reaktionen Gislis in bezug auf seine eigene unheilvolle Zukunft. Die Aussagen der Brynhild lassen einige sagenhistorische Gegebenheiten in neuem Licht erscheinen, was für die isländische Verarbeitung der alten Sagen wichtig ist. Erwähnt seien die Details aus Brynhilds Verhältnis zu ihrem Bruder A t l i über Probleme bei ihrer möglichen Verehelichung - mit Anklingen des Walkürenthemas - und der Hinweis, daß Brynhild ihren Sinn auf Sigurds Schatz gerichtet habe. Das Nibelungengold w i r d damit gleichsam zur erzählerischen Manövriermasse. A m wichtigsten aber ist die Ausgestaltung des Todesthemas. Str. 31 klingt es an, Str. 40 greift es Brynhild selbst auf, wenn sie von ihrer moröför spricht, Str. 43/45 ist vom langen Weg die Rede. Str. 47 ist es dann so weit. Brynhild durchbohrt sich mit dem Schwert. Die Schilderung ihres Sterbens gewinnt fast opernhafte Dimensionen. Das weitere Personal w i r d einbezogen, Brynhild sagt die kommenden Ereignisse voraus bis hin zum Tod der Schwanhild und der Jonakerssöhne. Es folgen ihre Anordnungen, die die luxuriöse Bestattung betreffen mit dem Wunsch, durch das Schwert getrennt mit Sigurd auf dem Scheiterhaufen zu liegen. Ohne Hinweis auf die Eide; dessen bedarf es hier w o h l nicht mehr. Berichte über prunkvolle Fürstenbestattungen kennt man auch aus der Germania; i m Beowulf erfährt man gleich zweimal davon; die Archäologie bezeugt das ebenfalls. Auch mit Blick auf den Beowulf ist Anderssons mehr nebenbei geäußerte Vermutung, der Dichter der Skamma habe sich durch die Schilde4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

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rung von Didos Tod anregen lassen, ein Vorstoß von großer literarhistorischer Tragweite; 3 9 dies u m so mehr, als mit dem M o t i v vom trennenden Schwert die Nähe zur Tristansage evoziert wird, w o z u noch Anregungen kommen dürften, auf die Ulrike Sprenger aufmerksam gemacht hat. Freilich handelt es sich u m Indizien und nicht u m platte Beweise; man muß sich aber damit auseinandersetzen. Es fallen einem auch die großartigen Vorbereitungen Isoldens zu ihrem Selbstmordversuch i m Prosatristan ein, die ebenfalls ohne das Vorbild der D i d o nicht zu denken wären. Es gab also eine hochmittelalterliche Tendenz zur Ausgestaltung des Selbstmords einer bedeutenden Frauengestalt. Island würde sich da einreihen, indem möglicherweise versucht wurde, eine Gestalt der heroischen Vorzeit mittels der Dido-Analogie literarisch hochzustilisieren. Von christlicher Verurteilung des Selbstmordes, wie sie i m mittelalterlichen Eneasroman anzutreffen ist, findet sich nichts, was aber auch für den Prosatristan gilt. Man kann aus dem Stilisierungsversuch der Skamma die Absicht herauslesen, die alten und poetisch nicht so anspruchsvoll gestalteten Sagenüberlieferungen aufzuwerten und ihnen zwischen Skaldenkunst, hochwertiger Prosa und Ubersetzungsliteratur einen Platz zu sichern, damit sie nicht nur i n ihrer prestigereichen Stofflichkeit in der memoria lebten, sondern auch, überarbeitet, i n dichterischer Gestaltung Achtung genössen. A u f die Skamma folgt ein Text, der erneut u m den Tod der Brynhild kreist, dabei aber eine Einbettung i n typisch mythologische Vorstellungen vornimmt. Von der Aktualität der Mythologie zeugt ja auch die Tätigkeit Snorris. Uberlieferungen zu Baldrs Tod dürften Anregungen gegeben haben, wie schon das Insistieren auf Sigurds Unschuld die Annäherung an den schuldlosen Baldr erleichtert haben mag. Die riesenhafte Vettel, auf die Brynhild auf ihrer Fahrt stößt, dürfte angeregt worden sein durch die Hexe Jsökk, die sich weigerte, Baldr zu beweinen. M i t dem Dialoggedicht Helreiö Brynhildar w i r d das Spektrum der späten Bearbeitungen u m eine weitere Variante bereichert. Wiederum geht es u m Rechtfertigung und u m den Unschuldserweis für Sigurd. Das Lied nähert sich strukturell an die Wissensdichtung an, breitet Vorgeschichte und andere Informationen aus. Brynhild, nach ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen, ist unterwegs und trifft auf die Riesin. Die Situation des Erfragens von Wissen ist damit gegeben; sie erfährt aber hier eine seltsame Schieflage. Z u m einen, weil die Riesin mit dem Signalvers ef pik vita lystir eine Auskunft verbindet, über die Brynhild selbst ja verfügt, zum andern, weil es normalerweise nicht der A n kömmling ist, der wie hier Brynhild zweimal, Str. 5 und 6, selbst diesen Vers ebenfalls i n den M u n d n i m m t und Auskunft gibt. Der Dichter wollte vielleicht nur das Genus Wissenserfragung gleichsam als halbes Zitat präsent machen.

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Theodore M. Andersson, The Legend of Brynhild,

1980), 241.

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A u c h daraus geht hervor, welche Bedeutung diesem Genus i n der Edda zukommt. D e m damaligen Publikum sollten diese alten Stoffe alsfradi vermittelt und dazu das, was man u m diese Zeit für besonders wichtig gehalten haben mag, in unterschiedlicher Beleuchtung nahegebracht werden. Was von der Situation her Auskunft zu sein scheint, w i r d als Vorwurf aufgefaßt und zurückgewiesen. Es w i r k t also das moralische Moment der Rechtfertigung, zugleich kann etwas Vorgeschichtliches ausgebreitet werden - Brynhild als Walküre und ihr Zwist mit O d i n mit seinen Folgen. Str. 4 wirft die Riesin der Ankömmlingin vor, den Untergang der Gjükisöhne verursacht zu haben. Die Eddakommentare zu dieser Stelle verraten Hilflosigkeit, schließlich fallen Gunnarr und H ö g n i der Goldgier und Tücke Atlis zum Opfer, wie man dann aus Atlakviöa und Atlamdl erfährt/ und von einem Untergang der Burgunder unmittelbar nach Sigurds und Brynhilds Tod könne keine Rede sein. Statt aber hier die Chronologie und die sagenhistorische Logik zu sehr anzustrengen, sollte man darin einen weiteren Beleg dafür sehen, daß es in den Eddaliedern eben andere Kompositionsprinzipen gibt und daß man i m mittelalterlichen Island frei mit den alten Sagen, deren Personal, Themen und Problemen umgehen konnte. Der Hinweis auf den Untergang der Burgunder mit Brynhild als der Hauptschuldigen eröffnet dieser Frauengestalt potenziell zusätzlichen Handlungsraum bei der Ausdeutung alter Sagen und trägt dazu bei, die für die eddischen Lieder typische Tendenz zur überproportionalen Profilierung der Frauen nachhaltig zu verstärken und den Schwerpunkt zu den Frauen hin zu verschieben. Sigurd, pointiert gesagt, ist in der Edda vor allem u m Brynhilds und der Gudrun willen da; w o h l eine isländische Neuerung. Man denkt an so manche Frau, die der einen oder anderen Sage ihr Gepräge gibt. Brynhild bezeichnet als Ursache allen Unheils den Trug bei der Brautwerbung. Der U n tergang der Burgunder ist auch eine Fernwirkung davon, und insofern hat die Riesin nicht ganz unrecht, wenn sie es auch statt als zu erwartende Prophezeiung als Feststellung formuliert. Brynhild beschuldigt die Gjükisöhne, sie hätten sie astalausa und eiörofa gemacht. Astalauss ist bapax legomenon und aus dem M u n d der Brynhild ein Beleg für die >moderne< Macht der Minne, die in die alten Sagen Einzug hält. I m Nibelungenlied ist es die Minne der Kriemhilt, an der alles hängt. Der Brautwerbungstrug bewirke dann, erfährt man, daß Brynhild ihren Eid, nur dem Furchtlosesten, also Sigurd, zu gehören, brechen mußte. Damit fehlt auch in diesem Text das M o t i v des Eides nicht. Wie in der Skamma y Str. 38, w i r d auch hier Brynhild mit dem Drachenschatz in Verbindung gebracht, Str. 10, wobei man erfährt, daß O d i n i m Spiel ist, weil er festlegte, daß Brynhild dem Furchtlosesten, dem, der das Fäfnirgold besitze, begegnen sollte. Das verbindet sich mit dem Hinweis auf das Erwecken aus dem von O d i n verursachten Schlaf und auf den Ritt durch den Flammenwall. Die Str. 9/10, die von O d i n *

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handeln, sind ob ihrer fragwürdigen Kontamination zweier Bereiche, die nichts miteinander zu tun haben, ein stilistisch bemerkenswertes Spätprodukt. Bei dem Bemühen, die alte Sage und die Vorzeit aus antiquarisierender Sicht auszugestalten, ging es u m das Erzielen greller Effekte. Die aneinandergereihten Schilde, Str. 9, gehören zur Vorstellung von einem Wikingerschiff, Str. 3 ist ja auch vom Wikingerdasein der Brynhild die Rede, der Feuerwall, Str. 10, der das Haus umgibt, ist dagegen ein mythisches Requisit. Die Riesin erfährt dann, daß einer auf dem Pferd Grani vorbeiritt, der die Bedingungen erfüllte. Von diesem Reiter heißt es, er sei göör gullmidlandi, eine typisch skaldische Fürstenbezeichnung; er allein sei öllum betri, worauf er noch als vikingr Dana bezeichnet wird. Eine weitere Strophe w i r d auf die Schilderung des keuschen Beilagers verwendet. Es folgen die Nennung des Namens Sigurd und der Hinweis auf Gudruns andere Deutung des Beilagers, was den Werbungstrug ans Licht brachte. Der Streit der Frauen w i r d einfach vorausgesetzt. Brynhild schließt elegisch, indem sie einer pessimistischen Lebensweisheit Ausdruck verleiht der Mensch sei nun einmal zum Leiden geboren - und sich zum gemeinsamen nachirdischen Dasein mit Sigurd bekennt. Sodann fordert sie die Riesin auf zu versinken, was den Schlußvers der Völuspd anklingen läßt. D o r t Aussage der völva selbst - nü mun hon S0cqvaz y hier als Befehl - socstu gygiarkyn, Str. 14. Die Nähe zum Schlußvers der Skamma ist auch zu bedenken, wodurch perspektivische Gemeinsamkeiten entstehen, die ein Produkt der Spätzeit sind. Die ältere Eddaforschung schenkte Texten wie Helreiö Brynhildar wenig Aufmerksamkeit. Für die Bewertung der Edda als Liedersammlung sind aber Texte wie dieser oder die Skamma u. a., die nicht die unverdiente Aureole der sogenannten fünf alten Lieder aufweisen, von besonderem Wert, weil ins Auge springt, daß sie nicht nur irgendwie etwas sehr Altes durchschimmern lassen, sondern von einer eigenständigen regen Auseinandersetzung mit altem Erbe zeugen, die sich i m einmaligen kulturellen Umfeld des mittelalterlichen Islands abspielte. Die beiden Handlungsschwerpunkte des Sigurd-Teils, die an sich genügend Heldenliedsubstanz enthalten - Tötung des Drachen und Ermordung Sigurds - , büßen in der Edda stark an erzählerischem Eigengewicht ein, verwandeln sich in Bezugspunkte für anderes und werden überlagert, ja zum Teil aufgesogen durch die Schilderung der Reaktionen des sterbenden Drachen wie der betroffenen Frauen. M i t dem Einschwenken auf Wissensdichtung und Rückblicke wurde ein Eingriff in die Überlieferung vollzogen, der von älteren heroischen Ereignisliedern fränkisch-burgundischer Herkunft nur noch Reste erkennen läßt. Alter Sagenstoff wurde auf neues Niveau gebracht, w o m i t auch Ansätze zu neuen Funktionen dieser Stoffe i m literarischen Haushalt gegeben waren. Wissensdichtung hat mit Heldenlied nichts zu tun, und auch die Rückblicke sind nicht auf eine Stufe zu stellen mit Hildebrands knapper Rückschau oder

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Rolands Rekapitulation seines Kriegerdaseins; beides ist v o m Typ her der martialischen Prahlrede verbunden, wenn auch die Füllung sich geändert hat. I m Beowulf ist es nicht viel anders. Die i n der Edda vorliegende Ausrichtung auf Wissenserfragung und Rückblick bewirkte in der Sagenüberlieferung i m N o r den einen Qualitätssprung. Als >natürliches< Entwicklungsprojekt innerhalb mündlicher Uberlieferung kann man diese gravierenden Veränderungen nicht abtun. Offenbar bestand auf einer späten Stufe der Entwicklung eddischer Dichtung auf Island ein Interesse, auch diese Zweige der Vergangenheit, eben auch die beliebten alten Sigurdtraditionen darstellerisch aufzubereiten, u m diesen Stoffen unter Anlehnung an mittelalterliche Modelle wie Lehrgespräch und Elegie in der immer mehr an Ansehen gewinnenden Schriftkultur neue Seiten abzugewinnen und neue Attraktivität zu verleihen. Heldenepisches Geschehen wie die Tötung des Drachen w i r d zwischen zwei zeitliche Perspektiven - Zukunft mit Wissensdichtung, Vergangenheit mit elegischer Rückschau - eingespannt, kann damit neue Aussagekraft erhalten und zum Träger neuer Einsichten i n diese A r t von Vergangenheit werden. I n der Edda fehlt jeder Hinweis auf die dichterische Gestaltung der großen Tat Sigurds. N u r die verbindende Prosa verwendet ein paar Sätze auf dieses Geschehen. Man vergleiche damit die Schilderung des heroischen Kampfes des alten Beowulf mit dem Untier; vom Grendelkampf und dem Ringen mit Grendels Mutter zu schweigen. Die epische Großform des Beowulf ist nicht allein für diese ausführliche Schilderung des Kampfgeschehens verantwortlich, denn dem Hinweis des Sängers auf Sigmunds Drachenkampf kann man entnehmen, daß es epische Kurzlieder gegeben haben muß, die von Drachenkämpfen handelten. Es ist unwahrscheinlich, daß ausgerechnet auf Island, w o die reichste Überlieferung vorliegt, keine solchen Lieder vorhanden gewesen wären. M a n w i r d den Verzicht auf die Aufnahme derartiger Lieder nicht überbewerten dürfen, das Interesse des Sammlers galt aber eben nicht dem spektakulären Geschehen des Drachenkampfes. Das mag auch dadurch gefördert worden sein, daß Sigurds Drachenkampf irgendwann - w o h l in der Spätphase der Überlieferung - umgedeutet worden sein muß vom wilden direkten Kampf, siehe Beowulf in die risikolosere listige Tötung von unten. Die Eddasammlung erweckt den Eindruck, daß Fäfnir deshalb tödlich verwundet werden muß, damit seine Zunge gelöst w i r d und er Wissen ausbreiten kann. Die Informationen, die die Vögel dann beisteuern, vervollständigen diesen Eindruck. Die Spezialwaffe Gramr, von der nur der Prosaeinschub berichtet, die zur Tötung des Untiers nötig zu sein scheint, läßt noch an ältere Vorstellungen denken - siehe Beowulfs Kampf mit Grendels Mutter. Dieses Utensil ist aber in der Edda i m Grunde nur noch ein totes Motiv, da der entscheidende Stich von unten erfolgt, w o sich ohnehin die weiche Stelle in der Haut des Monsters befindet. Es sei auch angemerkt, daß die heroisierenden Äußerungen Sigurds nur bedingt zur Situation passen:

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Hugr mic hvatti... oc minn inn hvassi biörr; Str. 6, wogegen es zuvor i m Prosaeinschub hieß: eptir pat eggiaöi Reginn Sigurd at vega Fdfni. Sigurd wurde durch die veränderte Kampftechnik einem anderen heroischen Typ angenähert. Z u erwähnen ist auch die Tatsache, daß Sigurds Drachentötung nicht als befreiende Tat gefeiert wird. I m Beowulf w i r d gleich dreimal die Tötung eines Ungeheuers als Erlösung für gequälte und bedrohte Menschen hingestellt. Auch die höfischen Romane kennen diese primäre Funktion solcher Kämpfe. I n der Edda w i r d diese Funktion verengt zu einem sekundären Familienproblem, bei dem das Gold wichtiger ist als eine Gefahr, die vom Drachen ausgehen könnte. Sigurd, von Reginn aufgestachelt, macht sich also zum Handlanger des eigennützigen Schmieds. N u r in einem Nebensatz, in der verbindenden Prosa, ähnlich auch bei Snorri, klingt noch etwas von der größeren Bedrohung durch das Untier an, wenn es heißt: kann (= Fäfnir) dtti ¿egishialm, er öll qviqvindi hrcedduz viö. Dichterisch relevant w i r d das aber nicht mehr. Der Dialog zwischen Sigurd und dem sterbenden Drachen ist wichtiger als der Kampf selbst. Uber das geröstete Drachenherz erlangt Sigurd die Fähigkeit zum Verstehen der Vogelstimmen; auch eine A r t Wissenserwerb also! Die Funktion des Drachen besteht neben dem Ausbreiten von Wissen darin, den Goldhort ins Geschehen einzubringen. Sigurd w i r d dann auch nicht so sehr als Drachentöter gerühmt. Es geht vor allem u m den Schatz, u m die menschlichen Qualitäten und u m die bewahrten Eide. Daß i m Bewußtsein auch der Isländer die Drachentötung einen ganz hervorragenden Platz einnahm, läßt sich aber z. B. den Äußerungen des Abtes Nikoläs Bergson entnehmen, wenn er in seinem Reiseführer auf die Gnitaheide anspielt, w o Sigurd den Fafnir getötet habe. Auch Hagen i m Nibelungenlied, Str. 100, nennt die Drachentötung an erster Stelle. Die Edda scheint also eine Verlagerung des Schwerpunktes vorgenommen zu haben, die darauf schließen läßt, daß man sich die alten Stoffe zurechtlegen konnte, u m diese ferne Vorzeit auf bestimmte Weise darzustellen; ein Bemühen, das mutatis mutandis in Analogie zu sehen wäre zur literarischen >Bewältigung< der eigenen isländischen Frühzeit in den Sagas. I m zweiten Teil der Edda baut der Sammler nach dem Vorspiel der Helgilieder ein breitangelegtes dreifaches Untergangsszenarium auf, wodurch, wie erwähnt, ein Gegensatz zu den vorausgehenden einzelnen Götterliedern entsteht. Der Bogen reicht von Sigurds Tod über den Untergang der Burgunder bis zur Auslöschung der Sippe i m Tod Hamdirs und Sörlis i n der Halle Jörmunreks. Der Tod Sigurds ist das auslösende Geschehen, das aspektreich - v o m Wissenserfragen über Reste von Ereignisliedhaftem bis zu den Klagen der Frauen - abgehandelt wird, als eigener Gegenstand anspruchsvoller poetischer Darstellung aber, wie angemerkt, nicht ins Gewicht fällt. M i t dem Untergang der Burgunder verhält es sich anders, desgleichen mit der Schilderung der Umstände vom Tod Hamdirs und Sörlis. I n beiden Fällen ist die größere Nähe

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zum heroischen Ereignislied nicht zu übersehen, aber auch da geht es nicht einfach u m Verschriftlichen von Liedern altgermanischen Zuschnitts. Neues kommt hinzu. Die Perspektiven weiten und verschieben sich i m mittelalterlich isländischen Kontext, der spannungsvoll sehr Unterschiedliches zu fassen vermochte. A n den eddischen Schilderungen des Burgundenuntergangs zeigt sich deutlich das Bemühen, sich mit diesem kapitalen Geschehen der alten Sagen, dem schließlich noch das Nibelungenepos sein Dasein verdankt, auseinanderzusetzen. Dabei ergab sich die Möglichkeit, in diese alte Sagenvergangenheit einzudringen und Deutungen zu versuchen. Das unmittelbare Aufeinanderfolgen von Atlakviöa und Atlamäl, von zwei Texten wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, ist ein weiteres Indiz für die Variationsbreite bei der dichterischen Gestaltung des alten Sagenkerns, was bei der sonst zu beobachtenden beachtlichen Stabilität dieses Kerns, man denke an das Nibelungenlied, auffällt. Variationsbreite und relative Gestaltungsfreiheit i m Umgang mit alten Sagen i m Norden stellen die grundsätzliche Verbindlichkeit dieser Überlieferungen auf die Probe. Beide Texte nehmen Extrempositionen ein, zwischen denen alte Überlieferungen neu gedeutet und zusammengefügt erscheinen. I n der Handschrift sind sie über die gemeinsame Bezeichnung grönländisch miteinander verbunden, was das Trennende nur noch krasser hervortreten läßt. Die Forschung hält diese Bezeichnung meist nur für die Atlamäl für angemessen, so als müßte die offenbar als höherwertig eingestufte Atlakviöa v o m Makel des Grönländischen - wenn es denn Grönland sein muß und nicht die ähnlich lautende norwegische Provinz - befreit werden. A n diesem Spiel braucht man sich nicht zu beteiligen. Liedtitel sind ohnehin nicht auf die Goldwaage zu legen. So muß manchmal die erstgenannte Person für den Titel herhalten. Für die Atlakviöa würde man aus moderner Sicht eher eine andere Bezeichnung wählen, für die Atlamäl trifft sie w o h l besser zu. Es ist aber zu überlegen, ob in dieser Hinordnung auf A t l i nicht doch auch eine Tendenz erkennbar werden könnte, die auf eine Verschiebung der Schwerpunkte hinweist. I m Sigurdteil haben bereits die Frauen die Oberhand, und über sie ergeben sich Beziehungen zu A t l i , die nun voll zum Tragen kämen, u m i m ausführlich dargestellten Wortwechsel der Eheleute in den Atlamäl zu gipfeln. I n der Atlakviöa würde die nordische Umstilisierung ins Wikingerhafte und Königliche mit Gunnarr i m Zentrum ein Gegengewicht dazu bilden. Beide Texte zeugen von der Breite des Vergangenheitsbildes, das man sich i m Norden aus den Sagen zurechtzulegen wußte. I n der deutschen Forschung figuriert die Atlakviöa als das Alte Atlilied. I m H i n b l i c k auf die Atlamäl ist das w o h l richtig, doch sollte man der Suggestivkraft des Beiwortes alt nicht erliegen. Wie alt dieser Text ist, weiß man nicht. Es geht nicht an, dieses Lied, soweit es die sprachlichen Verhältnisse überhaupt

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erlaubten, mittels des Adjektivs alt möglichst nahe ans Altgermanische heranzuführen. Vor vielen Jahren hat Felix Genzmer den Nachweis zu erbringen versucht, daß die Atlakviöa ihre Stilistik dem Skalden ^orbjörn hornklofi verdanke und führt auch beachtliche Argumente dafür an. 4 0 Z u wenig bedacht wurde dabei, daß mit dieser Skaldisierung ein Abrücken vom altgermanischen Ereignislied zugunsten typisch nordischer Sehweisen verbunden war, das sich nicht in einer bloß stilistischen Überarbeitung erschöpfte. Der Skalde J)orbjörn scheint überdies in seinem Preislied auf Harald Schönhaar nach dessen Sieg im Hafrsfjörör auf eine Nibelungenszene anzuspielen, wenn er zur Illustration der Kampfeslust der Mannen Haralds sagt, diese Krieger hätten so gewaltig gerudert, daß die Ruderpflöcke zerbrachen. Man kennt das sogar noch als totes M o t i v aus dem Nibelungenlied. N u n weiß aber gerade die Atlakviöa nichts von einem Seeweg zu A t l i ; auf diesen spielen vielmehr die Atlamal an, die somit einer Tradition folgten, die dem Dichter des Preislieds auf Harald bekannt gewesen sein muß. (Die Entlehnungsrichtung kann man nicht umkehren.) Daß derselbe Skalde sich in seiner Bearbeitung der Nibelungensage, wie sie in der Atlakviöa vorliegt, für den Landweg entschieden haben sollte, leuchtet zunächst nicht ein. Dieses Ärgernis könnte aber an Gewicht verlieren, wenn man bedenkt, daß dem Norden der Bericht von Sigurds Tod ebenfalls i n zwei Varianten, Bett- bzw. Waldtod, verfügbar war, so daß der Skalde sich einmal der einen und ein anderes M a l der anderen Version zuwenden konnte. Heldensagen und Mythen waren nun einmal für die Skalden Fundgruben. Daß das Nibelungische i m Umfeld der norwegischen Königssippe Prestige besaß, zeigt abgesehen v o m Osebergschiff u. a. auch das Preislied auf Erich Blutaxt, in dem zwei prominente Nibelungenhelden aufgeboten werden. Das war freilich nicht auf den norwegischen H o f beschränkt, man denke nur an den Hättalykill des Jarl Rögnvaldr aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Als sicheres Ergebnis der Untersuchung Genzmers ist festzuhalten, daß in der Atlakviöa der alte Stoff eine skaldische Neubearbeitung erfahren hat, gleich, ob t>orbjörn oder ein Isländer späterer Zeit der Bearbeiter war. Die Annahme relevanter skaldischer Eingriffe könnte vielleicht ein Problem der Atlakviöa klären, das bislang in der Schwebe gehalten wurde und auf dessen Grundsätzlichkeit man nicht genug geachtet hat. Es ist das Problem, daß i n der Atlakviöa Elemente aus dem Hunnenschlachtlied, der Jörmunrekdichtung und den Sigurdliedern in die Darstellung des Burgunderuntergangs eingearbeitet wurden. Dem Kopisten all das zuschreiben zu wollen, geht nicht an, desgleichen kann man nicht sagenhistorisches Unwissen dafür heranziehen. Der Einsatz dieser unterschiedlichen Elemente setzt Bewußtsein voraus. Postuliert man nun einen freier über den

40 Felix Genzmer, Der Dichter der »Atlakviöa«, 97-134.

A r k i v för nordisk filologi 42 (1926),

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Stoff verfügenden Skalden als Bearbeiter, dem mehr an der erzielten dichterischen Wirkung als an sagenhistorischer Konsistenz gelegen war, so ergäben sich neue Einsichten in das Zustandekommen dieser Texte, in die möglichen Intentionen der Bearbeiter und hinsichtlich des Orts dieser Sagen in der isländischen memoria. Die ungewöhnlichen Freiheiten, die sich später ein Bearbeiter in den Atlamal der Sage gegenüber genommen hat, erschienen dann auch weniger isoliert und spektakulär, da beide Texte sich eben als Zeugnisse für Extrempositionen erweisen würden, die i m Laufe der Entwicklung i m Umgang mit alten Stoffen eingenommen werden konnten. Das alte germanische Sagenerbe würde sich somit als weitgehend eingeschmolzen in das neue isländische Umfeld herausstellen, das in hohem Maß durch die Skaldik und die aufstrebende Prosaliteratur geprägt war. Atlakviöa und Atlamal würden sich, bei zeitlicher Verschiebung, als originelle Versuche deuten lassen, neue dichterische Möglichkeiten dieser Stoffe auszuloten, was zugleich auch das Ende der alten Überlieferungen i m Sinne eines bloßen Tradierens bedeuten würde. So w i r d in der Atlakviöa poetisch kostbares Material - denn als solches wurde es gewertet - aus der Hlööskviöa eingesetzt: staöir Danpar, hris ip mara, Myrcviör. Diese Übereinstimmungen sind natürlich den Kommentatoren nicht entgangen; eine einigermaßen plausible Erklärung fehlt aber. So spricht Ursula Dronke i m H i n b l i c k auf Str. 5 von einem »patchwork of items influenced by the catalogue of Hlöörs demands« und zieht daraus den resignierten Schluß: »The original text cannot be salvaged«. 41 Man sieht, wie blockierend die fixe Idee von einem Urtext w i r k t ! Z u Str. 4 meint sie, einem reciter könnten die Verse aus der Hlööskviöa aus der Erinnerung hereingerutscht sein. Ich möchte annehmen, daß Dichter und interessierte Hörer wußten, was zu Nibelungendichtungen und was zum Hunnenschlachtlied gehörte. Man kannte die Stoffe, doch waren sie offenbar nicht tabu; man konnte sie für dichterische Zwecke ausschlachten, wie eben die Skalden aus Mythen und Sagen ihre Kenningar zusammensetzten. I n der Atlakviöa ging es aus kompositorischen Gründen u m eine extreme Stilisierung des Angebots bei der Schilderung der verräterischen Einladung. Der skaldische Bearbeiter war u m eine erdrückende Aufzählung bemüht und zog aus dem heldenepischen Umfeld alles Kostbare heran, damit Gunnars Selbstrühmung, die das noch überbietet, u m so eindrucksvoller würde und Gunnarr durch die Annahme der Einladung u m so königlicher erscheine, da er das Gebotene sem konungr scyldi, af moöi störom souverän zu ignorieren vermag. Beim Gold, das sich dann als besonders wichtig herausstellen wird, muß dabei sogar gegen alle sagenhistorische Logik die Gnitaheide herhalten, so als wäre sie i m Besitz Atlis. Über die Gnitaheide wußte man i m Norden gut Bescheid; ihr Auftauchen in Atlis Angebot hat poetische Funktion. Bei der 41

The poetic Edda. Volume I: Heroic poems, hg. Ursula Dronke (Oxford 1969), 50 f.

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Schilderung der Ankunft Gunnars und Högnis i m Lande Atlis, Str. 14, greift der Bearbeiter dann auf die Ermenrichsage zurück, u m die Unheilsatmosphäre zu verdichten. Man erfährt, daß Männer Atlis nach feindlichen Ankömmlingen Ausschau halten - was zu den Hamöismdl paßt - und gleich darauf heißt es, daß die Schwester den Herankommenden entgegengeht, was alter Nibelungenbestand ist, wie man aus dem Nibelungenlied weiß. Die >überflüssige< Aufzählung: sal... sleginn sessmeiöom, bundnom röndom, bleicom sciöldom ... dient der poetischen Aufladung wie zuvor bei Atlis Angebot und Gunnars Antwort. Diese Replik der einleitenden Szene bei Gunnarr treibt keine Handlung voran, vermittelt aber den großen visuellen Eindruck. Wenn dann, Str. 30, mit Nachdruck die Eide beschworen werden, die Gunnarr mit A t l i verbinden sollen, so ist das besser in Sigurdliedern zu Hause, i n denen auf die Eide verwiesen wird, die die Burgunder an Sigurd binden. Die poetische Wucht, die der bearbeitende Skalde mit diesen Zitaten aus anderen bekannten Dichtungen zu entfesseln vermag, bringt sagenhistorisch pedantische Einwände zum Schweigen. Diese Wucht erzeugt eine ungewöhnliche Hochspannung, die die Darstellung extrem königlichen Verhaltens antreibt. >Unökonomische< Wiederholungen steigern die poetische Wirkung und lassen rationale Überlegungen in den Hintergrund treten. Man denke an die zweigliedrigen Fügungen mit aringreypom, Str. 1, 3, 16. Die Darstellung des Burgundenuntergangs in der Atlakviöa konzentriert sich auf die Herausarbeitung des Königlichen und auf die Hochstilisierung der Frauengestalt Gudrun. Das Geschehen w i r d auf drei Szenen zusammengedrängt, großartige Gelageszenen, in denen i n aggressiver Vereinseitigung königliches Verhalten vorgeführt wird, faßbar in der Formel sem konungr scyldi. 42 Dieses königliche Verhalten ist ausschließlich auf Ruhm angelegt, was auch für die rächende Gudrun gilt. Gunnars Verhalten ist wie die Illustration zu der Äußerung zu König Magnus berfattr in Snorris Heimskringla: til froegöar skal konung hafa, ekki til langlifisl Man braucht also nicht einmal zu Harald Schönhaar und porbjörn zurückzugehen. Die isländischen Skalden fühlten sich Jahrhunderte hindurch immer wieder angezogen von den nordischen Königshöfen. Heroisierte Königsbilder der nordischen Geschichte konnten zurückprojiziert werden auf Königsgestalten alter Heldensagen, was dann wiederum zur Verstärkung der aktuellen Königspanegyrik beigetragen haben mag. So dürfte es sich bei der Atlakviöa nicht so sehr u m eine zerrüttete schriftliche Fixierung eines i n fernerer Vergangenheit entstandenen alten Atliliedes handeln, sondern eher u m ein bewußt stilisiertes, 42 Gerd Wolfgang Weber, »>Sem konungr skyldiSchützenhilfe< erhalten haben könnte. 4 4 Es fällt einem Harald Siguröarson ein, dessen fabulöse Reichtümer, die er auf seinen abenteuerlichen Zügen erbeutete, stimulierend auf Skalden wirken konnten. I m Bemühen, die heroische Nibelungenvorzeit in einem bestimmten Licht erscheinen zu lassen, konnte einer daran interessierten Gruppe eine fast pompöse Skaldisierung der alten Königsbilder nur gelegen kommen. Daß dann die Atlamäl ein ganz anderes Bild entwerfen, würde nur die Spannweite der dichterischen Bemühungen u m diese alten Sagen zeigen. Geradezu verdächtig ist mir i n letzter Zeit das Kernstück der Atlakviöa, die großangelegte Hortverweigerung, geworden. Daß hier alter Stoff vorliegt, ist klar, weniger klar ist, wie man die vorliegende hochgestochene Stilisierung deuten soll. Diese A r t der Heroisierung muß nicht unbedingt treues Echo alter Überlieferungen sein, sie orientiert sich eher an der grellen Heroik, die man in bestimmten Kreisen i m nordischen Mittelalter zusehends als Gütesiegel für angeblich typisch wikingerzeitliches Verhalten betrachtete. Man denke an die lärmende Heroik der spät anzusetzenden Krakumäl mit ihren hlajandi skal deyjal Die Str. 21-27 verwendet der Dichter auf die Schilderung der Szene. Das ist fast mehr als das, was das große Nibelungenepos dafür aufbietet. Die Festnahme Gunnars w i r d in zwei Versen abgetan, Högnis Kampfkraft in vier Versen umschrieben, wobei die keineswegs ereignisliedhafte sva skal-Formel, wie bei Gunnarr, Str. 9, 31, das Kommende einleitend und das Vorbildhafte betonend, 43

Klaus von See, »Hüskarla hvöt. Nochmals zum Alter der Bjarkamäl«, Speculum nor-

roenum. Norse Studies in Memory of G. Turville-Petre 44

(Odense 1981), 421-431.

So schreibt Vesteinn Olason über die Atlakviöa: »Kvaeöiö er ä allan hätt hiö besta falliö t i l aiö kveöa fyrir herkonung, hvort sem sä Fyrsti hefur veriö Haraldur härfagri eiöa einhver annar.«, in: tslenzkar bökmenntir, s. o. A n m . 24, 163. Haimerls Ansicht, s. o. A n m k . 28, 211, das 13 Jhdt. habe in Gunnars und Högnis Ritt zu A t l i ein Eilen zum Mart y r i u m gesehen und an Gunnarr gar Christushaftes erkannt, braucht man nicht zu widerlegen. Gottzmans juristisch-moralischen Haarspaltereien vermag ich ebenfalls nicht zu folgen. Carola L. Gottzmann, Das Alte Atlilied (Heidelberg 1973).

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eingesetzt wird. Gunnars Hortverweigerung, auf die alles abzielt, bedarf i n diesem Text einer exzessiv heroischen Haltung Högnis als Vorbereitung. Es kommt zu einer Kulmination heroischer Effekte. Vier Strophen hindurch beherrscht Högnis blutendes Herz die Szene. Grelle Grausamkeit, vielleicht auch von der Hagiographie beeinflußt, 4 5 w i r d überlagert von spätzeitlicher übersteigerter Wikingerheroik, wenn Gunnarr angesichts des bebenden Herzens des feigen H j a l l i das furchtlose Organ Högnis rühmt, das i h m dann auch prompt vorgesetzt wird. I m Lachen Högnis könnte erneut hagiographischer Einfluß - extremes Verachten von Schmerzen - spürbar sein, verbunden mit leicht hohler Wikingerheroik. Es k o m m t sehr auf das Vergegenwärtigen des Dinghaften, des blutenden Herzens und des scharfen Kurzschwertes, an. Das Zerdehnen der Syntax erinnert an skaldische Praxis. M a n verfolge die Linie Högna baldriöa

...

... syni. Die Wiederholungen verstärken das skaldische Verweilen bei

dem einen großen Eindruck. A u f dieser breiten szenischen Basis k o m m t es zur Äußerung der Hortverweigerung. Es geht u m das Gold. Für das vordergründige Verständnis würde Str. 26 als stilisierte sachliche Aussage genügen: Svä scaltu, A t l i , augom fiarri, sem munt meniom minom veriöa; er und einom mer öll u m fölgin hodd Niflunga: lifira nü Högni.

M i t Str. 28, die kurz die Vorbereitung der Exekution Gunnars andeutet, könnte es weitergehen. D o c h da kommt es zu der überschüssigen, überlangen Str. 27, w o r i n die Aussage sich zu einem sprachlichen Prunkstück von feierlich beschwörender Kraft wandelt: Ey var mer tyia, meöan viö tveir liföom, nü er mer engi, er ec einn lific; Rin scal räöa rögmälmi scatna, sü(ä?) in äskunna, arfi Niflunga, i veltanda vatni lysaz valbaugar, heldr enn ä höndom gull scini Huna börnom.

Die karge Feststellung lifira Högni w i r d aufgegriffen und i n den beiden einleitenden Versen amplifiziert, wobei die Antithese i m Abvers - viö tveir/ec die Pointierung verstärkt; vielleicht ist auch mit skaldischen Reimeffekten zu rechnen, wenn man die e-Anlaute i m zweiten Vers bedenkt. Hierauf wird, gleichsam zum Rang eines Zitates erhoben, die triumphierende Aussage wie ein Juwel aufgesetzt. Drei hochstilisierte Langverse umkreisen den endgültigen Zustand des Goldhortes, worauf i m höhnischen Schlußvers verdeutlicht wird,

45

Gerhard Eis, »Die Hortforderung«, (1957), 209-224.

Germanisch-romanische

Monatsschrift,

38

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61

w o z u der Goldhort nicht dienen kann und wird. Drei kostbare stabende U m schreibungen; jeweils i n den Abvers plaziert, lassen beim Goldhort verweilen; dem entsprechen in den Anversen die Umschreibungen für jene elementare Macht, der dieser H o r t nun anvertraut ist, den Rhein. I m Schlußvers, wirkungsvoll davon abgesetzt durch den jähen Stilwechsel von den hochgestochenen skaldischen Umschreibungen hin zur prosanahen Sprachebene, heißt es wieder statt rögmdlmr

skatna, arfr Niflunga,

valbaugar

einfach gull, nun i m

Anvers untergebracht, während i m Abvers der metrisch bedeutsame Eigenname Hunnen in verächtlicher Weise das Achtergewicht erhält. Die als wesenhaft dargestellte Verbindung zwischen dem als vorbildlich herausgehobenen König und dem G o l d dürfte i m Skaldischen eine weitere Stütze gefunden haben. I m Negativbild - keine Goldringe an den Armen der Hunnen - erscheint der König als der typische Ringspender, wie ihn die Skalden zu preisen pflegten. Dieser valbaugar-König

würde auch gut in die Zeit eines Jsormöör passen, wie

die Föstbraeörasage und Snorris Olafssaga ihn zeigen. Goldringe in Verbindung mit dem König sind freilich keine Erfindung nordischer Skalden; das H i l debrandslied kennt sie bereits als königliche Gabe par excellence. Ihre sprachlich-stilistische Präsenz i n der Atlakviöa

unterscheidet sich aber sehr stark

davon, und das Umfeld der nordischen Hofskalden liegt näher als altes germanisches Erbe. D e m hochstilisierten König entspricht die nicht minder hochstilisierte Frauengestalt Gudrun, die von der warnenden Schwester zur walkürenhaften Rächerin wird. A u c h da w i r d jüngere Übermalung der heroischen Vorzeit vorliegen, und skaldische Preislieder auf Harald, Erich und H ä k o n mögen anregend gewirkt haben. Das typisch nordische Einblenden des Walkürenhaften erfaßte über Helgi- und Sigurdlieder also auch die Darstellung v o m Burgundenuntergang. Der Bearbeiter der Atlakviöa,

der sich vor allem auf die Schaf-

fung der königlichen Hallenszenen konzentrierte

und die

Frauengestalt

Gudrun auf die Walküre hin dimensionierte, tat Letzteres nicht auf der Handlungsebene, sondern stilistisch mittels kostbarer skaldisch geprägter Wortgebung. Schon die älteren Kommentatoren haben darauf hingewiesen. Der Bearbeiter griff auf Darstellungsweisen zurück, die nicht altes Ereignisliederbe waren, wenn er sich entsprechende Wirkungen versprach. Die Atlamäl,

un-

gleich primitiver und stärker handlungsbezogen, lassen dann Gudrun tatsächlich i n ihrem Rückblick als Schlachtjungf rau auftreten. I n der gängigen Terminologie, so noch i m entsprechenden A r t i k e l i m neuen Hoops, w i r d die Atlakviöa als >Urlied< geführt, abgehoben von den Atlamäl, einem >Neuliedkorrekte< Verse, es k o m m t aber auf die zahlreichen

anderen Fälle an, w o ohne Rücksicht auf Rhythmik, Betonung und Hierarchie der Wortarten die Stäbe gesetzt werden. Wie schon an anderer Stelle angemerkt, dürfte durch das langgeübte Hinhören auf skaldische Dichtung das O h r der Isländer anders eingestellt worden sein und w i r d die alte Stabreimdichtung i n ihrer Verbindlichkeit Einbußen erlitten haben, wodurch sie auf neue Weise verfügbar wurde. M a n betrachte die s-Stäbe: Str. 1: seggir samkundo, sü var nytt fastom ... ok ipsama sonom Giüca, er vöro sannrdönir; sina pau Högni.

Str. 10: Sang föro siöan

Das stilistisch schwache Adverb siöan ist i n den

Atlamäl

vielfach stabtragend, ohne Ansatz i m Inhaltlichen. Weitere Beispiele für >bloß poetisierend dekorative< Stabsetzung ohne Stütze i m Gewicht der Aussage finden sich auf Schritt und Tritt. Z u dieser Stilistik gehört auch unangemessene Ausdrucksweise wie biört für Gudrun, Str. 11, was i n der Atlakviöa

sehr w o h l

am Platz ist, oder wenn gar von röc ragna die Rede ist, Str. 22, wie überhaupt dick aufgetragen werden kann z. B. i n der Doppelung der Todesart, Galgen plus Schlangengrube. Gespreizte Wortstellung gehört ebenfalls dazu wie lag ... oröa y Str. 3 oder sang ... sina, Str. 10, was auf skaldischen Einfluß zurückgehen dürfte, aber nicht unvereinbar ist mit der prosanahen Atmosphäre, die immer wieder entsteht. 49 Seit Klaus von See mit seiner Interpretation der Hamöismal, zu der man wie immer auch stehen mag, traditionelle Erstarrungen aufgebrochen hat, ist neuer Spielraum gewonnen. Die wörtlichen Übereinstimmungen ganzer Strophen zwischen Hamöismal und Guörünarhvöt z. B. zeugen von der unfesten Position einzelner Strophen und Strophenteile i n der Überlieferung und deren Verfügbarkeit. Teile liedhafter Traditionen konnten eingebettet werden i n neue 48

Dazu Alois Wolf, Heldensage und Epos, s. o. Anm. 38, 72 ff.

49

Anne Holtsmark, s. o. Anm. 47, definiert die Atlamdl als fornaldarsaga

im malahat-

tur. Dem kann man zum Teil zustimmen. Die Bedeutung des dichterischen Mediums kommt aber dabei - neben anderem - zu kurz. I n der Völsungasaga, zeitlich nicht so weit ab, lag eint fornaldarsaga zu diesem Stoff vor. Der Erzähler der Atlamdl entschied sich für das dichterische Medium. Diesem Versuch war keine Zukunft beschieden. Die Atlamdl, die sich von der Struktur des Ereignisliedes ablösten, näherten sich mit ihren 105 Strophen einem kürzeren Epos an. Dazu immer noch lesenswert: W. P. Ker, Epic and Romance.

Essays on Medieval Literature, Nachdruck (New York 1957), 146 ff. 5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

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Zusammenhänge. Dabei ging es vor allem darum, das Überlieferungsgut den grellen emotionalen Äußerungen der Frauengestalten unterzuordnen. Gudrun läuft dabei zusehends der Brynhild den Rang ab, w i r d aber teilweise nach deren Vorbild stilisiert. 5 0 Die Guörünarhvöt, die man zutreffender als Guörünarkviöa fiöröa bezeichnen sollte, schließt die Reihe der Gudrunlieder, die als sekundäre Produkte aus der Sage herausentwickelt wurden, ab. Die Einleitung ist wie in Analogie zu den Atlamdl angelegt. Beide Texte zielen auf das heillose der senna bzw. der samkunda ab. Gegenüber den Atlamdl ist öld durch ec ersetzt. Dieses frd ec könnte als Verschärfung gedeutet werden, der Superlativ sliörfengligsta würde zusätzlich das Unheilvolle pointieren. Es geht ja u m die endgültige Vernichtung der Sippe. Das Bezugszentrum ist tregi, Str. 1, das in tregliga, Str. 9 und in der Fügung tregnar iöir zu Beginn der Hamöismäl wiederkehrt. Der zweite Teil der Einleitungsstrophen der Guörünarhvöt wendet sich der Urheberin der Heillosigkeit zu, der Gudrun, die ihre Söhne aufstachelt zur Rache. Damit deutet sich auch eine Verlagerung der Verantwortlichkeit für das Unheil an, die Klaus von Sees Interpretation ergänzend stützen würde. Zwar ist natürlich die Ermordung Sigurds für das dann eintretende Unheil verantwortlich, doch das w i r d nun verdrängt durch die erbarmungslose Rachsucht der Gudrun, wie sie sich in ihrer hvöt äußert und von Hamdir dann auch kommentiert wird. Diese Texte vermitteln nicht so sehr Bewunderung für die Rachsucht dieser Frau. Man ist also nicht so weit ab von unserer Kriemhilt i m zweiten Teil des Nibelungenliedes. Eine etwa u m die gleiche Zeit stattfindende eigenartige Konvergenz zwischen dem kontinentaleuropäischen Großepos und diesen späten eddischen Texten, die von einer gesamtmittelalterlichen Befindlichkeit getragen sein muß. Die hvöt der Gudrun ist eine Folge des tregi. Die Stilisierung ist eindrucksvoll gedehnt. Das zweigliedrige Adjektiv haröhuguö füllt den Anvers und bereitet die Namensnennung i m letzten Halbvers vor. Die grimm orö in metrischer und semantischer Parallele zu haröhuguö legen das Erbarmungslose der Szene fest. Die Hetzszene bestimmt den ersten Teil des Textes bis Str. 8. Die typische Spannung zwischen der aufstachelnden Frau und der Reaktion der Aufzustachelnden w i r d deutlich. Der Text ist auch i m Verhältnis zur isländischen Literatur zu sehen und nicht nur als Zeugnis zur Jörmunreksage. Daß es i n der Germania zur Rache aufstachelnde Frauen gab, ist nicht zu leugnen, doch bei den eddischen Texten ist vor allem das isländische Umfeld zu bedenken. Dazu kommt das erhöhte Interesse an Frauengestalten. Daß zweimal hintereinander die hvöt der Gudrun dargestellt wird, zeugt weniger vom Ungeschick des Sammlers, sondern von der Bedeutung, die man ihr zuschrieb; Wiederholungen gehören ohnehin zur Darstellungsweise der Edda. Es ist bemer-

50

Dazu: Andersson, s. o. A n m . 39.

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

67

kenswert, daß für die christliche Njdlssaga des späten 13. Jahrhunderts die hvöt ein unverzichtbarer Bestandteil ihres Vergangenheitsbildes ist. A m Beispiel von Hallgerd, Berg]?6ra und Hildigunnr werden verschiedene Möglichkeiten abgesteckt. Einerseits Archaisieren der eigenen isländischen Vergangenheit und andererseits das Heranrücken eines uralten Sagenstoffes an derartige Vorstellungsweisen könnten einander bedingen. Da erst i m Norden, siehe Ragnarsdrapa, die Jörmunreksage mit dem Nibelungenstoff verbunden wurde, handelt es sich bei der hvöt der Gudrun nicht u m uraltes Erbe. Die hvöt der Hildigunnr in der Njäla weist beachtliche Gemeinsamkeiten mit der hvöt der Gudrun auf. Hildigunnr, an grimmleikr der Gudrun nicht nachstehend, hetzt ihren Vetter Flosi auf, Höskuld zu rächen, was - voraussehbar - die Vernichtung der Njälssippe und weiteres Unheil nach sich zieht. Flosi, wie Hamdir, ist sich des Unheils bewußt und spart nicht mit K r i t i k an der Hetzerin; er nennt sie sogar Monster! Ihrem Einfluß kann er sich aber ebensowenig entziehen, was sich bereits i n seiner großen Erregung ankündigt. Von Hamdir und Sörli heißt es ebenfalls, daß sie görvir at eiskra ör garöi gengo, Str. 11. Hier wie dort w i r d auch ein mächtiges Dingsymbol eingesetzt, das mit der Tötung zu tun hat. Bei Hildigunnr ist es das blutverkrustete Kleidungsstück des Erschlagenen, bei Gudrun sind es die Gotenhengste, die Schwanhild zerstampften und die mit unwiderstehlicher Eindringlichkeit beschworen werden. Das angeblich sehr alte Hamdirlied und die späte Njdlssaga rücken also zusammen. M i t Abhängigkeit des einen Textes v o m andern hat das nichts zu tun, w o h l aber mit der Perspektive, aus der man i m mittelalterlichen Island die Vergangenheit, eigene wie altgermanische, betrachten wollte. Das gellende Lachen der Gudrun, Str. 7, ist der Brynhild abgelauscht, die also auch i m Norden in Gudrun Konkurrenz erhält. A b Str. 9 dominiert das Bild der klagenden Gudrun i n der typischen Position der vor dem Haus Sitzenden. Ihre Klage gipfelt i m Wunsch, mit Sigurd auf dem Scheiterhaufen zu liegen, was erneut an Brynhild erinnert. Die Aufzählung ihrer Schicksalsschläge ist stark rhetorisiert und auch sagengeschichtlich gesehen spätzeitlich. Blicken w i r nochmals aufs Nibelungenlied. Hier wie dort werden aus den alten Sagen neue Zentren gebildet. I n der Edda gewinnt Gudrun immer mehr Bedeutung, i m Nibelungenlied tritt Prünhilt dann ganz zurück. D e m tregi der Guörünarhvöt würde der herzenjämer der Kriemhilt entsprechen. I m Nibelungenlied fehlen aber die elegischen Rückblicke, und es gibt auch keine Anzeichen für Hetzszenen, denn Kriemhilts Bemühen, Bloedelin aufzustacheln, läßt die typischen Merkmale der hvöt vermissen. M a n fragt sich, welche Rolle die hvöt i n der kontinentalgermanischen Tradition je gespielt hat. Die Hamöismdl schließen an mit der Wiederholung der hvöt. Der Text w i r d aus der Situation herausgesponnen, in der Gudrun sich i m zweiten Teil der Str. 9 der Guörünarhvöt befindet, ä tai, auf dem Vorplatz, w o sie ihr Schicksal beklagt. N u n , Str. 1 der Hamöismdl, sind i n ungewöhnlicher Verschiebung die 5*

68

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unpersönlichen tregnar iöir an Gudruns Stelle getreten, dazu w i r d i n gesuchter D i k t i o n auf Schmerz und Kummer als die zentralen Mächte hingewiesen. Ursula Dronke hält diese Strophe für eine »addition not only to the ancient lay but to the extant composite poem« und sieht darin »a baroque ornament over the porch of a building that has already suffered renovation«. 51 A u f diese renovation kommt es an; was es mit dem ancient lay w o h l auf sich hat? Die extreme Ausrichtung auf Leid und Unheil, das daraus erwächst, w i r d also zur Grundlage für die die Sammlung abschließende Bearbeitung älterer Sagen und Lieder. Man kann darin gleichsam die Rechtfertigung dafür sehen, daß diese Sagenlieder in die späte Sammlung aufgenommen wurden. Dazu kommt, daß der Sammler das Geschehen in ganz ferner Vorzeit angesiedelt wissen wollte. Er ging dabei nicht nur über die übliche Rhapsodenformel frä ec ..., die die Guörünarbvöt einleitet, hinaus, sondern verstärkte abschließend damit die ar var... Einbettung anderer Lieder. Die weitgehenden Übereinstimmungen zwischen Hamöismal und Guörünarbvöt werfen Fragen auf. Der Sammler konnte auf Dichtungen oder Strophengut zu bestimmten Themenkreisen zurückgreifen, hat dann ausgewählt und zusammengefügt, was ihm zur Illustration der Probleme besonders brauchbar erschien. So ist auch zu erwägen, ob er die Hamöismal nicht zurechtstilisierte, u m die Guörünarbvöt zu ergänzen, weiterzuführen und Verschiebungen vorzunehmen. I n dem Hamöismal fehlt Gudruns Rühmung ihrer Brüder, so daß die Str. 6 in der Luft hängt; die Guörünarbvöt, Str. 3, liefert das nötige Hintergrundwissen. I n der Str. 4 der Hamöismal geht Gudrun kurz auf die Situation ihrer Söhne ein, doch ohne Vorwürfe zu machen, denn nun geht es ihr u m ihre Klage über ihre Vereinsamung, Str. 5. M i t einem alten heroischen Ereignislied hat das w o h l wenig zu tun; man ist näher bei skaldischen Selbstaussagen, wie man sie z. B. aus Egils Sonatorrek kennt. I m Bild des kahlen Baumes und i n der Fügung vom pdttr aettar gibt es direkte Übereinstimmungen; die Priorität ist bei der Skaldik. Hamdir amplifiziert dann die Guörünarbvöt, indem er aus der dortigen Str. 4 zwei Strophen macht, Str. 6 und 7, und dabei jeweils zwei Langverse daraus zur Bildung des ersten helmings heranzieht. So können in diesen beiden Strophen der Hamöismal die zwei wichtigen Namen, der Högnis aus der Guörünarbvöt und der Gunnars, der dort fehlt, untergebracht werden. Desgleichen kann zweimal der ermordete Sigurd beschworen werden, jeweils in leicht variierter szenischer Einbettung: saztu d beö ... saztu yfir dauöom, wobei Letzteres an die pietänahe planctus-Gebärde erinnert. Auch die grausame Tötung der Etzelsöhne w i r d erwähnt; Sprichwörtliches unterstreicht die Aussage. Sörli kommt ebenfalls zu Wort, und auch da geht es u m Kummer und Leid und u m den eigenen Untergang, der bevorsteht. Aus all dem kann auf eine

51

Dronke, s. o. A n m . 41,182.

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

69

kritische Einstellung gegenüber der erbarmungslosen Racheideologie geschlossen werden. Leitwort ist grätal Erst allmählich scheint sich in den Hamöismäl das zugrundeliegende heroische Ereignislied mit seinem sicherlich auch älteren Strophengut aus diesen Zusammenhängen etwas zu lösen, doch auch da schiebt sich Unterschiedliches ineinander. Man kann das dem doppelten Einsatz glaumr var i höllo, Str. 18 und styrr varö i ranni, Str. 23, entnehmen. Das eine M a l w i r d ein Angriff bei Warnung des Betroffenen vorausgesetzt, das andere M a l geht es eher u m einen nächtlichen Überfall auf einen unvorbereiteten Jörmunrek, was an die Ragnarsdräpa denken läßt. Die Fügung styrr varö i ranni stimmt ja auch mit rösta varö i ranni der Ragnarsdräpa überein. Auch die Umschreibung der Namen der Gudrunsöhne ist fast identisch: Gjüka niöja ... Jönakrs sonum ... und in den Hamöismäl: hörn Giüca ... Ionakrs sono, Str. 21, 25. Die Ragnarsdräpa läßt den Angriff auf Jörmunrek in der Nacht stattfinden. 52 O b es auch andere Versionen gab, weiß man nicht. I n den Hamöismäl w i r d diese klare Situation, die in Str. 23 mit Anklängen an die Ragnarsdräpa nachwirkt, überlagert von der nun dominierenden Vorstellung, daß sich der Angriff i m Rahmen eines großen königlichen Gelages ereignete. Statt eines aus dem Schlaf gerissenen Jörmunrek sieht man einen prahlenden König in einer großen Szene - vergleichbar der Atlakviöa - inmitten seiner Gefolgschaft, der überdies über die drohende Gefahr unterrichtet ist. Wie es da zwei Angreifern gelingen soll, gegen tio hundruö Gotna, Str. 22, dem König Arme und Beine abzuschlagen, kümmert Bearbeiter und Sammler nicht. Man muß zur Kenntnis nehmen, daß man i m Ineinanderschieben und Überlagern unterschiedlicher Traditionen und Möglichkeiten einen wesentlichen Aspekt des mittelalterlich isländischen Rezeptionsverhaltens gegenüber altheroischen Sagen faßt. Bei der Atlakviöa ging es u. a. u m das Einfügen von wesentlichen Elementen der Hlööskviöa. Auch da ergeben sich Übereinstimmungen mit dem Nibelungenepos. Man hat sich über Gebühr den 52 Aus der Abfolge der Strophen der Ragnarsdräpa und der Deutung von samräöa schließt Klaus von See [»Die Sage von Hamdir und Sörli«, in: Ders., Edda, Saga, Skalden-

dichtung. Aufsätze zur skandinavischen

Literatur

des Mittelalters

(Heidelberg 1981),

234 f.], daß bei Bragi nicht Jörmunrek den Befehl zum Steinigen gegeben habe, sondern daß dies - samräöa - die erste Reaktion der i m Schlaf überraschten Krieger gewesen sei. Hierauf sei man konventionell bewaffnet auf die Angreifer losgegangen. D e m kann ich nicht folgen. Der Abfolge der Strophen ist bei einem Schildgedicht nicht viel abzugewinnen. I n der Königshalle lagen keine Steine herum, w o h l aber hingen die Waffen an der Wand; zuerst griff man danach. A u c h Snorri, der Bragi zitiert, läßt Jörmunrek den Befehl zum Steinigen geben. Z u samräöa hat man schon früher erwogen, es auf die beiden Brüder zu beziehen, »who had conspired together.« [E. O . G. Turville-Petre, Scaldic Poetry (Oxford 1976), 4]. Ich frage mich, ob man nicht auch eine kleine Konjektur erwägen sollte, sammroeöra statt samräöa. Das würde zu Str. 24 der Hamöismäl passen, die Situation treffen und auf das Fehlen des Halbbruders Erpr verweisen, w o v o n in der Ragnarsdräpa ja auch die Rede ist.

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Alois Wolf

Kopf zerbrochen über die >Widersprüche< bei der Schilderung der Ankunft der Burgunder am Hunnenhof oder gar über die Darstellung von Hagens Tod, w o Hortforderung und Rache für Sigfrids Tod nicht zueinander passen sollen. Wie i n der Atlakviöa ließ sich die Edda auch bei den Hamöismal die große königliche Szene nicht entgehen; nicht u m Jörmunrek zu idealisieren, w o h l aber, u m zu zeigen, wie ein König dieser heroischen Vorzeit sich verhalten konnte. Anachronistisch gesprochen, so als wollte man etwas von dem barbarischen Glanz, über den diese Vergangenheit - so wie man sie sich dachte - auch verfügte, vermitteln. Parallel zum Aufbau dieses Gelage-Königsbildes kommt es auf die Heroisierung der beiden Brüder am Schluß des Ganzen an. Klaus von See wollte aus den Hamöismal eine radikale K r i t i k am heroischen Verhalten herauslesen. D e m Text sei »die antiheroische, lehrhafte Tendenz von Haus aus eigen«. 53 Wenn ich von Sees Zweifel am hohen Alter der Hamöismal gerne teile, so kann ich dem eben zitierten Urteil nur teilweise zustimmen, wobei es auf das >teilweise< ankommt. Das Aufdecken antiheroischer Tendenzen, so berechtigt es als Reaktion auf bekannte ideologische Vereinnahmungen gerade der Edda auch ist, hat freilich auch mit der Befindlichkeit deutscher Germanisten seit dem Germanistentag 1966 zu tun und ist selbst nicht ideologiefrei! Die von den Isländern geförderte norwegische Königsgeschichte kennt neben der Würdigung der um das Landeswohl besorgten Herrscher doch auch genug heroisierende Passagen, und die isländischen Sagas verleugnen ihre Bewunderung für die Taten der Vorfahren keineswegs. Man denke an Gunnarr von Hliöarendi und sein Ende! Versuche, die Gislasaga als radikale K r i t i k an Gislis Verhalten zu deuten, dürften ebenfalls am Text vorbeigehen. 54 Sollten nun die Isländer bei ihrem Bemühen, die ferne heroische Vorzeit zu schildern und dichterisch aufleben zu lassen, ausgepichte Pazifisten geworden sein? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Dichter, Sammler und Hörer beim Vernehmen der 30. Str. der Hamöismal antiheroische Anwandlungen hatten oder haben sollten. Lehrhaftigkeit, wie sie in diesem Text punktuell aufscheint, auch K r i t i k an heroischer Haltung schließen Respekt, ja Bewunderung ihr gegenüber nicht aus. Selbst der schrecklichen Gudrun der Atlakviöa w i r d Bewunderung nicht versagt. Das gehörte eben auch zum Vergangenheitsbild, das man sich machte. Der lapidare Kommentar am Schluß der Hamöismal, präzis den Todesort bezeichnend, unterstreicht das Heroische. Die Einbeziehung des Mythischen, i m Hinweis auf den Spruch der Nornen, gehört dazu, und man ist damit gar nicht so weit ab von der Gislasaga. I m Ruhmesstreben Hamdirs und in der Unempfindlichkeit

53 54

S. o. A n m k . 52,230.

Überzeugend gezeigt von: Vesteinn Olason, »Approaches to Gisla saga Sürssonar: The Aims and Limits of Interpretation«. Vortrag Münster 1997. I m Druck.

Mythisch-heroische Überlieferungen i m alten Island

71

gegenüber dem Zeitpunkt des Sterbens klingt dann - anders als bei Gisli wikingerhaftes Verhalten an, wobei einem wiederum Harald harördöi Magnüss berfnett

und

einfallen. Zwischen den Worten, die H a m d i r i n der 10. Str. an

die Mutter richtet, die zur Rache hetzt, und seiner abschließenden Heroisierung i n Str. 30 besteht eine erhebliche Spannung. I m Verständnishorizont der Isländer hatte eben beides Platz. So kann H a m d i r die pessimistischen, ans Sentimentale streifenden düsteren Voraussagen machen: . . . ocr scaltu ... grata bdöa, er her sitiom feigir ä mörom, fjarri

munom deyja, die an die Gislasaga

erinnern und dann die triumphierende Feststellung treffen: vel höfom viö vegit . . . , was genauso für Gislis letzten Kampf gelten könnte. Daß die Liedersammlung mit diesem Ton ausklingt, w i r d nicht Zufall sein. Für Bearbeiter wie für Sammler waren die eddischen Lieder durchaus Zeugnisse einer realen besonderen Vergangenheit. Dafür gibt es auch außereddische Belege. M a n denke an das Auftauchen der Gudrun als Traumgestalt i n der zeitgenössischen Sturlungasaga. Dazu vollzieht sich aber eine A r t >Ansippung< dieser Vergangenheit ans Isländische. I m Blick auf das Heroische hat Preben Meulengracht Sorensen das treffend formuliert: Die Problematisierung der heroischen Ethik tritt in den die ältere Geschichte Islands behandelnden Sagas deutlicher hervor, wofür die Gislasage nur ein Beispiel von vielen ist. N i c h t u m eine Absage an den Heroismus geht es, sondern u m die Verdeutlichung von dessen tragischen Folgen [ . . . ] Diese Diskussion w i r d jedoch auch innerhalb der Heldendichtung selbst geführt, und wenn man sich [ . . . ] die Lieder über Gudrun [ . . . ] ansieht, erscheinen sie nicht so sehr als Ausdruck unterschiedlicher Schichtungen in einer langen Überlieferung, [ . . . ] sondern eher als Ausdruck unterschiedlicher Standpunkte gegenüber der heroischen Ethik und gegenüber Gudrun [ . . . ] . 5 5

Der Veranschaulichung und Vertiefung dieser Einsicht sollten u. a. die voranstehenden Überlegungen dienen. Was den mythologischen Teil der Edda betrifft, könnte man i n Parallele zum Erscheinen der Gudrun i m 13. Jahrhundert auf die Präsenz Odins i n derselben Zeit hinweisen, w o v o n ebenfalls die Sturlungasaga zu berichten weiß. Es heißt da zum Jahr 1180, daß eine gewisse l?orbjörg versucht, Sturla ein Auge auszustechen. Ihre begleitenden Worte: Hvi skal ek eigi gera pik peim likastan, er pü vill likastr vera - en par er Odinn! 56 Das i n den Götterliedern vorgelegte Material über das Treiben der Götter mit Schwerpunkt beim Burlesken und

55

Preben Meulengracht Sorensen, Gudrun Gjükadöttir, »Midjumöalr. Zur Aktualität nordischer Heldensage i m Island des 13. Jhdts«, in: H i n r i c h Beck (Hg.), Heldensage und Heldendichtung im Germanischen, Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 2 (Berlin 1988), 183-197, hier 194. 56 Sturlunga sagat hg. Jon Jöhannesson, Magnüs Finnbogason og Kristjän Eldjärn, Bd. I (Reykjavik 1946), 109.

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Komischen macht diesen wichtigen Bereich der Vorstellungswelt der Vorzeit weitgehend zum erzählerischen Spielmaterial. Interessant, daß das erwähnte Odinzitat einer Frau zugeschrieben ist, die sich, wie der Kontext zeigt, durch besonderen grimmleikr auszeichnete, also gudrunhafte Züge aufwies, was zeigt, wie nahe die alte Heldenwelt an das zeitgenössische Island herangerückt werden konnte. Einzubeziehen in diese Beurteilung der Edda ist noch die Tatsache, daß diese Vorzeit in der traditionellen Form der Langzeilenstrophe dargestellt wurde, was die Eigenständigkeit des Erzählten betonen und w o h l auch dessen Authentizität als fornspiöll untermauern sollte, neben der Skaldenpoesie, deren Verfasser man kannte und neben der das Erzählen dominierenden modernen Prosa. Bei aller Hinwendung zu altem Überlieferungsgut stellt sich die Liederedda vor allem dar als unverwechselbare mittelalterlich-isländische A n t w o r t auf diese Überlieferungen.

Das >Rationalprinzip< im Renaissancedialog Über das Lehren des optimalen Ausnützens von Ressourcen bei Leon Battista Alberti und Pietro Aretino Von Martin

Neumann

Die beiden Werke, die hier gegenübergestellt werden sollen, 1 sind in einem Abstand von fast genau 100 Jahren entstanden. Leon Battista Alberti (14321472) schrieb I libri della famiglia 1432-1434 und Pietro Aretino (1492-1556) verfaßte sein i m allgemeinen als I Ragionamenti bezeichnetes Werk 2 von 15341536. Ungeachtet dieser großen zeitlichen Differenz gibt es jedoch wesentlich mehr Berührungspunkte als nur ihre gemeinsame Zugehörigkeit zur Renaissance i m weitesten Sinn. 3 So existieren zwischen den zu vergleichenden Textteilen - es handelt sich u m das 3. Buch von Albertis Werk, Liber tertius familie, das Economicus überschrieben ist und u m den 1. Tag des zweiten Teils von Aretinos Ragionamenti (insgesamt also der 4. Tag), der den Titel trägt In questa prima giornata del dialogo di messer Pietro Aretino la Nanna insegna a la sua figliuola Pippa Varte puttanesca - einige auffallende Ähnlichkeiten. Beide Texte sind Lehrdialoge und beide Male ist der Gegenstand dieser Dialoge das ökonomische Element in der Organisation des Lebens. Sowohl bei Alberti als auch bei Aretino geht es u m die Erziehung zum richtigen wirtschaftlichen Handeln. Die Tatsache, daß das ökonomische Denken zunehmend i n den Vordergrund tritt, ist nun ein typisches Phänomen der Renaissance.4 Albertis >Ökonom< Giannozzo äußert i m 4. Buch De amicitia programmatisch: »Siamo quasi da 1

Die Idee zu diesem Vergleich verdanke ich Carolin Fischer, die ihn in Éducation éro-

tique. Pietro Aretinos >Ragionamenti< im libertinen Roman Frankreichs

(Stuttgart 1994),

106 f. als Forschungsdesiderat postulierte. 2

Korrekt setzt es sich zusammen aus den 1534 erschienenen Ragionamenti

della Nan-

na e della Antonia und dem 1536 erschienenen Dialogo di Messer Pietro Aretino. 3 Vgl. z. B. Peter Burke, Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung (1972; Berlin 1984), 27 und 39 f., w o er den Zeitraum von 1420 bis 1540 als eine kulturelle Einheit bezeichnet. 4

Vgl. Ruggiero Romano, Tra due crisi: Ultalia del Rinascimento (Torino 1971), insbesondere den Aufsatz »Rinascimento delPeconomia ed economia del Rinascimento«, 3550.

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natura tutti proclivi e inclinati all'utile.« 5 Das Gewinnstreben w i r d hier als naturgegeben bezeichnet und es ist deshalb nicht nur logisch, sondern geradezu zwingend, daß man sich i h m unterwirft. Beispiele dafür gibt es i m Quattrocento auf vielen Ebenen. Burke weist darauf hin, daß sich mit der Vorstellung v o m Menschen als rationalem, berechnendem Wesen konkret der Gedanke an das Rechnen, it. ragionare , verknüpft: »Ragione kann >Rechnung< oder >Berechnung< bedeuten, Kaufleute nannten ihre Geschäftsbücher libri de IIa ragione. «6 U n d schon Jakob Burckhardt hatte darauf hingewiesen, daß die Gewohnheit zu rechnen offensichtlich i m Bewußtsein der Italiener i m 15. Jahrhundert fest verankert war. 7 Konkret meßbarer materieller Erfolg lieferte bei Diskussionen u m den Vorrang von Herkunft oder Leistung gewichtige Argumente. Die finanzielle Situation einer Familie war ein wesentlicher Faktor ihres sozialen Status': sie regelte den Zugang zu Staatsämtern und damit den persönlichen Einfluß, und sie reichte sogar ins Privatleben hinein, insofern als auch z. B. die Entscheidungen über Eheschließungen diktiert wurden von der respektiven pekuniären Situation der beiden zukünftigen Eheleute. 8 Sichtbarer Reichtum und Wohlstand war ein Wert, der i m Quattrocento so sehr an Bedeutung gewann, daß er als Thema aus den eher privaten Haushaltsbüchern und sonstigen Manualen heraustrat und Autoren so verschiedener Herkunft und Intention wie Alberti und Aretino ihn in >öffentlichen< Werken behandelten. Das Streben nach dem eigenen Vorteil ist zwar naturgegeben und angeboren, aber das entsprechende ökonomische Denken und Handeln muß gelehrt und gelernt werden. Deshalb ist auffällig, daß als literarisches Medium, es der Jugend nahezubringen, nicht die mittelalterliche Traktatform gebraucht wird, sondern sowohl bei Alberti als auch bei Aretino der Dialog. Das mag zum einen mit der zeitgenössischen Wiederentdeckung der Ciceronianischen Dialoge zusammenhängen, ein Vorbild, dem etwa Alberti sehr weitgehend folgt. Schon i n den Dialogen Ciceros konstatiert Marsh eine Vorliebe für die Diskussion ethischer und moralischer Fragen, schon jener sei beseelt von einem »educational concern«. 9 So spiegelt sich i n Albertis Text der humanistische Enthu5 Leon Battista Alberti, I libri della famiglia (Torino 1969), 345. I n Klammern gesetzte Seitenangaben i m Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 6 Burke, Die Renaissance , 201; der heutige ragioniere ist ein moderner Reflex dieser Bedeutung. 7

Ein- und Ausfuhrregister, Bevölkerungs- und Preisstatistiken sind z. B. aus Venedig und Florenz bekannt und aus R o m sind die Haushaltspläne der Kirche dieses Zeitraums überliefert. 8

Vgl. dazu ausführlich Lauro Martines, The Social World of the Florentine Humanists.

1390-1460 (Princeton, N.J. 1963), Kapitel 2 »Social Place i n Florence«; hier recht drastische Beispiele. 9

David Marsh, The Quattrocento Dialogue - Classical Tradition

vation (Cambridge, Mass. & London 1980), 8.

and Humanist Inno-

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Das >Rationalprinzip< i m Renaissancedialog

siasmus für moralische Fragen, die mit dem Ziel erörtert werden, zukünftigen Generationen die Grundlagen einer ethischen Erziehung zu vermitteln. Z w e i Charakteristika heben Albertis Dialog jedoch von denen seiner Zeitgenossen ab. Z u m einen die konkrete und weitgehende Einbeziehung der historischen Lebens weit i m weitesten Sinn (z. B. die Rahmensituation oder die Euloge der V i l l a ) 1 0 und zum zweiten die Tatsache, daß er volgare-Dialoge

schreibt. Be-

gründet w i r d dies damit, daß es i h m darum ging, ein möglichst breites Publik u m anzusprechen, aber auch damit, daß er sich u m die Zusammenführung des Idealismus' klassischer Gelehrsamkeit und den Gegebenheiten der realen Existenz bemühte. Dieser Praxisbezug ist einer der auffälligsten Züge an Albertis Dialogen, dessen erklärtes didaktisches Ziel, wie er i n den Vorreden formuliert, ist, die Jugend zu erziehen, ihr sowohl die Familientraditionen und grundlegende ethische Konzepte als auch konkrete lebenspraktische Anweisungen mit auf den Weg zu geben. Diese Ausführungen zu Geschichte und Einsatz der literarischen Gattung Dialog gelten mutatis mutandis auch für Aretino. I n den beiden zu besprechenden Texten sind die respektiven Inhalte, d. h. gewisse wirtschaftliche Grundregeln, eingebettet i n einen >realistischen< Rahmen sowie i n einen Lehrdialog, in dem ein erfahrener Wissender einen unerfahrenen Unwissenden unterweist. Innerhalb dieser Grundsituation gibt es einen der größten Unterschiede z w i schen Alberti und Aretino. Alberti situiert seinen Dialog als »family discussion« 1 1 vor dem Hintergrund eines Zusammentreffens der Familie. I m Buch 3 ist die Situation die, daß ein bedeutendes Mitglied der Familie Alberti namens Giannozzo, 1 2 ein die Tradition verkörpernder, sehr bodenständiger Mann, gewissermaßen ein >PraktikerRationalprinzip< i m Renaissancedialog

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hat, ihre Mutter - , wirtschaftlich sehr erfolgreich sein können. Sie hat es zu einem schönen Haus mit Dienerschaft und einem eigenen Weingarten gebracht und zwar ausschließlich durch die Früchte ihrer Arbeit. Dies bedeutet nicht, daß sie ihren Wohlstand etwa der Erbschaft eines ihrer Liebhaber, noch irgendwelchen unsauberen Machenschaften verdankt. Ihr Erfolg war kein Zufall, sondern beruhte auf umsichtiger, lang angelegter Planung, und deshalb fühlt sie sich berufen, ihrer Tochter Pippa einen ganzen Katalog von teilweise pedantischen Ratschlägen und Handlungsanweisungen mit auf den Weg zu geben, u m auch deren wirtschaftlichen Erfolg sicherzustellen. Der Großteil der römischen Kurtisanen, die i m speciale enden, weil sie nicht ragionevole (!) handelten, werden dabei des öfteren als abschreckendes Beispiel evoziert. Auffällig anders als bei Alberti ist auch, daß die zu Unterweisende, Pippa, selbst mitredet, Fragen stellt, usw; sie ist nicht zum stummen Zuhören einer Diskussion zweier Erwachsener verurteilt wie die beiden jungen Alberti-Sprößlinge. Damit sind die beiden grundlegenden Situationen skizziert. Sowohl Alberti als auch Aretino legen ihren Ausführungen - völlig unbewußt - wirtschaftliche Prinzipien zugrunde, die auch heute unverändert gelten und die sich aufgrund einiger Charakteristika sowohl auf die perfekte Hausfrau Albertis als auch auf die perfekte Kurtisane Aretinos anwenden lassen. U m es betriebswirtschaftlich zu formulieren: Menschliche Bedürfnisse sind unbegrenzt, die Mittel, sie zu befriedigen, sind jedoch begrenzt. Durch dieses Auseinanderklaffen des Bedarfs einerseits und der Möglichkeiten ihn zu decken andererseits, entsteht ein Spannungsverhältnis, das die Beteiligten dazu zwingt, die vorhandenen Mittel so einzusetzen, daß ein möglichst großes Maß an Bedürfnisbefriedigung erzielt wird. Die Menschen sind also gezwungen, zu haushalten, zu wirtschaften. Wirtschaftliches Handeln nun unterliegt dem »allgemeinen Vernunftprinzip (Rationalprinzip), das fordert, ein bestimmtes Ziel mit dem Einsatz möglichst geringer Mittel zu erreichen.« 16 Das Rationalprinzip w i r d üblicherweise in zwei Richtungen definiert: »Handle so, daß der Zweck deines Handelns mit kleinstmöglichem Mitteleinsatz erreicht wird, oder daß mit den gegebenen Mitteln die gesetzten Ziele i n möglichst vollkommener Weise erreicht werden.« 1 7 Das bedeutet, daß entweder die einem zur Verfügung stehenden (mehr oder weniger reichlichen) M i t t e l so sparsam wie möglich eingesetzt werden, oder aber versucht werden muß, begrenzte Mittel so effektiv wie möglich einzusetzen. Ein wichtiger Zug dieses Prinzips ist, daß es ein rein formales Handlungsprinzip ist, d. h. es macht keine Aussagen über Motive oder A r t der Ziele des wirtschaftlichen Handelns, es charakterisiert lediglich die A r t 16

Günter Wöhe, Einführung

in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre

(16. Aufl.,

München 1986), 2. 17

Zitiert bei L u d w i g Pack, »Rationalprinzip, Gewinnprinzip und Rentabilitätsprinzip«, Z/5, 35 (1965), 525 f.

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der Durchführung, also wie die Ziele bei vernunftgemäßem Handeln zu erreichen sind. M i t anderen Worten es ist völlig wert - und moralfrei: Es gibt deshalb keinen Unterschied zwischen einer Hausfrau oder einer Kurtisane, beide stehen, was die rationale Durchführung ihres respektiven wirtschaftlichen Handelns betrifft, auf einer Stufe. A u c h was die Zielsetzung der beiden >Berufsgruppen< betrifft, gibt es keine Unterschiede, denn jede Zielfunktion ist dann optimal erfüllt, »wenn das Verhältnis zwischen Zweckerfolg und Mitteleinsatz maximal w i r d . « 1 8 Außerdem weist Stuhr ausdrücklich darauf hin, daß Begriffe wie >Rentabilitätsmaximierung< oder >Gewinnmaximierung< 19 nicht nur auf materielle Dinge wie Gewinn oder Umsatz angewendet werden können, sondern auch auf immaterielle Werte wie das persönliche Ansehen, usw. Die Ziele des wirtschaftlichen Handelns können demnach ein sehr breites Spektrum abdekk e n . 2 0 O b man also - etwa zur Altersvorsorge - den persönlichen finanziellen Vorteil sucht, wie Nanna, oder danach trachtet, die Familie optimal zu versorgen und dabei vielleicht noch einen Überschuß zu erwirtschaften, spielt keine Rolle. A u f Alberti und Aretino konkret angewandt, sieht das Verhältnis zwischen den zur Verfügung stehenden Mitteln, den Ressourcen, und den Bedürfnissen, die damit befriedigt werden müssen, folgendermaßen aus. Die Hausfrau Albertis muß eine ganze Reihe von Aufgaben bewältigen, die sich unter dem Punkt subsumieren lassen: »Conservare la famiglia e la roba« (226). Ihr spezifischer Part ist dabei governare e' piccini, custodire le cose und provedere a tutta la masserizia dorne stica in casa (226). Dazu stehen ihr hauptsächlich zwei >Ressourcen< zur Verfügung. Z u m einen konkret die Erträge der Villa an Lebensmitteln, Brennholz, usw., und zum anderen das einer Hausfrau und Wirtschafterin angemessene Verhalten. Sie muß danach trachten, ihr Hauswesen i n Schwung zu halten, ihre Familie zu versorgen und vielleicht sogar noch einen Überschuß zu erwirtschaften, der wiederum zur Mehrung des Familienvermögens oder der Familienehre eingesetzt werden kann. U m diese Aufgabe zu bewältigen, muß sie die buona masserizia lernen, die ein sehr weites Feld umfaßt. Der zukünftigen Kurtisane Aretinos stehen ebenfalls - ganz analog - zwei >Ressourcen< zu Gebote. Eine materielle, nämlich ihr Körper, 2 1 und eine »immaterielles nämlich ein wiederum ihrem Stand angemessenes Verhalten, wie 18

Ibid., 529.

19

Beide Termini kann man gewissermaßen als >Unterarten< oder Varianten des Rationalprinzips bezeichnen, vgl. Rolf Stuhr, »Das Rationalprinzip in Beziehung zu den Prinzipien der Rentabilitäts- und Gewinnmaximierung«, BFuP y 13 (1961), 290-292. 20 21

Ibid., 290.

Walter Benjamin hat i n Paris , die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts darauf hingewiesen, daß eine Hure »Verkäuferin und Ware in einem« sei. In: Gesammelte Schriften , hg. Rolf Tiedemann, Bd. V / 1 (Frankfurt a. Main 1982), 55.

Das >Rationalprinzip< i m Renaissancedialog

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z. B. bestimmte Manieren, bestimmte Techniken der Verstellung, etc. Hausfrau wie Kurtisane müssen diese »Produktionsmittel, deren materielle Seite in beiden Fällen begrenzt ist, so einsetzen, daß sie einen möglichst großen Gewinn daraus ziehen. Wie dies am besten zu erreichen ist, versucht Giannozzo seiner Ehefrau und Nanna ihrer Tochter beizubringen. Deshalb kann man auch vernachlässigen, daß die respektive Ausgangssituation eine andere ist. Albertis Hausfrau hat als erste Pflicht, einen schon vorhandenen Reichtum zu bewahren und zu mehren, d. h. ihr Profitstreben w i r d nicht so absolut sein (ihr Anliegen ist die Rentabilitätsmaximierung), und man merkt Albertis gesamten Text an, daß es ihm in erster Linie darum geht, den stattlichen Familienbesitz zusammenzuhalten. Aretinos Kurtisanentochter hat zwar eine Mutter, die in angenehmen Verhältnissen lebt, aber nachdem dieser Besitz - z. B. aufgrund fehlender Einbindung in größere familiäre Zusammenhänge ihre Altersversorgung ist, muß es Pippas erstes Ziel sein, sich erst einmal einen gewissen Wohlstand zu erwirtschaften (Gewinnmaximierung), was w o h l auch Nannas grundsätzlich aggressivere Ratschläge erklärt; daß Pippas Ruf keine Rolle spielen kann, bzw. eine ganz andere Rolle spielen muß als die Reputation der Familie Alberti ist evident. Daß dagegen das eine Ziel vielleicht ein >moralischeres< ist als das andere, ist unerheblich, es geht ausschließlich u m das >WieWie< stellt sich nicht aus einem moralischen Blickwinkel, sondern aus dem des meßbaren wirtschaftlichen Erfolgs. Zunächst zu den Sparvorschriften des Geistlichen Leon Battista Alberti. Er verwendet seinen Dialog mit der pädagogischen Absicht, die beiden fiktiven jungen Zuhörer Carlo und Leon Battista grundsätzlich davor zu bewahren, sich so schändlich zu betragen wie die zeitgenössische Jugend von Florenz, die in erster Linie durch ihre Verschwendungssucht von sich reden macht (vgl. 199 f.), also gerade das Gegenteil vernünftigen wirtschaftlichen Handelns. Der lebenserfahrene, bürgerlich-biedere Giannozzo formuliert zuerst eine Maxime, in der er den rechten Umgang mit den zur Verfügung stehenden Gütern, gleich welcher A r t definiert: »In ogni spese pervedere ch'ella non sia maggiore, non pesi piü, non sia di piü numero che dimandi la necessitä, ne sia meno quanto richiede la onestä« (199 f.). Es geht also nicht nur darum, daß man die Verschwendungssucht meidet, es gilt gleichzeitig, sich nicht als geizig zu erweisen. Denn, wie er an späterer Stelle sagt, was nützt es zu sparen, Reichtümer zu erwerben, wenn man es nicht versteht, sie vorausschauend zu verwalten und bei Bedarf zu benutzen. 2 2 Anwenden muß man das Prinzip der Ausgewogenheit von Einnah-

22 »L'uomo s'afatica guadagnando per avéllo a* bisogni. Procaccia nella sanitá pella infirmitá, e come la fórmica la state peí verno. A' bisogni adunque si vuole adoperare le cose; non bisognando, serbálle. E cosí hai: tutta la masserizia sta non tanto i n serbare le cose quanto in usarle a' bisogni« (203).

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men und Ausgaben nach Giannozzo i n den drei Bereichen corpo, anima tempo, 23

und

u n d zwar konsequent, denn richtig angewandt hat es auch moralische

Auswirkungen: »La masserizia nuoce a niuno, giova alla famiglia. [ . . . ] Santa cosa la masserizia, e quante voglie lascive, e quanti disonesti appetiti ributta indrieto la masserizia. [ . . . ] I vecchi massari e modesti sono la salute della famiglia« (199). Dieser quasi-religiöse Charakter der richtigen Sparsamkeit w i r d des öfteren betont, ja sie w i r d sogar ins Gebet eingeschlossen: »C'inginocchiammo e pregammo I d d i o ci desse la facultä di bene usufruttare quelli beni de' quali la pietä e beneficenza sua ci aveva fatti partefici, e ripregammo ancora con molta divotissima mente [ . . . ] a me desse richezza, amistä e onore, a lei donasse integritä e onestä e v i r t ü d'essere buona massaia« (272). D e n n schließlich gehe, so Giannozzo, der Reichtum u n d der R u h m der gesamten Familie A l b e r t i auf die buona masserizia zurück, w o f ü r er die Familiengenealogie als Beleg heranzieht (vgl. 209 ff.); u n d w e n n die hier vorgestellten Prinzipien weiterhin beachtet würden, werde die Familie A l b e r t i auch i n Z u k u n f t prosperieren. Was man m i t den erwirtschafteten Uberschüssen t u n kann, erläutert Giannozzo ebenfalls, wobei er zwei Klassen v o n Ausgaben unterscheidet. D i e erste sind »notwendige Ausgabenfreiwillige< Ausgaben, wie Lionardo, Giannozzos Gesprächspartner, sie definiert. Z u diesen Ausgaben, die aber keine überflüssigen sind, w e i l damit größtenteils Statussymbole finanziert werden, die ebenfalls den R u h m der Familie mehren, zählen schöne Bücher, edle Pferde u n d ähnliche Manifestationen solch großzügig-offener Geisteshaltung (vgl. 258). 2 6 Es ist nicht verwunderlich, daß sich Giannozzo i n der konkreten U n t e r w e i sung seiner Frau nur ganz am Rande u m die materielle Seite seiner Ressourcen 23

Damit dürfte er einer der ersten Vorläufer der Franklin'schen Time is money-These

sein. 24 Giannozzo preist an einer Stelle die Vorzüge der eigenen Villa, als eine hervorragende Basis, um eine Familie zu ernähren und unnötige Ausgaben zu vermeiden. Er schließt sogar: »Si, Dio, uno proprio paradiso!« (245). 25 Ich verwende den italienischen Begriff, weil >Vaterland< Italien suggeriert, Giannozzo aber nur Florenz meint. 26

Das unterstreicht, daß Gewinnmaximierung und Rentabilitätsmaximierung sich nicht nur auf materielle Werte beschränken müssen.

Das >Rationalprinzip< i m Renaissancedialog

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kümmert. Diese sind offensichtlich so reichlich vorhanden, daß sie kein besonderes Gesprächsthema darstellen, so wie später bei Aretino. Nachdem sich Giannozzo über die allgemeinen Vorzüge der masserizia ausgelassen hat (etwa gut die Hälfte des Textes), kommt er schließlich auf die Familie und die i m engeren Sinn seine eigene Familie betreffenden Verhaltensregeln zum richtigen Wirtschaften zu sprechen. >Familie< umfaßt übrigens nicht nur Eltern und K i n der, sondern »e' figliuoli, la moglie, e gli altri domestici, famigli, servi« (226). Dabei spielt die Ehefrau gar keine geringe Rolle, denn Mann und Frau sind gemeinsam für das Wohlergehen der Familie und das reibungslose Funktionieren des Hauswesens verantwortlich (vgl. 270 u. ö.). Aber leider - so Giannozzo hat die Natur die Frauen nur schlecht für diese recht verantwortungsvolle Aufgabe ausgerüstet: »Le femmine quasi tutte si veggono timide da natura, molle, tarde, e per questo piü utile sedendo a custodire le cose, come quasi la natura cosí provedesse al vivere nostro, volendo che l'uomo rechi a casa, la donna lo serbi« (265). Deshalb fällt dem Mann die Aufgabe zu, der von der Natur benachteiligten Frau zu lehren, wie richtiges wirtschaftliches Handeln auszusehen hat. Als Negativbeispiel führt Giannozzo die donniucciole vedovette (203) an, die die Früchte der harten Arbeit ihrer Männer gedankenlos verschleudern. Das inzwischen vorbildliche Verhalten seiner Frau sei das Produkt eines schwierigen und langwierigen Erziehungsprozesses. Ihre für Außenstehende souverän wirkende Haushaltsführung habe sie ausschließlich durch seine ammonimenti (266) gelernt, wobei ihr zugute gekommen sei, daß sie - von ihren Eltern zu Respekt erzogen - stets willig zuhörte und relativ schnell lernte (vgl. 269). Die wichtigste Regel, die Giannozzo für die gemeinsame Verwaltung des Besitzstandes formuliert, ist die einer strikten und konsequenten Arbeitsteilung. Der Mann sei für den Außenbereich (z. B. die Einkäufe auf der Piazza) zuständig, die Frau dagegen für den Innenbereich, konkret, er ist der Ansicht, die Frau gehöre ins Haus. Diese Bereiche, die auch Macht- und Einflußsphären bezeichnen, sind streng getrennt, beide Partner haben i n den ihnen nicht zustehenden Bereichen keine Befugnisse, was aber von Seiten des Mannes eher ein großzügiges Zugeständnis ist. Die Frau solle zwar nicht gerade i m Haus eingesperrt werden, das widerspräche jeder Vernunft, aber sie solle sich so wenig wie möglich in der Öffentlichkeit zeigen. Damit wäre der Zuständigkeitsbereich der Frau umrissen. 27 Nachdem die materielle Seite der Ressourcen unproblematisch ist, geht es in Giannozzos eigentlicher Unterweisung seiner Ehefrau i n erster Linie u m das 27

Ein bemerkenswerter Punkt am Rande ist, daß Giannozzo w i l l , daß seine Frau gut gelaunt und fröhlich ist, u m ihn aufzuheitern, wenn er nach getaner Arbeit nach Hause kommt. Offensichtlich ist er überzeugt, daß sie, nachdem sie sich nicht den ganzen Tag

über mit malvagi maligni und inimici herumschlagen muß, in dem ihr unterstehenden häuslichen Bereich auch ihr ganzes Glück finden kann (293 f.). 6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

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Verhalten, das eine gute Hausfrau an den Tag legen muß, damit die Rentabilität maximiert wird. Giannozo unterscheidet drei große Bereiche, die dabei eine Rolle spielen. I m ersten gibt er Ratschläge zum allgemeinen Verhalten, i m zweiten belehrt er seine Frau über den governo della famiglia, und i m dritten Bereich schließlich erläutert er ihr, wie die roba korrekt verwaltet wird. I n einem ersten Schritt belehrt Giannozzo seine Frau, wie sie sich als Herrin des Hauses zu verhalten habe, bzw. wie ein Verhalten aussehen sollte, durch das sie sich Respekt und Achtung verschafft, denn dies sei die Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren der täglichen Abläufe. Wichtigste Eigenschaft ist dabei die onestä. Was er darunter versteht, beschreibt er so: »Fuggirai ogni atto non lodato, ogni parola non modesta, ogni indizio d'animo non molto pesato e continente. E in prima arai i n odio tutte quelle leggerezze colle quali alcune femmine studiano piacere agli uomini« (273). Ehrbarkeit sei der »Schmuck der Familiezu verkaufende Fleisch< sich nicht automatisch in massarizie transformiere. Viele dieser naiven Mädchen endeten unter grauenhaften Bedingungen i m spedale. Was sie nicht bedächten, sei, daß das Leben einer Kurtisane sehr viel mehr mit sich bringe, als nur Männern zu Gefallen zu sein. Man müsse auf alles vorbereitet sein, sonst verliere man nicht nur den Ruf - der für eine Kurtisane sehr wichtig ist - sondern auch den Lohn. Deshalb w i l l Nanna ihre Tochter unterweisen wie ein maestro ein fanciullo, >das Rechnen (!) lerntciviltä puttanesca< si precisa sempre meglio in questa ottica tutta volta alPinteresse economico senza risparmiare alcuna mossa o tattica aggressiva verso chi possiede i l potere economico e raramente accetta di privarsene.« 35 »Perché oggidi é tanta la copia de le puttane, che chi non fa miracoli col saperci vivere non accozza mai la cena con la merenda; e non basta lo esser buona robba, aver begli occhi, le trecce bionde: arte o sorte ne cava la macchia, le altre cose son bubbole.« Pietro Aretino, Ragionamenti. Sei giornate (Roma 1993), 108. Weitere Seitenangaben i n Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe. 36 Leider sei sie selbst, so Nanna, vom Glück nicht besonders begünstigt gewesen, sie habe hart arbeiten müssen. »Perché ne la sorte non é fatica niuna; ma ne Parte si suda, ed é forza strolagare e viver d'ingegno« (136).

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fenste Kurtisane nicht nur Roms, sondern ganz Italiens oder der ganzen Welt gewesen. Sie habe immer das Schlechteste getan, Freunden, Feinden, Übeloder Wohlwollenden völlig indifferent Schaden zufügend. Aber dadurch sei sie reich geworden, und Pippa habe das Zeug dazu, es noch besser zu machen. Voraussetzung sei jedoch, keine Minute Zeit zu verschwenden, 37 und sich ab sofort mit den Regeln des puttanesimo vertraut zu machen, sie zu >studierenRessourcen< läßt sich i n vier Kategorien einteilen. Drei davon betreffen erneut berufsspezifische Verhaltensweisen, die - richtig eingesetzt - z. B. die Anstrengungen minimieren, weil man auf verschiedenes schon gefaßt ist. Dazu zählen zunächst wieder allgemeine Verhaltensmaßregeln, die Reden, Essen, Verhalten i n der Öffentlichkeit u.ä. betreffen und durch deren Befolgung Pippa realiter ihren Marktwert i m Vergleich zu anderen Kurtisanen steigern könne, indem sie sich positiv von ihnen abhebt. Dies leitet über zum zweiten Punkt, dem Nanna wiederholt Aufmerksamkeit schenkt, dem Umgang mit der Konkurrenz, der für den Erfolg einer Kurtisane sehr wichtig sei. Punkt drei betrifft eine lange Liste möglicher >Kundentypenein Geschäft zu führenc Una puttana che fa ben quel fatto e come un merciaro che vende care le sue robbe: e non si ponno simigliare se non a una bottega di merciare le ciance, i giuochi e le feste che escano da una puttana scaltrita. [ . . . ] Ecco un merciaro ha stringhe, spechi, guanti, 37 Nach Alberti insistiert auch Aretino auf der immensen Bedeutung des Faktors Zeit: »In buona fe io non ho scialacquato i l tempo che io son vissa; meffe no, che io non lo ho scialacquato« (132). 38 A u c h hier betont Nanna die wichtige Rolle der Zeit: » N o n perder mai tempo, Pippa: vä per casa, ficca due punti per un bei parere, maneggia drappi, smusica u n versolino da te imparato per burla [ . . . ] ; pensa e ripensa a lo studiare i l puttanesimo« (147).

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corone, nastri, ditali, spilletti, aghi, einte, seuffioni, balzi, saponetti, olio odorifero, polver de Cipri, capelli e centomilia di ragio cose. Cosí una puttana ha nel suo maggazzino parolette, risi, basci, sguardi; ma questo é nulla: ella ha nelle mani e ne la castagna i rubini e le perle, i diamanti, gli smeraldi e la melodia del mondo. (112)

Was Pippa nun lernen muß, ist, ihre >Ware Körper< mit größtmöglichem Gewinn zu verkaufen (»ascolta e impara a vendere le merci tue« 113; meine Hervorhebung) und zwar unter dem Einsatz aller erlaubten und unerlaubten Mittel. Der zentrale Punkt, der >das Geschäft am Florieren hält, ist das Verhalten einer Kurtisane. Wie Giannozzo für seine Ehefrau, so unterstreicht auch Nanna für ihre Tochter an erster Stelle die Bedeutung von onesta. 39 Das Entscheidende ist dabei, daß onestade und disonestä sich i m Falle einer Kurtisane keineswegs als inkompatible Gegensätze erweisen müssen. 40 Aber hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Alberti und Aretino: Giannozzos Aufforderung an seine Frau, onesta zu ihrer obersten Handlungsmaxime zu machen, ist ernst gemeint; er will, daß sie diese internalisiert und automatisch zur Richtschnur ihres Handelns macht. Nannas Beschreibung von onesta beweist deutlich, daß es ihr nur u m einen pragmatischen Umgang damit geht: onestade ist eine Attitüde, die man bei Bedarf annimmt, aber eine Kurtisane kann es sich i m täglichen Geschäft gar nicht erlauben, sie zur alleinigen Grundlage ihres Tuns zu erheben. Ein M o t t o , das man deshalb über diesen Abschnitt setzen könnte, wäre Nannas D i k t u m : »Gli uomini vogliono essere ingannati« (120). Alle ihre Ratschläge an Pippa - in Bezug auf das Reden, das Essen, die Zurschaustellung von Frömmigkeit, sowie einige allgemeine Punkte, die es von Fall zu Fall zu beachten gilt stehen unter diesem Vorzeichen. Pippas anfängliche, einfältige Frage »Che pro' m i faranno cotali bugie?« (109), die ausdrücklich nach dem Sinn dieser >Lügen< fragt, dient Nanna als Einstieg für ihre umfangreichen Erläuterungen. Zunächst zum Reden. Pippa soll niemals ordinär daherreden (vgl. 110 f.) oder fluchen (vgl. 111), sie soll auf keinen Fall i n der Öffentlichkeit den >Hurenslang< gebrauchen (vgl. 147). Wenn sie lacht, dann nur verhalten und ohne dadurch ihr Gesicht zu entstellen. Grundsätzlich sind alle Kunden, ob reich, arm, jung oder alt, höflich mit Voi zu titulieren und nicht mit dem vertraulichen tu (vgl. 140). Kurz, was das Reden betrifft, ist Pippa gehalten, del signorile in ogni atto (111) zur Schau zu stellen. Ähnliches gilt für die Tischsitten, für die Nanna 39

Vgl. Paul Larivaille, »La courtisane honnête, ou lMionnesteté< dévoyée: note sur la

conception de Ponestà chez PArétin«, in: La catégorie de l'honneste dans la culture du XVle siècle. Actes du colloque international de Sommères II (Saint-Étienne 1985). Hier plädiert er dafür, daß die honnesteté der Kurtisanen eine ganz andere sei, als die der anderen Zeitgenossen, vgl. vor allem 45-47. 40

»Vo' che tu sia tanta puttana in letto quanto donna da bene altrove« (113).

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die kurze Formel statti in maestä (111) prägt. Eine Kurtisane, die auf sich hält, benimmt sich beim Essen und Trinken wie eine vornehme Dame. Ein nicht zu unterschätzender Punkt i m Verhaltenskodex einer Kurtisane ist die ostentative Zurschaustellung von Frömmigkeit. Die divozioni utili al corpo e al anima (146) dienen jedoch ebenfalls ausschließlich der Gewinnmaximierung. Das scheinheilige Gehabe beginnt i m kleinen damit, daß Pippa, bevor sie in das Bett eines Kunden steigt, so tun solle, als ob sie ein Gebet murmle (vgl. 112), und endet, daß sie i n der Kirche vorgeben solle, sie sei ins Gebet vertieft, was jedoch vor dem piü guardato altare (135) zu geschehen habe, damit potentielle Kunden sie gut sehen könnten. Auch die Kirchenbesuche und die Frömmigkeitsbezeigungen haben also nur ein Ziel: die Mehrung des materiellen Gewinns. Weitere Regeln, die Nanna über den ganzen Tag verstreut an verschiedenen Stellen einflicht, betreffen das allgemeine Verhalten sowohl bei der Arbeit, als auch in der Öffentlichkeit. Zunächst insistiert Nanna auf der Wichtigkeit von Diskretion (140 f.). Es gilt außerdem, nicht hochmütig zu erscheinen, nicht boshaft über andere zu reden oder gar jemanden zu verleumden. Das Ansehen nach Außen läßt sich steigern durch die Anwesenheit von persone degne (141) i m Haus, dadurch daß man sich für Musik, Musikinstrumente, Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen, etc. interessiert. Das hat den Nebeneffekt, daß man solche Dinge geschenkt bekomme und diese dann wieder gewinnbringend veräußern könne. Was das eigentliche Gewerbe angeht, so seien in einer größeren Gruppe ausschließlich die offensichtlich Reichsten zu bevorzugen (vgl. 134), bedient werde aber jeder, der bezahlt, hier könne man sich keine Dünkel erlauben, »Ognuno che spende merita« (140), vielmehr müsse man jeden nach seinen Möglichkeiten ausnehmen (vgl. 147). Weitere Anweisungen betreffen konkrete Tricks, finzioni und adulazioni , wie z. B. Erröten i m richtigen Moment, die sorgsam studiert werden müssen (vgl. 120), und sogar in die Niederungen von Ermahnungen wie >sich nicht bei den täglichen Verrichtungen zusehen lassen< steigt die akribische Nanna hinab, aber auch mit der Aufforderung: »Fä il tuo debito, figlia, fallo, Pippa!« (112). Ein Punkt, der auch bei Alberti eine gewisse Rolle spielte, sind die Bediensteten. Wenn man sie gut behandelt und instruiert, können sie auf sehr konkrete Weise dazu beitragen, das Budget zu erhöhen, z. B. dadurch, daß sie den wartenden Kunden die »geheimen Wünsche< ihrer Herrin suggerieren (vgl. 148). 41 Die Diener sind demnach bei Aretino weniger ein Kostenfaktor auf der SollSeite, als vielmehr eine zusätzliche Möglichkeit, den täglichen Gewinn zu erhöhen.

41

Vgl. 130 f. Nannas Geschichte von der zerbrochenen Schüssel.

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Ein zweiter Punkt, der Nanna so sehr am Herzen liegt, daß sie ihn bereits bei ihren grundsätzlichen Vorüberlegungen erwähnte, ist der Umgang mit der Konkurrenz. Sie ist ein Faktor, der auf keinen Fall vernachlässigt werden darf. Deshalb versucht Nanna mit ihren Ratschlägen Pippa vor den Gefahren, die ihr von dieser Seite drohen, zu warnen. Wichtigste Verhaltensregel ist dabei, den eigenen Hochmut zu bezähmen. I n direkter Gegenüberstellung, z. B. beim Karneval, solle Pippa deshalb nicht versuchen, sich zur Ersten aufzuschwingen, sondern mit gentilezza alle Herzen erobern (vgl. 134 f.). Auch hier ist eine gewisse Scheinheiligkeit vonnöten, insofern als Pippa nicht in einen eventuellen Chor übler Nachrede einstimmen, sondern versuchen solle, Frieden zu stiften. Denn durch solche kleinen Gefälligkeiten mache man sich die Leute gewogen für den Fall, daß man selber einmal Unterstützung brauche (vgl. 141). Auch hier diktiert extremer Eigennutz das Handeln, auch hier spricht Nanna z. B. von »Schulden zurückzahlen, d. h. sie gebraucht erneut ausdrücklich ökonomisches Vokabular. Nannas letzter theoretischer Punkt ist der umfangreiche Katalog von Kundentypen und -Charakteren. Er dient dazu, durch das Wissen u m verschiedene Charakteristika möglicher Kunden, den Aufwand an Zeit und Mühen so niedrig wie möglich zu halten, weil man von vorneherein weiß, was auf einen zukommt. Diese Liste ist auf den ganzen Tag verteilt und taucht immer wieder auf. 4 2 Eine erste klar gegliederte Gruppe bilden dabei die verschiedenen Nationalitäten. Die fein herausgeputzten Spanier wollen wie große Herren behandelt werden, haben aber eine schlechte Zahlungsmoral (vgl. 126). Ganz anders die großzügigen Franzosen, die man auch i m ungelegensten Moment jederzeit empfangen sollte (vgl. 126 f.). Die Deutschen, meist große Kaufleute, geben auch sehr viel Geld aus und lassen sich gerne ausnutzen. 43 Eine letzte Gruppe, die unter die Nationen gerechnet wird, sind die Juden, die zwar stinken, 4 4 aber durch ihre Wuchergeschäfte i n der Lage sind, jeden Wunsch zu erfüllen (vgl. 127). Allerdings sei es für den Ruf sehr wichtig, daß niemand erfährt, daß man sich mit ihnen abgibt. Diese Nationalcharaktere werden also ausschließlich nach ihrer Finanzkraft und ihrem Zahlungsverhalten beurteilt.

42 Zwischen einigen >TypenAlte< neben »Eifersüchtigen«, etc. stehen, werden verschiedene Nationen oder die einzelnen Italiener abgehandelt. Später tauchen dann »junge Leute< i n einer Reihe mit »Scheinheiligen«, »Neunmalklugen«, etc. auf. 43 Allerdings fällt ihre Charakterisierung nicht gerade schmeichelhaft aus: »La lor natura e dura, acra e bestiale; e quando s'intestano una cosa, Iddio solo gliene caverä« (127). 44 Das relativiert Nanna allerdings mit einem Vergleich, der wiederum aus dem ökonomischen Bereich stammt: Wenn ein seefahrender Händler sich nicht scheut, Wind, Regen und allerlei Entbehrungen auf sich zu nehmen, u m seine Waren teuer zu verkaufen, warum sollte sich dann eine Hure über den Gestank eines Juden beschweren, der hervorragend bezahlt (vgl. 127)!

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N i c h t nur die Ausländer, auch die verschiedenen Italiener haben ihre ganz charakteristischen Eigenarten, die man bezeichnenderweise vor allem deshalb kennen muß, u m nicht von ihnen hereingelegt zu werden. Männer aus Mantua und Ferrara seien ganz selten bei Kasse (vgl. 122), Florentiner seien außerhalb ihrer Stadt recht großzügig und deshalb als Kunden sehr zu empfehlen. Übertroffen aber würden sie noch von den Venezianern, die allerdings auch ganz bestimmte Vorstellungen von einer Kurtisane hätten: »Voglino culo e tette e robbe sode, morbide, e di quindici o sedici anni e fino i n venti« (128). Die Sieneser seien ein bißchen verrückt, aber insgesamt recht anständig, Neapolitaner hätten eine sehr schlechte Zahlungsmoral, Bergamasker seien besser als ihr Ruf, und die Römer seien Angeber, die sich mit den Taten ihrer Vorfahren brüsteten. Die wohlgenährten und gut-gekleideten Bologneser bezahlen gut (vgl. 129), die Lombarden dagegen schreckten nicht davor zurück, auch Huren zu betrügen. I n einer letzten Kategorie behandelt Nanna uneinheitlich verschiedene Typen und Charaktere, wiederum ist das einzige Kriterium die jeweilige Finanzkraft. Wichtig sind ihr die vecchi. Sie neigten manchmal zu Geiz und zu Eifersucht, aber wenn man sie richtig zu behandeln verstehe, seien sie eine Goldgrube, weil man sich über ihr Lob weitere alte Männer als Kunden an Land ziehen könne und die Arbeit mit solchen nicht schwer sei (vgl. 116 f.). Junge Leute seien ständig pleite, weshalb bei ihnen Vorauszahlung unabdingbar sei (vgl. 135). Auch über signorie, vertuosi, gelost (120) non gelosi (121 f.), trincati (123), capitani (136), persone riposate (137), fastidiosi, spadaccini und ignorantacci (alle 137), fantastici, arcisavi und ipocriti (alle 128) sowie avari y liberali, cortesi und somari (alle 139) und ihre Vorlieben und Schwächen weiß Nanna viele Details zu berichten, die sich alle darauf beziehen, wie sie am besten und einfachsten auszunehmen seien. Z u guter Letzt warnt Nanna Pippa noch vor den frati e preti (143 f.). Sie neigten zu maßlosen Übertreibungen und hätten gewisse unangenehme Vorlieben, aber trotzdem müsse man sich gut mit ihnen stellen, da sie sehr rufschädigend sein könnten (vgl. 144). Für alle hat Nanna Ratschläge, wie sie zu behandeln oder i m Bedarfsfall abzukanzeln seien, aber vor allem, wie man mit möglichst geringem Aufwand ein O p t i m u m an Gewinn erzielt. Als letzten Punkt behandelt Nanna die materielle Seite des Gewerbes, nämlich Kleidung und den Körper, also die ganz konkrete >Ressource< einer Kurtisane. Auch in diesem Bereich hat sie klare Vorstellungen, die allesamt die Maximierung von Pippas Gewinn i m Auge haben. Die Kleidung ist schnell abgehandelt: »Ii tuo vestire sia netta e schietta« (141), Spitzen z. B. seien deshalb hinausgeworfenes Geld, 4 5 weil man beim Wiederverkauf nichts mehr dafür bekomme. Abgenutzte Kleidung, z. B. abgeschabter Samt oder aufgescheuerte Seide sind verpönt, vor allem, weil sie ganz und gar keine Werbung für das Ge45

»Ricami per chi vuole gittar via Poro« sind Nannas Worte.

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schäft sind, denn eine wichtige Grundregel besagt durchaus, daß feine Kleidung sich bei Kurtisanen positiv auf den Umsatz auswirkt (vgl. 141). Ein interessantes Kapitel betrifft die Körperhygiene, und Nanna ist hier besonders ausführlich. Pippas Frage, ob sie sich schminken soll, beantwortet sie dahingehend, daß sie sich nicht das Gesicht a la lombardaccia (144) anmalen solle; ein bißchen Rouge genüge, wenn man die Spuren einer anstrengenden Nacht verdekken müsse. Schminke w i r d also nicht generell verurteilt, wie bei Alberti, w o h l aber ihr übermäßiger Einsatz (das gilt auch für Lippenstift), der den beabsichtigten Effekt meist zunichte mache. Für das Gesicht und den Körper hat Nanna ein selbst zubereitetes acqtta di talco (145) aus Kräutern parat und für die Hände eine lavanda delicata (145). Den M u n d solle Pippa sich häufig mit Brunnenwasser spülen und jeden Morgen die Zähne mit dem Rand des Bettuchs säubern. Auch eine A r t Mundwasser, das den A t e m i n fiato di garofani (145) verwandelt, gehört zur Toilettenausstattung. Z u scharfe Parfüms dagegen sind grundsätzlich zu meiden, weil sie nur die unangenehmen Ausdünstungen derer verdeckten, die das aufgrund ihrer mangelnden Körperhygiene notwendig hätten. Pippa solle sich lieber so oft wie möglich i n einem duftenden Kräutersud baden, das halte die Haut und die carni jung (vgl. 145), und das ist es, wofür Männer gerne Geld ausgeben. Auch auf Dinge wie die richtige Frisur oder die Tiefe des Ausschnitts geht Nanna kurz ein (vgl. 142). A u f diese Weise halte man sich die wichtigste Ressource einer Kurtisane lange Zeit in gutem Zustand und bleibe lange Zeit konkurrenzfähig. Ein sehr auffälliger Zug, der sich stetig durch Nannas Anweisungen zieht, ist, daß sie Pippa ständig ermahnt, sich nicht >wie eine Kurtisane« zu verhalten. Ausdrücke wie »Esci de la via de le puttane« (140) oder »non puttanescamente« (110) u. ä. sind in diesem Textabschnitt allgegenwärtig. Sie soll sich dadurch positiv von ihren Konkurrentinnen abheben, daß sie nicht wie eine Hure redet, nicht wie eine ißt, sich nicht wie eine benimmt, usw. So erwerbe man sich den Ruf »de la piü valente e de la piü graziosa cortigiana che viva« (111) und das führe dazu, daß man die begehrteste und das bedeutet in erster Linie die bestbezahlte Kurtisane werde (vgl. 111). Das sei das Geheimnis ihres eigenen Erfolgs gewesen und so soll es auch bei ihrer Tochter sein. Zusammenfassend kann man feststellen, daß es bei Alberti und bei Aretino einige auffällige Parallelen gibt. Beider Hauptthema ist das ökonomische Element in der Organisation des täglichen Lebens. Hier zeigt sich, daß sie bei ihren Überlegungen (unbewußt) dem sogenannten Rationalprinzip folgen. Beiden Autoren geht es darum, die zur Verfügung stehenden, begrenzten Ressourcen möglichst effektiv gewinnbringend einzusetzen. Dies läuft allerdings - weil die respektiven Ausgangssituationen verschiedene sind - bei Alberti eher auf die sog. Rentabilitätsmaximierung hinaus, bei Aretino dagegen auf die sog. Gewinnmaximierung. Die entsprechende Metaphorik, die sie gebrauchen (Alberti

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spricht vom >klugen Verwalten der vorhandenen Güterder Laden am Florieren gehalten werden müssemoralischere< Ziele vor Augen hat als die ehemalige Kurtisane Nanna, denn das Rationalprinzip qua formales Handlungsprinzip schließt solche Werturteile ausdrücklich aus. Eine zweite Gemeinsamkeit der beiden Texte ist die Grundansicht, daß das richtige wirtschaftliche Handeln nicht angeboren ist, sondern i n einem Erziehungsprozeß gelehrt werden muß und gelernt werden kann. Dadurch können Fehler, die etwa >Anfänger< machen, weil sie zu gefühlsbetont handeln, von vorneherein rational ausgeschaltet werden. Diesem Zweck dient der Einsatz des wiederentdeckten Lehrdialogs, der Lehrende und Schüler direkt in Kontakt bringt und der deshalb didaktisch interessanter und abwechslungsreicher gestaltet werden kann als die ältere Form des monologischen Traktats. Der zentrale Unterschied zwischen Alberti und Aretino liegt auf der Oberfläche i m Personal, das sie an ihren respektiven Lehrdialogen teilnehmen lassen, aber dahinter steckt eine zutiefst unterschiedliche Bewertung des Status' und des Intellekts der Frau. Für Alberti ist die Frau dem Mann nicht nur körperlich, sondern vor allem intellektuell unterlegen. Deshalb ist es undenkbar, daß sie selbständig denken oder gar Eigeninitiative entwickeln kann, auf keinem Gebiet und schon gar nicht, was das richtige wirtschaftliche Handeln angeht. Den einzigen Versuch, den seine Frau i n diese Richtung unternimmt, verurteilt Giannozzo gnadenlos als größenwahnsinnigen Dilettantismus. Die Frau ist auf Gedeih und Verderb angewiesen auf den Mann, der sie führen und lehren muß. Wenn sie zufällig lernfähig und lernwillig ist, kann sie zu einem passabel brauchbaren Instrument i n den Händen des Mannes werden, der dieses dann für seine Zwecke einsetzen kann. Aretino ist hier offensichtlich anderer A n sicht, bestreiten seinen Dialog doch schon zwei Frauen (anstelle von vier Männern), von denen die Lehrende sich der kalt berechnenden Rationalität Giannozzos mehr als ebenbürtig erweist, weil sie als ehemalige Kurtisane mit vielschichtigeren Problemen und komplizierteren Situationen fertiggeworden ist als der biedere Giannozzo. Deshalb kann sie auch ein Selbstbewußtsein an den Tag legen, das - weil sie wirtschaftlich sehr erfolgreich war und es auch verstanden hat, ihren Wohlstand klug zu verwalten - Männern gegenüber keine M i n derwertigkeitskomplexe kennt. Dies natürlich u m so mehr, als es ihr mit ihrem Gewerbe gelungen ist, die intellektuell angeblich so überlegenen Männer nach Strich und Faden auszunehmen. Handeln nach dem Rationalitätsprinzip ist demnach keineswegs eine Männerdomäne, wie Alberti das zu suggerieren versucht hatte. Es ist nicht angeboren, aber jeder kann es lernen. Aretino denkt hier eigentlich Alberti nur zu Ende, der seiner Frau ja auch offensichtlich er-

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folgreich beigebracht hat, wie sie mit möglichst geringem Aufwand das Haus verwalten und die roba vermehren kann. Aber die Rollenverteilung, daß der Lehrende, der Wissende ein Mann sein muß, ist nicht naturgegeben, eine Frau kann sich hier als genauso kompetent erweisen und genau so viel leisten wie ihr männlicher Widerpart. Die intensive Beschäftigung Albertis und Aretinos mit dem richtigen wirtschaftlichen Handeln ist ein beredtes Beispiel dafür, daß es sich dabei u m ein ganz zentrales Anliegen der Renaissance handelt. M i t seiner geschäftstüchtigen Nanna beweist Aretino darüber hinaus, daß das richtige wirtschafliche Handeln von Standes- oder Geschlechtsdifferenzen gänzlich unabhängig ist.

Das Gewissen bei Shakespeare Von Willi Erzgräber

I n Hamlets M o n o l o g »To be, or not to be« findet sich folgende Stelle: Thus conscience does make cowards of us all, A n d thus the native hue of resolution Is sicklied o'er w i t h the pale cast of thought, A n d enterprises of great pitch and moment W i t h this regard their currents turn awry A n d lose the name of action. ( I I I , 1, 83-88) 1

I n der deutschen Ubersetzung von Schlegel-Tieck w i r d diese Stelle wie folgt wiedergegeben: So macht Gewissen Feige aus uns allen; Der angebor'nen Farbe der Entschließung W i r d des Gedankens Blässe angekränkelt; U n d Unternehmungen von Mark und Nachdruck, D u r c h diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, Verlieren so der Handlung Namen. 2

L . L. Schücking hat diese Ubersetzung an entscheidender Stelle geändert, so daß es bei i h m heißt: So macht Bewußtsein Feige aus uns allen. 3

Diese beiden Ubersetzungsversionen haben den Anstoß für die folgenden U n tersuchungen gegeben. Was bedeutet »conscience« bei Shakespeare und welche Funktion weist er diesem Begriff i n seinen Dramen zu? Die Textgrundlage für meine Ausführungen bilden die beiden Tragödien Hamlet und Macbeth und das Historiendrama Richard III.

1

Alle englischen Zitate aus Hamlet nach: The Arden Edition of the Works of William

Shakespeare, Hamlet y ed. Harold Jenkins ( L o n d o n / N e w York 1982). 2

Shakespeares Dramatische Werke in der Übersetzung von A. W. Schlegel und L. Tieck

Hamlet, 8 Bde. (Berlin 3 1902), Bd. 4,159. 3 William Shakespeare, Hamlet. Englisch und deutsch. M i t Einleitung und Anmerkungen hg. von L. L. Schücking (Wiesbaden o. J.), 157.

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W i l l i Erzgräber

Sucht man nach einem für das elisabethanische Zeitalter grundlegenden theologischen Werk, das Aufschluß über die moral-theologischen Anschauungen von Shakespeares Zeitgenossen geben kann, dann w i r d màn vor allem auf Richard Hookers Laws of Ecclesiastical Polity (1594-1597) verwiesen. 4 Hooker und andere anglikanische Theologen wandten sich der mittelalterlichen Tradition zu, u m die englische Reformation gegen die Puritaner zu verteidigen. I n diesem Sinne bezeichnet John S. Wilks in The Idea of Conscience in Renaissance Tragedy (1990) Hookers The Laws of Ecclesiatical Polity als »a bulwark i n England against the increasing spread of Calvinism«, und er sagt weiterhin: [it] did much to shore up those venerable beliefs i n a rationally apprehensible, causative and contingent universe, which had nourished Christendom over the previous four centuries. The Laws is rooted firmly i n the classical and Christian traditions, and indeed owes much to Aquinas, especially in its elevation of reason and emphasis upon the divine sanction of Natural Law. 5

Die mittelalterliche Moraltheologie trennte zwischen der »synderesis« und der »conscientia«. »Synderesis« war die Kenntnis und Erkenntnis der höchsten Prinzipien des sittlichen Denkens und Handelns; sie wurde von Thomas von A q u i n als Habitus der Vernunft angesehen, während die »conscientia« die A n wendung des durch die »synderesis« vermittelten Wissens auf den einzelnen Fall, in der thomistischen Terminologie als die »applicatio scientiae ad actum« (Summa theologica, I - I I , q. 19, a. 5.) definiert wurde. Bereits bei Thomas von A q u i n - also schon i m 13. Jahrhundert - fallen die beiden Bedeutungen i n dem Wort »conscientia« zusammen, und das gilt auch für das moraltheologische Denken des elisabethanischen Zeitalters, für Richard Hookers Laws of Ecclesiastical Polity wie für Shakespeare und die D i k t i o n seiner Charaktere. Wichtig bleibt der grundsätzliche Unterschied zwischen »conscience« i m weiteren Sinn von Synderesis und »conscience« i m Sinn der Anwendung des durch die »synderesis« vermittelten Wissens: die Synderesis bleibt unveränderliches Wissen, das Gewissen kann beeinflußt, irregeleitet werden. So stellt John S. Wilks i n seinem Buch The Idea of Conscience in Renaissance Tragedy fest: [... ] synderesis can never be mistaken, conscientia can, since evil may arise i n the syllogism by which the universal propositions of the former are misapplied to mistaken conclusions. 6

Das Wissen, das dem Menschen - auch dem Heiden, der die Offenbarung nicht kennt - durch die Synderesis vermittelt wird, heißt in der mittelalterlichen Ter4 Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical bridge, Mass./London 1977), vol. I, 81 ff.

5

John S. Wilks, The Idea of Conscience in Renaissance Tragedy

1990), 4. 6

Polity, ed. Georges Edelen (Cam-

John S. Wilks, The Idea of Conscience, 12.

(London/New York

Das Gewissen bei Shakespeare

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minologie »lex naturalis«, i m Deutschen auch mit dem Begriff »natürliches Sittengesetz« oder auch »Naturgesetz« wiedergegeben, wobei »Naturgesetz« nicht mit dem »Naturgesetz« i m Sinn der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts verwechselt werden darf. Thomas von A q u i n bringt den Inhalt der »lex naturalis«

auf folgende knappe Formel »bonum est faciendum et prosequen-

dum, malum vitandum«. 7 Wie bereits i m Zusammenhang mit der »synderesis« vermerkt, ist dieses Gesetz der Vernunft als Habitus eingeschrieben und deshalb unmittelbar zugänglich. Bei der Deutung der Shakespeareschen Tragödien ist deshalb auf den inneren Zusammenhang zwischen »nature«, »natural«, »reason« und »conscience« zu achten, w i l l man an der Bedeutung einzelner Aussagen, aber auch an der Bedeutung des gesamten Werkes nicht vorbeigehen. Auslöser der Handlung i n Hamlet

ist der Königsmord, ein Verbrechen, das

v o m Geist des Ermordeten wie folgt charakterisiert wird: GHOST:

Revenge his foul and most unnatural murder.

HAMLET:

Murder!

GHOST:

Murder most foul, as in the best it is, But this most foul, strange and unnatural. (I, 5, 25-28)

Es fällt auf, daß der Geist zweimal die Adjektive »foul« und »unnatural« gebraucht. Das Wort »unnatural« ist der beste Beweis dafür, daß Shakespeare sich an der N o r m der »lex naturalis«, »the law of nature« i n der Formulierung von Richard Hooker orientiert. 8 M i t der Tötung des Königs, des Vaters von Prinz Hamlet, hat Claudius gegen die Geboteordnung verstoßen, die i m Naturgesetz gründet; er hat zugleich gegen das Gesetz der Vernunft verstoßen, die i h m ein Wissen u m Gut und Böse vermittelt; das Adjektiv »foul« ist i n diesem Zusammenhang ein Synonym zu »unnatural« und »evil«. Gegen die Geboteordnung des natürlichen Sittengesetzes verstieß auch Hamlets Mutter, die v o m Geist so charakterisiert wird: »Ay, that incestuous, that adulterate beast« (I, 5, 42); »my most seeming-virtuous queen« (I, 5, 46). Der Auftrag, den der Geist Hamlet verkündet, lautet: »Revenge his foul and most unnatural murder« (I, 5, 25). Es geht darum, die Werteordnung des natürlichen Sittengesetzes wiederherzustellen: - nach den Worten des Geistes Rache zu üben, also appelliert er an Hamlets natürliches Wertempfinden: If thou has nature in thee, bear it not. (I, 5, 81) 7

Thomas von Aquin, Summa tbeologica, I-II, q. 94, a. 2.

8

Vgl. R. Hooker, Laws , 90: »Law rationall therefore, which men commonly use to call the law of nature, meaning thereby the law which humaine nature knoweth it selfe in reason universally bound unto, which also for that cause may be termed most fitly the lawe of reason: this law, I say, comprehendeth all those thinges which men by the light of their naturall understanding evidently know, or at leastwise may know, to be beseeming or unbeseeming, vertuous or vitious, good or evill for them to doe«. 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

98

W i l l i Erzgräber

Die Aufforderung des Geistes legt die Frage nahe, ob das Rachegebot als Teil der »lex naturalis« verstanden werden kann oder ob es nicht eine Spannung zwischen der »lex naturalis« und dem Gebot der Rache, der »lex talionis« gibt. 9 Es gibt Interpretationen, die den Geist als einen Repräsentanten der absoluten Wahrheit sehen und damit keine Spannung zwischen der Racheforderung und dem natürlichen Sittengesetz annehmen. W i r halten diese Identifikation für nicht gerechtfertigt und lenken deshalb den Blick zunächst auf die Frage, wie i m elisabethanischen Zeitalter Geistererscheinungen gedeutet wurden. I n der grundlegenden Untersuchung von J. Dover Wilson Wbat Happens in Hamlet (1935) werden i m Anschluß an zeitgenössische Dokumente drei Auffassungen unterschieden 10 : (1) die katholische Lehre deutete Geister als die Verkörperung der Seelen Verstorbener, die die Erlaubnis erhielten, für eine gewisse Zeit aus dem Purgatorium auf die Erde zurückzukehren. (2) die protestantische Lehre sah in den Geistern diabolische Wesen, die die Absicht verfolgten, die Menschen zu täuschen, zu verführen, zu verderben. Sie nahmen die Gestalt von Freunden und Verwandten an, u m ihre verderbliche Wirkung u m so besser erzielen zu können. Es sei hier erwähnt, daß diese Lehre von König James I, dem Nachfolger Elisabeths I. auf dem englischen T h r o n i n seinem Buch Daemonologie

(1597) vertreten wurde.

(3) Reginald Scot dagegen vertrat i n Discoverie ofWitchcraft

(1584) eine kri-

tisch-skeptische Auffassung. Geister sind für ihn »Illusionen melancholischer Gemüter oder schlicht und einfach Gaunereien eines Schurken« (.HamletInterpretationen, 105). Die Zeitgenossen sahen i n Scots Thesen eine Irrlehre, so daß das Buch öffentlich v o m Henker verbrannt werden mußte. Betrachtet man nun die Shakespeareschen Texte, so muß man sagen, daß er sich nicht auf eine dieser Lehren festlegt, sondern alle Auffassungen i m Dialog der verschiedenen Personen u m Hamlet vertreten werden. Horatio artikuliert die kritisch-skeptische Haltung, Barnardo äußert sich zum Geist in katholischorthodoxen Vorstellungen; Hamlet schwankt i n seiner Meinung, neigt gelegentlich auch dazu, i m Geist des Vaters, dem er sich zunächst anvertraute, ein diabolisches Blendwerk zu sehen. Es zeigt sich also, daß Shakespeare die unterschiedlichen Meinungen seines Zeitalters spiegelte, sie dramatisch nutzte, gegeneinander ausspielte, woraus 9 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch W i l l i Erzgräber, »Shakespeares Hamlet als Rachetragödie«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N . F. 35 (1994), 101-119. 10

W i l l i Erzgräber (Hg.), Hamlet-Interpretationen 101 ff.

(Darmstadt 1977), 94-126, hier

Das Gewissen bei Shakespeare

99

sich für Hamlet selbst ein fast unlösbares Problem ergibt. Kann ihn sein Gewissen i n dieser Situation leiten? Blicken w i r zunächst wieder auf den Auftrag, den der Geist Hamlet gibt. Auffallend ist die Zweiteiligkeit dieses Auftrages: Revenge his foul and most unnatural murder (I, 5, 25); i n m o d i f i z i e r t e r F o r m h e i ß t es gegen E n d e des A u f t r i t t s des Geistes: I f thou has nature i n thee, bear it not, Let not the royal bed of Denmark be A couch for luxury and damned incest. (I, 5, 81-83)

Dann aber fügt der Geist eine Anweisung hinzu, die sich auf Hamlets Verhalten gegenüber seiner Mutter bezieht: But howsomever thou pursuest this act, Taint not thy mind nor let thy soul contrive Against thy mother aught. (I, 5, 84-86)

Dieser zweite Auftrag steht in Einklang mit dem vierten Gebot, also mit den Zehn Geboten, die - nach mittelalterlicher Auffassung - eine historische Form der »lex naturalis« sind. Der erste Auftrag - den Königsmord zu rächen - steht dagegen i m Widerspruch zu dem neutestamentlichen Ausspruch: »Mein ist die Rache, spricht der Herr« (Römer 12, 19). Aber man muß zugleich zugestehen, daß der Geist mit der Forderung nach Rache ganz dem aristokratischen Ethos des elisabethanischen Zeitalters entspricht. So findet sich i n Sir William Segars Book of Honor and Armes (London 1590) der Satz: »vertue alloweth just revenge« 11 : Aus dieser Spannung, die dem aristokratisch-christlichen Ethos inhärent ist, ergibt sich der quälende Konflikt Hamlets, erklären sich seine Gewissensskrupel, die dazu führen, daß er schließlich an diesem Gewissen tragisch scheitert. Achtet man auf Hamlets Äußerungen über den Geist i m Ersten A k t , so erkennt man bereits hier eine deutliche Entwicklung: Zunächst ist er unsicher, welchem Herkunftsbereich er den Geist zuordnen soll: Be thou a spirit of health or goblin damn'd, Bring w i t h thee airs from heaven or blasts from hell, Be thy intents wicked or charitable, T h o u com'st i n such a questionable shape That I w i l l speak to thee. (I, 4,40-44)

Die verschiedenen Theorien bezüglich der Geister - diabolische Wesen oder Abgesandte des Himmels - sind hier miteinander kombiniert. Nachdem der 11

Vgl. Helmut Viebrock, Shakespeare's >Hamletauffahrenaufschreckena sign of guilty thoughts< (Arden Edition, Anm. zu V. 51) her zu deuten. U n d Macbeth erläutert seine psychische Situation in derselben Szene in einer Seitenbemerkung, die einem Monolog gleichkommt, wie folgt: I am Thane of Cawdor: I f good, w h y do I yield to that suggestion Whose horrid image doth unfix m y hair, A n d make m y seated heart knock at m y ribs, Against the use of nature? Present fears Are less than horrible imaginings. M y thought, whose murther yet is but fantastical, Shakes so my single state of man, That function is smother'd i n surmise, A n d nothing is, but what is not. (I, 3,133-142)

I n diesen Zeilen w i r d deutlich, wie das Gewissen über seine Imagination w i r k t ; der Gedanke an den Königsmord arbeitet schon i n ihm, und die Vorstellung von Zukünftigem (»horrid image«, »horrible imaginings«, »murder yet is but fantastical«) stört sein normales Lebensgefühl, den psycho-physischen Rhythmus, so daß er davon spricht, daß physische und psychische Vorgänge ablaufen »against the use of nature«. Allein schon der Gedanke an M o r d greift in die Naturordnung ein, mit der sich Macbeth - wie jeder andere Mensch - in innerer Ubereinstimmung befindet, solange er nicht gegen sein Gewissen handelt. Daß diese Beziehung zum Bereich des Guten bei Macbeth vorhanden ist, daß er nicht von Anfang an als potentieller Königsmörder charakterisiert wird, geht aus den Äußerungen von Lady Macbeth hervor, die sich i n dem Monolog finden, mit dem sie den Brief ihres Gatten kommentiert: Yet do I fear thy nature: I t is too full o' th' m i l k of human kindness, To catch the nearest way. T h o u wouldst be great; A r t not without ambition, but without The illness should attend it: what thou wouldst highly, That wouldst thou holily; wouldst not play false. .. (I, 5,16-21).

Macbeth ist nach ihren Worten »too full o' th' milk of human kindness«. Man kann »kindness« hier mit »Güte« übersetzen; wichtiger ist jedoch der Hinweis - den auch die Arden Edition gibt - daß »kind« soviel bedeutet wie »nature« oder »natural«. Das bedeutet: Macbeth befindet sich i m Einklang mit der N a tur, genauer: der »lex naturalis«, die ihm das Gütigsein vorschreibt, ihm eingibt. Deshalb meidet er »illness«, deshalb kann Lady Macbeth auch das Adverb »holily« gebrauchen, wenn sie seine innerste Willensrichtung charakterisiert. Daraus leitet sie ihre Aufgabe ab: sie möchte ihn aus der Bindung an die »lex

106

W i l l i Erzgräber

naturalis« lösen; sie ist die Versucherin, die ihm gleichsam das Tor i n den Bereich des Bösen öffnet. Wenn Lady Macbeth sich auf ihre Aufgabe vorbereitet, ruft sie Geister an, die sie zur verkörperten Grausamkeit werden lassen können. Dabei zeigt sich, wie sie bestrebt ist, sich aus allen Bindungen an die Natur, i m physischen wie i m moralischen Sinn, zu lösen: »unsex me here« (I, 5, 41); »Stop up th* access and passage to remorse; / That no compunctious visitings of Nature / Shake my fell purpose« (I, 5, 44-46). M i t der zweiten Wendung spielt sie auf die Gewissensbisse an, die - so können w i r »Nature« hier interpretieren - die Stimme der »lex naturalis« i n ihrem Bewußtsein bezeichnen. Dementsprechend ist auch »Nature's mischief« (I, 5, 50) i m Sinne Johnsons als »mischief done to nature, violation of nature's order committed by wickedness« zu interpretieren. 16 Die monologische Selbstanalyse, die Macbeth zu Beginn der 7. Szene des I. Aktes vornimmt, beweist, daß er noch ein intaktes Wertbewußtsein besitzt: Er spricht von »even-handed Justice« (I, 7, 10); er kann genau benennen, welche Gründe gegen eine Ermordung Duncans sprechen: »I am his kinsman and his subject« (I, 7, 13); »his host« (I, 7, 14); »Besides, this Duncan / Hath borne his faculties so meek« (I, 7, 16-17). Zugleich hebt Macbeth hervor, welches das einzige M o t i v ist, das ihn zu seinem Handeln antreibt: Ehrgeiz. I have no spur To prick the sides of m y intent, but only Vaulting ambition, which o'erleaps itself A n d falls on th'other - (I, 7, 25-28)

Ironischerweise nimmt Macbeth mit diesem Bild zugleich seinen Fall vorweg. Die Umstimmung des Protagonisten erfolgt durch eine raffinierte Argumentation, in der Lady Macbeth ihre Liebe zu ihm und sein Streben nach Größe ins Spiel bringt (vgl. I, 7, 38-41), und mit praktisch-nüchternem Sinn schiebt sie auch seine Befürchtung, sie könnten vielleicht scheitern, beiseite (vgl. I, 7, 60 73). Allerdings zeigt sich, daß sie unmittelbar nach der Tat gesteht, daß sie den König nicht hätte ermorden können: H a d he not resembled M y father as he slept, I had done't. - (II, 2,12-13)

Wiederum w i r d deutlich, wie durch die Natur (hier die natürliche Bindung der Tochter an den Vater) bestimmte Barrieren geschaffen werden, die den Raum des Guten gleichsam vor dem Einbruch des Bösen schützen. Einen Einblick i n die psychische Situation des Helden unmittelbar vor der Ermordung des Königs vermittelt der berühmte Dolchmonolog zu Beginn des 16

Ebd., 31, A n m . 50.

Das Gewissen bei Shakespeare

107

II. Aktes. Macbeth leidet unter einer Vision - der Vision des Dolches, auf dem er Blut erblickt. Zwar versucht Macbeth diese Vision beiseite zu schieben (»There's no such thing«, I I , 1, 47), aber er muß sogleich in aller Nüchternheit feststellen: I t is the bloody business which informs Thus to mine eyes. - (II, 1, 48-49)

Die Bilder und Visionen antizipieren nicht nur das Künftige, unmittelbar bevorstehende Geschehen, sondern verraten auch, unter welchen Gewissensqualen ein Königsmörder wie Macbeth leidet. Die dramatische Technik, die Shakespeare dabei verwendet, hat Clemen wie folgt charakterisiert: Aber weder w i r d das moralische Problem, u m das es hier geht, ausgesprochen, noch w i r d die innere Auseinandersetzung mit den Mitteln einer begrifflichen Sprache verdeutlicht. Vielmehr ist der Monolog ganz herausgelöst worden aus der Sphäre begrifflicher und moralischer Auseinandersetzung, denn diese hat sich in einen bildhaften, dramatischen Erlebnisvorgang verwandelt. 1 7

Nach der Ermordung des Königs Duncan spürt Macbeth in zunehmendem Maße, daß er sich mit dieser Tat in eine paradoxe Situation gebracht hat: Zwar ist er König geworden, aber wenn die Hexen die Wahrheit gesprochen haben, bleibt dies ein Königtum ohne Nachfolger; er sieht ein, daß er einen M o r d beging, letztlich aber nur, u m den zweiten Teil der Prophezeiung i n die Tat umzusetzen: Banquos Nachfahren werden die Krone erben (Vgl. I I I , 1, 63-69). I n seiner Empörung fordert er das Schicksal in die Schranken: »come, fate, into the list« ( I I I , 1, 70). Er w i l l Banquo und dessen Sohn Fleance töten lassen und so die Hexen Lügen strafen. Aus dem Dialog des Macbeth mit den M ö r dern geht hervor, daß er bei der Ausführung des Mordplanes keinerlei Gewissensbisse mehr empfindet, sondern sich einem - i m Grunde primitiven - Kalkül überläßt: Wenn Banquo beseitigt ist, werden - so meint Macbeth - auch seine quälenden Träume ein Ende haben. I n der Selbstanalyse, die er i m Dialog mit Lady Macbeth bietet, kommentiert er ihre gemeinsame Situation wie folgt: We have scorch'd the snake, not k i l l ' d it: She'll close, and be herseif; whilst our poor malice Remains in danger of her former tooth. ( I I I , 2,13-15)

Das Bild der Schlange, die nur verletzt, nicht getötet wurde, ist unterschiedlich ausgelegt worden: Ich halte die Deutung, die W.H. Toppen i n seinem Buch Conscience in Shakespeare's >Macheth< (1962, 229) vorbringt, für überzeugend: er sieht i m Bild der Schlange i n diesem Kontext ein Symbol für das Gewissen, 17

Wolfgang Clemen, Shakespeares Monologe (Göttingen 1964), 50.

108

Willi Erzgräber

das n i c h t ausgetilgt w u r d e u n d sich deshalb i m m e r w i e d e r regt. Es sei daran erinnert, daß Gewissensbiß i m M i t t e l e n g l i s c h e n »agenbite o f i n w i t « hieß, u n d die Gefahr, die M a c b e t h fürchtet, besteht darin, v o m B i ß der Schlange, v o n i h r e m Z a h n verletzt z u w e r d e n . F ü r die D e u t u n g Toppens spricht beispielsweise auch das folgende T i e r b i l d , m i t d e m M a c b e t h seinen seelischen Z u s t a n d charakterisiert: » O , f ü l l o f scorpions is m y m i n d , dear w i f e « ( I I I , 2, 36). V o n diesem A u g e n b l i c k an m a c h t sich eine ständig z u n e h m e n d e Zersetzung u n d A u f l ö s u n g des m o r a l i s c h e n B e w u ß t seins bei M a c b e t h bemerkbar. A . L . u n d M . K . K i s t n e r haben auf A l e x a n d e r H u m e ' s Treatise

of Conscience

(1594) hingewiesen, w o i n systematisierender

Weise das Verhalten eines M e n s c h e n beschrieben w i r d , der u n t e r Gewissensqualen leidet; es zeigt sich, daß v o n den insgesamt sieben Verhaltensweisen, die H u m e unterscheidet, sechs bei M a c b e t h angetroffen w e r d e n k ö n n e n . 1 8 W i r fassen die Resultate zusammen: 1. D e r Protagonist beschäftigt sich m i t seiner A n g s t u n d seiner V e r z w e i f lung; er geht dabei n i c h t auf die W u r z e l allen Ü b e l s , sein sündhaftes V e r h a l t e n ein u n d zeigt keinerlei Reue. 2. E r tadelt andere, z. B . die gedungenen M ö r d e r , die den v o n M a c b e t h erteilten A u f t r a g n u r z u r H ä l f t e erledigen. 3. E r sucht diejenigen z u vernichten, die nach seinem U r t e i l an seinen i n n e ren Q u a l e n schuld sind. D i e s g i l t f ü r das U r t e i l v o n M a c b e t h ü b e r B a n q u o . 4. E r w e n d e t sich Wahrsagern z u ; i n diesem Sinn sucht M a c b e t h i m IV. A k t erneut die H e x e n auf u n d i n t e r p r e t i e r t ihre Aussagen z u seinen G u n s t e n . E r glaubt n i c h t , daß sich der W a l d v o n B i r n a m auf den H ü g e l v o n D u n s i n a n e h i n bewegen k ö n n e , u n d er legt auch die Botschaft »none o f w o m a n b o r n / Shall h a r m M a c b e t h « (IV, 1, 80-81) i n seinem Sinne aus. 5. Sobald sich ein w e n i g E n t s p a n n u n g abzeichnet, k e h r t der Schuldige z u seinem verbrecherischen Verhalten z u r ü c k . I m H i n b l i c k auf M a c b e t h bedeutet dies: N a c h der E r m o r d u n g D u n c a n s schöpft er sehr b a l d M u t z u e i n e m w e i t e ren M o r d : er läßt B a n q u o beseitigen. U n d nach der E r m o r d u n g Banquos sieht er i n der T ö t u n g v o n L a d y M a c d u f f u n d i h r e n K i n d e r n w i e d e r u m eine Chance, den G a n g des Schicksals z u seinen G u n s t e n z u beeinflussen. 6. A l s schließlich die Lage ausweglos erscheint u n d die V e r z w e i f l u n g unerträglich w i r d , b l e i b t f ü r i h n n u r der T o d als einziger A u s w e g . E i n e n H ö h e p u n k t erreicht die Selbstanalyse des Protagonisten i n d e m A u g e n b l i c k , i n d e m er erfährt, daß die K ö n i g i n t o t ist. I n äußerster G e f ü h l l o s i g k e i t b e m e r k t er: »She s h o u l d have d i e d hereafter« (V, 5, 17). U n m i t t e l b a r i m A n s c h l u ß daran g i b t 18

Vgl. A. L. and M . K. Kistner, »Macbeth«, 35 ff.

Das Gewissen bei Shakespeare

109

Macbeth in gedrängter Form und in prägnanten Bildern das nihilistische Fazit seines Lebens: To-morrow, and to-morrow, and to-morrow, Creeps in this petty pace from day to day, To the last syllable of recorded time; A n d all our yesterdays have lighted fools The way to dusty death. O u t , out, brief candle! Life's but a walking shadow; a poor player, That struts and frets his hour upon the stage, A n d then is heard no more: it is a tale Told by an idiot, full of sound and fury, Signifying nothing. (V, 5,19-28)

Aus seiner Erfahrung, seiner individuellen Schuld, seinem Verbrechen und seinem Scheitern glaubt Macbeth ein universales Gesetz ableiten zu können. Es wäre jedoch falsch, wollte man in dieser Äußerung ein persönliches Credo Shakespeares sehen; solche >Bekenntnisdichtung< gibt es bei Shakespeare (noch) nicht. Shakespeare denkt in Rollen; er läßt die Charaktere sagen, was ihrem Charakter, ihrer persönlichen Empfindungsweise und der besonderen Situation angemessen ist, in der sie sich jeweils befinden. Vergleicht man die Entwicklung von Macbeth und Lady Macbeth, so ergibt sich eine deutliche Antithese: Während Macbeth ein subtiles Wertempfinden, eine moralisch differenzierte Sensibilität besitzt, für die Lady Macbeth die Formel findet: »too full o' th' milk of human kindness« (I, 5, 17), während er weiterhin danach Schritt für Schritt innerlich verhärtet, sein Gewissen ausbrennt, seine Vernunft nur noch i m rein instrumentellen Sinn funktioniert, verliert Lady Macbeth ihrerseits den dämonisch-grausamen Gestus, mit dem sie ihn zum Königsmord trieb. Dabei zeichnen sich deutliche Unterschiede in ihren Reaktionen ab, die durch die besondere Situation des Macbeth bedingt sind. Vor der Ermordung Banquos verrät ein kurzer Monolog, daß sie in dieser Phase noch kühl räsonnieren kann: Nought's had, all's spent, Where our desire is got without content: 'Tis safer to be that which we destroy, Than by destruction dwell in doubtful joy. ( I l l , 2, 4-7)

U n d als Macbeth in der Gastmahlszene vor dem Geist des Banquo zurückschreckt, glaubt sie, die Situation durch Klugheit und praktische Ratschläge beherrschen zu können. I n der Schlafwandel-Szene zeigt sich jedoch deutlich, daß nichts mehr von ihrer scheinbar so majestätischen Größe und der souveränen Selbstbeherrschung übrig geblieben ist: Als sie (in der ersten Szene des V. Aktes) auf der

110

W i l l i Erzgräber

Bühne erscheint, reibt sie die Hände, als ob sie Blutspuren beseitigen wolle; ihre sprachlichen Äußerungen sind stichwortartig-assoziativ und bezeichnen den Horizont eines von Schuld gequälten Bewußtseins: »Yet here's a spot« (V, 1, 30); »Out, damned spot« (34); »Hell is murky« (35); »Yet who w o u l d have thought the old man to have had so much blood in him?« (38-39). D o c h weder die visuellen Spuren des Blutes noch sein Geruch lassen sich tilgen. Das Klopfen am Tor, das Lady Macbeth wahrnimmt, läßt sich als Pochen ihres Gewissens deuten, über das sie sich mit dem knappen Satz hinwegsetzt: »What's done cannot be undone« (V, 1, 64). Aufschlußreich ist der Kommentar des Arztes: »More needs she the divine than the physician« (V, 1, 71). Daraus geht in aller Deutlichkeit hervor, daß ihre Krankheit, ihr Wahnsinn kein medizinisches, physisches Problem ist, sondern in einer psychischen Schicht ihren Ursprung hat, in die nur der Seelsorger, der Theologe vordringen kann. I n diesem Sinne ist es bemerkenswert, daß auch der A r z t sich des Begriffes »unnatural« bedient und feststellt: Unnatural deeds D o breed unnatural troubles... (V, 1, 68-69)

Er sieht, daß der Wahnsinn der Lady Macbeth mit einem Verstoß gegen die Naturordnung i m moraltheologischen Sinn zusammenhängt. Lady Macbeth und Macbeth haben »unnatural deeds« begangen, die i m Menschen Leiden hervorrufen, die ihrerseits mit dem Adjektiv »unnatural« zu charakterisieren sind. Die Formulierung, mit der John S. Wilks (in The Idea of Conscience in Renaissance Tragedy ) seine Interpretation des Protagonisten abschließt, ließe sich auch auf Lady Macbeth übertragen: »the light of his [her] conscience thickens, darkens, and becomes finally extinct«. 1 9 I n den bisherigen Ausführungen standen die Protagonisten zweier Tragödien i m Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Abschließend sei der Blick auf die vierte Szene i m I. A k t von Richard III. (und i m Anschluß daran auf V, 3) gelenkt, w o zwei Mörder sich über ihr Verhältnis zum Gewissen äußern und dabei in einer komisch-verspielten Betrachtung bis zu letzten Fragen über Schicksal und Gerechtigkeit vordringen. Shakespeare hat mit subtilem Geschick die Szene dadurch i n den Duktus des dramatischen Geschehens eingegliedert, daß er zwei Mörder auftreten läßt, bei denen das Sensorium für das Gewissen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Der erste Mörder spricht mit einer gewissen Stumpfheit über moralische Fragen, der zweite zeigt ein differenziertes Wertbewußtsein, obwohl er schließlich auch der Ermordung des Duke of Clarence zustimmt. Die dramatische Situa19

Wilks, The Idea of Conscience , 143.

Das Gewissen bei Shakespeare

111

tion gewinnt dadurch an Spannung, daß die Mörder den Herzog nicht i m Schlaf überfallen, sondern warten, bis er erwacht und sie mit ihm über ihr Vorhaben diskutieren. Die Frage des zweiten Mörders: »What, shall I stab him as he sleeps?« (I, 4, 99) 2 0 bildet den Ausgangspunkt des Dialogs, den die beiden Mörder vor dem schlafenden Duke of Clarence führen; die Situation selbst sowie der H i n weis auf das schlafende Opfer erinnern an Macbeth, der freilich seine Chance nutzt und den König i m Schlaf ermordet. I m Anschluß an die Frage » [ . . . ] shall I stab h i m as he sleeps?« werden die Grundprobleme i n der Darstellung des Gewissens berührt und damit die moraltheologische Thematik, die in Hamlet und Macbeth i n breit angelegten Konfliktsituationen entfaltet wird, in konzentrierter Form dargeboten. Das Wort »Judgement« weckt i m zweiten Mörder Gewissensbisse: The urging of that word, >JudgementRespons< auf Cervantes' Don Quijote

141

H e l d i n lebt in gänzlicher Zurückgezogenheit von der Welt und widmet sich - darin liegt das Vergleichsmoment mit dem Scottschen Protagonisten - ausschließlich der Lektüre der heroisch-galanten Großromane La Calprenedes und Madeleine de Scuderys, die ihre Vorstellungswelt bis zum völligen Verkennen der Wirklichkeit usurpieren. Es handelt sich also u m eine einsträngige Determinierung durch Lektüreerlebnisse, wie drei nach dem Erzählen anfänglicher komischer Begebenheiten eigens eingeschaltete Kapitel dokumentieren, 5 die die Hauptfigur i n ihrer Exponiertheit für bloße Leseerfahrungen zeigen. Arabella bewegt sich zwar i n einem bestimmbaren sozialen Milieu, dem aristokratischen Ambiente ihres Vaters, aber ihre Charakterfixierung und ihr davon bestimmtes extravagantes Verhalten entbehren jeglicher Fundierung durch sozial- oder zeitgeschichtliche Einflüsse. Eine einseitige, lektürebedingte und ein lächerlich wirkendes Realitätsverständnis auslösende Charakterfixierung prägte auch weiterhin die englischen Romanfiguren i n der Nachfolge D o n Quijotes. So ist Geoffry Wildgooses Enthusiasmus in Richard Graves' The Spiritual Quixote (1772) ebenfalls eindeutig lektürebestimmt, wie der interpolierte »Essay on Quixotism« bekräftigt. 6 E i n offenbar recht populärer weiblicher Quijote stand Scott noch unmittelbar vor der Veröffentlichung Waverleys

i n der Gestalt Cherubinas vor Augen, der H e l -

din von Eaton Stannard Barretts verschiedene literarische Modeströmungen ironisch reflektierendem Roman The Heroine , or Adventures

of a Fair Ro-

mance Reader (1813)7 Das von Cervantes aufgenommene M o t i v des Verfehlens der Wirklichkeit durch Lektüreeinfluß war also von englischen Autoren bis i n die Romanliteratur des frühen 19. Jahrhunders kontinuierlich fortgeschrieben worden. Wie stellt sich Waverley

i m Verhältnis zu dieser Tradition

dar? III. A u f den ersten Blick scheinen Edward Waverleys Abgeschiedenheit von der Welt und seine damit verbundene Versenkung i n Lektüre, die ihn von der Realität abschirmt, Scotts Roman und die angesprochenen Werke unter ein gemeinsames Dach zu stellen. Die wenigen Arbeiten, die den Beziehungen zwischen Waverley

und Don Quijote beziehungsweise dessen englischen Nachahmungen

nachgehen, bemühen sich teils sogar, diesen Anschein wissenschaftlich zu be5

Siehe The Female Quixote , Buch I, Kap. 12 und 13 sowie Buch I I , Kap. 1.

6

Vgl. Richard Graves, The Spiritual Quixote or the Summer's Ramhle of Mr. Geoffry

Wildgoose. 39. 7

A Comic Romance, ed. Clarence Tracy (London / N e w Y o r k / T o r o n t o 1967),

Siehe zu diesem Roman Robert A. Colby, Fiction with a Purpose. Major and Minor

Nineteenth-Century

Novels ( B l o o m i n g t o n / L o n d o n 1968), 51-53.

142

Heinz-Joachim Müllenbrock

glaubigen. Ein besonders krasses Beispiel oberflächlicher Evaluierung bietet Ian Duncans kürzliche, von modischem geschlechtsspezifischen Jargon belastete Untersuchung Modern Romance and Trans formations

of the Novel

The Go-

thic, Scott, Dickens (1992). Deren Verfasser leitet Scotts kurzerhand zur Romanze reduzierte neue Gattung nicht nur aus dem in dem einleitenden Kapitel von Waverley

doch in deutlicher Distanz gehaltenen gotischen Genre ab:

»Scott's new kind of novel, the historical romance, amplifies the project of Gothic fiction i n bringing history into discourse as a theme [ . . . ] « . 8 Darüber hinaus statuiert er die generische Identität Waverleys und der weiblichen QuijoteFiguren: » [ . . . ] Edward Waverley is less like D o n Quixote, w h o rides out to force his visions on the world, than the generic type of eighteenth-century romance reader, the female quixote, whose imagination suspends her from intercourse w i t h society«. 9 Demgemäß sieht er Scotts Protagonisten als männliche Entsprechung zu Lennox' Arabella und auch zu A n n Radcliffes E m i l y i n The Mysteries of Udolpho (1794) 1 0 - von letzterem Roman war Scott in dem erwähnten Eröffnungskapitel zu Waverley

bei der Erläuterung seines gattungs-

spezifischen Vorhabens übrigens unmißverständlich abgerückt! 1 1 Eine Fehlbeurteilung i n konzentrierter Form liegt i n Werner Wolfs folgender Charakterisierung des Scottschen Helden vor: Trotz einiger Ansätze zur Historisierung dominiert also in Waverley das Überzeitliche, denn seine phantasie- und romanzengesteuerte Wirklichkeitswahrnehmung ist nicht etwa als zeittypische, romantische Disposition, sondern als überzeitliche Funktion seiner Jugend gekennzeichnet. Überdies manifestiert sich die Zeitlosigkeit von Waverleys Verhalten darin, daß er nicht nur als Liebhaber einen intertextuellen Präzedenzfall hat, sondern auch in seinem getrübten Realitätssinn: nämlich D o n Quijote. 1 2

IV. Solchen Einschätzungen gegenüber hat Wolfgang G. Müller zu Recht geltend gemacht, daß sich Edward Waverley trotz aller Reminiszenzen an Cervantes in wesentlichen Belangen sowohl von D o n Quijote als auch dessen englischen Imitationen unterscheidet. 13 So setzt er auseinander, daß Scotts Prota8

Ian Duncan, Modern Romance and Transformations

of the Novel. The Gothic, Scott,

Dickens (Cambridge 1992), 56. 9

Ibid., 63.

10

Siehe ibid., 67-68.

11

Siehe Sir Walter Scott, Waverley

( L o n d o n / N e w York: Everyman's Library, 1969),

63. 12 Werner Wolf, »Die Domestizierung der Geschichte. Eine These zur Funktion des englischen historischen Romans im 19. Jahrhundert am Beispiel von Scott, Thackeray und

Dickens«, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 231 (1994), 279.

Scotts Waverley

als >Respons< auf Cervantes' Don Quijote

143

gonist u m die Diskrepanz zwischen Phantasiewelt und tatsächlicher U m w e l t wisse, über eine intensive, spezifisch romantisch zu nennende Einbildungskraft verfüge, nicht direkt mit seiner U m w e l t kollidiere 1 4 und daß Scott schließlich »eine genaue Beschreibung des sozio-politischen Milieus« 1 5 liefere, i n dem Waverley aufwächst - auf diesen besonders wichtigen Punkt w i r d zurückzukommen sein. I n einem erst kürzlich erschienenen weiteren Beitrag hat Müller insbesondere diese letzte Differenzierung bekräftigt. 1 6 Gleichwohl legt Müller überzeugend dar, i n welcher Hinsicht sich Scott an Cervantes anlehnt, u m Waverleys Verhalten zu kennzeichnen. A n Müllers zustimmend referierte Ausführungen kann in diesem A r t i k e l angeknüpft werden. Man kann und muß aber über sie hinausgehen, u m - was nicht i n Müllers Absicht lag - die Korrespondenzen zu Don Quijote i n ihrer funktionalen Bindung an die gattungsspezifischen Verpflichtungen Scotts als historischer Romancier zu würdigen. Zur weiteren Abklärung dieses literarischen Verhältnisses sei Scotts gleichermaßen ausdrückliche wie ausführliche Bezugnahme auf Cervantes zu Beginn des fünften Kapitels von Waverley

i n Erinnerung gerufen:

From the minuteness w i t h which I have traced Waverley's pursuits, and the bias which these unavoidably communicated to his imagination, the reader may perhaps anticipate in the following tale, an imitation of the romance of Cervantes. But he w i l l do my prudence unjustice in the supposition. M y intention is not to follow the steps of that inimitable author, in describing such total perversion of intellect as misconstrues the objects actually presented to the senses, but that more common aberration from sound judgment, which apprehends occurrences indeed in their reality, but communicates to them a tincture of its own romantic tone and colouring. 1 7

Die Erklärung des Erzählers w i r d dem literarischen Sachverhalt genau gerecht. Zwar schreibt Wolf: »Das auktoriale Dementi einer unmittelbaren Entsprechung zwischen Waverley und Cervantes' Helden [ . . . ] lenkt gleichwohl den Blick auf trotzdem vorhandene Parallelen«, 18 doch sind die Abweichungen und Aussparungen generisch aussagekräftiger als die der leitenden Intention unterstellten Gemeinsamkeiten. Diese richtet sich darauf, wie das letzte Kapi13 Siehe Wolfgang G. Müller, »Sir Walter Scotts Waverley Tradition«, arcadia , 23 (1988), 133-148. 14

und die Don

Quijote-

Siehe ibid., 136-138.

15

Ibid. , 138.

16

Siehe Wolfgang G. Müller, »Romantische und realistische Gestaltungselemente in Sir

Walter Scotts Waverley«, Fiktion und Geschichte in der anglo-amerikanischen Literatur. Festschrift für Heinz-Joachim Müllenbrock zum 60. Geburtstag, hg. Rüdiger Ahrens, Fritz-Wilhelm Neumann (Heidelberg 1998), 201-218, bes. 202-203. Vgl. auch id., »Don Quijote-Figuren als unzeitgemäße Helden in der englischen Literatur«, Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur, hg. Gerhard R. Kaiser (Heidelberg 1998), 109. 17

Waverley,

18

Wolf, »Die Domestizierung der Geschichte«, 279, Anm. 31.

82.

144

Heinz-Joachim Müllenbrock

tel, »A Postscript, which should have been a Preface«, i n wünschenswerter Deutlichkeit theoretisch bestätigt, die Begegnung Waverleys mit der englischschottischen Geschichte auf einer dem historischen Bewußtsein der Zeit Rechnung tragenden Realitätsgrundlage 19 zu gestalten. M i t welchem Bedacht Scott von der literarischen Tradition abrückt, u m neuartige Gattungserwartungen zu wecken, erhellt ferner daraus, daß er die Differenz zu Cervantes scharf akzentuiert, obgleich er, wie der Essay ort Chivalry belegt, 20 keineswegs der Ansicht war, daß D o n Quijotes Verhalten jeglicher Bezüge zur Wirklichkeit entbehrte. 21 Die zitierte auktoriale Erklärung unterstreicht den Primat realistischer Gestaltungstendenz, indem sie imaginativer Überspanntheit lediglich die Funktion einräumt, die Wirklichkeit subjektiv zu färben, nicht jedoch, diese zu verfehlen. D e m Spielraum cervantinischen Einschlags werden also gattungsmäßig klar umrissene Grenzen gezogen. Deshalb darf i m Zusammenhang dieser schriftstellerischen Selbstverlautbarung dem Adjektiv »inimitable« nicht nur die komplimentäre Bedeutung »incapable of being imitated« oder »surpassing imitation«, sondern darüber hinaus die die Gesetze des eigenen Schaffens reflektierende Bedeutung »not to be imitated« zugeschrieben werden. Das Epitheton signalisiert Scotts Absage an eine Donquichottiade.

V. Scotts literarische Praxis stimmt mit seinen theoretischen Präferenzen überein. Die literarische Autonomie Waverleys geht am klarsten aus der bereits von Müller registrierten Verankerung Waverleys in seinem politisch-sozialen U m feld hervor. Als Indikator der gattungsmäßigen Eigengesetztlichkeit des neuen, von Scott etablierten historischen Romans verdient dieser Umstand aber noch eingehendere Beachtung, denn er zeigt die veränderte Ausgangsbasis von Waverley gegenüber Don Quijote und den englischen Nachahmungen des 18. Jahrhunderts an. Die Motivationslage für Waverleys Werdegang verhält sich nämlich genau umgekehrt zu der von Wolf vermuteten Konstellation; nicht das Überzeitliche, sondern das Historisch-Zeitbedingte hat Vorrang. Wenn man - mit Theodor Wolpers - zwischen Primärmotiven, die aus dem »Fundus des Menschheitstypischen« schöpfen, und Sekundärmotiven unterscheidet, die kulturspezifischer A r t und »als Potential bereits in den objektiven Gegebenheiten 19

Vgl. Heinz-Joachim Müllenbrock, Der historische Roman des 19. Jahrhunderts (Hei-

delberg 1980), 25. 20

Siehe The Miscellaneous Prose Works of Sir Walter Scott, Bart., vol. V I (Edinburgh/

London 1849), 86-87. 21 Vgl. W.U. McDonald, Jr., »Scott's Conception of D o n Quixote«, Midwest (March 1959), 40-41.

Review

Scotts Waverley

als >Respons< auf Cervantes' Don Quijote

145

einer Epoche und Region angelegt« 22 sind, w i r d deutlich, daß Scotts Protagonist zuallererst i m Zeichen der zweiten Kategorie, also von ihn prägenden historischen Rahmenbedingungen agiert, die seine Persönlichkeitsentfaltung unmittelbar tangieren. Scotts literarische Strategie macht die Priorität des Historisch-Spezifischen manifest, denn die Darstellung von Waverleys politisch-gesellschaftlichem Milieu ist nicht nur ausführlich, sondern - und das ist der entscheidende, i n den einschlägigen Arbeiten bisher unberücksichtigt gebliebene Punkt - geht allen anderen Informationen voraus, die dadurch nur nachgeordnete Relevanz beanspruchen können. M i t dem Satz »A difference in political opinions had early separated the Baronet from his younger brother Richard Waverley, the father of our hero« 2 3 beginnt i m zweiten Kapitel die Darlegung der doppelten >Vaterschaft< Waverleys, die einer politisch-ideologischen Dichotomie gleichkommt. Infolge der von Scott geschilderten Verhältnisse unterliegt der H e l d des Romans von früher Jugend an hauptsächlich dem Einfluß seines Onkels Sir Everard Waverley, dessen altfränkische Neigungen diesen mit dem abgesetzten Königshaus Stuart in stiller Loyalität sympathisieren lassen. Der Protagonist wächst also auf Waverley-Honour i n einem traditionalistischen Milieu auf, das seine nostalgische Hinwendung zu den politischen Kräften der Vergangenheit von vornherein begünstigt. Daß die von Sir Everard und seiner Umgebung unterhaltenen politischen Anschauungen auf Grund des Weges, den Großbritannien mit der Thronbesteigung der Hannoveraner eingeschlagen hatte, bereits obsolet waren 2 4 und nur noch von einer kleinen Minderheit geteilt wurden, beeinträchtigt die realistische Gestaltungsgrundlage dieses Romans nicht. M i t der realgeschichtlichen Motivierung w i r d die i m dritten Kapitel behandelte Erziehung Waverleys korreliert. Sie liegt in den Händen eines Tutors, der als non-juror 25 die politischen Sympathien Sir Everards teilt, so daß die familienbedingte politisch-ideologische Beeinflussung Waverleys auf dieser Ebene ihre Fortsetzung und Vertiefung findet. Erst danach - gewissermaßen als drittem Beweggrund für kommendes Geschehen - w i r d auf die Lektüreeinflüsse des phantasiebegabten, träumerisch veranlagten und weitgehend sich selbst überlassenen Waverley Bezug genommen, die eine Welt ritterlicher Wertvorstellungen zu seinem willkommenen Refugium werden lassen. Sie tragen kräftig dazu bei, daß die politische Tradition des Hauses Waverley in das verklärende Licht der Vergangenheit getaucht wird. Als hätte die Cervantes-Referenz 22 Theodor Wolpers, »Motive und Motivinnovationen in Shakespeares Historien: Bestimmungskriterien und Beispiele«, Fiktion und Geschichte [Müllenbrock-Festschrift], 60.

23

Waverley,

24

Vgl. James Kerr, Fiction against History. Scott as Storyteller Vgl. Waverley, 74.

25

66.

10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

(Cambridge 1989), 27.

146

Heinz-Joachim Müllenbrock

den literarischen Sonderstatus Waverleys

noch nicht ausreichend definiert, holt

Scotts Erzähler am Ende desselben fünften Kapitels, welches die Berufswahl des Helden schildert und die auf diesen einwirkenden zeitgeschichtlichen U m stände detailliert darlegt, erneut zu einer grundsätzlichen Positionsbestimmung aus: I beg pardon, once and for all, of those readers who take up novels merely for amusement, for plaguing them so long w i t h old-fashioned politics, and Whig and Tory, and Hanoverians and Jacobites. The truth is, I cannot promise them that this story shall be intelligible, not to say probable, without it. M y plan requires that I should explain the motives on which its action proceeded; and these motives necessarily arose from the feelings, prejudices, and parties, of the times. 26

Diese abermalige auktoriale Erklärung - die unmittelbar anschließende Wendung an die an solche Fundierung nicht gewöhnte weibliche Leserschaft vervollständigt Scotts Absetzung von der literarischen Tradition - unterstreicht unmißverständlich, daß cervantinische Impulse i n Waverley keine gradlinige Fortsetzung finden, sondern nur ein bedingtes, durch die andersartige und übergeordnete Motivationsbasis des historischen Romans kontrolliertes M i t spracherecht haben. Gleichwohl erhellt die modifizierende Fortschreibung des Don Quijote

das generische Selbstverständnis von Scotts gattungsprägendem

Erstling.

VI. I n den bisherigen Ausführungen sollte deutlich gemacht werden, daß Waverley nicht als naher, sondern allenfalls als Verwandter zweiten Grades von D o n Quijote anzusehen ist. Von den cervantinischen Frauenfiguren des 18. Jahrhunderts hebt sich Waverley durch die bei diesen nicht gegebene gesellschaftlichzeitgeschichtliche Motivierung problematischer Realitätsauffassung markant ab; eine Gestalt wie Lennox' Arabella kann deshalb aus vergleichendem Blickwinkel nur als kontrastives, nicht aber als äquivalentes Pendant zu Waverley bezeichnet werden. Dessen Schicksal w i r d nicht nur »nicht monokausal aus seiner quijotischen Disposition erklärt«, 2 7 sondern i n dem auf ihn einwirkenden Geflecht von Faktoren ragt - wie erläutert - die historisch-soziale Motivierung als initiierendes und insofern bestimmendes Moment heraus. Die strukturelle Kompatibilität zwischen Don Quijote sowie den englischen Nachahmungen einerseits und Waverley

andererseits w i r d auch dadurch abgeschwächt, daß Scott

- anders als Smollett i n The Life and Adventures

of Sir Launcelot Greaves

(1762) und Graves i n The Spiritual Quixote - seinem Protagonisten keine San26

Ibid., 89.

27

Müller, »Sir Walter Scotts Waverley«,

148.

Scotts Waverley

als >Respons< auf Cervantes' Don Quijote

147

cho Panza ähnliche Figur beigesellt hat. Schließlich hat man auch zu bedenken, daß in Waverley nicht nur keine direkten Zusammenstöße des Helden mit seiner U m w e l t stattfinden, der vollkommen ohne missionarische Züge ausgestattet ist. Darüber hinaus ist zu betonen - und das ist für das geistige Timbre des Romans wichtig - , daß Waverleys Verstrickung i n das Unternehmen der Hochländer, mit der die Mißachtung der kaum mehr rückgängig zu machenden politischen Realitäten der Jahrhundertmitte verbunden ist, nichts Lächerliches anhaftet - sonst wäre die tragische Komponente der jakobitischen Erhebung gar nicht darstellbar gewesen! Soweit K o m i k bei Scott eingesetzt wird, schränkt sie in ausbalancierender Weise mögliche Tendenzen zur Idealisierung 28 vergangener Gesellschaftszustände ein, macht aber vor der kruden Entlarvung eines i m Sinne der Donquichottiaden als vorübergehende Verrücktheit einzustufenden Gebarens halt. VII. Die vorstehenden Überlegungen haben zur Genüge gezeigt, daß Don Quijote für Scotts Gestaltungsintentionen i n Waverley nur eine limitierte Fungibilität besaß. Daß der schottische A u t o r auf Cervantes zurückgriff, hängt w o h l auch damit zusammen, daß er sich bei seinem innovativen Sprung zugleich einer willkommenen narrativen Stütze bedienen konnte, u m sich mit seinem Publikum ins Benehmen zu setzen. So ist der Handlungsgang etwa als eine Reise konzipiert, die Waverley auf eine Reihe von Abenteuern führt, die an die Struktur des spanischen Bezugswerkes erinnern. Nach dem Ausgeführten bleibt noch darzulegen, in welcher Weise Scott den lediglich partiellen Anschluß an Don Quijote für seine Zwecke nutzbar gemacht hat. Die Handhabung diesbezüglicher Korrespondenzen kommt dem literarischen Ziel dieses Romans - Scharfeinstellung auf die englisch-schottische Geschichte über die sich zum Orientierungszentrum für den Leser entwickelnde Hauptfigur - zugute. Es wurde bereits darauf verwiesen, daß Scott als Ausgangsbasis für alles weitere Geschehen ein M o t i v kulturspezifischer A r t verwendet, nämlich den Waverley in den Bann ziehenden Kontakt mit der aus stuarttreuer O p t i k beleuchteten Geschichte mittels der Familientradition. A u f dem geschichtsgetränkten Boden von Waverley-Honour gewinnt der Protagonist die ersten, haftenden Eindrükke in bezug auf die Vergangenheit seines Landes. Die bald darauf einsetzende, 28 Ronald Paulson meint in der i n der Quijote-Nachfolge stehenden englischen Literatur den Trend registrieren zu können, die schottischen Hochländer nach der Katastrophe von 1745/46 abgelebte ritterliche Ideale verkörpern zu lassen, und spricht i n diesem Z u sammenhang auch von »the heroic and idealizing Quixotes of Smollett« [.Don Quixote in England: The Aesthetics of Laughter (Baltimore/London 1998), 184-185]. Trotz seiner patriotisch-gefühlsmäßigen Beteiligung an dem dargestellten Geschehen hat Scott den Gefahren etwaiger Idealisierung konsequent vorgebeugt.

10*

148

Heinz-Joachim Müllenbrock

an die Schilderungen der englischen D o n Quijote-Nachfolge seit dem 18. Jahrhundert erinnernde Lektüre verschiedenster Werke romanzenhaften Zuschnitts intensiviert nur Waverleys schwärmerische, auf einer romantisch verzerrten Geschichtssicht beruhende Identifizierung mit der Vergangenheit 29 und läßt sie auf Grund seiner phantasiegestimmten, den Rückzug auf die eigene Subjektivität genießenden Persönlichkeit zu einem festen Habitus werden, ohne, was die Perspektive auf Geschichte betrifft, Neues hinzuzufügen. Die familienbedingte Faszination Waverleys durch die >romantische< Aura der Vergangenheit erfährt mit Hilfe der Lektüreerlebnisse lediglich eine erhebliche seelische Steigerung, das realgeschichtliche Substrat 30 von Waverleys Poetisierung der Geschichte w i r d psychologisierend angereichert. Müllers folgende Äußerung w i r d deshalb der skizzierten Sachlage nicht ganz gerecht: Es lassen sich also schon am Anfang des Romans zwei gegensätzliche Gestaltungstendenzen ausmachen, eine romantische, welche darauf gerichtet ist, die Entwicklung eines phantasiebegabten träumerischen Charakters mit deutlicher Einläßlichkeit wiederzugeben, und eine realistische Gestaltungstendenz, welche den sozio-politischen Kontext mit größter Genauigkeit darstellt. 31

Es handelt sich aber nicht u m widerstreitende, sondern u m ineinandergreifende Tendenzen; die romantischen, durch die Lektüre geförderten Neigungen Waverleys arbeiten der in der historisch-sozialen Konstellation verankerten Bewußtseinsentwicklung zu. Pointiert könnte man sagen - und das gilt für den gesamten Roman - , daß das wirklichkeitsgebundene Basismotiv, die nostalgische Hinwendung Waverleys zu dem >romantischen< Erbe seiner Familie, durch die den Text durchziehenden Reminiszenzen an den spanischen Prätext und andere der Romanzentradition zuzuordnende Werke literarisch amplifiziert wird. Dieser intertextuelle Verkehr erfüllt eine das Anliegen dieses historischen Romans unterstützende Funktion; indem durch die Präokkupation mit den Ritterromanzen Waverleys Verklärung sozialer Wirklichkeit vergegenwärtigt wird, ruft Scott zugleich unaufdringlich ins Bewußtsein, daß der das Schicksal der alten Gentilgesellschaft besiegelnde Jakobitenaufstand von 1745/46 auch das Ende der >romanzenhaften< Epochen britischer Geschichte bezeichnet. So heißt es i n einer vielsagenden, die realistische Basis des Romans 29

Das übersieht offenbar Colby, der Waverley und The Heroine derselben Kategorie zuordnet: » [ . . . ] the t w o books are related generically, for at the outset Edward Waverley is a victim of the same form of mental derangement as Jane Austen's Catherine Morland«

( Fiction with a Purpose, 53). 30 Letzteres w i r d von Patricia S. Gaston ignoriert, wenn sie schreibt: »Edward Waverley is like D o n Quixote in that his worldview is the result of his reading [ . . . ] « [»The Waverley Series and Don Quixote: Manuscripts Found and Lost«, Cervantes. Bulletin of the

Cervantes Society of America, 11 (1991), 46]. 31

Müller, »Romantische und realistische Gestaltungselemente«, 203.

Scotts Waverley

als >Respons< auf Cervantes' Don Quijote

149

keineswegs unterminierenden auktorialen Formulierung von dem Thronprätendenten Charles Edward Stuart: »[he] threw himself upon the mercy of his countrymen, rather like a hero of romance than a calculating politician«. 3 2 Der romanzenhafte, i n gewisser Hinsicht dem wagnishaft-abenteuerlichen Charakter des jakobitischen Unterfangens adäquate point of view veranschaulicht nicht nur individuelle Befindlichkeiten, sondern besitzt auch eine dezente >geschichtshermeneutische< Funktion. Darüber hinaus erleichterte er dem intellektuell der nüchternen Bilanzierung der schottischen Aufklärungshistoriker zuneigenden Scott die liebevolle Darstellung der Vergangenheit seines Landes.

VIII. Abschießend soll an einigen markanten Beispielen erläutert werden, wie die von Waverley durch seine Lektüre verinnerlichten und über den gesamten Text präsenten romanzenhaften Wertmaßstäbe das thematische Profil dieses auf die Vermittlung von Geschichte abzielenden Romans in komplexer Weise mit prägen. Letztlich ist Waverley gewiß dazu bestimmt, seine mit der politisch-sozialen Realität des Jahres 1745 nicht übereinstimmenden Vorstellungen zu korrigieren, aber die auf ihn zugeschnittenen Reminiszenzen an die Welt der Ritterromanzen leisten weit mehr als seine literarisch vorstrukturierte Wirklichkeitssicht bloß zu desavouieren. Sie bringen auch das erst i m Schlußkapitel explizit ausgesprochene Bewußtsein der Ambivalenz geschichtlichen Daseins ein, und in ihnen können sogar Konnotationen mitschwingen, die auf diskrete Weise Sympathien für nationale Lebensformen wecken, die der Macht des Fortschritts weichen mußten. Diese Funktion zu erkennen, fällt insofern nicht ganz leicht, als Scott die romantischen Wahrnehmungen Waverleys gern mit diesen abträglichen allzu realistischen Details konfrontiert. Aber Müller ist zuzustimmen, daß diese »illusionsbrechenden Momente nicht zu stark betont werden« 3 3 sollten. Der die vollzogene geschichtliche Entwicklung bejahende Scott trat damit in ironische Distanz zu der illusionsverhafteten Sichtweise Waverleys, ohne dessen Verstrickung in die Zeitläufte satirischer Herabsetzung anheimzugeben. Die duale, von Scott mehr i m Interesse souveräner Relativierung als einseitiger Diskreditierung gehandhabte O p t i k kann - zumindest der Tendenz nach - als literarischer Niederschlag eines ausbalancierenden Geschichtsverständnisses gesehen werden, welches geschichtlichen Fortschritt als unausweichlich akzeptiert, aber auch an den damit verbundenen Verlust - das Wertvolle dahingeschiedener Gesellschaftsformen - erinnert. Jedenfalls macht Scott mit der ungeschminkten Rückspiegelung von Waverleys die Wirklichkeit ver32

Waverley,

33

Müller, »Romantische und realistische Gestaltungselemente«, 205.

312.

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Heinz-Joachim Müllenbrock

schönernden Impressionen keine simple didaktische Rechnung auf, die als A n tithese von Realität und Irrealität zu vollen Lasten letzterer zu fassen wäre. Das geht sogar aus einer intertextuell besonders dicht besetzten Passage zu Beginn von Waverleys schottischen Abenteuern hervor. Als dieser sich nach Kontaktnahme mit dem ärmlichen D o r f Tully-Veolan dem Herrensitz des Barons von Bradwardine nähert und i h m auf sein Klopfen hin niemand öffnet, wähnt er sich - wie Prinz A r t h u r i n Spensers Epos The Faerie Qneene, aus dem zitiert w i r d - vor dem Schloß des Riesen Orgoglio. U n d als kurz darauf der nach pittoresken Kompositionsprinzipien beschriebene Park des Herrenhauses bei i h m Vorstellungen der Gärten der Alcina aus Ariosts Orlando

Furioso und eines

Gartens aus Tassos Gerusalemme Liberata auslöst, erweisen sich die darin Befindlichen als barfüßige Waschweiber. O b w o h l die Sympathielenkung hier deutlich zuungunsten Waverleys und dessen exaltierter Imagination auszuschlagen scheint, w i r d der Protagonist selbst i n diesem Zusammenhang nicht einfach bloßgestellt, denn unmittelbar danach trifft er auf die pittoreske, bizarre Gesellschaftsverhältnisse ankündigende Gestalt Davie Gellatleys, die den Figuren der Ritterepen an Seltsamkeit kaum nachsteht. 34 Waverleys literarisierende, an den Romanzen geschulte Wirklichkeitswahrnehmung dient also i n diesem Kapitel zugleich der atmosphärischen Einstimmung auf die Sonderbarkeiten der schottischen Gesellschaftsverfassung.

IX. Von zentraler Bedeutung für die Integration des auf Cervantes zurückzuführenden Motivs einer die Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinträchtigenden Lektüre i n das Romanganze sind die Fergus und Flora Mac-Ivor betreffenden Stellen, weil sie Waverley i n jakobitischem Kontext zeigen. Als Waverley auf einem Höhepunkt seines romantischen Schottlanderlebens i n erhabener Landschaft Flora Mac-Ivor begegnet, die i h m bei einem Wasserfall unter Harfenbegleitung keltische Lieder vorsingt, läßt er sich von ihrer Schönheit verzaubern. Dieser Vorgang wird, nach Vergleichen mit der Malerei, i n Anlehnung an literarische Wahrnehmungsmuster beschrieben: »The w i l d beauty of the retreat, bursting upon h i m as if by magic, augmented the mingled feeling of delight and awe w i t h w h i c h he approached her, like a fair enchantress of Boiardo or Ariosto, by whose nod the scenery around seemed to have been created, an Eden i n the wilderness«. 35 Die lektüreinspirierte A r t der Wahrnehmung veranschaulicht Waverleys emotionales Hingerissensein, seine Verstrickung i n die Welt des schönen Scheins. D o c h die gesamte, durch das Zitat nur per Abbreviatur aufge34

Siehe Waverley;

35

Ibid., 191.

106.

Scotts Waverley

als >Respons< auf Cervantes' Don Quijote

151

rufene Passage zielt nicht nur - i m Sinne simpler Oppositionen - darauf ab, Waverleys Transzendierung der Wirklichkeit anzuzeigen. Darüber hinaus ist sie abgestellt auf die »Einstimmung auf gesellschaftliche Klangfarben mittels des Erhabenen«. 36 Der Steigerung von Floras hoheitsvoller Schönheit ins Ideale entspricht ihr sich i n der Reinheit ihrer Loyalität zum Hause Stuart bekundender politischer Idealismus, der mit ihrer gesamten Persönlichkeit untrennbar verbunden ist und die Parteinahme ihres Bruders an Selbstlosigkeit weit übertrifft. Assoziativ und nicht zufällig i m Umkreis von Floras lauterer Erscheinung w i r d so an die idealistischen Antriebe erinnert, die auch zur jakobitischen Bewegung gehörten. Daß über Floras i n ein Naturbild eingefügte Beschreibung Empfindungen für gesellschaftliche Timbres ausgelöst werden sollen, bekräftigt ihre bald nachfolgende Äußerung über die keltische Muse, i n der ausdrücklich eine symbolische Zuordnung der Landschaft zum sozialen Raum vorgenommen w i r d . 3 7 Insgesamt belegt die angesprochene Stelle, daß cervantinische I m pulse - eine durch Lektüre bedingte problematische Realitätswahrnehmung funktional angemessen i n die Struktur des Romans integriert worden sind. Es geht hier nicht u m ein krudes, lächerlich anmutendes Verkennen der Wirklichkeit, sondern - i m Sinne des oben zitierten auktorialen Statements - nur u m deren romantisierende Einfärbung durch Waverleys leicht erregbare Phantasie. Die lediglich partielle Adaptierung cervantinischer Motive zeigt sich darin, daß der Rückgriff auf die Romanzentradition kein einsträngiger, den Protagonisten exponierender Prozeß ist, sondern zugleich der facettenreichen Beleuchtung einer vielschichtigen Vergangenheit dient. Scotts konstruktive Anverwandlung cervantinischer Elemente findet exemplarischen Ausdruck i n jener für den Umgang mit dem literarischen Traditionsgut aufschlußreichen Szene, als Waverley nach einem unglücklich verlaufenen Jagdausflug zum Wohnsitz von Fergus Mac-Ivor zurückkehrt. Sobald dieser die Anwesenheit seiner Schwester bemerkt, zitiert er Sätze, die sich in dem spanischen Roman auf die Rückkehr des übel zugerichteten D o n Quijote von seiner ersten Ausfahrt beziehen: >Open your gates, incomparable princess, to the wounded M o o r Abindarez, w h o m Rodrigo de Narvez, constable of Antiquera, conveys to your castle; or open them, if y o u like it better, to the renowned Marquis of Mantua, the sad attendant of his half-slain friend, Baldovinos of the mountain. - A h , long rest to thy soul, Cervantes! without quoting thy remnants, how should I frame m y language to befit romantic ears!Anpaßbarkeit< für seine Zwecke als historischer Romancier verfügbar macht, u m der auf realistischer Grundlage betriebenen Darstellung von Geschichte perspektivischen Reichtum abzugewinnen.

X. I n dem an die methodische Ausrichtung des >writer response criticism< anknüpfenden Artikel konnte gezeigt werden, welche Rolle Scotts Dialog mit Cervantes bei der Verwirklichung seiner literarischen Programmatik in Waverley spielt. Anders als i m Falle des Verhältnisses von Cooper zu Scott kann von einer abweichenden A n t w o r t i m strengen Sinn allerdings kaum gesprochen werden, weil es Scott - i m Unterschied zu Cooper - keineswegs darum ging, unter dem Dach generischer Gemeinsamkeit eine den Erfordernissen der eigenen Kultur Rechnung tragende Replik zu dem Bezugswerk zu verfassen. M i t Waverley stellte Scott Don Qnijote kein Werk derselben Kategorie an die Seite; der literarische Verkehr zwischen ihnen umfaßte, i m Unterschied etwa zu den Beziehungen zwischen Lennox und Cervantes, keine gleichartigen Pole mehr. Scotts Umgang mit Cervantes, den er weder korrigieren noch kritisieren oder gar übertreffen wollte, war von vornherein nicht auf ganzheitliche Revision, sondern nur auf partielle N u t z u n g angelegt. Während The Pioneers als »>GegenschreibungRespons< auf Cervantes Don Quijote

153

war, das i m Zeichen von gattungsprägenden Vorgaben stand, die auf der literarischen Tagesordnung Priorität für Scott besaßen. Allenfalls läßt sich behaupten, daß Scott unter dem Zwang neuer generischer Direktiven veranlaßt wurde, die Ausgangslage in Don Quijote substantiell abzuwandeln; insofern allerdings liegt i n Waverley eine gattungsgemäße A n t w o r t auf Don Quijote i m Rahmen einer neuen literarischen Oberhoheit vor, die der Kompatibilität der beiden Werke eine andere Richtung wies. Waverley wurde nicht verfaßt, u m Don Quijote umzuschreiben; die Bezugnahme auf das spanische Werk erleichterte Scott jedoch die Vermittlung seines thematischen Anliegens. Der vergleichende Blick auf englische Donquichottiaden des 18. Jahrhunderts verdeutlichte, daß Scott keinen unmittelbaren Anschluß an diese Gattungstradition mehr suchte, denn die katalysatorische Funktion des Bücherlesens ist in Waverley den gehaltlichen Proportionen dieses historischen Romans entsprechend herabgestuft. Für Scott als historischen Romancier war Cervantes nur von bedingter, wesentliche Veränderungen erforderlich machender Assimilierbarkeit. Die Adaptation des Don Quijote w i r d von Anfang an durch die ausführliche, die veränderten Gesetze der neuen Gattung reflektierende historische Kontextualisierung kontrolliert. Der Primat politisch-sozialer Motivierung für das Geschehen in Waverley w i r d i m Prinzip auch von Müller anerkannt, wenn dieser schreibt, »daß alle romantischen Begebenheiten i n Schottland oder, besser gesagt, alle Begebenheiten, die Waverley als romantisch empfindet, eine politische oder zumindest interessengeleitete Basis haben [ . . . ] « . 4 0 I m »Postscript« hat Scott, das antithetische, auf Aristoteles zurückzuführende Verhältnis von Fiktion und Geschichtsschreibung durch ein komplementäres ersetzend, die realistische Fundierung explizit ausgesprochen: »Indeed, the most romantic parts of this narrative are precisely those which have a foundation i n fact«. 41 I n der Tat kennzeichnet Komplementarität die literarische Signatur dieses Romans. Die romanzenhaften, vor allem durch den intertextuellen Rekurs auf Don Quijote sichtbar gemachten Züge fügen sich nämlich der insgesamt durchschlagenden realistischen Gestaltungstendenz unterstützend ein. Eine äquivalente Übernahme der quijotischen Befindlichkeit hätte zu einer literarischen Interessenkollision in Waverley geführt, die mit dem Selbstverständnis des von Scott inaugurierten historischen Romans nicht vereinbar gewesen wäre und dessen literarische Qualität beeinträchtigt hätte. Scotts kreative Rezeption von Cervantes zeigt sich darin, wie er den selektiven, abgeschwächten Anschluß an das spanische Bezugswerk für die Kommunikation mit seinem - vornehmlich englischen - Publikum nutzt, das für die neue Gattung erst zu gewinnen war und dem sicherlich eine Vermittlerfigur 40

Müller, »Romantische und realistische Gestaltungselemente«, 206-207.

41

Waverley,

477.

154

Heinz-Joachim Müllenbrock

hilfreich erschien, deren Verhalten an traditionellen literarischen Mustern gemessen werden konnte. Scotts Repositionierung D o n Quijotes in der abgemilderten Variante Waverleys kam zugleich seiner historischen Mittlerrolle zugute, denn die den Protagonisten i n ein freundliches Licht rückende Sympathielenkung zielt letztlich darauf ab, Sympathien für eine erst kurz zurückliegende, aber bereits abgeschlossene Epoche Schottlands zu wecken, die den fortgeschrittenen Teil Großbritanniens i n manchem befremdlich anmuten mochte, aber auch ihre anziehenden, ja noblen Seiten besaß. Aus diesem Grunde dienen die literarisch imprägnierten romanzenhaften Bezüge nicht einfach dazu, den mangelnden Wirklichkeitssinn des Helden zu diskreditieren, sondern geben dem A u t o r zugleich die willkommene Gelegenheit, ein ambivalentes, der K o m plexität historischen Wandels gerecht werdendes Geschichtsbild zu entwerfen. Einerseits besaß Don Qnijote für den A u t o r Waverleys gewiß nur limitierte Fungibilität; andererseits unterstreicht gerade Scotts vorsichtig abwägende Reaktion auf das integrative Potential des Bezugswerkes, seine geschickte Funktionalisierung cervantinischer Aspekte, das innovative Profil seines ersten historischen Romans.

Aufruhr der Elemente Politische Metaphorik bei den Romantikern Von Olaf Briese

Der Publizist Ernst M o r i t z Arndt, der seine Reise durch Europa und Frankreich in den Jahren 1798 und 1799 mit einem Besuch der französischen Hauptstadt krönte, zog eingangs seiner Paris-Schilderung rhetorische Mittel heran, die den überwältigenden Eindruck, den diese Stadt auf ihn ausübte, offenbar am nachhaltigsten wiedergaben: Ein Donnerwetter läge über der Stadt. Erdbeben wüteten. Orkane entlüden sich. Paris erscheine als das turbulente Zentrum jenes Erdkörpers, der vor vielen Jahrtausenden durch einen Kometen aus der Sonnenmasse herausgerissen wurde. 1 A n sich waren solche naturhaften Metaphern zur Darstellung bewegter geschichtlicher Augenblicke damals verbreitet. Aber hier erfuhren sie geradezu ihre Bündelung: Der gleichzeitige Rekurs auf Blitz, auf Erdbeben und auf Kometen sollte daran erinnern, welche revolutionären Veränderungen sich i n der französischen Hauptstadt abspielten. Die Welt war aus den Fugen. Bis i n die Sprache hinein wirkten betreffende Bilder von Einschlag, Erschütterung und Kollision. Die mentalen Umstände, die einer solchen Rhetorik Vorschub leisteten, scheinen allerdings noch nicht genügend erforscht zu sein. Natürlich gibt es eine Reihe fundierter metapherngeschichtlicher Arbeiten, die der Frage nachgehen, welche weltanschaulichen Positionen in solchen kraftvollen Metaphern ihren Ausdruck fanden und die gelegentlich auch betreffende romantische Metaphoriken behandeln. Diese Studien thematisieren die jeweils begeisterten oder warnenden politischen Absichten, die sich in solchen metaphorisierenden Variationen niederschlagen. 2 1

Vgl. Ernst Moritz Arndt, Reisen durch einen Theil Teutschlands,

Ungarns , Italiens

und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799 (2. Aufl., Leipzig 1804), Bd. 3,114,118. 2 Vgl. Hans-Wolf Jäger, Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz (Stuttgart 1971); Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse

im historisch-politischen

Denken (München 1978), 136 f.; Helmut Koopmann, Freiheits-

sonne und Revolutionsgewitter. Reflexe der Französischen Revolution im literarischen Deutschland zwischen 1789 und 1840 (Tübingen 1989).

156

Olaf Briese

I m Grunde w i r d in diesen Untersuchungen aber stets davon ausgegangen, die Natur-Metaphorik diene der Bewältigung des Geschichtlichen. Naturhaftes stand als Gleichnis für Geschichte und sollte ihre Wendungen verdeutlichen. N i c h t Natur - so der einhellige Tenor - stimulierte die Natur-Metaphorik, sondern Geschichte. Eine solche A r t des Herangehens ist legitim, zumal es sich i n der Regel mit dem Selbstverständnis der betreffenden Zeitgenossen decken dürfte. Dennoch war Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in naturhaften Geschichtsmetaphern immer auch ein bestimmtes Verständnis von Natur präsent. Sie meisterten nicht nur die geschichtlichen, sondern auch die natürlichen Problemlagen. Denn Blitze, Erdbeben und Kometen ließen i n der Zeit seit etwa 1750, wie i n der Forschung der letzten Jahre umfassend herausgearbeitet wurde, zumindest bei Gebildeten sprunghaft Ängste wachsen. 3 I n diesem Kontext dienten politische Blitz-, Erdbeben- und Kometenmetaphern nicht zuletzt dazu, diese als bedrohlich empfundenen Naturerscheinungen zu bewältigen. Sie bestärkten vermenschlichende, anthropomorphe Bilder von Natur und konnten Ängste mindern. Wurden diese neuen Gehalte anfangs von betont aufklärerischen und fortschrittsenthusiastischen Vertretern geprägt, gab es spätestens seit 1789 auch eine gewollt konservative Verwendung solcher Naturmetaphern. Dadurch wurde vornehmlich der zerstörerische Charakter der politischen Umwälzungen herausgestellt. Beiden inhaltlich verschiedenen Mustern war aber der politisierte Rekurs auf Natur überhaupt gemeinsam. Selbst i m Umschlag von positiver zu negativer Deutung - wie er hier für die Romantiker gezeigt werden soll - blieb in der Tiefenstruktur ein soziomorpher Zugriff auf die Natur bestehen. Das legt die Annahme nahe: Trotz aller geschichtlicher Änderungen war die Naturproblematik konstant gegeben. Naturhafte Geschichtsmetaphern konnten den Druck der Natur minimieren, indem sie diese untergründig vermenschlichten.

3

Vgl. Engelhard Weigl, »Ein Instrument gegen die Angst. Die Verbreitung des Blitzab-

leiters im 18. Jahrhundert«, in: ders., Instrumente der Neuzeit. Die Entdeckung der modernen Wirklichkeit (Stuttgart 1990), 174-208; Heinz D . Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens (Frankfurt a.M./Leipzig 1991); Thomas D o w n i n g Kendrick, The Lisbon Eartquake (London 1955); George Sebastian Rousseau, »The London Earthquake [of

1750]«, Cahiers d* Histoire

Mondiale/Journal

of World History/Cuadernos

de Historia

Mundial, X I (1968), 436-451; Horst Günther, Das Erdbeben von Lissabon (Berlin 1994); Rainer Baasner, »Aberglaube und Apokalypse: Zur Rezeption von Whistons Kometentheorie i n der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts«, Lessing Yearbook, 19 (1987), 191-207. Z u m Problem aufklärerischer Angst insgesamt: Christian Begemann, Furcht und Angst im

Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts (Frankfurt a.M. 1987); Carsten Zelle, »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert (Hamburg 1987); Olaf Briese, Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefüge der Aufklärung (Stuttgart 1998).

Aufruhr der Elemente

157

I. Der politische Blitz Ist vor etwa dreißig Jahren i n der literaturwissenschaftlichen Forschung bedauernd festgestellt worden, die Angst vor dem Gewitter habe bis jetzt noch keinen Geschichtsschreiber gefunden, 4 hat sich an diesem Zustand, zumindest was die Zeit des 18. Jahrhunderts betrifft, einiges geändert. Diese Forschungslücke scheint ansatzweise geschlossen zu sein. Aus verschiedener Richtung wurden etwa die theologischen, ethisch-moralischen und praktisch-technischen Bewältigungsmuster dieser Ängste thematisiert und ein insgesamt recht breites Spektrum der damaligen mentalen Befindlichkeiten angesichts drohender Gewittererscheinungen eröffnet. Diese Arbeiten hatten zum Ergebnis, daß sich Ende des 18. Jahrhunderts nicht, wie eigentlich zu erwarten stand, unter Gebildeten ein zunehmend angstfreier Umgang mit Blitz- und Gewittererscheinungen abzeichnete, sondern daß es zu neuen Sorgen und Befürchtungen kam. Denn gerade die technische Entzauberung des Gewitters und die vermeintliche praktische Verfügung mittels Blitzableitern gingen i n breitem Maße mit einer neuen Welle von Furcht und Angst einher. Es zeichnete sich ab, daß die »Furcht vor der Natur« sich i n einer »neuen Angst vor der mangelhaften Beherrschung der Natur« potenzierte. 5 Angesichts dieser Ängste spielte die Metapher des reinigenden Blitzes eine nicht unwichtige Rolle. Sie positivierte diese bedrängenden Naturphänomene. Natürlich hatte sie bereits eine Vorgeschichte. Sie war in den nach-reformatorischen protestantischen Providentia-Debatten vielgestaltig ausgeformt worden und gelangte von daher i n die philosophisch-metaphysische Teleologie Christian Wolfis. 6 Über den Göttinger Hain, Sturm und Drang und die Jakobinerpublizistik führte diese Linie bis zu Friedrich Hölderlin, der unermüdlich und i n umfassender Weise Blitz-Phänomene i n ein positives Licht setzen konnte. Diese Linie ist, jedoch recht fragmentarisch, inzwischen aufgearbeitet worden. 7 4 Vgl. Richard Alewyn, »Die Lust an der Angst« (1965), in: ders., Probleme Gestalten. Essays (Frankfurt a.M. 1974), 307-336, hier 310.

und

5 Engelhard Weigl, »Entzauberung der Natur durch Wissenschaft - dargestellt am Beispiel der Erfindung des Blitzableiters«, Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft y 22 (1987), 7-39, hier 8. Vgl. auch: Olaf Briese, »Der abgeleitete Blitz. Metapherngeschichte als

Mentalitätengeschichte«, Euphorion. Zeitschrift

für Literaturgeschichte , 92 (1998), 413-

435. 6 Vgl. M . Büttner, »Zum Gegenüber von Naturwissenschaft (insbesondere Geographie) und Theologie i m 18. Jahrhundert«, Philosophia Naturalis , 14 (1973), 95-125, hier 96;

Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken / Von den Absichten / Der natürlichen Dinge , / Den Liebhabern der Wahrheit / mitgetheilet (Franckfurt und Leipzig 1726), 320 ff. 7

Vgl. zu diesem Vorfeld Hölderlins u. a.: Peter Salm, »Poetic Fulminations from K l o p stock to Hölderlin«, The Germanic Review, L V I I (1982), 78-81.

158

Olaf Briese

Die zu dieser Zeit neben Rudolf Zacharias Beckers Noth- und Hülfsbüchlein [ . . . ] von 1778 w o h l kulturell einflußreichste Positivierungsvariante findet sich in Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere von 1779/80. I n diesem Werk argumentiert Campe, ein markanter Vertreter einer aufklärerischen schwarzen Pädagogik (Rutschky), auch in der Gewitterfrage rigide. Der H e l d habe eine falsche Erziehung erfahren und deshalb Angst vor den Fährnissen des Lebens. Dafür sei allerdings gar kein Grund gegeben: Gewitter seien eine Wohltat Gottes, welche die Luft reinigen. Sie erquicken Pflanzen, Tiere und Menschen. Die heiße Luft kühlt sich ab, schöne Anblicke gäbe es allemal. N i c h t zuletzt habe Gott i m Blitz den Menschen das Feuer geschenkt. Sei doch hin und wieder jemand erschlagen worden, dann habe er doch auf angenehm schnelle Weise vollendet, »und wenn man tot ist, so kommt man ja zum lieben Gott, was tut's denn?« 8 Bei Campe steht das Naturphänomen noch unmittelbar i m Mittelpunkt. Aber eine bestimmte erziehungspolitische Dimension ist unübersehbar. Der Blitz w i r d Gegenstand von pädagogischen Diskursen. Diesen obliegt es, seinen reinigenden Charakter herauszustellen. Direkte Politisierungen von Blitz und Gewitter waren dann nur folgerichtig. So bemerkte Isaak Iselin angesichts des amerikanischen Freiheitskrieges mit schon direkt politischem Einschlag, ein solches klärendes Gewitter sei nichts anderes als ein »moralisches Ungewitter«, welches die Aufgabe habe, »endlich die Luft zu reinigen«. Johann Heinrich Voß, der als Jakobiner seiner i m Göttinger Hain gebildeten Metaphorik treu blieb, psalmodierte: »Gewitter, Sturm und Regen / Erheitern Luft und Flur«. Schließlich behauptete Georg Forster in bemerkenswert umstandsloser Verquickung von Natur und Geschichte, solche physischen Ungewitter würden die politische Luft reinigen. Carl Philipp Conz, u m hier ein letztes Beispiel anzuführen, bedichtete in Hölderlins schwäbischem Umkreis »im Gewitter das Heil«. 9 Diese bejahende Verwendung von Gewitter- und Blitzmetaphern in politisch geprägtem Kontext - zu denken wäre auch an gemäßigte Revolutionsfreunde, 8 Joachim Heinrich Campe, Robinson der Jüngere (Berlin 1991), 94. Allein die Wortwahl deutet darauf hin, daß Campe sich der Vorlagen Beckers bedient haben könnte,

vgl.: [Rudolf Zacharias Becker], Noth- und Hülfsbüchlein Trauer-Geschichte 375 ff. 9

der Einwohner zu Mildheim

Isaak Iselin, [Philosophische

oder lehrreiche Freuden- und

[1778] (6. Aufl., Gotha und Leipzig 1789),

Mutmaßungen über die] Geschichte der Menschheit

(4. Aufl., Basel 1779), Bd. 2, 466 ff.; Johann Heinrich Voß, »Der zufriedene Greis. Ein

Nachbar von Gleims Hüttchen«, in: Sämmtliche Gedichte. Auswahl der letzten Hand (Leipzig 1833), Bd. 3, 190; Georg Forster, »Ansichten vom Niederrhein [ . . . ] i m April,

Mai und Junius 1790«, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften,

Tagebücher,; Briefe

(Berlin 1958 ff.), Bd. 9, 129 f.; Carl Philipp Conz, »Des Kriegsgottes Sühne«, in: Gedichte (Zürich 1806), 53.

Aufruhr der Elemente

159

die i n eher traditioneller Weise betreffende christlich-apokalyptische Anleihen nahmen 1 0 - kulminierte u m die Jahrhundertwende vor allem bei Friedrich H ö l derlin. Er verklammerte auf pantheistisch-mythologischer Grundlage Natur und Geschichte. Als Fundament dieses Vorhabens ist das wahrscheinlich gemeinsam von Hölderlin, Hegel und Schelling Anfang 1797 verfaßte sogenannte Älteste Systemprogramm

des deutschen Idealismus anzusehen, i n dem es aus-

drücklich u m eine angestrebte »Mythologie der Vernunft« ging, u m eine pantheistisch-mythische Einheit Mensch-Mensch und Mensch-Natur. 1 1 A n H ö l derlins Blitz-Metaphorik, deren wechselhafte politische Konnotationen ausführlich untersucht worden sind, 1 2 ist vor allem bemerkenswert, wie der Rekurs auf die Blitz-Metaphorik ungeachtet der wechselnden weltanschaulichen Standpunkte unablässig beibehalten wird. Sie konnte als stets verfügbar vorausgesetzt werden. Ihre Allpräsenz war ungeachtet divergierender politischer Ausrichtung problemlos gegeben. Das zeigt an, wie untergründig und tiefenstrukturell die Natur-Mensch-Problematik diesen metaphorischen Gebrauch prägte. Bei Friedrich Gentz und Joseph Görres, entschiedenen Revolutionsanhängern bzw. sogar Jakobinern, die seit Ende des 18. Jahrhunderts dann zu konservativen Positionen gelangten, ist ebenfalls zu sehen, wie der geschichtliche Gesinnungswandel nicht zu einem Verzicht auf Blitz-Metaphoriken führte. Bei jeweils wechselndem politischen Kontext blieben die Verwendung der anthropomorphisierenden Blitz-Metaphorik und sogar die Wendung v o m reinigenden Blitz konstant erhalten. Zwar artikulierten sich andere weltanschaulich-politische Inhalte darin, der strukturell-metaphorische Rahmen jedoch bestand weiter. Das spricht ebenfalls dafür, daß diese Metaphern i n ein übergreifendes Gefüge eingebettet waren, welches auch das Mensch-Natur-Verhältnis umschloß. N o c h i n seiner Abkehr von den einstigen jakobinischen Enthusiasmen verblieb zum Beispiel Gentz i m Rahmen dieser attraktiven Metaphorik, wenn er nunmehr betonte, das »wahre Wachstum der Menschheit« könne niemals i n Sturm und Ungewittern gedeihen. 13 10

Vgl. Schmidt-Phiseldek, »Phantasiegemälde«, Genius der Zeit. Ein Journal, hg. Au-

gust v. Hennings , 4 (1797), 128-135. I n ähnlicher christlich-chiliastischer Weise rekurrierte Karl Folien i m Zuge der Demagogenverfolgungen von 1818/19 auf die Blitzmetaphorik, vgl. sein erst 1830 abgedrucktes »Großes Lied« (1818), in: Die Deutsche Literatur vom

Mittelalter

bis zum 20. Jahrhundert.

Texte und Zeugnisse , Bd. VI: Das 19. Jahrhundert ,

hg. Benno v. Wiese (2. Aufl., München 1984), 129-142. 11 Vgl. u. a. Christoph Jamme, »Aufklärung via Mythologie. Z u m Zusammenhang von Naturbeherrschung und Naturfrömmigkeit u m 1800«, in: Christoph Jamme/Gerhard

Kurz (Hg.), Idealismus und Aufklärung.

Kontinuität und Kritik

der Aufklärung

in Philo-

sophie und Poesie,um 1800 (Stuttgart 1988), 35-61. 12

Vgl. Bernhard Böschenstein, »Frucht des Gewitters«.

der Revolution

(Frankfurt a.M. 1989).

Hölderlins

Dionysos als Gott

160

Olaf Briese

A u c h Görres hatte in seiner Rede vor der »Patriotischen Gesellschaft zu K o blenz« 1798 noch enthusiastisch das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher N a t i o n verkündet und gespielt-verzweifelt gefragt, warum dieser französische Blitz nicht eines der benachbarten Reiche vernichtet habe. 1 4 D o c h i m Zuge seiner Sendung nach Paris i m Jahr 1800 sah sich auch Görres über den verfehlten Gang der Revolution belehrt. N u r noch mühsam konnte er sich zu der Auffassung bekennen, die »Blitze« und »Wolkengebirge« der Revolution seien als die notwendige Folge der feudalen Überlebtheit anzusehen. 15 Weitaus später, 1821, zeigte Görres sich nur noch entsetzt über die strafenden und reinigenden Gerichte, die »mit Blitzen zugleich« einherfuhren und das ganze gesellschaftliche Leben wenn nicht vernichteten so doch katastrophenartig umstürz16

ten. Den politischen Blitz mußte Görres dabei dennoch, trotz aller konservativen Ablehnung, als Strafe für versäumte geschichtliche Reformen verstehen. Er stellte somit den natürlichen Blitz untergründig i n das Bezugsfeld menschlicher Verfügbarkeit. A u f pantheistische Weise vermochte er, i n der Natur das Andere des Menschen zu sehen und damit ein menschliches Bild von ihr zu zeichnen. Friedrich Heinrich Jacobi, der einst i m Spinoza-Streit allen pantheistischen Tendenzen einer vermeintlichen Entzauberung der Welt bereits entgegenzusteuern versuchte, wartete i n den Revolutionszeiten seinerseits auf »ein Wetterleuchten Gottes«, auf reinigende »Blitze der Vorsehung, welche das Gewölk zerreissen«. A u c h der philosophisch von Johann Kaspar Lavater beeinflußte Pamphletist Johann L u d w i g Ewald spielte mit der Vermutung, ob jene revolutionären Auswüchse »nur Gewitter wären, durch die sich die Luft reinigt«. 1 7 Damit replizierten beide die legitimistische politische Metaphorik, die ebenfalls schon vor den Revolutionszeiten sich des überkommenen christlichen Topos' des strafenden reinigenden Blitzes angenommen hatte und diesen i n den Umbrüchen seit 1789 zum Beispiel i n eindrucksvollen bildlich-künstlerischen Variationen fortschrieb. 1 8 13 Vgl. Friedrich v. Gentz, »Sendschreiben an Seine Königliche Majestät Friedrich Wilhelm I I I . bei der Thronbesteigung allerunterthänigst überreicht« (1797), in: Ausgewählte Schriften, hg. Wilderich Weick, (Leipzig und Stuttgart 1838), Bd. 5,4. 14

Joseph Görres, »Rede gehalten am 18ten Nivose J. V I . in der patriotischen Gesellschaft in Koblenz« (1798), in: Joseph Görres, Gesammelte Schriften, hg. Wilhelm Schellberg (Köln 1926 ff.), Bd. 1, 94-102, hier 95. 15 Vgl. Görres, »Resultate meiner Sendung nach Paris im Brumaire des achten Jahres« (1800), in: ebda, Bd. 1, 549-608, hier 580, 586. 16

Görres, »Europa und die Revolution« (1821), in: ebda, Bd. 13, 145-285, hier 210.

17

Friedrich [Heinrich] Jacobi, »Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers in Briefen an vertraute Freunde«, Die Hören, Eine Monatsschrift, 1 (1795), 8. Stück, 1-34, hier 4;

Johann Ludwig Ewald, Über Revolutionen, 1792), 326.

ihre Quellen und Mittel dagegen (Berlin

Aufruhr der Elemente

161

Es wären weitere Beispiele zu nennen, etwa v o n Heinrich v o n Kleist. Es überrascht nicht, auch bei i h m eine politische Besetzung von Gewitterphänomenen zu finden. Z u m Ende v o n Kleists Erdbeben von Chili , jener Katastrophennovelle, die unter anderem auf sein politisch enttäuschendes

Paris-

Erlebnis von 1801 zurückgeführt w i r d , 1 9 »wetterstrahlte« der Held, freilich vergebens, seine Feinde zu Boden. I n Käthchen

von Heilbronn

hieß der

positive H e l d des Stückes nicht zufällig »Wetter v o n Strahl«. Die anti-napoleonischen Schlachtengemälde Prinz von Homburg

und Hermannsschlacht

warte-

ten dann m i t der w o h l spätestens seit dem dreißigjährigen Krieg recht gängigen Verkoppelung v o n Schlacht- und Blitz-Metaphorik auf, die bei Kleist aber durch seine Bindung an romantische pantheistisch-naturphilosophische M o delle ihre besondere Tönung erhielt. 2 0 Während der Befreiungskriege gegen die französisch-napoleonische Fremdherrschaft konnte von dieser weltanschaulich eher konservativen Seite weiterh i n m i t politisierenden Blitz-Metaphoriken gearbeitet werden. Theodor K ö r ner, der m i t seinem Stück Toni v o n 1811/12 eine dramatisierte Fassung v o n Kleists Die Verlobung

in St. Domingo

vorlegte und diesen Dreiakter bezie-

hungsreich mit einem Strafe verkündenden Ungewitter einleitete, wollte i n den Befreiungskriegen Napoleon m i t kriegerischen »rasselnden Blitzen« und m i l i tärischen »Schlachtendonnerwettern« hinwegfegen. Vor »des Wütrich's Ungewittern«, also vor Napoleons Attacken, konnte er sich sicher fühlen, hatte Körner doch den »Donner Gottes« auf seiner Seite. 21 Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen beschrieb 1817 i n seinem Gedicht »Die Wolke« den Rückzug Napoleons durch Deutschland m i t dem B i l d einer giftigen Wolke, deren schwarze Schatten das Land verdüstern. 2 2 A c h i m v. Arnims Die

Kronwächter

18 Vgl. z. B. die Stiche in: Klaus Herding/Rolf Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution (Frankfurt/M. 1989). Natürlich gab es auch in pro-revolutionären Arbeiten der bildenden Kunst eine positive Aufnahme der Blitz-Metaphorik. Die vom Nürnberger Stecher Carl Guttenberg vorgelegte Arbeit »Ungewitter entstanden durch die Auflage auf den Thee in Amerika« (1778) macht schon im Titel kompromißlos deutlich, wie weitreichend Gewitter in das menschlich-politische Verfügungsfeld geraten waren

[vgl. Christian v. Heusinger, Kunst der Goethezeit. Zeichnungen und Graphik aus dem Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig (Braunschweig 1986), 48 f.]. 19

Vgl. Harry Steinhauer, »Heinrich von Kleists Erdbeben von Chili «, in: Gerhard

Hoffmeister (Hg.), Goethezeit. Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen. Festschrift für Stuart Atkins (Bern/München 1981), 281-300, hier 294. 20

Vgl. Maria M . Tatar, »Thunder, Lightning, and Electricity: Moments of Recognition

in Heinrich von Kleist's Dramas«, in: dies., Spellbound. Studies on Mesmerism and Literature (Princeton 1978), 82-120. 21 Theodor Körner, »Gebet während der Schlacht« (1813), »Mein Vaterland« (1813), »Männer und Buben« (1813), in: Körners Werke, hg. Hans Zimmer (Leipzig/Wien o. J. [1893]), Bd. 1,97, 81 f., 109.

11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

162

Olaf Briese

von 1817 enthielten schließlich ein Gedicht »Ja, die Zeichen sind erfüllet«, das i n vielschichtiger Weise und mit typisch apokalyptischer Umkehrstruktur anhand von Blitz-Metaphoriken die Ereignisse von 1789 bis zum Sieg über Napoleon erhellte: Anfangs meldete sich grollender Donner von unten, gegen den von oben der göttliche Jupiter vergebens seine Blitze sandte. Als dieser Donner fast die ganze Welt überzogen hatte, kam es jedoch zu einer wunderbaren Wendung. Die bedrohlichen Wolken zogen sich zurück, und dort, an ihrem französischen Ursprungsort, »durchspülen« und reinigen göttliche »Kühlende Blitze« die erhitzte Atmosphäre. 2 3 I n dieser Tradition steht auch Joseph von Eichendorffs Gedicht »Mahnung« von 1839, das nach all den geschichtlichen Wirren den Schöpfer mit Gewittern und mit Blitzen wieder selbst die Weltgeschichte schreiben läßt. Typisch für Eichendorff scheint allerdings zu sein, eher resignativ und pessimistisch auf Blitz-Metaphern zurückzugreifen. Er hat das Bewußtsein, die ersten geschichtlichen Gewitter überstanden zu haben, kann sie aber nur als Vorspiel kommender bedrohlicher Ereignisse verstehen. Ausdrücklich w i r d das als eine »Tragödie der Zukunft« bezeichnet: »resolutes Ungewitter«, »Sturm und Blitze«. Bereits der Roman Ahnung und Gegenwart von 1815 klang mit der Prophetie von nahen Gewittern aus, die auf ein unvermeidliches Unglück hindeuten. 2 4 Greifbar wurde diese Ahnung i n der Revolution von 1848, i n der Deutschland tief i n Ungewittern läge, Ströme sich donnernd von den Bergen wälzten und Blitze das Werk der Zerstörung vollendeten. 2 5 Eine solche Katastrophe hatte Eichendorff bereits i n seiner Revolutionsnovelle Das Schloß Dürande behandelt, die leitmotivisch von Wetterleuchten durchzogen wird, bis schließlich das Schloß der aristokratischen Helden von einem furchtbaren Blitz getroffen zusammenbricht. I n ähnlichem, aber stärker nostalgischem Duktus hieß es später bei Eichendorff, seine Heimat hätte sich »hinter den Blitzen rot« befunden. 2 6 Der weltanschaulichen Orientierungssuche Eichendorffs ist hier nicht näher nachzugehen. Vielmehr interessieren die Tiefenstruktur seiner Blitz-Metapho-

22

Vgl. Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen, »Die Wolke« (1817), in: ders., Kleine Schuften (Berlin 1823), Bd. 1, 98 f. 23 Vgl. Achim v. Arnim, »Ja, die Zeichen sind erfüllet«, in: »Die Kronwächter« (1817), in: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, hg. Paul Michael Lützeler (Frankfurt a.M. 1989), 601 -603. 24 Joseph v. Eichendorff, »Mahnung« (1839), in: Werke und Schriften, hg. Gerhard Baumann/Siegfried Grosse (Stuttgart, Zürich, Salzburg o. J. [1957/58]), Bd. 1, 313; Eichendorff, »Trösteinsamkeit. Aus dem Tagebuch eines Einsiedels« (nach 1845), in: ebda, Bd. 2,

994; Eichendorff, Ahnung und Gegenwart (1815) in: ebda, Bd. 2, 301. 25

Vgl. Eichendorff, »Kein Pardon« (1848), in: ebda, Bd. 1,171.

26

Eichendorff, »In der Fremde« (1833), in: ebda, Bd. 1,263.

Aufruhr der Elemente

163

rik und das Naturverständnis, das sich darin niederschlägt. Denn bemerkenswert ist, wie diese Metaphorik bei allen weltanschaulichen Akzentänderungen unverändert beibehalten wird. Ihr Gebrauch bleibt konstant, nur politische Zuschreibungen ändern sich. Bis in die Spätphase wurden von Eichendorff solche Metaphern verwendet, und es liegt nahe, zu fragen, ob sich das mit seinem Naturverständnis berührt: seinem romantischen Naturverständnis. Auch Eichendorff ist der Linie einer romantischen spirituellen Naturansicht zuzurechnen. 27 Die romantische Spiritualisierung, die sich in die Natur einfühlte und in ihr den keimhaften und unbewußten Grund der menschlichen Existenz suchte, leitet Eichendorffs Metaphern. Auch ihn fesselt der Gedanke einer spiritualisierten Natur, deren exoterischer Ausdruck jene Vielzahl von Natur- und Blitz-Metaphern ist, die sein Werk auszeichnen. Eichendorff versuchte, jenes romantische Ideal einer Spiritualisierung der Natur und der Naturalisierung der Geschichte aufrechtzuerhalten, das sowohl der Natur als auch der Geschichte einen harmonischen Lauf garantierte. Aber in dem Maß, wie Eichendorffs geschichtliche Ideale hinfälliger wurden, nahm auch der Blitz wieder bedrohliche Züge an, ohne dadurch jemals dem antizipierenden menschlichen Zugriff - und sei es durch anthropomorphe Metaphern - ganz zu entschwinden.

I I . Das politische Erdbeben A n Arbeiten wie Karl Friedrich Ferdinand Kotzebues Die Sonnen-Jungfrau (1791), Friedrich Schillers Die Braut von Messina (1803) oder Heinrich von Kleists Das Erdbeben von Chili (1807) - Kotzebues heute vollkommen vergessenes Stück ist wahrscheinlich als eine direkte Vorlage für Kleist anzusehen ließe sich zeigen, wie sich auch i n der Erdbebenfrage ein soziomorphes Verständnis etablierte. Dabei ergab sich eine Steigerung von moralisierenden zu politisierenden Konnotationen. Die frühaufklärerische religiös-moralisierende Erdbebendeutung, die es vermochte, die natürlichen Katastrophen in den Bereich der Krisen des Menschlichen hineinzuziehen, mündete zunehmend in direkte Politisierungen. Z u m Beispiel hieß es anläßlich des Erdbebens in und u m Messina - »Die Geschichte weiß von keinem Erdbeben, dessen Erschütterungen so heftig, und dessen Würkungen so zerstörend gewesen, als das in Kalabrien i m Jahr 1783« 28 - i n einer Hamburger Korrespondenz, die Auswirkungen von Erdbeben auf den ganzen Staatsbau und auf die internationalen 27 Vgl. Alexander v. Bormann, Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel hei Joseph von Eichendorff (Tübingen 1968), 6. 28 Deodat de Dolomieu, Abhandlung über das Erdbeben in Calabrien im Jahr 1783

(Leipzig 1789), 12. 11*

164

Olaf Briese

Handelsverflechtungen seien so gravierend, daß man solche Erschütterungen »zu den allermerkwürdigsten politischen Begebenheiten« zählen müsse. 29 Buchstäblich: Erdbeben sind keine natürlichen Phänomene. Sie sind i n politische Diskurse überführt. Das ermöglicht einen planvollen Umgang mit ihnen. Aus einer bestimmten Perspektive heraus war diese Annahme tatsächlich berechtigt. Allein bevölkerungspolitisch gaben einhunderttausend Todesopfer natürlich Anlaß zu Sorge. A k t i e n fielen. Niederlassungen wurden zerstört. Staatsgelder zum Aufbau wurden benötigt. Bei solchen eher pragmatischen Einbindungen der Natur i n das Geflecht geschäftlichen und politischen Handelns sollte es aber in diesem für seine konservativen Tendenzen bekannten Hamburger Politischen Journals nicht bleiben. Ein weiterer A r t i k e l aus dem Jahr 1783 zog einen größeren politisierenden Bogen: »Wir haben jetzt einen merkwuerdigen Zeitpunct. Die Natur ist eben so i n Bewegung wie die Staatscabinetter i n Europa. Sie hat hier und da schon Revolutionen auf der Erde gemacht, indem die Staatsminister mit dergleichen Absicht der Menschen sich beschaeftigen«. 30 Die N a t u r also stimuliert die Menschenrevolutionen. Sie ist die Triebkraft, welche auch die verheerenden politischen Umbrüche i n Gang setzt. Ebenso wie sich die Klüfte und Höhlen des Erdkörpers öffnen, tun sich Abgründe des Politischen auf. Aber Anlaß zu unberechtigter Sorge muß nicht bestehen: Die Kabinette befassen sich mit diesen Ausnahmefällen. Sie haben die soziale - und, was liegt bei einer solchen gezielten Gedankenführung nicht näher - die natürliche Lage i m Griff. Es scheint einen politischen Standpunkt zu geben, der die natürlichen und sozialen Katastrophen abzuwenden verspricht. Diese bedrohlichen revolutionären Absichten, auf welche die Erdbeben i n einer A r t Vorspiel hinzudeuten schienen, wurden i n den siebziger und achtziger Jahren immer vernehmlicher. Christian Friedrich Daniel Schubarts Gedicht »Aussicht i n die Zukunft« von 1776 trat mit der subversiven Warnung an, daß schon bald »des bangen Erdballs Erschütterung« es bewirke, daß »plötzlich ganze Königreiche / Tief i n den Abgrund hinuntergeschleudert« würden. 3 1 Diese Vorstellung bewahrheitete sich. Das politische Erdbeben brach tatsächlich über Europa herein. Denn als Erdbeben wurde es, folgt man der gängigen Metaphorik, allenthalben verstanden. A u f Seiten französischer Revolutionäre 29

[Anonym], »Untergang der Städte Messina, Reggio, und vieler Oerter und Gegenden

in Sicilien und Neapel«, Politisches Journal nebst Anzeigen von gelehrten und andern Sachen, 3 (1783), 287. 30

[Anonym], »Neue Erderschütterungen, und andere merkwürdige Natur-Ereignisse«,

Politisches Journal nebst Anzeigen von gelehrten und andern Sachen, 3 (1783), 672. 31

Christian Friedrich Daniel Schubart, »Aussicht in die Zukunft«, Taschenbuch für

Dichter und Dichterfreunde

y

Abt. 6 (Leipzig 1776), 143.

Aufruhr der Elemente

165

und Gegenpamphletisten wurde ebenso ausgiebig mit Erdbeben- und Vulkanmetaphern operiert, wie zum Beispiel auch, und dieser Bezug lag angesichts der beständigen natürlichen Eruptionen nahe, neapolitanische Revolutionäre und Gegenrevolutionäre die jeweils befreiende oder verheerende Wirkung von politischen Erdbeben und Vulkanausbrüchen beschworen. 32 A u c h i n Deutschland griffen Anhänger wie Gegner revolutionärer Veränderungen diese eindrucksvolle Metaphorik auf. M u ß die seit längerem diskutierte Frage, ob es in Deutschland Jakobiner gegeben habe oder nicht, hier unberücksichtigt bleiben, ist ersichtlich, wie zumindest rhetorisch-metaphorisch das Recht auf durchgreifende Umwälzung eingefordert wurde. Wilhelm Heinse etwa konstatierte, das bürgerliche Gebäude würde »bis dato« weiterhin von Erdbeben erschüttert: »ein Stück fällt nach dem andern, und was neu gebaut wird, und worden ist, deßgleichen. Alles muß dem Erdboden gleichgemacht werden, alles nackter Mensch werden«. 3 3 Georg Friedrich Rebmann, der unter anderem davon ausging, daß »jede Gärung i n der physischen, und in der moralischen Welt näher zur Vollkommenheit führt«, verglich i n diesem Zusammenhang die nötigen Menschenopfer beim Erdbeben i n Calabrien mit den Opfern der Revolution und verbuchte sie als nötige Verluste i m »grossefn] Geschäft der Vollendung«. 3 4 Diese positive Wendung von Erdbeben- und Vulkanmetaphern - auch der eher gemäßigt-liberale Publizist Ernst L u d w i g Posselt sehnte sich »Erdbeben« und »Feuerströme« herbei 3 5 - kulminierte i n den Revolutionsschriften Forsters. Neben Kometen- und Blitz-Gleichnissen bestimmten auch Erdbebenbzw. Vulkanmetaphern sein RevolutionsVerständnis. Hatte er auf seinen zahlreichen in- und ausländischen Expeditionen Erdbeben und Vulkanen stets große Aufmerksamkeit zugewandt, so war auch seine politische Metaphorik davon geprägt. 1792 ging er mit Blick auf die »Zerwühlung Calabriens«, also ebenfalls auf das verheerende Beben von 1783, und auf die »Explosion i n Frankreich« vorsichtig bedauernd davon aus, »unter dem ehrwürdigen Gothischen Denk32

Vgl. Ivan Nagel, »Seuche, Vulkan, Überschwemmung: Saint Just als Naturforscher«,

Georg Büchner-Jahrbuch , 7 (1988/89), 83-90; Herbert Wender, Georg Büchners Bild der Großen Revolution. Zu den Quellen von Danton's Tod (Frankfurt a.M. 1988), 177; Jean Jaques Langendorf, Pamphletisten und Theoretiker der Gegenrevolution (München 1989), 136,220. Zur Vorgeschichte dieser politischen Erdbeben- und Vulkanmetaphorik vgl. Mel-

vin J. Lasky, Utopie and Revolution. On the Origins of a Metaphor, ; or Some Illustrations of the Problem of Political Temperament [. . ./(Chicago/London 1976), 243,281,310. 33 Wilhelm Heinse, Aphorismen , Kap. 4 „Aus Mainz: 1786-1792", in: Werke, hg. Carl Schüddekopf (Leipzig 1903 ff.), Bd. 8.2., 209-442, hier 426.

34

[Georg Friedrich Rebmann], Hans Kiekindiewelts

Reisen in alle vier Welttheile

(2. verb. Aufl., Leipzig und Gera 1796), 182 f. 35

Zit. nach Wender, Georg Büchners Bild der Großen Revolution , 178 f.

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mal« der deutschen Reichsverfassung würde sich kein Vulkan entzünden. Ebenfalls noch abwägend und mit Rücksicht auf Zensurmaßnahmen abgefaßt, hieß es i m selben Jahr, der »Vulkan Frankreichs« könne vor einem Erdbeben i n Deutschland-sichern. Nach seiner A n k u n f t i n Paris identifizierte sich Forster dann aber eindeutig mit der politischen »Gährung« und der dabei »aufbrausenden Hitze«. Er hofft sogar, daß sich der revolutionäre D r u c k verstärkt und auf Deutschland zurückfällt: Wer hat die Elasticität des gährenden Stoffes so genau berechnet, daß man von seiner Kraft nichts zu befürchten haben sollte? Wer kennt den Grad der Verstärkung, den unsere Gährung durch die von außen hineingemischten Mittel noch erhalten kann? Wenn die Bombe zerplatzt, wird sie nicht alles umher zertrümmern? 36

Forster möchte die geschichtlichen Ereignisse i n natürliche Bilder übersetzen. M i t der Steigerung der revolutionären D y n a m i k steigert sich seine revolutionäre Entschlossenheit. Erdbeben werden die nötigen Umstürze bringen. A u c h bei anderen Verfechtern der Mainzer Republik kam es zu solchen positiven Bezügen: »Wir wandeln auf einem unterminierten, mit brennbaren Materialien angefüllten Boden; der Tod ist unter unsern Fürsten«. 3 7 Diese Aufwertung geschichtlicher Umstürze bedeutete auch eine Aufwertung natürlicher Konvulsionen. Die Toten Calabriens - so auch der Tenor Posselts - wären notwendige Opfer i n einem imaginären Fortschrittsgeschehen. Die Erde erscheint gleichsam als politischer Kampfplatz. A u c h wenn sie letztlich nicht völlig i n menschlichen Diensten steht, befördert sie die menschlichen Absichten. Die N a t u r ist die Vorkämpferin der menschlichen Aufbrüche. M i t dem Abklingen der eruptiven politischen Auseinandersetzungen i m Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit werden auch die natürlichen Ausbrüche hinfällig sein. E i n solcher geschichtlicher Enthusiasmus schwand bei den Romantikern allmählich. Die Begeisterung für die französische Revolution schlug nach und nach i n Ernüchterung und schließlich i n Enttäuschung um. Dieser Wandel läßt 36 Forster, »Erinnerungen aus dem Jahr 1790« (1792), in: Georg Forsters Werke, Bd. 8, 263-353, hier 281 f.; Forster an Christian Friedrich Voß, 21. Dez. 1792, in: ebda,, Bd. 17, 279; Forster an Therese Forster, 23. Mai 1793, ebda, Bd. 17, 360; Forster, »Parisische U m risse« (1793), in: ebda y Bd. 10.1., 593-640, hier 622. Z u Forster vgl: Dennis F. Mahoney, »The French Revolution as Volcano: Goethe and Georg Forster«, in: Richard Fisher

(Hg.), Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Festschrift für Wolf gang Wittkowski zum 70. Geburtstag (Frankfurt a.M./Berlin/ Bern 1995), 171-180. 37 Karl Clauer, »Der Kreuzzug gegen die Franken. Eine patriotische Rede, welche in der deutschen Reichsversammlung gehalten werden könnte«, in: Claus Träger (Hg.),

Mainz zwischen Rot und Schwarz. Die Mainzer Revolution 1792-1793 in Schriften, Reden, Briefen (Berlin 1963), 55-70, hier 66.

Aufruhr der Elemente

167

sich auch anhand von Erdbeben- und Vulkan-Metaphoriken nachzeichnen. Sie hatten einen so gewichtigen Stellenwert, daß sie diesen Wandel selbst verdeutlichten. Friedrich Schlegel etwa ging noch i n seinem Aufsatz über Forster davon aus, die sozialen Gesetze würden demselben ehernen Gang folgen wie die der Natur. Er war sich sicher, all ihre partiellen Katastrophen hätten einen wohlberechneten Platz i n der Vorsehung. I n einer darauffolgenden Arbeit zählte er Lessing zu jenen mutigen Geistern, welche »die heftigsten Gärungen und gewaltigsten Erschütterungen allgemein verbreiten«, und auch i n den »Athenäums«-Fragmenten bezeichnete er die Französische Revolution als ein »fast universelles Erdbeben« 3 8 . E i n solcher Ausbruch werde segnende Folgen haben. Verkrustete Strukturen brechen auf. Produktive Mischungen entstehen. Aber diese Faszination verkehrte sich geradezu. Der Gang ins nachrevolutionäre Paris enttäuschte Schlegel. Ohne auf diesen Komplex hier näher eingehen zu können, ist interessant, daß dieser weltanschauliche Perspektivwechsel und die Hinwendung zu konservativen Positionen mit einer veränderten ErdbebenMetaphorik einhergingen. Schlegel verwahrte sich nunmehr gegen die »immer drohenden Erschütterungen i n der politischen Welt«. Allenfalls konnte er Erdbeben als Strafgerichte oder als apokalyptische Zeichen für kommende tiefgreifende religiöse Umbrüche begreifen. 39 Eine fast analoge Wandlung der Erdbeben-Metaphorik läßt sich an Görres beobachten. Anfangs war Görres begeistert, als die Despoten bei den »tremulirenden Bewegungen« des politischen Bodens zu stürzen begannen. Voller Elan stritt er i n Mainz für eine republikanische Verfassung. Aber mit seinem Wechsel zu konservativen Positionen vollzog sich auch bei i h m ein metaphorischer Wandel. Er distanzierte sich nach den Erlebnissen seiner Frankreichreise von den »Eruptionen dieses Flammenmeeres«. Vor dem »Flammenherd des Vulkans« und seinen »konvulsivischen Bewegungen« konnte er nur warnen. A u c h wenn solche Ausbrüche anfangs vielleicht unvermeidlich gewesen waren, erkannte er darin nunmehr keine heilsamen, sondern nur noch verheerende Kräfte. Sie waren grundsätzlich zerstörend. M i t dieser Auffassung befand er sich auf einer Linie etwa mit Novalis, der beispielsweise Freiheit und Gleichheit als lauernde, heillose Vulkane verstand. 40 38 Friedrich Schlegel, »Über Lessing« (1797), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. Ernst Behler (München/Paderborn/Wien 1962ff.), Bd. 2,100-125, hier 101; Schlegel, »Athenäums-Fragmente« (1798), in: ebda, 16-255, hier 247. 39 Schlegel, »Zur Geschichte und Politik«, in: ebda, Bd. 22, 63-431, hier 277, vgl. 136, 283, 335 f. Z u dieser apokalyptischen Deutung und den damit verbundenen Naturmetaphern vgl. weiterhin Alfred Opitz, »Das Gallische Pandämonium. Frankreich und die französische Literatur in der konterrevolutionären Presse des ausgehenden 18. Jahrhun-

derts«, in: Pierre Grappin (Hg.), V Allemagne des Lumières. Périodiques. ces. Témoignages (Paris 1982), 379-410.

Correspondan-

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Erdbeben- und Vulkan-Metaphoriken hatten mittlerweile einen anderen Status. Der romantischen Begeisterung für die revolutionären Umbrüche folgte die Befürchtung, all die sozialen Eruptionen würden, statt eine neue Ordnung zu befördern, nur Chaos stiften. Erdbebenmetaphern verdeutlichten nicht mehr den politischen Aufbruch, sondern politische Katastrophen. Sie standen nicht für ein Aufblühen, sondern für Verwüstung. Wie diese Erdbeben- und Vulkan-Metaphoriken i n noch weiterer, nun wieder positiver Weise ausgeformt werden konnten, zeigt ein Blick auf Arndt. I n einer geschichtlichen Krisensituation, i n den Napoleonischen Eroberungskriegen, sieht er ebenfalls vulkanische Ausbrüche. Aber über deren heilsame Folgen scheint er sich sicher zu sein. M i t geradezu apokalyptischem Muster kann er die Krise i n die Voraussetzung kommenden geschichtlichen Heils umdeuten. Sind die Urheber des Krieges, der lüsterne Imperator oder gar die ganze französische Nation, namhaft gemacht, kommen soziale Gegenmechanismen i n Gang: »Der Tag der Rache w i r d kommen, schnell und unvermeidlich«. Die Umwälzungen der Natur zeigen früher oder später ihre Früchte. Bereits 1806, mit Bezug auf die verheerende Niederlage der preußischen Truppen, hieß es bei A r n d t optimistisch, nach Vulkanausbrüchen seien stets »süße und schimmernde Blüten der Schönheit und Menschlichkeit« aufgegangen. A u c h wenn Arndts Geduld hart geprüft wurde und eine deutsche Einheit vorerst nicht erkämpft wurde, blieb diese Metaphorik i m Rahmen seiner ungebrochenen nationalen Hoffnungen erhalten: »Wie Erdbeben, Stürme und Vulkane Länder verschlingen und neue wiedergebären, so liegt i n dem dunkeln Schöße dieser vulkanischen und orkanischen Zeit eine ungeheure Geburt, die da werden soll«. 4 1 Die N a t u r ist eingebettet i n einen politisch dominierten Deutungshorizont. Natürliche Vorgänge werden zu heilsamen politischen Ereignissen - wie zum nationalen Aufbruch des Jahres 1813 - umfiguriert. Sie sind kein unberechenbarer naturhafter Einbruch, sondern ein Moment innerhalb eines historischen Verlaufplans und geschichtlicher Machbarkeit. Sie scheinen menschlich verursacht und ebenso menschlich bezwingbar. Diese Metapher des politischen Erdbebens bestimmte fortan die politischen Debatten wie sie auch das soziomorphe Erdbebenverständnis untergründig konterkarierte. Denn nur noch auf solche soziomorphe Weise waren Erdbeben zu denken. Sie gerannen, wie Wolfgang Menzel i m Jahr 1831 verdeutlicht, zum 40

Görres, »Der allgemeine Friede, ein Ideal« (1798), in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1-63, hier 23; Görres, »Resultate meiner Sendung nach Paris«, 575, 594; Novalis, »Glaube und Liebe oder Der König und die Königin« (1798), in: Schriften, hg. Paul Kluckhohn/ Richard Samuel (3. Aufl., Stuttgart 1981), Bd. 2,475-503, hier 487. 41 Ernst Moritz Arndt, »Geist der Zeit« (1806/18), in: Arndts Werke, hg. August Leffson/Wilhelm Steffens (Berlin/Leipzig/Wien o.J.), Bd. 6,172,200, Bd. 8,111.

Aufruhr der Elemente

169

Projektionsfeld politischer Aktivität und waren damit metaphorisch gebannt: »Die Geschichte gleicht in ihrem Fortgange der Gebirgskette der Cordilleren. Einige ihrer Vulcane sind schon ausgebrannt und ruhen, andere sind noch in voller Thätigkeit, wieder andere scheinen ihr junges Feuer noch i n sich verschlossen zu halten« 4 2 .

I I I . Der politische Komet Innerhalb dieser Tendenz einer politischen Konnotierung der Natur, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts einen sprunghaften Aufschwung genommen hat, spielten Kometen eine wichtige Rolle. Diese Politisierung von Kometen hat bisher wenig Beachtung gefunden. Natürlich lassen es kulturgeschichtliche oder literaturgeschichtliche Studien nicht an Beispielen fehlen, wie die politische Metaphorik in Deutschland von etwa 1750 bis 1850 auch von astronomischen Metaphern getragen wurde. Allerdings wurde bisher nicht genügend berücksichtigt, daß sich in politischen Metaphorisierungen und Verbildlichungen insbesondere von Kometen nicht nur Ansprüche an Geschichte und Politik artikulierten, sondern auch Hoffnungen auf eine harmonische, dem Menschen zuträgliche Natur. Zwei Entdeckungen waren dafür ausschlaggebend: Newtons endgültiger Beweis, daß Kometen feste und nicht gasförmige Körper sind, und Halleys Vorhersage eines geschlossenen Bahnverlaufs, so daß sie periodisch wiederkehren. Damit waren schlagartig neue Befürchtungen entstanden: nämlich die vor kosmischen Zusammenstößen. Kometen waren nun nicht mehr luzide und entzündbare Gase innerhalb der Erdatmosphäre, wie seit Aristoteles kanonisch überliefert wurde. Vielmehr waren sie feste Körper auf kosmischen Bahnen und konnten mit der Erde kollidieren. Diese neuen astronomischen Entdeckungen bewirkten, wie der Astronom Johann Heinrich Lambert es 1761 mit Blick auf die religiöse mittelalterliche und barocke Kometenfurcht zusammenfaßte, nur neue Ängste: »Ist es nicht so, die Cometen sind nun nimmer durch ihre Bedeutung, sondern durch ihre Wirkung furchtbar?« 43 Dieser Angstdruck stimulierte den Aufschwung von entlastenden soziomorphen Kometenmetaphern. Natürlich war die damit einhergehende metaphorische Politisierung von Kometen kein rein neuzeitliches Phänomen. Bereits i m antiken Kometenglauben, in dem sich das Paradigma einer negativen Vorbedeutung von Kometen durchsetzte, konnten Kriegsausbrüche, kriegerische 42 Wolf gang Menzel, Reise nach Oesterreich im Sommer 1831 (Stuttgart und Tübingen 1831), 313.

43

Johann Heinrich Lambert, Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaus

(Augspurg 1761), 4.

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Niederlagen oder Herrscherwechsel mit Kometen in Zusammenhang gebracht werden. I m Mittelalter lebte dieses Negativbild fort i n der Ankündigung etwa von Sarazeneneinfällen oder des Todes von Päpsten. I m Zuge astronomischer Vorstellungen der Renaissance kam es zu einem Aufschwung solcher Ansichten, 4 4 und nach der Reformation gewannen sie auch i m protestantischen Raum an Einfluß. 4 5 Vor allem i n den englischen Revolutionen seit 1640 dienten Kometen bei Politikern, Dichtern oder Theologen zur Charakteristik von »revolutionary situations«. 46 Diese Linie der politischen Vorbedeutung

von Kometen, i n der auf merk-

würdige Weise Angstbeförderung und Angstbezähmung miteinander verschlungen war, blieb angesichts des neuen newtonischen Weltbildes aber nicht länger dominierend. Kometen galten nunmehr als reale, feste Körper. Da aber gerade das neue Ängste etwa vor Zusammenstößen hervorrief, blieben entlastende politisierende Konnotationen erhalten. N u r nahmen sie jetzt einen anderen Charakter an. Die einstmals festverwurzelten Annahmen von einer politischen Bedeutung der Kometen schrieben sich i m bedeutungsvollen Spiel mit dieser zugeschriebenen Bedeutung fort. Das erfüllte aber eine analoge Funktion: Die soziomorphe bzw. politomorphe Deutung von Kometen konnte ihre realen Gefahren minimieren. Den Romantikern galten Kometen anfangs als revolutionäre Bündnispartner. Für Friedrich Schlegel zum Beispiel waren Kometen kosmische »Repräsentanten«, welche die »erregende Potenz der Mondablösung« beinhalteten. 47 Er erw o g also i n der Phase seiner quasi anarchistischen Exaltationen, daß sogar das kosmische Symbol der Bürgerlichkeit, der Mond, durch die so scheinbar wirren, aber eigentlich doch gesetzmäßig laufenden Kometen eines neu gekommenen Zeitalters abzulösen wäre. A u c h Novalis stellte ihre positive politische Natur heraus. Er verstand sie unter anderem als kosmische Empörer, die durch eine Revolution, also durch ihren zerstörenden Umlauf, das A l l erneuern. Beziehungsreich verklärte er sie zu »Revolutionsfackeln«, die »periodisch das geistige Weltsystem revolutioniren und verjüngen« würden. 4 8 Damit i m Einklang nahm der romantische Jakobiner Görres an, daß »die höhern Regionen auch die der höhern Freyheit« seien, »und die Meteore, die 44 Vgl. Lynn Thorndike, »Comets and Courts«, in: dies., A History of Magic and Experimental Science (4. ed., N e w York and London 1966), Vol. IV, 413-474.

45

Vgl. Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts (Reinbek 1989), 99 f. 46 Lasky, Utopia and Revolution, pp. 227. 47 Schlegel, »Philosophische Lehrjahre« (1796-1803), in: Kritische Ausgabe, Bd. 18,1-501, hier 180. 48

Ängste im

Friedrich-Schlegel-

Novalis, »Glaube und Liebe oder Der König und die Königin«, 489.

Aufruhr der Elemente

171

dort ziehen, sind die ungebundensten«. Görres schuf ein Ordnungsmodell, das die regellose Macht in- Regelmaß überführte. Seine These, daß die »politische Eccentricität« von Köttieten »mehr oder minder in die democratische [Staatform] übergeht«, 49 zog die irregulären Kometen ins Gravitationsfeld des Politischen und konnte sie segensbringend darin kreisen lassen. Neben diesen eindeutigen Positivierungen von Kometen gab es bei den Romantikern aber auch schon früh verhaltenere Deutungen. Zumindest gab es Autoren, welche Licht und Schatten wahrnahmen. Jens Baggesen warnte mit Bezug auf die Tatsache, daß die Freiheit als neuer leuchtender Komet über Europa aufgetaucht sei, davor, dieser könne bald den ganzen H i m m e l einnehmen und die Wärme der absolutistischen Sonne absorbieren. Immerhin wollte er aber schließlich alle diejenigen Phänomene gelten lassen, welche sich als »leuchtend und wärmend« erweisen. 50 Für Gentz hingegen, dessen Begeisterung für die Französische Revolution schnell verklungen war, konnte »die Schreckengestalt dieses stürmischen Meteors« nur noch die ganz Europa drohende »Umkehrung aller gesellschaftlichen Verhältnisse und die gänzliche Auflösung aller gesellschaftlichen Bande« ankündigen. 51 Gentz spielte also mit der inzwischen überlebten Figur einer politischen Vorbedeutung. Er verquickte sie allerdings mit den neuen Hypothesen der realen Kometeneinwirkung. Der politisch instrumentalisierte Komet bedeutet nicht nur geschichtliches Unglück, sondern bewirkt es selbst. Solche Schreckbilder kamen unter den Romantikern zunehmend auf. I n der Phase seiner Konversion zum Katholizismus erschien auch Schlegel der einstmals erlösende Republikanismus nun in eindeutiger Negativbehandlung als »nur ein vorübergehender Meteor«, der freilich einzelne lichte, glänzende Momente habe, der aber schnell »im Stern bürgerlicher Zwietracht verlischt und Zerstörung und Verwirrung zurückläßt«. 5 2 Diese negative Politisierung findet sich bei weiteren Romantikern. Die naturhaften Umbrüche erschienen als katastrophal, wie die politischen U m wälzungen katastrophale Folgen bewirkt hätten. Görres, der einstige Jakobiner, bewertete während seines enthusiastisch angetretenen und desillusionierend ausgehenden Paris-Besuches i m Jahr 1800 die revolutionären Ereig49

Görres, »Exposition der Physiologie« (1805), in: Gesammelte Schriften , Bd. 2.2., 1-131, hier 46; Görres, »Der allgemeine Frieden, ein Ideal«, 31. 50

Jens Baggesen, Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland in die Schweiz 1789

(2. Aufl., Berlin 1985), 335. 51 Qaques Feangois] Mallet du Pan, Ueber die französische Revolution und die Ursachen ihrer Dauer. Übersetzt mit einer Vorrede von Friedrich Gentz (Berlin 1794), XVIII. 52 Friedrich Schlegel, Philosophische Vorlesungen aus den Jahren 1804-1806, hg. C. H.

J. Windischmann (Bonn 1836), Bd. 2, 365.

172

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nisse nur noch als gescheitert. Entsprechend kritisch äußerte er sich - auch i m Bild des Kometen - über seine einstigen republikanischen Illusionen: »Ihr vermögt nicht die Ellipse eines ekzentrischen Kometen aus einem Elemente seiner Laufbahn zu berechnen, w o l l t ihr die Bahn der Menschheit aus einem Momente ihres Daseyns herausfinden?« 53 Einerseits mußte er konstatieren, in Frankreich sei der revolutionäre Elan vorübergegangen wie ein Meteor. A n dererseits konnte er in Kometen offenbar nur noch Phänomene mit seltsam verzogenen Kurven und mit wilden Bahnen erkennen. Sie erschienen ihm als Gebilde von tiefer A b k u n f t . 5 4 Kometen waren also nichts als Schreckbilder. Sie brachten keinen Segen, sondern Verwirrung. N i c h t produktive Unruhe hatten sie gestiftet, sondern katastrophales Chaos. I m Zuge der Französischen Revolution änderten sich also die Bilder von Kometen innerhalb der romantischen Strömung und kam es zu einem Wechsel von Positiv- zu Negativmetaphern. Bald darauf ergab sich aber - ähnlich wie bei der Erdbeben-Metaphorik eine nochmalige Änderung. Angesichts neuer politischer Umstände wandelte sich die romantische Kometen-Metaphorik wiederum. A u c h das zeigt, daß trotz aller wechselnden geschichtlich-politischen Zuschreibungen das Kometenproblem konstant gegeben war. Romantische Kometenbilder schrieben sich nämlich in der Zeit der Kriege gegen Napoleon fort. Dabei wurden die eben geschilderten Kometendeutungen gewollt oder ungewollt selbst zum Thema. Nunmehr konnten Kometen gleichermaßen Unglück wie Erlösung verheißen. 1811, i m Jahr eines besonders auffälligen Kometen, der in plebejischen Kreisen durchaus noch die alten abergläubischen Befürchtungen wecken konnte, 5 5 erschien zu Ende von A c h i m von Arnims Isabella von Ägypten ein Komet als Bote kommenden Unglücks wie auch denkbarer göttlicher Erlösung. Ebenso stand der am Ende von Eichendorffs 1815 erschienenem Roman Ahnung und Gegenwart auftauchende Komet mit apokalyptischer Ambivalenz für die M ö g lichkeit eines grundsätzlichen geschichtlichen Wandels. Kometen galten als Unglücksboten wie auch als Zeichen religiöser Erwekkung. M i t apokalyptischer Ambivalenz standen sie für die Möglichkeit eines grundsätzlichen politischen Wandels. I n einer späteren Phase, nach der Juli-Re53

Görres, »Resultate meiner Sendung nach Paris«, 585 f.

54

Vgl. Görres, »Resultate meiner Sendung nach Paris«, 576; Görres, »Glauben und Wissen« (1805), in: Gesammelte Schriften, Bd. 3,1-70, hier 28. 55 Karl v. H o l t e i zum Beispiel überliefert i n einer autobiographischen Schrift, seine A n gehörigen waren sich sicher, daß »der drohende Krieg durch den Kometen v o m Jahre Achtzehnhundert Elf veranlasst und herbeigeführt sei« [Vierzig Jahre (Breslau 1862), Bd. 1,190]. Johann Peter Hebel mußte solchen Ansichten i n seinen volkstümlichen Arbeiten ausdrücklich entgegentreten, vgl.: »Der Komet von 1811« (1813), in: Johann Peter Hebel, Gesammelte Werke, hg. Eberhard Meckel (Berlin 1958), Bd. 2, 51-55, hier: 51 f.

Aufruhr der Elemente

173

volution, hat Eichendorff 1832 wieder mit einem eindeutigen Negativbezug gearbeitet: Liberale Irrwische und Rattenfänger würden durch ihr demagogisches Gebaren die Menschen gleich einem Kometenschweif nach sich ziehen, 5 6 w o hingegen Arndt 1834 eine politische Abhandlung mit eher vagen Reflexionen über eine Gegenwart, »die ebenso unter dem Einfluß und Glanz von unbekannten Kometen« stehe, einleitete. 57 Diese metaphorischen Zuschreibungen ergaben sich i m Vorfeld des Halleyschen Kometen von 1835, zu einer Zeit, i n der, wie rückblickend festgestellt wurde, i m Vergleich zum 18. Jahrhundert das »Gespenst einer neuen Angst« mittlerweile auch in die »breite Masse« eingedrungen war. 5 8 I m Feld dieser neuen Zusammenstoß-Ängste wurden die naturhaften Qualitäten von Kometen zumindest metaphorisch aufgezehrt. Eine Schicht soziomorpher Zuschreibungen konnte die drohenden Kometen abwehren. Sie wurden gezielt politisch konnotiert und konnten als politische Gegenstände behandelt werden. Ihre unberechenbare Naturhaftigkeit wurde unterlaufen. Sie erschienen, zumindest in der gängigen Metaphorik, als potentielles Menschenwerk.

IV. Macht der Metaphern Es ist zu wiederholen: Das Feld von naturhaften Geschichtsmetaphern ist in der Geschichts- und Literaturwissenschaft bereits gründlich bearbeitet worden. Dennoch besteht hinsichtlich dieses Problemkreises ein Forschungsdefizit. Selbstverständlich ist der Aufschwung von Natur-Metaphorik für geschichtliche Ereignisse daraus erklärbar, ihnen in Analogie zur dynamischen Natur freudig »ihren freien Lauf« zu lassen 59 oder die »zerstörende Kraft der Naturelemente« bewußt in den Dienst »einer Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse« zu stellen. 60 Zweifellos bewirken solche Metaphern in politischer Publizistik eine »emotionale Ansprache« und »Verständlichkeit«. 61 Der Ansatz von Jürgen Link, solche Kollektivsymbole würden die Fiktion einer gattungs56

Vgl. Eichendorff, »Auch ich war i n Arkadien« (1832), in: Werke und Schriften,

Bd. 2,

746. 57

Arndt, »Belgien und was daran hangt« (1834), in: Arndts Werke, Bd. 12, 7-83, hier 11.

58

Wilhelm Bölsche, Komet und Weltuntergang (Berlin 1910), 36.

59

Helmut Peitsch, »Das Schauspiel der Revolution. Deutsche Jakobiner in Paris«, in:

Peter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur

(Frankfurt a.M. 1989), 306-332, hier 310.

60

Alfred Molzan, »'O komm, du neue, labende, selbst nicht geträumte Sonne«. Das Naturbild i m Dienste des aktiven Humanismus F. C. Klopstocks«, Weimarer Beiträge, 14 (1968), 998-1036, hier 1024. 61

Jäger, Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz, 80.

174

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haften Einheit trotz arbeitsteiliger Differenzierung erhalten, ist ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. 6 2 Andererseits formten diese Naturmetaphern aber auch ein bestimmtes Bild von Natur. Allein formal-sprachlich wurde sie vertraut. Man muß sprachstrukturalistische Ansätze nicht völlig teilen, u m anzuerkennen, daß Sprache ein Medium ist, »das von aller menschlichen Ewigkeit her Macht enthält«. 63 Berücksichtigt man ferner die Feststellung Max Blacks, des Wegbereiters der modernen Metaphernforschung, mit Metaphern werden die Merkmale des jeweiligen Gegenstandes betont, unterdrückt und organisiert 64 - neuere metapherntheoretische Arbeiten sprechen sogar von einer »metaphorical creation« 65 - , so w i r d deutlich: Sprache und Metaphern schaffen unablässig Welten: menschliche Welten. Metaphern sind menschliche Aneignungsmuster. Sie bringen die stumme Welt zum Sprechen. Sie übersetzen deren vermeintlich schweigende Präsenz durch »Creation of similarity« 6 6 , und sie ermöglichen eine sprachliche Bestimmung, einen sich steigernden Zugriff auf eigentlich Unverfügbares. Die anthropomorphe Ausrichtung, die dabei unablässig zutage tritt, hat ihre Grundlage darin, daß Metaphern nicht zuletzt als »Verkörperungsschemata« 67 anzusehen sind. Wie George Lakoff und Mark Johnson in ihren wegweisenden Untersuchungen herausgearbeitet haben, konstituieren Physis und Körperlichkeit nicht nur den »Input« von Reizen, Sinneseindrücken und Erfahrungen - eine Annahme, die erkenntnistheoretisch längst erwiesen ist - , sondern auch den metaphorisch-sprachlichen »Output«. Denn Metaphern sind eben nicht bloß sprachliche Einkleidungen, sondern Weisen des Verstehens selbst. 68 Sie sind nicht mimetisch, sondern generativ. Natürlich ist, wie diese Annahme kritisch ergänzt wurde, der Versuch einer anthropologischen Verankerung von Metaphern stets historisch und kulturspezifisch zu konkretisieren. Evolutio-

62 Vgl. Jürgen L i n k , »Die Revolution i m System der Kollektivsymbolik. Elemente einer Grammatik interdiskiirsiver Ereignisse«, Aufklärung, 1 (1986), H . 2, 5-23.

63

Roland Barthes, Legon/Lektion, Antrittsvorlesung

im College de France (Frankfurt

a.M. 1980), 17. 64

Vgl. Max Black, »Mehr über die Metapher« (1977), in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher (Darmstadt 1983), 379-413, hier 393. 65 Hans Julius Schneider, »Metaphorically created objects: >real< or >only linguistic*«, in: Bernhard Debatin/ Timothy R. Jackson/Daniel Steuer (Hg.), Metaphor and Rational Discourse (Tübingen 1997), 191-100, hier 100. 66

George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors We Live By (Chicago/London 1980), 147.

67

Zdravko Radmann, »Künstliche Intelligenz und natürlicher Leib. Über die Grenzen der Abstraktion am Beispiel der Metapher«, in: Hans Julius Schneider (Hg.), Metapher, Kognition, künstliche Intelligenz (München 1996), 165-184, hier 182. 68

Mark Johnson, The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination,

and Reason (Chicago/London 1987), X I V f . , X X .

Aufruhr der Elemente

175

näre Entwicklung, kulturelle Ausdifferenzierungen und soziale Felder und Umfelder müssen bei dieser Annahme leib- und körpergeprägter Verstehensweisen berücksichtigt werden. 6 9 Ohne diese Rücksicht wäre zum Beispiel der hier dargelegte Trend eines aufkommenden explizit politomorphen Naturverständnisses gar nicht erklärbar. U m die unterschiedliche Bedeutung körperlicher oder kultureller Prägung metaphorischen Verstehens w i r d weiterhin gestritten werden - jedenfalls läßt sich der Annahme Hans Blumenbergs, Metaphern seien angesichts einer »genuin tödlichen Wirklichkeit« wichtige Mittel, u m sich von der Welt zu distanzieren, 70 ein anderes Metaphernverständnis zur Seite stellen. Denn allzu deutlich korrespondiert der Distanzierungstendenz ein umgekehrter Zug: Metaphern schlagen anthropomorphe Brücken. Sie vereinen scheinbar Getrenntes. Mittels Metaphern läßt sich Distanz zur Welt gerade überwinden und eine latente Verfügung über das an sich unverfügbar Natürliche imaginieren.

69

Vgl.: Bernhard Debatin, Die Rationalität

und kommunikationstheoretische 70

der Metapher. Eine sprachphilosophische

Untersuchung ( B e r l i n / N e w York 1995), 248 ff.

Hans Blumenberg, »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«

(1971), in: ders., Wirklichkeiten 1986), 104-136, hier 116.

in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede (Stuttgart

Das Sonettwerk Jones Verys als Spiegel seiner Entwicklung vom Propheten zum Patrioten Von Paul Neubauer

Der 1813 i n Salem geborene Jones Very ist heute ein weitgehend vergessener US-amerikanischer Dichter ganz eigenen Zuschnitts, den es i m Kontext der amerikanischen Sonettdichtung des 19. Jahrhunderts wiederzuentdecken gilt: Als besonderes Faszinosum i n Verys Sonettschaffen erscheint dabei die Verbindung traditionell-religiöser Metaphorik mit einem die konventionelle Identität des Individuums aufsprengenden Expressionsdrang von geradezu mystischer Intensität. Zugleich jedoch w i r k t dieses Charakteristikum seines poetischen Werks, seine enorme literarische Produktivität i n ihrer engen thematischen Ausrichtung, auch als Hauptgrund für seine bisherige Marginalisierung i m Kanon der amerikanischen Lyrik. 1 U m 1840 allerdings schien Jones Very auf dem besten Wege, zu einem zentralen Dichter der sich etablierenden Gruppe der Transzendentalisten u m Ralph Waldo Emerson i n Concord aufzusteigen eine Konstellation, die auch auf seinen existentiell erschütternden Bekehrungserlebnissen während seiner Studien- und Lehrtätigkeit an der Harvard D i v i n i t y School i n den Jahren 1837 und 1838 beruhte und mit der dann folgenden fast unglaublichen Produktionsfrequenz verknüpft war. 2 Innerhalb der 18 Monate nach diesem physischen und psychischen Zusammenbruch i m September/ Oktober 1838 verfaßte Very annähernd 300 zumeist ekstatische Sonette, deren Gegenstand und Aussage sich aus diesem Erweckungserleben speisten und die 1

Erst mit der Publikation der gesamten lyrischen Produktion von Very durch Helen R. Deese i n Jones Very: The Complete Poems (Athens: University of Georgia Press) i m Jahr 1993 steht eine verläßlicher Uberblick über die 862 Einzelgedichte des Autors zur Verfügung. Nach Deeses Ausgabe w i r d i n der Folge auch i m Text zitiert. Deese, die schon mit »Calendar of the Poems of Jones Very« in Studies in the American Renaissance, ed. Joel Myerson (Charlottesville: University Press of Virginia, 1986), 305317, einen Überblick über die Veröffentlichungslage des Werks publizierte hatte, verwechselt allerdings William Cullen Bryants Anthologie Selections from the American Poets des

Jahres 1840 mit Rufus Griswolds The Poets and Poetry of America von 1842 (op. cit. xxvi). 2

A u f die Darlegung dieser Krisenjahre konzentriert sich die Darstellung von E d w i n

Gittleman in seiner Biographie Jones Very: The Effective Columbia UP, 1967). 12 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

Years , 1833-1840 (New York:

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dies i n seherisch-visionärer Tonlage exegetisch reformulierten. Diese in Form und Aufbau dem englischen Shakespeare-Sonett folgenden Texturen, deren Schlußzeilen jedoch häufig zu Alexandrinern verlängert sind, verbanden sich dabei zu einer nicht enden wollenden bzw. nicht abschließbaren Serie prophetischer und exegetischer Gedichte von zumeist biblischem Pathos. Die religiöse Thematik hatte Very schon i n den über 60 vorwiegend konventionell formulierten Gedichten und Liedern, die er seit Anfang der 1830er Jahre verfaßte und z. T. in Harvardiana und Knickerbocker veröffentlichte, für sich entdeckt und schließlich in dieser Form des Sonetts erarbeitet - etwa i n »The Canary Bird« v o m A p r i l 1837: I cannot hear thy voice w i t h other's ears, W h o make of thy lost liberty a gain; A n d in thy tale of blighted hopes and fears Feel not that every note is born w i t h pain. Alas! that w i t h thy music's gentle swell Past days of j o y should through thy memory throng, A n d each to thee their words of sorrow tell, While ravished sense forgets thee in thy song.

The heart that on the past and future feeds, A n d pours in human words its thoughts divine,

Though at each birth the spirit inly bleeds, Its song may charm the listening ear like thine, A n d men w i t h gilded cage and praise w i l l try To make the bard like thee forget his native sky. (53)

I n dieser Adresse des Sprechers an den gefangenen Singvogel w i r d die Gleichsetzung von Natur, Freiheit und Selbstbestimmung mit der Vorstellung einer ursprünglichen und unausgesprochen göttlichen Ordnung verbunden, in welcher der Vogel vor seiner Gefangenschaft sich selbst genug war. Entfernt und entfremdet von dieser seiner eigentlichen Bestimmung ist nun sein Leben und Singen in Gefangenschaft nur noch Klage über den erfahrenen Verlust und Ausdruck der Hoffnung auf Rückkehr. Die aus der Sicht des Sprecher-Ichs formulierte rückwärtsgerichtete Ausrichtung erscheint als Analogie zur Erfahrung des Menschen i n seiner irdischen Existenz, seiner Ahnung einer ihr vorausliegenden paradiesischen Freiheit und seiner Hoffnung auf eine ihr nachfolgenden himmlischen Befreiung, als Entsprechung zu transzendentalen Spuren also, die die Zeit der irdischen Gefangenschaft der Seele i n ihrem menschlich-animalischen Körper stärker bestimmen als die subjektiv-flüchtige leibliche Gegenwartserfahrung. Diese emblematische Ausdeutung des Bildes vom i m Käfig gehaltenen Kanarienvogel ist i m Sonett nicht entfaltet, sondern einmal in der besonderen Position des Sprechers angelegt, der allein die Klagelieder dieses Geschöpfes zu ver-

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stehen und interpretieren vermag, zum anderen in der Qualifikation des Gesanges selber enthalten, dem der Transfer göttlicher Gedanken i n menschliche Worte modellhaft zugeschrieben wird. Diese i m zweiten Teil des Sonetts formulierte Thematik stellt Körper und Seele, Gegenwart und Zukunft, menschliche Vergänglichkeit und spirituelle Permanenz einander gegenüber und weitet damit die Skizze des in seinem Kerker musizierenden Sängers zur symbolischen Gefangenschaft des Menschen auf Erden. Sie erfährt i m Schlußreimpaar noch eine besondere Bedrohung durch die dort zitierten Versuche der menschlichen Zivilisation, jede Erinnerung des hier zum Dichter mutierenden Sängers an diese Vergangenheit, seine ursprüngliche Freiheit und Eigenständigkeit zu verdrängen, so daß die Selbstverfügung des seinem Ingenium vertrauenden Künstlers durch die Verlockungen der Welt, ihr eitles Lob und ihr Schaumgold gefährdet ist und ihn i n ihrer Oberflächlichkeit und ihrem schieren Materialismus vom Eigentlichen abzulenken droht. Somit w i r d mit dem angesprochenen Sänger auch die Rolle des Dichters in den Vordergrund des Argumentionsschlusses des Sonetts gerückt: I n der traditionellen Personalunion des Poeten als Sänger und Seher scheint dieser wie der Singvogel sowohl die Fähigkeit zur unartifiziellen Darbietung der künstlerischen Inspiration wie zur Erinnerung an die Grundvoraussetzung ihrer transzendentalen Natur zu besitzen, u m einer ihrem Ursprung entfremdeten Welt von diesem verlorenen Bei-Sich-Selbst-Sein künden zu können und damit die Botschaft von einer möglichen Rückkehr zu dieser vollkommenen Identität als in die Zukunft gerichtete Hoffnung zu verbreiten. Diese durch den Vergleichsbereich aufgeladene Bildlichkeit einer Natur, die menschlichen und insbesondere seelischen Bedürfnissen korrespondiert, w i r d auch in weiteren Naturgedichten dieser Frühphase von Verys Sonettschaffen deutlich, wenn in »The Tree«, »The A p r i l Snow« oder »The Wind-Flower« die jeweilige Naturthematik als Teil eines umfassend-inklusiven Zeichensystems gedeutet wird, dessen religiöse Signifikanz konstant bleibt. So w i r d in »Nature«, verfaßt i m Juli 1837, diese Natur selbst wieder zum Gegenüber des Sprechers; er adressiert sie i m Bild des vom Bach zum Strom anschwellenden fließenden Gewässers, das in den unergründbaren Ozean mündet, welcher wiederum zum Spiegel erst der Erfahrbarkeit und dann der Unfaßbarkeit dieser Natur wird. Wieder ist der entscheidende Teil der Bildinformation wie der Argumentation i m abschließenden Paarreim enthalten, während die regelmäßig gereimten Vierzeiler eingangs den Bezug vom Sprecher zum A b b i l d der Natur entwickeln, dieses Bild der Natur jenseits aller für sie verwendbaren Worte dann in dem sich selbst genügenden Fluß fassen und schließlich dessen Lauf bis zum Meer verfolgen, in dem diese gesamte irdische Welt reflektiert scheint: Whose boundless bosom's calm alone can hold That heaven of glory i n thy skies unrolled. (56) 12*

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D o r t w i r d die Summe der gespiegelten und i m Bild gefangenen Informationen der Schöpfung aufgehoben - und durch den Hinweis auf die dabei abgebildete Herrlichkeit des Himmels selbst wieder mit dem überirdischen Zeichenbereich verknüpft. Diese i m traditionellen christlichen Dualismus von irdischer und überirdischer Ordnung angelegte Dialektik einer Besetzung der Natur als über sie hinausverweisendes Referenzsystem und ihrer kohärenten Semantik als Modell menschlicher Zeichensetzung und -Verwendung enthält schon einen Kerngedanken des amerikanischen Transzendentalismus in seinem überindividuell-deistischen Ansatz. 3 I n dem Sonett »A Sonnet« vom A p r i l 1838 thematisiert Very dann die zwischenmenschliche Liebe als zeitbezogen und zeitverfallen, die nur in der A t traktion durch ihre korrespondierenden überirdischen Qualitäten zur Transzendenz dieser Vorläufigkeit menschlicher Beziehungen und Bezugnahmen findet: Wie die ästhetische Dimension der Dinge dieser Welt auf jene der nächsten verweisen kann, so kann die Liebe des Geistes selbst in mystischer Schau die Grenzen des irdischen Daseins des Menschen überschreiten, auch wenn er selbst diesem nicht entfliehen kann. »A Stranger's Gift« schließlich nennt den Wildblumenstrauß, den der Sprecher zum Zeichen für das Frühlingserwachen der Natur nimmt, als Gabe jenes Unbekannten, der sie ihm nicht nur zum ästhetischen Genuß auf seinen Weg legte. Sie ist also als Denkanstoß zu verstehen und damit wieder als Zeichen für die Zeichenhaftigkeit der Natur selbst zu lesen, die stets auf ihren Schöpfer und auf sich selbst als Schöpfung verweist. Diesen Zusammenhang nicht rechtzeitig erkannt zu haben, vergällt dem Sprecher i m zweiten Teil des Sonetts nun auch den Genuß an den Blumen selbst. Damit thematisiert der Sprecher, der sich in der Oberflächlichkeit des Scheins befangen weiß, in beiden Teilen des Gedichts seine menschliche Kurzsichtigkeit; der Schein, dem das Sprecher-Ich zuerst erliegt, ehe es sich seiner bewußt wird, ist zugleich der Widerschein eines hinter ihm liegenden, ihn selbst erst hervorrufenden und sich zum Teil in ihm spiegelnden Systems transzendentaler Ordnung, das sich erst über die Suche nach dem ideellen Sinngehalt und dessen eigentlichem semantischen Gehalt öffnet - zur Transzendenz des Irdischen i n der Transzendierung der Welt.

3 Zur Ambivalenz von irdischer Form und überirdischer Inspiration vgl. die mittlerweile klassische Untersuchung von M . H . Abrams, Natural Supernaturalism : Tradition and Revolution in Romande Literatur (New York: N o r t o n , 1971) sowie Lawrence Buells

Literary

Transcendentalism:

Style and Vision in the American Renaissance (Ithaka, NY:

Cornell UP, 1973). Eine neuere Untersuchung von Dieter Schulz, Amerikanischer

Trans-

zendentalismus: Ralph Waldo Emerson , Henry David Thoreau , Margaret Füller (Darmstadt: W B G , 1997), ergänzt diese Überblicksdarstellungen u m konkrete Analysen der Argumentationen dieser drei zentralen Autoren der Transzendentalisten, konzentriert sich aber vor allem auf die Metaphorik des Bauens und des Sehens in ihrem Werk.

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Verys auch durch seine Kontakte zum Kreis der Transzendentalisten motiviertes Konversionserlebnis führte schließlich i m September 1838 zu seinem Ausschluß von der Universität Harvard und zur zwangsweisen Einweisung i n das McLean Asylum, aus dem der junge Theologe nach einem Monat wieder nach Hause entlassen wurde. Diese existentielle Erschütterung führte danach zu einer Steigerung der schon zuvor angelegten religiösen Text- und Bildversenkung hin zur mystisch-prophetischen Binnenschau; zugleich wurde das englische Sonett mit dem Abschlußakumen als pointierter Zusammenfassung bzw. als Fokus der Textexegetik zum fast ausschließlichen Schreibmodell für die Expression der Visionen und Reflexionen des angehenden Predigers. Der neue Grundzug dieser Gedichte liegt primär in der emphatischen Sprache und der exponierten Sprecherposition, die zwischen prophetischer Schau und priesterlicher Ermahnung ein pointiert evangelikales Anliegen verfolgen. Verys erstes Sonett dieser in nahezu spontaner Komposition verfaßten Texte mit dem programmatischen Titel »The N e w Birth« als Ausdruck seines neuen religiösen wie poetischen Anspruchs 4 erschien zudem - zehn Tage nach seiner Rückkehr in seinen Geburtsort - am 27. Oktober 1838 i m Salem Observer: T i s a new life - thoughts move not as they did W i t h slow uncertain steps across m y mind, I n thronging haste fast pressing on they bid The portals open to the viewless wind; That comes not, save when i n the dust is laid The crown or pride that gilds each mortal brow, A n d from before man's vision melting fade The heavens and earth - Their walls are falling now Fast crowding on each thought claims utterance strong, Storm-lifted waves swift rushing to the shore O n from the sea they send their shouts along, Back through the cave-worn rocks their thunders roar, A n d I a child of G o d by Christ made free Start from death's slumbers to eternity. (64)

Hier w i r d zu Beginn des Sonetts die zentrale Aussage präsentiert, deren inhaltliche Auslegung in den ersten beiden Quartetten die Öffnung der menschlichen Erfahrung auf eine neue und unbekannte Dimension hin postuliert und diese mit einer spontanen Teilhabe an einer alle irdische Unsicherheit aufhebenden Transzendenz begründet; erst diese Wendung weg von der Welt und hin zu einer überirdischen Realität öffnet die Pforten der Wahrnehmung zur Überwindung ihrer irdischen Begrenzungen. Ihr Durchschreiten mündet i n die 4 Very identifizierte i n dieser Phase seiner persönlichen Krise die Inspiration zu diesen Gedichten als »göttliche EingebungThe Puritansn'être pas ce qu'on est< rend d'avance impossible tout devenir vers l'être en soi ou >être ce qu'on estDer Idiot der FamilieBegriff
style< de Flaubert«; in: M . P., Essais et articles , hg. Th. Läget (Paris 1994) [zuerst 1920], 282. 63

I m Sinne von Paul Ricœurs La métaphore vive (Paris 1975).

64

Es handelt sich hierbei um eine A r t metonymisch motivierter Metapher, die Gérard Genette nicht erwägt [vgl. »Métonymie chez Proust«; in: G. G., Figures III (Paris 1972), 41-63]. 15 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

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gerlichen Gesellschaft haben kann, worin also überhaupt ihre ideologische Existenzberechtigung besteht. Als seine Affäre mit Emma Léons Karriere als angehender Rechtsanwalt zu gefährden droht, kommt er zur Vernunft: D'ailleurs, i l allait devenir premier clerc: c'était le moment d'être sérieux. Aussi renonçait-il à la flûte, aux sentiments exaltés, à l'imagination: - car tout bourgeois, dans réchauffement de sa jeunesse, ne fût-ce qu'un jour, une minute, s'est cru capable d'immenses passions, de hautes entreprises. Le plus médiocre libertin a rêvé des sultanes; chaque notaire porte en soi les débris d'un poète. (MB III.VI.; 311) Übrigens sollte er demnächst zum ersten Kanzlisten aufrücken: es war an der Zeit ernsthaft zu werden. Darum hörte er auf zu trinken und entsagte schwärmerischen Gefühlen und der Phantasie: - denn jeder Bourgeois hat einmal i m Feuer seiner Jugend, und sei es auch nur für einen Tag, für eine Minute, geglaubt, er sei zu ungeheuren Leidenschaften und gewaltigen Taten fähig. N o c h der durchschnittlichste Lebemann hat sich Sultaninnen erträumt; jeder Notar trägt in sich die Bruchstücke eines Poeten. (373)

Beruhte die kritische Raffinesse i m vorigen Beispiel auf dem ironischen Effekt einer metonymisch motivierten Metapher, so erzielt Flaubert hier seinen Effekt durch die Verwischung klarer narrativer Perspektiven. A u f den ersten Blick klingt die Passage sehr auktorial, insbesondere durch das »car«/»denn« nach dem Gedankenstrich, das in Balzacs Stil einen Erzählerkommentar ankündigen würde, etwa in der Art: große Gefühle, Imagination, Poesie gehören der Sturm- und Drang-Phase der bürgerlichen Jugend an, die dann normalerweise dem Ernst des Lebens weicht. Der auktoriale Erzählerkommentar w i r k t herablassend ironisch und zugleich verständnisvoll sympathisierend, in der A r t Balzacs oder Thomas Manns. Man muß schon den Haß und die Verachtung kennen, mit denen Flaubert den Begriff des »bourgeois« auflädt, um noch eine andere Lesart zu erwägen, durch die die erste Lesart ironisch umgekehrt wird. Zunächst w i r d der Begriff »sérieux«/»ernsthaft« i m zweiten Halbsatz rückwirkend in den Sog der pejorativen Umwertung hineingezogen. Dann kann dieser Halbsatz nicht mehr auktorial gemeint sein, sondern er gibt in erlebter Rede ein Cliché des bürgerlichen Bewußtseins zum besten. Dadurch aber gerät die Bedeutung des gesamten »car«-Satzes gleichsam ironisch ins Schwanken. Auch er könnte ein Cliché-Imitat sein. Der Erzähler würde sich gerade auch vom wohlwollend-ironischen Blick des reifen Bourgeois gegenüber dessen eigenem Jugendüberschwang ironisch distanzieren wollen. Durch diese potenzierte Ironie würde zum Beispiel der letzte Halbsatz des Zitats wieder zu seinem Nennwert lesbar: jeder Notar ist ein gescheiterter Poet. U n d da »Poet« dann stellvertretend für authentische Selbstverwirklichung i m allgemeinen steht, wäre die wohlwollende Herablassung von Notaren gegenüber jugendlichem Idealismus und der Kunst ein Verdrängungssymptom dieses existenziellen Scheiterns.

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W i r können jetzt näher umreißen, wie nach Flaubert die sentimentale Verharmlosung des Romantischen funktioniert und w o r i n ihr ideologischer Ertrag besteht. Die Ideale authentischer Subjektivität, die die Romantik illusionslos wachhält, werden von der herrschenden Ideologie natürlich anerkannt. Dafür ist das Bedürfnis nach ideeller Transzendierung der prosaischen Verhältnisse der Gegenwart viel zu groß. Andererseits könnte eine mögliche Wechselwirkung romantischer Ideale mit der Realität nur dysfunktional wirken. Der ideologische Trick (aber von Trick läßt sich hier kaum reden, da kein bewußter Zauberkünstler ihn ausführt) besteht nun darin, daß man der Diagnose romantischer Ästhetik zustimmt: in der Wirklichkeit ist kein Platz mehr fürs Ideale oder auch nur für die Suche nach authentischer Selbstverwirklichung. Aber man findet dies nicht besonders beunruhigend, sondern normal. Ganz i m Gegenteil fände man es beunruhigend und illusionistisch, wenn solche Ideale der Wirklichkeit zu aufdringlich würden. U n d deswegen soll die Kunst eben die Rolle übernehmen, die sie sowieso beansprucht: nämlich ein Reservat fürs Ideale zu sein. Kunst erhält damit eine ganz neue Katharsis-Funktion: nicht mehr Triebabfuhr existenzieller Ängste und Identitätszweifel wie noch bei Aristoteles, sondern Idealabfuhr, insbesondere für Jugendliche und Frauen, die noch nicht so stark durch die Imperative des Erwerbslebens normiert sind. Das bürgerliche Bewußtsein verbannt seine eigenen existenziellen Entbehrungen in die Kunst und bannt dadurch zugleich seine »mauvaise foi«, den heimlichen Verdacht, seine Existenz zu verspielen. Die Botschaft der solchermaßen ideologisch gewendeten Romantik lautet nun: die Kunst ist der Ort, an dem Idealitäts- und Authentizitätsbedürfnisse imaginär befriedigt werden, - sie hat aber mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. I n diese Arbeitsteilung hat sich ein junger Mensch, wenn er in die Gesellschaft hineinwächst, zu fügen. U n d diese Entsagung w i r d ihm insofern erleichtert, als die künstlerische Ghettoisierung des Idealen zugleich zu dessen Banalisierung beiträgt: was nur für Frauen und Jugendliche eine chimärische Bedeutung hat, kann kaum existenziell ernstzunehmen sein. So dient die romantische Literatur, die auch als Ausdruck des Unbehagens an den heraufziehenden neuen Bewußtseinsverhältnissen entstanden war, zuletzt deren Rechtfertigung. A u f besonders subtile, diskurskritische Weise illustriert Flaubert die Vereinnahmung und Banalisierung des Romantischen durch die herrschende Ideologie in einem Kommentar zu einem Wutausbruch des Apothekers Homais: [ . . . ] car i l se trouvait dans une de ces crises où Pâme entière montre indistinctement ce qu'elle enferme, comme l'Océan, qui, dans les tempêtes, s'entrouvre depuis les fucus de son rivage jusqu'au sable de ses abîmes. (MB I I I . I I ; 273) [ . . . ] denn er befand sich in einer jener Krisensituationen, i n denen die Seele unterschiedslos alles ans Licht bringt, was sie in sich birgt, wie der Ozean, der sich i n den Stürmen vom Tang seiner Gestade bis zum Sand seiner Abgründe auftut. (321) 15*

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Die Passage bietet ein Diskurszitat romantischer Korrespondenzlandschaften, in denen die Natur i n ihren erhaben-großartigen Erscheinungsweisen als Seelenmetapher fungiert. Der mit »comme«/»wie« eingeleitete Vergleich erinnert an viele Sätze, in denen Chateaubriand seelische Abgründe versinnbildlicht. Gerade das abschließende »abime«/»Abgrund« ist eines der Lieblingsworte Chateaubriandscher Seelenlandschaften. Allerdings symbolisieren die erhabenen Abgründe bei Chateaubriand tatsächlich noch die seelische Zerrissenheit von Außenseitern, die sich der existenziellen Entfremdungserfahrung moderner Subjektivität stellen, die Sinnangebote der bürgerlichen Gesellschaft aber ausschlagen. I n bezug auf den Apotheker Homais w i r k t die Passage natürlich wie eine Travestie. Der uns schon bekannte scheinauktoriale Einsatz mit »car« schließt an eine ganze Reihe von Cliches aus der bürgerlichen Arbeitsethik an, in denen der Apotheker seine »tiefsten Seelengeheimnisse< offenbart. Funktion dieser Travestie ist die wechselseitige Ironisierung und Neutralisierung bürgerlicher Ethik und romantischer Konterdiskurse, wodurch zum einen die Banalisierung des Romantischen durch die herrschende Ideologie, zum anderen aber auch Flauberts Einspruch dagegen deutlich wird. Der auf solche Weise ideologisch zugerichtete Romantikbegriff bildet die Grundlage des Bildungsprogramms für Emma Bovary. Ihre fiktiven Lebensdaten liegen etwa zwischen 1820 und 1846, ihre Hochzeit ist w o h l 1838 anzusetzen. 6 5 Sie ist die einzige Tochter eines wohlhabenden Bauern und erhält ihre Ausbildung i n einer Klosterschule i n Rouen. D o r t w i r d ihr ein romantischästhetisierender Katholizismus nach A r t Chateaubriands vermittelt. 6 6 Emmas Verhältnis zur Religion bleibt davon ihr Leben lang geprägt, und gerade i n ihren Lebenskrisen findet sie i m Glauben keinen H a l t . 6 7 Ihren Religionsersatz, ihre Leitbilder bezieht Emma aus der Literatur der Romantik. Sie liest nicht nur triviale Liebes- und Abenteuerromane, sondern neben Chateaubriand auch Bernardin de Saint-Pierre, Lamartine, Victor Hugo, Walter Scott oder die englischen Lake Poets. Sie liebt Ruinenpoesie, erhabene Gefühle, exotische und historische Romane, Landschaften in der A r t Delacroix' und die deutsche Musik der Z e i t . 6 8 I m romantischen Weltschmerz erlebt Emma den Zwiespalt ihres eigenen Bewußtseins zwischen Idealität und banaler Wirklichkeit. Nach Emmas Rückkehr aus der Klosterschule und mit ihrer Heirat müßte nun eigentlich ihr Desillusionierungsprozeß einsetzen. Der Desillusionsroman 65

Vgl. Berti, Gustave Flaubert.

66

V g l MB, I.VI. Das Bildungsprogramm für höhere Töchter, wie Flaubert es hier skizziert, war erstaunlich langlebig, wie Simone de Beauvoirs Mémoires d'une jeune fille rangée (Paris 1958) bezeugen. 67

Vgl. MB, I I . V I .

68

Vgl. MB, I.VI. und I I . I I .

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von Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) über Illusions perdues (1837-44) bis zu Flauberts eigener UEducation sentimentale (1869) schildert die Anpassung des romantischen Bewußtseins an die prosaische Realität, wobei das Romantische entweder auf den Status einer imaginären Kompensationsästhetik reduziert oder gänzlich aus dem Bewußtsein ausgetrieben wird. I m Gegensatz zu anderen romantisch-realistischen Helden und i m Gegensatz zu >normalen< Bürgersfrauen in der Wirklichkeit aber mißglückt Emmas ideeller Einpassungsprozeß. Insofern ist Madame Bovary kein klassischer Desillusionsroman; das Werk ähnelt i n dieser Hinsicht am ehesten Le rouge et le noir (1830). Emma gibt sich nicht damit zufrieden, das Romantische ins Imaginäre zu relegieren und Ideal und Wirklichkeit zu trennen. Beim Kunstgenuß verweigert sie sich folgenlosem Asthetizismus: I l fallait qu'elle pût retirer des choses une sorte de profit personnel; et elle rejetait comme inutile tout ce qui ne contribuait pas à la consommation immédiate de son cœur, - étant de tempérament plus sentimentale qu'artiste, cherchant des émotions et non des paysages. (MB I.VI.; 71) Sie mußte eine A r t persönlichen Gewinns aus den Dingen ziehen; und sie verwarf alles als nutzlos, was nicht unmittelbar ihr Herz ansprach. Denn sie war eher empfindsam als künstlerisch veranlagt und suchte Emotionen und nicht Landschaftsbilder. (50)

Emmas Bodenständigkeit, ihr »esprit positif«, wie Flaubert sie an anderer Stelle charakterisiert, 69 fordert die Realisierung romantischer Idealität für sich selbst und erweist sich dabei als völlig unrealistisch. Andererseits verfehlt sie damit das ursprüngliche Anliegen des Romantischen zumindest nicht stärker als das Publikum der Oper von Rouen. Es handelt sich u m zwei symmetrische Fehldeutungen: der Bourgeois verkürzt das Romantische u m seine bewußtseinskritische, d. h. u m seine >realistische< Dimension, Emma schließt die romantischen Ersatzwelten allzu unvermittelt mit ihrer Lebenswirklichkeit kurz. Desillusionierende Rückschläge aber, die Erfahrung der Widerständigkeit ihrer prosaischen Lebensverhältnisse, lösen bei Emma nicht etwa Lernprozesse der Entsagung aus, sondern entfremden sie ihrer Realität umso mehr: Avant qu'elle se mariât, elle avait cru avoir de l'amour; mais le bonheur qui aurait dû résulter de cet amour n'étant pas venu, i l fallait qu'elle se fût trompée, songeait-elle. Et Emma cherchait à savoir ce que l ' o n entendait au juste dans la vie par les mots de félicité, de passion et d'ivresse,

qui lui avaient paru si beaux dans les livres. (MB I.V.; 69)

Vor ihrer Heirat hatte sie geglaubt verliebt zu sein; aber das Glück, das diese Liebe hätte mit sich bringen müssen, hatte sich nicht eingestellt, und so mußte sie sich w o h l getäuscht haben, dachte sie. U n d Emma suchte zu begreifen, was man i m Leben eigentlich unter den Worten Glückseligkeit,

Leidenschaft und Rausch verstand, die ihr in den

Büchern so schön vorgekommen waren. (48)

69

MB, I.VI., 74/54.

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Immer wenn Emma meint, sie habe sich getäuscht, zweifelt sie zunächst an der Realität und an sich selbst, nicht aber an ihren Illusionen. Jede Enttäuschung setzt neue Energien frei für die umso hartnäckigere Suche nach Erfüllung. Wie D o n Quijote, der zuviele Ritterromane gelesen hat, rennt si£ bis zum bitteren Ende mit illusionären Idealen gegen eine unideale Wirklichkeit an. Wie D o n Quijote zahlt sie dafür den Preis fortschreitenden Realitätsverlustes. Wie D o n Quijote weist sie damit aber zugleich der Realität indirekt die fortschreitende Ideologisierung ihrer Ideale nach. N u r geht es in Emmas Fall nicht mehr u m die alten feudalen Werte, die D o n Quijote noch einmal beim Wort nimmt. Bei Emma geht es um das bürgerliche Ideal des individuellen »pursuit of happiness«, das von der bürgerlichen Ideologie entweder auf materielle Befriedigungen reduziert oder in imaginäre Kompensationen abgeschoben wird. Wie aber lebt jemand wie Emma, die nicht zur bürgerlichen Vernunft kommen will, - die sich nicht mit der romantischen Kunst als imaginärem Ersatz für ein authentischeres Leben zufrieden geben will, - die aber auch nicht einfach aus ihrer gesellschaftlichen Situation >aussteigen< kann? Sie führt ein D o p pelleben. U n d zwar aufgespalten zwischen öffentlicher und privater Existenz, aber auch gespalten in sich selbst, da ein bewußtes Leben in der Lüge das Bewußtsein zumeist überfordert. Sie lebt in der »mauvaise foi«. Wobei klar ist, daß die negative Konnotation des »mauvais« in »mauvaise foi«, wie schon oben i n Kap. 1-3 dargestellt, weitgehend neutralisiert ist, weil der Begriff halbbewußte bzw. halbunbewußte Zustände in sich faßt, die nicht alleinverantwortlich produziert werden, sondern eine Defensivreaktion auf überindividuelle, ansozialisierte Denkmuster darstellen. Wie aber, so läßt sich weiterfragen, gestaltet ein Schriftsteller solche halbbewußten, halbunbewußten Zustände? Flaubert reflektiert dieses erzähltechnische Problem an der Stelle, als Emma, schon nach kurzer Zeit der Ehe, immer stärker in jene depressiven Stimmungen verfällt, aus denen sie sich dann in die »mauvaise foi« flüchten wird: Peut-être aurait-elle souhaité faire à quelqu'un la confidence de toutes ces choses. Mais comment dire un insaisissable malaise, qui change d'aspect comme les nuées, qui tourbillonne comme le vent? Les mots lui manquaient donc, l'occasion, la hardiesse. (MB I.VII.; 75) Vielleicht hätte sie sich mit all diesen Dingen jemandem anvertrauen mögen. Aber wie sollte sie ein ungreifbares Unbehagen ausdrücken, das sich wie Wolkengebilde verändert und wie der W i n d wirbelt? Die Worte fehlten ihr also, die Gelegenheit, der M u t . (56)

Die Passage reflektiert nicht nur indirekt ein erzähltechnisches Problem, sondern stellt es zugleich als Bewußtseinsproblem Emmas dar. Wie kann ein Erzähler Bewußtseinsphänomene beschreiben, die von der Protagonistin selbst als Stimmungen nicht verbalisiert werden, ja die für sie überhaupt nicht verbalisierbar sind (»Les mots lui manquaient donc«)? Das traditionelle auktoriale

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oder personale Erzählinstrumentarium erweist sich dafür als viel zu grobschlächtig. Es erzeugte eine Scheintransparenz, die die wirklichen Bewußtseinsprozesse überhaupt nicht traf. Erst recht lassen sich Emmas depressive Stimmungen natürlich nicht in direkter Rede oder gar i m inneren Monolog fassen, den noch Stendhal so vielfach verwendet, der aber eigentlich die unrealistischste aller Erzählweisen ist, weil er Bewußtseinsvorgänge, die teils non-verbal, teils ungrammatikalisch ablaufen, in die D i k t i o n von Theatermonologen faßt. So läßt Flaubert Emma nur selten in direkter Rede sprechen und noch seltener sind Passagen i m inneren Monolog oder Selbstgespräche wie das folgende: Emma se répétait: - Pourquoi, mon Dieu, me suis-je mariée? (MB I . V I L ; 79) Emma fragte sich immer wieder: - M e i n Gott, warum habe ich eigentlich geheiratet?

(61) Solche Klartextsätze der Selbstanalyse bilden die Ausnahme i m Roman, weil Emmas Seelenzustände zumeist nicht an die Oberfläche voller Bewußtheit gelangen. I m vorletzten Zitat begnügt sich der verunsicherte Erzähler mit Mutmaßungen über Emmas emotionale Verfassung (»Peut-être aurait-elle souhaité«), in denen sich Emmas eigene Gefühlsambivalenzen spiegeln. U n d er greift auf Metaphern bzw. Vergleiche zurück (»comme les nuées«, »comme le vent«), die die Ambivalenzen eher noch hervorheben als sie illustrativ einzugrenzen. Flaubert experimentiert in Madame Bovary mit neuen Erzähltechniken und erschließt damit zugleich neue Dimensionen der Bewußtseinsanalyse. Emmas depressive Stimmungen sind ein Symptom für den mißglückten A n passungsprozeß ihrer romantischen Illusionen an die prosaische Wirklichkeit. I m Laufe des Romans durchlebt Emma dann verschiedene Stadien der »mauvaise foi«, mit der sie unbewußt ihre depressiven Stimmungen zu bewältigen sucht. Die »mauvaise foi« ist eine Strategie des Unbewußten, die Lebenswirklichkeit mit imaginären Selbstbildern zu versöhnen. I n Emmas Fall geht es zunächst darum, den Kontrast zwischen ihren romantischen Illusionen, mit deren Nicht-Realisierbarkeit sie sich nicht abfinden w i l l , und ihrer banalen Existenz aufzuheben. Eine Lösungsmöglichkeit besteht darin, vor den anderen und sich selbst so zu tun, als ob die projizierte Idealität in der Banalität des Alltags gleichwohl realisiert sei. Z u m Beispiel baut Emma zwar keine emotionale Beziehung zu ihrem K i n d auf, vor Gästen jedoch spielt sie eine pathetische Mutterrolle: Elle déclarait adorer les enfants; c'était sa consolation, sa joie, sa folie, et elle accompagnait ses caresses d'expansions lyriques, qui, à d'autres qu'à des Yonvillais, eussent

rappelé la Paquette de Notre-Dame de Paris. (MB U.V.; 139) Sie erklärte, Kinder über alles zu lieben; sie waren ihr Trost, ihre Freude, sie war ganz verrückt nach ihnen, und sie begleitete ihre Liebkosungen mit einem lyrischem Ober-

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schwang, der außer den Einwohnern von Yonville jedermann an die Paquette aus Der

Glöckner von Notre-Dame erinnert hätte. (142)

Emma stilisiert das Verhältnis zu ihrem K i n d nach dem Idealbild einer aufopferungsvollen Mutter aus dem Roman von Victor Hugo. Eingerahmt von auktorial distanzierten und kommentierenden Sätzen (»Elle déclarait à«; »eile accompagnait à«) erscheint nach dem Strichpunkt eine Passage in erlebter Rede (»c'était sa consolation, sa joie, sa folie«), deren Funktion es ist, das romantische Diskursimitat in ironischer Verkürzung wiederzugeben. Offen bleibt in dieser Passage selbst noch, ob Emma das Diskursimitat bewußt einsetzt und ob sie nicht nur den Anwesenden sondern auch sich selbst die gespielte Rolle als Realität suggeriert. Der Kontext spricht jedenfalls für letztere Möglichkeit. Aber Flaubert w i r d noch raffiniertere Techniken einsetzen müssen, um Selbstsuggestion und Halbbewußtheit darzustellen. Eine weitere mögliche Strategie der »mauvaise foi« in Emmas Situation besteht darin, den Kontrast zwischen dem unrealisierbaren imaginären Selbstbild und der banalen Realität als Märtyrerrolle auf sich zu nehmen und zu spielen. So heißt es, als Emma sich in Léon zu verlieben beginnt, der ihr romantisch-imaginäres Selbstbild besser spiegelt als ihr Mann: Mais plus Emma s'apercevait de son amour, plus elle le refoulait , afin qu'il ne parût pas, et pour le diminuer. [ . . . ] Ce qui la retenait, sans doute, c'était la paresse ou l'épouvante, et la pudeur aussi. [ . . . ] Puis l'orgueil, la joie de se dire: »Je suis vertueuse«, et de se regarder dans la glace en prenant des poses résignées, la consolait un peu du sacrifice qu'elle croyait faire. (MB U.V.; 140; Herv. P.G.) Aber je mehr Emma sich ihrer Liebe bewußt wurde, desto mehr verdrängte sie sie, u m sie zu verbergen und u m sie abzuschwächen. Was sie zurückhielt, war w o h l Trägheit oder Angst und auch Scham. Außerdem trösteten sie der Stolz und die Freude, sich sagen zu können: »Ich bin tugendhaft«, und sich i n entsagungsvollen Posen i m Spiegel betrachten zu können, ein wenig über das Opfer hinweg, das sie zu bringen glaubte. (144)

Bei Flaubert beginnt das Verb »refouler«, die moderne Bedeutung des Verdrängens anzunehmen. 70 I m zweiten Satz stellt der verunsicherte Erzähler wieder Mutmaßungen (»sans doute«) über die nicht zu vereindeutigende Motivationslage Emmas an. Dabei erzielt er schon den aus Kafkas Stil bekannten Effekt, 7 1 daß der Versuch, Motivationskomplexe immer genauer semantisch einzukrei70

Der Trésor de la langue française , s.v. REFOULER H.C.2., gibt als ersten Beleg für

die Verwendung von »refouler« i m Sinne von »verdrängen« ein Zitat von George Sand aus dem Jahre 1844. Es erscheint mir allerdings zweifelhaft, ob das angeführte Beispiel w i r k lich schon für die moderne Bedeutung herangezogen werden kann. Sollte sich der Zweifel erhärten lassen, wäre die zitierte Flaubert-Stelle bis auf weiteres der Erstbeleg. 71 Vgl. Verena Ehrich-Haefeli, »Zum Paradox bei Kafka. Zur psychohistorischen Genese einer individuellen Sprach- und Denkform«; in: Das Paradox, 511-529.

»Mauvaise foi« in Flauberts Madame Bovary

233

sen, zuletzt ins Gegenteil umschlägt und die Unschärfe seelischer Prozesse abbildet. Der dritte Satz aber zeigt schon Ansätze zur Umwertung und Außerkraftsetzung der bürgerlichen Werte und zeichnet damit den weiteren Weg von Emmas »mauvaise foi« vor. N o c h bewegt sich Emma hier i m Rahmen der geforderten Moral, aber die Erfüllung von deren Geboten w i r d schon als Opfer angesehen und die Entsagung, die gewöhnlich den Sieg des Realitätsprinzips über das Lustprinzip des Imaginären bedeutet, w i r d von Emma umfunktioniert und als romantisch-heroische Rolle zum Zwecke der Bespiegelung in Selbstmitleid gespielt. Beide bisher behandelten Strategien der »mauvaise foi«, den Riß zwischen Imaginärem und Realem zu kitten, halten bei Emma aber nicht vor. Andere Frauen geben sich damit zufrieden, das Banale zum Idealen hochzustilisieren oder i m Pathos der Entsagung wenigstens einen Abglanz des Idealen zu zelebrieren. U n d die Aggressionen, i n denen sich die Verdrängungsenergien wieder veräußern, leitet die >normale< Bürgersfrau affirmativ, aber natürlich auch nicht voll bewußt, in die Zementierung der bestehenden Verhältnisse um, damit möglichst nichts mehr an das Verdrängte erinnere. Emma aber findet sich nicht dauerhaft mit Supplementen authentischen Lebens ab. Ihre frustrationsbedingten Aggressionen schlagen zunehmend destruktiv auf ihre Lebensverhältnisse und damit zuletzt aber auch auf sie selbst zurück. Bevorzugtes Objekt von Emmas Aggressionen w i r d ihr Mann Charles: Pour qui donc était-elle sage? N'était-il pas, lui, l'obstacle à toute félicité, la cause de toute misère, et comme l'ardillon pointu de cette courroie complexe qui la bouclait de tous côtés? {MB U.V.; 141) Wem zuliebe war sie denn anständig? War er denn nicht jeglichem Glück i m Wege, war er denn nicht die Ursache all dieses Elends und gleichsam der spitze D o r n jenes verschlungenen Riemens, der sie ringsum einengte? (145)

Charles ist zwar genauso wenig verantwortlich für die Situation des Seins und Bewußtseins seiner Zeit wie Emma, ja durch seine Liebe zu Emma beweist er sogar emotional eine gewisse innere Widerständigkeit, die ihn nicht zum bloßen Funktionär der herrschenden Ideologie herabsinken läßt wie den Apotheker. Aber als Ehemann in einer patriarchalischen Gesellschaft ist Charles eben doch der rechtliche Repräsentant des »stahlharten Gehäuses«, in dem Emma lebt, und lenkt daher ihre Aggressionen auf sich. Natürlich sind diese Zusammenhänge Emma nicht bewußt. System- und ideologiekritisches Denken liegen völlig außerhalb der Reichweite ihrer Sozialisation und Bildung. Auch ihre Aggressionen gegen Charles reflektiert sie nicht, sie durchlebt sie emotional. Man muß nur einmal das Zitat i n die erste Person Singular Präsens setzen, u m zu sehen, daß Emma nie i n diesen Worten mit sich selbst sprechen würde. Flaubert verfaßt die Passage in erlebter Rede und vermittelt genau dadurch einen >rea-

234

Paul Geyer

listischen< Eindruck von Emmas emotionaler Verfassung. Keine andere Erzählweise kann dies leisten. Die erlebte Rede als unrealistischste aller Erzählweisen, die als einzige in der Realität der gesprochenen Sprache nicht vorkommt, erzielt beim Leser den »effet de réel« eines fiktiven Einblicks, sie erweckt die Illusion eines Sich-Hineinversetzen-Könnens in Halbbewußtes und Halbverdrängtes. Die komplexe Metapher am Schluß durchbricht diese Illusion dann allerdings wieder und macht den Leser indirekt darauf aufmerksam, daß es auch noch andere, auktorialere Weisen gibt, u m emotionale Zustände auszudrücken, und daß letztlich jede Verbalisierung von nicht-verbalisierten Bewußtseinsinhalten eine Projektion darstellt. Emmas »mauvaise foi« vollzieht mit dem Ausbruch ihrer Aggressionen gegen Charles den qualitativen Sprung von ihrer ideologiekonformen zur mittelbar ideologiekritischen Ausprägung. Die Strategie der »mauvaise foi«, das Imaginäre scheinhaft mit dem Realen zu versöhnen, zielt nun nicht mehr auf die Vorspiegelung realisierter Idealität in unidealer Realität sondern auf die Selbstrechtfertigung von Normverstößen durch das höhere Recht des Imaginären. Emmas Aggressionen und Schuldzuweisungen gegenüber Charles lockern unmerklich die traditionellen moralischen Bindungen und setzen mögliche Sanktionen in Form von schlechtem Gewissen außer Kraft. Als es dann wirklich ernst w i r d und Emma in Rodolphes geschickter Selbstinszenierung als romantischem Liebhaber die Erfüllung ihres imaginären Ich-Ideals zu finden glaubt, verdrängt sie die Forderungen ihres sozialen Uber-Ichs schon nahezu mühelos. Nach dem ersten Ehebruch betrachtet sie sich i m Spiegel: Elle se répétait: »J'ai un amant! un amant!« [ . . . ] Elle allait donc posséder enfin ces joies de l'amour, cette fièvre du bonheur dont elle avait désespéré. Elle entrait dans quelque chose de merveilleux où tout serait passion, extase, délire [ . . . ] . Alors elle se rappela les héroines des livres qu'elle avait lus [ . . . ] . Elle devenait ellemême comme une partie véritable de ces imaginations et réalisait la longue rêverie de sa jeunesse [ . . . ] . D'ailleurs, Emma éprouvait une satisfaction de vengeance. N'avait-elle pas assez souffert! (MB I I . I X . ; 191) Immer wieder sagte sie sich: »Ich habe einen Geliebten! einen Geliebten!« Jetzt würde sie also endlich jene Freuden der Liebe genießen, jenes Fieber des Glücks, auf das sie schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Sie betrat nun ein wunderbares Reich, in dem es nichts als Leidenschaft, Extase, Sinnentaumel geben würde. Jetzt dachte sie wieder an die Heldinnen der Bücher, die sie gelesen hatte. Sie wurde selbst wie ein lebendiger Teil dieser Phantasiebilder und der Traum ihrer ganzen Jugend wurde wahr. I m übrigen empfand Emma ein befriedigendes Gefühl der Rache. Hatte sie denn nicht genug gelitten? (212)

Nach dem Einsatz i m inneren Monolog geht der erste Absatz in die Erzählweise der erlebten Rede über. I m zweiten Absatz wechseln sich personale Erzählsituation und erlebte Rede von Satz zu Satz ab. I m Wechselspiel von

»Mauvaise foi« in Flauberts Madame Bovary

235

»Innensicht von innen« (erlebte Rede) und »Innensicht von außen« (personale Erzählsituation: »eile se rappela . . . «; »Emma éprouvait . . . «) analysiert Flaubert Emmas mehr oder weniger bewußte emotionale Verfassung. Emmas Bewußtseinsspaltung zwischen Illusion und Wirklichkeit scheint behoben. Das imaginäre romantische Ich-Ideal hat das sozial normative Uber-Ich völlig neutralisiert. Genau das ist bei Emma eingetreten, was die ideologische Indienstnahme des Romantischen zu ästhetischen Kompensationszwecken eigentlich nicht gestattet: Emma hebt das Realitätsprinzip i m Imaginären auf, während die ideologische Operation, ästhetisch verschleiert, gerade umgekehrt verläuft. Moralische Bedenken können ¿/¿gegen nicht mehr aufkommen. I n den beiden letzten Sätzen der zitierten Passage führt Flaubert vor, wie Emmas »mauvaise foi« arbeitet. Etwaige moralische Skrupel werden durch Schuldzuweisungen an Charles verdrängt. Durch die Schuldzuweisungen setzt sie mögliche Sanktionen ihres sozialen Uber-Ichs außer Kraft: sie produziert sich ein gutes Gewissen. Dabei ist sie Charles gegenüber natürlich ungerecht. Er bietet ihr nur das in der Ehe, was er ihr auch versprechen konnte. Er ist nicht der Typ, der große Illusionen erweckt. Emma selbst hat ihre romantischen Illusionen in Charles hineinprojiziert und wirft ihm nun vor, daß er sie nicht erfüllt. Andererseits sind ihre Illusionen Teil des Erziehungsprogramms für Höhere Töchter i m 19. Jahrhundert und damit Teil der herrschenden Ideologie. Allerdings war es in der herrschenden Ideologie nicht vorgesehen, daß jemand diese Illusionen real einfordert. Der Desillusionierungsprozeß, das Herab temperieren der romantischen Ideale zur folgenlosen Kompensationsästhetik, war integraler, wenn auch nicht expliziter Teil des Erziehungsprogramms. D o c h lag hier natürlich auch ein gewisses Risiko, an dem die ideologische Sozialisation scheitern konnte. Emma nämlich macht Ernst mit dem imaginären Spiel. Sie geht keine Kompromisse ein. Sie könnte ja, bei einiger Vorsicht und mit klugen Arrangements, ein Doppelleben führen und sich, passend dazu, in einer inneren D o p pelmoral einrichten. Dann würde sie in einer ideologiekonformen A r t der »mauvaise foi« leben. Emmas »mauvaise foi« aber leistet Widerstand. Die Situation des unbewußten Widerstands, in der sich Emma gegen die herrschende Ideologie befindet, faßt Flaubert auktorial so zusammen: Jamais Mme Bovary ne fut aussi belle qu'à cette époque; elle avait cette indéfinissable beauté qui résulte de la joie, de l'enthousiasme, du succès, et qui n'est que l'harmonie du tempérament avec les circonstances. [ . . . ] elle s'épanouissait enfin dans la plénitude de sa nature. (MB I I . X I I . ; 222) N i e war Madame Bovary so schön gewesen wie in dieser Zeit; sie besaß jene undefinierbare Schönheit, die aus Lebensfreude, Begeisterung und Erfolg entsteht und die nichts anderes ist als die Harmonie eines Temperaments m i t einer Situation. Sie entfaltete jetzt die Fülle ihrer Natur. (252)

236

Paul Geyer

I n der Phase, als Emma glaubt, Rodolphe werde mit ihr nach Italien fliehen, befindet sie sich auf dem Gipfelpunkt ihres Lebens. Flaubert spricht allen bürgerlichen Bildungsidealen Hohn, wenn er die vollste und harmonische Entfaltung von Emmas Natur ausgerechnet i m Moment ihres völligen Realitätsverlustes ansetzt, als endlich ihre Lebenswirklichkeit sich nach ihrem romantischen Selbstbild zu modellieren scheint. I n einer A r t umgekehrten Bildungsromans hat Emma froh und erleichtert der bürgerlichen Realität entsagt. Zugleich tut sich damit eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihr und der Wirklichkeit auf. Ein harmonistischer Ausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft wäre Ideologie. I n einer falschen Umgebung gedeihen keine harmonischen Menschen, sondern falsches Bewußtsein. Flaubert rechnet ironisch mit lügenhaften Bildungsidealen ab, indem er eine unschöne Seele wie Emma mit Attributen des idealistischen Menschenbildes auszeichnet. Dabei richtet sich Flauberts Ironie - wie überhaupt i m ganzen Roman - gerade nicht gegen Emma. Flauberts Ironie richtet sich gegen ideologische Diskurse und deren Funktionäre. I n Emmas »mauvaise foi« aber bricht die so festgefügt scheinende Wechselrepräsentation von Sein und ideologischem Bewußtsein auf. Zumindest für den Leser. Emma hat keine Chance auf ein authentisches Leben, darin besteht Flauberts Realismus. Z u m einen ist die Ideologie zu seiner Zeit viel zu kompakt, u m an ihren inneren Widersprüchen zu zerbrechen. Z u m anderen kann das romantisch Imaginäre seine scheinbare Realisierung nicht unbeschadet überstehen, weil es nicht auf Realisierung angelegt ist, sondern nur auf Negierung und auf die Erzeugung von Differenzbewußtsein. Deshalb kann sich Emma mit keiner ihrer vorübergehenden Scheinrealisierungen des Imaginären zufriedengeben, und keine Lebenssituation könnte auf Dauer ihre Absolutheitsansprüche erfüllen. Bis zum bitteren Ende weigert sich Emma, >realistisch< zu werden. U n d selbst als sich ihr gegen Ende hin der illusionistische Charakter ihres imaginären Ich-Ideals immer deutlicher aufdrängt, reagiert sie nicht >normalTonio Kröger< waren mir die Begriffe >Geist< und >Kunst< zu sehr ineinandergelaufen. Ich hatte sie verwechselt und sie, in diesem Stück, doch feindlich gegeneinander gestellt. Das hatte zu diesem [ . . . ] Fiasko [geführt] in dem Bemühen eine geistige Construktion mit Leben zu erfüllen. 4

3

Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden (Frankfurt am M a i n 1990), Bd. I I I , 646 (im folgenden als G W und unter Band- und Seitenangabe direkt nach dem Zitat). 4 Thomas Mann-Heinrich Mann, Briefwechsel 1900-1949, hg. Hans Wysling (Frankfurt am Main 1968), 34 f. - M i t Recht sieht Peter Pütz gerade i m Sich-Verwischen der konzeptionellen Grenzlinien jenes Element, welches dem Drama seine Modernität verleiht: » [ . . . ] der von Thomas Mann verwendete Terminus >dialektisch< w i l l ernster verstanden sein. Er zielt nicht nur auf die Entgegensetzungen fester Größen und Begriffe, sondern meint, daß diese selbst in Bewegung geraten, da sie in sich selbst ihren Gegensatz und somit ihre eigene Neigung zur Bewegbarkeit tragen. Erst dadurch erweist sich das Stück als Literatur des 20. Jahrhunderts [ . . . ] « [»Thomas Manns >Fiorenza< [1905]: Ein Drama des 20. Jahrhun-

derts?«, in: Drama und Theater im 20. Jahrhundert.

Festschrift

für Walter Hinck (Göttin-

gen 1983), 41-49, hier 47]. Pütz spricht von der »beklemmenden Modernität des Stückes, die darin liegt, daß selbst auf Antagonismen kein Verlaß mehr ist« und sieht in Fiorenza »vielleicht kein großes, aber ein modernes Drama des 20. Jahrhunderts« (ebd., 48).

Verborgene Erotik

239

Grenzt sich Mann auch dieserart von einem Text ab, der i h m als gescheitert gilt, so verbietet ihm dies andererseits doch nicht, ihn als sein »Schmerzenskind« zu bezeichnen, »lebensunfähig«, doch »mit schönen Augen« 5 . Bis ins hohe Alter w i r d Thomas Mann das Drama nicht verleugnen, sondern vielmehr wiederholt auf eine ihm eingeschriebene Schicht hinweisen, welche seines Erachtens weder von der K r i t i k , noch von den Lesern wahrgenommen wurde: die verborgene Erotik. 6 Wo aber wäre diese kryptische Schicht zu suchen? Die Frage scheint berechtigt, ist doch das Drama laut A u t o r aus der Intention heraus entstanden, »eine geistige Construktion« auf der Bühne darzustellen. Der Hinweis auf die verborgene Erotik ist nicht der einzige, den uns Thomas Mann zum Verständnis dieses alles eher als einfachen Textes bietet: i m Zusammenhang mit dem Drama ist von »platonischen Dialogen« die Rede. 7 N u n wissen w i r aus den Notizbüchern, daß Piatos Symposion zu jenen Lektüren gehört, welche die Entstehung von Fiorenza begleiten. 8 Vorerst sei auf die außerordentliche Bedeutung dieser Lektüre lediglich hingewiesen - man denke nicht nur an das Hauptthema, nämlich Eros, sondern auch und vor allem an die k o m plexe Verflechtung von Eros mit der Auffassung von Schönheit und Kunst. Daß Thomas Mann gerade diesen Themen größte Aufmerksamkeit schenkte, scheint einsichtig, und keineswegs zufällig w i r d das Symposion zu einer jener 5

Dichter über ihre Dichtungen: Thomas Mann. Teil I: 1889-1917, hg. Hans Wysling

unter M i t w i r k u n g von Marianne Fischer (München/Frankfurt am M a i n 1975), 181. - Vgl. dazu den demnächst erscheinenden Beitrag von Maria Fancelli: »>In magnis voluisse sat

estFiorenza< di Thomas Mann«, in: Miscellanea di Studi per Ferruccio

Masini , hg.

vom Istituto Italiano di Studi Germanici Rom, Bd. II: »[Thomas Mann] war zutiefst und auf besondere Weise mit diesem Werk verbunden, und man gewinnt niemals den Eindruck, es handle sich dabei u m ein zweitrangiges Unternehmen« (Ubersetzung von mir. Der A u t o r i n sei an dieser Stelle für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in das Manuskript gedankt). - Zu Manns eigenen Äußerungen zu Fiorenza vgl. Hubert Ohl, »Der Erfolg heiligt die Mittel oder Den Sinn liefert die Zeit. Thomas Manns Selbstdeutungen am Beispiel

von >FiorenzaFiorenza< mehr Erotik, als der erste Blick lehrt [ . . . ] . Ziemlich sicher ist jedenfalls, daß die tiefste und stärkste Erotik nicht die ist, die den Staatsanwalt ärgert« (DüD I, 188). 7 Siehe Thomas Manns Brief an Maximilian Harden vom 29. 12. 1912 (DüD I, 193). Der A u t o r spricht i m Zusammenhang mit Fiorenza weit häufiger von >Dialogen< als von eigentlichem >DramaIn magnis voluisse sat est< (s. A n m . 5). - Gerade die unterschiedliche Renaissanceauffassung stellt ja i m übrigen eine der Wurzeln des Mannschen Bruderstreits dar. Vgl. dazu die Arbeiten von André Banuls Thomas Mann und sein Bruder Heinrich (Stuttgart 1968), 127-136, und: »Die Bruder-Problematik i n Thomas Manns >Fiorenza< und i m Essay über den Künstler und den Literaten«, Orbis Litterarum, 33 (1978), 138-157. - Während der Vorarbeiten zu Fiorenza schreibt Thomas Mann i m Herbst 1901 die Novelle Gladius Dei. Z u den Parallelen zwischen den beiden Texten vgl. Th. C. van Stockum, »Savonarola, die historische Gestalt und ihre doppelte Spiegelung i m Werke Thomas Manns«, in: ders. Von Friedrich Nicolai bis Thomas Mann.

Aufsätze zur deutschen und vergleichenden

Literaturgeschichte

(Groningen 1962), 320-

333; Ernest M . Wolf, »Savonarola in München. Eine Analyse von Thomas Manns »Gladius DeiGladius Dei< als Parodie«, Germanisch-Romanische Monatsschrift, 22 (1972), 389-400. 16 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

242

Elisabeth Galvan

Es ist die Darstellung eines heroischen Kampfes zwischen den Sinnen und dem Geist, und diese Darstellung ist vollkommen unparteiisch. [ . . . ] hast D u nicht gefühlt, daß ich dem Lorenzo mindestens so viel von Eigenem mitgegeben habe wie dem Prior? [ . . . ] 1 2 S o m i t repräsentiert also a u c h d e r P r i o r , Savonarola, »Eigenes«, m i t a n d e r e n W o r t e n : eine >eigene< P r o b l e m a t i k , die d e m A u t o r g u t b e k a n n t ist? H ö r e n w i r weiter: [ . . . ] von i h m ging ich aus, seinem Leben galt der größere Teil meiner Vorstudien, seinem Charakter meine intimste psychologische Teilnahme, sein Schicksal war für mich das eigentlich begeisternde M o t i v ( G W X I , 561). So T h o m a s M a n n 1908 ü b e r Savonarola. 10 Jahre später w i r d er d a n n i n d e n Betrachtungen

v o n d e r » g e h e i m e [ n ] geistige[n] T e i l n a h m e « sprechen, die d e m

»kritizistische[n]

Intellektuelle[n]«

gilt: » [ . . . ]

m e i n e geheime

intellektuelle

P a r t e i l i c h k e i t u n d N e u g i e r [ g a l t ] d o c h d e m V e r t r e t e r des l i t e r a r i s c h e n Geistes u n d seinem K u n s t s t ü c k , sich [ . . . ] z u m t h e o k r a t i s c h e n D e m a g o g e n 1 3

tüchtig

z u m a c h e n « ( G W X I I , 96). A u f g r u n d der N o t i z b ü c h e r k e n n e n w i r M a n n s H a u p t q u e l l e n z u seiner Savon a r o l a - F i g u r : z u m einen h a n d e l t es sich u m die v o n Pasquale V i l l a r i verfaßte

11

Thomas Mann-Heinrich Mann, 37 (17. 10. 1905).

12

Thomas Mann, Briefe 1889-1936, hg. Erika Mann (Frankfurt am Main 1962), 61 (28. 3. 1906). - Zur i n Fiorenza angelegten Dialektik vgl. den stimulierenden Aufsatz von Margherita Cottone, »La >Fiorenza< di Thomas Mann o >Della poesia ingenua e sentiment a l in: La traccia letteraria. Strutture e analisi del testo, hg. Gianni Puglisi (Venedig 1988), 111-122, welcher dem hier zum Tragen kommenden Einfluß der Schillerschen Kategorien >naiv< und >sentimentalisch< nachgeht. 13 Z u Savonarola als theokratischem Demagogen vgl. Paul L u d w i g Sauer: Der >fürchterliche Christ«. Studien zur Genealogie des (pseudo)religiösen Totalitarismus und zum Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Theologie und Politik anläßlich der Gestalt des Savonarola in Thomas Manns >Fiorenza< (Hildesheim 1977 und 1978) [Sonderdruck aus >Person-Gruppe-GesellschaftFiorenza< heute noch die Aufforderung ausgeht, es entgegen der Theatererfahrung nicht zur Makulatur zu legen, kann nicht nur damit zusammenhängen, daß Thomas Manns sprachliche Bravour und ironische Intelligenz zum Ausgleich für mangelnde theatralische Spannung gourmandeske Gelüste zufriedenstellen. Das Stück ist wichtig und instruktiv als Studie zur Psychologie der Macht. Die Fassung, die dieser Leseaufführung zugrunde liegt, trachtet, diesen Aspekt auszustellen. Historischer Zierat und Gesamtablauf wurden radikal verkürzt. Unangetastet blieb die an den platonischen Dialogen geschulte Argumentationstechnik Thomas Manns und die von i h m anvisierte Demaskierung von Prinzipienterror und Indoktrinierung« [ K u r t Klinger, Theater und Tabus. Essays - Berichte - Reden (Eisenstadt 1984), 159-164, hier 164].

Verborgene Erotik

243

Biographie Storia di Girolamo Savonarola e de' suoi tempi (1860), deren deutsche Ubersetzung 1868 unter dem Titel Geschichte Girolamo Savonarola's und seiner Zeit erschien und heute i m Zürcher Thomas-Mann-Archiv, reich an Anstreichungen und Randbemerkungen, aufbewahrt w i r d . 1 4 Die zweite Hauptquelle hingegen entnehmen w i r wiederum den Betrachtungen: Savonarola, so heißt es hier, sei »der asketische Priester, wie [er] i m Buche stand []« (GW X I I , 94) - nämlich in Nietzsches Genealogie der Moral. 15 N u n sind nicht nur das Werk von Villari, sondern ebenso die ab 1895 erscheinenden und heute in Zürich aufbewahrten Nietzsche-Bände der Naumann-Ausgabe reich an Lesespuren. A b 1895 publiziert Nietzsche seine Werke bei Naumann i n Leipzig. Aus dem Vermerk von Namen und Jahr auf dem Vorsatzblatt können w i r entnehmen, daß Thomas Mann die einzelnen Bände ersteht, sobald sie erscheinen (so trägt etwa das Morgenröthe-Exemplar, 1895 erschienen, den Vermerk »1896«; dasselbe gilt für Die fröhliche Wissenschaft). Band V I I der Naumann-Ausgabe, Jenseits von Gut und Böse und Genealogie der Moral enthaltend, erscheint 1899: zu diesem Zeitpunkt steckt Thomas Mann mitten in seinen Vorarbeiten zu Fiorenza. Es ist hier nicht der O r t - obwohl es von großem Interesse wäre - allen Lesespuren nachzugehen, die Mann während der Konzeption des Savonarola i n seinen Nietzsche-Exemplaren hinterläßt. 1 6 Ebensowenig kann auf die große Bedeutung eingegangen werden, die Heine in der Gestaltung der Beziehung Savonarola-Lorenzo zukommt; auf den Einfluß der Heineschen Antithese >Nazarener-HelleneFiorenzaZauberberg< (Frankfurt am M a i n 1996). I m Zuge ihrer Rekonstruktion von Thomas Manns Nietzsche-Rezeption i m Zauberberg publiziert und kommentiert die A u t o r i n zahlreiche Nietzsche-Passagen mit den entsprechenden Lesespuren Manns. Z u m Einfluß Nietzsches auf die Konzeption von Savonarola i n Fio-

renza vgl. ebd., 162-165. 17

Vgl. Volkmar Hansen, Thomas Manns Heine-Rezeption (Hamburg 1975), 120-126. Weiters Terence Jim Reed, »Thomas Mann, Heine, Schiller: The Mechanics of Self16*

244

Elisabeth Galvan

Unsere Aufmerksamkeit beschränkt sich deshalb i m folgenden auf den IV. Band, nämlich Morgenrötbe.

Gedanken über die moralischen Vorurteile

(1895

erschienen und i m darauffolgenden Jahr von Mann erstanden), sowie den V I I . Band Jenseits von Gut und Böse. - Zur Genealogie der Moral (1899 erschienen). Der innere Zusammenhang, der sich bei näherer Prüfung der Lesespuren i n Morgenrötbe

und Geneaologie der Moral zeigt, könnte für das Verständnis der

verborgenen Erotik i n Fiorenza von entscheidender Bedeutung sein. Sie alle kreisen nämlich - soviel sei vorweggenommen - u m den komplexen Zusammenhang von Askese und Geschlechtstrieb. I n Morgenrötbe

streicht sich Thomas Mann i n Aphorismus 76 (der Titel lau-

tet »Böse denken heisst böse machen«) folgende Stelle an: [ . . . ] der >Teufel< Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Heiligen geworden, Dank der Munkelei und Geheimthuerei der Kirche i n allen erotischen Dingen: sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, dass die Liebesgeschichte das einzige w i r k liche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist [ . . . ] . 1 8

Daneben vermerkt Thomas Mann: »Mit

dem asketischen Ideal

hörte der

Geschlechtstrieb auf, eine Banalität zu sein.« I n Aphorismus 503 über die »Freundschaft« findet sich eine Randbemerkung, welche mit der eben zitierten i n direkter Korrespondenz steht. Nietzsche schreibt hier: Das Althertum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt, ausgedacht und fast mit sich in's Grab gelegt. Diess ist sein Vorsprung vor uns: dagegen haben w i r die idealisirte Geschlechtsliebe aufzuweisen. Alle grossen Tüchtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, dass Mann neben Mann stand, und dass nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste Höchste, ja einzige seiner Liebe zu sein [ . . . ] . 1 9

Neben »idealisirte Geschlechtsliebe« merkt Mann an: »Als ein Produkt des Christentums!

Als ein Produkt

Geschlechtsliebe eine Banalität.

des asketische n Ideals. Für die Antike Das Christentum

war die

hängte die Trauben hoch -

man fand sie alsbald übermenschlich süß. [...]« Aphorismus 294 der Morgenrötbe

besteht aus einem einzigen Satz: »Heili-

ge«: »Die sinnlichsten Männer sind es, welche vor den Frauen fliehn und den Interpretation«, Neophilologus , 47 (1963), 41-50 und Herbert Lehnerts Stellungnahme zu diesem Beitrag: »Heine, Schiller, Nietzsche und der junge Thomas Mann«, Neophilologus , 48 (1964), 51-56. 18

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden,

hg. Giorgio C o l l i und Mazzino Montinari (München 1980), Bd. 3, 73 f. (im folgenden als KSA unter Angabe der Band- und Seitenzahl). 19

KSA 3, 295. - H i e r und i m folgenden werden die von Thomas Mann vorgenommenen Unterstreichungen wiedergegeben.

Verborgene Erotik

Leib martern müssen.«20

Thomas M a n n schreibt daneben: «Sinnlichkeit

245

und

Keuschheit sind überhaupt nicht Gegensätze«. I n der Genealogie der Moral finden sich schließlich unter dem Titel »Was bedeuten asketische Ideale?« (Aphorismus 11 der dritten Dissertation) jene Lesespuren, welche diese Reflexionen i n Form von Randbemerkungen mit dem i m Entstehen begriffenen Savonarola i n direkte und ausdrückliche Verbindung setzen. Hier die Textstelle, welche Thomas Mann unterstreicht, am Rande anstreicht und mit einem Rufezeichen versieht und überdies mit einer höchst aufschlußreichen Randglosse kommentiert: Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen; hier w i r d ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, u m die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, in Sonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am Missrathen, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Hässlichen, [ . . . ] an der Entselbstung, Selbstgeisselung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und gesucht w i r d . 2 1

Hier hat Thomas Mann offensichtlich die genaue Beschreibung jener Typologie gefunden, welcher sein Savonarola entsprechen soll; die Randglosse lautet denn auch: »Savonarola!«. Die Aufzeichnungen i n den Notizbüchern bestätigen das Interesse des Autors für die tiefliegenden Beweggründe von Savonarolas Askese. Bereits die allerersten Notizen zu Fiorenza kreisen u m diesen innersten thematischen Kern: Savonarola selbst ist von N a t u r der Sündigste; aber er hat gegen die Sünde, gegen sichselbst Partei genommen, und an diesem Conflict geht er zu Grunde. 2 2 Savonarola: Wer die Sünde erkennen, fühlen, hassen, verstehen, durchschauen w i l l , muß selbst ein großer Sünder sein. 2 3

I m vierten N o t i z b u c h k o m m t es dann zur Verbindung zwischen einer der V i l lari-Biographie entnommenen Information - »Immer feuriger gebetet, lange Stunden i n den Kirchen, oft gefastet« - und jener Frage, welche sich Thomas M a n n nunmehr ausdrücklich stellt:

20

KSA 3,220.

21

KSA 5,363.

22 Thomas Mann, Notizbücher 1-6, hg. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin (Frankfurt am M a i n 1991), 116 (Notizbuch 3, erste Lage). 23

Ebd., 181 (Notizbuch 3, zweite Lage).

246

Elisabeth Galvan

Welchen Instinkten geht er m i t den Kasteiungen zu Leibe? Er muß es nöthig haben, zu fasten: [um] sich zu schwächen. 24

Dieselbe Frage können auch w i r uns stellen. Z u ihrer Beantwortung kommt uns Villari zu Hilfe: in seiner Biographie erwähnt er eine Episode aus Girolamos Jugend, derzufolge sich Savonarola unglücklich in ein Mädchen aus seiner Nachbarschaft verliebt habe; dabei, so Villari, habe es sich um die natürliche Tochter eines Nachkommens der Strozzi - einer bekannten adligen Florentiner Familie - gehandelt: Das Leben erglänzte i h m in neuem Licht [ . . . ] . Aber wie groß war sein Schmerz, als er eine hochmüthige A n t w o r t vernahm, die ihn abwies [ . . . ] ! I n einem einzigen Augenblick stürzte eine Welt von langgehegten Träumen und Hoffnungen vor i h m zusammen; alles Glück des Lebens war von i h m geflohen [ . . . ] . 2 5

Diese natürliche Tochter hat i m Drama einen Namen, eine allegorische Funktion und eine recht mythologische Herkunft: sie heißt Fiore und stellt die Allegorie der Stadt Fiorenza/Florenz dar. I m Konflikt zwischen den beiden Gegenspielern Lorenzo und Savonarola geht es u m die Herrschaft über sie beide. 2 6 Wessen Tochter aber ist Fiore? »Ich glaube nicht«, sagt einer aus dem Künstlerkreis u m Lorenzo, daß sie irgendeines verbannten Edelmannes natürliches K i n d ist. Als Zeus den Kronos entthronte, raubte er ihm ein Glied seines Leibes, ein wichtiges, und warf es ins Meer. So sonderbar begattet, gebar das Meer - unsere Herrin ( G W V I I I , 995).

I m fünften Notizbuch hatte sich Mann festgehalten: »Zeus entmannte bei seinem Regierungsantritt seinen Vater Kronos und warf dessen Glied ins Meer, woraus später Aphrodite entstand«. 27 Genaugenommen begeht hier Thomas Mann einen kleinen mythologischen Fehler: wie Hesiod in seiner Theogonie berichtet, ist es Kronos, der seinen Vater Uranos entmannt, und nicht Zeus seinen Vater Kronos. Der Rest jedoch stimmt: aus dem ins Meer geworfenen Phallus des Uranos entsteht Aphrodite (sie trägt oft den Beinamen Anadyomene y »die aus dem Meer Auftauchende«). 24

Ebd., 232.

25

Pasquale Villari, Geschichte Girolamo Savonarola's und seiner Zeit. Unter Mitwir-

kung des Verfassers aus dem Italienischen übersetzt von M o r i t z Berduschek (Leipzig 1868), Bd. I, 12 f. - Vgl. in diesem Zusammenhang Thomas Mann, Notizbücher 7-14, hg. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin (Frankfurt am M a i n 1992), 24 (Notizbuch 7). 26 I n den Betrachtungen ist die Rede von den »beiden Cäsaren und »feindlichen Brüder[n]Sünden des Fleisches< - eine i m besonderen - zugesellt. Erinnern w i r uns an die ersten Notizen zu Savonarola, welche von der Notwendigkeit handelten, die Sünde besser zu kennen als andere, u m sie hassen zu können, und vom Parteinehmen gegen sich seihst. U n d erinnern w i r uns an Thomas Manns Randbemerkungen zu Nietzsches Reflexionen über die Askese: was Savonarola äußerlich so erbittert bekämpft, bedroht ihn in Wirklichkeit innerlich. Einen Beweis dafür sieht Mann auch in der Schrift des Dominikanermönchs Über die Liebe zu Jesu Christo ( Trattato dello amore di Gesu Cristo ), die Villari folgendermaßen resümiert: Wenn die Gnade über den Menschen kommt, so erzeugt sie unmittelbar die göttliche Liebe, und ohne die Gnade gibt es keine wahre göttliche Liebe. Es entsteht aber dabei ein Zwischenzustand, bei welchem der Gläubige, die Nähe und gleichsam den Hauch Gottes fühlend, ein überschwängliches [sie] Glück, eine A r t himmlischer Trunkenheit empfindet. Dieser innerliche Zustand der Seele, wenn sie die Gnade eben empfangen hat und nun i m Begriff ist, die göttliche Liebe zu erzeugen, ist das, was Savonarola unter >Liebe zu Jesu Christo< versteht. 40

Thomas Mann streicht sich diesen Passus an und vermerkt am Rande: »stark erotisch!«. I m Drama scheint sich dann die dem Angelo Poliziano i n den M u n d gelegte Definition des Savonarola-Traktats direkt aus dieser Glosse herzuleiten: [ . . . ] [ein] wüstes und brünstiges Durcheinander von dunklen, trunkenen und fieberhaften Empfindungen, Ahnungen und Zwischenzuständen der Seele, die ganz vergebens nach einem plastischen sprachlichen Ausdruck ringen {GW V I I I , 968 f.).

Es wäre jedoch irrig anzunehmen, der Mannsche Savonarola leite sich lediglich aus den bisher angeführten Quellen her. Es sei zumindest kurz darauf hingewiesen, daß sich der A u t o r zahlreicher anderer Werke bedient, welche insofern als Quellen i n engerem Sinne gelten können, als sie konkrete Informationen zu Personen, Geschichte und Ambiente liefern, ohne dabei jedoch die Konzeption des Dramas, der Figuren und ihre inneren Dynamiken in einem tieferen Sinn zu berühren. Es handelt sich hierbei u m Vasaris Künstlerbiographien , Cellinis Vita in der Übersetzung Goethes, Florenz und die Medici von Eduard Heyck und Die Renaissance. Historische Szenen von Joseph-Arthur Gobineau.

39 40

Notizbücher 7-14 (s. Anm. 25), 34. Villari, Geschichte Girolamo Savonarola's (s. Anm. 25), Bd. I, 88.

250

Elisabeth Galvan

Neben diesen Sachquellen üben noch weitere Quellen einen entscheidenden Einfluß auf die >Tiefenstruktur< Fiorenzas und der Savonarola-Gestalt aus. Der Versuch, ihnen zumindest annähernd gerecht zu werden, könnte zur Erklärung der relativen Ambivalenz dieser Gestalt beitragen. Savonarolas psychologisches Profil erschöpft sich nämlich keineswegs i m Ineinandergreifen von Askese und deren tiefliegenden Gründen. Darüber hinaus trägt der Dominikanermönch zweifelsohne die Züge eines Heiligen, der dem Bereich der sacrae litterae angehört. Thomas Mann selbst definiert ihn in den Betrachtungen als »Vertreter der >sacrae litterae< [ . . . ] , der >die Stadt mit Worten sich unterwirft«« (GW X I I , 94). Doch nähern w i r uns hier nicht einem völlig verschiedenen Thema, und zwar jenem des Zivilisationsliteraten? I n der Tat. Hören wir, wie es i n den Betrachtungen weitergeht: »Der asketische Priester Nietzsche's [ . . . ] wurde mir - keineswegs unversehens - zum radikalen Literaten modernster Observanz« (GW X I I , 94), Savonarolas politische Aktivität ist »im höchsten Grade neupolitisch und zivilisationsliterarisch«; »der christliche Politiker Girolamo [vertritt] gegen den [ . . . ] Ästheten Lorenzo das Neue, das Allerneueste« (GW X I I , 95). Asketischer Priester und Zivilisationsliterat in Einem also: erinnern w i r uns für einen Augenblick an das Durcheinandergeraten der Konzepte i m Zauberberg, von dem eingangs die Rede war. Haben w i r es i m Falle Savonarolas mit einer A r t Naphta und Settembrini vereinenden unio mystica zu tun? Vielleicht beginnen auch unsere Konzepte durcheinanderzugeraten. Halten w i r noch einen Augenblick stand - und werfen w i r zuletzt noch einen Blick auf eine Quelle, die Thomas Mann die dem Nietzscheschen Asketen fehlenden Züge des authentischen Heiligen liefert: es handelt sich u m Schopenhauer, dessen Werk Die Welt als Wille und Vorstellung der junge A u t o r u m das selbe Jahr 1899 liest wie Plato, Nietzsche und Villari. Kehren w i r nochmals kurz zu Nietzsche zurück: mit der Genealogie der Moral löst sich Nietzsche endgültig von Schopenhauer. Dabei stellt Schopenhauers Definition des Schönen einen wichtigen, wenn auch nicht den einzigen Grund dar. Thomas Mann seinerseits w i r d sich noch 1933 in seinem Essay Leiden und Größe Richard Wagners bei der Beurteilung von Schopenhauers Definition des ästhetischen Zustands von Nietzsche abhängig zeigen: Schopenhauers Philosophie sei, so heißt es hier, eine welterotische [] Konzeption, die [ . . . ] den ästhetischen Zustand als denjenigen reiner und interesseloser Anschauung verstanden wissen w i l l , als die einzige und vorläufige Möglichkeit, von der Tortur des Triebes loszukommen ( G W I X , 398).

Bei Schopenhauer kommt es zu einer Affinität zwischen »Heiligem« und Künstler: der »Heilige« weiß, daß die Welt vom blinden Willen - also vom »Trieb« - regiert wird; weiters, daß er seine Erlösung in dem Maße erreicht, in welchem er den Lebenswillen asketisch bis zum Erlöschen verneint. Ähnliches

251

Verborgene Erotik

trifft, so Schopenhauer, für den Künstler zu: durch die Anschauung (Kontemplation) der Ideen gelangt er zu wahrer Erkenntnis. A n diesem Punkt trennt ihn nur mehr ein einziger Schritt - nämlich die bewußte Ablehnung des Lebenswillens (diese erscheint als logische Folge des Erkennens der Welt) - v o m Asketen als höchster Vollendung der menschlichen Existenz. Erinnern w i r uns nun daran, wie Thomas Mann die das gesamte Drama bestimmende Antithese i n den Betrachtungen

definiert: »>Geist gegen Kunst< oder

>Geist gegen Lehern«. I n Fiorenza teilt sich der Begriff »Kunst« i n zwei einander entgegengesetzte Sphären: die eine meint jene Kunst und jene Literatur, welche i n einem platonischen Schönheitsbegriff, i m Sinne des »Die Schönheit reizt zur Zeugung«, wurzeln. I n der Tat finden w i r i m fünften N o t i z b u c h die auf das Symposion verweisende Eintragung: » [ . . . ] Gott hat des Menschen Seele so eingerichtet, daß edler Schönheitsgenuß und Wollust unvermerkt i n einander übergehen. Die Schönheit reizt zur Zeugung (Piaton) [ . . . ] « . 4 1 A u c h Nietzsche beruft sich i n der Götzen-Dämmerung

auf den »göttlichefn]

Plato« und dessen Auffassung vom Schönen, wenn er gegen Schopenhauers Schönheitsbegriff i m Sinne einer »reinefn] und interesselosefn] Anschauung« polemisiert, die allein v o m blinden Willen, dem Trieb, befreie: Schopenhauer spricht von der Schönheit mit einer schwermüthigen Glut [ . . . ] . Sie ist i h m die Erlösung vom >Willen< auf Augenblicke - sie lockt zur Erlösung für i m m e r . . . Insbesondere preist er sie als Erlöserin vom »Brennpunkte des Willensmagician w h o makes

the troubled spirits of ancestors go awayeccentric< race,« heißt es, »are apt to be forgotten especially soon« (184). H o u d i n i erscheint in der Literatur als handelnde Person; andere Handlungsträger werden mit ihm verglichen; er w i r d als bedeutende Persönlichkeit seiner Zeit zitiert, der man begegnet; seine spezifische Kunst, aber auch sein Name w i r d auf andere übertragen. I n Joyce Carol Oates' Because It Is Bitter,; and Because It Is My Heart , 1990, w i r d ein Kater nach ihm benannt. Iris Courtney hatte einen streunenden Kater aufgenommen und ihn H o u d i n i genannt. Er beherrscht das ganze Kapitel 17, meist als »Houdini the midnight-black cat«, in dem es vor allem darum geht, daß Iris ihre dem Alkoholismus verfallene Mutter betreuen muß. Die Mutter hat Angst, der Kater könne sie i m Schlaf ersticken. Es w i r d auch der Grund genannt, warum Iris den Kater nach dem Entfesselungskünstler benannte: »He's called H o u d i n i because of his gift for materializing out of nowhere, purring his eager proprietary purr.« 2 1 Diese Begründung zeugt von einer nur vagen Kenntnis des wirklichen Houdini, denn dieser erschien nicht aus einem »nowhere«, sondern aus soliden Behältern oder befreite sich aus den Klammern von Handschellen. Der Kater gewinnt am Ende von Oates' Roman noch eine gewichtigere Bedeutung. Iris hatte, als sie nach dem Tod ihrer Mutter Hammond, ihre Heimatstadt, verließ und ihr Studium in Syracuse begann, ihren Kater der Obhut ihres Onkels übergeben. Als sie kurz vor ihrer Hochzeit noch einmal nach Hammond zurückkehrt, überreicht ihr der Onkel ein Photo, das Jinx, ein Farbiger, ihm für sie hinterließ, als er sich als Freiwilliger für den Krieg i n Vietnam gemeldet hatte. Als Vierzehnjähriger hatte Jinx ihr geholfen, den Belästigungen des übelbeleumdeten Little Red zu entgehen. Als dieser ihr wieder auflauerte, war es zu einer Auseinandersetzung gekommen, in deren Verlauf Jinx Little Red i n Notwehr tötete. Für Jinx wäre es unmöglich gewesen, die Polizei zu überzeugen, daß er aus N o t w e h r gehandelt habe. Das Geschehen blieb ein Geheimnis der beiden, das sie i n unheimlicher Weise aneinander band. Als Iris das Bild an sich nimmt, it wasn't tears she beat back but a sensation of starkest horror, a certitude beyond grief. She was aware of her uncle's voice, his words, the movement of his mouth, aware too of H o u d i n i the midnight-black cat nudging and rubbing w i t h persistent affection against her legs, purring loudly, yet she heard nothing, comprehended nothing, simply stood there in a place not k n o w n to her. (403)

20

Vladimir Nabokov, Ada ( N e w York 1969), 185.

21

Joyce Carol Oates, Because It Is Bitter ; and Because It Is My Heart (New York

1990), 252.

H o u d i n i als »Held« in der amerikanischen Literatur

269

H o u d i n i war für sie zur Ersatziigur für Jinx geworden. Der Kater taucht wie Jinx unerwartet aus dem »nowhere« in ihrer Erinnerung auf. Sie muß ihn wieder bei ihrem Onkel lassen und versuchen, Jinx aus ihrer Erinnerung zu löschen. M i t dem historischen H o u d i n i hat dies allerdings nichts mehr zu tun. I n ironischer Weise erfolgt die Übertragung von Houdinis Namen auf einen der Obersten Richter der USA i n Louis Auchincloss* The Education of Oscar Fairfax, 1995. I n dem noch von Edith Wharton mitgeprägten Stil erzählt der Protagonist in dem Roman mit dem von Henry Adams adaptierten Titel die Geschichte seines Lebens. N o c h am Anfang seiner juristischen Laufbahn beabsichtigt er, einen Essayband über einen von ihm verehrten Freund seines Vaters zu schreiben. Bei diesem handelt es sich u m das Mitglied des Obersten Gerichtshofs der USA, Justice Gideon Hollister, der weitgehend Oliver Wendell Holmes, einem Freund von Henry Adams, entspricht. Zur Zeit der N e w DealGesetzgebung sieht Fairfax den Richter in dem Dilemma, aus Prinzip für die Aufhebung eines Gesetzes zu stimmen, das einen Mindestlohn verlangt und damit gegen das »right of man to hire and fire« (111) verstößt, und der Hinnahme einer Aufstockung des Gerichts mit Vertretern, die der N e w Deal-Gesetzgebung zuzustimmen eher bereit wären. Den Plan, Justice Hollister mit dem D i lemma zu konfrontieren und ihn in Versuchung zu bringen, die Gesetzgebung für Mindestlöhne hinzunehmen, damit der Präsident keine Notwendigkeit mehr sehe, das Gericht zu erweitern, teilt er dem Sohn des Richters mit, der daraufhin anonym einen Artikel i n The Washington Post veröffentlicht. Der Artikel endet mit den folgenden Worten: H e [Justice Hollister] is k n o w n for his private view that the Constitution is simply the straightjacket out of which the jurist-magician must be able to make his periodic escape. I t w i l l be both amusing and instructive to see how Mr. Justice H o u d i n i Hollister does i t ! 2 2

M i t der Namensübertragung erfolgt eine Übertragung der Bühnentricks auf die Spitzfindigkeiten des Juristen. A u f andere Weise tritt H o u d i n i i n Erscheinung in Mary McCarthys CollegeRoman The Group von 1963. I m Mittelpunkt der Handlung steht immer wieder die Ehe Kays, der begabtesten unter den gemeinsam in einem der Türme des Colleges untergebrachten Studentinnen. Sie hatte Harald, einen angehenden Bühnenautor, geheiratet; doch ihre Erwartungen lähmen dessen Schaffenskraft. Es kommt wiederholt zu Streitigkeiten und sogar zu tätlichen Auseinandersetzungen, bis Harald Kay i n eine Nervenheilanstalt einweist: H e had been a mystery to her from the beginning and he w o u l d vanish mysteriously into nowhere. To leave her locked up in a mental hospital, like somebody tied up in a

22

Louis Auchincloss, The Education of Oscar Fairfax

(1995) (London 1996), 116.

270

Franz Link

closet by robbers, would be just the kind of thing he would relish. [ . . . ] To deprive her and tantalize her was his whole aim. She had tried to bind him w i t h possessions, but he slipped away like H o u d i n i . 2 3

Harald erscheint als der H o u d i n i , der sich aus den Fesseln der Ehe immer wieder befreit. Er fesselt sie, wenn er sie i n das Krankenhaus einweist. Als Polly nach einem Besuch bei Kay diese wieder i n ihr Zimmer einschließen muß, kommentiert sie dies mit einem Zitat aus Dantes Inferno

(Canto 33, 46/7), das

ihr Vater benutzte, als dieser hinter Schloß und Riegel gehen mußte: »E io senti chiavar Vuscio di sotto / all' orribile torre« (321). A u c h sie kann sich befreien, doch nicht nach der A r t Houdinis, sondern einfach dadurch, daß sie sich endgültig von i h m löst. Indirekt erscheint H o u d i n i durch das Zitieren seines Vorgängers RobertHoudin, nach dem er sich - mit der geringfügigen Abwandlung - nannte. Dies ist der Fall i n Donald Barthelmes »The Sentence« aus City Life, 1970. Der Text besteht aus einem einzigen Satz über den Satz und hat weder einen Anfang noch ein Ende. Immer wieder w i r d der Fluß des Satzes durch Einschübe, meist i n Parenthesen, unterbrochen. Vorübergehend ist die Rede von einer Patientin, die i n einer der Parenthesen i n absurder Weise mit einem Soldaten verglichen wird, dessen Truppen - eine Anspielung auf Shakespeares Macbeth (V,8) - sich als Bäume verkleideten, was den Sprecher i n einer weiteren Klammer an eine Aufführung Robert-Houdins erinnert: (which reminds me of the performance, in 1845, of Robert-Houdin, called The Fantastic Orange Tree , wherein Robert-Houdin borrowed a lady's handkerchief, rubbed his hands and passed it into the center of an egg, after which he passed the egg into the center of a lemon, after which he passed the lemon into the center of an orange, then pressed the orange between his hands, making it smaller and smaller, until only a powder remained, whereupon he asked for a small potted orange tree and sprinkled the powder thereupon, upon which the tree burst into blossom, the blossoms turning into oranges, the oranges turning into butterflies, and the butterflies turning into beautiful young ladies, who then married members of the audience) 24

Harry H o u d i n i hatte ein Buch über Robert-Houdin geschrieben. Es ist anzunehmen, daß Barthelme sein Wissen aus diesem Buch bezog, die Beschreibung des Tricks aber natürlich ins Absurde verzerrte. A m Ende des Textes interpretiert der A u t o r noch einmal sich selbst: a disappointment, to be sure, but it reminds us that the sentence itself is a man-made object, not the one we wanted of course, but still a construction of man, a structure to be treasured for its weakness, as opposed to the strength of stones. (14)

23

Mary McCarthy, The Group (New York 1963), 321.

24

Donald Barthelme, City Life (1970) (London 1971), 112/3.

H o u d i n i als »Held« in der amerikanischen Literatur

271

Die Verwandlungskünste, die der Satz mit der Wirklichkeit vollbringt, entsprechen den Zauberkunststücken Robert-Houdins. I m amerikanischen Drama wie i n der amerikanischen Lyrik begegneten uns weit weniger Beispiele für das Auftreten Houdinis als in den Romanen oder i n der Kurzprosa. I n bedeutsamer Weise verwendet aber Tennessee Williams Houdinis Befreiungskunst in The Glass Menagerie, 1944. Tom Wingfield, der Erzähler des Stückes, sieht seinen Weg zur Erfüllung seiner Lebensträume durch die Tatsache versperrt, daß er, nachdem sein Vater die Familie verlassen hatte, für deren Lebensunterhalt verantwortlich ist: »For sixty-five dollars a month,« meint er, »I give up all that I dream of doing and being ever!« 25 Durch seine Verpflichtung gegenüber der Mutter und der lebensuntüchtigen Schwester fühlt er sich gebunden, fühlt sich in einer Falle. Bereits i m Personenverzeichnis heißt es von ihm: »His nature was not remorseless, but to escape from a trap he has to act without pity« (IX). Als er abends von einem Theaterbesuch mit F i l m und Unterhaltungskünstlern nach Hause kommt, berichtet er Laura, seiner Schwester, davon: »The headliner of this stage show was Malvolio the Magician. He performed wonderful tricks.« Den Höhepunkt der »show« bildete für ihn - wie bei den meisten Auftritten Houdinis - die Befreiung Malvolios aus einem vernagelten Sarg: But the wonderfullest trick of all was the coffin trick. We nailed h i m into a coffin and he got out of the coffin without removing one nail. [ . . . ] There is a trick that w o u l d come in handy for me - get me out of this 2 by 4 situation! [ . . . ] You k n o w it don't take much intelligence to get yourself into a nailed-up coffin, Laura. But w h o in hell ever got himself out of one without removing one nail? (17)

M i t Malvolio bedient sich Williams des Namens von Olivias Stewart aus Shakespeares Twelfth Night und beschreibt mit dem Sargtrick die Befreiungskunst Houdinis. Das Eingesperrtsein i m Sarg steht für die Auswegslosigkeit der menschlichen Situation Toms. Eine besondere Weise, H o u d i n i als Metapher einzubringen, liegt vor, wenn sein Name nur als Titel erscheint. Dies ist der Fall in einem der Gedichte von LeRoi Jones: Houdini Poured, white powder on the back of a book took out m y plastic funnel and honked the powder up. Then sit down, to write before consciousness 25

Tennessee Williams, Four Plays (London 1957), 15.

272

Franz L i n k drained away. Feeling the change, the bag-like quality of ease. This w i l l be the last sense I make for hours. 2 6

Der Name Houdinis i m Titel des Gedichts steht als Metapher für den Versuch, mit einer Welt außerhalb des normalen Bewußtseins in Verbindung zu treten. Das Gedicht w i r d damit allerdings H o u d i n i nicht gerecht. Das lyrische Ich von Jones lebt unter dem Einfluß der Droge »in einer anderen Welt.«. Bei H o u d i n i bleibt es immer nur ein Versuch, einen Blick in eine transzendente Welt zu werfen. Zudem würde er sich nie der Droge bedient haben. Er bestand auf bewußter Konzentration und vermied N i k o t i n wie Alkohol. Eine Besonderheit der Houdini-Literatur stellt die Gedichtserie Lynn LuriaSukenicks Houdini Houdini, 1982, dar. Die A u t o r i n wurde in N e w York geboren und lebt heute in Kalifornien. Sie beschäftigte sich bereits sehr früh mit H o u d i n i und veröffentlichte schon 1973 ein »chap book« Houdini bei der Capra Press noch unter dem Namen Sukenick. Houdini Houdini ist allein dem Entfesselungs- und Befreiungskünstler gewidmet. Der Band besteht aus sieben Teilen mit jeweils zwei bis sechs Gedichten bzw. Prosatexten sehr unterschiedlicher Qualität. Er folgt dem Leben H o u dinis, beginnt mit einer Erinnerung an die Eltern und endet mit einem Nachwort des Artisten aus dem Jenseits an die Autorin. Der historische H o u d i n i w i r d nicht verfälscht, doch auch imaginativ i n verschiedenen Situationen und Träumen nachempfunden. »Fact and imagination are mingled i n these poems,« heißt es i n dem Vorspann der A u t o r i n . 2 7 I n den Gedichten und Texten spricht die A u t o r i n und läßt H o u d i n i oder seine Frau zu Wort kommen. I n »Houdini Returns to America Via the West« (28-30) berichtet H o u d i n i von der Reise in einem Brief an seine Mutter. ; Z u den aus dem früheren Band von 1973 übernommenen Texten gehört »His Dream of Fame«. H o u d i n i träumt von drei Filmen. I m ersten spielt Fred Astair mit Ginger Rogers Tennis, während sich H o u d i n i am Rande aus einem losen Netz zu befreien versucht. I m zweiten F i l m Ginger Rogers »plays the ropes« und Fred Astair »taps H o u d i n i away to freedom.« I m dritten Film »Houdini plays God [ . . . ] it seems ropes and escapes more important than dancing, the times change, we all want out, a song H o u d i n i sings in this one the ropes lie down listening shhh ahhhh« (17). 26

LeRoi Jones, Magic Poetry 1961-1967 ( N e w York 1969), 7.

27

Lynn Luria-Sukenick, Houdini

Houdini

(Cleveland 1982), 9.

H o u d i n i als »Held« in der amerikanischen Literatur

273

»We all want out« w i r d zum durchgehenden M o t i v der Gedichtserie. I n »Beatrice Reveals a Dream About the Future, A b o u t the One W h o W i l l N o t Escape« w i r d es eingesetzt zum Gedenken an die in Ungarn verbliebenen Verwandten Houdinis, die dem Holocaust nicht entkommen konnten. Saul Bellow hatte - wie oben erwähnt - derer bereits in seinem Roman von 1975, Humboldt's Gift, gedacht. Ein anderes M a l »He Dreams of Alice in Wonderland«. Alice und H o u d i n i kommen in dem Traum abwechselnd zu Wort. Der Bezug zwischen beiden besteht zum einen darin, daß sich Alice wie H o u d i n i immer wieder aus unmöglichen Situationen befreien muß, zum anderen darin, daß beide mit Zauber zu tun haben. Alices weißes Kaninchen ist das weiße Kaninchen, das der Zauberer aus dem schwarzen Zylinder hervorholt, der wiederum seine Entsprechung in Lewis Carrolls »mad hatter« findet. Eine weitere Bedeutung konnten w i r in diesem Traum nicht erkennen. Einen Überblick über Houdinis Leben in kürzester Form vermittelt in zwölf Strophen »Bess and Harry L o o k at His Photograph Album« (33-35). Die aus mehreren Biographien bekannten Photos, die die beiden betrachten, beleuchten noch einmal die wichtigsten Stationen i m Leben Houdinis. Dazu gehört auch die Begegnung mit Theodore Roosevelt auf einer seiner Heimreisen von Europa nach N e w Y o r k . 2 8 Eine ganze Serie von Gedichten (Teil II) ist Beatrice gewidmet, die für ihn weniger seine Frau war als Vertreterin seiner Mutter. Treffend läßt Luria-Sukenick H o u d i n i selbst seine Eltern charakterisieren. Von der Mutter heißt es i n einem abschließenden Bild: »I loved her. I thought of w o o d and i n it, me, immured i n her.« (14)

Die Mutter w i r d damit zu dem Sarg, aus dem zu befreien er sich immer wieder bemühte. A u f einfachste Weise w i r d Houdinis Kunst in der Form eines Kinderreimrätseis umschrieben: H o u d i n i binds his body w i t h chains and slowly struggles out of the chains; H o u d i n i wraps his body w i t h ropes and slowly he evades the ropes; H o u d i n i secures his body w i t h belts and suddenly he undoes the belts. 28

A u f dem meist abgebildeten Photo sind nur Roosevelt und H o u d i n i zu sehen. Die anderen mitphotographierten Personen ließ H o u d i n i wegretouchieren. 18 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

274

Franz L i n k This is a quiz. »Houdini wants to be more naked than he is.« This is the answer. (31)

Das Bedürfnis, nackt zu sein, ist eine andere Version dessen, was H o u d i n i in dem Traum von seinem zukünftigen Ruhm singt: »we all want out.« Sich aller Zwänge zu entledigen, bleibt der Traum, der H o u d i n i in der Literatur weiterleben läßt. I n Walter Satterthwaits Escapade erscheint 1995 H o u d i n i noch einmal - wie schon in Doctorows Ragtime - als eine der Hauptpersonen der Handlung. Satterthwait gilt für eine Reihe von Kritikern als der Nachfolger Conan Doyles und Agatha Christies in den neunziger Jahren. Escapade, sein bereits achter Roman, gilt als der bisherige Höhepunkt seines Schaffens. Seine Übersetzung wurde in Frankreich mit dem »Prix du Roman d'Aventures« ausgezeichnet. Als Detektive betätigen sich gleich drei Personen: Conan Doyle, Harry H o u d i n i und Phil Beaumont, der Erzähler, ein Pinkerton-Mann, den H o u d i n i als Leibwächter anheuerte. Für sie gilt es, gleich zwei Fälle zu lösen. Das Geschehen spielt sich auf einem Landsitz, Maplewhite H a l l in Devon, i m Jahre 1921 ab. Lord Purleigh hatte Conan Doyle und Harry H o u d i n i eingeladen, u m herauszufinden, ob Madame Sosostris - die aus T. S. Eliots Waste Land übernommene fiktive Spiritistin - wirkliches Medium oder nur eine Betrügerin sei. Mme Sosostris w i r d natürlich von H o u d i n i gar nicht ernst genommen, da er alle Tricks kennt, die bei spiritistischen Sitzungen angewandt werden. Doyle erweist sich dagegen für den Glauben an Geistererscheinungen anfällig. H o u d i n i war Doyle tatsächlich schon 1919 in Brighton begegnet und von diesem auf seinen Landsitz in Sussex eingeladen worden. Historisch ist ferner eine spiritistische Sitzung, zu der Doyle H o u d i n i eingeladen hatte, u m ihn von der Möglichkeit zu überzeugen, die Stimmen Verstorbener beschwören zu können. Dies geschah anläßlich von Doyles Amerikabesuch i m Jahre 1922. Als Medium fungierte Doyles Frau Margery. H o u d i n i war nicht zu überzeugen, worauf die sich anbahnende Freundschaft abkühlte. 2 9 Satterthwait überträgt die tatsächliche Begebenheit nach England und auf ein anderes - und nur fiktives - Medium. Er bleibt dabei aber dem Tatbestand des Verhältnisses der beiden Männer zueinander und deren unterschiedlicher Haltung gegenüber dem Spiritismus treu. Neben der Überprüfung des Mediums geht es in Satterthwaits Roman u m den M o r d an Lord Purleighs Vater und den Versuch C h i n Soos, eines Rivalen Houdinis, zu verunsichern. H o u d i n i gelingt es mit Hilfe von Phil Beaumont und Jane Turner, der Begleiterin eines weiteres Gastes, beide Fälle aufzuklären. M i t dem historischen H o u d i n i hat dies aber wenig zu tun, ausgenommen die 29

Siehe R. Brandon, a. a. O., 223 und folgende Seiten.

H o u d i n i als »Held« in der amerikanischen Literatur

275

Erscheinung C h i n Soos. Dieser entspricht in der Geschichte Houdinis Billy Robinson, der sich als Artist den Namen Chung Ling Soo zugelegt hatte. H o u dini hatte diesen tatsächlich als Rivalen gefürchtet, ihn aber später bedauert, als er bei dem Mißlingen des Tricks, den schon Burger in seine Geschichte eingefügt hatte, ums Leben kam. Escapade ist voller historisch und literarisch belegter Namen. Jane Turner soll an den Landschaftsmaler Turner erinnern. Der Manager Houdinis heißt Carlyle. Einer der Gäste nennt sich Erich Auerbach, hat aber nicht das Geringste mit dem Romanisten dieses Namens zu tun. Der angebliche Inspektor, hinter dem sich am Schluß Chin Soo verbirgt, zitiert ohne Relevanz für die Situation und das Geschehen ständig Shakespeare. Dieses Spiel w i r k t auch auf die historisch belegten Personen zurück: der Leser kann sie nicht mehr ganz ernst nehmen. Der Detektivroman Conan Doyles w i r d in den Händen Satterthwaits eher zu einer Parodie des Kriminalromans. Der H o u d i n i des Romans w i r d zu einer Karikatur des wahren, historischen Houdini. Er tritt als ein selbstsicherer Protz auf. Sein Mutterkomplex und seine Scheu vor Frauen außer seiner eigenen sind historisch belegt, aber i m Roman i n einem Maße übertrieben, daß es eigentlich nur als Parodie verstanden werden kann. Houdinis Rolle als Detektiv in dem Roman kann kaum etwas mit dem historischen H o u d i n i zu tun haben. Die hier vorgeführten Beispiele für Houdinis Erscheinen in der Literatur dokumentieren, daß er einen beständigen Platz i m kulturellen Gedächtnis Europas wie Amerikas gefunden hat. Die Zeitspanne der Beispiele reicht von den Jahren unmittelbar nach seinem Tode bis in die Gegenwart. Der Houdini, der sich in das Gedächtnis eingeschrieben hat, ist derjenige, der das für unmöglich Gehaltene vollbringt und damit eine breite Öffentlichkeit zu faszinieren vermag. Er ist der Magier der Verwandlung wie der Befreiung, dem jedoch - wie jedem Sterblichen - eine Grenze durch den Tod gesetzt ist. Er erscheint nicht als der »Held«, der die Welt verändert, vielmehr als der, der ihre Sehnsucht verkörpert, sich von allen möglichen Zwängen, körperlichen, gesellschaftlichen, geistigen, zu befreien. Bewundert w i r d seine »Kunst«. H o u d i n i erscheint - wie die Beispiele zeigen - auf vielfältige Weise in der Literatur: als alleiniger Protagonist wie bei Lynn Luria-Sukenick, als einer von mehreren Protagonisten wie i n E. L. Doctorows Ragtime oder Satterthwaits Escapade. Es wird, wie in Saul Bellows Humboldt's Gift oder Ishmael Reeds Mumbo Jumbo, von ihm berichtet, u m ihn mit einem der Protagonisten zu vergleichen. Sein Name w i r d - so von K u r t Vonnegut und Walker Percy - mit denen anderer Persönlichkeiten genannt, u m historische Authentizität zu dokumentieren. Sein Name w i r d auch auf andere Personen übertragen, u m sie damit zu charakterisieren wie in Louis Auchincloss' The Education of Oscar Fairfax. Joyce Carol Oates läßt in Because It Is Bitter; and Because It Is My Heart sogar 18""

276

Franz L i n k

einen Kater mit dem Namen Houdinis erscheinen. I n einer Reihe von Fällen - wie bei John Barth, Thornton Wilder oder Vladimir Nabokov - ist es nicht H o u d i n i selbst, sondern seine Kunst oder sein Verhalten, das aufgenommen wird. I n wieder anderen Fällen erscheint sein Name nur als Metapher für das, wofür man sich an ihn erinnert, wie - wenn auch falsch verstanden - in dem Gedicht von LeRoi Jones. Als Metapher lebt H o u d i n i auch außerhalb der Literatur i m allgemeinen Bewußtsein weiter. Dazu seien zwei - willkürlich hierzu aufgegriffene - Beispiele genannt: Anläßlich der Rezenzion eines Buches spricht Louis Auchincloss in The New York Review v o m 26. 4. 1990, von »an argument that recalls H o u d i n i getting out of a sunken barrel.« Leo Wieland spricht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. 2. 1993 von »Clinton als H o u d i n i der Talkshowmeister« und von der »Bühne für den rhetorischen Entfesselungskünstler.« Der in der Literatur erscheinende H o u d i n i ist sowohl der des Mythos, der sich schon zu seinen Lebzeiten u m ihn bildete und den er selbst verbreiten half, als auch der tatsächliche Houdini, wie ihn die spätere Forschung nachzuzeichnen versuchte. Durchweg ist jedoch das tatsächliche Bild imaginativ erweitert worden, meist in dem Sinne, daß das Nicht-Wissen durch ein So-hätte-es-seinkönnen ersetzt wurde. Eine besondere Bedeutung gewann H o u d i n i für jüdische Autoren. Er gehörte als »Star« der Entfesselungskünstler wie Max Baer als Weltmeister i m Schwergewichtsboxen oder später Hank Greenberg als erfolgreicher Baseballspieler zu der ersten oder zweiten Generation jüdischer Einwanderer, die es in der Neuen Welt zu etwas gebracht und damit der jüdischen Minderheit zu A n sehen verholfen hatten. Jüdische Autoren bringen H o u d i n i mit dem Holocaust in Verbindung, wenn sie bedauern, daß die in Europa verbliebenen Juden sich nicht wie er befreien konnten. H o u d i n i hatte die Grenzen des Möglichen erprobt. Dafür lebt er i n der literarischen Einbildungskraft weiter.

Strategien der Verrätselung in Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte* Von Frank Leinen

Als am 19. Oktober 1989 das schwedische Nobelpreiskomitee den spanischen Schriftsteller Camilo José Cela für den Literaturnobelpreis nominierte, ehrte es ihn als »the leading figure in Spain's literary renewal during the postwar era«. 1 Die Grundlage für dieses Ansehen legte Cela nach Ansicht des K o mitees mit dem Roman La familia de Pascual Duarte , einer »in parts gruesome novel, which in spite of being censored and banned had an almost unparalleled impact«. 2 Tatsächlich ist der Roman, von dem inzwischen weit über 100 Auflagen vorliegen und der in über zwanzig Sprachen übersetzt wurde, nach Cervantes* Don Quijote das meistgelesene Werk der spanischen Literatur. Angesichts dieser ungewöhnlichen Breitenwirkung stellt sich die Frage nach ihren Ursachen. U m ihnen nachzuspüren, möchte ich die These vertreten, daß sich die Anlage von La familia de Pascual Duarte und der Charakter der Hauptperson als Produkte einer hochkomplexen Verrätselungsstrategie präsentieren, welche nachhaltig von den zeitgenössischen Zensurbedingungen beeinflußt wurde. Hierbei gehe ich von der Annahme aus, daß das Werk eine aktive, bisweilen detektivische Lesearbeit erfordert. Sie bildet die Voraussetzung für die Erfassung des ästhetischen Reizes und der intellektuellen Herausforderung, die La familia de Pascual Duarte bereithält. Da Celas Werk jedoch mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet, tritt neben den Lesegenuß eine desorientierende, ja beunruhigende Wirkung. Einen ersten Hinweis auf diese widersprüchlichen Effekte geben die zeitgenössischen Reaktionen auf die Veröffentlichung von La familia de Pascual Duarte. Nach ihrer Erörterung widmet sich die Analyse den von Cela realisierten intertextuellen, strukturellen, narrativen und stilistischen Strategien der Verrätselung. Sodann stehen die Vertierung des Protagonisten und die Ver* Der folgende Beitrag stellt die erweiterte Fassung meiner Antrittsvorlesung dar, die ich am 10. 7. 1998 an der Universität Trier gehalten habe. 1 Swedish Academy, The Permanent Secretary, »Press-Release: The N o b e l prize for Literature 1989«, http://nobel.sdsc.edu/laureates/literature-1989-press.html . 2

Ebda.

278

Frank Leinen

menschlichung der ihn umgebenden Tiere i m Mittelpunkt. Meine abschließenden Überlegungen gelten der desorientierenden und subversiven Funktion des Grotesken i n La familia

de Pascual Duarte.

I. M i t seinem ersten Roman La familia

de Pascual Duarte

zündete 1942 der

erst fünfundzwanzigjährige Camilo José Cela nach eigenem Bekunden einen petardo ,3 dessen Knall das spanische Kulturleben jäh aus der von General Franco verordneten Erstarrung riß. Als einer der ersten Leser des Manuskriptes sah der von Cela verehrte Pío Baroja die Brisanz des Werkes richtig voraus, denn angesichts der zu erwartenden Repressionen lehnte er es ab, ein Geleitwort zur ersten Ausgabe zu verfassen. Seine Begründung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »No, mire, si usted quiere que lo lleven a la cárcel vaya solo, que para eso es joven. Yo no le prologo el libro.« 4 Zwar mußte Cela wegen La familia

de Pascual Duarte nicht hinter Gitter, doch wurde die zweite Auflage

des Werkes 1943 aus dem Handel entfernt, da sie, wie die katholische Presse vermerkte, »dañoso para la generalidad« 5 sei. Als 1945 auf Geheiß des Secretario nacional der franquistischen Bewegung - Cela verfügte offenbar über ausgezeichnete Beziehungen - die dritte Auflage des Romans autorisiert wurde, 6 stieß dies auf den Widerstand der zuständigen Behörden. Wie ablehnend man hier dem Roman gegenüberstand, belegt ein Briefwechsel zwischen dem Director general de Prensa , Tomás Cerro, und dem neuen Director general de Propaganda, Pedro Rocamora, anläßlich der i m Jahr 1946 erfolgten vierten Auflage von La familia

de Pascual Duarte. Voller Entrüstung notiert Cerro i n seinem

Schreiben an den Freund und Kollegen: Por si te es de alguna utilidad, te diré que el protagonista describe el adulterio de su madre y el de su propia mujer, la vida de prostitución de su hermana, la escena en que viola a una chica de su pueblo en el cementerio y sobre la tumba en que acaba de ser enterrado su hermano (fruto adulterio de los amores de su madre antes aludidos) y todo ello lo hace »con tan brutal crudeza« (la frase no es mía sino de la referencia bibliográ3

Camilo José Cela, »A Mrs. Caldwell habla con su hijo. Algunas palabras al que leyere«, Obra Completa, Bd. 7 (Barcelona: Destino 1969), 972-977, hier 973. 4 Zit. nach Camilo José Cela, » A l Pascual Duarte. Andanzas europeas y americanas de Pascual Duarte y su familia«, Obra Completa , Bd. 1 (Barcelona: Destino 1962), 550-578, hier 560.

5

Zit. nach Fernando Alvarez Palacios, Novela y cultura española de postguerra (Ma-

drid 1975), 39. 6

Hans Jörg Neuschäfer wertet die entsprechenden Dokumente der Zensurbehörde aus

[Macht und Ohnmacht der Zensur. Literatur, (Stuttgart 1991), 301 f.].

Theater und Film in Spanien (1933-1976)

Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte

279

fica publicada en el número 140 de Eclesia), que sinceramente te confieso que por mi parte lo considero en absoluto intolerable. 7

Cerro hätte freilich noch erwähnen können, daß der Protagonist Pascual Duarte den an Tollwut erkrankten Vater mit Hilfe einiger Nachbarn i n einem Wandschrank einsperrt und dort ersticken läßt, eine Messerstecherei provoziert, seinen treuen H u n d erschießt, sein Pferd mit Messerstichen umbringt, seine Frau vermutlich i m Affekt tötet, deren Liebhaber - er ist zugleich der Z u hälter seiner Schwester - ermordet, der eigenen Mutter die Kehle durchschneidet und dem Leben eines Landadeligen ein gewaltsames Ende bereitet, bevor er schließlich wegen dieser Bluttat hingerichtet wird. I n Anbetracht seines ohnehin bereits vernichtenden Befundes verzichtet der Director de la Prensa zudem auf den Hinweis, daß das Skandalon durch Gregorio Marañóns Vorwort zur vierten Auflage gesteigert wurde, der den Protagonisten auf eine Stufe mit den Helden der griechischen Tragödie stellt und ihn als Vollstrecker einer abstracta y bárbara , pero innegable justicia Natürlich las der Director

8

bezeichnet.

general de Propaganda , Pedro Rocamora, auf

den Rat seines Freundes hin das Werk. Bezeichnenderweise k o m m t er zu dem Urteil: Camilo José Cela me parece un hombre anormal. [ . . . ] Su novela me la leí el otro día a la vuelta de Barcelona, en las dos horas que duró el viaje en avión. Después de llegar a mi casa me sentí enfermo y con un malestar físico inexplicable. M i familia lo atribuía al avión, pero yo estoy convencido que tenía la culpa Cela. Realmente es una novela que predispone inevitablemente a la náusea. Esta novela fue autorizada antes de llegar aquí yo; la única novela que ha intentado publicar el genial señor Cela siendo yo Director General (seil. La colmena ), he tenido la enorme satisfacción de prohibírsela. 9

Die heftige Reaktion des obersten spanischen Zensors dokumentiert die provokatorische Brisanz der als Familienchronik getarnten Erinnerungen eines M ö r ders, mit denen Cela gegen das Pressegesetz aus dem Jahr 1938 verstieß, welches die »familia en su tradición cristiana« als Fundament des Staates mystifizierte. Zudem ignorierte er einen Erlass der Zensurbehörde aus dem Jahr 1941, der von den Autoren die Literarisierung der Leitwerte »ortodoxia, moral y rigor político« 1 0 forderte. 7

Zit. in »Cartas de censores«, El País (4. 3.1982), 29.

8

Grogorio Marañón, »Prólogo a La familia de Pascual Duarte«, Insula , 1,5 (1946), 1

und 3, hier 1. Die neugegründete Zeitschrift feiert in einem Vorspann zu Marañóns Ausführungen den Roman als »la más fuerte narración de estos últimos años en lengua española« (a. a. O.). 9 10

»Carta de censores«, a. a. O.

Zit. nach Alvarez Palacios, Novela , 15. Das Gesetz vom 18. Juli 1938 trägt den Wortlaut: »Es consigna rigurosa de nuestra Revolución elevar y fortalecer la familia en su tradi-

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Frank Leinen

Den Leitlinien der Zensurgesetze entsprechend dominierte i n der gleichgeschalteten spanischen K u l t u r während der ersten Jahre nach dem Bürgerkrieg neben der propagandistischen Verherrlichung der Kriegsereignisse - erinnert sei an den von Franco unter dem Pseudonym Jaime de Andrade 1942 verfaßten Roman Raza - eine eskapistische Tendenz, welche die Greuel der Vergangenheit und die Probleme der Gegenwart vergessen machen wollte. Nach dem Tod, der Ermordung, der Inhaftierung und der Exilierung renommierter spanischer Autoren spiegelt sich die Entproblematisierung der Literatur i n der Veröffentlichung zahlreicher Biographien über Persönlichkeiten aus der Zeit der Monarchie sowie den Übersetzungen kulinarisch 1 1 rezipierbarer Autoren wie Louis Bromfield, Pearl S. Buck, William Somerset Maugham oder Daphne de Maurier wider. Einzuräumen bleibt jedoch, daß sich trotz der Kontrolle durch die Zensur auch eine seit der Zweiten Republik existierende liberale, gesellschaftskritische Tendenz i n der Literatur behauptete. Ihr Fortbestehen konnte dank unterschwellig wirkender textimmanenter Mechanismen von der Zensur zwar Gehindert, nicht aber verhindert werden. 1 2 Carmen Laforets Roman Nada (1945) oder Juan A n t o n i o de Zunzuneguis Werke aus den vierziger Jahren wie /Ay ... estos hijos! (1943), El barco de la muerte (1945) und La úlcera (1949) stehen für den Versuch, das offiziell propagierte Literaturverständnis behutsam zu unterlaufen. Angesichts der massiven Zwänge auf die spanischen Literaten stellt sich natürlich die Frage, wie Cela für die 3000 Exemplare seiner Erstausgabe das Plazet der Zensurbehörde erhalten konnte. Der Verweis auf seinen Einsatz für die Nationalisten während des Bürgerkrieges sowie seine 1938 erfolgte Bewerbung als Spitzel der Franquisten greift bei dem Versuch, eine A n t w o r t zu liefern, jedoch zu kurz. A u c h die Tatsache, daß der A u t o r neben dem Dichter José García N i e t o und dem Dramatiker Victor Ruiz Iriarte durch den 1941-46 tätigen Delegado General de la Prensa , Juan Aparicio, als Hoffnungsträger der i m franquistischen Sinne neu zu gestaltenden literarischen K u l t u r protegiert wurde, kann die Erteilung der Druckgenehmigung nicht erklären. 13 Gerade den hochgestellten Persönlichkeiten des Regimes wäre nicht daran gelegen geweción cristiana, sociedad natural y perfecta y cimiento de la Nación« [zit. nach Alan Hoyle,

Celay La familia de Pascual Duarte (London 1994), 110]. 11

I m Sinne der von Hans-Robert Jauss formulierten Definition der Unterhaltungskunst [Literaturgeschichte als Provokation (Frankfurt a. Main 1977), 177 ff.]. 12

So Neuschäfer, Macht, 4.

13

Cela widmete das Manuskript seines Romans Victor Ruiz Iriarte. Siehe Jorge Urru-

tia, »El manuscrito de La familia de Pascual Duarte«, Insula, , 518/519 (Feb.-März 1990), 68 f., hier 68. Das Dossier der Zensurbehörde wurde nach Neuschäfer offensichtlich »gereinigt«. Für die guten Beziehungen Celas zur franquistischen Hierarchie spricht der Vermerk auf dem Umschlag des Konvolutes, in dem die Druckvorlage fehlt: »El libro tiene el vicesecretario [del movimiento] u otro jerarquía« (Macht, 301 f.)

Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte

281

sen, ein Werk publizieren zu lassen, das den Anfordungen der Politik an die K u l t u r so radikal entgegenläuft, wie es La familia

de Pascual Duarte den Aus-

sagen Cerros und Rocamoras entsprechend tat. Vielmehr kann vermutet werden, daß der Roman eine zweite, der Beschwichtigung dienende Lesart erlaubt, welche den provokatorischen Inhalt abfedert. Die Zulassung des Werkes durch die Zensur wäre aus dieser Perspektive ebenso wie sein großer Publikums erfolg auf Celas Poetik der Unbestimmtheit zurückzuführen. Zur Klärung dieses Sachverhalts widmen sich die folgenden Seiten den intertextuellen, strukturellen sowie inhaltlichen Dimensionen der Verrätselung i n Celas Roman. Hierbei w i r d den Unbestimmtheitsstellen des Werkes besondere Aufmerksamkeit geschenkt, da ihre Suggestionsreize einen intensiven interaktiven Prozeß z w i schen Text und Leser initiieren. 1 4

II. Cela bedient sich i n seinem Roman mehrfach intertextueller Anspielungen und Zitate, die er i m Sinne seiner Verrätselungsstrategie karnevalesk verfremdet. So verweisen die Erinnerungen Pascual Duartes auf die mit Sokrates' Apologie sowie Augustinus' Confessiones beginnende Tradition der Konfessionsliteratur. Andererseits jedoch w i r d diese Traditionslinie durch die Kombination mit Elementen der novela picaresca satirisch verzerrt. Speziell der Lazarillo

de

Tormes sowie Quevedos La vida del Buscón dienen als prätextuelle Paradigmen, die vor allem i n den Anfangskapiteln stilistisch und inhaltlich pastichiert oder zitiert werden. 1 5 Die Kontamination beider Gattungstraditionen hat zur Folge, daß die bisweilen humorvoll-pikareske Tonlage der Schilderungen 16 14

Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.

Mit einem Anhang von den Funk-

tionen der Sprache im Theaterschauspiel (Tübingen 1 1931, 3 1965), 261 ff. und Wolfgang

Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (München ^976, 31990), 50 ff. Vgl.

ferner Umberto Eco, »L'oeuvre ouverte et la poétique de l'indétermination«, La Nouvelle

Revue Française N.S., 3 (1960), 117-124 und 313-320 und ders., Das offene Kunstwerk (Frankfurt a. M a i n 1973), 27-59. 15 Ein intertextuelles Zitat des Buscón, der mit den Worten »Yo, señor, soy de Segovia« beginnt, eröffnet Pascuals Memoiren: »Yo, señor, no soy malo ...« [Francisco de Quevedo, La vida del Buscón llamado don Pablos (Madrid: Castalia 1986), 66 und Camilo José Cela, La familia de Pascual Duarte , (Barcelona: Destinolibro 2 5 1994), 7. M i t Seitenangaben versehene Zitate sind dieser Ausgabe entnommen]. Auch Pascuals Beschreibung seiner Eltern erscheint als Pastiche Quevedos, wie Neuschäfer notiert (Macht, 85). 16 A n die Stillage des Lazarillo de Tormes erinnern die zahlreichen proverbialen Wendungen und der derbe H u m o r i n Pascual Duartes Erinnerungen. So etwa in dem K o m mentar zu seiner Passion als Angler: » M i mujer, que en medio de todo tenía gracia, decía que la anguilas estaban rollizas porque comían lo mismo que don Jesús, sólo que u n día más tarde« (26). Vgl. auch den Kommentar zur Säuberung des i m Krug m i t Olivenöl ertrunkenen Mario: »A la criatura hubimos de secarle las carnes con unas hilas de lino por

282

Frank Leinen

Pascuals und die emotionslose Darstellung seiner Morde das Vorhaben, eine »pública confesión, que no es poca penitencia« (15) vorzulegen, ironisch unterminiert. Die Vermischung von Ernstem und Heiterem führt ferner dazu, daß die Sprachkomik, welche Bergsons Definition des »mécanique plaqué sur du vivant« 1 7 gemäß aus den permanenten Entschuldigungen für den Gebrauch vergleichsweise unverfänglicher Begriffe wie guarro (21, 26, 49) oder trasero (27, 48) herrührt, mit der detaillierten Schilderung abstoßender Details kollidiert. Dies ist etwa der Fall, wenn Pascual die Leiden seines kleinen Bruders Mario beschreibt: Hacia los mismos días, y vaya usted a saber si como resultas de la mucha sangre que tragó por lo del diente, la salió un sarampión o sarpullido por el trasero (con perdón) que llegó a ponerle las nalguitas como desolladas y en la carne viva por habérsele mezclado la orina con la pus de las bubas [ . . . ] (48)

Vermittelte der picaro durch seine Lebensbeichte ein satirisches Bild der Welt, so entwirft der autodiegetische Erzähler in La familia de Pascual Duarte ein bedrückend düsteres, von individuellem Scheitern, gesellschaftlichen Zwängen und psychischer sowie physischer Gewalt geprägtes Tableau. I m Sinne seiner Verunsicherungsstrategie weicht Cela von den pikaresken Vorgaben auch insofern ab, als bei ihm nicht etwa ein Kleinkrimineller, sondern ein brutaler Kapitalverbrecher und Wiederholungstäter seinen lauteren Charakter und seine U n schuld beteuert. I n dieser Absicht w i r d Pascual nicht müde, den Leser davon überzeugen zu wollen, daß sein Lebensweg unentrinnbar vom Schicksal und dem Willen Gottes vorgezeichnet gewesen sei. 18 Die Massierung entsprechender Äußerungen führt aber zwangsläufig zur Frage nach der freien Willensentscheidung des Individuums, die der Erzähler jedoch aufgrund seiner deterministischen Grundannahmen nicht in Erwägung zieht. Für den Leser hingegen stellt sich angesichts der Schwere der Verbrechen Pascuals die Frage nach dessen Verantwortlichkeit sehr wohl. Ohne in letzter Konsequenz eine novela existencialista zu sein - Camus' UEtranger erschien in demselben Jahr wie La familia de Pascual Duarte - , stellt sich daher das Werk i n ontologischer Hinsicht durchaus als novela existencial dar. 1 9

evitar que fuera demasiado grasiento al Juicio [ . . . ] « (53) sowie den wegen seiner Verständnislosigkeit komischen Vergleich des städtischen mit dem ruralen Verhaltens- und Ehrenkodex (114 f.). Gonzalo Torrente Ballester vertritt eine eher reduktionistische Sicht des Romans, da er annimmt, Celas Erzählabsicht sei visiblemente humorística gewesen. Ferner präsentiere dieser eine »materia tan fantástica como la de Peter Pan« [Panorama de

la literatura 17

española contemporánea (Madrid 1956), 448].

Henri Bergson, Le rire (Paris 1972), 29.

18 Die vermeintlich entlastenden Hinweise auf die tragische Schicksalhaftigkeit seines Daseins bildet ein Hauptmotiv der Erinnerungen Pascuals. Siehe 21, 32 f., 52, 93, 95, lOOf., 102,104,109,127,132,139 und 150.

283

Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte

Die irritierende Kluft zwischen der Schwere der Verbrechen, ihrer undramatischen, sprachlich verharmlosenden Darstellung und dem Verzicht auf eine reflektierende Nachbereitung trägt entscheidend zum Effekt des tremendismo bei, den die Forschung gegen den Widerstand Celas gemeinhin mit La familia de Pascual Duarte verbindet. Z u Recht weist der Autor, der sich einer schablonenhaften Festlegung seines Schaffens und seiner Person stets entziehen wollte, darauf hin, daß die Tradition des tremendismo

bereits mit dem Lazarillo

und

Quevedo einsetzte. D o c h nicht die Literatur, sondern vielmehr die i n ihr abgebildete Realität sei grauenerregend. 20 Celas Text besitzt demzufolge neben der seinskritischen Dimension eine gesellschaftskritische Komponente, welche den tremendismo

der spanischen Wirklichkeit, etwa die Zwänge einer archaisch

wirkenden hombria, die immer wieder Pascuals Handeln motiviert, abbildet. Es wäre nun zu fragen, wie es Cela gelingt, diese irritierenden und die Gegenwart problematisierenden Effekte derart zu vermitteln, daß sein Werk 1942 von der Zensur akzeptiert werden konnte. Eine mögliche A n t w o r t leitet sich aus dem Hinweis auf die intertextuellen Bezüge zwischen La familia

de Pascual

Duarte und Don Quijote ab, den Cela als literarisches Vorbild ansieht, und der inhaltlich wie strukturell La familia

de Pascual Duarte beeinflußte. 21 So lebte

bei Cervantes Alonso Quijano fast fünfzig Jahre als angesehenes Mitglied der Gemeinschaft, bevor er zu dem Ritter von der traurigen Gestalt mutierte, 2 2 und auch Pascual zeigt bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr keine Besonderheiten i n der Lebensführung. Denkbar wäre somit einerseits eine Lesart, welche Celas Protagonisten als verrückten Einzeltäter erfaßt. Andererseits jedoch bietet sich eine Auslegung an, nach welcher die Entwicklung problematischer Verhaltensweisen prinzipiell bei keinem Menschen ausgeschlossen werden kann. I n beunruhigender Weise würde Pascual Duarte hiermit zum Sinnbild für die Unwägbarkeiten der menschlichen Existenz. Eine weitere Parallele zu Don Quijote liegt darin, daß sich Cela der Technik des mediatisierten Erzählens bedient. Sie erlaubt dem Autor, angesichts der franquistischen Zensurpolitik die Verantwortung für den brisanten Inhalt an einen fiktiven Herausgeber zu delegieren und ein polyperspektivisches, den eige19

So die vorherrschende Meinung der spanischen Literaturkritik. Siehe Jürgen Siess, »Ansätze zum >existentialistischen< Roman in Spanien«, Iberoromania, 35/36 (1992), 5065, hier 51. 20 Camilo José Cela, »Sobre los tremendismos«, Obra Completa , Bd. 12 (Barcelona: Destino 1989), 17-20, hier 17 f. 21

Cela nennt ferner die poesía burlesca und den Buscón [Santiago Vilas, El humor y la

novela española contemporánea (Madrid 1968), 181]. 22

»Frisaba la edad de nuestro hidalgo con los cinquenta años [ . . . ] « [Miguel de Cervan-

tes Saavedra, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha , Bd. 1 (Madrid: Castalia 5

1991), 71].

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Frank Leinen

nen Standpunkt kaschierendes Spiel mit verschiedenen Erzähl- und Darstellungsebenen zu inszenieren. Hierbei entstehen nach A r t einer mise en abyme zwischen dem Rahmen des Romans und dem Binnentext eine Vielzahl von W i derspiegelungen, die zugleich desorientierend und fesselnd wirken. Vergleichen w i r zur Erfassung dieser Romantechnik die Aussagen der polyphonen und oftmals ambivalent erscheinenden Rahmentexte mit dem Binnentext. Der erinnernden Binnenerzählung Pascuals geht zunächst eine anonyme nota del transcriptor voran, i n der eine moralisierende Lesart der Lebensbeichte des Mörders postuliert wird: El personaje, a m i modo de ver, y quizá por lo único que lo saco a la luz, es un modelo de conductas; u n modelo no para imitarlo, sino para huirlo; un modelo ante el cual toda actitud de duda sobra; u n modelo ante el que no cabe sino decir: » - ¿Ves lo que hace? Pues hace lo contrario de lo que debiera.« (14)

Cela konstruiert den Diskurs des transcriptor

derart konform zu den angenom-

menen Erwartungen des intendierten Lesers, 23 sprich des Zensors, daß er diesem das Argument für eine Zulassung seines Werkes praktisch i n den M u n d legt. I n einer moralisierend-konservativen Perspektive herrscht daher der Rahmentext über den Binnentext, indem die Gewalttätigkeiten und die problematische Zeichnung des Protagonisten dem pädagogischen Ziel untergeordnet werden. I m Gegenzug fällt jedoch auf, daß der Binnentext 4 dazu tendiert, sich v o m Rahmentext zu verselbständigen. Denn i m Unterschied zu den Aussagen des Herausgebers präsentiert sich Pascual in seinen Erinnerungen eben nicht als eindeutig negativer, sondern als problematischer Charakter, dessen N ö t e teilweise sogar nachvollzogen werden können. So etwa, wenn Pascual schildert, wie sehr er unter dem Liebesentzug seiner Mutter, dem frühen Tod seines Sohnes und dem Ehebruch seiner Frau leiden mußte. Der Binnentext erhält mittels der charakterlichen Hybridisierung der Hauptfigur eine Eigendynamik, durch welche er den eindeutigen Interpretationsvorgaben des transcriptor

entgegensteuert. 24

A n die nota del transcriptor schließt sich ein Brief an, den Pascual i n Erwartung seiner Hinrichtung an den Empfänger seiner Lebensbeichte, Joaquín Barrera y López, sandte und i n dem sich der Mörder als reuiger Sünder präsentiert. Dies bestätigt zunächst die Vorgabe des Kopisten, Pascuals Leben als abschreckendes Exempel anzusehen. Der Binnentext freilich löst auch diese Ankündigung nur unvollkommen ein. Nichtsdestoweniger dient ein Verweis auf die bevorstehende Bestrafung des Verbrechers der Beschwichtigung des

23 E r w i n Wolff bezeichnet den intendierten Leser als »Leseridee, die sich i m Geiste des Autors bildet« [»Der intendierte Leser«, Poetica , 4 (1971), 141-166, hier 166]. 24 Diese Wirkung des Binnentextes führt etwa zu dem Urteil Neuschäfers, für den der mehrfache Mörder »an sich kein schlechter Mensch« und »auch nicht unsensibel« ist

(. Macht , 81).

Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte

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Zensors: Hinter der Vorwegnahme des Todes Pascuals steht das Kalkül des Autors, der signalisiert, daß Verbrechen nicht ungesühnt bleiben. Die baldige Hinrichtung des Mörders legitimiert somit die Präsentation seiner problematischen Lebensretrospektive. A u f den Brief folgt ein Auszug aus dem Testament Barreras, der den Text als »disolvente y contrario a las buenas costumbres« (18) beurteilt. Hinter diesem Urteil verbirgt sich erneut Celas rezeptionsstrategisches Doppelspiel: zum einen bestätigt die Aussage i m Sinne einer Rückversicherung die Normen der bürgerlich-konservativen Moralvorstellungen. Z u m anderen spielen jedoch dieselben Informationen mit dem Enthüllungscharakter der Erinnerungen. Durch das Miteinander von rückversichernder Beschwichtigung und gleichzeitiger Aufbereitung als Sensation schafft Cela die Voraussetzung dafür, daß sein Roman mehrere Lesarten anbietet. 25 Auch die zum Binnentext hinführende Widmung Pascuals, die sich an sein letztes Opfer, den Grafen Jesús González de la Riva richtet, dient sowohl der Hervorhebung der Reue des Täters als auch der Fortentwicklung des Spannungselementes. Nach den Erinnerungen Pascuals schließen eine otra nota del transcriptor zu Geschichte und Lücken des Manuskriptes sowie die Briefe zweier Zeugen der Hinrichtung des Protagonisten den Rahmen ab. Indem diese beiden Augenzeugen, ein Priester und ein Gefängniswärter, Pascuals Verhalten i n widersprüchlicher Weise beurteilen, greifen sie resümierend den ambivalenten Charakter der einführenden Rahmenteile, doch auch der Lebensgeschichte auf. Für den Gefängnisgeistlichen präsentiert sich Pascual als von den Lebensumständen zu seinen Taten getriebener reuiger Sünder, der sein Ende fast wie ein Heiliger erwartet habe. Demgegenüber ist der Mörder für den Gefängniswärter ein Verrückter, der feige und schreiend vor Angst in den Tod gegangen sei. Der Roman stellt somit den Leser hinsichtlich der Persönlichkeit, der Schuldfrage sowie des Problems der Wahrhaftigkeit der Reue vor ein Rätsel. Die abschließende ratlose Bemerkung des Herausgebers »¿Qué más podría yo añadir a lo dicho por estos señores?« (165) bestätigt die Offenheit des Werkes. Auch die Struktur des Binnentextes, in dem der Protagonist sein Leben erzählt, steht für Celas Poetik der Verrätselung. Besonders markant erscheint das abrupte Ende der Erinnerungen Pascuals nach der Ermordung seiner Mutter, denn der letzte, in der Widmung angesprochene M o r d an dem Grafen D o n Je25 Die Publikumsstrategie des Spaniers erinnert i n dieser Phase des Romans sehr an Alexandre Dumas, der in La dame aux camélias - unter anderem mit Hilfe der Rahmenhandlung - durch die textuelle Ambivalenz den Reiz der Frivolität mit Konzessionen an die offiziellen Moralvorstellungen der bürgerlichen Ordnung kombiniert und hierdurch eine »Abenteuerlichkeit ohne Risiko« gestaltet [Hans-Jörg Neuschäfer, Populärromane im

19. Jahrhundert von Dumas bis Zola (München 1976), 61].

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sús bleibt ausgeblendet. Cela verweigert hiermit dem Leser entscheidende Informationen. Dieses neuartige Verfahren antizipiert die in den fünfziger Jahren durch den französischen Nouveau roman verbreitete Technik des blanc , der Leerstelle. A u c h durch die ansatzweise Auflösung der Chronologie - man denke an die Erschießung der H ü n d i n Chispa am Ende des 1. Kapitels, die bei einem linearen Romanablauf nach dem 10. Kapitel anzusiedeln wäre - findet sich eine Vorwegnahme der Bauprinzipien des Nouveau roman. Bemerkenswerterweise reicht die Parallele noch weiter: wie La familia de Pascual Duarte - die französische Erstausgabe erschien 1948 - möchte Alain Robbe-Grillets aus dem Jahr 1955 stammender Roman Le voyeur den impliziten Leser 2 6 in die Sinnkonstitution des Textes einbinden. Deshalb situiert der französische Romancier einen M o r d in einer Unbestimmtheitsstelle, und wie bei Cela bleibt der Tatbestand nicht definitiv rekonstruierbar. 27 Während Robbe-Grillet jedoch durch gezielte Indizien Verdachtsmomente schafft, beläßt es Cela i n radikaler Weise bei dem desorientierenden blanco. Das Vorhaben der französischen Avantgarde, durch ihren Verzicht auf eindeutige Sinnvorgaben das Lesen zur Lust werden zu lassen - Roland Barthes hob hervor, wie sehr die Dekonstruktion der Semantik den désir und den plaisir am Text fördere 2 8 - , führt Cela bis hart an jene Grenze, an der die Lust i n Frustration umzuschlagen droht. So w i r d beispielsweise i m Zusammenhang mit der Ermordung D o n Jesús' das Wechselspiel zwischen den Sinnvorgaben des Erzählers und ihrer Auslegung durch den Leser aufgrund der Verweigerung selbst rudimentärer Informationen gestört. I n radikaler Weise verweigert der A u t o r dem Publikum die Erfüllung des Wunsches nach Gewissheit, indem er das für die literarische M o dernität wegweisende D i k t u m des französischen Realisten Flaubert, »la bêtise consiste à vouloir conclure«, 2 9 romanhaft umsetzt. Selbst Andeutungen über 26 Wolfgang Iser bezeichnet den impliziten Leser als »die dem Roman eingezeichnete Leserrolle«, das heißt als i m Text verankerte Struktur [Der implizite Leser. Kommunika-

tionsformen de Romans von Bunyan bis Beckett (München 1972), 92]. 27

Robbe-Grillets Roman Djinn verbindet in ähnlicher Weise Elemente des Kriminalromans mit einem desorientierenden Polyperspektivismus und einem Nebeneinander verschiedener Erzählinstanzen. Zudem greift der A u t o r auf die Interaktion von Rahmen- und

Binnentext zurück. [Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints (Paris: Les Editions de M i n u i t 1981)]. 28 Vgl. zu Barthes: Peter V. Zima, Literarische Ästhetik (Tübingen 1991), 276. Es ist ein wesentliches Verdienst der jüngsten Studie des Germanisten Thomas A n z , dem von Barthes und Vertretern der Postmoderne relativ unspezifisch gebrauchten Konzept der durch das Lesen herbeigeführten Lustempfindung durch eine an der Psychoanalyse geschulte Methode schärfere Konturen zu vermitteln [Thomas A n z , Literatur und Lust. Glück und

Unglück beim Lesen (München 1998)]. 29 Brief an Louis Bouilhet (4. 9. 1850), in: Gustave Flaubert, Correspondance , Bd. 1 (Paris: Gallimard 1973), 680. Flauberts letzter Roman Bouvard et Pécuchet dient der A r t i kulation dieser Einsicht. Siehe Vf., Flaubert und der Gemeinplatz. Erscheinungsformen

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den Gang der Geschehnisse werden dem Leser versagt, so daß Celas Roman die moderne Erfahrung eines Referenzverlustes 30 sinnfällig werden läßt. Die Ursachen des blanco bleiben daher i m Dunkeln. Hat Pascual sein Manuskript willentlich abgebrochen, oder wurde er durch die Vollstreckung des Todesurteils hierzu gezwungen? Die Bezüge zwischen Binnentext und Rahmen erlauben auch die Annahme, daß der letzte Teil der Memoiren Pascuals verlorengegangen ist, da diese durch mehrere Hände gingen, bevor sie in den Besitz des Kopisten gelangten. Schließlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß sie einer in der Fiktion angesiedelten Zensurmaßnahme zum Opfer fielen, da sich der transcriptor i n seiner einleitenden N o t i z wie selbstverständlich das Recht vorbehält, Pascuals Manuskript zu kürzen und zu schönen: H e preferido, en algunos pasajes demasiado crudos de la obra, usar de la tijera y cortar por lo sano [ . . . ] (13)

Der beschwichtigende Zusatz, die Auslassungen seien nur unwesentlich, vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß dem Leser absichtlich Informationen vorenthalten werden. Zwar gibt der Kopist und Herausgeber nach der Wiedergabe der Memoiren Pascuals in seiner otra nota vor, eifrig nach dem Fortgang des Manuskriptes gesucht zu haben, doch läßt ein Stilbruch an der Glaubwürdigkeit dieser Aussage zweifeln: Bemühte sich der transcriptor bislang stets u m einen sachlichen Tonfall, so schildert er nun seine angebliche Suche nach dem fehlenden Manuskriptteil i n einem schwadronierenden, pedantischen und in seiner gekünstelten A r t bemüht wirkenden Stil. 3 1 Daß der Herausgeber und Zensor darüber hinaus den fehlenden Manuskriptteil möglicherweise am falschen O r t sucht, ergibt sich nur bei näherem Hinsehen. Zwar fand er die ihm vorliegenden Kladden Pascuals zufälligerweise in der Apotheke Benigno Bonillas in Almendralejo, doch heißt dies nicht, daß hier auch die fehder Stereotypie i m Werk Gustave Flauberts (Frankfurt a. M a i n et al. 1990), 212. Pascual formuliert als Stellvertreter des Autors die Einsicht: »Las cosas nunca son como a primera vista las figuramos, y así ocurre que cuando empezamos a verlas de cerca, cuando empezamos a trabajar sobre ellas, nos presentan tan raros y hasta tan desconocidos aspectos, que de la primera idea no nos dejan a veces ni el recuerdo [ . . . ] « (108). 30

Henri Lefebvre prägt zur Charakterisierung des problematischen Weltbewußtseins

den Begriff der chute des référentiels

[La vie quotidienne dans le monde moderne (Paris

1968), 209 ff.]. 31 »A la botica le di la vuelta como un calcetín; miré hasta en los botes de porcelana, detrás de los frascos, encima - y debajo - de los armarios, en el cajón del bicarbonato . . .

Aprendí nombres hermosos - ungüento del hijo de Zacarías , del boyero y del cochero , de pez y resina , de pan de puerco, de bayas de laurel, de la caridad, contra el pedero del ganado lanar - , tosí con la mostaza, me dieron arcadas con la valeriana, me lloraron los ojos con el amoníaco pero por más vueltas que di, y por más padrenuestros que le recé a San Antonio para que me pusiera algo a los alcances de m i mano, ese algo no debía existir porque jamás lo atopé« (158).

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lenden Seiten aufzuspüren sein müssen. Der Adressat des Manuskriptes, der Apotheker Joaquín Barrera López, wohnte nämlich in Mérida, wie aus der A n schrift des Briefes hervorgeht, den Pascual ihm sandte. Hier, beziehungsweise bei den Erben Barreras, den Monjas del servido doméstico , hätte der transcriptor sich nach dem Verbleib der fehlenden Teile der Autobiographie erkundigen können - falls er tatsächlich an deren Publikation interessiert gewesen wäre. Für die These einer in der Fiktion angesiedelten Textkürzung spricht auch, daß Pascual den in der Widmung erwähnten Grafen in der Frühphase des Bürgerkrieges tötet. Die Frage nach der potentiellen politischen Brisanz der Tat w i r d somit angerissen, nicht aber beantwortet. Offen bleibt auch, weshalb nach Pascuals Bekunden sein Opfer ihn liebevoll Pascualillo nannte, bevor es von ihm mit einem Lächeln auf dem Lippen den Gnadenschuß - Pascual verwendet i n auffallender Weise das Verb rematar ; nicht etwa matar - erhielt. 3 2 Natürlich kann angenommen werden, daß der Serienmörder Pascual seine Tat lediglich euphemisiert. Dies würde jedoch nur neue Unsicherheiten schaffen, da er die früheren Morde mit bedrückender Sachlichkeit schildert. Sollte die Version des Ich-Erzählers hingegen glaubhaft sein, so wäre allerdings zu fragen, weshalb er aufgrund seiner sich human gebenden Sterbehilfe unter franquistischer Herrschaft zum Tode verurteilt wurde, während man ihn nach dem geplanten und kaltblütig ausgeführten M o r d an seiner Mutter ausgangs der Zweiten Republik begnadigt hatte. Erneut bietet es sich an, die Bestrafung des Verbrechers als Angebot des impliziten A u t o r s 3 3 an den Vertreter der Zensurbehörde zu deuten: Der Franquismus w i r d als Regime präsentiert, das die Rechtsordnung und die gesellschaftliche Harmonie wiederherstellt. Dieser affirmierenden Sichtweise widerspricht allerdings die problematisierende Gesellschaftsdarstellung der Binnenerzählung, welche die ländliche Lebenswelt und die in ihr herrschenden Sozialbeziehungen als statisch, repressiv und von physischer Gewalt beherrscht skizziert. Zugleich deutet sich angesichts der Kombination von Muttermord und Begnadigung während der Republik respektive Sterbehilfe und Todesstrafe unter Franco die Problematisierung der 32 I n der deutschen Fassung des Romans geht diese wichtige Sinndimension leider durch die irreführende Übersetzung von rematar (a un herido ), »einem Verwundeten den Gnadenschuß geben«, als »töten« verloren [Camilo José Cela, Pascual Duartes Familie (München/Zürich: Piper 1990), 11]. 33 I n Zusammenfassung der Definitionen von Wayne C. Booth und Wolf Schmid notiert Hannelore Link: »Diese Gestalt, die w i r als den Urheber sämtlicher Verfahren und Eigenheiten des Textes aus diesem erschließen können, nennen w i r den impliziten oder den abstrakten Autor. Implizit - weil er, anders als der fiktive Erzähler, i m Text nie ausdrücklich auftritt, sondern nur indirekt (aber durchgehend!) anwesend ist. Abstrakt - weil er, als aus dem Text erschlossenes Bewußtsein, nie die konkrete Individualität einer textexternen historischen Person haben kann« [Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme ( S t u t t g a r t / B e r l i n / K ö l n / M a i n z 1976), 21].

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Verhältnismäßigkeit der franquistischen Rechtsprechungspraxis an. Die Leerstelle in Pascuals Erinnerungen kann schließlich auch als Fingerzeig des Autors auf die autocensura der spanischen Schriftsteller interpretiert werden. Zugleich jedoch schafft die Ausblendung der in politischer Hinsicht möglicherweise problematischen Ereignisse die Voraussetzung für eine Publikation des Romans. Cela, der 1943/44 selbst als Zensor tätig war, hütet sich somit davor, die Zwänge der Zensur direkt zu kritisieren. Vielmehr läßt er seinen Text für sich sprechen, indem Fragen und Probleme angedeutet, nicht aber ausgeführt oder gar beantwortet werden. Wenn der transcriptor seine Eingriffe in den Originaltext als positive Maßnahme darstellt, u m den Leser vor intimidades incluso repugnantes (14) zu schützen, so läßt sich dies als willfährige autocensura deuten, welche die staatlich erfolgende Zensur in der Fiktion antizipiert. Z u m anderen w i r d jedoch gerade durch die Benennung der Zensurmaßnahmen des fiktiven Herausgebers die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Existenz einer die Freiheit der Kunst beschneidenden »Schere i m Kopf« des Autors gelenkt. Aufgrund dieser zensierten Einschnitte und des gewollt fragmentarischen Charakters der Retrospektive kehrt Celas Roman das bereits erwähnte Modell des Don Quijote um. I n Cervantes' Roman schätzt sich der fiktive Herausgeber nämlich glücklich, durch einen zufälligen Manuskriptfund die fast vollständige Lebensgeschichte seines Ritters präsentieren zu können. 3 4 La familia de Pascual Duarte hingegen bleibt vermutlich aufgrund des mangelhaften Willens des fiktiven transcriptor; das Manuskript in toto zu veröffentlichen, ein Fragment. A n die Stelle kleinerer UnZuverlässigkeiten des fiktiven moriskischen Ubersetzers bei Cervantes treten bei Cela die gewissenhaften Eingriffe des anonymen Zensors. La familia de Pascual Duarte erhält somit einen höchst prekären A u thentizitätsstatus, denn in dem hybriden Text überschneiden sich die Aussagen des autodiegetischen Erzählers, des Kopisten und Zensors sowie des impliziten Autors derart, daß der Leser nie mit Sicherheit weiß, wer gerade zu ihm spricht und ob er einer Aussage Glauben schenken darf. Der Roman ruft daher zwar als verrätseltes Kunstwerk zur sinngebenden Ausdeutung auf, doch verweigert er jegliche Antwort. Gemäß den Regeln der Autobiographie setzen Pascuals Erinnerungen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Geschilderten eine stillschweigende Ubereinkunft mit dem Leser voraus. 35 I m Zuge seiner Verrätselung unterwandert Cela jedoch diese ohnehin fragile Konstruktion, indem er seinen Ich-Erzähler »el poco orden que llevo en el relato« (45) bedauern läßt. Schon i m Rahmentext 34

Cervantes, Don Quijote, Bd. 1,142 f.

35

Siehe Philippe Lejeune, »Le pacte autobiographique«, Poétique, 14 (1973), 137-162, hier 155 und 160 ff. 19 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

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hatte Pascual angekündigt, daß »nunca fue la memoria m i punto fuerte, y sé que es m u y probable que me haya olvidado de muchas cosas incluso interesantes« (15). Der Binnentext weist somit zugestandenermaßen Erinnerungslücken und Verwerfungen auf, die strukturell dem postmodernen Konstruktionsprinzip der de s fabulador?

6

entsprechen und eine aktive Leserrolle i n den Roman

einschreiben. Zwar beteuert der Mörder durch die Aussage »no he de querer inventar« (45) treuherzig sein Bemühen u m eine wahrheitsgemäße Schilderung, doch bleibt letztlich offen, ob er angesichts seiner einleitenden Wendung »Yo, señor, no soy malo« (21) nicht etwa unliebsame Episoden verschwiegen hat. I n Verbindung m i t den Zensurmaßnahmen des transcriptor

tendiert der Roman

daher zu einer Verrätselung zweiten Grades, da die Erzählabsicht und die Gattungswahl eine Selbstzensur des autodiegetischen Erzählers nahelegen. Cela schafft neue Verunsicherungen, indem der sich erinnernde Pascual die Haltung eines reuigen Sünders einnimmt, während der erinnerte Pascual als gefühlloser, triebgelenkter Mensch erscheint. 37 Der Verstärkung dieses irritierenden Effektes dient die Entpersönlichung des Erzählers, durch welche Cela ein Verfahren radikalisiert, das mit Gustave Flauberts Gestaltung von Madame

Bovary

seinen bisherigen literarischen Höhe-

punkt erreicht hatte. Die stilistische Kunstfertigkeit Celas und ihre irritierende W i r k u n g dokumentiert beispielhaft der darstellungstechnische Vergleich z w i schen der Ermordung des Zuhälters Estirao und der bekannten Sterbeszene Emma Bovarys. Flauberts Erzähler berichtet: Sa poitrine aussitôt se mit à haleter rapidement. La langue tout entière lui sortit hors de la bouche; ses yeux, en roulant, pâlissaient comme deux globes de lampe qui s'éteignent, à la croire déjà morte, sans l'effrayante accélération de ses côtes, secouées par un souffle furieux, comme si l'âme eût fait des bonds pour se détacher. [ . . . ] Une convulsion la rabattit sur le matelas. Tous s'approchèrent. Elle n'existait plus. 3 8

Bei Cela zerquetscht Pascual seinem auf dem Boden liegenden Opfer Rippen und Lunge: Era demasiada chulería. Pisé un poco más fuerte . . . La carne del pecho hacía el mismo ruido que si estuviera en el asador... Empezó a arrojar sangre por la boca. Cuando me levanté, se le fue la cabeza - sin fuerza - para un lado . . . (131)

Der heterodiegetische Erzähler Flauberts liefert eine ausführliche und durchkomponierte, mittels eines gelungenen Vergleichs zusätzlich ästhetisierte Be36 Vgl. Angel Díaz Arenas, Der Abbau der Fabel (»Desfabuladon«) im zeitgenössischen spanischen Roman am Beispiel von Camilo José Cela (Wien 1984). 37

Diesen Aspekt betont Mary A n n Beck, »Nuevo encuentro con La familia de Pascual

Duarte «, in: Rodolfo Cardona (Hg.), Novelistas españoles de postguerra , Bd. 1 (Madrid 1976), 65-88, hier 71 ff. 38

Gustave Flaubert, Madame Bovary. Moeurs de province (Paris: Garnier 1971), 332 f.

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Schreibung der Agonie. Celas Text hingegen vergrößert den Schock des Inhalts dadurch, daß der autodiegetische Erzähler lediglich eine rudimentäre Schilderung verfaßt, die den Eindruck des emotionalen Unbeteiligtseins erweckt. Als Gegenpart zu dem sprachgewandten Erzähler Flauberts erhält Celas Ich-Erzähler durch die Bruchstückhaftigkeit der Informationen, die stilistisch vermittelte Teilnahmslosigkeit und den deplaziert wirkenden Vergleich monströse Züge. I m Unterschied zu Flaubert, bei dem der Rezipient lediglich angehalten ist, die detaillierte Vorgabe der Szene vor seinem inneren Auge zu rekonstruieren, verlagert sich bei Cela dank der reduzierten Abbildungsfunktion des Textes die Erfahrung des Grauens unmittelbar i n die Phantasie des Lesers. U m es in der Terminologie Ingardens zu formulieren, bereitet Flaubert seine schematisierten Ansichten in Madame Bovary in einem wesentlich höheren Maße vor. 3 9 Celas Darstellungstechnik hingegen verbindet die Problematisierung seines Protagonisten mit der Steigerung des Betroffenheitseffektes, indem er Unbestimmtheitsstellen schafft, hiermit eindeutige Sinnvorgaben verweigert und die Konkretisation des Geschehens weitestgehend auf die Leserseite verlagert. Die durch den i m Rahmentext enthaltenen Brief Pascuals und den Beginn der Erinnerungen geschaffene Erwartungshaltung des Lesers w i r d enttäuscht, indem Pascual bei seiner Schilderung kein Zeichen der Reue zeigt. H i n z u kommt, daß die geschilderte Episode wie auch die übrigen Morde oder Tötungen von Tieren in einem blanco endet, bevor i m nächsten Kapitel eine neues Geschehen einsetzt. Auch die immer grausameren Bluttaten in der zweiten Hälfte der Retrospektive tragen zur Verrätselung des Charakters Pascuals bei, indem sie dissonante Kontrapunkte zu dem u m Verständnis bemühten Anfang setzen. Besonders deutlich w i r d dies i m Fall des grausamen Muttermordes, den Pascual i m nachhinein zu rechtfertigen sucht, indem er ihm seiner irrationalen Weltsicht entsprechend exorzistische Züge vermittelt. Nachdem Pascual dem Leser mit dem Vermerk »mi arrepentimiento no menor debe ser que el de un santo« (60) sein positives Selbstbild vermitteln wollte, bewirkt die Skizzierung seiner Mutter ungewollt einen gegenteiligen Effekt. Er vergleicht sie mit einer bruja (142), erwähnt ihre malas artes (149) und schafft durch ihre Dämonisierung 4 0 die Voraussetzung dafür, die Verantwortung für sein vermeintlich unabwendbares Schicksal sowie seinen unglücklichen Lebensweg - und letztlich seine Morde auf die Frau zu projizieren. Der Mörder stilisiert sich zum Opfer der Machenschaften seiner Mutter: 39 Ingarden verwendet den Begriff der »Parathaltung« (Das literarische 282 f.).

Kunstwerk,

40 Bei seiner Schilderung des Kampfes mit dem Opfer bestätigt die Wortwahl dieses Vorhaben: »La condenada tenía más fuerzas que u n demonio« (156). Schon während der Geburt Rosarios habe die Mutter wie eine Besessene geschrien (34).

19*

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Me quemaba la sangre con su ademán, siempre huraño y como despegado, con su conversación hiriente y siempre intencionada, con el tonillo de voz que usaba para hablarme, en falsete y tan fingido como toda ella. (149) D a sein V a t e r längst gestorben ist, m a c h t Pascual ausschließlich die M u t t e r f ü r seine V e r f e h l u n g e n v e r a n t w o r t l i c h , z u d e n e n er a u f g r u n d seiner e r e r b t e n char a k t e r l i c h e n A n l a g e u n d seiner P r ä g u n g d u r c h das M i l i e u u n a u s w e i c h l i c h gez w u n g e n w o r d e n s e i . 4 1 A l l e i n die E r m o r d u n g der v e r h a ß t e n F r a u , die m a r k a n terweise als einzige F i g u r des R o m a n s a n o n y m b l e i b t , e r m ö g l i c h t es aus Pascuals Perspektive, sich v o n der M a c h t ihres b ö s e n B l i c k e s , der i h n i m m e r w i e der a u f sein Scheitern als F a m i l i e n v a t e r u n d M a n n z u r ü c k w i r f t , z u b e f r e i e n . 4 2 W e n n Pascual i n d e m f o l g e n d e n T e x t a u s s c h n i t t aus d e m preterito

der e r z ä h l t e n

V e r g a n g e n h e i t i n das Präsens d e r E r z ä h l g e g e n w a r t w e c h s e l t , so bestätigt dies entgegen seiner Selbststilisierung als reuiger Sünder n o c h i m M o m e n t d e r N i e d e r s c h r i f t das F e h l e n eines S c h u l d b e w u ß t s e i n s : E l día que decidí hacer uso del hierro tan agobiado estaba, tan cierto de que al mal había que sangrarlo, que no sobresaltó ni un ápice mis pulsos la idea de la muerte de m i madre. [ . . . ] La conciencia no me remordería; no habría motivo. La conciencia sólo remuerde de las injusticias cometidas: de apalear un niño, de derribar una golondrina . . . Pero de aquellos actos a los que nos conduce el odio, a los que vamos como adormecidos por una idea que nos obsesiona, no tenemos que arrepentimos jamás, jamás nos remuerde la conciencia. (152 f.)

41 »La verdad es que la vida en m i familia poco tenía de placentera, pero como no nos es dado escoger, sino que ya - aun antes de nacer - estamos destinados unos a un lado y otros a otro, procuraba conformarme con lo que me había tocado, que era la única manera de no desesperar« (32); »No; no podía perdonarla porque me hubiera parido. C o n echarme al mundo no me hizo ningún favor, absolutamente ninguno ...« (155). Die Wendung »echarme al mundo« bildet eine Parallele zu dem von Heidegger durch den Begriff des »Geworfenseins« erfaßten problematischen Lebensgefühl. Hierbei kann es sich allerdings kaum u m eine Anspielung auf dessen Existenzphilosophie handeln, da von Heidegger bis 1942 lediglich Was ist Metaphysikf in spanischer Übersetzung vorlag. Siehe Siess, »Ansätze«, 55. 42 Nach dem Tod seines Sohnes Pascualillo fördern die Vorwürfe seiner Frau Lola und der Mutter das Entstehen des Minderwertigkeitskomplexes. Bei dieser Gelegenheit droht Pascual seiner Mutter erstmals mit dem Tod. A u c h erscheint das M o t i v ihres »bösen Blikkes« als handlungsbestimmender Faktor: » - >E1 fuego ha de quemarnos a los dos, madre.< - >¿Qué fuego?< - >Ese fuego con el que usted está jugando .. .< M i madre puso u n gesto como extraño. [ . . . ] N o entendía; m i madre no entendía. Me miraba, me hablaba . . . ¡Ay, si no me mirara!« (99f.). Vgl. mit »El día llegará y en el día no podríamos aguantar su mirada, esa mirada que en nosotros se clavará aún sin creerlo« (102). A u f das mit dem M o tiv des Blickes verbundene Moment der Erniedrigung verweist Hans Rudolf Picard, »Narrative Präsentation zwischen Fiktion und Wirklichkeit in C. J. Celas La familia de Pascual Duarte - Die sinnkonstituierende Leistung der Beziehung zwischen Rahmen und Text«, in: Dieter Kremer (Hg.), Aspekte der Hispania im 19. und 20. Jahrhundert. Akten des deutschen Hispanistentages 1983 (Hamburg 1983), 69-76, hier 75.

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Auch die Reaktion nach der Ermordung der Mutter bestätigt den obigen Befund, da Pascual seiner Erleichterung und seinem neuen, positiven Lebensgefühl Ausdruck verleiht: »El campo estaba fresco y una sensación como de alivio me corrió las venas. Podía respirar ...« (157). Entgegen dem erwarteten autobiographischen Konfessionsschema und der i m Rahmentext formulierten A n kündigung, Reue zu zeigen, welche i m Binnentext durch den Hinweis auf seine »más profundos remordimientos« (105) erneuert wird, irritiert der unbeteiligte Tonfall des Erzählers. Dementsprechend stehen neben der teilnahmslosen Schilderung seiner Gewalttaten und Morde auch lediglich allgemein moralisierende Sentenzen und Gemeinplätze wie etwa »El vino no es buen consejero« (78) oder »¡Mala cosa es el tiempo pasado en el pecado!« (105). Neben den anfangs erwähnten strukturellen Verwerfungen zwischen Rahmen- und Binnentext kommt es somit in Pascuals Erinnerungen zu Spannungen zwischen der Schaffung einer Erwartungshaltung und ihrer ausbleibenden Einlösung, zwischen Stilführung und Inhalt, Taten und Worten, erzählendem und erzähltem Ich. Hinter dieser widersprüchlichen Semantik des Mörderdiskurses und der Poetik der Unbestimmtheit steht die erzählerische Ironie Celas, welche auf die Verunsicherung des Lesers abzielt und die geltenden Maßstäbe von gut und böse sowie N o r m und Normüberschreitung hinterfragt.

III. Als Fortsetzung der textuellen Verunsicherungs- und Verrätselungsstrategie w i r k t auch die i m folgenden behandelte Animalisierung der Romanpersonen und die Anthropomorphisierung der Tiere, welche erstaunlicherweise trotz ihrer leitmotivischen Bedeutung bislang noch nicht wissenschaftlich erörtert wurden. Dabei ist es auffällig, wie häufig Pascual Tiere als Vergleichsinstanzen zitiert, u m seine Mitmenschen zu charakterisieren. Der animalisierende Verweis erhellt aber nicht nur die Wesensmerkmale der anderen; i n ihm spiegelt sich auch das erzählende Ich mit seiner Sicht der Gesellschaft und seinen Sozialbeziehungen wider. So ist es aufschlußreich, daß Pascual in der Regel mittels der Animalisierung den Mitmenschen negative Eigenschaften zuschreibt. Dies ist etwa der Fall, wenn er den mangelhaften Zivilisationsgrad der Eltern beschreibt: Se llevaban mal mis padres; a su poca educación se unía su escasez de virtudes y su falta de conformidad con lo que Dios les mandaba - defectos todos ellos que para m i desgracia hube de heredar - y esto hacía que se cuidaran bien poco de pensar los principios y de refrenar los instintos [ . . . ] (31) 4 3 43 Das hier am Beispiel der Animalisierung angesprochene Phänomen der Grenzverwischung läßt sich bei den Eltern Pascuals auch i n geschlechtsspezifischer Hinsicht nach-

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Eine vergleichweise positive N o t e erhält Pascuals Beschreibung des Verhaltens seiner Mutter lediglich in einer Passage, als sie wie eine H ü n d i n ihre Welpen die Wunden ihres Sohnes Mario leckt (51). Der Vater des Erzählers w i r d entmenschlicht, nachdem er von einem tollwütigen H u n d infiziert wurde und como un león (46) u m sich schlägt. Rosario, die Schwester des Protagonisten, hat wie dieser die schlechten Veranlagungen der Eltern ererbt, denn »si el bien hubiera sido su natural instinto, grandes cosas hubiera podido hacer« (38). Trotz seines relativ guten Verhältnisses zu ihr beschreibt Pascual Rosario daher als »más avisada que un lagarto« (38). Sein geistig und körperlich behinderter Bruder Mario schließlich w i r d derart von seinem animalischen Wesen beherrscht, daß er kaum noch menschliche Züge trägt und wie ein Tier behandelt w i r d . 4 4 N o c h i m Tod erleidet Mario, der i n einem mit Olivenöl gefüllten K r u g ertrinkt, eine Entmenschlichung, da seine Haltung an eine »lechuza ladrona a quien hubiera cogido un viento« (52) erinnert. 4 5 Das M o t i v der Animalisierung setzt sich fort, wenn der Protagonist nach dem Tod Pascualillos die ihn umgebenden Frauen mit Krähen (94) vergleicht; Lola, die sich i n diesem Zusammenhang i h m gegenüber wie »una leona atacada« (96) und »fiera como un gato montés« (98) verhält, erscheint i h m sodann »ruin como las culebras« (101). U m den Kampf mit seiner Mutter, die medio machorra (34) sei, zu beschreiben, greift Pascual auf die Wendung »rugíamos como bestias« (156) zurück. Als er schließlich der Frau wie einem Schlachttier die Kehle durchschneidet und ihr Blut in sein Gesicht spritzt, bemerkt er, daß es denselben Geschmack wie »la sangre de los corderos« (157) besitzt. Offenbar gelten i n Pascuals Umgebung die rauhen Gesetze des Hobbes'schen Naturzustandes, denn die am Rande der A r m u t lebenden Menschen »arrugan el ceño como las alimañas por defenderse« (21). Wenn Pascual durch die Technik des animalisierenden Vergleichs seinen Mitmenschen i n der Regel die Eigenschaften räuberischer, abschreckender oder ekelerregender Tiere zuteilt, so verweist dieses auf eine tiefe Störung der Sozialkontakte und das Phänovollziehen, da sich bei beiden männliche und weibliche Merkmale verbinden. So heißt es vom Vater: »tenía un carácter violento y autoritario para algunas cosas, era débil y pusilánime para otras« (33). Die Mutter ist gewalttätig und wasserscheu, sie flucht, trinkt und trägt einen »bigotillo cano por las esquinas de los labios« (30 f.). 44 »no pasó de arrastrarse por el suelo como si fuese una culebra y de hacer unos ruiditos con la garganta y con la nariz como si fuese una rata« (48); »pasábase los días y las noches llorando y aullando como un abandonado, y como la poca paciencia de la madre la agotó cuando más falta le hacía, se pasaba los meses tirado por los suelos, comiendo lo que le echaban, y tan sucio que aun a mí que, ¿para qué mentir?, nunca me lavé demasiado, llegaba a darme repugnancia« (49). 45 Für den spanische Literaturkritiker Antonio Iglesias Laguna w i r d der Junge sogar zum Objekt, da er an einen in O l eingelegten queso manchego denken lasse [Antonio Igle-

sias Laguna, Treinta años de novela española 1938-1968, Bd. 1 (Madrid 21970), 226].

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men der Entsolidarisierung. Zugleich soll das Darstellungsverfahren die Schuld an seinen unmenschlichen Taten minimieren, denn Pascual scheint überzeugt zu sein, daß die eigene Schuldhaftigkeit sinkt, je enthumanisierter er seine M i t menschen präsentiert. Aus seiner Sicht lebt er als Wolf unter Wölfen und folgt lediglich den Gesetzen, welche die Natur und die Gesellschaft i h m auferlegen. 46 Konventionelle Formen von Liebe und Zärtlichkeit können sich daher nur i n Ausnahmefällen entwickeln, wie i n Pascuals Verhältnis zu Pascualillo. Demgegenüber prägt die Animalität bis i n den Bereich der zwischenmenschlichen Intimität das Verhalten des Protagonisten und der übrigen Romanpersonen. 47 Die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen aber nicht nur bei Pascuals Betrachtung der Mitmenschen. A u c h seine Selbstdarstellung w i r d unw i l l k ü r l i c h und i n hohem Maße von der Animalisierung geprägt. Hierzu trägt maßgeblich seine besondere Empfänglichkeit für Gerüche bei, welche dazu führte, daß ihn schon als K i n d eine tiefe Unruhe befiel, sobald er den i m heimischen Stall herrschenden olor a bestia muerta vermißte: Es extraño pero, de mozo, si me privaban de aquel olor me entraban unas angustias como de muerte; me acuerdo de aquel viaje que hice a la capital por mor de las quintas; anduve todo el día de Dios desazonado, venteando los aires como u n perro de caza. Cuando me fui a acostar, en la posada, olí m i pantalón de pana. La sangre me calentaba todo el cuerpo. Quité a un lado la almohada y apoyé la cabeza para dormir sobre m i pantalón, doblado. D o r m í como una piedra aquella noche. (25 f.)

Die besondere olfaktorische Prädisposition begleitet Pascual sein Leben lang: die Kloake, in der er Aale angelt, ist »maloliente como tropa de gitanos« (26), und er erinnert sich daran, daß E l Estirao seine verbalen Anfeindungen unterstrich, indem er mit seinem Stock i n Thymianbüsche schlug (42). A u c h die negativen Ahnungen, die Pascual bei seiner Hochzeit mit Lola befallen, werden i h m durch seinen olfato (70) zugetragen, und bei der Schilderung seiner Messerstecherei mit Zacarías fällt i h m ein, wie die Felder nach Zistrosen und Thymian dufteten (80). Wie sehr Gerüche die Empfindungen und Wahrnehmungen Pascuals steuern, belegt auch seine Beschreibung des i n der Küche herrschenden Acetylengeruchs, »que tiene un olor acre y agradable que se hunde hasta los nervios, que nos excita las carnes« (101). 46 Celas Menschen- und Gesellschaftsbild gibt die folgende Äußerung wieder: »Hay que ser demasiado ingenuo o demasiado santo para ver con optimismo al hombre, ese lobo que, a diferencia del lobo, mata a bocados a sus congéneres« [Andrés Amorós, »Sin máscara. Conversación con Cela«, Revista de Occidente , N.S. 33 (1971), 267-284, hier 279]. 47 Das M o t i v der Animalisierung findet sich i m Erzählerdiskurs in La colmena in seiner sozialkritischen Facette wieder. Siehe hier etwa die Beschreibung des Zigeunerjungen: »El niño es vivaracho como un insecto [ . . . ] « ; »El niño no tiene cara de persona, tiene cara de animal doméstico, de sucia bestia, de pervertida bestia de corral« [Camilo José Cela, La colmena (Madrid: Cátedra 4951,1991), 107 und 116].

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Die durch den Geruchssinn gestiftete motivische Verbindung von Mensch und H u n d schließt sich, als der Protagonist nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis des Nachts an einem Friedhof vorbeikommt, von irrationalen Ängsten ergriffen w i r d und panisch »como un perro huido« (140) davonläuft. Fühlt sich Pascual hingegen provoziert, rührt sich im Zustand der Erregung »un nido de alacranes« in seiner Brust, und »en cada gota de sangre de mis venas, una víbora me mordía la carne« (125). Gleichzeitig bleibt er »frío como un lagarto« (129), bevor er El Estirao umbringt. Entgegen seinem Namen, der dem Symbol des cordero pascual entsprechend auf den Opfertod Christi sowie den Sanftmut, die Unschuld und Reinheit verweist, verläßt Pascual nicht »manso como una oveja« (133) das Gefängnis von Chinchilla. Das wilde Tier i n ihm hat nicht aufgehört zu existieren, und so führt er es auch auf seine animalische Veranlagung zurück, daß er seine Mutter tötet: - »¡Ves los lobos que tiran por el monte, el gavilán que vuela hasta las nubes, la víbora que espera entre las piedras?« . . . - »¡Pues peor que todos juntos es el hombre!« - »¿Por qué me dices esto?« - »Por nada!« Pensé decirle: - »¡Porque os he de matar!« (100)

Der A u t o r läßt Pascual, der der Überzeugung »el instinto no miente« (151) folgt, als in hohem Maße von Trieben und Instinkten gelenkten Menschen erscheinen. 48 Die Mechanik des unreflektierten Reiz-Reaktions-Schemas w i r d derart gesteigert, daß der Protagonist bisweilen nicht nur wie ein Tier, sondern wie ein Automat reagiert. Diesen Prozeß der Verdinglichung des Subjektes verdeutlicht beispielhaft Pascuals Reaktion auf Rafaels heuchlerische Floskeln nach dem Tod Marios. 4 9 Die starke Trieblenkung des Protagonisten, die ihn sein Herz als eine máquina (62) bezeichnen läßt, gibt auch den ersten Impuls für die Entjungferung Lolas. Der fließende ternäre Rhythmus seiner Schilderung verstärkt hierbei die inhaltliche Wirkung einer unreflektierten Aufeinanderfolge von Reiz und Reaktion: »Las piernas de Lola brillaban como la plata, la sangre me golpeaba por la frente y el corazón parecía como querer salírseme del pecho« (57). Durch Pascuals Schilderung der Ereignisse bricht Cela wie später in La colmena mit der i m katholischen Spanien herrschenden Tabuisie-

48 Auch in La colmena sollte die Trieblenkung des Individuums eine kulturpessimistische Dimension annehmen, wie Wolfgang Matzat vermerkt [»Die Modellierung der Großstadterfahrung i n Camilo José Celas Roman La colmena«, Romanistisches Jahrbuch, 35 (1984), 278-302, hier 292; vgl. 296]. 49

» - ¡Angelitos al cielo! ¡Angelitos al cielo . . . ! - y sus palabras me golpeaban el corazón como si tuviera un reló dentro . . . U n reló que acabase por romperme los pechos . . . U n reló que obedecía a sus palabras, soltadas poco a poco y como con cuidado, y a sus ojillos húmedos y azules como los de las víboras, que me miraban con todo el intento de simpatizar, cuando el odio más ahogado era lo único que por m i sangre corría para él« (54). Später vergleicht Pascual Lola wegen ihrer pünktlichen Niederkunft ebenfalls mit einem Uhrwerk (86).

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297

rung der vermeintlich animalischen Sexualität, welche i n der jüdisch-christlichen Tradition als dem Menschen unangemessene Neigung verdrängt wird. So findet der erste sexuelle Kontakt zwischen dem Protagonisten und Lola auf dem frisch aufgeworfenen Grab Marios statt. Pascual schildert die Szene wie folgt: La mordí hasta la sangre, hasta que estuvo rendida y dócil como una yegua joven . . . - »¿Es eso lo que quieres?« - »¡Sí!« Lola me sonreía con su dentadura toda igual . . . Después me alisaba el cabello. - »¡No eres como tu hermano . . . ! ¡Eres un hombre . . . ! « [ . . . ] La tierra estaba blanda, bien me acuerdo. Y en la tierra, media docena de amapolas para m i hermano muerto: seis gotas de sangre . . . - » ¡ N o eres como tu hermano . . . ! ¡Eres un hombre . . . ! - »¿Me quieres?« »¡Sí!« (58)

Man fühlt sich an Sade und Lautréamont erinnert, wenn Cela i n provozierender Weise die enttabuisierte Hingabe an die Animalität und Sexualität als Quelle des Genusses darstellt. Die i m gesamten Roman problematisierte Animalisierung des Individuums erhält hierbei durch die Kombination von Eros und Thanatos, des animalischen Kampfes der Liebenden und des sinnlichen Genusses eine neue Facette. M i t dem Ziel der Leserverunsicherung und der Verletzung traditioneller moralischer N o r m e n w i r d das animalische und blasphemische Moment durch die Erfahrung einer beiderseitigen sexuellen Erfüllung sublimiert. Cela unterläuft die Annahme einer Überlegenheit des Menschen über das Tier nicht nur durch die Animalisierung seiner Personen, sondern auch mittels der Tendenz, Tiere zu humanisieren. Dieses Verfahren erreicht seinen bizarren Höhepunkt, als ein Schwein Marios Ohren verspeist und die traditionelle Rollenverteilung i n schockierender Weise umkehrt. Der A u t o r bedient sich hierbei des i n der spanischen Literatur seit Galdós erstaunlich beliebten Motives der antropofagia porána.

Es ist anzunehmen, daß ihn vor allem Valle-Incláns Di-

vinas palabras bei der Gestaltung seiner Episode inspirierten, da hier ebenfalls ein geistig Behinderter - freilich nach seinem Tod - einem Schwein als Nahrung dient. 5 0 M i t Ausnahme dieser Episode erfolgt die Humanisierung der Tiere stets aus Pascuals irrationalem Blickwinkel. Menschliches und tierisches Verhalten stehen für den Ich-Erzähler auf der gleichen Stufe. Dies hat zur Folge, daß er i n blinder W u t seine Stute tötet, da sie seine Frau abgeworfen hatte. Lola erlitt hierauf eine Fehlgeburt. Anstatt sich an dem Tier für sein vermeintliches Fehlverhalten zu rächen, hätte Pascual allerdings bei sich selbst die Schuld su50 Vgl. Alfred Rodríguez, »Esbozo de u n tema moderno: la antropofagia porcina«, Papers on Language and Literature , 2,1 (1966), 269-273. Rodríguez erschließt das M o t i v ferner bei Azorín, Lorca und Ayala. Eine weitere mögliche Quelle Celas ist López de Ubedas La picara Justina, da hier ein H u n d die Ohren des toten Vaters Justinas frißt. Siehe D . W. Me Pheeters, »Tremendismo y casticismo«, Cuadernos Hispanoamericanos , 337-339 (1978), 137-146, hier 138.

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Frank Leinen

chen müssen. Immerhin wußte er, daß die scheue Stute während der Hochzeitsreise i n Mérida eine Frau getreten hatte. Dennoch hatte er die schwangere Lola am Ende der Reise alleine nach Hause reiten lassen, u m mit den Freunden ein Wirtshaus zu besuchen. Indem er dem Tier paradoxerweise jene menschliche Reflexionsfähigkeit unterstellt, an der es i h m selbst mangelt, weist er die eigene Verantwortung für das Geschehene von sich und stellt die anthropozentrische Ordnung wieder her. Ahnlich verfährt Pascual mit seiner H ü n d i n Chispa, die aus der Sicht des Protagonisten ebenfalls menschliche Verhaltensweisen an den Tag legt, und mit der er wiederholt das Zwiegespräch und den Blickkontakt sucht (86). D u r c h Aussagen wie »me miraba menos cariñosa«, como suplicante , casi gimiendo , »unos ojos que destrozaban el corazón«, su pena, su inocencia und ese aire doliente (86) werden dem Tier wie keinem Menschen des Romans Gefühlsregungen zugesprochen. Diese Humanisierung bewirkt, daß die rätselhaft anmutende Erschießung des Hundes auf manchen Literaturkritiker erschütternder wirkte als die Ermordung des Zuhälters El Estiraos oder der zur Hexe stilisierten M u t ter. 5 1 Dabei macht gerade die Projektion anthropomorpher Eigenschaften auf das Tier dessen Erschießung nach dem Tod Pascualillos erklärbar: Pascual fühlt sich am Tod seines Sohnes schuldig, da er ihn nicht vor dem mal aire traidor (92) schützen konnte. Als er sich daraufhin nicht nur den Vorhaltungen Lolas, seiner Mutter und Rosarios ausgesetzt sieht, sondern auch Chispa ihn mit der »mirada de los confesores, escrutadora y fría [ . . . ] como si fuese a culparme de algo« (28) anzustarren scheint, entledigt er sich dieses stillen Vorwurfs durch die Tötung der Hündin. Die Bluttat bricht den Blick des Tieres, i n dem Pascual die eigenen Schwächen in unerträglicher Weise widergespiegelt sieht. 5 2 D u r c h seine gewaltsame Tat beendet er den für das menschliche Verhalten typischen heuristischen Prozess, durch den Tieren der spezifischen Motivation des Betrachters entsprechend anthropomorphe Verhaltensweisen zugesprochen werden. 5 3 Erst die Tötung der H ü n d i n stellt den Anthropozentrismus der traditionellen Hierarchie wieder her und läßt das Tier zum objekthaften N e u t r u m werden, von dem keine Gefahr mehr für die labile innere Befindlichkeit Pascuals

51 Diese Reaktion zeigt Luis Iglesias Feijoo, »Introducción a Camilo José Cela«, Insula 518/519 (Feb.-März 1990), 37-40, hier 38. 52

Neuschäfers Urteil, die »unerklärliche Erschießung« Chispas sei »unmotiviert« erfolgt, wäre demnach zu relativieren (Macht, 81). Für Jean-François Chevrier und Christine Maurice präsentiert sich das Tier als »une existence douée d'un regard [ . . . ] , pas encore assez évoluée pour se figurer le monde comme l'homme peut le faire, mais déjà munie de l'apparence de la conscience« [»Une étrange parenté«, Critique , 34, 375-376 (Aug.-Sept. 1978), 838-847, hier 843]. Diese Deutung bestätigt die besondere Qualität des Blickes Chispas. 53

Siehe Drevet, »Nature«, 10.

Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte

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ausgeht. 54 Die Reaktion des Protagonisten weist hierbei erneut eine bemerkenswerte Paradoxie auf: gerade weil Pascual Chispa wie die Stute seinem A n thropozentrismus opfert, w i r k t er als Unmensch. Cela beläßt es jedoch i m Sinne seiner Verunsicherungsstrategie nicht dabei, ausschließlich die tierischen Eigenschaften Pascuals zu präsentieren. Der M ö r der verfügt vielmehr auch über sympathische Züge, er besitzt durchaus H u m o r und strebt nach Emotionen und G l ü c k . 5 5 I m Unterschied zu dem Gefängnisgeistlichen, der i n seinem als Rahmentext zitierten Brief betont, der Mörder sei keine hiena y sondern ein manso cordero (161 f.), widersetzt sich der Binnentext einer derart eindeutigen Auslegung der Hauptperson. Cela entgrenzt das Wesen seiner Figur über die gängigen Darstellungsformen hinaus und richtet den Blick auf üblicherweise verdrängte Merkmale des menschlichen Seins. I m U n terschied zur Fabel, welche i n einer meist willkürlichen anthropozentrischen Perspektive menschliche Eigenschaften i n Tiere projiziert und aus der Distanz heraus das problematische Eigene ästhetisch rezipierbar macht, verkürzt Cela diese Distanz und die Projektionsrichtung i n irritierender Weise durch die Transponierung des Tierischen i n den Menschen. Besitzen die Tierfiguren der Fabel eine Zwischenstellung zwischen den tatsächlichen Eigenschaften des Menschen und denen der Tiere, so erfahren die problematischen Personen Celas als Menschen den Verlust ihres Subjektstatus aufgrund ihrer tierischen Wesens- und Verhaltensmerkmale. Für sie trifft Georges Batailles Definition des Tieres zu, das »comme de Peau ä Pinterieur de Peau« 56 seine Welt unreflektiert als Immanenz und Unmittelbarkeit erfährt. Die Animalität der Personen i n La familia

de Pascual Duarte dient dem A u t o r als Metapher jener Triebregungen,

i n denen sich gesellschaftlich Geächtetes oder überwunden Geglaubtes gewaltsam seine Bahn b r i c h t . 5 7 Cela rührt hierbei an die Botschaft der Genesis, denn

54 Georges Bataille verweist auf diese Bedeutung des Tötens von Tieren: »tuer Panimal et le modifier à son gré n'est pas seulement changer en chose ce qui ne Pétait sans doute pas dès l'abord, c'est définir à l'avance l'animal vivant comme une chose« [Théorie de la religion (Paris: Gallimard 1973), 53]. 55 Vgl.: »Usted me perdonará, pero no puedo seguir. M u y poco me falta para llorar ...« (61 f.); »Me confesé, y me quedé suave y aplanado como si me hubieran dado un baño de agua caliente« (69); »La besé ardientemente, intensamente, con un cariño y con un respeto como jamás usé con mujer alguna, y tan largo, tan largo, que cuando aparté la boca el cariño más fiel había aparecido en mí« (148). 56 Théorie , 25. Bataille fährt fort: »Ii y a bien dans la situation animale l'élément de la situation humaine, l'animal peut à la rigueur être regardé comme u n sujet auquel est objet le reste du monde, mais jamais la possibilité ne lui est donnée de se regarder lui-même ainsi. Des éléments de cette situation peuvent être saisis par l'intelligence humaine, mais l'animal ne peut les réaliser « (a. a. O., 25 f.). 57

I n diesem Sinne deutet Gerhard R. Kaiser die Funktion der Tiermetaphorik i n der literarischen Moderne [»Zur Metaphorik der Moderne«, Synthesis , 10 (1983), 65-77, hier 68].

300

Frank Leinen

Gottes Ordnung w i r d durch die Akzentuierung des Animalischen i m Menschen hinterfragt und die Fragilität des vom Katholizismus und Franquismus geprägten Menschenbildes als Fundament der Gesellschaftsordnung hervorgehoben. 58

IV. Von der Animalisierung und dem Anthropomorphismus ist es nur ein kleiner Schritt zum Grotesken, das durch seine desorientierende und subversive Wirkung ebenfalls zur Verrätselung von La familia de Pascual Duarte beiträgt. Mittels der kalkulierten Offenheit der Konstruktion und der Verrätselung seiner Figuren initiiert Cela ein i m Sinne Bachtins karnevalesk-subversives Spiel mit der Tradition der novela. Zugleich greift die innovative Umkehrung und Entgrenzung der gewohnten Perspektive die in Spanien seit Quevedo i n der Literatur und seit Goya sowie Velazquez in der Malerei etablierte Tradition des Grotesken auf. Gerade die i n La familia de Pascual Duarte nachvollziehbare Vermischung von Menschlichem und Tierischem, doch auch Mechanischem, schafft den beunruhigenden Eindruck des Grotesken und Monströsen. 5 9 I m Unterschied zu Bachtin, der die Gestalt des deformierten Leibes als Ausdruck des Grotesken hervorhebt, 6 0 präsentiert es sich bei Cela wie bei Baudelaire und Poe als psychisches Phänomen. 61 A n die Stelle des befreienden Lachens, mit dem nach Bachtin in der mittelalterlichen Tradition der Lachkultur das volkstümliche Empfinden auf das Groteske reagiert, rückt bei Cela das Entsetzen 58

Die Verunsicherung stiftende Funktion des Tieropfers in der modernen Zivilisation

erörtert Marian Louise Scholtmeijer, Animal victims in modern fiction: From sanctity to sacrifice 59

(Toronto/Buffalo/London 1993), 92.

Siehe Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval Zur Romantheorie und Lachkul-

tur (Frankfurt a. M a i n 1990), 15 und Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Darstellung in Malerei und Dichtung (Reinbek bei Hamburg h 957, 1960), 17 und 84. Pascual bedient sich bei seinen animalisierenden Vergleichen vorzugsweise der nach Kayser v o m Grotesken bevorzugten Schlangen, Eulen und Kriechtiere. Wichtig erscheint Kaysers hinführender Vermerk, der die Tötung Chispas als Befreiungsversuch von der Bedrohung durch das Groteske erscheinen läßt: »Noch der moderne Mensch kann, und selbst in i h m vertrauten Tieren, die Fremdheit des ganz Anderen und eine hintergründige Unheimlichkeit erfahren.« (a. a. O., 135). 60

Bachtin, Literatur,

15 ff.

61

Vgl. Baudelaires Gedicht Crépuscule du soir: »Voici le soir charmant, ami du criminel; / I l vient comme un complice, à pas de loup; le ciel / Se ferme lentement comme une grande alcôve, / Et l'homme impatient se change en bête fauve« [Les Fleurs du Mal (Paris: Bordas 1988), 105 f., hier 105]. E i n Bezug zu Poe tut sich auch durch dessen häufige Verwendung der distanzlosen Erzählform in der ersten Person, die Existenz eines Rahmentextes sowie den fragmentarischen Charakter des Berichtes auf. So in The Narrative of Ar-

thur Gordon Pym ofNantucket oder »MS. Found in a Bottie«.

Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte

301

des modernen Lesers über die Abgründe der menschlichen Seele. Das dem Grotesken eigene Moment des Lachens verschwindet fast völlig und w i r d aufgrund der erzählerischen Ironie zum schwarzen H u m o r deformiert. Gleichw o h l bewährt sich in dem Roman das in der Literatur gängige Gestaltungsmuster der »Angstlust«, 62 welche das Schreckliche aus der Distanz heraus ästhetisch genießbar werden läßt. Dementsprechend dominieren in Celas Werk die aus der Grenzverwischung zwischen dem Tierischen und Menschlichen resultierenden Aspekte des faszinierenden Beängstigenden und des Ungeheuerlichen. Darüber hinaus w i r k t La familia de Pascual Duarte auch grotesk, weil geweckte Erwartungen nicht eingelöst werden, sondern ein Spannungszustand zwischen ihrer Zerstörung und Aufrechterhaltung fortbesteht. 63 Die dem Grotesken eigenen Merkmale der Irritation und Inkongruität, der Distorsion und Deformation, der Disparatheit und Durchbrechung von Erwartungshorizont e n 6 4 hinterfragen die Herrschaft des offiziell propagierten kulturellen und gesellschaftlichen Einheitsdiskurses in Spanien. Zugleich bringen sie die moderne Problematik einer existentiellen Desorientierung zum Ausdruck. I m Gegensatz zum Absurden, das die Sinnlosigkeit der Welt als unveränderbar festschreibt, 65 greift das Groteske bei Cela die geltende gesellschaftliche Sinngebung an und demaskiert mit dem Ziel der Veränderung deren Scheinhaftigkeit. So treten vermittels des Grotesken in La familia de Pascual Duarte mit dem Verbrechen und der Sexualität jene Themen in Erscheinung, welche bislang von den gesellschaftlichen Autoritäten verdrängt worden sind, deren Existenz aus Celas Sicht aber den Charakter der autoritären und patriarchalischen spanischen Gesellschaft nachhaltig prägt. 6 6 Celas Roman hinterfragt die bisher gültigen, Absolutheitsanspruch erhebenden Kategorien der Weltordnung und das offizielle Menschenbild, indem er die dunklen Seiten der Existenz sichtbar macht und

62

Den treffenden Begriff verwendet A n z , Literatur und Lust, 144. Die zur Entwicklung seiner schlüssigen Argumentation methodisch sicherlich hilfreiche Einschränkung auf den Schauerroman w i r k t jedoch i m H i n b l i c k auf die Beschreibung des Phänomens i n der Literatur etwas verkürzend. Aufschlußreich für die Erklärung des Publikumserfolges von La familia de Pascual Duarte sind A n z ' Ausführungen zur Literatur als Spiel mit dem Leser (a. a. O., 33 ff.). 63

Carl Pietzcker definiert in Abweichung von Kayser das Groteske nicht als übergreifende Struktur von Kunstwerken, sondern als Struktur eines Bewußtseinsaktes, »in dem ein Mißverhältnis zwischen einer Erwartung und dem, was sich ihr widersetzt, erfahren wird« [»Das Groteske«, Deutsche Vierteljahrsschrift, 45, 2 (1971), 197-211, hier 201]. 64 Vgl. O t t o F. Best, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Das Groteske in der Dichtung stadt 1980), 1-22, hier 6. 65 66

(Darm-

Vgl. Pietzcker, »Das Groteske«, 207.

Das Verbrechen und die Sexualität bilden nach Pietzcker zentrale Komponenten, aus denen das Groteske seine anarchische Macht bezieht (»Das Groteske«, 208). Beide Themen kehren in La colmena wieder.

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dem Esperpento Valle-Incläns vergleichbar 67 das Groteske aus der ironischen Distanz heraus zum Träger einer sozialkritischen Botschaft gestaltet. 68 Mittels der Technik der grotesk wirkenden Animalisierung rekurriert der Nobelpreisträger auf ein Verfahren, das Umberto Eco in Ii nome della rosa durch die Beschreibung der grotesken Kalligraphien des Mönches Adelmo thematisiert. Dessen Miniaturen vermischen i n einem Psalter Menschliches mit Tierischem und schaffen eine verkehrte Welt, come se al limine di un discorso che per definizione e i l discorso della veritä, si svolgesse profondamente legato a quello, per mirabili allusioni i n aenigmate, un discorso menzognero su un universo posto a testa.. . 6 9

Der subversive Diskurs der animalisierten Welt verselbständigt sich i n Adelmos Skizzen derart, daß der blinde Jorge ihn als Gefahr für den Diskurs der Wahrheit scharf verurteilt. Wie William von Baskerville zu Recht einräumt, vermag ersterer nämlich die vermeintlichen Wahrheiten allegorisch zu kommentieren: »Per ogni virtü e per ogni peccato c'e un esempio tratto dai bestiari, e gli animali si fanno figura del mondo umano.« 7 0 So führt die Animalisierung zu einer verunsichernden Umkehrung des vermeintlichen Wissens, mit der Folge, daß Eco wie auch Cela zur der letzten Wahrheit der Moderne und Postmoderne vordringt, nämlich der, daß es keine Wahrheit gibt. Angesichts der herrschenden Zwänge verbirgt auch der A u t o r von La familia de Pascual Duarte seine Meinung hinter der Ambivalenz des Textes. I n diesem Sinne bedient er sich der desorientierenden Wirkung des Grotesken, welches die herrschenden Vorstellungen vom Menschen, dem gesellschaftlichen Miteinander und der sozialen Ordnung erschüttert, aber nicht radikal negiert. A u f der makro- wie mikrostrukturellen, inhaltlichen wie stilistischen Ebene stellt Celas Roman somit bei einer problematisierenden Lesart viele beunruhigende Fragen. Da La familia de Pascual Duarte dem Leser aber gefällige A n t worten verweigert, entspricht es kaum der Anlage und Intentionalität des Textes, wenn die Forschung etwa bezüglich der Person Pascuals die von Hoyle auf die Formel gebrachte Alternative »is he good or bad?« beziehungsweise »is he

67

Siehe Volker Roloff, »Valle-Inclän und die Aktualisierung der Farce i m Theater der zwanziger Jahre«, in: Konrad Schoell (Hg.), Avantgardetheater und Volkstheater. Studien

zu Drama und Theater des 20. Jahrhunderts

in der Romania (Frankfurt a. Main/Bern

1982), 84-108. 68 Angesichts der zeitgeschichtlichen Situation Spaniens trifft Pietzckers Urteil zum historischen O r t des Grotesken auf Celas Roman zu: »Es kann nur dort auftreten, w o bisherige Weltorientierungen zerbrechen oder zu zerbrechen beginnen und bekämpft werden, aber noch nicht durch neue ersetzt sind« (»Das Groteske«, 211). 69

Umberto Eco, Ii nome della rosa (Milano: Bompiani ^980, 9 1982), 84.

70

A . a. O., 87.

Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte

303

bad or mad?« 7 1 eindeutig zu beantworten versucht oder dem Werk eine ausschließlich psychologisierende, sozialkritische oder ontologische Bedeutung zumißt. Dem dekonstruktivistischen Gestaltungsprinzip des Romans, der Verrätselung von Sinngehalten und der inneren Widersprüchlichkeit des Grotesken entsprechend ist Pascual good, bad u n d mad; die verschlüsselte K r i t i k an der spanischen Wirklichkeit besitzt auch ontologische Dimensionen. Eben aus dieser komplexen Offenheit, welche zugleich einen literarischen Schutzmechanismus gegenüber der Zensur bildet, bezieht La familia de Pascual Duarte seinen publikumswirksamen ästhetischen Reiz. Zudem literarisiert Cela beispielhaft jene Darstellungstechnik, die Baudelaire i m Schaffen Goyas faszinierte: I n seinen Curiosités esthétiques notierte der Kunstkritiker: »Le grand mérite de Goya consiste a créer le monstrueux vraisemblable. Ses monstres sont nés viables, harmoniques. N u l n'a osé plus que lui dans le sens de l'absurde possible.« 72 Celas Strategien der Verrätselung stehen, so meine Überzeugung, Goyas Malkunst in nichts nach.

71 72

Hoyle, Cela, 20. H i e r auch ein ausführlicher Forschungsüberblick (a. a. O., 9-29).

Charles Baudelaire, »Quelques caricaturistes étrangers«, in: ders., Curiosités esthétiques (Paris: Conard 1923), 429-446, hier 439.

»A Negro epic in America« 1 oder ein Versepos für die postkoloniale Welt? Zu Derek Walcotts Omeros Von Christian

Mair

I. Einleitung Die anglophone Karibik ist ein Verband von Inselstaaten und Territorien auf dem angrenzenden Festland Mittel- und Südamerikas, in dem selbst die größeren Länder wie Jamaika, Trinidad und Tobago oder Guyana i m Weltmaßstab gesehen unbedeutende Kleinstaaten sind. Nach dem weitgehenden Verfall der auf das System der Sklaverei gestützten intensiven Plantagenwirtschaft i m Lauf des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Region zu einer Randzone des britischen Kolonialreiches, die je nach Standpunkt des Betrachters als bieder-konservative Provinz, »little England« 2 , oder als »these slums of Empire« 3 erscheint. Dennoch kommt es in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts, noch bevor die einzelnen Territorien ohne größere Konflikte in die politische Unabhängigkeit entlassen werden, zu einer Blüte des literarischen Schaffens, die bis in die Gegenwart andauert. Neben Derek Walcott zählen zumindest noch der aus Trinidad gebürtige V.S. Naipaul und Edward Kamau Brathwaite zu den führenden Gegenwarts1 »Harlem is too big, too lusty, for a sonnet. Say, weVe never had a Negro epic in America,« war die Empfehlung eines Freundes an den afroamerikanischen Lyriker Melvin B. Tolson [1900-1966; zitiert in Franz H . L i n k , Das moderne amerikanische Sonett (Heidelberg 1997), 13]. Da manche Kritiker Walcotts Omeros als das Epos des schwarzen Amerika betrachten, scheint es nicht unangemessen, mit dieser Äußerung aus den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts auf die lange Zeit zu verweisen, seit der der Wunsch nach einem solchen Werk besteht. 2 So der in der Region verbreitete Spitzname für Barbados, den allerdings auch die Einwohner dieser Insel selbst mit einem gewissen Stolz für sich reklamieren. 3

Vgl. »and I, Shabine, saw when these slums of empire was paradise« [Walcott, »The Schooner Flight«, i n Collected Poems 1948-1984 (New York 1986), 346]. Shabine (auch chabin(e), chaben/chabin) ist die französisch-kreolische Bezeichnung für einen Mulatten und dient Walcott als Name für sein alter ego in diesem Gedicht. A u c h Graham Greene verwendet ähnliche Formulierungen, wenn er die spanische Karibik mit der englischen vergleicht. 20 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

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Christian Mair

autoren in englischer Sprache. Die drei - das sei hier nur nebenbei bemerkt repräsentieren auch drei konträre literarisch-ästhetische Programme: Identifikation mit den grundlegenden Werten der Kultur der ehemaligen Kolonialherren i m Fall Naipauls, Anknüpfung an die verlorenen Traditionen Afrikas und Aufspüren ihrer verschütteten Reste bei Kamau Brathwaite und Besinnung auf das kreolische Erbe der Mischkulturen des kolonialen Amerika bei Walcott. Z u den drei genannten Autoren gesellt sich eine Vielzahl weiterer - von W i l son Harris aus Guyana und dem kürzlich verstorbenen Samuel Selvon bis zu einer schnell wachsenden Gruppe talentierter Schriftstellerinnen - , die dem männlichen Blick der ersten Generation eine korrigierende Perspektive hinzufügen (z. B. Lorna Goodison, Olive Senior, Joan Riley). 4 Während in der ersten Phase eigenständigen literarischen Schaffens die Selbstbehauptung der Autoren gegenüber der englischen literarischen Tradition i m Vordergrund stand, mit der man nicht zuletzt durch ein koloniales Bildungswesen vertraut war, das den Blick nach England leichter machte als den auf eine wenige Kilometer entfernte frankophone Kolonie, ist das Hauptkennzeichen der heutigen karibischen Literatur ihre Internationalisierung: Viele jüngere Autoren sind nicht in der Karibik geboren, sondern entstammen den westindischen Einwanderergemeinden Englands, der USA und Kanadas. Selbst viele der in der Karibik geborenen Autorinnen und Autoren leben i n Europa oder den Vereinigten Staaten oder pendeln - wie auch Derek Walcott selbst zwischen ihrer Heimat und einem ihrer literarischen Entwicklung günstigeren Exil. Die Internationalisierung der Literatur spiegelt sich nicht nur in den Wohnorten der Autoren, sondern auch in den Themen und Motiven ihrer Werke wider. Längst nicht mehr ist die englische literarische Tradition der alleinige, oder auch nur der wichtigste Bezugsrahmen. Auch die französischsprachige Literatur der Karibik entfaltete sich in ungünstigen Bedingungen, die mit denen der britischen Kolonien vergleichbar waren, zu hoher Blüte (St. John Perse, Aimé Césaire, Patrick Chamoiseau). Was unter den Bedingungen der kolonialen Separation nur schwer möglich war - nämlich der Blick auf das literarische Schaffen anderssprachiger Nachbarn, die sich denselben Themen und gestalterischen Herausforderungen gegenübersahen - gelingt nun immer öfter und weitet sich auch auf die Literatur Kubas und des übrigen Lateinamerikas aus (die ihrerseits in Gabriel Garcia Marquez einen führenden Vertreter hat, der seine schöpferischen Wurzeln in der kreolischen Mischkultur des kolumbia4 Einen Überblick über die Anfänge und erste Blüte der karibischen Literatur in englischer Sprache gibt Bruce King, West Indian Literature (Hamden 1979); zu neueren Entwicklungen vgl. auch Mary Conde und Thorunn Lonsdale, eds., Caribbean Women Writers (London 1997).

•A Negro epic in America«

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nischen Nordens sieht). U n d so ist es nur folgerichtig, daß Derek Walcott beim Versuch, sich über seine literarische Herkunft Rechenschaft abzulegen, für die Karibik von »one literature i n several imperial languages, French, English, Spanish« spricht. 5 A l l diese literaturgeschichtlichen Entwicklungslinien und Querverbindungen zwischen den drei großen Sprachgemeinschaften 6 können hier nicht i m einzelnen nachgezeichnet werden und werden nur genannt, u m die Darstellung des literarischen Werdegangs Derek Walcotts in einen größeren Kontext einzubetten. Derek A l t o n Walcott wurde am 23. Januar 1930 in Castries, der Hauptstadt der nur 616 k m 2 großen Insel St. Lucia in den Kleinen Antillen geboren. Beide Großväter waren Weiße - ein Engländer aus Barbados und ein Niederländer aus St. Maarten - , beide Großmütter aber schwarz. I n Anbetracht dieses familiären Hintergrunds kann eine gewisse Skepsis Walcotts gegenüber Black Power oder Back to ^4/nc^-Bewegungen nicht verwundern. Einen drastischen Ausdruck findet sein Loyalitätskonflikt i m Gedicht »A Far Cry from Africa«: I w h o am poisoned w i t h the blood of both, Where shall I turn, divided to the vein? I w h o have cursed The drunken officer of British rule, how choose Between this Africa and the English tongue I love. 7

Walcotts Eltern - der bald nach seiner Geburt verstorbene Vater, einfacher K o lonialbeamter, ebenso wie die energische, aber liebevolle Mutter, eine Lehrerin - gehörten der kleinen einheimischen Mittelschicht der kolonialen Spätzeit an. Was später zu seinem künstlerischen Programm werden sollte - die selbstbewußte Integration verschiedenster kultureller Traditionen in einer kreolischen Mischkultur - mag ihm in Ansätzen schon i m Alltag seiner Kindheit und Jugendjahre deutlich geworden sein, denn das kleine St. Lucia ist einer der heterogensten Teile einer Region, die ohnehin in ihrer Gesamtheit durch nichts so sehr zu charakterisieren ist wie durch ihre geographische, sprachliche, ethnische und kulturelle Fragmentierung. St. Lucia hatte i m Verlauf seiner

5 Walcott, »The Antilles - Fragments of Epic Memory: The N o b e l Lecture,« The New Repuhlic (28 December 1992), 29. 6 Die vierte, die portugiesische Literatur Brasiliens, w i r k t auf die Karibik in der Tat weniger ein als die des spanischsprachigen Lateinamerika, wiewohl der Norden Brasiliens in Folklore und ethnischer Zusammensetzung seiner Bevölkerung sicher dem Kulturraum des »Plantation America« angehört, der sich vom Süden der Vereinigten Staaten über den karibischen Archipel bis weit in die angrenzenden Tieflandzonen Mittel- und Südamerikas erstreckt.

7

20*

Collected Poems, 18.

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Geschichte vierzehnmal den Besitzer gewechselt. Deshalb sprach die Mehrheit der Bevölkerung ein französisch-kreolisches Patois und hing dem katholischen Glauben an, während in Walcotts Familie Englisch gesprochen und Gott in der kleinen Methodistengemeinde verehrt wurde. I n der Schule wurden Shakespeare und die viktorianischen Klassiker gelesen, während sich in den Straßen von Castries und noch mehr in den abgelegenen Dörfern der Vulkaninsel zu Walcotts Faszination eine reiche afro-karibische Volkskultur manifestierte - Lieder und Mythen, die er später in seine Dramen aufnahm, ein Heilerwesen und auch andere kultische Praktiken. 8 Als Achtzehnjähriger veröffentlichte er 1948 i m Selbstverlag seinen ersten Gedichtband, 25 Poems. Nach dem Abschluß des Lehramtsstudiums an der University of the West Indies unterrichtete er mehrere Jahre in Jamaika, St. Lucia und Grenada, bevor er sich 1959 i n Trinidad niederließ, w o er als Mitbegründer des Trinidad Theatre Workshop nachhaltigen Einfluß auf das örtliche Theaterleben ausübte. Es entstand ein in seinem Umfang und seiner Qualität beeindruckendes lyrisches und dramatisches Werk, das i m Laufe der Jahre mit fast allen in Frage kommenden Auszeichnungen geehrt wurde - in Auswahl: Stipendien der Rockefeller-, Guggenheim- und McArthur-Stiftungen, Royal Society for Literature Award 1964, Cholmondeley Poetry Award 1970, O B E und Queens Medal for Poetry (1973 und 1988), W. H . Smith Award 1990 und schließlich der Nobelpreis für Literatur 1992. Walcott ist Ehrenmitglied der American Academy and Institute of Arts and Letters. Die wichtigsten Gedichte neben Omeros sind in den Collected Poems 1948-1984 erschienen; eine Auswahl aus seinem dramatischen Schaffen ist in leicht zugänglichen Sammelbäiiden publiziert. 9 Derek Walcott lehrt an der Boston University und lebt abwechselnd in Boston und St. Lucia. Er war dreimal verheiratet und hat drei Kinder. Wie viele andere Kritiker sehe auch ich das 1990 erschienene, in der Erstausgabe 325 Seiten umfassende Versepos Omeros als Kulmination seines dichterischen Schaffens an. 1 0 Einzelne kürzere Gedichte Walcotts mögen insgesamt gelungener und formal vollkommener sein, doch nie vorher oder nachher hat er die leitenden Themen seines Schaffens intensiver und in anspruchsvollerer Komplexität behandelt. 8 Die afrokaribische Volkskultur St. Lucias ist - nicht zuletzt, weil sie ein Hauptforschungsgebiet des Wiener Ethnologen Manfred Kremser darstellt - ausgezeichnet doku-

mentiert. Vgl. Manfred Kremser, Research in Ethnography and Ethnohistory

of St. Lucia,

Wiener Beiträge zur Ethnographie und Anthropologie ( H o r n 1986). 9

z. B. Dream on Monkey Mountain and Other Plays ( N e w York 1971); Errol H i l l , ed.,

Plays for Today (London 1985) mit Walcotts Ti-Jean and his Brothers. 10 Derek Walcott, Omeros (New York 1990). Seit 1995 liegt eine i m großen und ganzen überaus gelungene deutsche Ubersetzung von Konrad K l o t z vor (München).

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I m folgenden werde ich Inhalt und Struktur des Werkes i n einer orientierenden Zusammenfassung kurz darstellen und hierauf die beiden Aspekte des Werkes herausarbeiten, die dafür verantwortlich sind, daß ein an sich anachronistisch erscheinendes Unternehmen, nämlich einer Gruppe ehemaliger englischer Kolonien durch ein Versepos einen Platz in der Weltliteratur zu verschaffen, zum künstlerischen Erfolg werden konnte. Walcott ist es zum einen gelungen, auf der Grundlage des kreolischen kulturellen Erbes der Karibik ein literarisches Meisterwerk zu schaffen, das weder in traditioneller Folklore und antiquarischem Interesse verhaftet bleibt noch in Vereinfachungen verfällt, indem es einzelne der Traditionsströme, die in die kreolische Mischkultur der Region eingeflossen sind, einseitig hervorhebt. Z u m anderen versteht es der Autor, in ein und demselben Werk sowohl ein realistisches Bild des karibischen Alltags der Gegenwart zu geben als auch gleichzeitig universelle Erfahrungen zu gestalten, die für Leser ohne jeden Bezug zur Region bedeutsam sind und sie vielleicht gerade deswegen zu einem besseren Verständnis einer Kultur führen, die manchen bis in die jüngste Vergangenheit als Notlösung, als chaotisch-imitative Vermischung intakter Vorbilder erschien oder zum Stereotyp eines Lebens in sorglos-naiver Sinnlichkeit vor üppiger Tropenkulisse reduziert wurde.

I I . Omeros: Inhalt und Struktur Omeros ist ein Versepos i n sieben Büchern, die in 64 fortlaufend numerierte Kapitel untergliedert sind, die ihrerseits je drei Abschnitte umfassen. Das Versmaß, mit Strophen aus jeweils drei Pentametern, orientiert sich lose an der terza rima der Göttlichen Komödie, wobei der Reim als Mittel der Verknüpfung allerdings eher selten und unsystematisch angewandt wird. Von dieser Grundstruktur weicht nur ein Abschnitt (Buch 4, Kapitel X X X I I I , Abschnitt I I I ) ab, i n dem auf nur wenig verhüllte Weise Autobiographisches, nämlich die Eheprobleme des lyrischen Ich/Walcotts, behandelt wird. Ein reiches Netz von Anspielungen formaler wie inhaltlicher Natur verweist vor allem auf die Epen Homers, auf die schon genannte Göttliche Komödie, auf Joyces Ulysses, aber auch auf Miltons Paradise Lost, auf Shakespeare, Melvilles Moby Dick, auf Gedichte von Tennyson, Emily Dickinson und Hart Crane und viele andere Werke. Legt die Vielzahl der literarischen Vorbilder Epigonenhaftigkeit nahe, muß diesem Eindruck entschieden begegnet werden: Anspielungen sind fast immer indirekt und verfremdet, so daß sie Walcotts Programm eines »kreolisierten« Epos genügen; die Fragmente all der Kulturen, die das Erbe des karibischen Menschen ausmachen, werden wieder zusammengefügt, aber auf eine Weise, die Neues entstehen läßt.

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Es ist viel darüber diskutiert worden, ob Omeros ein Epos ist. 1 1 Walcott selbst neigt dazu, die Frage zu verneinen, da seiner Ansicht nach ein Werk, i n dem das lyrische Ich und seine subjektive Perspektive eine so hervorragende Stellung einnehmen, den Gattungsnormen des Epos widerspreche. 12 Insofern aber nicht nur die Befindlichkeit des lyrischen Ich i m Mittelpunkt steht, sondern auch ein Gründungsmythos einer selbstbewußten kreolischen K u l t u r geschaffen wird, ist die Bezeichnung gerechtfertigt. Wie es Walcott wiederum selbst ausdrückt: There is a force of exultation, a celebration of luck, when a writer finds himself a w i t ness to the early morning of a culture that is defining itself, branch by branch, leaf by leaf, in that self-defining dawn, which is why, especially at the edge of the sea, it is good to make a ritual of the sunrise. Then the noun >Antilles< ripples like brightening water, and the sounds of leaves, palm fronds and birds are the sounds of a fresh dialect, the native tongue. The personal vocabulary, the individual melody whose meter is one's biography, joins i n that sound, w i t h any luck, and the body moves like a walking, a waking island. 1 3 .

I m Werk selbst findet sich der folgende Hinweis - nach einer Schilderung der unmenschlichen Leiden, die den Afrikanern i n Sklavenforts und während der Uberfahrt nach Amerika, der Middle Passage, zugefügt wurden: »They crossed, they survived. There is the epical splendour.« 14 Was die Sprache des Werkes betrifft, ist w o h l eine gewisse Opulenz i m Stilistischen sein hervorstechendster Zug. Diese äußert sich i n der Verwendung seltenen und gehoben-poetischen Vokabulars, i n äußerster Genauigkeit bei der Benennung von Tier- und Pflanzenwelt, aber auch i n der kontrapunktischen Verwendung von Elementen aus der kreolischen Umgangssprache, aus Gruppensprachen oder außerkaribischen Dialekten des Englischen, und schließlich auch in einer Neigung zum Wortspiel. 1 5 Übersetzt i n die Fachterminologie der 11 Die wichtigsten Argumente aus der - besonders seit der Verleihung des Nobelpreises an Walcott i m Jahre 1992 kaum mehr übersehbaren - Diskussion finden sich i n Robert D . Hamner, Epic of the Dispossessed: Derek Walcott's Omeros (Columbia & London 1998), bes. 30 ff. 12 »I think any w o r k in which the narrator is almost central is not really an epic.« Zitiert in Hamner, Epic, 33. 13

»Antilles,« 31.

14

Omeros , 149.

15

Schon die Widmung, die dem Werk vorangeschickt ist - »For m y shipmates in this craft, for m y brother, Roderick, & for Roger Straus« - stimmt den Leser diesbezüglich ein. (Dieses spezielle Wortspiel kehrt i m übrigen in leicht abgewandelter Form mehrmals i m Werk wieder - z. B. auf 291). Manchmal überwiegt das naiv-spielerische Element: »I going in seine,« äußert der Meeresgott i m Tropensturm, und Walcott fügt entschuldigend hinzu, »then throwing up at his purr,« (52 f.). O f t aber verbirgt sich hinter dem Spiel eine vielschichtige Aussage: »They were Greek to her, or old African babble,« denkt

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Sprachwissenschaft heißt dies, daß der A u t o r sich bereitwillig einer großen Zahl stilistischer Register und regionaler und sozialer Varietäten bedient, die ihm eine reich ausdifferenzierte Weltsprache wie das heutige Englisch zur Verfügung stellt und innerhalb dieser Vielfalt auch seiner individuellen sprachlichen Kreativität breiten Raum läßt. Er stellt sich damit diametral gegen jene Schulen der modernen Lyrik/Versdichtung, die i m Geiste einer »Minimal Art« die Ästhetik sprachlicher Kargheit pflegen. Was Klaus Martens, einer seiner deutschen Übersetzer, über die Sprache seiner kürzeren Gedichte sagt, trifft somit auch auf Omeros zu. Die englische Sprache werde von Walcott nicht mit Einsprengseln aus Sprachen seines Archipels lediglich farbig angereichert. Keine sprachlichen Sternäpfel als bloße Verkaufsschlager zwischen dem Dörrobst. [ . . . ] Das Ergebnis ist bei Walcott die kontrollierte Fülle seiner bildhaften Sprache, die den an nördlicher Kargheit geschulten Leser des Angloamerikanischen (und des Deutschen) geradezu mit Eindrücken überhäuft, ihn - zu Recht - dazu bringt, nach mediterranen Analogien zu suchen. 16

I n anderen Worten: Walcott (und andere) haben eine karibische Literatursprache geschaffen, die sich vom britischen Modell emanzipiert und dennoch ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Amerikanischen gewahrt hat. Die Ubernahmen aus den kreolischen Volkssprachen der Region, über die weiter unten noch zu reden sein wird, verleihen dem Werk eine besondere sprachliche Note, tragen seine sprachliche Selbständigkeit aber nicht allein. Nach diesen einleitenden Bemerkungen über die Form und den Stil des Gesamtwerkes möchte ich die wesentlichen Erzählstränge zusammenfassen.

1. Buch (Kapitel I - X I I I ) . Hauptschauplatz ist die Insel St. Lucia. Nach und nach werden die wichtigsten Figuren der Handlung eingeführt: Achille, Hector und Philoctete, die Fischer; Helen, Achilles Geliebte, die ihm von Hector streitig gemacht wird; Sergeant-Major Plunkett, der nach einem Leben i m Dienste des untergegangenen Empire seinen Lebensabend mit seiner irischen Frau Maud i n St. Lucia verbringt. M a Kilman von den unzusammenhängenden Erzählungen des alten Matrosen, Seven Seas. M a n ist geneigt, den Satz (18) i n der üblichen Bedeutung des Ausdrucks be Greek to someone, »wie Kauderwelsch«, zu interpretieren, bis man beim nochmaligen Lesen dahinterkommt, daß Seven Seas, der blinde Erzähler, einer der Vertreter Homers i m Werk ist und M a Kilman die Tradition, der sie ihr Wissen als Heilerin verdankt, nicht achtet oder sie zumindest nicht mehr versteht, wenn sie Formulierungen wie »old African babble« gebraucht. 16

Klaus Martens, »Nachwort«, i n Walcott, Das Königreich

1992), 99.

des Sternapfels (München

312

Christian Mair

2. Buch (Kapitel X I V - X X I V ) . Das Buch eröffnet einen i m Vergleich zum ersten weiteren Horizont. Es beginnt mit einem Rückblick auf das Leben des Midshipman Plunkett, der den Forschungen seines Namensvetters zufolge 1782 in der Battie of the Saints den Tod fand, i n der Admiral Rodney durch seinen Sieg über die französische Flotte St. Lucia wieder einmal für die englische Krone i n Besitz n a h m 1 7 und die Seehoheit Englands i m Atlantik bewahrte. Über Beschreibungen des Alltags der Plunketts i n St. Lucia gelingt der Übergang zu realistisch satirischen Schilderungen der Exzesse der Tourismusbranche und der Absurditäten i m Gefolge der politischen Richtungskämpfe auf der kleinen Insel. Der H o r i z o n t weitet sich am Ende des Buches, als der Fischer Achille i n der gleißenden Mittagssonne einen Hitzschlag erleidet, den er subjektiv als Traumvision des Afrika seiner Ahnen empfindet.

3. Buch (Kapitel X X V - X X X I I ) . Afrika erscheint zugleich als fremdartig und nahe, weil viele seiner kulturellen Traditionen i n gewandelter und fragmentierter F o r m i n der Karibik weiterleben. Die Traumvision Achilles, Reflexionen des lyrischen Ich und Episoden aus dem Erzählstrang »Kampf u m Helen« gehen ineinander über.

4. Buch (Kapitel X X X I I I - X X X V I ) , 5. Buch (Kapitel X X X V I I - X L I I I ) . Diese beiden Bücher stehen i m Zeichen der Reflexionen des lyrischen Ich. Die einzelnen Handlungsstränge sind weitgehend sistiert, und anhand der Reisen und der literarischen Biographie des lyrischen Ich ergeben sich Möglichkeiten, kulturelle Einflüsse auf die Karibik zu erkunden. Anhand der Biographie einer historischen Persönlichkeit, Catherine Weldons, Grenzgängerin und gescheiterte Vermittlerin zwischen den Sioux und den weißen Pionieren, 1 8 w i r d deutlich, daß die Vereinigten Staaten nicht intaktes transplantiertes Europa sind, sondern - so zumindest Walcotts Darstellungsabsicht - zusammen mit Lateinamerika und der Karibik die koloniale »Neue Welt« bilden, i n der die dominante europäische Tradition zwar auf jeweils andere Weise, aber dennoch überall verwandelt wurde.

17

Das letzte »französische« Intermezzo in der Geschichte der Insel fand 1814 sein

Ende. 18

Zu Catherine Weldon vgl. Robert Bensen, »Catherine Weldon in Omeros and The Ghost Dance: Notes on Derek Walcott's Poetry and Drama,« Verse , 11 (1994), 119-125.

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313

6. Buch (Kapitel X L I V - L V ) . Aus der poetischen Selbstreflexion, gipfelnd in der Selbstanklage des Dichters, der sich vorwirft, er liebe »his subjects from hotels« und mache »their poverty m y paradise« ( X L I V ) , gelingt die Rückkehr nach St. Lucia und zur Erzählung. Hector, der Fischer, der sein Boot gegen das Sammeltaxi getauscht hat, stirbt in einem Verkehrsunfall; Sergeant-Major Plunkett, mittlerweile W i t wer, w i r d sich in einer Reihe von mehr oder weniger konfliktträchtigen Zusammentreffen - unter anderem mit dem lyrischen Ich/Walcott - zunehmend seiner prekären Existenz als »British expatriate« in einer sich zunehmend wandelnden ehemaligen Kolonie bewußt, und die Heilerin M a Kilman kuriert Philoctetes Geschwür. 7. Buch (Kapitel L V I - L X I V ) . Die Fäden werden zusammengezogen. Die Erzählung endet gedämpft optimistisch: Achille bleibt seinem ehrlichen Handwerk als Fischer treu. Helen allerdings, wiewohl Mutter von Achilles Sohn, wirft Vorbehalte über Bord und verdingt sich als Kellnerin - angesichts der i m ganzen Werk vielfältig präsenten Anspielungen auf die zersetzende Macht des Geldes und des Tourismus ein schlechtes Zeichen. Plunkett, Repräsentant einer verschwundenen Kolonialmacht, erleidet die größte Demütigung, die einem Kolonialherrn widerfahren kann: »going native.« Anstatt wie bisher den Bewohnern der Insel durch seine archivarischen Studien seine Version ihrer Vergangenheit wiederzugeben, frißt die fremde Kultur der Kolonisierten ihn auf: Der verzweifelte und einsame Witwer findet sich betrunken i m Rumshop Ma Kilmans und bettelt sie darum, ihre magischen Kräfte zu nutzen, u m Maud zumindest als Traumvision wiedererstehen zu lassen. Was die Vereinigten Staaten, die neue politische und w i r t schaftliche Macht, betrifft, macht Prof. Statics (den w i r als Führer einer kurzlebigen Volksbewegung in den politischen Richtungskämpfen, die ein Thema des 2. Buches waren, schon kennengelernt haben) als Saisonarbeiter bei der Zitrusernte in Florida Erfahrungen, die den weitgereisten Seemann Seven Seas zur folgenden tiefsinnigen Bemerkung veranlassen: »Life better there, but not good. That is the trouble w i t h the States« ( L X I I I ) . Das Werk endet mit dem Vers »When he [Achille] left the beach, the sea was still going on« - w o m i t das Meer, das auf so vielfältige Weise die Region und das Schicksal ihrer Bewohner bestimmte, fast zum stillen Mitspieler wird. Die orientierende Zusammenfassung des Werkes, die oben versucht wurde, w i r d seiner Komplexität natürlich in keiner Weise gerecht. Der künstlerische »Mehrwert« des erzählenden Gedichts gegenüber etwa einer Prosaerzählung realistischen Zuschnitts besteht ja gerade darin, daß Ubergänge in der Handlung assoziativ bewerkstelligt werden können, daß Reflexion des lyrischen Ich

314

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und Handlung ineinander übergehen - kurzum, daß viele Szenen gleichzeitig auf mehr als einer Ebene Bedeutung entfalten. Das reiche Detail überraschender Querverbindungen, Verfremdung gewohnter Perspektiven und Uberlagerung der Sinnebenen macht den Reiz des Werkes aus. Als Ganzes, das aus, auf den ersten Blick, nicht zueinander passenden Fragmenten zusammengefügt ist, ist es adäquates Sinnbild der Utopie einer zu sich selbst gekommenen kreolischen Kultur (hierzu näher unten, Abschnitt III). Die Geschichte der einfachen Fischer wiederum fügt sich auf diese Weise so i n den Hintergrund ein, daß die Protagonisten weder zu Darstellern einer exotisch verbrämten folkloristischen Idylle reduziert werden noch zu konstruierten Schablonen oder Sprachrohren theoretischer oder programmatischer Positionen verkommen (dazu unten, Abschnitt IV).

I I I . Die Kreolisierung des epischen Vorbilds in Walcotts Omeros Kreolisierung, die Entstehung einer neuen Kultur nicht durch kontinuierliche Weiterentwicklung oder geordneten Kontakt mit anderen, sondern durch Neukombination der Fragmente von durch Dislokation zerstörten Traditionen, ist ein zentraler Begriff i m theoretischen Denken Derek Walcotts und eines der wichtigsten Gestaltungsprinzipien in Omeros. Vor dem Nachweis dieser Tatsache ist ein Blick auf die Bedeutungsgeschichte des Wortes Kreole bzw. seiner Ableitungen von Nutzen. Ein Blick auf die rasche Entwicklung seiner Bedeutungen während der letzten vier Jahrhunderte w i r d zeigen, daß es aufs engste mit der Kultur und Geschichte der Neuen Welt verknüpft ist und entscheidende Phasen amerikanischer Identitätsbildung widerspiegelt. So gesehen ist es ein Produkt jener letzten großen Konfrontation Europas mit dem absolut Anderen, die von Todorov und Greenblatt so eindrücklich beschrieben wurde. 1 9 Das Wort ist letztendlich portugiesischen Ursprungs, auch wenn nicht alle Details seiner lautlichen Entwicklung geklärt sind, und verbreitete sich von dort rasch i n das Spanische, Französische, Niederländische und Englische. Seine erste Bedeutung läßt sich mit »in der Neuen Welt von eingewanderten oder zwangsverschleppten Eltern geboren« umschreiben, und i n diesem Sinn wurde es einige Zeit ohne Rücksicht auf die rassische Zugehörigkeit der so bezeichneten Person gebraucht. Weiße wie Schwarze konnten Kreolen sein, nicht jedoch die indigene indianische Bevölkerung. Einige frühe Zeugnisse legen nahe, daß das Wort in einem leicht abwertenden Sinn verwendet wurde: Schwarze Kreolen waren Sklaven i m Gegensatz zu ihren frei geborenen Eltern, und weiße Kreolen konnten lange Zeit nicht i n die angesehensten Positionen 19

Tzvetan Todorov, La conquête d'Amérique: la question de Vautre (Paris 1982); Stephen Greenblatt, Marvelous Possessions: The Wonders of the New World (Oxford 1991).

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315

der kolonialen Hierarchien vorstoßen, da diese i m allgemeinen »echten« Europäern vorbehalten waren. Der Terminus bleibt i m wesentlichen auf die tropischen und subtropischen Zonen der amerikanischen Kolonialreiche beschränkt. Weder die Frankokanadier in Quebec noch die Kolonisten i n Neuengland haben sich je als Kreolen bezeichnet - vielleicht, weil in Quebec oder Neuengland Integration verschiedener ethnischer Bevölkerungsgruppen in einem gemeinsamen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht erfolgte. War der Begriff ursprünglich noch neutral in Bezug auf die rassische Zugehörigkeit des so Bezeichneten, änderte sich dies jedoch bald. I n Mexiko engte sich die Bedeutung des Begriffs auf die Bezeichnung der europäisch-spanischen Oberschicht (im Gegensatz zu den Mestizen) ein; in Louisiana sind die Kreolen die Nachfahren der frankophonen Siedler, inklusive der mit ihnen verbundenen ehemaligen Sklaven und Mischlingsbevölkerung, - i m Gegensatz sowohl zur angelsächsisch-nordeuropäischen Bevölkerungsmehrheit als auch zu den später in die Gegend gekommenen Afrikanern. I n Brasilien oder Guyana dagegen bezeichnet der Terminus die Nachfahren der Afrikaner ohne spezielle Einschränkungen. Der nächste Schritt i n der Bedeutungsentwicklung ist die Ausdehnung des Begriffs zur Bezeichnung nicht nur von Personen, sondern auch für die typischen Manifestationen der von ihnen geschaffenen Kultur, wobei Kultur hier i m weitesten Sinn verstanden w i r d - von der Gastronomie (Creole cooking, comida criolla) über Musik bis zur Sprache (z. B. das Creolese Guyanas oder das Krio der Nachfahren der karibischen Rückwanderer in Sierra Leone). Was den heutigen Sprachgebrauch betrifft, ist eine interessante Spaltung zu erkennen. Während der Begriff Creole i m alltäglichen Sprachgebrauch oft trivialisiert erscheint (»Creole beauties in micro-bikinis«) und als Personenbezeichnung zum Teil schon obsolet geworden ist, läßt sich i m wissenschaftlichen Diskurs seit einigen Jahrzehnten eine starke Tendenz zur »emanzipatorischen« Verwendung von Creole bzw. creolisation feststellen. I n der Sprachwissenschaft hat sich Creole als Bezeichnung für die Volkssprachen mit europäischer lexikalischer Basis etabliert und dringt immer mehr in den alltäglichen Sprachgebrauch vor, w o er meist negativ belastete Bezeichnungen wie bad-talk (St. Kitts) oder patois/patwah (Jamaica) verdrängt. Einer der frühesten Belege für die »emanzipatorische« Verwendung des Terminus »Kreolisierung« in Geschichte und Sozialwissenschaft ist Edward Brathwaites bahnbrechende Studie The Development of Creole Society in Jamaica 1770-1820. 20 Brathwaite behandelt zwar die Geschichte Jamaikas in einem 20

(Oxford 1971). Brathwaite ist i m übrigen identisch mit dem eingangs erwähnten Lyriker, dessen Trilogie The Arrivants (1973) das einzige Werk der karibischen Lyrik i n

316

Christian Mair

Zeitraum von 50 Jahren, und das mit einer bewundernswerten Akribie, aber Jamaika ist immer auch Modell für die Region insgesamt. I m 19. Kapitel und i n den Schlußbemerkungen (296-311) definiert Brathwaite die Kreolisierung auf eine Weise, die die Aktualität des Begriffs für die Gegenwart verdeutlicht: T H E single most important factor i n the development of Jamaican society was not the imported influence of the Mother Country or the local administrative activity of the white élite, but a cultural action - material, psychological and spiritual - based upon the stimulus/response of individuals w i t h i n the society to their environment and - as white/ black, culturally discrete groups - to each other. The scope and quality of this response and interaction were dictated by the circumstances of the society's foundation and composition - a >new< construct, made up of newcomers to the landscape and cultural strangers each to the other; one group dominant, the other legally and subordinately slaves. This cultural action or social process has been defined w i t h i n the context of this w o r k as creolization. 2 1 Even more important for an understanding of Jamaican development during this period was the process of creolization, which is a way of seeing the society, not i n terms of white and black, master and slave, i n separate nuclear units, but as contributory parts of a whole. To see Jamaica (or the West Indies generally) as a >slave< society is as much a falsification of reality, as the seeing of the island as a naval station or an enormous sugar factory. Here, i n Jamaica, fixed w i t h i n the dehumanizing institution of slavery, were t w o cultures of people, having to adapt themselves to a new environment and to each other. The friction created by this confrontation was cruel, but it was also creative. 22

I n einem kurzen Seitenblick auf die englischsprachigen Autoren der Karibik versagt sich Brathwaite nicht einen polemischen Seitenhieb auf »the agnostic pessimism of writers like Derek Walcott, Orlando Patterson and Vidia Naipaul,« (309) denen er mangelndes Vertrauen i n die Kraft der stark afrikanisch geprägten volkskulturellen Tradition der Region vorwirft. Es spricht für den Weitblick und den Einfluß Brathwaites auf seine Zeitgenossen, daß Walcott in seinem reifen Werk, das seit den frühen siebziger Jahren entstanden ist, dieser kreolischen Tradition mehr und mehr Raum gegeben hat. A u c h ein weiteres Leitmotiv Walcottschen Denkens findet sich i n Brathwaites Studie vorformuliert: die Unmöglichkeit eines rein europäischen, rein »weißen« Amerika. Brathwaite zieht eine explizite Parallele zwischen der Rolle der Kreolisierung bei der Entstehung der karibischen Kultur und der Frontier-Erfahrung i n N o r d amerika: Turner's vision of the American frontier and its effect on the process of mestizo creolization may be recalled here. >The frontier is the line of most rapid and effective Amer-

englischer Sprache ist, das in seinem Anspruch Walcotts Omeros an die Seite gestellt werden könnte. 21

Brathwaite, 296.

22

Brathwaite, 307.

317

»A Negro epic in America«

icanization. The wilderness masters the colonist. I t finds h i m a European in dress, industries, tools, modes of travel and thought. It takes h i m from the railroad car and puts h i m i n the birch canoe. I t strips off the garments of civilization and arrays h i m i n the hunting shirt and the moccasin. I t puts h i m in the log cabin of the Cherokee and Iroquois and runs an Indian palisade around him. [ . . . ] H e must accept the conditions which [the frontier] furnishes, or perish [ . . . ] the outcome, is not the old Europe [ . . . ] here is a new product that is Americans 2 3

Daß die Synthese aus europäischen, afrikanischen, indigenen und anderen Fragmenten, die sich unter den widrigen Bedingungen der tropischen Sklavenwirtschaft herausgebildet hat, nicht koloniale Mimikry, Mischmasch oder stümperhaftes Epigonentum ist, sondern ein kulturelles Erbe darstellt, das den Menschen der Region einen Weg in eine würdige Zukunft eröffnen kann, gehört mittlerweile zu den intellektuellen Gemeinplätzen in den Diskussionen von Schriftstellern nicht nur der anglophonen K a r i b i k . 2 4 I m Bestreben, einer regionalen Kultur den Weg zu bahnen, die »part African, part European, part Asian, and totally Caribbean« 25 sein soll, sind die Schriftsteller der Gesellschaft jedoch in vieler Hinsicht vorausgeeilt, und so wohnt dem beschriebenen Kreolisierungsdiskurs sehr oft eine utopische Note inne. Anders als etwa V. S. Naipaul, der solchen Überlegungen distanziert gegenübersteht, geht Walcott mit der communis opinio weitgehend konform. Schon i m Jahr 1974, also nur wenige Jahre nach Erscheinen von Brathwaites Studie, zeigt er in »The Caribbean: Culture or M i m i c r y « 2 6 , daß »we were American even while we were British [ . . . ] because we know that America is black, that so much of its labor, its speech, its music, its very style of living is generated by what is now cunningly and carefully isolated as >black< culture, that what is most original in it has come out of its ghettos, its river cultures, its plantations.« 2 7

23 Brathwaite zitiert Frederick Jackson Turner, The Frontier in American History York 1962 [1920]), 3-4.

(New

24

Vgl. in diesem Zusammenhang Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau, Raphael Confiant, Eloge de la créolité (Paris 1989) und zum Stand der Diskussion der Intellektuellen i m allgemeinen J. Michael Dash, »Psychology, Creolization and Hybridization,« i n

Bruce King, ed., New National and Post-Colonial Literatures: An Introduction

(Oxford

1996), 45-58. 25

Rex Nettieford, Inward Stretch, Outward Reach: A Voice from the Caribbean (Lon-

don 1993), xiii. M a n beachte in dieser Aufzählung den entscheidenden Unterschied zum südamerikanischen Festland: das Fehlen des Einflusses der indigenen Urbevölkerung, die in den karibischen Inseln fast überall früh ausgerottet wurde. 26

Nachgedruckt in Robert Hamner, ed., Derek Walcott:

shington, D.C. 1993), 51-57. 27

Walcott »The Caribbean: Culture or Mimicry«, 51.

Critical

Perspectives

(Wa-

318

Christian Mair

Eine solche differenzierte Sichtweise geht, obwohl sie harmloser klingt, weiter als romantischer »Back to Africa«-Separatismus und hat Walcott i n diesen Jahren nicht nur Sympathien eingetragen. Afrika ist zwar nicht das mythische Paradies und der wichtigste kulturelle Orientierungspunkt der Schwarzen i n der Neuen Welt, w i r d aber zu einem der Ahnherrn des ganzen Amerika gleich an Rechten mit Europa. I n seiner Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises greift Walcott zum Bild der zerbrochenen und wieder zusammengefügten Vase und betont, daß die Leistung des späten, »kreolischen« Dichters keineswegs geringer geachtet werden sollte als die des ursprünglichen: Break the vase, and the love that reassembles the fragments is stronger than that love that took its symmetry for granted when it was whole. The glue that fits the pieces is the sealing of its original shape. I t is such a love that reassembles our African and Asiatic fragments, the cracked heirlooms whose restoration shows its white scars. [ . . . ] A n tillean art is this restoration of our shattered histories, our shards of vocabulary, our archipelago becoming a synonym for pieces broken off from the original continent. 2 8

I n diesem Sinn ist karibische Dichtung »not [ . . . ] making but [ . . . ] remaking« (ibid.), und Kreolisierung w i r d v o m Schimpfwort zum utopischen Ziel kultureller Entwicklung. Solche Stellungnahmen vorwiegend proklamatorischen Charakters laufen wie alle literarischen Manifeste Gefahr, eine komplexe kulturelle Wirklichkeit zu vereinfachen und dadurch ebenso einseitigen Widerspruch herauszufordern. Es ist Walcotts große Leistung, der Vielschichtigkeit der kreolischen Erfahrung i n Omeros einen angemessenen literarischen Ausdruck verliehen zu haben. Ich möchte dies am Beispiel der Rezeption einzelner Elemente des antiken Vorbildes näher ausführen. Walcott erzählt die Ilias und die Odyssee nicht einfach neu, indem er die Handlung aus dem ägäischen i n den karibischen Archipel verlegt und seine schwarzen Charaktere - Achille, Hector, H e l e n 2 9 , Philoctete -

Schicksale

durchlaufen läßt, die sich i n eine direkte und einfache Beziehung zum Originaltext setzen lassen. Der Leser kann das Geschehen i n Omeros mit der Ilias und der Odyssee vergleichen und w i r d auf eine Fülle von Parallelen stoßen. Der klassische Philoktetes litt an einem übelriechenden Geschwür, das er sich durch einen Schlangenbiß zugezogen hatte. Walcotts Philoctete leidet am selben Gebrechen, das er 28

»Antilles«, 28.

29

Die Figur der Helen ist in ihren intertextuellen Bezügen ausführlich analysiert worden: vgl. Charlotte S. McClure, »Helen of the West Indies: History or Poetry of a Carib-

bean Realm«, Studies in the Literary Imagination , 26 (1993), 7-20.

»A Negro epic in America«

319

sich als Fischer allerdings durch Hantieren mit rostigen Gerätschaften eingehandelt hat (»made by a rusted anchor«, 4). Philoctete hat aber seine eigene Erklärung für die Wunde: H e believed that the swelling came from the chained ankles of his grandfathers. O r else w h y was there no cure? That the cross he carried was not only the anchor's but that of his race [ . . . ] 3 0

U n d hierfür bietet die homerische Vorlage keine Parallelen. Auch bei Walcott kämpfen Achille und Hector - allerdings nicht u m des Ruhmes willen, sondern u m die Gunst der schönen Helen. Diese wiederum ist nicht mit einer Entsprechung des homerischen Menelaus verheiratet und w i r d auch nicht von einem karibischen Paris entführt (der seinerseits somit auch nicht Opfer Philoctetes werden kann). Für den in der Literatur des Altertums bewanderten Leser mag es zwar reizvoll sein festzustellen, daß Sergeant-Major Plunkett eine Schweinefarm betreibt und daß i m elften Kapitel Geschichte aus der Perspektive Plunketts wie des lyrischen Ich - als Circe personifiziert w i r d ; 3 1 ob Plunkett deshalb als eine Parallelfigur zum treuen Hirten Eumäos gesehen werden sollte, muß allerdings dahingestellt bleiben. A l l diese Inkongruenzen zeigen, daß die philologische Spurensuche bei der Interpretation von Walcotts Werk sehr oft in Sackgassen führt und letztendlich w o h l am Bedeutungskern des Werkes vorbeigeht. Walcott führt uns eine fragmentierte und gebrochene Antike vor - eben diejenige Antike, die i n der kolonialen Lebens weit Amerikas kreolisiert wurde und in die Gegenwart nachwirkt. Dazu gehört, daß die Namen der klassischen Antike den Sklaven gegeben wurden, ebenso wie sie den neuenglischen Bauern - Walcott nennt »Homer and Virg« - dienten. Pegasus w i r d zum Logo einer Olgesellschaft, und selbst der Name des griechischen Dichters w i r d in einem etwas gezwungenen Wortspiel »dekonstruiert«: 32 »O-meros,« she laughed. »That's what we call him i n Greek,« stroking the small bust w i t h its boxer's broken nose, and I thought of Seven Seas sitting near the reek of drying fishnets, listening to the shallows' noise. I said: »Homer and Virg are N e w England farmers, and the winged horse guards their gas-station, you're right.« 30

Omeros, 19.

31

»If History saw them [die Bewohner St. Lucias] as pigs, History was Circe / w i t h her schoolmaster's wand« (64). 32 Der folgende Abschnitt wurde an anderem O r t einer metrischen Analyse unterzogen, vgl. Geert Lernout, »Derek Walcott's Omeros: The Island is Full of Voices;« Kunapipi, 14(1992), 90-104, hier 91 f.

320

Christian Mair I felt the foam head watching as I stroked an arm, as cold as its marble, then the shoulders in winter light i n the studio attic. I said, »Omeros,« and O was the conch-shell's invocation, mer was both mother and sea in our Antillean patois, os, a grey bone, and the white surf as it crashes and spreads its sibilant collar on a lace shore. Omeros was the crunch of dry leaves, and the washes that echoed from a cave-mouth when the tide has ebbed. The name stayed in m y mouth. I saw how light was webbed on her Asian cheeks, defined her eyes w i t h a black almond's outline, as Antigone turned and said: »I'm tired of America, it's time for me to go back to Greece. I miss m y islands.« 33

Das Muschelhorn (»the conch-shells invocation«) ist das Instrument, mit dem die Sklaven zur Arbeit gerufen wurden, mit dem sie sich aber auch bei Aufständen untereinander verständigten. Die Erwähnung des französischkreolischen Wortes mer weist darauf hin, daß Einflüsse von mehr als einer europäischen Kolonialmacht an der Herausbildung der Volkskultur St. Lucias beteiligt waren. Das lateinische Wort os hängt in der Luft - ein deplaziertes Fragment und vielleicht Verweis auf das beharrende Wesen des kolonialen Bildungssystems, das Walcott in den fünfziger Jahren an der University of the West Indies ein Studium der Klassischen Philologie ermöglichte. Ein äußerst indirekter Bezug zur homerischen Vorlage kennzeichnet, wie oben bereits kurz angedeutet, auch die Figur der Helen. Helen, die weibliche Hauptfigur des Werks, heißt Helen nicht, weil damit ein direkter Bezug zu Homer hergestellt werden soll, sondern weil St. Lucia eine Zeitlang »St. Helena« hieß und später, als die Insel heftig von Frankreich und England umkämpft wurde, bildhaft als »Helen of the West Indies« bezeichnet wurde. Die Insel ist Objekt der Erkenntnislust von Sergeant-Major Plunkett in seinen amateurhistorischen Streifzügen durch ihre Geschichte, und die junge schwarze Frau Helen ist Objekt seiner ihm selbst nur halb bewußten sexuellen Begierde (z. B. Kap. X V I I I , Abschnitt I). Von solchen Zusammenhängen ist im homerischen Text naturgemäß nichts zu erfahren. Walcotts Gedanken blitzen dort am klarsten auf, w o er mit dem antiken Vorbild am spielerischsten umgeht - etwa i n der Szene (p. 51-54), in der die Naturgewalt eines tropischen Wirbelsturms geschildert werden muß, 3 4 was Walcott 33 34

Omeros, 14.

Eine Herausforderung, der sich die großen europäischen Dichter nicht gegenübersahen und zu deren Lösung die europäische literarische Tradition nichts beitragen kann -

»A Negro epic in America«

321

unter anderem dadurch versucht, daß er Hephaistos m i t seinem westafrikanischen Pendant O g u n i m Wolkenhimmel einen ordentlichen R u m trinken läßt der übliche regionale Ausdruck dafür ist passenderweise »fire one«. A u c h zufällige Lautgleichheit v o n Namen - Calypso, die N y m p h e , und Calypso, volkstümlich-satirische Gesangsgattung Trinidads - werden auf erfindungsreiche Weise zusammengebracht (z. B. i n Kap. X L ) . Letztendlich geht es u m die zentrale Frage der schöpferischen Eigenständigkeit des Omeros. M a n kann eine Erwähnung der M y r m i d o n e n (10) nur i n Bezug auf H o m e r lesen, aber was, wenn Walcotts Achille sich die Ferse an einem Dornstrauch verletzt (6, auch 148)? Haben w i r es dann mit einer epigonenhaften literarischen Anspielung oder gar einer Trivialisierung eines großen Vorbilds zu tun? Oder erzählt Walcott eine Begebenheit aus dem Leben seiner karibischen Hauptfigur, die für sich selbst steht und auch so interpretiert werden muß? Dies ist eine Frage, die das Werk hier und bei hunderten anderer Fälle von Appropriation fremder Elemente stellt, und dies ist die zentrale Frage beim Verständnis und der Bewertung der kreolisierten K u l t u r der Karibik. Walcott selbst sagt dazu - wiederum i m B i l d der zerbrochenen und wieder zusammengefügten Vase: This gathering of broken pieces is the care and pain of the Antilles, and if the pieces are disparate, ill-fitting, they contain more pain than the original sculpture, those icons and sacred vessels taken for granted in their ancestral places. 35

Gegen Ende des Werkes entschlüpft dem lyrischen Ich die Bemerkung, er habe Homers Werk nicht »all the way through« (283) gelesen. Dies sollte nicht zu ernst genommen werden, da Walcott fast gleichzeitig m i t der Arbeit an Omeros eine Bearbeitung der Odyssee für das Theater geschaffen hat, die sich recht eng an die homerische Vorlage hält und i m übrigen schon in vielen seiner älteren Gedichte auf Homers Werk Bezug genommen hat. 3 6 Für den Leser allerdings ist die Bemerkung ein warnender Hinweis: Gegenstand des Interesses ist nicht der »Originaltext« Homers, sondern diejenigen Aspekte des Originals, die i m Transformationsprozeß der Kreolisierung i n Amerika eigenständige Bedeutung gewannen. N i c h t Nachahmung, sondern Aneignung und Anverwandlung des Vorbilds ist der Grundimpuls v o n Walcotts künstlerischem Schaffen - »assimilative consciousness«, wie es i n der treffenden Formulierung von Robert H a m ner heißt: »Nationalists and racial purists spurn adulterated blood and culture,

eine Tatsache, auf die karibische Autoren immer wieder verwiesen haben [vgl. z. B. Ed-

ward Kamau Brathwaite, History of the Voice: The Development of Nation Language in Anglophone Caribbean Poetry (London 1984), 12]. 35

»Antilles«, 28.

36

Vgl. zu dieser Frage auch Hamner, Epic , 1, und ders., »The Odyssey: Derek Walcott's Dramatization of Homer's Odyssey«, Ariel, 24 (1993), 101-108. 21 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

322

Christian Mair

but Walcott celebrates his Creole legacy. To a large extent his career revolves around a core of assimilative consciousness.« 37

IV. Eine Geschichte aus der Provinz, erzählt für die Welt Wenn stellvertretend für die Menschen der Karibik eine noch weitgehend der traditionellen Lebens- und Arbeitsweise verpflichtete Gruppe von Fischern die Bühne der Weltliteratur betritt, besteht die Gefahr, das Leben der dargestellten Personen zu einer folkloristischen Idylle zu verklären und so bestehenden Stereotypen über die K u l t u r der Region Vorschub zu leisten. Walcott nutzt jedoch die Komplexität seiner literarischen Form auf vielfältige Weise, u m durch Einführung geeigneter Nebenhandlungen oder Reflexionen des lyrischen Ich dieser Gefahr vorzubeugen. D e m europäischen oder nordamerikanischen Leser w i r d somit bald deutlich, daß auch seine Geschichte erzählt wird. Als geschickter Kunstgriff erweist sich etwa die Einführung der Figur des pensionierten Unteroffiziers Plunkett, der als fast schon »einheimischer« Weißer nicht i n die einfachen Schablonen des gegenwärtigen Rassenkonflikts paßt - hier die durch Black Power radikalisierten jungen schwarzen Männer, dort die reichen weißen Hedonisten auf den Stränden, i n den Diskotheken und H o tels. Die Tragik der Plunketts ist, daß sie trotz bester persönlicher Absichten als Repräsentanten der späten, wohlwollend-paternalistischen Phase des British Empire die Welt nicht mehr verstehen - weder die des heutigen Großbritannien (Mauds Traum von einer Urlaubsreise i n die alte Heimat - England für ihn, Irland für sie - erfüllt sich nicht) noch die der nachkolonialen karibischen Gesellschaften. Zwei Episoden zeigen, wie präzise Walcott innerhalb weniger Zeilen Plunketts K o n f l i k t darzustellen vermag. I n der ersten (Kap. L I , 255-257) »duellieren« sich Hector, der abgefallene Fischer und derzeitige Sammeltaxifahrer, 38 sowie Plunkett. Es geht u m die Vorfahrt auf der einspurigen Bergstraße: Plunketts Jeep oder Hectors transport. »Move your ass, honky«, also etwa »verpiß dich, weißer Arsch«, sagt Hector Formulierungen, die aus der Sprache der Ghettos der nordamerikanischen Großstädte kommen und Plunkett daher nicht nur beleidigen, sondern i h m darüber hinaus klarmachen, daß sein soziales Koordinatensystem irrelevant geworden ist. Plunkett gerät i n heilige Wut:

37 38

Hamner, Epic, 106.

» [ . . . ] he had been one of the fishermen / and had given up his canoe for a taxi. More / business [...]«(257).

»A Negro epic in America«

323

[ . . . ] A n d furthermore, I resent the expletive you used. I am not a honky. A donkey perhaps, a jackass, but I haven't spent damned near twenty years on this godforsaken rock to be cursed like a tourist. D o you understand? 39

Hector erkennt in der Konfrontation von Angesicht zu Angesicht, daß er es mit einem Weißen zu tun hat, der ob seiner Integration in die lokale Gemeinschaft eine solche Behandlung nicht verdient, und der Streit findet einen guten Ausgang. Ein feiner Sinn für sprachliche Nuancen kennzeichnet auch die Szene, in der »Walcott« 4 0 Plunkett nach dem Begräbnis von dessen Frau begegnet. Plunkett, der Offizier und Amateurhistoriker, war für den jungen »Walcott« Respektperson und Vorbild. Z u m Zeitpunkt des Treffens ist Walcott Schriftsteller von Beruf, und Plunketts anbiedernde Bemerkung »Been doin' a spot of writing meself« w i r d unfreiwillig peinlich - inhaltlich ist »das bißchen Schreiberei« unpassend, und auch sprachlich fügt sich der Tonfall der unteren Mittelschichten Südenglands verbrämt mit antiquierten Redensarten aus Armee und Kolonialverwaltung nicht mehr ins Hier und Jetzt: »Our wanderer's home, is he?« I said: »For a while, sir,« too crisply, mentally snapping to attention, thumbs along trousers' seam, picking up his accent from a khaki order. »Been travellin' a bit, what?« I forgot the melody of m y o w n accent, but I knew I ' d caught him, and he knew he'd been caught, caught out in the class-war. I t stirred m y contempt. H e knew the »what?« was a farce, I knew it was not officer quality [ . . . ] »Been doin' a spot of writing meself. Research.« The »meself« his accommodation. »P'raps you've 'eard . . . 4 1

»Language is never unproblematic in a post-colonial environment in which every idiolect is ideologically marked,« stellt Lernout in seiner Analyse derselben Passage zurecht fest. 42 39

Omeros, 256.

40

U m der Kürze des Ausdrucks willen verzichte ich i m folgenden Absatz auf die terminologische Unterscheidung zwischen dem lyrischen Ich und der Person des Autors. 41

Omeros, 269.

42

»The Isle is Füll of Voices,« 93.

21*

324

Christian Mair

Was Maud Plunkett betrifft, so ist ihr Kampf mit der aufmüpfigen Hausangestellten Helen u m die Herrschaft i m eigenen Haushalt ein mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen gestaltetes Leitmotiv des Werks. Maud, deren lange und glückliche Ehe mit Plunkett nur durch die von beiden insgeheim beklagte Kinderlosigkeit getrübt wird, erträgt Helens kleine Lügen und Diebstähle und auch schließlich die Eröffnung Helens, daß sie schwanger sei (»Madam, I pregnant but I don't know for who,« 34 4 3 ), rein äußerlich mit Geduld und Fassung. I n einer von der Geschichte, der Sklaverei, überschatteten Gesellschaft kann sich jedoch weder das fast schon mütterliche Wohlwollen der gutherzigen Maud noch Dankbarkeit auf Seiten Helens entwickeln. I n ihrem schlechten Gewissen verliert Maud das Gefühl dafür, was legitime A n ordnung und was kolonialherrschaftliche Anmaßung ist, und die schwarze Dienerin nutzt die Schwäche der weißen Herrin für ihre Zwecke (z. B. i n der Szene Kap. X X X I I I , Abschnitt III). Der europäische Einfluß auf die Karibik in der Periode des Kolonialismus w i r d jedoch nicht nur mit dem Mittel der Personifikation gestaltet. Transformation des europäischen Erbes durch Kreolisierung ist ein strukturelles Grundprinzip des Werkes, das sich nicht nur i n der Antiken-Rezeption nachweisen läßt. Auch Anspielungen auf andere Werke des europäischen literarischen Kanons stellen Querverbindungen zwischen dem lokalen Geschehen und universalen Themen her. Dantes Inferno zum Beispiel tritt in leicht verfremdeter, aber immer konkreter Form an vielen Stellen i m Werk hervor - sei es, daß der Dichter bei der Wanderung durch die vulkanische Bergregion der Pitons auf die Überreste von Maschinen stößt, die an die gescheiterten Entwicklungsprojekte wirtschaftlicher Abenteurer aus England erinnern (Kap. L V I I I ) , oder daß der Leser selbst zur Kenntnis nehmen muß, daß mit dem Touristen i m »seraphic white«, der in der höllischen Atmosphäre der WeihnachtsDiskothek sein Vergnügen sucht, er selbst gemeint sein könnte (Kap. X X I , A b schnitte I und II). The jukebox glowed in Atlantic City. Speakers bombarded the neon of the N o Pain Café. The night flared w i t h vendors' coalpots, the dull week, as it died, exploded w i t h Cadence, 44 Country, Reggae. Stars burst from the barbecues of chicken and conch, singeing the vendors' eyes. Round their kerosene lamp

43 U m weitreichenden interpretatorischen Spekulationen vorzubeugen: be pregnant for someone ist der volkssprachlich übliche Ausdruck für »von jemandem schwanger sein« und darf daher nicht wörtlich - als »für jemanden« - verstanden werden. 44

Während die musikalischen Stilrichtungen Country und Reggae als bekannt vorausgesetzt werden dürfen, bedarf Cadence, i m allgemeinen in Imitation einer französischen

»A Negro epic in America«

325

the children's eyes widened like moons until they sank i n the hills of their mothers' laps. Frenetic DJs soared evangelically from the thudding vamp of the blockorama, 4 5

» This here is Gros I let's night. United Force y garcon , we go rock this village till cock wake up/« The Rumshops, from Midnight Hour, Keep Cool, N o Pain Café, to the high Second Stage, w i t h its Christmas lights winking, w i t h decibel power shattered the glass stars. Tourists, i n seraphic white, floated through the crowding shadows, the cooking smells, the domino games by the gas lanterns. Helen's night. The night Achille dreaded above everything else. 46

Eine weitere Möglichkeit, das lokale Erzählgeschehen in größere geographische und historische Kontexte zu integrieren, ergibt sich auch aus der Wahl der Schauplätze. Der oft kritisierte 4 7 Einbezug der Kolonialgeschichte der USA (im Rahmen der Catherine Weldon-Nebenhandlung) ist vielleicht in diesem Lichte zu sehen. Die Vertreibung der Indianer durch die Weißen w i r d i m Werk so zu einer i n den Details verschiedenen, i m Grundlegenden jedoch übereinstimmenden Parallele zur historischen Haupthandlung: der Geschichte der Verschleppung der afrikanischen Sklaven, der Zerstörung ihrer Kultur und ihres kulturellen Neuanfangs in den kreolischen Gesellschaften des tropischen Amerika. Für den Europäer heißt diese Sichtweise, die uns gewohnte Trennung zwischen »unserem« (d. h. kulturell europäisch bestimmtem) Nordamerika und dem fremden indigenen und kreolischen Amerika aufzugeben und den gesamten Doppelkontinent als eine »Neue Welt« zu begreifen, die durch den Aufeinanderprall Europas und der Kulturen der Welt i m Zuge der Kolonialisierung entstanden ist. Hier ist - nach vereinzelten Andeutungen, die bereits gemacht wurden - nun auch der Ort, Walcotts Sprache noch einmal genauer zu betrachten. N o c h vor Lautung ausgesprochen, einer Erläuterung: »a popular Dominican type of dance music that blends the Guadeloupean French merengue w i t h the beat of the calypso and sometimes that of the Jamaican reggae« [Richard Allsopp, Dictionary of Caribbean English Usage (Oxford 1996), 129]. A u f jeden Fall dürfte klar sein, daß die Mischung der drei i n der Tat infernalische Effekte ergibt. 45 Die Definition des Begriffs in Allsopps Wörterbuch - »an open-air [usually fundraising] fete w i t h several steel bands and disco music, usu[ally] held in the daytime« [107] - ist hier offensichtlich irreführend. Walcott verwendet das Wort eher in der Bedeutung

sound system: »Lautsprecheranlage im Freien.« 46

Omerosy 109-110.

47

Vgl. die Sammlung der wichtigsten Stimmen i n Hamner, Epic y 92 f.

326

Christian Mair

jeder sprachschöpferischen Leistung seinerseits erweist sich das Englisch, das er benutzt, als seiner Aufgabe höchst angemessen. Walcott weiß u m die Vorteile, die eine Weltsprache mit langer literarischer Tradition und vielfältigen Ausprägungen in der Gegenwart einem A u t o r bietet. Die Vielstimmigkeit des Werkes - das Ineinandergreifen der verschiedensten regionalen und sozialen Erscheinungsformen der Weltsprache - ist nicht die geringste Komplexität, die Omeros aufzuweisen hat. Wiederum geraten gewohnte Sichtweisen des europäischen Lesers ins Wanken: Es ist nicht so - wie es vielleicht unseren Erwartungen entspräche - , daß das Werk i m internationalen Standardenglisch geschrieben wäre und einzelne Dialektpassagen enthielte, die - isoliert durch Anführungszeichen - hier und da sprachliches Lokalkolorit i n der fiktiven Figurenrede aufsetzten. Vielmehr bedient sich das lyrische Ich einer englischen Hochsprache, die dem gebildeten Leser überall auf der Welt grundsätzlich verständlich bleibt, doch auf selbstverständliche Weise volkssprachliche Ausdrucksweisen der anglophonen Karibik einfließen läßt. M a n vergleiche etwa den Gebrauch von galvanize (Nomen), yard oder suck teeth in den folgenden kurzen Passagen: I saw the small w i n d o w near which we slept as boys, how close the roof was. The heat of the galvanize. H e saw the blue smoke from the yards, the bamboo poles weighed d o w n by nets, the floating feather of the priest.

[...] but when Maud came to the kitchen to quiet her, she w o u l d suck her teeth and tilt that arrogant chin and mutter something behind her back in patois, and when Maud asked her what, she'd smile: »Ma'am, is noffing.« 4 8

Das Wort galvanize bezeichnet das landesübliche zur Dachabdeckung verwendete Zinkblech. Yard ist in der zitierten Passage i n seiner karibisch-englischen Bedeutung »home« verwendet (und könnte von einem des lokalen Sprachgebrauchs unkundigen Leser daher mißdeutet werden), und suck one's teeth bezeichnet eine vermutlich aus Afrika i n die Karibik gelangte Geste der Verachtung. Karibische Sprecher des Englischen würden alle diese Ausdrücke i n ihrer gesprochenen Umgangssprache ohne Zögern verwenden, in Zeitungen würden sie - vielleicht mit graphischen oder verbalen Signalen der Distanzierung - gelegentlich erscheinen, Walcott macht sie aber wie selbstverständlich literaturfähig und fügt seinem Werk auch kein erläuterndes Glossar an, das dem internationalen Leser nach vorübergehender Irritation seine sprachliche Welt wieder in Ordnung bringt. 48

Omeros, 67,21,123.

»A Negro epic in America«

327

Das Kreolische schwingt auch in der folgenden Passage mit: She was not home. H e remembered the morning when he lost faith i n her, and almost lost his reason on the clearest of days. H e had not told Helen they needed quick money. Lobsters was off-season, or diving for coral; shells was not to be sold to tourists, but he had done this before without getting catch himself, he knew that his luck w o u l d hold. H e was diving conchs under the lower redoubt of the fort that ridged the lion-headed islet, on a breezy morning, chopping the anchored skiff, piling the conchs aboard w i t h their frilled violet palates, and sometimes a starfish like a stone leaf. One elbow hooked on the tilted hull of the boat, he saw, along the high wall, a yellow dress whipped like a sail i n the w i n d when the w i n d comes about, then a fellow at the parapet's end. H e slipped slowly from the thudding hull. Helen and Hector. [•••] For a long time he had sensed this thing w i t h Hector, now he must concentrate on carrying the conchs safely. O n certain days it had an inspector from the Tourist Board watching the boats, and if once they catch you, they could fine y o u and seize your license. 49

Die unaufdringlichen Ubernahmen aus dem Patois bewirken hier wie an vielen ähnlichen Stellen i m Werk einen Perspektivenwechsel - von Reflexionen des lyrischen Ich über den Seelenzustand der Figuren hin zu einer Dramatisierung dieses Zustands selbst. Die Apostrophe Walcotts an seine Hauptfigur - »Achille! M y main man, m y nigger« (183) - nimmt einen bei afroamerikanischen Sprechern üblichen »invertierten« Gebrauch des Schimpfwortes als Ausdruck von Solidarität ohne jede Theatralik auf, wie auch main man selbst dieser Stilebene angehört. Wie leicht der britische oder amerikanische Leser über solch unaufdringliche Signale sprachlicher Inkulturation hinweglesen kann, zeigen Zeilen wie die folgenden: One sunrise I walked out onto the balcony 49

Omeros, 39-40.

328

Christian Mair

- heißt es am Anfang von Kap. L V I (p. 279) in einer Erzählpassage Walcotts, und man mag sich über die Preziosität des »eines Sonnenaufgangs« wundern bis man sich erinnert, daß das Epos mit einer ganz ähnlichen Äußerung aus dem M u n d des Fischers Philoctete beginnt, natürlich i n durch Anführungsstriche gekennzeichneter Figurenrede: »This is how, one sunrise, we cut d o w n them canoes.«

A u f einer solchen Basis verlieren die recht häufigen Figurenreden i m französischen Kreol (meist mit Ubersetzung in kreolisiertes Englisch) viel von ihrer Exotik. Walcott und seine Figuren reden dieselbe Sprache, und wenn etwas exotisch ist, so die sprachlichen Ausritte ins fossilisierte britische Englisch der Kriegszeit, das Plunkett gelegentlich pflegt, die amerikanische Umgangssprache der Touristen oder das »freshwater-Yankee-cool-Creole« (111) der einheimischen Handlanger der Tourismusbranche. Diese Formulierung zeigt i m übrigen auf geradezu prototypische Weise, wie die einzelnen sprachlichen Register ineinander übergehen (und wie leicht dies auf Seiten des europäischen oder nordamerikanischen Lesers zu Mißverständnissen bzw. unvollkommenem Verständnis von Passagen aus dem Werk führen kann). Der »freshwater Yankee« ist keine Erfindung Walcotts, sondern eine i m karibischen Englisch übliche Bezeichnung, die eine einschlägige Quelle wie folgt definiert: »A native West Indian person who picks up a N o r t h American accent after a short visit to the US or Canada.« 50 Walcott, ein Meister i m Erfassen der regionalen und sozialen Nuancierungen des heutigen Englisch, kann es sich dabei leisten, auf oberflächliche und den Leser irritierende Genauigkeit der phonetischen Transkription zu verzichten und erreicht mit müheloser Eleganz einen sprachlichen Effekt, der seinen inhaltlichen Absichten entspricht: Wie seine Erzählung ist sein Englisch karibisch und dennoch der ganzen Welt zugänglich. 51

50

Richard Allsopp, Dictionary ofCaribbean Englisb Usage (Oxford 1996), 244.

51

Es ist hier nicht der O r t zu zeigen, daß die elegante und scheinbar mühelose Verbindung von Elementen des Kreolischen und des britischen/ internationalen literarischen Standards Frucht von Jahrzehnten des systematischen stilistischen Experiments ist; vgl.

dazu Rei Terada, Derek Walcott's Poetry: American Mimicry (Boston 1992), 82-118. Walcotts hybrider Stil, der zwar keinem kreolischen Dialekt i m Detail nachempfunden ist, aber Elemente aus vielen sozusagen als gemeinsamen sprachlichen Nenner der Karibik vereint, w i r d auch über die Literatur hinaus in der Region normbildend wirken. Klar ist, daß die ererbte britische Sprachnorm der Kolonialzeit für den gebildeten Sprecher i n der Karibik heute nicht mehr allein verbindlich ist: I n welchem Maße sich britische, amerikanische oder lokale N o r m e n i m entstehenden neuen Standard durchsetzen, ist jedoch noch offen.

»A Negro epic in America«

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V. Schluß Der große Erfolg von Walcotts dichterischem Werk, insbesondere auch seines Versepos' Omeros, bei einer breiten internationalen Leserschaft hat der nachkolonialen Literatur Westindiens internationale Anerkennung verschafft und i m Widerstreit der Tendenzen eine Richtung besonders hervorgehoben - nämlich das von ihm vertretene ästhetische Programm der bewußten Kreolisierung der kulturellen Traditionen, die in die Karibik eingeflossen sind. Der mit der Kreolisierung verbundene Kompromiß zwischen Nachahmung von Vorbildern und eigenständiger schöpferischer Anverwandlung, zwischen Fortführung europäischer Traditionen und ihrer Verschmelzung mit Elementen aus den nichteuropäischen kulturellen Substraten, die von der Mehrheitsbevölkerung in widrigen historischen Umständen bewahrt wurden, war erfolgreich und hat zur Anerkennung der kulturellen Eigenständigkeit der Region geführt, die sich in der Verleihung des Nobelpreises an den Dichter i m Jahre 1992 niedergeschlagen hat. Sture Allen, der Sekretär der Schwedischen Akademie, führte in seiner Laudatio unter anderem aus, daß: »West Indian literature has found its great poet. [ . . . ] Three loyalties are central for h i m - the Caribbean, the English language and his African origin.« 5 2 Wenn unter »the English language« auch Walcotts Anspruch auf das britische und europäische Erbe mitverstanden ist, w i r d man dieser Einschätzung zustimmen können. Immer wieder - zuletzt in der schon mehrfach zitierten Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises - hat sich Walcott provoziert gefühlt von Äußerungen, in denen die Leistungen der kreolischen Kultur der Karibik mißverstanden und Gegenstand arroganter Verachtung wurden - gipfelnd in den Aussagen des viktorianischen Historikers und Reiseschriftstellers James Anthony Froude - »[There are no people there] i n the true sense of the word, w i t h a character and a purpose of their own.« - und des Romanschriftstellers Anthony Trollope - »Nothing was created in the West Indies.« Walcott hat beide auf eindrucksvolle Weise korrigiert. Froude, der nur ein eines Epos würdigen Thema i n der Geschichte der Karibik erkennen konnte - nämlich die Taten, die britische Seefahrer in der Region vollbrachten 5 3 - , hat nicht recht behalten. Admiral Rodney und die Battle of the Saints spielen auch i n Omeros eine Rolle, ganz zu Recht aber nicht die entscheidende. Trollopes Aussage korrigierte Walcott zuerst in einem Interview: N o t h i n g was created by the British in the West Indies. 5 4 52

Der Text folgt der englischen Übersetzung der Rede i m Guardian vom 9. 10. 1992 (Home section, 1, »Poet's Odyssey Ends in Glory«). 53

The English in the West Indies or the Bow of Ulysses (London 1888), 9-13.

330

Christian Mair

Er und andere Autoren haben während der letzten 50 Jahre den Beweis für die Berechtigung dieser Korrektur erbracht. Wenn die kulturelle Leistung einer Gemeinschaft über Jahrhunderte nicht wahrgenommen wurde, liegt es nahe, in der Euphorie der erlangten Würdigung zu weit zu gehen und nach einer Periode, in der der Beitrag der kreolischen Kulturen der Karibik auf die Entwicklung Amerikas oft verschwiegen wurde, nun umgekehrt starke Einflüsse dort zu vermuten, w o sie vielleicht nicht zum Tragen kamen. Vieles in der Geschichte der Karibik ist nicht übertragbar oder verallgemeinerbar. Aber i n ihrer jahrhundertelangen Erfahrung intensiver und vielfältiger kultureller Kontakte, Konflikte, Verschmelzungs- und Transformationsprozesse kann sie Modellwirkung für eine Welt haben, die sich zunehmend als multikulturell begreift. »We are all Caribbeans now i n our urban archipelagos«, sagt der amerikanische Ethnologe James C l i f f o r d 5 5 und weist damit auf eine weitere Parallele zwischen den Plantagengesellschaften der Antillen und den »Megastädten« des späten 20. Jahrhunderts hin. Walcott hat somit ein seit der Harlem Renaissance der zwanziger Jahre gefordertes »Negro epic in America« verfaßt, gleichzeitig aber deutlich gemacht, daß Europäer wie Afrikaner in Amerika nicht einfach an die Traditionen ihrer Herkunft anknüpfen können: Beider Erbe ist kreolisiert worden - i m einen Fall auf eine weniger offensichtliche, i m anderen auf eine deutlichere Weise. Die Rede von der »Neuen Welt« erweist sich in kulturgeschichtlicher Hinsicht daher als überraschend genau und angemessen, und Walcotts »Negro Epic« w i r d eigentlich zum bisher w o h l künstlerisch erfolgreichsten Versuch, das Epos dieser Neuen Welt zu schreiben.

54 »The A r t of Poetry X X X V I I : Derek Walcott,« Interview mit Edward Hirsch, Paris Review 101 (1980), 197-230, nachgedruckt in Hamner, ed., Critical Perspectives, 65-83, hier 73.

55

The Predicament of Culture: Twentieth-Century

(Cambridge, M A 1988), 173.

Ethnography, Literature,

and Art

Generationsbewußtsein als Element >schwarzer< britischer Identitätsfiktion Von Barbara Körte

I. Kontexte: >Schwarze< Generationen in Britannien 1998 wurde i n Großbritannien der 50jährige Jahrestag der A n k u n f t der Empire Windrush publikumswirksam gewürdigt. 1 M i t diesem Schiff kam 1948 eine erste größere Gruppe karibischer Arbeitsmigranten nach Großbritannien. Das Ereignis gilt heute als symbolischer Beginn einer Nachkriegseinwanderungswelle aus Britanniens früheren Kolonien (neben der Karibik insbesondere auch v o m indischen Subkontinent), die am Ende des 20. Jahrhunderts wesentliche Veränderungen i n der britischen Gesellschaft und K u l t u r bewirkt hat: »[T]he Windrush sailed through a gateway i n history, on the other side of which was the end of Empire and a wholesale reassessment of what it meant to be British.« 2 O b w o h l die Präsenz nichtweißer Menschen i n Britannien eine jahrhundertelange Geschichte hat, gelten die Nachkriegsmigranten als >First< Generation der nichtweißen britischen Bevölkerung. Ihre Folgegeneration wurde zu einem Großteil bereits i n Britannien geboren und versteht sich als Teil der britischen Gesellschaft. Die Kinder und Enkel der >Ersten< Generation werden daher mit einem nicht unumstrittenen aber griffigen Terminus auch als Black Britons bezeichnet. 3 Sie sind allein aufgrund der unterschiedlichen Herkunftsgebiete der Nachkriegsmigranten ethnisch, kulturell, religiös und sprachlich 1 Vgl. etwa M i k e Phillips und Trevor Phillips, Windrush. The Irresistible Rise of MultiRacial Britain (London 1998). Dieser Band ist das Begleitbuch zu einer Fernsehserie der BBC. Vgl. auch die Anthologie von Onyekachi Wambu (Hg.), Empire Windrush. Fifty

Years of Writing

About Black Britain (London 1998) sowie folgendes Sonderheft: David

Dabydeen (Hg.), »The Windrush. Commemorative Issue. West Indians i n Britain 1948 to 1998«, Kunapipiy 20, N o . 1 (1998). 2

Phillips und Phillips, Windrush , 6.

3

Der Begriff ist vor allem dort umstritten, w o er nicht nur für Menschen afrokaribischer Herkunft, sondern alle nichtweißen Briten verwendet wird. Vgl. Helge N o w a k , »Black British Literature - U n i t y or Diversity«, in: Barbara Körte und Klaus Peter Müller

(Hgg.), Unity in Diversity

Revisited ? British Literature and Culture in the 1990s (Tübin-

gen 1988), 71-87 und Mark Stein, »The Black British Bildungsroman and the Transformation of Britain. Connectedness across Difference«, i m gleichen Band, 89-105.

332

Barbara Körte

äußerst heterogen, 4 so daß es die >schwarze< britische Identität sicherlich nicht gibt. Das Identitätsbewußtsein von Black Britons konstituiert sich vielmehr aus einem je individuellen Zusammenspiel von Faktoren wie familiäre Situation, Einstellung zu Religion, Geschichte und Bräuchen der Eltern, aber auch Stellung in der englischen Klassengesellschaft, Geschlecht und, wie hier betont werden soll, Generationszugehörigkeit. Der Beitrag der Migranten und ihrer Folgegenerationen zur britischen K u l tur und Identität am Ende des 20. Jahrhunderts ist mittlerweile Gegenstand umfangreicher sozial- und kulturwissenschaftlicher sowie künstlerischer Diskurse. Dabei fällt i n >schwarzen< wie >weißen< Beiträgen zum Identitätsdiskurs u m die Black Britons auf, daß der Kategorie der Generation wesentliche Bedeutung beigemessen wird, insbesondere den Unterschieden zwischen der eingewanderten Generation und ihren in Britannien geborenen Kindern. 5 Der soziologische Begriff der Generation bezeichnet allgemein Einschnitte in der altersmäßigen Bevölkerungsstruktur, die mit Faktoren des gesellschaftlichen Wandels (neuen Normen, Werten, Verhaltensweisen) einhergehen. Für klassische Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien ist der Generationsbegriff speziell auch verwendet worden, u m (sehr vereinfacht) >Stufen< der Anpassung von Migranten zu unterscheiden: die erste Generation kämpft sich in der neuen Gesellschaft durch, u m ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen; diese Kinder >assimilieren< sich, und ihre eigenen Nachkommen wiederum entwickeln aus der Position der Assimilation heraus ein nostalgisches Bewußtsein für die >Wurzeln< der ersten Generation. Wie Tariq Modood betont, w i r d ein solches Generationenmodell der Situation in Großbritannien jedoch nicht gerecht, da Britannien sich (wie andere europäische Länder) lange nicht als Einwanderungsland verstanden und die Migranten und ihre Nachkommen an der Integration gehindert hat. Gleichzeitig haben sich vor allem die Folgegenerationen nicht einfach >anpassen< wollen, sondern eine Transformation der britischen Gesellschaft und Kultur insgesamt gefordert. 6 4 Vgl. für genauere Hintergrundinformationen und weiterführende Literaturhinweise die genannten Artikel von N o w a k und Stein sowie Barbara Körte und Claudia Sternberg

(Hgg.), Many Voices - Many Cultures. Multicultural

British Short Stories (Stuttgart 1997),

5-48 und 245-274. 5 Von weißer Seite geschah dies i n der Vergangenheit durchaus auch i m Kontext diskriminierender Diskurse, wie u. a. Phillips und Phillips in Windrush für die 70er Jahre betonen: »One formula which was touted w i t h increasing frequency was the notion that the generations of migrants w h o arrived as adults had somehow >accepted< their role and status i n Britain, in contrast to their children whose behaviour throughout the seventies was symbolic of their >rebellionRace< } Culture and Difference (London 1992), 260-277, hier 264.

Generationsbewußtsein als Element >schwarzer< britischer Identitätsfiktion

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Dies impliziert aber eine Umkehrung jener Bedeutung, die die Generationsmetapher i m Diskurs des British Empire hatte: die des imperialen >Mutterlandes< und seiner >kindlicheneingeboren< sind, ist dieses Land keine entfernte imperiale >Mutter< mehr, sondern ein Land, an dessen Kultur sie mitwirken wollen, weil sie in vielen Fällen ihre eigene Identität nur noch über dieses Land bestimmen können. 7 Möglicherweise findet der kulturelle und gesellschaftliche Beitrag dieser >zweiten< schwarzen Generation gerade am Ende der 90er Jahre soviel Beachtung, weil das neue britische nationale Selbstbewußtsein generell stark durch das Bewußtsein eines Generationswechsels geprägt ist - besonders prominent etwa in der Diskussion u m die Institution der Monarchie, in der die verstorbene Princess of Wales zur Ikone der Jugendlichkeit und Rebellion gegenüber den als verstaubt betrachteten Windsors stilisiert wurde und die verbliebenen Hoffnungen für diese Institution auf einer noch jüngeren Generation ruhen. Auch die Erwartungen, die sich mit Premierminister Tony Blair verbinden, gründen sich auf seine Mitgliedschaft in der weißen Parallelgeneration zur schwarzen Second Generation. Für Black Britons hat die Generationszugehörigkeit als identitätskonstituierender Faktor jedoch eine besondere, da persönlich-existentielle Dringlichkeit und dokumentiert sich in vielen Bereichen schwarzer britischer Gegenwartskultur - auf dem Zeitschriftenmarkt etwa mit der Publikation 2nd Generation, die sich vor allem an die wachsende Zahl wirtschaftlich erfolgreicher Mitglieder dieser Generation richtet. Ein starkes Generationsbewußtsein artikuliert sich seit den 70er Jahren auch in den künstlerischen Äußerungen der Black Britons.

II. Generationsbewußtsein in der schwarzen britischen Literaturszene Die 70er und 80er Jahre waren geprägt von massiver verbaler Diskriminierung und körperlicher Gewalt gegen ethnische Minderheiten durch die extreme Rechte (Enoch Powell, National Front, Skinheads etc.). Vor diesem Hintergrund formulierten Dub Poets und Performance Poets mit afrokaribischem Hintergrund, wie John Agard oder Linton Kwesi Johnson, eine anklagende 7 Vgl. hierzu Passantenbefragungen, die die Tageszeitung The Guardian 1995 unter afrokaribischen Briten durchführte: Während die eingewanderte Generation ihre Identität noch stark durch ihr ursprüngliches Geburtsland bestimmt sah, war dieses Geburtsland der Eltern oder Großeltern für in London geborene Endzwanziger in der Regel überhaupt kein Identitätsfaktor mehr. Die Befragungen waren Teil der Artikelreihe »Black i n Britain«, die zwischen dem 20. und dem 22. März 1995 erschien.

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Protestliteratur, die oft in enger Beziehung zur Rasta-Bewegung stand. Diese ursprünglich karibische Reafrikanisierungsbewegung wurde in Britannien für Jugendliche afrokaribischer Abstammung zu einem wichtigen identitätskonstituierenden Faktor - einer schwarzen Gegenidentität mit distinktiven äußeren Zeichen wie Dreadlocks-Haartracht, Reggaemusik und einer besonderen Sprache. Diese Gegenidentität richtete sich aber nicht nur gegen die weiße >Stiefmutter< Britannien, sondern auch die eigene >angepaßte< und protestunwillige Elterngeneration, die entsprechend mit Unverständnis reagierte: »Back i n Jamaica, Rastas were the outcasts, the dregs, the insane of society. To see their children embrace this apparently bizarre cult drove many older West Indians to distraction.« 8 Auch wenn das Protestpotential der Rasta-Bewegung i m Lauf der 80er Jahre abebbte, ist ihre Bedeutung als Impulsgeber für eine lebendige >ethnische< K u l turszene in Britannien nicht zu unterschätzen. So verkündete schon in den 80er Jahren John Agard das neue kulturelle Selbstbewußtsein der jungen schwarzen Briten, das Anbrechen einer neuen Zeit, in einem provokant biblischen Ton: But it came to pass that the colourful immigrants of the 50's did beget a second generation, and the second generation did beget a third. So now on her hands Britain has her Black British [ . . . ] . N o t prepeared to >eat humble pieschwarzer< britischer Identitätsfiktion

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rischer und cineastischer Identitätssuche ein, so daß schwarze Literatur eine immer breitere Leserschaft findet. Letzteres betont ein Artikel, der 1996 i n der Wochenzeitung The Guardian made-in- Britain- Generation

über die jüngste Romanwelle der nichtweißen

erschien:

A new generation of British-born black and Asian writers is rising, leaving the >ethnic< ghetto behind and changing the way we see ourselves [ . . . ] W i t h book chains like W. H . Smith and Books Etc. now boasting >black fiction< sections, the mass market potential of a >street< genre no doubt reflects the pervasive input of black speech, music and style into Britain's youth culture. 1 1

Entsprechend dieser gegenwärtigen Bedeutung von black fiction

sollen i m fol-

genden Roman- und Filmerzählungen i m Mittelpunkt stehen, bei deren Figuren die Bedeutung des Generationsbewußtseins für die Identitätskonstitution besonders hervortritt. Die Auswahl beschränkt sich dabei auf Beispiele von Autoren afrokaribischer und indisch-pakistanischer Abstammung, die Erfahrungen der in Britannien geborenen Generation thematisieren und i n der Mehrzahl auch von Mitgliedern dieser Population verfaßt wurden. 1 2 Dabei ist mit der Thematisierung des Generationsbewußtseins überhaupt schon ein wichtiges Differenzkriterium zwischen jüngeren Schriftstellergenerationen und den Autoren der Windrush Generation gegeben: Eine Auseinandersetzung mit Generationen setzt voraus, daß über Familienbeziehungen und speziell ElternKind-Beziehungen geschrieben werden kann. Bei der ersten Generation der Einwanderungsschriftsteller i n Britannien war dies aber kaum der Fall: Die A u toren waren, wie die Ersteinwanderer generell, 13 i n der großen Mehrzahl männlich (wie Sam Selvon, George Lamming, V. S. Naipaul und Wilson Harris) und schrieben über zentrale Probleme der First Generation:

Isolation, Diskri-

minierung, Heimweh nach dem Ursprungsland, Probleme beim Finden eines

11

Maya Jaggi, »New Brits on the Block«, 13. Juli 1996, 31.

12

N i c h t alle schwarzen Schriftsteller der jüngeren Generationen sind bereits in Britannien geboren. Parallel zu den >eingeborenen< Black Britons gibt es eine beträchtliche Zahl etwa gleichaltriger Autor(inn)en, die selbst noch nach Britannien eingewandert sind, wie Salman Rushdie (Pakistan), Buchi Emecheta (Nigeria), Joan Riley (Jamaica), Merle Collins (Grenada) oder David Dabydeen (Guyana). Diese teilen m i t der Second Generation i m engen Sinn wichtige Erfahrungen, schreiben häufig aber (auch) noch über ihr Ursprungsland oder die Migration. Für Identitätsfiktionen nigerianisch-stämmiger Black Britons vgl. i m übrigen Diran Adebayos Some Kind of Black (1996) und das Erzählgedicht Lara (1997) von Bernardine Evaristo. 13 Vgl. genauer Phillips und Phillips, Windrush, 124 über dieses Einwanderungsmuster bei der afrokaribischen Immigration. Zur männlich dominierten frühen britischen Einwandererliteratur vgl. C.L. Innes, »Wintering: Making a H o m e in Britain«, in: A . Robert Lee (Hg.), Other Britain , Other British , (London 1995), 21-47 und Susheila Nasta, »Setting U p H o m e in a C i t y of Words. Sam Selvon's London Novels«, i m gleichen Band, 48-

68.

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menschenwürdigen Zuhauses, das Leben ohne Frauen und ohne Kinder. Diese Situation begann sich erst zu wandeln, als i m Laufe der 60er Jahre die Einwanderungsbedingungen in Großbritannien verschärft wurden und viele der zunächst allein gekommenen Einwanderer ihre Kinder nachkommen ließen bzw. gleich mit ihrer ganzen Familie einwanderten. Infolge dieses gewandelten Einwanderungsmusters fällt in der schwarzen Literatur der 80er und 90er Jahre dann ein hoher Autonwwew-Anteil auf, so daß Geschlechterbeziehungen und unterschiede prononcierter artikuliert werden als zuvor und, wie sich zeigen wird, auch in bezug auf die Generationserfahrung. Es liegt nahe, daß sich das Genre des Entwicklungsromans für das Thema der Identitätskonstitution besonders eignet, und viele Autoren der Second Generation scheinen sich zumindest für ihre nicht selten autobiographisch gefärbten ersten Werke stark zu diesem Genre hingezogen zu fühlen. 1 4 Mark Stein hält als Spezifikum schwarzer britischer Bildungsromane fest, daß hier ein i m Genre generell oft angelegter Generationskonflikt der heranwachsenden Figuren fast immer auch mit einem Kulturkonflikt einhergeht: Die (partielle) A b grenzung von der Elterngeneration beinhaltet auch, zumindest zu einem gewissen Grad - eine Abgrenzung von deren Ursprungskultur 1 5 und damit implizit die Frage, w o denn die junge Generation verwurzelt ist, w o h i n sie >gehörtHeimat< als Thema der Zweiten Generation Fragen des kulturellen und persönlichen Zugehörigkeitsgefühls werden in der Literatur von Migranten, die sich zwischen Kulturen bewegen, erwartungsgemäß häufig thematisiert. Das belonging ist ein wichtiges Thema auch noch für die in Britannien geborenen Kinder von Einwanderern, die sich aber nicht mehr in derselben Weise wie ihre Eltern zwischen Kulturen bewegen. Hanif Kureishi, in England geborener Sohn eines pakistanischen Migranten und einer englischen Mutter und einer der bekanntesten Repräsentanten der Black British Literature, hat dies in seinen Essays der 80er Jahre wiederholt betont. Er weist 14 Allerdings läßt sich die Black British Literature weder auf das Identitätsthema noch bestimmte Genres festlegen. Die Palette narrativer Texte erstreckt sich heute über ein breites Band von historischen Romanen (siehe besonders die Werke Caryl Phillips) über Erzählgedichte bis zu Kriminalromanen. Zunehmend rücken manche Autor(inn)en auch von ethnisch distinktiven Themen ab. Hanif Kureishi etwa wählt i n mehreren seiner neuesten Werke ethnisch >unbesetzte< Themen; auch der erste Roman der jungen A u t o r i n Bidisha, Seahorses (1997), behandelt die Probleme postmoderner Identität losgelöst von Fragen der Ethnie. 15

Stein, »The Black British Bildungsroman and the Transformation of Britain«, 93.

Generationsbewußtsein als Element >schwarzer< britischer Identitätsfiktion

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die Einstellung von Altersgenossen zurück, die, von Großbritannien frustriert, noch an die Möglichkeit einer >Rückkehr< ins Land der Eltern glauben: I t is not difficult to see how much illusion and falsity there is in this view. H o w much disappointment and unhappiness might be involved in going >home< only to see the extent to which you have been formed by England and the depth of attachment y o u feel to the place, despite everything. 1 6

A u c h Aussagen über einen kulturellen >Zwischenstatus< der Black Britons weist Kureishi zurück, denn sie implizieren ein >Nicht-Gehören< und sind Elemente eines rassistischen Diskurses, wie er i n den 60er und 70er Jahren oft zu hören war: We didn't know where we belonged, it was said; we were neither fish nor fowl. [ . . . ] We were frequently referred to as >second-generation immigrants< just so there was no mistake about our not really belonging in Britain. [ . . . ] The phrase >caught between t w o cultures< was a favourite. I t was a little too triumphant for me. Anyway, this view was wrong. I t has been easier for us than for our parents. For them Britain really had been a strange land [ . . . ] . But for me and the others of m y generation born here, Britain was always where we belonged, even when we were told - often in terms of racial abuse - that this was not so. Far from being a conflict of cultures, our lives seemed to synthesize disparate elements: the pub, the mosque, t w o or three languages, rock 'n' roll, Indian films. O u r extended family and our British individuality co-mingled. 1 7

Bewußt als >englisch< bestimmt sich denn auch gleich i n den ersten Sätzen der adoleszente Ich-Erzähler von Kureishis erstem Roman, The Buddha of Suburbia (1990): M y name is Karim Amir, and I am an Englishman born and bred, almost. I am often considered to be a funny kind of Englishman, a new breed as it were, having emerged from two old histories. But I don't care - Englishman I am (though not proud of it), from the South London subsurbs and going somewhere. 18

Die Frage des Verwurzeltseins der Zweiten Generation in Britannien w i r d prominent i n einem Roman von Beryl Gilroy gestellt. Gilroy ist eine der wenigen A u t o r innen der Windrusb Generation und eine der seltenen Stimmen aus dieser Generation, die sich literarisch mit den Folgegenerationen befaßt haben (u. a. auch i n Kinder- und Jugendliteratur); Gilroys Geschlecht mag neben ihrer A r beit als Lehrerin dieses Interesse mitbeeinflußt haben. Boy-Sandwich

(1989)

schildert ein Jahr i m Leben eines jungen Mannes, K i n d und Enkel karibischer 16 Hanif Kureishi, »The Rainbow Sign«, in: ders., My Beautiful Laundrette Writings (London 1996), 73-102, hier 100.

17

Hanif Kureishi, »Bradford«, in: My Beautiful Laundrette and Other Writings , 121-

144, hier 134 f. 18

and Other

Hanif Kureishi, The Buddha of Suburbia (London 1990), 3.

22 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

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Arbeitsmigranten. Vor dem Eintritt in die Prestige-Universität Cambridge kümmert sich Tyrone intensiv u m seine Großeltern, die aufgrund von Baumaßnahmen ihr Häuschen verlieren und in ein Altersheim eingewiesen werden (die großen Schwierigkeiten der Windrush Generation, in Britannien ein Zuhause zu finden, werden hier evoziert). I n der Beschäftigung mit den Großeltern werden Tyrone seine eigenen Probleme in und mit der britischen Gesellschaft bewußt, zumal auch seine Generation noch mit Rassismus konfrontiert ist. Tyrones Freundin überlebt einen Bombenanschlag weißer Rassisten nur mit körperlichen und seelischen Schäden (ein Bezug auf das Deptford Fire von 1981, bei dem dreizehn junge Schwarze bei einem Brandanschlag ums Leben kamen). Durch den Verkauf eines unerwartet wertvollen Gemäldes aus dem Besitz der Großeltern kann Tyrone Eltern, Großeltern und Freundin >zurück< in die Karibik bringen, w o sich diese von den Wunden des Lebens in Britannien erholen. Tyrone selbst w i r d jedoch klar, daß die Karibik seine Heimat nicht sein kann; er ist dort für die Angehörigen seiner eigenen Generation nur ein »London black«, 1 9 und i n der Tat hat das Leben in London seine Identität wesentlich stärker geprägt als der Hintergrund seiner Eltern und Großeltern: »I dust myself and walk resolutely home. I want to call myself British for the first time in my life.« 2 0 Das Problem, Britannien als identitätsstiftendes Heimatland zu akzeptieren oder zurückzuweisen, w i r d vor allem jedoch durch Autoren der Second Generation thematisiert, wobei diese Generation einen Aspekt auffällig häufig betont: Die Kinder werden durch die Eltern verpflichtet, Britannien als Heimat wahrzunehmen, denn die Eltern haben gelitten, u m den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie haben Demütigungen ertragen, in menschenunwürdigen Wohnungen gelebt und >niedere< Arbeiten verrichtet und erwarten hierfür eine Wiedergutmachung; die Kinder sollen eine gute Schul- und vielleicht sogar Universitätsbildung erwerben 2 1 und in Britannien erfolgreich sein. Wollen die Kinder, von Rassismus und Ablehnung frustriert, Britannien verlassen und in das Land ihrer Eltern >zurückkehrenIt's our birthright,< Esmine added, meeting Joy's eyes. 24

Auch i m ersten Roman von Andrea Levy, Every Light in the House Burnin ' (1994), w i r d die Frage des Gehörens nach Britannien sehr explizit gestellt. Levy schildert die Geschichte einer Londoner Familie mit jamaikanischem Hintergrund. Ich-Erzählerin ist die jüngste Tochter, die auf der Zeitebene des Erzählens bereits als Designerin etabliert ist, also wie die Schwestern in Fullers Roman den von den Eltern erhofften sozialen Aufstieg geschafft hat. Ihr Vater kam 1948 auf der Empire Windrush ins Land, w i r d durch dieses Detail also in besonderer Weise als Repräsentant der Nachkriegsmigranten-Generation hervorgehoben. Die möglichst weitgehende Anpassung an britische Lebensstandards und das Schaffen eines Heims sind ein wichtiges Ziel der Eltern, die mit ihren Kindern jedes Jahr die Ideal Home Exhibition besuchen, obwohl sie nie Kinder hier als weniger drastisch empfunden w i r d und entsprechend auch i n der Literatur als Thema seltener auftritt. 23

Vernella Füller, Going Back Home (London 1992), 12.

24

Ebd., 219.

22*

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aus dem sozialen Wohnungsbau herauskommen. Wenn ihre Kinder diskriminiert werden, halten die Eltern ihr Selbstbewußtsein hoch und erinnern sie an ihr Recht auf einen Platz in der britischen Gesellschaft. »>Yes, Anne,< m y dad said, >take no notice. You come from here. You don't let them worry you.< >But we're different - we're coloured/ I said. >Look, child,< m y mum said. >You born here. That's what matter.schwarzer< britischer Identitätsfiktion

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wüßt durch das Land, i n dem sie aufgewachsen ist: »>My family are from Jamaica,< I told her. >But I am English.Rückkehr< i n das Geburtsland der Eltern auslöst, ist in beiden Fällen, unabhängig vom sozialen Umfeld der Figuren, der Rassismus. Außer einer solchen Rückkehr bietet sich frustrierten Mitgliedern der Second Generation die Option, sich in Britannien bewußt nicht-britischen Traditionen und >Wurzeln< zuzuwenden. Die Hinwendung junger afrokaribischer Briten zur Rasta-Bewegung während der 70er und 80er Jahre ist eine Erscheinungsform dieser Alternative - wobei hier allerdings auf eine kulturelle Identität zurückgegriffen wurde, zu der sich die meisten Mitglieder der Elterngeneration nicht bekennen wollten. I n den 90er Jahren sind es vor allem jüngere Briten pakistanisch-muslimischer Abstammung, die ihre Identität über Traditionen aus dem Ursprungsland der Eltern zu bestimmen suchen. Auch hier kann es sich u m Traditionen handeln, die die Eltern aus Anpassungsgründen womöglich selbst nicht mehr praktizieren, d. h. die junge >britische< Generation ist dann traditionsbewußter als die eingewanderte Elterngeneration. Hanif Kureishi macht dieses Phänomen zum Gegenstand seiner Kurzgeschichte »My Son the Fanatic« (zuerst 1994 veröffentlicht) und des hiervon adaptierten, gleichnamigen Spielfilms (1998). Hier gerät ein Migrant aus Pakistan in Konflikt mit seinem Sohn, der sich in den späten 80er Jahren zu einem fundamentalistischen Muslim wandelt, weil er sich durch die britische Gesellschaft nicht akzeptiert fühlt. Der Vater, der sich an die britische Lebensweise angepaßt hat (er genießt sogar kroß gebratenen Speck), muß sich jetzt vor seinem Sohn wegen seines >unreinen< Lebenswandels rechtfertigen. Die Generationen verstehen sich nicht mehr: »>[...] this is England. We have to fit in!The Western materialists hate us,< A l i said. >Papa, how can you love something which hates you?schwarzer< britischer Identitätsfiktion

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mus - wenn überhaupt - eher als ein Problem der Mütter- denn ihrer eigenen Generation präsentieren. Verneila Füllers Going Back Home etwa stellt i n seiner Haupthandlung junge Frauen dar, die das sich ihnen i n Großbritannien bietende Potential genutzt haben. Joy und Esmine sind emanzipierte, finanziell und i n ihren Entscheidungen von Männern unabhängige Frauen. I n dieser Entwicklung wurden sie von beiden Eltern bestärkt, für die der Erfolg der Töchter ja eine wichtige H o f f nung erfüllt. O b w o h l der Vater dieser materiell gutsituierten Familie nirgends als Patriarch gezeichnet ist, w i r d allerdings deutlich, daß der Erfolg der Töchter für die Mutter noch eine weitere Bedeutung hat - er ist Voraussetzung für ein unabhängiges Frauenleben. So ermahnt sie ihre Töchter ausdrücklich: »>Whatever eise you may need a man for, it is not to give you status, food and clothes.Orientalische< Frauen sind nach stereotypen westlichen Meinungen besonders durch traditionelle Geschlechtsrollenvorstellungen und patriarchalische Familienstrukturen viktimisiert. Als historisches Schreckensbild weiblichen Gehorsamszwangs i m hinduistischen Indien w i r d noch immer die Witwenverbrennung angeführt, die allerdings schon seit dem 19. Jahrhundert verboten ist. Heute gelten vor allem muslimische Frauen als passive >Opfer< ihrer Väter und Männer - vor allem dort, w o ihre Religion fundamentalistisch ausgelegt w i r d . 3 5 Hier ist aber zu bedenken, daß >restriktive< Geschlechtsrollenvorstellungen östlicher Kulturen gerne benutzt worden sind, u m eine größere Fortschrittlichkeit westlicher Kulturen zu belegen, 36 und daß betroffene Frauen selbst, auch w o sie i n westlichen Kontexten wie i n Britannien leben, traditionelle Bräuche (wie arrangierte Ehen oder Kleidervorschriften) keineswegs nur ablehnen und sich nicht pauschal durch ihre Familien >unterdrückt< fühlen. 3 7 Vielmehr ist das Verhältnis der Töchter (und Söhne) von Migranten aus dem indischen Subkontinent zur Elterngeneration vom Zusammenspiel vieler Faktoren determiniert: nicht nur der Religionszugehörigkeit und dem Grad der Religiosität, sondern z. B. auch der Klassenzugehörigkeit der Familie oder der Zeit, seit der sie bereits i n Britannien ansässig ist. I m Gegensatz zur karibischen Second Generation sind viele Kinder dieser Migrantenpopulation v o m Subkontinent auch in Großfamilienverbänden aufgewachsen, w o eine >Kontrolle< der jungen Generation, insbesondere auch i n H i n b l i c k auf traditionelles Geschlechtsrollenverhalten, weit über die unmittelbar Erziehungsberechtigten hinausgehen kann. 35 Zur generellen Bedeutung von Patriarchalismus in fundamentalistischen Systemen vgl. N i r a Yuval-Davis, »Fundamentalism, Multiculturalism and Women«, in: Donald und Rattansi (Hgg.), >Raceschwarzer< britischer Identitätsfiktion

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Der Bedeutung der Tradition für Frauen mit hinduistischem oder Sikh-Hintergrund geht in den 90er Jahren die A u t o r i n Meera Syal in Roman und F i l m nach. 3 8 Ihr Roman Anita and Me (1996) schildert das Leben des Mädchens Meena i m Alter zwischen neun und elf Jahren in einem ehemaligen Bergarbeiterdorf in den Midlands, wohin ihre Eltern aus dem Punjab gekommen sind. Geschlechtsspezifische Erfahrungen sind in dieser Initationsgeschichte nicht dominant; Meenas Erfahrungen werden primär durch andere Faktoren determiniert: das Gefühl, die Hoffnungen der Eltern nicht enttäuschen zu dürfen, den Kontakt mit zwei Kulturen, die Erfahrung von Klassenunterschieden und Sozialneid (Meenas gebildete Familie ist i m Arbeitermilieu des Dorfes eine der wenigen Familien mit Chancen zum sozialen Aufstieg), die Ausbreitung des Rassismus in ihrer Umgebung. Trotzdem klingen auch geschlechtsspezifische Erfahrungen an, und zwar besonders in bezug zum Großfamilienverband. Meenas Eltern haben ihre leiblichen Verwandten zwar i m Punjab zurückgelassen, sich durch den Kontakt zu anderen indischen Familien jedoch eine Ersatzfamilie geschaffen. O b w o h l Meenas Eltern >modernKusinen< als Vorbild präsentiert; sie lehnt dieses Modell jedoch ab und orientiert sich stattdessen an der weißen, frühreifen und >wilden< Anita (»another mad bad girl trapped inside a superficially obedient body« 3 9 ) - bis sie Anitas Verstrickung in den sich i m D o r f ausbreitenden Rassismus erkennt. Meena w i r d dann klar, daß sie ihren eigenen Weg der Identitätsfindung beschreiten muß, auch unter Akzeptanz ihrer >indischen< Seite, die sie jedoch selbst entdecken muß und nicht einfach als Tradition übernehmen kann. Syals Roman erzählt die individuelle Initiationsgeschichte eines Mädchens während der 70er Jahre; ihr Drehbuch zu dem Spielfim Bhaji on the Beach (1993) widmet sich speziell den Problemen von Generation und Geschlecht,

38

Relevant i n diesem Kontext ist auch Ravinder Randhawas Roman A Wicked Old Woman (1987), der bei Martina Michel, »Un(der)-Cover. Ravinder Randhawa's A Wicked Old Woman«, Anglistik und Engliscbunterricht, 60 (1997), 143-157, ausführlich besprochen ist. 39 Syal, Anita and Me y 149 f. Meenas Hingezogensein zu Anita erklärt sich nicht nur durch Anitas Charakter- und Verhaltenszüge, sondern auch dadurch, daß Meena sich während der geschilderten Lebensphase an dem weißen Schönheitsideal der gängigen Mädchenzeitschriften orientiert. Meena findet, daß sie diesem Ideal weder i n Hautfarbe noch Körperbau entspricht, während Anitas Normkörper ein Attraktivitätskriterium der Zeitschriften voll erfüllt: Sie kommt bei weißen Jungen problemlos an. Die Bedeutung weißer Schönheitsideale für heranwachsende nichtweiße Mädchen klingt auch in Andrea Levys Every Light an, w o sich afrokaribische Mädchen beim Friseur schmerzhaft die Krause aus den Haaren ziehen lassen.

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wie sie sich für Frauen indischer Abstammung i m England der 90er Jahre stellen. I n der Filmhandlung bricht eine indische Frauengruppe aus Birmingham zu einem Tagesausflug nach Blackpool auf. 4 0 Die Frauen stammen plakativ aus verschiedenen Generationen, von der Großmutter bis zu pubertierenden Teenagern, so daß Einstellungen von Erster und Zweiter Generation deutlich kontrastiert werden können. Eine junge Frau der Second Generation, die Feministin Simi, hat den Ausflug organisiert, u m den Frauen wenigstens für einen Tag Erholung von Patriarchalismus und Rassismus zu bieten: »It's not often that we women get away from the patriarchal demands made on us i n our daily lives, struggling under the double yoke of racism and sexism.« 41 Simi ist die einzig politisch aktive Teilnehmerin des Ausflugs, an dessen Ende allerdings allen Frauen deutlich geworden ist, daß sie den alltäglichen Rassismus und insbesondere den Sexismus ihrer eigenen Männer nicht einmal einen Tag hinter sich lassen können. Für die jungen erwachsenen Frauen der Second Generation stellt der F i l m alternative Lebenswege vor, die durch Traditionen mehr oder weniger belastet sind. Simi ist engagierte Feministin; Hashidas >moderne< Eltern wollen, daß ihre Tochter Medizin studiert und Karriere macht (eine Hoffnung, die Hashida durch die ungeplante Schwangerschaft von ihrem afrokaribischem Freund allerdings zu enttäuschen droht); Ginder leidet unter dem Druck eines traditionellen Frauenbildes ihrer Familien. Sie hat sich von ihrem gewalttätigen Mann scheiden lassen und ist mit ihrem kleinen Sohn in ein Frauenhaus gezogen. Sow o h l Ginders eigene Eltern als auch die des Ex-Mannes wollen, daß sie diese >westliche< Lösung ihrer Eheprobleme rückgängig macht. Ginder wäre auch bereit, dem Mann eine neue Chance zu geben, allerdings nur, wenn er sich aus seiner Großfamilie lösen könnte und mit ihr eine selbständige Kleinfamilie gründen würde. Die jungen, in Britannien geborenen Frauen werden durch die ältere, noch eingewanderte Frauengeneration mit unterschiedlichem Verständnis betrachtet. Die Großmutter Pushpa ist, fast schon karikierend, über alle Verletzungen traditioneller Sitten schockiert. Asha, eine Frau u m die fünfzig mit erwachsenen Kindern, mißbilligt viele Entscheidungen der Töchtergeneration, w i r d sich aber auch ihrer eigenen Unzufriedenheit mit einer traditionellen Frauenrolle zunehmend bewußt: »I went to College, m y life was not meant to be like this«; »Duty, honour, sacrifice, what about me?« Die älteren Frauen lernen schließlich Ginders Mann kennen, der der Frauengruppe mit seinen beiden Brüdern und auf 40 E i n >Bhaji< ist die englische Abwandlung einer indischen Vorspeise - so wie auch die Figuren des Films durch ihr Leben i n Britannien mehr oder weniger anglisiert worden sind. 41

Alle Zitate wurden aus der Filmfassung transkribiert.

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Geheiß seiner Eltern nachgereist ist, u m seinen Sohn zu kidnappen und wenigstens ihn in den Schoß der Großfamilie zurückzuführen. Bei einer Aussprache mit Ginder w i r d er wieder gewalttätig, was Ginders >moderne< Entscheidung jetzt auch den älteren Frauen verständlich macht. Dabei präsentiert der F i l m allerdings nicht nur eine Frau, sondern auch einen Mann der Second Generation als Opfer traditioneller Geschlechtsrollenvorstellungen: Ginders Ex-Mann hat seine Frau geschlagen, weil sie sich nicht in seine Großfamilie einfügen w i l l und er deshalb bei den Eltern als Schwächling gilt - i m Gegensatz zu seinem älteren Bruder, der die Rolle des künftigen Familienpatriarchen und Traditionsbewahrers bereits als junger Mann internalisiert hat. Der jüngste der Brüder dagegen unterstützt Ginder und stellt sich gegen seine Brüder. Soweit dies i m Rahmen eines Spielfilms mit Standardlänge möglich ist, versucht Bhaji on the Beach also, das Verhältnis von Geschlecht, Generation und Traditionsabhängigkeit differenziert darzustellen und vermeidet eine einfache Gleichung, nach der nur die ältere Generation als Hüter von Traditionen zu betrachten wäre. Die Chancen gleichberechtigter Geschlechterrollen beanspruchen in Großbritannien zunehmend auch muslimische Frauen der Second Generation. Von den literarischen Äußerungen dieser Frauen hat Farhana Sheikhs Roman The Red Box (1991) bislang w o h l die weiteste Beachtung gefunden. O b w o h l er das Thema der Identität muslimischer Frauen und Mädchen ebenfalls plakativ und mit einer stellenweise recht konstruierten Handlung angeht, versucht dieser Roman auch, der Heterogenität muslimischer Frauenerfahrung in Britannien gerecht zu werden. Mitte der 80er Jahre untersucht die etwa 30jährige Raisa, die i n Britannien aufgewachsen ist und aus einer wohlhabenden und relativ liberalen Familie stammt (trotzdem aber die mehrfache Viktimisierung der eigenen Mutter entdecken muß), für eine Studie die Identität und das Traditionsbewußtsein zweier 15jähriger muslimischer Schülerinnen aus dem Arbeitermilieu. Die Mädchen heben sich nicht nur von der wohlhabenden Raisa ab, sondern lehnen sich auch unterschiedlich stark gegen Traditionen auf, was sehr deutlich mit ihren jeweiligen Familienhintergründen, vor allem der jeweiligen Traditionseinbindung und dem Grad der Selbständigkeit ihrer Mütter, in Bezug gesetzt wird. Die bislang publikumswirksamsten Werke über Black Britons mit pakistanisch-muslimischem Hintergrund stammen jedoch von einem männlichen A u tor, der die weibliche Erfahrung seiner Generation eher punktuell berücksichtigt. Hanif Kureishi wurde durch sein Drehbuch für den F i l m My Beautiful Laundrette (1986) international bekannt. Hauptfigur des Films ist ein junger Mann aus pakistanischer Familie, der in den 70er Jahren mit seinem weißen Freund Johnnie einen heruntergekommenen Waschsalon zu einem Geschäftserfolg macht. Während Johnnie zu seinen Eltern keinerlei Kontakt zu haben scheint, ist für Omar die Beziehung zur Elterngeneration äußert wichtig. Er ver-

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sorgt seinen Vater, einen alkoholkranken Intellektuellen, und läßt sich von seinem geschäftstüchtigen Onkel Nasser unterstützen, der sich in der Rolle des Familienpaschas gefällt. Bei aller noch vorhandenen Familienbindung muß die Second Generation jedoch, so legt der Film nahe, andere Wege beschreiten als die Eltern, auch was die Geschlechterrollen und sexuelle Orientierung betrifft. Diese sind bei Kureishi für die junge Generation instabil geworden. Omar hat eine homoerotische Beziehung mit Johnnie, würde sich aber auch mit Tania, der ältesten Tochter des Onkels, verheiraten lassen. Tania fühlt sich zwar tatsächlich zu Omar hingezogen, würde ihre Ehe aber unter keinen Umständen arrangieren lassen und verläßt deshalb ihre Familie, was der Vater nicht verstehen kann. I n Kureishis Roman The Buddha of Suburbia, dessen Handlung ebenfalls in den 70er Jahren angesiedelt ist, ist die Hauptfigur ebenfalls männlich: Weiblicher Erfahrung w i r d hier aber etwas breiterer Raum eingeräumt als in My Beautiful Laundrette. Auch i m Roman fällt aber auf, daß traditionsbedingte Geschlechtsrollenkonflikte eher für Frauen als für Männer der Second Generation bestehen. Zwar propagiert der Roman für die junge Generation wieder Rollenvielfalt, aber die muslimische Frau hat größere Schwierigkeiten, diese Vielfalt zu beanspruchen als der muslimische Mann. Karim, der heranwachsende Ich-Erzähler, probiert, durch seine Eltern weitgehend unbehelligt, zahlreiche Rollen i m Privatleben wie in seiner sich aufbauenden Karriere als Schauspieler. Zunächst scheint auch die Entwicklung der zentralen Frauenfigur des Romans ähnlich ungestört zu verlaufen. Jarmilas Eltern sind mit ihrem Lebensmittelladen beschäftigt und lassen der Tochter zunächst freie Entwicklungsmöglichkeiten. Jarmila w i r d schon früh zur Feministin und weiß sich auch gegen den zunehmenden Rassismus ihrer Umgebung aktiv zu wehren. Dieser Rassismus treibt ihren Vater allerdings in Traditionen seiner alten Heimat zurück; er w i r d nach vielen Jahren wieder religiös und kehrt jetzt zuhause den Patriarchen heraus: »Like many Muslim men [ . . . ] Anwar thought he was right about everything. N o doubt on any subject ever entered his head.« 42 Seine Tochter w i l l er nun mit einem Mann aus Pakistan verheiraten, den sie nie zuvor gesehen hat. Als sie sich weigert, erpreßt sie der Vater durch einen Hungerstreik. Jarmila willigt schließlich um der Mutter willen in die Heirat ein, betreibt gegen den Zwangsangetrauten allerdings passiven Widerstand. Sie verweigert ihm die Ehepflicht und zieht schließlich in eine Kommune, w o sie ihre Vorstellungen von einem sinnvollen Leben verwirklichen w i l l - mit einem Kind, das sie von einem anderen Mann empfangen hat, und in einer lesbischen Liebesbeziehung. I n My Beautiful Laundrette wie in The Buddha of Suhurhia sind die gegen Traditionen aufbegehrenden Frauen mit Sympathie gezeichnet, w i r d das Er42

Ebd., 172.

Generationsbewußtsein als Element >schwarzer< britischer Identitätsfiktion

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greifen von Möglichkeiten, die das Leben in Britannien gerade Frauen bietet, positiv gewertet. Die Handlungen von Film und Roman spielen allerdings zu einer Zeit, bevor gegen Ende der 80er Jahre auch bei britischen Muslimen fundamentalistische Strömungen verbreitet Anklang fanden. Kureishis Roman The Black Album (1995) nimmt die Rushdie-Affäre zum Anlaß, den Fundamentalismus als neue Komponente pakistanisch-britischer Lebensweise auszuloten. Der Ich-Erzähler Shadid, in England in einer liberalen Umgebung aufgewachsen, kommt in Kontakt mit einer fundamentalistischen Studentengruppe; er bringt für die Bewegung zunächst Verständnis auf, weil er sie als Reaktion gegen britischen Rassismus sieht, distanziert sich jedoch, als die Restriktivität und Radikalität der fundamentalistischen Positionen immer evidenter wird. Weibliche Figuren nehmen auch in diesem Roman nur eine Randstellung ein. Immerhin deutet sich jedoch an, daß selbst der Fundamentalismus die i n Britannien aufgewachsenen Frauen nicht mehr vollends in das Joch des Patriarchalismus zurücktreiben kann. Die weiblichen Mitglieder der Studentengruppe sind aus eigener Entscheidung zwar bereit, den Keuschheitsgeboten des Islam Folge zu leisten, ihren Körper zu verhüllen und damit diskriminierende Äußerungen auf sich zu ziehen. Sie verlangen dasselbe aber auch von den Männern: »>You brothers urge us to cover ourselves but become strangely evasive when it comes to your o w n clothes. Can't you wear something looser?weiße< Fiktionen britischer Identität der 90er Jahre beziehen die Black Britons zentral ein - wobei sich hier die Ethnien über die Generationen hinweg in auffälliger Weise vermischen: I n Marina Warners Roman Indigo (1992), einer Adaptation von Shakespeares The Tempest, setzt sich in der Gegenwartshandlung eine schwarze britische Miranda mit ihren teils weißen Eltern und Großeltern (und damit auch der Kolonialgeschichte ihrer Familie) auseinander. I n M i k e Leighs preisgekröntem Spielfilm Secrets and Lies (1996) 43

Hanif Kureishi, The Black Album (London 1996 [zuerst 1995]), 105.

350

Barbara Körte

w i r d eine weiße Mutter unerwartet mit der Existenz einer schwarzen Tochter konfrontiert, die sie bei der Geburt zur Adoption freigegeben hatte. I n beiden Beispielen hat das weiße Britannien nicht nur i m metaphorischen, sondern i m konkret-wörtlichen Sinn schwarze Kinder und Enkel, zu denen es sich bekennen muß.

»Verbal Fictions?« Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur"' Von Ansgar

Nünning

I. Zur Neubewertung des Verhältnisses zwischen Historiographie und Literatur Die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Historiographie und Literatur bildet seit jeher ein zentrales Thema der literaturtheoretischen Diskussion. 1 Für Aristoteles war die A n t w o r t auf die Frage, welche Aufgaben der Geschichtsschreiber und der Dichter zu erfüllen hätten, noch eindeutig, denn >der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnten Diese klare Abgrenzung von Dichtung und Historiographie nach dem ontologischen Unterschied zwischen ihren Referenten und die Uberzeugung vom unterschiedlichen Wirklichkeitsbezug von Literatur und Geschichtsschreibung haben die Theorietradition, die sich seit dem 17. Jahrhundert vor allem mit der Frage nach der Beziehung zwischen Roman und Historiographie auseinandergesetzt hat, nachhaltig geprägt. Daß die auf Aristoteles zurückgehende Ansicht, der Historiker schildere tatsächliches Geschehen, während sich der Dichter mit dem Bereich des Möglichen befasse, bis heute nachwirkt, zeigt sich etwa an der modernen Unterscheidung zwischen fiktionalem und nichtfiktionalem Erzählen: »Historisches Erzählen behandelt res factae; nicht-historisches Erzählen bezieht sich auf res fictae.« 2 * Meiner Mitarbeiterin Klaudia Seibel möchte ich herzlich für die Akribie danken, m i t der sie das Manuskript durchgesehen, die Zitate und bibliographischen Angaben überprüft und die Formatierung vorgenommen hat. 1 Zur älteren europäischen Dichtungstheorie vgl. Klaus Heitmann, »Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in älterer Theorie«, Archiv für Kulturge schichte y 52 (1970), 244-279, der erstmals die Resultate der zahlreichen Vergleiche von Dichtung und Geschichtsschreibung i m Zusammenhang darstellt. 2

Jörn Rüsen, »Die vier Typen des historischen Erzählens«, Formen der Geschichtsschreibung. Eds. Reinhart Koselleck, Hartmut L u t z und Jörn Rüsen (München 1982), 514-605, hier 526.

352

Ansgar Nünning

Gleichwohl ist das Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und F i k t i o n i n der Postmoderne i n mehrfacher Hinsicht problematisch geworden. Uberblickt man die Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte, i n denen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Literatur überaus kontrovers diskutiert worden ist, so zeigt sich, daß die ehemals unproblematische A b grenzung von F i k t i o n und Historiographie inzwischen der Einsicht gewichen ist, daß es zwischen literarischen und historiographischen Diskursen eine Vielzahl von Parallelen und Überschneidungen gibt. 3 Die herkömmliche Unterscheidung zwischen Historiographie und Literatur ist auf der einen Seite von konstruktivistisch orientierten und narrativistischen Ansätzen i n der Geschichtstheorie unterminiert worden. M i t ihrem Nachweis, daß sich Historiker bei der Anordnung und Darstellung des Materials literarischer Darstellungsmittel (etwa archetypischer Erzählmuster und rhetorischer Figuren) bedienen, haben vor allem erzähltheoretisch orientierte Studien von Geschichtstheoretikern wie A r t h u r Danto, Walter Bryce Gallie, Lionel Gossman, D o m i n i c k LaCapra, Louis M i n k , Paul Ricoeur und Hayden White die aus der strukturellen Identität der Erzählformen resultierende enge Verwandtschaft zwischen historiographischen und fiktionalen Werken betont. 4 Die daraus abgeleitete Einsicht i n die literarische Dimension der Historiographie hat zu einer weitreichenden Neubewertung der Geschichtsschreibung und des Verhältnisses zwischen H i storiographie und Literatur geführt. Aus formalen und strukturellen Ähnlichkeiten zwischen wissenschaftlichen Geschichtswerken und literarischen Erzähltexten leiten die Theoretiker der narrativistischen Schule die von Ricoeur auf den Begriff gebrachte These von der »structural identity of historiography [ . . . ] and fictional narrative« ab. 5 Beschränken sich narrati vis tische Geschichtstheoretiker darauf, Geschichtsschreibung aufgrund formaler Parallelen wieder i n die Nähe der Literatur zu rücken, so haben auf der anderen Seite sowohl die moderne Literatur als auch neue Entwicklungen i n der Literatur-, Diskurs- und Erkenntnistheorie dazu beigetragen, die Grenze zwischen Realität und F i k t i o n zu verwischen. I m Zuge 3 Einen vorzüglichen Überblick über diesen Diskussionszusammenhang geben Steven Rowan und Gerhild Scholz Williams, »Historical Questions and Literary Answers: A Dialogue«, Germanisch-Romanische Monatsschrift , 35 (1985), 129-156 sowie der Forschungsbericht von Gerhild Scholz Williams, »Geschichte und die literarische Dimension: Narrativik und Historiographie i n der anglo-amerikanischen Forschung der letzten Jahr-

zehnte. Ein Bericht«, Deutsche Vierteljahrsschrift

für Literaturwissenschaft

und Geistes-

geschichte , 63 (1989), 315-392. 4

Vgl. dazu den glänzenden Überblick von Robert F. Berkhofer, Jr., Beyond the Great

Story: History as Text and Discourse (Cambridge, Mass./London 1995) sowie Paul Ricœurs 3-bändiges Monumentalwerk Time and Narrative 1988). 5

Ricoeur, Time and Narrative,

Bd. 1, 3.

(Chicago/London 1984, 1985,

»Verbal Fictions?«

353

des linguistic turn ist vor allem das Bewußtsein von der sprachlichen Bedingtheit, Zeichenvermitteltheit und Konstrukthaftigkeit jeglicher Form von W i r k lichkeitserfahrung und Erkenntnis - und damit auch der Historiographie enorm gewachsen. Das Spektrum der theoretischen Ansätze, die nachhaltig zur Problematisierung des Verhältnisses zwischen Literatur und Geschichte i m Zeitalter der Postmoderne beigetragen haben, reicht vom New Historicism , der die Historizität der Literatur sowie die Textualität der historischen Überlieferung und der Historiographie betont, 6 über poststrukturalistische und dekonstruktivistische Ansätze, die die Zentralität des Subjekts zugunsten der Einsicht in die sprachliche Verfaßtheit aller kulturellen Ordnungen zurückweisen und das Individuum in ein freies Spiel der Signifikanten auflösen, 7 bis zum radikalen Konstruktivismus, der die Vorstellung von der Erkennbarkeit einer objektiven und unabhängig vom beobachtenden Subjekt existierenden Wirklichkeit erschüttert. 8 Diese Ansätze haben nicht nur traditionelle Dichotomien wie >Text vs. KontextFiktion vs. W i r k l i c h k e i t oder >Kunst vs. Wissenschaft^ sondern auch die aristotelische Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung in Zweifel gezogen. Schematisch vereinfacht lassen sich in der gegenwärtigen Debatte über die Frage nach der theoretischen Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und fiktionaler Erzählliteratur zwei Richtungen unterscheiden. 9 Zur einen Gruppe gehören jene Geschichts- und Literaturtheoretiker, für die historische und fiktionale Erzählungen grundsätzlich verschieden sind. 1 0 Die unüberbrückbare Kluft, die zwischen den beiden Diskursen bestehe, gründe in ihrem 6 Vgl. die Beiträge in dem von H . Aram Veeser herausgegebenen Band The New Historicism ( L o n d o n / N e w York 1989) sowie zuletzt Ciaire Colebrook, New Literary Histories:

New Historicism and Contemporary Criticism (Manchester 1997). 7

Zur Vielfalt poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Ansätze vgl. Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus ? (Frankfurt a.M. 1983). 8

Vgl. dazu die von S. J. Schmidt herausgegebenen Sammelbände Der Diskurs des Radi-

kalen Konstruktivismus (Frankfurt a.M., 1987) und Kognition und Gesellschaft: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2 (Frankfurt a.M. 1992). 9 Es versteht sich, daß es sich bei dieser Charakterisierung von zwei diametral entgegengesetzten Positionen, die bezüglich der Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Historiographie und Fiktion vertreten werden, u m eine bewußt zugespitzte und radikal vereinfachte Gegenüberstellung handelt. Vgl. dazu Roger G. Seamon, »Narrative Practice and the Theoretical Distinction Between History and Fiction«, Genre , 16,3 (1983), 197-218, der einen konzisen Überblick über die verschiedenen Positionen gibt. 10 Vgl. stellvertretend für viele andere Warner Berthoff, »Fiction, History, M y t h : Notes toward the Discrimination of Narrative Forms«, The Interpretation of Narrative: Theory and Practice. Ed. M . W. Bloomfield (Cambridge, Mass., 1970), 263-287; Barbara Foley,

Telling the Truth: The Theory and Practice of Documentary Fiction (Ithaca/London, 1986) sowie die Arbeiten von D o r r i t Cohn und Gérard Genette (s. A n m . 40). 23 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40. Bd.

354

Ansgar Nünning

unterschiedlichen Wahrheitsanspruch. Wahrend sich Historiker mit der Rekonstruktion von Ereignissen befassen, die in der Vergangenheit wirklich stattgefunden haben, schildern Romane erfundenes Geschehen und fiktive Figuren, die in der Wirklichkeit keine Entsprechung haben. Darüber hinaus haben führende Narratologen in jüngster Zeit in den Debatten u m Fiktionalität darauf hingewiesen, daß sich fiktionale Erzähltexte auch in formaler Hinsicht von nicht-fiktionalen unterscheiden. I m Gegensatz dazu sind in den letzten Jahrzehnten verstärkt die Parallelen und Gemeinsamkeiten zwischen Geschichtsschreibung und Literatur hervorgehoben worden. Die meisten Studien, die die enge Affinität zwischen Fiktion und Historiographie betonen, gehen vom Aspekt der narrativen Form aus, die als wichtigstes Merkmal gilt, das literarische Erzähltexte und Geschichtsschreibung gemeinsam haben. Stellvertretend für viele andere Theoretiker, die ähnlich argumentieren, sei Gossman zitiert, der die Parallelen zwischen »history and fictional story-telling« so begründet: »Since each is realized in and through narrative, the shape of narrative and the view of the w o r l d that particular narrative forms convey may well be common to both at any given time.« 1 1 Maßgeblichen Anteil an dieser Nivellierung des Gegensatzes zwischen historischem und literarischem Erzählen hat der amerikanische Geschichtstheoretiker Hayden White, der als der einflußreichste Repräsentant der postmodernen Historiographie - als »the foremost advocate and self-reflexive practitioner of postmodern historiography« 1 2 - gilt. Seine Arbeiten sind nicht nur in der anglo-amerikanischen Geschichts- und Literaturtheorie intensiv rezipiert worden, sondern sie liegen seit einigen Jahren sogar in deutscher Übersetzung v o r 1 3 und haben auch der literaturwissenschaftlichen Forschung wichtige I m 11

Lionel Gossman, »History and Literature: Reproduction or Signification«, The Writ-

ing of History: Literary Form and Historical

Understanding.

Eds. Robert H. Canary und

Henry Kozicki (Madison 1978), 3-39, hier 10. Vgl. auch Seamon, »Narrative Practice«, 202: »The most obvious similarity between poetry and history is that both take the form of narrative.« 12 Wulf Kansteiner, »Hayden White's Critique of the Writing of History«, History Theory, 32 (1993), 273-295, hier 273.

and

13

Zur Rezeption Whites vgl. William H . Dray, »The Politics of Contemporary Philosophy of History: A Reply to Hayden White«, Clio , 3,1 (1973), 55-76; David Konstan, »The Function of Narrative in Hayden White's Metahistory«, Clio , 11,1 (1981), 65-78; Donald Ostrowski, »A Metahistorical Analysis: Hayden White and Four Narratives of >Russian< History«, Clio , 19,3 (1990), 215-236. I n deutscher Übersetzung liegen vor: Meta-

history. Die Historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1991), Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (Stuttgart: Klett-Cotta, 1986) und Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung (Frankfurt a.M.: Fischer, 1990). Eine knappe, aber sehr gute Zusammenfassung von Whites zentralen Thesen liefert Ricoeur, Time and Nar-

rative, Bd. 1,161-168.

•Verbal Fictions?«

355

pulse gegeben. 14 Konsequenter und pointierter als alle anderen Geschichtstheoretiker hat White in zahlreichen Publikationen seine These verfochten, daß auch die Historie lediglich ein Konstrukt oder eine Erfindung sei, gleichsam eine kollektive verbale Fiktion. Er betrachtet historiographische Werke primär als narrative Konstrukte bzw. »verbal artifacts«: 15 I w i l l consider the historical w o r k as what it most manifestly is - that is to say, a verbal structure i n the form of a narrative prose discourse that purports to be a model, or icon,

of past structures and processes in the interest of explaining what they were by representing them. 16 Wenn White einem seiner einflußreichsten Aufsätze den ebenso bezeichnenden wie provokativen Titel »The Historical Text as Literary Artifact« (TD, 81-100) gibt, wenn er mit Nachdruck auf »the fictive nature of historical narrative« (TD, 89) hinweist und wenn er historiographische Erzählungen sogar als »verbal fictions« (TD, 82) charakterisiert, so läßt dies keinen Zweifel daran, daß seine Überlegungen auf eine völlige Nivellierung der Unterschiede zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung hinauslaufen. Gleichwohl ist damit die Frage, ob und wodurch sich die Konstruktion historiographischer und literarischer Wirklichkeitsmodelle voneinander unterscheiden, noch keineswegs geklärt. Diese offene Frage bildet den Ausgangspunkt und das Thema der folgenden Überlegungen, die das i n den letzten Jahren kontrovers diskutierte Problem der Differenz zwischen historischem und literarischem Erzählen zu beleuchten und den Nachweis für die zentrale These zu erbringen versuchen, daß es i m Gegensatz zur postmodernen Einebnung der Differenz zwischen literarischem und historischem Erzählen und trotz der gemeinsamen Narrativität eine Vielzahl grundlegender Unterschiede zwischen den beiden Diskursformen gibt. Vorweggeschickt sei allerdings, daß es i m Rahmen eines Artikels unmöglich ist, den Verlauf der komplexen Theoriediskussionen über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Literatur und Geschichtsschreibung zu rekonstru14

Vgl. stellvertretend für einige andere Publikationen den ausgezeichneten Sammel-

band Historiographie

Metafiction

in Modern American and Canadian Literature.

Eds.

Bernd Engler und K u r t Müller (Paderborn, 1994), insbesondere die prägnante Einleitung von Engler, »The Dismemberment of Clio: Fictionality, Narrativity, and the Construction of Historical Reality in Historiographie Metafiction«, 13-33. 15

Hayden White, Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism (Baltimore/London:

Johns Hopkins University Press, 1978), 122. Zitate aus dieser Ausgabe werden i m Text i n Klammern durch die Abkürzung TD sowie die entsprechenden Seitenzahlen belegt. 16

Hayden White, Metahistory:

The Historical Imagination in Nineteenth Century Eu-

rope (Baltimore/London: Johns Hopkins University Press, 1973), 2. Zitate aus dieser Ausgabe werden i m Text i n Klammern durch die Abkürzung M sowie die entsprechenden Seitenzahlen belegt. 23*

356

Ansgar Nünning

ieren oder die Arbeiten Whites umfassend zu würdigen. Vielmehr konzentriert sich die folgende problemorientierte Darstellung auf drei Aspekte: A n eine kurze Darstellung von Hayden Whites Poetik und K r i t i k der Geschichtsschreibung (II. ) schließt sich eine kritische Auseinandersetzung mit der daraus resultierenden Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur an (III.). Z u m Zwecke der Abgrenzung literarischen und historischen Erzählens werden i m vierten Teil neben einigen textuellen Indikatoren, die den Fiktionscharakter literarischer Erzähltexte signalisieren, einige fiktionale Privilegien bei der Selektion und literarischen Vermittlung von Geschichte erörtert. Ein kurzes Fazit sowie ein Ausblick auf neuere Entwicklungen beschließen diese Problemskizze (V.).

I I . Z u Hayden Whites Poetik und Kritik der Geschichtsschreibung Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts galt die Historiographie bekanntlich selbst als ein Zweig der Literatur. 1 7 A u c h Geschichtsschreibung wurde an rhetorischen, stilistischen und künstlerischen Qualitäten sowie ihrem moralischen und didaktischen N u t z e n gemessen. Erst mit dem Aufkommen positivistischer Geschichtsschreibung und dem Anspruch der Historiographie auf Wahrheit und Objektivität entwickelte sich eine klare funktionale Differenzierung zwischen Historiographie und Literatur, die sowohl durch die literarischen Innovationen des Ästhetizismus und Modernismus als auch durch die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Historiographie i m 20. Jahrhundert verstärkt wurde. Die daraus entstandene Kluft zwischen den beiden Diskursen sowie traditionelle Auffassungen von den Unterschieden zwischen literarischen und historiographischen Werken sind i n der Postmoderne sowohl von Seiten der Geschichtstheorie als auch durch innovative Formen literarischer Geschichtsdarstellung grundlegend in Zweifel gezogen worden. Die auf Aristoteles zurückgehende klare Abgrenzung von Dichtung und Geschichtsschreibung ist inzwischen der Einsicht gewichen, daß es zwischen Historiographie und Literatur eine Vielzahl von Parallelen gibt. Zur Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Fiktion haben schon vor bzw. unabhängig von Whites Arbeiten semiologisch und poststrukturalistisch ausgerichtete Literatur- und Diskurstheoretiker wie Hernadi 17 Für einen kurzen Abriß der diachronen Veränderungen des Verhältnisses zwischen Roman und Historiographie vgl. meinen Artikel »The Novel in Relation to History«, Encyclopedia of the Novel. Ed. Paul E. Schellinger (Chicago 1998). Eine ausführliche Rekonstruktion bietet Heinz-Joachim Müllenbrock, »Historischer Roman und Geschichtsschreibung: Ein Abriß ihrer Entwicklung und Wechselbeziehungen i m Viktorianischen

England«, Literatur in Wissenschaft und Unterricht,

12 (1979), 74-88.

»Verbal Fictions?«

357

und Miller auf amerikanischer und Barthes, Foucault und Derrida auf französischer Seite beigetragen. 18 Für diese sei, wie White treffend resümiert, jede Form von Erzählung »simply one discursive >code< among others, w h i c h might or might not be appropriate for the representation of >reality,< depending only on the pragmatic aim i n view of the speaker of the discourse«. 19 White selbst führt die »affiliation of narrative historiography w i t h literature and myth« ebenfalls auf Mechanismen der diskursiven Sinnproduktion - »the systems of meaningproduction shared by all three« (»Question«, 21) - zurück. Besonders pointiert kommen die daraus resultierende Aufhebung der Unterscheidung zwischen historischem und fiktionalem Diskurs sowie die poststrukturalistische Uberzeugung von der Arbitrarität der Verbindung von Signifikant und Signifikat i m Zeichen in einem frühen A r t i k e l von Barthes über den Diskurs der Historiographie zum Ausdruck. Darin versucht Barthes, die Aporien jener A r t von narrativer Geschichtsschreibung zu entlarven, die Saussures Einsichten ignoriere, den Referenten (signifié) (signifiant)

mit der sprachlichen Beschreibung

gleichsetze und die Funktion des Diskurses auf »the mere expres-

sion of reality« beschränke: It turns out that the only feature which distinguishes historical discourse from other kinds is a paradox: the >fact< can only exist linguistically, as a term in a discourse, yet we behave as if it were a simple reproduction of something on another plane of existence altogether, some extra-structural >realityoutside< itself that can in fact never be reached. 20

Als wichtigste Parallele zwischen Historiographie und fiktionaler Erzählliteratur gilt die beiden gemeinsame narrative Form. Damit knüpft die zeitgenössische Literatur- und Geschichtstheorie wieder an die bis zur M i t t e des 19. Jahrhunderts vorherrschende Auffassung an, daß auch die Geschichtsschreibung eine Kunst sei. Verschiedene Theoretiker, unter ihnen White, haben den fiktiven Charakter der Historiographie nachzuweisen versucht, indem sie die von ihr verwendeten Erzählstrukturen und den Rückgriff der Geschichtsschreibung auf literarische Erzählmuster untersucht haben. 18

Zur Dekonstruktion der Unterscheidung zwischen fiktionalem und historischem Erzählen vgl. Gossman, »History and Literature«, 22, der auf »many points of resemblance between the discourse of historians and that of novelists« hinweist, sowie die im folgenden erörterten Arbeiten Whites. 19 Hayden White, »The Question of Narrative in Contemporary Historical Theory«, History and Theory , 23 (1984), 1-33, hier 7. Zitate aus diesem Aufsatz werden im Text in Klammern durch die Abkürzung »Question« sowie die entsprechenden Seitenzahlen belegt. 20 Roland Barthes, »Historical Discourse«, Structuralism. A Reader. Ed. Michael Lane (London, 1970), 145-155, hier 153 f.; zur Bedeutung dieses Artikels für den vorliegenden

Zusammenhang vgl. White, Die Bedeutung der Form , 50 ff.

358

Ansgar Nünning

White widmet sich i n seinen sehr einflußreichen Arbeiten 2 1 vor allem den Erzählstrukturen an der Oberfläche der Texte, die Historiker schreiben, und versucht zu ergründen, auf welche Weise diese ihre Geschichte durch narrative Formen konstituieren. Sein Ziel besteht darin, eine Poetik der Geschichtsschreibung und eine Typologie historiographischer Stile zu entwickeln. Durch die systematische Erfassung der poetischen Elemente, die zu allen Zeiten in der Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie verwendet wurden, versucht er außerdem, den Nachweis dafür zu erbringen, daß Historiker bei der Transformation des von den Quellen vorgegebenen Materials in kohärente Geschichten von literarischen Erzählmustern Gebrauch machen. Aufgrund des »specifically >literary< aspect of historical narrative« (»Question«, 25) seien Werke der Historiographie, so seine These, keine mimetischen Repräsentationen von tatsächlichen historischen Ereignissen oder Prozessen, sondern kontingente, metaphorische und letztlich fiktionale Konstrukte: »a historical discourse should not be regarded as a mirror image of the set of events that it claims simply to describe« (TD, 106). Wiederholt betont White »the essentially provisional and contingent nature of historical representations« (77), 82) bzw. »the fictive nature of historical narrative« (TD, 89) und charakterisiert historiographische Erzählungen als »metaphorical statements« (TD, 88) bzw. »extended metaphors« (TD, 91). Ausgangspunkt von Whites Überlegungen bildet die Einsicht, daß Ereignisse nicht von sich aus ein kohärentes Geschehen darstellen oder eine in sich abgeschlossene Geschichte ergeben, 22 sondern daß Historiker ihre Gegenstände durch Sprache selbst konstituieren und Fakten zu einer Erzählung zusammenfügen: »The implication is that historians constitute their subjects as possible objects of narrative representation by the very language they use to describe them« (TD, 95). Das, was White als »tropics« bezeichnet, konstituiert in diesem Zusammenhang »the process by which all discourse constitutes the objects which it pretends only to describe realistically and to analyze objectively« (TD, 2). I m Gegensatz zu der Vorstellung, daß die Form der Erzählung dem dargestellten historischen Geschehen gleichsam inhärent sei und ihm nichts hinzufüge, 2 3 vertritt White die Ansicht, daß Historiker narrative Formen nicht 21

Von zentraler Whites Werken sind Tropics of Discourse Historical Artifact« 121-134).

Bedeutung für ein Verständnis der Zielsetzung und Methodik von die methodologischen Einleitungen zu Metahistory (M, 1 -42) und zu (TD, 1-25) sowie die programmatischen Artikel »The Literary Text as (TD, 81-100) und »The Fictions of Factual Representation« (TD,

22 Vgl. auch Whites These, »that no given set of events attested by the historical record constitutes a story manifestly finished and complete« (TD, 90). Vgl. auch Whites Aufsatz »The Value of Narrativity i n the Representation of Reality«, Critical Inquiry, 7,1 (1980), 5-27, Zitat: 8: »It is because real events do not offer themselves as stories that their narrativization is so difficult.«

359

»Verbal Fictions?«

vorfinden, sondern den geschichtlichen Fakten überstülpen. M i t Entschiedenheit weist White daher die herkömmliche Ansicht des Historikers zurück »that he has >found< the form of his narrative in the events themselves, rather than imposed it upon them« (TD, 95). Darüber hinaus versucht er nachzuweisen, daß Sprache und Erzählformen keine transparenten Medien sind, die eine neutrale Darstellung historischer Prozesse ermöglichen und selbst keine Auswirkungen auf die Präsentation haben. I m Titel seiner Essaysammlung The Content

of the Form

(1987/1990)

k o m m t seine Überzeugung zum Ausdruck, daß der Inhalt historischer Werke nicht loslösbar oder unabhängig sei von der narrativen Form der Darstellung. Da die Erzählstrukturen der Historiographie vielmehr selbst semantisiert, d. h. mit Bedeutung sowie ideologischen und politischen Implikationen aufgeladen, seien und der narrative Diskurs Ereignisse überhaupt erst i n Erzählzusammenhänge einordne, statte die Form der sprachlichen Darstellungsweise >Fakten< unweigerlich mit Bedeutung aus. I m Zentrum von Whites Analyse der Poetik der Historiographie steht folgerichtig die Frage, wie Historiker durch die Verknüpfung von Ereignissen zu einem kohärenten Erzählzusammenhang bzw. plot Fakten mit Bedeutung versehen und dadurch eine Geschichte erzeugen. Die Tätigkeit des Historikers besteht i h m zufolge darin, reale Ereignisse und Abläufe zu enkodieren, sie mit theoretischen Begriffen zu deren Erklärung zu kombinieren und die Daten gemäß vorgegebener narrativer Schemata zu strukturieren. Bereits die einzelnen Elemente einer historischen Darstellung seien das Resultat von Abstraktionen und repräsentierten »processes of selection and arrangement of data from the unprocessed historical record« (M, 5). M i t Nachdruck betont White immer wieder die unüberbrückbare Kluft, die zwischen der seriellen Abfolge historischer Ereignisse und ihrer Umwandlung i n eine narrative Struktur bestehe, die die Fakten überhaupt erst mit Bedeutung ausstatte. 24 Für ihn steht außer Frage, daß jeder historischen Erklärung die sinnbildenden Leistungen des Erzählens vorausgehen, die White als »strategies

23 Vgl. Whites Zusammenfassung dieser konventionellen Annahme: »This implies that the form in which historical events present themselves to a prospective narrator is found rather than constructed « (»Question«, 2) Die Implikationen bestehen in dem Glauben, daß die narrative Form des Diskurses »adds nothing to the content of the representation, but is rather a simulacrum of the structure and processes of real events« (3): »the narrative code adds nothing in the way of information or knowledge that could not be conveyed by some other system of discursive encodation« (18). 24 Vgl. stellvertretend für viele andere Passagen Whites Hinweis, der historische Diskurs beruhe auf einer Unterscheidung »between the serial order of events and some kind of transformation of that order into a structure of which meaningful questions can be asked« (TD, 111).

360

Ansgar Nünning

of sense-making« (TD, 92) umschreibt und die ihrerseits durch die verwendeten Erzählmuster bestimmt sind. Zur Bezeichnung der Strategien, von denen Historiker bei der syntagmatischen Strukturierung historischer Ereignisse Gebrauch machen, 25 hat White den kaum übersetzbaren Begriff emplotment geprägt: »[B]y emplotment I mean simply the encodation of the facts contained in the chronicle as components of specific kinds of plot-structures« (TD, 83). Diesen zentralen Terminus, der sich auf die Gestaltung der Erzählstruktur bezieht, definiert White folgendermaßen: Providing the >meaning< of a story by identifying the kind of story that has been told is called explanation by emplotment. [ . . . ] Emplotment is the way by which a sequence of events fashioned into a story is gradually revealed to be a story of a particular kind.

(M,7) U m die Optionen zu systematisieren, die Historikern zur narrativen Modellierung geschichtlicher Ereignissequenzen zur Verfügung stehen, unterscheidet White - unter Rückgriff auf die von Northrop Frye in The Anatomy of Criticism (1957) entwickelte Typologie - vier Grundformen der narrativen Strukturierung. Historische Ereignisse können demzufolge gemäß den Schemata der Romanze, Komödie, Tragödie oder Satire dargestellt werden. Die Romanze w i r d von White als ein Typ von Erzählung definiert, der sich durch den Triumph des Guten über das Böse auszeichne. I m Gegensatz zur Komödie, an deren Ende eine Aussöhnung zwischen antagonistischen Kräften stehe, erweisen sich die bestehenden Differenzen in der Tragödie als unüberwindbar. Daher dominiere in der tragischen Erzählform die Resignation der Menschen gegenüber unveränderlichen Bedingungen, unter denen sie ihr Dasein zwangsläufig fristen müssen. Der Erzählmodus der Satire zeichne sich hingegen dadurch aus, daß er mit seiner dominant ironischen Erzählhaltung die Erwartungen des Lesers hinsichtlich einer sinnhaften Geschichte durchkreuze. White zufolge sind solche plots geschichtlichen Ereignissequenzen keineswegs inhärent, sondern sie existieren nur i m Bewußtsein des Historikers: »These sets of relationships are not, however, immanent in the events themselves; they exist only i n the mind of the historian reflecting on them.« (TD, 94) Es ist White zufolge der Historiker selbst, der dem Geschehen eine bestimmte, von ihm selbst gewählte Erzählform gleichsam überstülpt: Since no given set or sequence of real events is intrinsically

»tragic,« »comic,« or »farci-

cal,« but can be constructed as such only by the imposition of the structure of a given 25 White unterscheidet in Metahistory (x) zwischen drei solcher Strategien, der Erklärung durch formale Schlußfolgerungen (mode of argument), der Erklärung durch narrative Strukturierung (mode of emplotment) und der Erklärung anhand ideologischer Implikationen (mode of ideological implication), von denen i m vorliegenden Zusammenhang vor allem die zweite relevant ist.

Verbal Fictions?«

361

story-type on the events, it is the choice of the story-type and its imposition upon the events which endow them w i t h meaning. (»Question«, 20)

Unter Rückgriff auf literarische Erzählmuster strukturiert bzw. formt der Historiker das historische Geschehen i m Prozeß der Rekonstruktion zu einer sinnvollen Geschichte. Zwar stehe es Historikern frei, für welche der verschiedenen Erzählformen des emplotment sie sich bei ihrer Darstellung entscheiden, aber sie seien stets zu einer Wahl zwischen den verschiedenen Interpretationsstrategien gezwungen. Allerdings sei jede Form der Geschichtsschreibung durch die Verwendung von einer oder mehrerer dieser literarischen Erzählformen strukturiert: »The important point is that every history, even the most >synchronic< or >structural< of them, w i l l be emplotted i n some way« (M, 8). Aus diesen Überlegungen leitet White zum einen die Folgerung ab, daß jede historische Darstellung grundsätzlich kontingent sei, weil jede beliebige Menge geschichtlicher Ereignisse auf verschiedene Arten erzählt und zu unterschiedlichen Geschichten verknüpft werden könne: 2 6 The important point is that most historical sequences can be emplotted in a number of different ways, so as to provide different interpretations of those events and to endow them w i t h different meanings. (TD, 84 f.)

Z u m anderen hält er es für unabweisbar, daß eine narrative Darstellung immer »a figurative account, an allegory« (»Question«, 24) sei, weil Ereignisse und deren Anordnung sowie Anfang und Ende historischer Sequenzen nicht gegeben, sondern vom Historiker konstruiert seien. 27 Die These von der zwangsläufigen Fiktionalisierung der Historiographie beruht somit darauf, daß der Historiker bei seiner Darstellung auf literarische Erzählmuster zurückgreife und diese auf die Fakten projiziere: This transition is effected by a displacement of the facts onto the ground of literary fictions or, what amounts to the same thing, the projection onto the facts of the plotstructure of one or another of the genres of literary figuration. (»Question«, 24)

Darüber hinaus zieht White aus seinen empirischen Untersuchungen des Geschichtsdenkens i m 19. Jahrhundert eine Reihe von allgemeinen Schlußfolgerungen, von denen i m vorliegenden Zusammenhang vor allem vier relevant sind. Erstens gibt es laut White keine reine Geschichtsschreibung, die nicht zu26

Vgl. in Anlehnung an White auch Gossman, »History and Literature«, 31: »Moreover, it is still possible for the historian [ . . . ] to emplot the >same< events i n different stories, and to construct different events from the same evidence.« 27 Vgl. White, der die Setzungen von Anfang und Ende als »inevitably poetic constructions« (TD, 98) bezeichnet, sowie ähnlich Gossman, »History and Literature«, 19: »The order of history is not given, it is constructed by us«. Gossman betont außerdem »that the historian's objects are not unproblematically situated on the other side of the evidence, as it were, but constructs« (27).

362

Ansgar Nünning

gleich auch Geschichtsphilosophie sei. Zweitens seien die verschiedenen Erzählformen der Historiographie nichts anderes als Formalisierungen poetischer Einsichten, die jeder Darstellung von Geschichte analytisch vorausgehen und den Rückgriff auf jene Theorien rechtfertigen würden, die Historiker verwenden, u m ihren Erzählungen den Anschein von Erklärungen zu verleihen. D r i t tens gebe es aus theoretischer Sicht keine zwingenden Gründe, eine bestimmte Darstellungsform i m Vergleich zu anderen als >realistischer< einzustufen und ihr deshalb den Vorzug zu geben. 28 Viertens seien für die Wahl einer bestimmten Form der Geschichtsschreibung weniger erkenntnistheoretische Gründe entscheidend als moralische oder ästhetische Erwägungen des Historikers. Die Bedeutung von Whites Überlegungen für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Literatur besteht vor allem i n dessen These, daß der Historiker durch den Rückgriff auf literarische Erzählmuster vergangenes Geschehen in fiktionale Erzählungen verwandele. Dies kommt für White einer Übersetzung von Fakten in Fiktionen gleich: Historians may not like to think of their works as translations of fact into fictions; but this is one of the effects of their works. (TD, 92)

Der Historiker, so White, vollziehe damit in erster Linie einen »essentially poetic act« (M, x), durch den er überhaupt erst seinen Gegenstandsbereich konstituiere und das historische Feld präfiguriere. A u f der Basis der jeweils dominanten tropologischen Strategien postuliert White vier Grundformen der historischen Erkenntnis. Zur Etikettierung dieser Typen der Präfiguration greift White bezeichnenderweise auf jene Begriffe zurück, mit denen Tropen der poetischen Sprache bezeichnet werden: die Metapher, die Metonymie, die Synekdoche und die Ironie, von denen jede das historische Feld auf eine ihr spezifische Weise gliedere. Da der Inhalt jeder A r t von Geschichtsschreibung von ihren Formen abhängig sei, die ihrerseits literarisch seien, erzeuge die Geschichtswissenschaft verbale Fiktionen und könne ihrem Anspruch auf objektive Wiedergabe geschichtlicher Zusammenhänge nicht gerecht werden. White kommt mit seiner These, historische Darstellungen seien »products of the fictive capability of the historians« (TD, 89), demnach zu demselben Ergebnis wie M i n k , der bei seinen Überlegungen zur narrativen Form als kognitivem Instrument historisches Erzählen ebenfalls als ein Produkt der Einbildungskraft des Historikers beschreibt: »as narrative it is a product of imaginative 28 Z u dem darin implizierten Relativismus und der resultierenden Einebnung des Unterschieds zwischen fiktionalem und historischem Erzählen vgl. auch Whites Aufsatz »Historical Pluralism«, Critical Inquiry, 12 (1986), 480-493, hier 489: »Narrative accounts of real historical events, then, admit of as many equally plausible versions in their representation as there are plot structures available i n a given culture for endowing stories,

whether fictional or real, with meanings.« [Hervorhebungen A. N.]

»Verbal Fictions?«

363

construction, which cannot defend its claim to truth by any accepted procedure of argument or authentication«. 29 Aus der Tatsache, daß sich die Geschichtsschreibung einer Reihe von narrativen Verfahren bedient, die White als literarische Darstellungsmittel ansieht, folgert er, daß kein Unterschied zwischen Fiktion und Historiographie bestehe. Dieses Fazit formuliert White i n der pointierten Zuspitzung des Chiasmus so: »history is no less a form of fiction than the novel is a form of historical representation« (TD, 122). Daß seine Überlegungen auf eine völlige Nivellierung der Unterschiede zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung hinauslaufen, w i r d an Whites provokativer Charakterisierung der Historiographie als »a form of fiction-making« und des historischen Texts als »literary artifact« (TD, 81) deutlich. Völlig zu Recht weist Ricoeur daher darauf hin, »White's recourse to tropology runs the risk of wiping out the boundary between fiction and hist o r y « . 3 0 Außerdem kommt Whites Gleichsetzung der beiden Diskurse darin zum Ausdruck, daß er mit Nachdruck auf »the fictive nature of historical narrative« (TD, 89) hinweist und betont, daß historiographische Erzählungen in inhaltlicher und formaler Hinsicht nichts anderes als »verbale Fiktionen< seien: But i n general there has been a reluctance to consider historical narratives as what they most manifestly are: verbal fictions, the contents of which are as much invented as found and the forms of which have more i n common w i t h their counterparts i n literature than they have w i t h those in the sciences. ( T D , 82)

Dieses Zitat ist insofern symptomatisch für Whites Position und Argumentationsweise, als es die Prämissen erkennen läßt, auf denen seine Gleichsetzung von Historiographie und Fiktion beruht. Erstens ignoriert er die unterschiedlichen M o d i der Referenz, die für die Diskurse jeweils charakteristisch sind, wenn er behauptet, die Inhalte historiographischer Werke seien >erfundenFiktionen faktischer Repräsentation eine Vielzahl kontextueller und textueller Differenzen zwischen den Diskursen der Historiographie und der Fiktion ignoriert. A u f diese Weise lassen sich Whites Thesen widerlegen, die beiden Erzählformen seien identisch und Historiker und Romanciers verfolgten die gleichen Ziele mit der Produktion ihrer Werke: What should interest us in the discussion of »the literature of fact« or, as I have chosen to call it, »the fictions of factual representation« is the extent to which the discourse of the historian and that of the imaginative writer overlap, resemble, or correspond w i t h each other. Although historians and writers of fiction may be interested in different kinds of events, both the forms of their respective discourses and their aims in writing are often the same. I n addition, in m y view, the techniques or strategies that they use in the composition of their discourses can be shown to be substantially the same (TD,

121). Gegenüber Whites Argumentation ist erstens einzuwenden, daß sie die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Geschichtsschreibung und Literatur unzulässig verkürzt, weil sie mit dem Kriterium des emplotment nur einen Aspekt einbezieht, den der narrativen Konfiguration des Erzählten. Obgleich die Fiktionalitätsdebatte der letzten zwei Jahrzehnte gezeigt hat, daß textlinguistische Kriterien allein nicht ausreichen, u m eindeutige Unterschiede zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten zu ermitteln, werden historiographische Werke von Kritikern wie White, M i n k und Gossman allein aufgrund bestimmer narrativer Verfahren, die als literarisch gelten, als fiktional eingestuft. Damit bleiben zum einen alle anderen textuellen Merkmale historiographischer und literarischer Werke unberücksichtigt. Z u m anderen w i r d die Tatsache ausgeblendet, daß beide Diskurse einen völlig unterschiedlichen Wahrheitsanspruch haben und daß für die Produktion und Rezeption literarischer Werke ganz andere Konventionen gelten als für geschichtswissenschaftliche. Bei seiner K r i t i k an Whites Ansatz und Typologie betont Rüsen daher zu Recht, daß i m Rahmen von Whites textlinguistischer Betrachtungsweise eine für die A b grenzung der beiden Diskurse zentrale Frage unbeantwortbar sei, die »Frage

»Verbal Fictions?« nach der Wissenschaftsspezifik

von Geschichtsschreibung«.

365 31

W h i t e berücksich-

t i g t weder die i n s t i t u t i o n e l l e n R a h m e n b e d i n g u n g e n n o c h die K o n v e n t i o n e n , gemäß denen historiographische u n d literarische W e r k e p r o d u z i e r t u n d rezipiert werden. W e n n W h i t e aus der Tatsache, daß H i s t o r i k e r Darstellungsschemata v e r w e n den, die ( i h m zufolge) als spezifisch >literarisch< gelten, die Schlußfolgerung zieht, H i s t o r i o g r a p h i e u n d L i t e r a t u r seien beide f i k t i o n a l u n d daher n i c h t u n terscheidbar, so liegt d e m zweitens eine V e r w e c h s l u n g v o n literarischen Verfahren u n d f i k t i o n a l e m Aussagemodus zugrunde. H i s t o r i o g r a p h i s c h e W e r k e sind n i c h t schon deshalb f i k t i o n a l , w e i l sie v e r m e i n t l i c h >literarische< Darstellungsm i t t e l verwenden. E b e n s o w e n i g b ü ß e n realistische oder d o k u m e n t a r i s c h e R o mane i h r e n f i k t i o n a l e n Status ein, n u r w e i l sie einen h o h e n G r a d außertextueller Referenzen auf reale O r t e , Personen oder Ereignisse haben. D r i t t e n s b e r u h t W h i t e s N i v e l l i e r u n g der Unterschiede z w i s c h e n H i s t o r i o graphie u n d D i c h t u n g auf einer u n b e g r ü n d e t e n u n d n i c h t haltbaren G l e i c h setzung v o n emplotment

m i t L i t e r a r i z i t ä t u n d F i k t i o n a l i t ä t . D i e s zeigt sich i n

verdichteter F o r m i n der B e m e r k u n g , die narrative K o n f i g u r a t i o n einer h i s t o rischen Situation sei »essentially a literary, that is t o say f i c t i o n - m a k i n g , opérat i o n « ( T D , 85). Diese B e h a u p t u n g w i r d f r e i l i c h allein schon d a d u r c h w i d e r l e g t , daß sich die als emplotment

bezeichneten Verfahren auch i n pragmatischen

Genres w i e Alltagserzählungen u n d Z e i t u n g s b e r i c h t e n f i n d e n . 3 2 W e n n die T r a n s f o r m a t i o n v o n tatsächlichen Ereignissen i n narrative S t r u k t u r e n j e d o c h k e i n spezifisch literarisches Verfahren darstellt, sondern ein grundlegendes M e r k m a l sprachlicher G e g e n s t a n d s k o n s t i t u t i o n u n d S i n n s t i f t u n g ist, d a n n w i r d auch die These hinfällig, emplotment Durch

allein erzeuge bereits F i k t i o n e n .

die B e d e u t u n g s e r w e i t e r u n g

des F i k t i o n s b e g r i f f s ,

die aus

Whites

Gleichsetzung v o n K o n f i g u r a t i o n u n d F i k t i o n resultiert, w i r d viertens F i k t i o n a l i t ä t als literaturwissenschaftliche Kategorie w e i t g e h e n d unbrauchbar, w e i l der Begriff

d a m i t seine D i f f e r e n z q u a l i t ä t

u n d Trennschärfe

einbüßt:

»Ein

F i k t i o n s b e g r i f f jedoch, der aufgehört hat, ein O p p o s i t i o n s b e g r i f f z u sein, hat Sinn u n d F u n k t i o n v e r l o r e n « . 3 3 D a m i t soll ein gewisser Z w e i f e l darüber angemeldet werden, o b es s i n n v o l l ist, den F i k t i o n a l i t ä t s b e g r i f f so stark auszuweiten, w i e es W h i t e d u r c h g ä n g i g t u t . 3 4 W e n n er etwa die H i s t o r i o g r a p h i e als 31

Rüsen, »Die vier Typen des historischen Erzählens«, 515.

32

Vgl. dazu und zum folgenden die ebenso konzise wie prägnante Kritik an Whites Thesen von Klaus Weimar, »Der Text, den (Literar-)Historiker schreiben«, Geschichte als

Literatur.

Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit.

Eds. Hartmut

Eggert, Ulrich Profitlich, Klaus R. Scherpe (Stuttgart 1990), 29-39, bes. 36-37. 33 34

Ebd., 36; vgl. auch Ricoeur, Time and Narrative, Bd. 2, 3.

Vgl. vor allem Whites Thesen über »The Fictions of Factual Representation« (TD, 121-134). Daß White mit seiner Ausweitung des Fiktionalitätsbegriffs nicht allein steht,

366

Ansgar Nünning

»a form of fiction-making« (TD, 122) charakterisiert, stellt sich die Frage, ob nicht eher der Konstruktionscharakter historischer Darstellungen gemeint ist. Geht man von der prinzipiellen Fiktionalität historiographischer Sinnstiftung aus, bleibt die Frage offen, wodurch sich die Konstruktion nicht-fiktionaler und literarischer Geschichtsmodelle unterscheiden. Durch die verkürzende Gleichsetzung von narrativer Konfiguration und Fiktionalität geraten somit die Besonderheiten literarischen Erzählens aus dem Blick, die sich - wie i m folgenden zu zeigen sein w i r d - deutlich von jenen wissenschaftlichen Repräsentationen von Vergangenheit unterscheiden, die die Historiographie erzeugt. Aus diesem Zwischenfazit ergibt sich die Konsequenz, zwischen narrativer Konfiguration, Literarisierung und Fiktionalisierung zu unterscheiden. Weder signalisiert jedes literarische Darstellungsmittel unbedingt Fiktionalität, noch macht jeder fiktionale Text von solchen Verfahren Gebrauch. I m Gegensatz zu Whites unhaltbaren Thesen, emplotment sei ein spezifisch literarisches Verfahren und mache historiographische Werke daher unweigerlich zu verbalen Fiktionen, ist außerdem zu betonen, daß sprachliche Strukturierung und Konstruktivität nicht gleichzusetzen sind mit fiktionalem Aussagemodus. Aus der inzwischen weithin akzeptierten Einsicht, daß historiographische Werke vergangenes Geschehen nicht mimetisch abbilden, sondern gemäß wissenschaftlicher Konventionen nachprüfbare Konstrukte erzeugen, folgt zwar, daß Texte von Historikern »signifying constructs« 35 sind, berechtigt aber keineswegs zu dem Schluß, daß die von ihnen erzählten Geschichten >verbale Fiktionen< seien. Bei seiner überzeugenden K r i t i k an Whites undifferenziertem Begriffsgebrauch und der daraus resultierenden Gleichsetzung von Konstruktivität und Fiktionalität moniert Weimar daher zu Recht, die in historiographischen Werken entworfenen Textwelten seien »nicht schon deswegen Fiktionen, weil sie geordnet und geschaffen sind«. 3 6 Vielmehr sind die narrativen Darstellungsverfahren, auf denen die Konfiguration des Erzählten i n einem Text beruht, begrifflich zu unterscheiden von der beweist etwa der Begriffsgebrauch bei Gossman, »History and Literature«; M i n k , »Narra-

tive Form« und Bernd Engler, Fiktion und Wirklichkeit: Zur narrativen Vermittlung erkenntnisskeptischer Positionen bei Hawthorne und Melville (Berlin 1991), der etwa von »der Fiktionalität unserer Sinnstiftungen i n der Alltagswirklichkeit« (59), »der Fiktionalität der Wirklichkeit« (64), der »Fiktionalität der das individuelle Bewußtsein ebenso wie das gesellschaftliche Sein bestimmenden Weltanschauungen« (78) und der »prinzipielle[n] Fiktionalität menschlicher Wirklichkeitsbilder« (79) spricht. 35 Ann Rigney, The Rhetoric of Historical Representation: Three Narrative the French Revolution (Cambridge 1990), xi, 21.

Histories of

36 Weimar, »Der Text, den (Literar-)Historiker schreiben«, 37. Vgl. dazu die (rhetorische) Frage, die i m Zentrum von Rigneys Studie The Rhetoric of Historical Representation steht: »If we grant that all historical texts are signifying constructs, do we have no other option but to follow H a y den White i n concluding that they are also >verbal fictions