Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 25. Band (1984) [1 ed.] 9783428456253, 9783428056255

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 25. Band (1984) [1 ed.]
 9783428456253, 9783428056255

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH THEODOR BERCHEM UND FRANZ LINK

NEUE FOLGE / FÜNFUNDZWANZIGSTER BAND

1984

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBÜCH I M AUFTRAGE DER

GÖRRES-GESELLSCHAFT

HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N KUNISCH, PROF. DR. THEODOR BERCHEM U N D PROF. DR. FRANZ L I N K

NEUE FOLGE / FÜNFUNDZWANZIGSTER

BAND

1984

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Hermann Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 München 19, Professor Dr. Theodor Berchem, Frühlingstr. 35, 8700 WürzburgLengfeld, und Professor Dr. Franz Link, Eidirodtstr. 1, 7800 Freiburg. Redaktion: Dr. Kurt Müller, Steinbuckstr. 2, 7830 Emmendingen 16. Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot, Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH FÜNFUNDZWANZIGSTER

BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE D E R GÖRRES-GESELLSCHAFT H E R A U S G E G E B E N VON HERMANN KUNISCH THEODOR BERCHEM UND FRANZ

LINK

NEUE FOLGE / FÜNFUNDZWANZIGSTER

BAND

1984

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Redaktion: Kurt Müller

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41 Printed in Germany Gedruckt 1984 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 I S B N 3-428-05625-6

INHALT

AUFSÄTZE Hans Unterreitmeier (München), Die »Rettung« der Alkestis: Zur mythischen Dimension literarischer Textgestalten

9

Christian Gnilka (Münster), St. Martin und die Möwen

45

Wolf gang G. Müller (Mainz), Die Schlacht von Azincourt in Carol und Ballade

67

Franz Link (Freiburg i. Br.), Formen des Welttheaters bei Shakespeare

89

Herbert Pilcb (Freiburg i. Br.), »The solid flesh resolves itself into a dew« : Eine hybride Metapher? 119 Lawrence Ο. Frye (Bloomington/Indiana), Textstruktur als Kunstauffassung: Achim von Arnim und die Ästhetik Schillers 131 Terence Κ. Thayer (Bloomington/Indiana), The Ascendancy of Fame in Kleist's Prinz Friedrich von Homburg 155 Heinz Wetzel (Toronto/Ontario), Südliche Illusion und nördliche Wirklichkeit: Ein Motiv in der frühen Lyrik Heinrich Heines 189 Joseph Wiesenfarth Decorum

(Madison/Wisconsin), Middlemarch:

The Fatality of British 205

Willi Erzgräber (Freiburg i. Br.), The Mayor of Casterbridge und Tess of the D'Urbervilles: Zwei Formen des Tragisdien bei Thomas Hardy 215 Joseph Jurt (Freiburg i. Br.), Julien Greens Jugenderinnerungen

247

Alfred Schöpf (Freiburg i. Br.), Textlinguistisdie Interpretation von Gedichten? R. S. Thomas: »In Church« — Ein Versuch 257

K L E I N E BEITRÄGE Bernd Lorenz (Regensburg), Notizen zur Verwendung der Zahl »Zwölf« in der Literatur 271 Michel Erman (Dijon), Le thème de l'enfance dans la Recherche du Temps Perdu 281

6

Inhalt

Hermann Henne (Frankfurt/Main), Katharsis oder Spielerei? Hermann Kasack und sein Roman Die Stadt hinter dem Strom 285 Thomas Emmerig (Regensburg), »Ich bin ein Sprachmensch, nicht ein InhalteVerteiler«: Zum Werk Paul Nizons aus Anlaß seines Romans Das Jahr der Liebe 297

BERICHTE Manfred Stange (Heidelberg), Minnesang in neuer Gestalt: Bemerkungen zu zwei Neuausgaben 313 Margarete Newels (Bonn), Probleme bibliographischer Forschung: Zum Handbuch der Calderón-Forsdiung 321

BUCHBESPRECHUNGEN Frauenlob (Heinrich von Meissen): Le ich s, Sangsprüche, Lieder. l . T e i l : Einleitungen, Texte. 2. Teil : Apparate, Erläuterungen. Auf Grund der Vorarbeiten herausgegeben von Karl Stadtmann und Karl Bertau (Von Ulrich Müller) 331 Anke-Marie Lohmeier, Beatus ille: Studien zum »Lob des Landlebens« in der Literatur des absolutistischen Zeitalters (Von Wilhelm Kühlmann) Volker Kapp y Têlêmaque de Fénelon : La signification la fin du siècle classique (Von Winfried Kreutzer)

d'une œuvre littéraire

334 à 337

Sozialge schichte der Aufklärung in Frankreich, hg. Hans Ulrich Gumbrecht, Rolf Reichardt, Thomas Schleich (Von Volker Kapp) 339 Dieter Schulz, Suche und Abenteuer: Die »Quest «r in der englischen und amerikanischen Erzählkunst (Von Kurt Müller) 342 Julie Meyer, Vom elsässischen Kunstfrühling zur utopischen Civitas Hominum: Jugendstil und Expressionismus bei René S eh icke le (Von Klaus Hurlebusch) 344 Volker Bischoff, Amerikanische Lyrik zwischen 1912 und 1922: Untersuchungen zur Theorie, Praxis und Wirkungsgeschichte der »New Poetry « (Von Franz Link) 350 Englische Literatur und Politik im 20. Jahrhundert, Heinz-Joachim Müllenbrock (Von Kurt Otten)

hg. Paul Goetsch und 353

Inhalt Uwe Böker, Loyale Illoyalität: (Von Paul Goetsch)

Politische Elemente im Werk

Winfried Engler, Geschichte des französischen Marcel Proust (Von Volker Kapp)

Graham Greenes 357

Romans: Von den Anfängen bis 359

Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt. Sechster Band: Die moderne Welt. 1914 bis heute (Von Werner Bies) 361 Namen- und Werkregister (Von Kurt Müller)

365

D I E »RETTUNG« DER

ALKESTIS

Z u r mythischen Dimension literarischer Textgestalten V o n Hans

1. D e r B e g r i f f

Unterreitmeier

des M y t h o s

im

Alkestis-Drama

Euripides baut i m Alkestis-Drama den Zwischenfall der Rettung der Alkestis, der Starken, wie der N a m e sagt, die sich für ihren M a n n opfert, damit dieser seinem T o d entrinnt, den Zwischenfall, der sich ereignet auf dem Weg des Herakles zu den menschenfressenden Rossen des Diomedes, zu einer eigenständigen Rettergeschichte aus. Das scheinbar vorrangige Ziel, die Zähmung der Rosse, w i r d nur am R a n d behandelt. K a r l Kerényi erzählt die Alkestisgeschichte i m Rahmen des siebten Abenteuers, nach den Quellen Seneca, Pindarus, Homer, Apollodorus Mythographus u n d Euripides. D i e Geschichte, die er aus den Quellen zusammensetzt, hat es so nie gegeben1. 1 Karl Kerényi, Die Heroen der Griechen, Bd. I I , Zürich 1958, S. 170/71: »Diomedes, der die Todespferde besaß, war ein Sohn des Kriegsgottes Ares. Er herrschte über den thrakischen Stamm der Bistonen. Zu ihm schickte Eurystheus den Herakles, um die Rosse zu holen. Der Heros nahm seinen Weg durch Thessalien und kehrte in Pherai bei König Admetos ein: die Geschichte wurde von Euripides in seinem Stück Alkestis unsterblich gemacht. Admetos, der Unbezwingliche, trug selbst einen Namen des Unterweltkönigs, und er war der Herrscher, bei dem Apollon ein großes Jahr diente. Der Gott hütete die Herde des Admetos (Seneca, Hercules furens 451) und tränkte (Pindarus, Pythia 4.126) seine berühmten Rosse (Ilias 2.763), die besten in der Welt. Er half auch Alkestis, die schönste Tochter des Pelias (Ilias 2.175), des Königs von Jolkos, zu gewinnen. Pelias hatte den Freiern zur Bedingung gestellt {Apollodorus 1.9.15), einen Löwen und einen Eber dem Brautwagen vorzuspannen. Apollon hatte dies schon zur Hochzeitsfeier des Kadmos und der Harmonia vollbracht, er tat es auch für Admetos (ebd.). Es wurde auch erzählt (ebd.), daß die Hochzeitskammer, als der Bräutigam sie öffnete, voll von Schlangen war: angeblich eine Strafe der Artemis, der zu opfern er vergessen hatte. Vielleicht ist dies die Spur einer älteren Erzählung, in der Admetos und Alkestis, wie es dem unterirdischen Königspaar ziemte, eine Schlangenhochzeit hielten. In dieser Erzählung indessen, deren Fortsetzung die Ankunft des Herakles in Pherai bildet, versprach Apollon, Artemis zu versöhnen, ja er betörte die Moiren, die bei dem Hochzeitsfest zugegen waren. Er gab ihnen Wein, bis sie sich betrunken hatten, und erbat von ihnen ein Hochzeitsgeschenk. Die betrunkenen Moiren verdoppelten darauf das kurze Leben des Admetos, unter einer Bedingung (.Apollodorus 1.9.15), wenn am Tage, an dem er sterben sollte, ein anderer an seiner Statt, vielleicht sein Vater, seine Mutter oder seine Frau, freiwillig aus dem

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Hans Unterreitmeier

Der Mythos, den Euripides i n der Vorszene dem D r a m a zugrunde legt, berichtet nicht v o n der gefährlichen Werbung des Admetos u m die Tochter des Pelias u n d der H i l f e des A p o l l o n bei der Werbung, er nennt auch keinen materiellen Schuldgrund für das Sterbenmüssen des Admetos wie der spätere M y t h o g r a p h : das Versäumnis des Opfers an Artemis v o r der Hochzeitsnacht. D i e Hochzeit liegt i m D r a m a zurück, Admetos hat zwei K i n d e r , A p o l l o n ist noch bei i h m u n d νυν: »jetzt« ( V , 19) 2 steht der T o d seiner G a t t i n bevor. Ohne Angabe des Grundes w i r d i n der Vorszene der K o n flikt gesetzt, aus dem sich das D r a m a entwickelt. D i e mythologischen M o tive der Todeshochzeit u n d des vergessenen Opfers, die — vielleicht sekundär — den K o n f l i k t erklären, sind ausgespart. W a r u m muß Admetos sterben? Wann? Was bedeutet der stellvertretende T o d seiner Frau? Wer rettet sie? Auch die A n t w o r t ist mythologisch u n d w i r d i n der Vorszene nicht gegeben: Der Heros, der Gottmensch Herakles rettet sie. D i e Vorszene stellt den Retter nur v o r als τοιος, als solchen M a n n (65), der dem T o d die Frau m i t Gewalt entreißen w i r d . N i c h t einmal der N a m e w i r d genannt. D i e Verbindung des Alkestis-Dramas m i t einer Vorgeschichte, deren Stoff aus anderen Quellen erschlossen ist, ist historisch nicht zu rechtfertigen. Sie deckt die Fragen zu, die der Mythos der Vorszene offenhält. 3 Mythos ist nicht einfach Stoff, sondern, nach der Poetik des Aristoteles, die σύνθεσις των πραγμάτων, die »Anfang«, »Größe« u n d »Ziel« der H a n d l u n g enthält. 4 M a n k a n n Synthesis übersetzen m i t Bau, Struktur. 5 Das D r a m a deckt Leben gehe. Der Tag war bald da, und diesen Tag schildert uns Euripides. — A n jenem Tag verließ Apollon das Haus des Admetos, an dem es Thanatos, der Tod, betrat. Er kam, um die Königin Alkestis zu holen. Denn kein anderer, nicht einmal sein greiser Vater oder seine alte Mutter, wollte für Admetos sterben, nur seine junge Frau. Sie nimmt jetzt von ihrem Mann Abschied und den zwei Kindern. Der Palast ist voller Trauer und Klagen. I n diesem Augenblick kommt Herakles an. Der König verrät dem Gast nicht, wer gestorben sei. Der Gast soll ruhig zechen. Alkestis wurde schon hinausgetragen, hinter dem Grabmal wartet Thanatos, der Tod, auf sie, um die Königin mit sich zu zerren. Jetzt erst erfährt der Heros, was geschehen ist. Er rennt dem Leichenzug nach und entreißt dem Tod im Ringkampf seine Beute.« 2 Den griechischen Text der Alkestis zitiere ich nach der deutsch-griechischen Ausgabe von Ernst Buschor, Euripides Bd. I : Alkestis, Medeia, Hippolytos; übersetzt von Ernst Buschor, hg. von Gustav Adolf Seeck in der Reihe Tusculum, München 1972. Aus Gründen, die bei der Textanalyse sichtbar werden, gebe ich eine eigene Übersetzung. Zu vergleichen sind die Übersetzungen J. J. Donners (bearbeitet von R. Kannidit), Kröners Taschenbuchausgabe 284/5, Stuttgart 1958, S. Müllers und F. Stoessls, Bibliothek der Alten Welt, 1. Bd., Zürich 1958. 3 Aus verschiedenen Quellen zusammengesetzt ist auch die Alkestis bei RankeGraves, Griec&wc&e Mythologie. Quellen und Deutungen. rowohlts deutsche enzyklopädie, Bd. 2, 1963. 4 Vgl. Aristoteles, Poetik. I n der Ausgabe von I. Bywater, 1909: 6 p 1450 a 4 f. 22 f. 38 f. und 1449 b: „Mythos nenne ich das: die Synthesis der Handlung.« 5 Vgl. dazu den Artikel μΰθος von Richard Stählin in Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. von Gerhard Kittel. Bd. I V , Stuttgart 1942, S. 775

Die »Rettung« der Alkestis

11

die Wahrheit des Mythos, des »Vorwurfs« der Vorszene, durch das gesonderte Ausspielen der Figuren i n den Hauptszenen auf. 6 Dieser v o m Dichter dem D r a m a zugrunde gelegte u n d i m D r a m a ausgespielte Mythos, der M y t h o s der Vorszene, entwirft die H a n d l u n g . Er enthält i m Bauplan, der Struktur, schon alle Elemente der H a n d l u n g , aber noch unentdeckt. D e r Bauplan der Vorszene ist folgender: »Admetos« (1) hatte v o n A p o l l o n , dem »Gott« (2), der dem » K i n d des Pheres« (10) »bis heute H e i l schenkte« (9), das Geschenk erhalten, das dieser den Göttern der Zeit, den Moiren, m i t »List« (12) abgerungen hatte, daß er, der »Reine« (10), dem i h m bevorstehenden T o d (13) entfliehen könne, wenn ein anderer für i h n sterben würde. Admetos sucht i n seiner Verwandtschaft, wer z u m T o d an seiner Stelle bereit wäre (15). Vater u n d M u t t e r , die »Alten« (16), sind es nicht, nur die Frau (17). »Jetzt« ringt sie m i t dem T o d i m Haus (19). M i t dem E i n t r i t t des »Thanatos« (24) w i r d das bisher reine Haus »befleckt« (22). Das »Recht« (30, 49) ist auf seiten des Thanatos: A p o l l o n verläßt das Haus m i t der Prophezeiung, daß »einer« (65) das Haus betreten w i r d , der dem Thanatos die Tote »mit Gewalt entreißen« (69) w i r d . I n sechs Hauptszenen w i r d dieser Mythos entwickelt. Erste Hauptszene 1 3 6 - 2 4 3 : Der intime Abschied der Alkestis v o m Haus — Zweite H a u p t szene 2 4 4 - 4 7 5 : Das öffentliche Testament der Alkestis v o r ihrem T o d — D r i t t e Hauptszene 476 - 605 : D i e listige Beherbergung des Herakles i m Haus des Admetos — Vierte Hauptszene 6 0 6 - 7 4 6 : Der V o r w u r f an der Bahre der Toten, der Vater sei schuld am T o d der Frau seines Sohnes — Fünfte Hauptszene 7 4 7 - 9 3 3 : Entdeckung, i n welchem Haus der Gast sitzt — Sechste Hauptszene 9 3 5 - 1005: Entdeckung, welches Haus der Gastgeber m i t dem T o d der Frau verliert — A p o l l o n steht als Retter am A n f a n g der H a n d l u n g . Sein Abschied v o m Haus initiiert die H a n d l u n g : Vorszene 1 - 1 3 5 — Herakles steht als Retter am Ende der H a n d l u n g . Seine glückliche Wiederkehr m i t der neuen Frau v o m R i n g k a m p f m i t dem T o d beschließt die H a n d l u n g : Schlußszene 1006 - 1163. Anm. 45: »μΰθος kommt hier nahe an ύπόθεσις >Vorwurf< (einer Dichtung) heran; . . . die Fabel, d. h. Stoff und Komposition sowohl der Tragödie als auch der Komödie, und, hiervon weiterführend, die aus solchen Vorwürfen entstandenen Schöpfungen der Dichtung, . . . im besonderen die Mär des Sängers, die Sagen des Epos und die Geschichten des Romans.« 6 Vgl. die berühmte Tragödiendefinition des Aristoteles, Poetik 1449 b. Das Verhältnis des Mythos zum Drama ist in der Vorszene zum Hippolytos des Euripides am »Fall« thematisiert: δείξω δέ μύθων των δ9 άλήθειαν: »Gleich werd' ich die Wahrheit von dem hier gesagten aufzeigen.« (9) »Hier gesagt« (μύθων των δ' φρονοΰσιν εις ημάς μέγα: »hochmütig sind gegen uns« (6); »gleich« meint: in der folgenden Handlung, die demonstriert, daß dieser Mythos wahr ist.

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Hans Unterreitmeier

Daß das D r a m a m i t einem Mythologem beginnt u n d endet — A p o l l o n u n d Herakles w i r k e n als göttliche Retter ähnlich wie die übernatürlichen Helfer i n den Märchen — , daß das Sterben der Alkestis i m Märchen aufgehoben ist, ja daß dieses Sterben selbst ein (mythologisch) stellvertretendes, nicht reales Sterben ist — der T o d ist Thanatos, ein G o t t wie A p o l l o n u n d väterlicherseits Herakles — , ist für die Interpretation der eigentlichen H a n d l u n g ein Stein des Anstoßes, den man i n der Euripides-Forschung zu beseitigen oder zu umgehen versuchte. Aus der Perspektive, Euripides sei ein großer »Ästhet«, »Rationalist«, »Psychologe« u n d »Artist« gewesen7, verschwinden die trivialen religiösen und märchenhaften Formeln: der stellvertretende O p f e r t o d u n d die σφτηρία, die »Rettung« durch den G o t t Menschen. 8 I n der Unsicherheit, welcher Gattung die Alkestis zuzuordnen sei, der Komödie oder der Tragödie, einer Unsicherheit, die v o r allem m i t dem Problem der mythischen, der schuldlosen Schuld zusammenhängt 9 , verrät sich die Schwierigkeit, die märchenhaften Rahmenszenen A p o l l o n / H e r a kles m i t den menschlichen Hauptszenen Alkestis/Admetos zu verbinden. 1 0 7 Uber Euripides als Dichter vgl. die Aufsatzsammlung: Euripides; hg. von Ernst-Richard Schwinge, Darmstadt 1968 (Wege der Forschung Bd. L X X X I X ) . Vgl. darin zur Ästhetik Bruno Snell S. 36 ff., zur Rationalität E. R. Dodds S. 60 ff., zur Sprachform P. T. Stevens S. 104 ff. 8 Die einmalige Bedeutung von σφζει/ν stellt Gertrud Herzog-Hauser in einem statistischen Vergleich von einem guten Dutzend Verben, die die Nothelfertätigkeit eines Gottes bezeichnen, fest: »Wo die Götter des homerischen Epos als σφζοντες oder δλλυντες eingreifen, geht es immer um Leben und Tod. Dieselbe in: Soter. Die Vorstellung des Retters im altgriechischen Epos. Wien 1931, S. 48. Als religionsgeschichtlich wichtig erklärt sie, »daß das rettende Eingreifen welcher Gottheit auch immer als Wunder (θαΰμα) empfunden wurde;...«. S. 46. 9 Vgl. dazu Gustav Bissinger, »Über die Dichtungsgattung und den Grundgedanken der Alkestis des Euripides«. Gymnasion. Programm zum Schluß des Studienjahres 1868/69. Erste Hälfte S. 1 - 2 0 , Erlangen 1869; zweite Hälfte S. 1 - 36, Erlangen 1871. Die Fragen, warum die άμαρτία, die Schuld des Admetos nicht erklärt wird, warum die Zeitspanne zwischen Todesforderung und Tod nicht angegeben wird, warum dem tragischen Admetos ein komischer Herakles entgegengesetzt wird, beantwortet Bissinger mit dem faktischen Hinweis auf den Mythos, der all das offen läßt: Euripides habe sein Drama im engsten Anschluß an die überlieferte Mythe (Erste Hälfte S. 9) geschaffen. Diese Gegenposition zu einer psychologischen oder moralischen Deutung des Textes ist unbegründet. Warum hat Euripides den Mythos beibehalten? Die Mischung von Ernstem und Schwankhaftem in der Alkestis muß auch für zeitgenössische Zuhörer aufreizend gewesen sein. Sie forderte Aristophanes in den Fröschen zu beißender Kritik heraus. Vgl. dazu Anton Widmann, »Das Euripideische Drama und dessen Einfluß auf die dramatische Literatur der späteren Zeit«. I. Gymnasion 1873/74, S. 1 - 33 und I I . Gymnasion 1874/ 1875, S. 1 - 2 4 . 10 Die Unterscheidungsmerkmale zwischen Mythos und Märchen, die Karl Kerényi nennt im Anschluß an den Märchenbegriff André Jolies', der das Märchen für eine aus der Sage entwickelte Spätform hält {Einfache Formen, Halle/Saale 1930), sind ahistorisch, jedenfalls nicht übereinstimmend mit dem Bauplan des Alkestis-Mythos. Sie übersehen die mythisch-märchenhafte Struktur, die historisdie Tatsache der Ambivalenz des Textes zwischen Mythos und Märchen. Kerényi

Die »Rettung« der Alkestis

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D i e Forschung scheidet sich i n dem Streit, ob Euripides ein Traditionalist oder Aufklärer gewesen sei 11 , an der Frage nach dem G r a d der Verwendung v o n T r i v i a l e m i n dessen Dichtung. 1 2 W e i l v o n der Entscheidung, ob A p o l l o n u n d Herakles i m Bau des D r a mas eine tragende F u n k t i o n haben oder ob sie nur sekundär zur K e r n handlung des Todes der Alkestis gehören, die Entscheidung über den Sinn der H a n d l u n g abhängt, ist die Frage, was der Mythos i n der Alkestis sei, v o n so großer Wichtigkeit. Das Verhältnis des Dichters z u m Mythos ist nicht so sehr ein philosophisches, religiöses u n d biographisches Problem 1 3 , sondern ein philologisches: Welche F u n k t i o n hat das Mythische i m A u f b a u des Dramas? Das D r a m a ist ja nicht einfach ein M y t h o s ; es verwendet Mythisches i n einer bestimmten Einstellung. Die Götter i m D r a m a entziehen sich einer psychologischen Erklärung, u n d deshalb (so glaubt A l b i n Lesky), w e i l sie i n dieser Erklärung nicht aufgehen, gehören sie auch nicht zur ursprünglichen H a n d l u n g . 1 4 D i e Subdefiniert: »Der Märchenerzähler wendet sich gegen die tragische Wirklichkeit des unter Beschränkungen leidenden menschlichen Daseins und setzt ihr eine Antitragödie entgegen. Bewußt oder unbewußt ist der Märchendichter ein Leugner, ein Antitragiker, und seine Schöpfung dem Geleugneten gegenüber sekundär: das Primäre, das Geleugnete, ist im Mythos da. Das Märchen hält am besten bei der Hochzeit, der Erfüllung, inne.« K. Kerényi, Die Heroen der Griechen; a. a. O. S. 16. 11 Zur Frage: Ist Euripides Traditionalist oder Aufklärer? vgl. Kurt von Fritz, »Euripides' Alkestis und ihre modernen Nachahmer und Kritiker«. In: Antike und Abendland 5, 1956 und Antike und moderne Tragödie, Berlin 1962; Walter Jens in: Euripides, hg. von R. Schwinge a. a. O. S. 9; Wolfgang Kullmann, »Zum Sinngehalt der euripideischen Alkestis«. In: Antike und Abendland 3, 1967 und Gilbert Murray, Euripides und seine Zeit, Darmstadt 1967. 12 Die Frage der Trivialität ist abstrakt nicht zu beantworten, am Fall zu untersuchen. Allgemein und fast selbst wieder trivial ist zu sagen, daß überkommene Sprachformeln verschieden starke Leistungsanforderungen stellen und Trivialität an dem Grad der Erfüllung dieser Leistung durch den Sprecher/Dichter zu messen ist. 13 Als weltanschauliches Problem behandelt Karl Reinhart das Verhältnis des Dichters zum Mythos. Vgl. ders., »Die Sinneskrise bei Euripides«. In: Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung. Göttingen 1960, S. 227 - 256. 14 Der Kern der Handlung ist nach Lesky: »Ein König lebte einst, reich und glücklich, der führte ein junges, schönes Weib heim. Aber am Tage der Hochzeit erschien ein unlieber Gast, der Tod, um des Königs Seele einzufordern. Alle Bitten fruchteten nichts; jemand anderer könne für ihn sterben, das war alles, was er zugestand. Aber Vater und Mutter wollten dies Opfer nicht bringen, da warf sich die junge Frau dazwischen und folgte dem Tod, um des geliebten Mannes Leben zu retten.« Albin Lesky, »Alkestis, der Mythos und das Drama«. Akademie der Wissenschaften in Wien, philos.-hist. Klasse, Sitzungsbericht 203. Bd. 2. Abhandlung Wien und Leipzig 1925, S. 41/42. Als Quellen analysiert Lesky ein deutsches Volkslied (Erk-Böhmes deutscher Liederhort, Bd. I, Leipzig 1893, S. 276, 78 d), ein nordisches Volksmärchen (Diederichs I. Bd. Nr. 12, Jena 1915), das neugriechische Märchenlied von Jannis und Charos aus der Gegend von Pontos (B. Chalatianz in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, 19. Jhrg. Berlin 1909,

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Hans Unterreitmeier

stanz des Dramas wäre demnach der T o d M a n n — nicht die Rettung — , w e r t v o l l Einfühlsamkeit des Dichters i n die Psyche noch, ob der Charakter des Admetos als beurteilen ist. 1 5

einer liebenden G a t t i n für ihren v o r allem durch die realistische der Frau. Nebensächlich ist dann feige, schwankend oder edel zu

Eine Interpretation, die das den Modernen Befremdende des Textes als unerhebliche stoffliche Z u t a t abtut, beachtet nicht, daß die Dramen für l i t u r gische Feiern, etwa die großen Dionysien, geschrieben sind 1 6 , u n d daß es z u m A u f t r a g der Schreiber gehört, bekannte religiöse Stoffe i m Dichterwettbewerb dem P u b l i k u m glaubhaft zu vergegenwärtigen. Eine Festszene, die Feier zu Ehren des A p o l l o n Karneios, des Erntegottes i m M o n a t August, ist nach Euripides der O r t , an dem die »Diener der Musen« (444/ 45) Alkestis i n Liedern besingen. Das D r a m a ist liturgische Inszenierung, artistische Vergegenwärtigung des Heils i m Aufdecken der Wahrheit des Mythos, schwebend zwischen Spiel i n der Wettbewerbsdichtung u n d Ernst i n der Bindung an den traditionellen Mythos. D i e Wahrheit, die i n der Alkestis aufgedeckt w i r d , ist nichts anderes als der M y t h o s der Vorszene — u n d das ist eben kein bloßer Mythos, sondern ein » V o r w u r f « m i t mythischen Bausteinen. Das D r a m a diskutiert S. 368,) die Erzählung von Savitri und Satyanat aus dem 3. Buch des indischen Mahabharatcij und kommt so zum Liebesopfertod als Primärmotiv. Dasselbe Motiv sei auch auf attischen Lekythen aus der Mitte des 5. Jahrhunderts zu sehen, die Entrückung des Verstorbenen in das Elysium (a. a. O. S. 68). Das Fragment eines polychromen Lekythos in Berlin (hg. von E. Curtius, Archäologisches Jahrbuch X , 1895, Tafeln 2 und S. 86 ff.) zeigt eine weibliche Gestalt, sitzend zwischen einer Frau und einem Jüngling, die mit erstaunten Gesten auf einen weiblichen Leichnam weisen, der zwischen einem bärtigen und jugendlichen Dämon liegt. Lesky sieht auch darin eine Bestätigung seines Motivs. Die Verbindung mit der ApollonMythologie erklärt er aus der Tendenz zur Aggregation (a. a. O. S. 41), die zum Herakleskreis aus einer sehr früh anzusetzenden Motiv-Verbindung (a. a. O. S.57). Hinter der polygenetischen Herleitung des Textes aus dunklen Quellen steht ein ästhetisches Empfinden, das Euripides abstreitet, was es selbst als fremd fühlt: Dem Dichter fallen »jene Szenen zu, d i e . . .um die Gestalt der Alkestis, der Gattin und Mutter, und ihres Todes geschrieben sind« (a. a. O. S. 65). 15 Vgl. Albin Lesky, »Der angeklagte Admetos«. In: Gesammelte Schriften; hg. von Walter Kraus. Bern und München 1966, S. 290: »Wir möchen das Problem gewiß nicht in so unerlaubter Weise simplifizieren, daß wir sagten: Admetos bewährt in seiner Gastfreundschaft so viel edle Art, daß er die Rückkehr seiner Gattin« — das Problem ist also die Rettung! — »damit verdient. Aber daß der Dichter an Admet eine Gesinnung zeigt, die uns bewegt, ihm den frohen Ausgang zu gönnen, das allerdings glauben wir mit Wilamowitz.« Vgl. ebenfalls E.-R. Schwinge a.a.O. S. 185, der von der »Feigheit« des Admetos spricht, Herakles die Wahrheit zu sagen. 16 Eine populäre Einführung in den Festspielrahmen der Dramen bietet das Buch von Emil Nack — Wilhelm Wägner, Hellas, Land und Volk der Griechen. Wien—Heidelberg 1958, S. 233 - 238.

Die »Rettung« der Alkestis

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diesen Mythos, die Figuren sind Figuren für die Erkenntnis dieses Mythos, an der sich die Zuschauer orientieren. 1 7 Was der Text historisch sagt, welcher A u t o r , welches P u b l i k u m hinter dem Text steht, ist also nicht durch die Stoff geschichtliche Einordnung dieses Mythos i n den griechischen Mythos, nicht durch die Reduzierung dieses Mythos auf eine Urfassung, nicht i m großen Raster der Geistesgeschichte zu erklären, sondern mikroskopisch aus dem Bau des Textes. 1 8 D i e Analyse des Textes muß an dem historisch richtigen M y t h o s der V o r szene ansetzen, der die Figuren A p o l l o n , Thanatos, Admetos, Alkestis u n d den Retter synthetisiert. D i e wirklichkeitsnahe Seelendarstellung der menschlichen Szenen ist nicht nur eingebettet i n die mythisch-märchenhafte H a n d lung der Figuren Apollon/Herakles, sondern selbst mythisch-märchenhaft: Der T o d der Alkestis ist ein stellvertretender Tod, ein Tauschgeschäft, das der G o t t A p o l l o n m i t List ausgehandelt hat. Aber welcher Zusammenhang besteht zwischen den Hauptszenen u n d der V o r - u n d Schlußszene, zwischen dem stellvertretenden T o d u n d der Rettung? Welche Wahrheit w i l l Euripides i n diesem Mythos den Zuschauern demonstrieren? Was ist das Thema des Dramas? D i e Analyse versucht zuerst, i m Zerlegen des Textes i n kleinste Begriffsbausteine den A u f b a u des Dramas aus den Szenen zu rekonstruieren, gibt dann an H a n d der wichtigsten Bausteine einen schematischen Uberblick u n d versucht zuletzt, i n einem dritten Abstraktionsschritt, das den A u f b a u bestimmende Thema, den Gedanken, der die H a n d l u n g lenkt, i n aristotelischer Definition das τέλος, z u erfassen. Der T i t e l der Untersuchung unterstellt, daß das Thema die Rettung sei, i m Retten das Strukturprinzip liege. E i n aus der Übersetzung nicht erkenn17 Über die lebensorientierende Funktion der Mythen für Geburt, Reifung, Hochzeit, Krankheit, Tod bis hin zum alltäglichen Kochen vgl. die Beobachtungen Claude Lévi-Strauss' bei den Bororo-Indianern Zentralbrasiliens. In: Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt am Main 1971, S. 57 - 93. 18 Vgl. Hugo Kuhn, »Thesen zur Wissenschaftstheorie der Germanistik«. In: Dichtung — Sprache — Gesellschaft. Akten des I V . Internationalen Germanisten-Kongresses 1970 in Princeton. Hg. von Victor Lange und Hans-Gert Roloff, Frankfurt a. M. 1971 (Beihefte zum Jahrbuch für Internationale Germanistk 1), S. 1117; dort S. 13: »Auch zur Analyse historisch ferner Texte brauchen wir, anstelle psychologischer Makrostrukturen und ihres Kausalnexus, neue psychologische Mikrostrukturen, deren Elemente und deren Verbindungen für jede einzelne historische Situation eigens und neu rekonstruiert werden müssen. D. h. wir brauchen... ein Verständnis auch jener Aura des nicht direkt Ausgesagten — das im Kontext als Zitat, Konnotation, Struktur indirekt und doch zu stärkster Wirkung fexiert als Zitat, Konnotation, Struktur indirekt und doch zu stärkster Wirkung fixiert ist.« Wiederabdruck in: Hugo Kuhn, Liebe und Gesellschaft. Kleine Schriften Band 3. Hg. von Wolfgang Walliczek. Stuttgart 1980, S. 166 - 171; dort S. 168.

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bares, für den zeitgenössischen Zuhörer aber unüberhörbares Struktursignal gibt der erste Vers des Dramas. Er nennt den Gegenstand der Rettung, das »Haus des Admetos«: δώματ' Ά δ μ ή τ ε ι 9 . D i e Sonanz zwischen »domat« u n d »dmät« w i r d zerrissen durch das private (»beraubende«) A i m N a m e n Admetos. Eine linguistische Untersuchung der Wurzeln u n d des Wortfeldes v o n δώματα u n d "Αδμητος v o r Beginn der Textanalyse soll nicht Lexikonwissen z u m Selbstzweck vermitteln, sondern m i t H i l f e der Wörterbücher auf das Gehör der Griechen einstimmen. Es erleichtert das Verständnis der Beobachtungen zu einzelnen Bausteinen des Textes, die gerade i m W o r t f e l d der beiden miteinander verwandten W u r z e l n δεμ : bauen u n d δαμ : >bändigenzähmenins (Ehe-)Joch zwingen< liegen 1 9 , wenn man das lexikalische Feld dieser Bausteine kennt. M i t dem R u f : Τ Ω δώματ' Ά δ μ ή τ ε ι 5 : » O h Haus des Admetos«, m i t einem inhaltlich paradoxen Ausruf Apollons, beginnt das D r a m a ; denn δώμα, das >HausHaushaltFamilieHauslosenbauen< gehören δόμοι: die >ZimmerBau des BettsKörperbauHausherrinbinden< 21 . I n das W o r t f e l d v o n δαμ: >bändigen< gehören δαμάω, δαμαλίζω, δαμνάω, δάμνημι; δαμάλη = δάμαλις: das >junge Mädchenjunge Kuh« 2 2 ; 19 Vgl. Georg Curtis, Grundzüge der Griechischen Etymologie, Leipzig 1879, S. 232: »Die Wurzel δαμ ist verwandt mit da binden (Nr. 264, S. 234) und δεμ (Nr. 265, S. 234).« — Vgl. »Lat. domare , domitus, domitor, dominus ahd. zamon, zam; Cymr. dof >zahmzähmen< «. — »Für δάμαρ, δαμάλη-ς ist die auch in παρθένος άδμής hervortretende Bedeutung des Überwältigens anzunehmen.« — »ά-δμή[τ]-ς ungebändigt«; vgl. ferner: A Greek-English Lexicon compiled by Henry George Liddell and Robert Scott. A New Edition by Henry Stuart Jones, 1843, Ninth Edition 1940, Reprinted 1953, Oxford Press: άδμής: of maidens, unwedded 2. of animals unbroken; αδμης: poet for άδάματος; of Artemis, ταν αίένν άδμήταν: >die immer Unbezwungenehauslos< ist eine vor allem durch den Text der Alkestis gestützte Übersetzung. 21 Vgl. Curtius a. a. O., S. 234: »Daß δεϊν >müssen< mit δεΐν >binden< zusammenhängt, ist längst anerkannt.« 22 Vgl. Greek-English Lexicon: δαμάλη, δάμαλις, >young cow< I I . >girlsubduer< I I . >young steerjungem Mädchen< (gemeint ist heiratsfähig) und >junger Kuh< (gemeint ist kalbfähig) hat einen handfesten wirtschaftlichen Hintergrund, der sich nicht nur im Griechischen sprachlich in Synonymen äußert. Junge Kühe sind die Besitzgrundlage der jungen Familie, gelten als lebende Währung. Sie gehört, um mit Lévi-Strauss zu sprechen (vgl. ders.: »Der Strukturbegriff in der Ethnologie«. In: Hans Neumann [Hg.], Der moderne Strukturbegriff. Darmstadt. 1973 [Wege der Forschung C L V ] , S. 128 - 183), auf die Ebene des Güteraustauschs, der wie der Informationsaustausch mit dem Austausch von Frauen zwischen den Verbänden parallel laufe. Es ist falsch, aus der Wort-

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δάμαρ, die >GattinHerrin, weil ich unter die Erde geh', ist meine letzte Bitte an dich: Sei meinen verwaisten Kindern Mutter! Führ' ihm eine liebe Gattin zu, ihr einen edlen Gatten. Und daß sie nidit unzeitig sterben, wie idi, ihre Gebärerin, zu Grunde geh', sondern vom Schicksal behütet ein freudiges Leben verbringen^ Zu allen Altären in Admetos Haus trat sie, bekränzte sie mit Laub von den Zweigen der Myrte und betete, ohne zu weinen und ohne zu seufzen; auch verdarb das nahende Unheil nicht die Schönheit ihrer Haut. Doch dann im Schlafgemadi, als sie aufs Bett (λέχος) sich warf, da weinte sie und sagte dies: >Ach mein Lager (λέκτρον), wo ich die mädchenhafte Unberührtheit ließ dem Mann, für den ich sterbe, ich grüß' dich; denn keinen Haß trage ich gegen dich; du hast ja nur mido zu Grunde gerichtet. Ich sträubte mich, dich und den Gat-

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ten preiszugeben und sterb' dafür. Dich wird nun ein anderes Weib besitzen, schwerlich eine, die besser das Rechte tut, vielleicht mehr Glück hat.< Sie kniet und küßt, benetzt das ganze Bett (δέμνιον) mit einer unmeßbaren Tränenflut. Und als sie sich satt geweint hat, springt sie jäh aus dem Bett (δέμνιον), und oftmals verläßt sie das Gemach und kehrt wieder um, wirft sich erneut auf das Lager (κοίτη). Die Kinder hingen an den Gewandfalten der Mutter und weinten. Sie nahm das eine auf den Arm und herzte es, dann das andere, als Sterbende. Alle Diener unterm Dach beklagten und beweinten ihre Hausherrin. Sie reichte jedem die Hand und keiner war ihr zu gering, daß sie nicht mit ihm Worte wechselte. Das ist das Unheil in Admetos Haus. Wär er gestorben, so wär* er nun davon los; doch er wich aus, und ein Schmerz packt ihn nun, den er niemals vergessen wird.« I n »Hestia«, der H e r r i n des Herds, die den K i n d e r n Nestwärme gibt, i n den »Gemächern«, v o n denen jedes dem Schutz eines Altars unterstellt ist, i n dem »ehelichen Schlaf gemach«, i n dem das zukünftige Leben des H a u ses gezeugt wurde, auf dem »Bett« (λέχος), das i n einer sich steigernden Bewegung der Alkestis λέκτρον genannt w i r d , »Ehelager«, w o das Mädchen zur Frau wurde, δέμνιον, >LagerkorpusBeilagerSorge tragen für jemandSchutzHilfeStärkeWohlklangTechnik< erreichen« ( 7 8 2 -

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786), Herakles denkt so u n d ermahnt den Diener: »sei guten Sinns, trinke, berechne dein Leben nach jedem Tag, das andere steht beim Geschick. Ehre auch sie, die den Menschen v o n allen Göttern am meisten gefällt, K y p r i s ; die G ö t t i n w i l l ja nur G u t e s . . . Wer sterblich ist, trage auch den Sinn eines Sterblichen.« (788 - 799) U n n o r m a l ist aber die Befolgung dieser Lebensansicht i n dieser Situation, ja sie ist unmöglich. D i e »fromme« T a t des Admetos ist falsch, ebenso das vitale Wissen des Herakles, w e i l der zukünftige T o d der fremden Frau gegenwärtig ist. Was soll die Aufhebung der normalen Zeit i m Drama? Das D r a m a diskutiert i n den Figuren Admetos und Herakles den faktischen, aber nicht angenommenen u n d den angenommenen, aber nur gedachten T o d am gespielten T o d der Alkestis u n d stellt durch die A u f hebung des Zeitunterschieds v o r die Frage: Was k a n n u n d darf der M a n n angesichts der wirklichen Möglichkeit, der möglichen Wirklichkeit des Todes der Frau? Welche Güte hat sein Leben angesichts des sicheren Faktums der Vergänglichkeit ihres Lebens, v o n dem die Güte seines Lebens abhängt? Ihre Güte ist unumstritten, aber führt zum Streit u m die Güte seines Lebens. Das Verhältnis des Mannes zum Leben m i t der Frau w i r d i n Frage gestellt. Es ist ein Verhältnis zur Zeit, i n der der M a n n m i t der Frau lebt, die vergeht. W i e verhält sich der M a n n zu ihrem Tod, dem T o d einer »Fremden«, nicht »Hauseigenen«, den das D r a m a »im Augenblick« inszeniert, i n einer Zeitraffung, die die Zukunft neben der Gegenwart zeigt? Der T o d ist nah, darum »trink, liebe«, laß 5 es d i r Gutsein! ist die Devise des Fremden. »Das wissen w i r alle«, antwortet der Diener auf diese Lebensweisheit des Gastes (803). Aber darf man so leben, wenn der T o d »im Haus« ist? Der Gast muß nach dieser Devise leben u n d würde das Haus nicht betreten, wenn er wüßte, daß i h n eine Tote aufnimmt. Der Diener vergleicht das Verhalten des Gastes m i t dem eines zu jedem W e r k fähigen Diebs u n d Wegelagerers (766), d. h. eines Menschen, der sich das Gut i m Haus u n d auf der Straße ungesetzlich v o m Besitzer n i m m t . Der V o r w u r f trifft jedoch Admetos, w e i l er dem Gast »fremdes« Gut schenkt. E i n »Räuber«-leben führte er bis z u m T o d seiner Frau, w e i l er sich Tisch, Bett u n d Wohnung der Fremden aneignete i m Wissen, daß sie es m i t dem T o d bezahlt. D i e Schuld des Admetos ist mythisch: Er mußte ihr Opfer annehmen, u m leben zu können; denn was Admetos nachträglich, nach dem T o d der Alkestis, für wünschenswerter als Hochzeit u n d Zeugung hält, ein Leben allein, außerhalb dieser Bindung (885 - 888), ist mehr noch άβίωτον χρόνον,

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»leblos verlebte Zeit« (242/43) als das Leben m i t ihr(em Tod). Der Mythos setzt die Bindung als ausschließlichen, aber i m H i n b l i c k auf den T o d zwiespältigen Wert. »Hätte ich den Fremden v o m Haus u n d der Stadt vertrieben, würdest d u mich dann mehr gelobt haben?«, fragt Admetos den Chor nach der waghalsigen Einladung des Herakles (553/54). Der Gast braucht ein Haus, Admetos mußte ihn, sich selbst betrügend, einladen. Exemplarisch steht sein Haus für »Jedermanns« (1026) Haus, das den »Obdachlosen« beherbergt. Der Gast muß betrogen werden, w e i l nur die Fremde, Nichtblutsverwandte i h n beherbergen kann. D a ß Alkestis, die »Gute«, i m aktiven Sinn: die Gutes t u t , durch ihren T o d Admetos u m sein Gut bringt u n d Herakles z w i n g t , für i h n m i t dem T o d zu ringen, i h m für seine Güte zu danken, die i h n »beschämt« hat, darin liegt die v o m Schema vorgezeichnete substantielle Tragik der Rettergestalt u n d -geschichte. Das »Haus des Admetos« soll nach der Lebensweisheit des Herakles leben, w e i l fremdes L e i d es nichts angeht. Es ist -Ουραίος: >vor der Tür< (778), sagt Herakles z u m Diener; die Frau ist Ουραίος (805), gehört als οθνεΐος (810), >Fremdedu zwingst, bindest< 980). E r ist m i t der Annahme des Opfers ein δμαθείς (vgl. 127: δμαθέντας, die >GefesseltenWerk für das VolkLiebeSprechrollen< (griechisch πρόσωπα: >Antlitze«, Masken) wie A l k e stis und Admetos? Der Retter ( A p o l l o n u n d Herakles i m Drama) hat nach der Hypothese dieser Untersuchung sogar die zentrale Rolle, Prinzip des Aufbaus zu sein. Diese Vorbemerkungen zur Analyse der letzten Szene sollen keine Ergebnisse vorwegnehmen, sondern z u m Schwerstverständlichen, der »Rettung«, hinführen. D i e Unmöglichkeit des Ausgangs, daß ein Toter wieder lebendig w i r d — »Es ist nicht möglich, die Toten ans Licht z u holen.«, sagt Admetos selbst i n der Schlußszene (1076) — , stellt die Glaubwürdigkeit des ganzen Dramas i n Frage. »Diese Sache ging so aus:«, singt der Chor (wie am Schluß der Medea, der Andromache , der Helena u n d der Bakchen) abziehend: »Götter lenken Vieles anders als (von den Menschen) erhofft w i r d . U n d das E r w a r tete kaifl nicht zur Vollendung, dem Unerwarteten fand ein G o t t einen Ausweg.« ( 1 1 6 0 - 1 1 6 3 ) K a n n der Zuschauer das θαΰμα, das »staunenswerte Kunststück« (1134; θαΰμα hat auch die Bedeutung >Gauklerstück«, >VorgezaubertesBetrugdie H a u t abgezogen«) u n d z w i n g t Herakles z u m »Ringkampf«. Der T o d w i r d als »roh« bezeichnet (64; vgl. 495: »wilde Tiere« sind die Rosse des Diomedes; w e i l sie Menschen fressen); er t r i n k t v o m B l u t seines Opfers (845). Das άποσυλήσας weist darauf hin, daß Admetos das »wilde Tier« ist, dem die H a u t abgezogen w i r d . Seiner Rohheit f ä l l t Alkestis z u m Opfer. I n der Rohheit gleicht Admetos dem beherbergten Gast Herakles, der nicht weiß, daß er »von dem Opfer t r i n k t « . 3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 25. Bd.

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Das D r a m a beseitigt nicht den T o d ; es besiegt die Unwissenheit u m diesen T o d . D i e Unwissenheit ist mythisch notwendig: Admetos k a n n gar nicht anders als Herakles einladen, wenn er f r o m m sein w i l l . D i e V i t a l i t ä t des Gastes stößt notwendig auf den T o d der fremden Frau. Das ist das sogenannte Burlesk-Tragische der Rettergestalt, daß der Retter durch seine Beziehung z u m frommen M a n n u n d zur fremden Frau betrogen werden muß u n d gegen den Betrüger zum K a m p f gezwungen w i r d . Herakles wird i n diesem K a m p f z u m göttlichen Retter. Er gewinnt die Frau zurück »im Wis sen um etwas« (είδώς τ ι 1107). Dieses Wissen übernimmt Admetos. Bei der Analyse des Rettens ist dieses τ ι : >etwas< zu bestimmen — Was weiß Herakles? — , ebenso wie das τ ι ς i n der A n t w o r t des Admetos auf die Frage des Herakles, was man gewinne, wenn man u m den T o d der Frau lebenslang klage: ερως τις εξάγει: » >etwas< wie Liebe treibt die Klage heraus.« (1080) Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem unbestimmt sachlichen τ ι , das Herakles weiß, u n d dem unbestimmt persönlichen τις des Admetos? Ist es der, daß Herakles nach seiner Schmach, die i h n zum K a m p f z w i n g t , weiß u n d Admetos m i t i h m : Was ist Liebe? Wer ist Eros? Besteht'der Z u sammenhang i n der Ubereinkunft des sachlichen Faktums Liebe m i t dem persönlichen Wissen u m dieses F a k t u m durch das erzwungene u n d freiw i l l i g e v a i : >Ja< (1118) des Admetos? I n der dritten Hauptszene begegnen sich Wissen u n d Sache: Herakles weiß, daß Alkestis sterben muß, Admetos widerfährt dieser T o d . Sie stimmen nicht überein i n der Beurteilung der Zeit: Ist es gleich, ob sie heute oder morgen stirbt (Admetos) oder macht es einen Unterschied, ob sie heute lebt u n d einst sterben w i r d (Herakles)? Admetos lebte nach der Devise: »einst« w i r d sie sterben, u n d erfährt »jetzt« ihren T o d ; Herakles lebt nach der Devise u n d weiß »jetzt«, daß i h n diese Devise betrogen hat. Er »grollt i n den Eingeweiden« bei seiner Rückkehr v o m K a m p f : 10081038 Herakles: »Zu seinem Freund muß man offen heraus sprechen, A d metos; nicht darf man das Grollen i n den Eingeweiden still halten. D u warst mir's wert, daß ich d i r i n deinem Unglück immer nahe w a r u n d als Freund mich bewährte; du aber zeigtest m i r den vorliegenden T o d deines Weibes nicht an, sondern ließest mich i m Haus sitzen, als handelte es sich u m ein Leid >vor der Türsei RetterglänzenübergewechseltumgeschlagenKunststück< des Dichters, einen Taschenspielertrick oder ein Wunder nennt. D i e F u n k t i o n der mythischen Figur des Heilbringers Herakles besteht letztlich i n der V e r m i t t l u n g eines Erkenntnisaktes an die zuschauende/ lesende Gemeinde, die durch diesen A k t gerettet w i r d .

ST. M A R T I N U N D D I E M Ö W E N " * V o n Christian

Gnilka

1. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf ein kleines Stück aus dem Martinsw e r k des S u l p i c i u s S e v e r u s lenken. Der gewählte T i t e l mag vielleicht sonderbar anmuten — so als solle eine Nebensache zur Hauptsache gemacht werden, oder schlimmer noch: als solle ein Gegenstand christlicher Literatur u n d Frömmigkeit auf die Ebene des Antiquitätischen u n d Skurrilen herabgewürdigt werden. V o n dieser M o d e weiß ich mich jedoch frei, u n d Nebensächlichkeiten k a n n es i n den Martinsschriften des Sulpicius überhaupt nicht geben. Richard Heinze leitete einen seiner Aufsätze m i t der Bemerkung ein: »Es sind Kleinigkeiten, die ich bringe, u n d nicht alles ist neu; aber bei einem solchen i n jedem W o r t zugespitzten Meisterwerk soll man nicht ruhen, bis das volle u n d gesicherte Verständnis jedes Worts erreicht ist«. D a ging es freilich u m Senecas Apocolocyntosisund kein größerer Unterschied läßt sich denken als der zwischen jener Spottschrift und einer christlichen Heiligenvita. U n d dennoch: was der Menippea recht ist, ist dem Martinswerk billig. D e n n auch Sulpicius bietet auf seine A r t literarische Kunst, u n d zwar i n allen Teilen des »dossier martinien«: i n der noch zu Lebzeiten des Heiligen, also v o r dem November 397, verfaßten Vita; i n den drei Briefen, welche die V i t a ergänzen; i n den Dialo gi, die das B i l d Martins i m Vergleich m i t den Asketen des Ostens malen. Der V i t a w a r sogleich nach ihrem Erscheinen ein gewaltiger Publikumserfolg beschieden, zur lebhaften Freude der Buchhändler 2 ; sie verbreitete sich rasch über alle Teile der christlichen Welt, so daß man sich fast wundern muß, daß nur ein einziger antiker Textzeuge, der v o n Ursicinus i m Jahre 517 geschriebene Veronensis, auf uns gekommen ist. A u f der Grundlage der Vita u n d der Dialogi des Sulpicius stehen die beiden großen hexametrischen Gedichte De vita S. Martini des Paulinus v . Perigueux u n d Venantius Fortunatus m i t ihren über dreitausendsechshundert bzw. über zweitausendzweihundert Versen; u n d die Verehrung * Ich habe der Darstellung den Charakter des Vortrags belassen, den ich am 27. 9.1982 anläßlich der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Bonn hielt. 1 R. Heinze, »Zu Senecas Apocolocyntosis«, Hermes 61 (1926) 49/78, ebd. 49. 2 Sulp. dial. I 23, 3/7.

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Martins hatte zur Zeit des letzteren bereits einen solchen G r a d erreicht, daß sein Zeitgenosse, Gregor v. Tours, die vier Bücher De virtutibus 5. Martini m i t den Wundern füllen konnte, v o n denen frommer Glaube annahm, sie seien der Fürsprache dieses Heiligen zu verdanken. Wie ein starker Strom zieht sich die Martinsverehrung durch die christlichen Jahrhunderte, Kunst u n d Kultus der katholischen Kirche befruchtend, wirksam sogar noch i m rheinischen Brauchtum unserer Tage u n d dieser Stadt, i n der w i r uns versammelt haben. Angesichts solcher W i r k u n g , die weit über das Gebiet des bloß Literarischen hinausreicht, dürfen die genannten Texte des Sulpicius m i t besonderem Recht den Anspruch auf philologisch saubere u n d zugleich einfühlende Behandlung des Details erheben. Äußerlich scheint dieser Anspruch für einen T e i l des Martinswerks erfüllt. I n den Jahren 1967 - 1969 brachte Jacques Fontaine i n der Reihe der Sources Chrétiennes N ° 1 3 3 - 135 die große dreibändige E d i t i o n der V i t a u n d der Briefe heraus. Sie enthält eine Einleitung, einen neu erstellten Text samt französischer Übersetzung, einen ausführlichen Kommentar i n essayistischer F o r m u n d Indices — alles i n allem sind das über eintausendvierhundert Seiten zur Darbietung u n d Aufbereitung lateinischer Texte, die i n der Halmschen Ausgabe des Corpus Vindobonense (1866) etwa vierzig Seiten ausmachen. Durch Fontaines Kommentar belebte sich das gelehrte Interesse an der Vita Martini für kurze Zeit. Es erschienen v o n 1969 bis 1971 zahlreiche Besprechungen, darunter auch solche, die den Charakter selbständiger Aufsätze tragen 3 . Seitdem ist es u m die M a r t i n s v i t a wieder stiller geworden. Allerdings steht sie auch i n der v o n Christine M o h r m a n n betreuten Reihe Vite dei Santi (Bd. I V , 1975): nebst italienischer Ubersetzung v o n Luca Canali, einer kurzen Einleitung aus der Feder Christine Mohrmanns u n d einem knappen, aber nützlichen Kommentar v o n Jan W . Smit. Wenn ich eben bemerkte, dem Erfordernis exakter u n d zugleich liebevoller Interpretation sei ä u ß e r l i c h Genüge getan, so sollte damit nicht die bedeutende Leistung Fontaines i m Ganzen herabgesetzt werden. Aber es muß u m der Sache w i l l e n k l a r ausgesprochen werden, daß die gelehrten Beobachtungen u n d einfallsreichen Kombinationen dieses breit angelegten, essayhaften Kommentars durchsetzt sind m i t höchst bedenklichen Interpretamenten. Dies festzustellen wäre vielleicht weniger nötig, wenn nicht bei Texten solcher A r t interpretatorische Mängel bisweilen auch eine mangel3 P. Antin, Revue Mabillon (Ligugé Abbaye) 58, 1970, 25/36; P. Courcelle, Journal des Savants 1970, 53/58; Y. M. Duval, Caesarodunum 1969, 207/09; E. Griffe, Bulletin de Littérature Ecclésiastique 70 (1969) 184/98. Außerdem sind mir noch 25 Rezensionen bekannt.

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hafte Beurteilung größerer Zusammenhänge christlicher Geistesgeschichte i m Gefolge hätten.

2. D i e Möwengeschichte bringt Sulpicius i m dritten Brief. Er ist an die Schwiegermutter Bassula gerichtet u n d erzählt v o n der letzten Reise M a r tins nach Candes, v o n seinem Tode u n d Begräbnis. D i e Reise v o n Tours nach Candes, einer Pfarrei seiner Diözese, unternahm der Bischof, des nahen Todes schon gewiß, u m einen Streit zwischen den K l e r i k e r n jener Gemeinde zu schlichten. Unterwegs sah er die mergi auf der Loire. Ich schicke voraus, daß ich keinen Widerspruch erheben würde, falls jemand sich darauf versteifen wollte, m i t den mergi seien nicht Möwen, sondern Taucher gemeint. D i e Scheidung zwischen λάρος u n d αΐθυια ist schon i m Griechischen nicht möglich, u n d mergus k a n n beides sein 4 . D a nun zudem unser französischer Kollege sowohl Tauchvögel als auch M ö w e n auf der Loire beobachtet hat, außerdem darauf hinweist, mergus könne hier vielleicht den Eisvogel bedeuten, den man i m Französischen einst »oisel saint-Martin« nannte u n d der heute noch »martin-pecheur« heißt 5 , lasse ich die ornithologische Frage unentschieden. Ich gebe den Text u n d eine Ubersetzung: Sulp. Sev. epist. 3, 7/8 (SC 133, 336/38 Fontaine; CSEL 1,147 f Halm): 7. Ita profectus (sc. Martinus) cum suo ilio, ut semper, frequentissimo discipulorum sanctissimoque comitatu mergos in flumine conspicatur piscium praedam sequi et rapacem ingluviem adsiduis urguere capturis. » F o r m a « , inquit, »haec daemonum est: insidiantur incautis, capiunt nescientes, captos dévorant exsaturarique non queunt devoratis«. 8. Imperat deinde potenti verbo, ut eum, cui innatabant, gurgitem relinquentes aridas peterent desertasque regiones, eo nimirum circa aves illas usus imperio, quo daemonas fugare consueverat. Ita grege facto omnes in unum illae volucres congregatae, relieto flumine, montes silvasque petierunt, non sine admiratione multorum, qui tantam in Martino virtutem viderent, ut etiam avibus imperaret. Übersetzung: So machte er sich auf den Weg, begleitet, wie immer, von seiner großen frommen Schülerschar. Da erblickte er Möwen auf dem Fluß, wie sie auf Fische Jagd machten und ihren gierigen Schlund unaufhörlich mit Beute vollstopften. »Ein Bild der Dämonen ist das«, sagte er; »sie lauern den Unvorsichtigen auf, fangen die Ahnungslosen, die Gefangenen verschlingen sie und können sich nicht sättigen an den Verschlungenen«. Darauf befahl er mit machtvollem Wort, sie sollten das Gewässer, auf dem sie schwammen, verlassen und trockene Einöden aufsuchen, indem er den Vögeln gegenüber von der Befehlsgewalt Gebrauch machte, mit der er Dämonen zu vertreiben pflegte. So sammelten sich jene Vögel, bildeten einen 4 Vgl. Steier, Art. Möwe: PW 15,2 (1932) 2412/18, bes. 2414. Über die Gefräßigkeit der mergi ebd. 2412, 37 ff.; 2416, 20 ff.; 2417, 35 ff. 5 Fontaine 3, 1293 f.

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Zug, verließen den Fluß und suchten die Berge und Wälder auf — zur großen Verwunderung vieler, da sie an Martin solche Madit erkannten, daß ihm sogar die Vögel gehorchten. 3. I n seinem hübschen Bändchen Heilige und Tiere (München 1937) bemerkt Joseph Bernhart zu einer der dort vorgelegten Tiergeschichten: »Das köstliche Stück deuten wollen, hieße an einer Rose sich vergreifen, auf der ein schöner Falter ruht« 6 . Einen ähnlichen V o r w u r f brauchen w i r nicht mehr zu fürchten, denn Fontaine hat der Deutung unseres Textes nicht weniger als z w ö l f Druckseiten gewidmet 7 u n d dabei zweifellos nicht nur jenen Falter verjagt, sondern auch die Rose selbst arg zerpflückt. D i e Schwierigkeiten, die Fontaine sieht, hängen an dem Begriff forma. Wenn forma, wie man anzunehmen geneigt ist, »Bild«, »Zeichen«, »Symbol« bedeutet, wenn die Vögel also nichts weiter als Vögel sind, w a r u m vertreibt sie dann St. M a r tin? Weswegen gebraucht er den unschuldigen Tieren gegenüber dieselbe Wundermacht, die er sonst gegen die Dämonen einsetzte? Fontaine ist m i t dieser Frage nicht fertig geworden. Er versteht die Worte Martins einerseits als Gleichnis (»parabole«) nach der A r t der Gleichnisreden Christi, w o f ü r er sich ausdrücklich auf den Begriff forma beruft. D a es der Heilige aber eben nicht bei den W o r t e n bewenden läßt, sondern gegenüber den mergi zur T a t schreitet, sieht Fontaine i n den Wasservögeln andrerseits eine Erscheinungsform des Teufels. Er verweist hierzu auf die Vita Martini 22,1: ( dia bolus) visibilem se ei formis diversissimis ingerebat. Ebenso wie dort sich der Teufel i n die Gestalten heidnischer Götzen verwandele, erscheine er hier i n der Gestalt der Möwen. Forma bedeute demnach: »aspect extérieur«. Freilich geht das eine nicht m i t dem anderen zusammen, weder sprachlich n o d i sachlich: entweder w i r haben es m i t einem Gleichnis zu t u n oder tatsächlich m i t Dämonen i n Vogelgestalt 8 . So gelangt denn auch Fontaine selbst z u dem Ergebnis, hier liege eine »curieuse simultanéité« zweier Vorstellungen v o r 9 . W o m i t die Schuld an dem unklaren Resultat der Interpretation dem A u t o r selbst i n die Schuhe geschoben w i r d . Aber es k o m m t noch besser. Der Deutung des französischen Gelehrten stellt sich i m folgenden ein weiteres H i n dernis i n den Weg. D e n n daß M a r t i n i n den Vögeln nicht w i r k l i c h D ä m o nen vertreibt, beweist die Bemerkung des Autors, der Heilige habe den M ö w e n geboten: eo nimirum circa α ν es illas usus imperio , quo d a e mona s fugare consueverat. Also: dieselbe Wundermacht, aber nicht derselbe β

Bernhart ebd. 223. Fontaine 3, 1290/1303. 8 Die Verwirrung wird noch dadurch erhöht, daß Fontaine bis zum Ende seiner Erörterung den Begriff »parabole« beibehält. 9 Fontaine 12961. 7

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Gegenstand! Vögel u n d Dämonen werden deutlich geschieden. D i e M ö w e n sind nichts weiter als M ö w e n . Auch das sieht schließlich der Kommentator ein. Aber wie hilft er sich? Er konstruiert einen Bruch zwischen den Worten Martins u n d dem Bericht des Sulpicius 1 0 . Dieser habe das M a r t i n s w o r t absichtlich abgeschwächt, da er die Gegenwart der Dämonen nicht so grob gegenständlich habe fassen w o l l e n : »Nous dirions aujourd'hui que Sulpice minimise l'anecdote«. M a n stelle sich v o r : der gewandte Stilist soll zunächst ein Apophthegma Martins wörtlich seinem Bericht eingepfropft haben, u m es anschließend nach K r ä f t e n wieder auszuhöhlen! Welche Anhaltspunkte gibt der Text für eine solch kühne Hypothese? Gar keine! I n dem Satz: [...], ut eurriy cui innatabant, gurgitem relinquentes aridas peter ent [...] regiones w i r d zu den Verben niemand ein anderes Subjekt ergänzen als mergi. Fontaines Beobachtung, hier werde eine gewisse Doppeldeutigkeit fühlbar, da daemonum das näherstehende N o m e n sei, ist gekünstelt; seine Unterstellung, hieran offenbare sich die Verlegenheit des Sulpicius (»l'embarras de Sulpice«), ungerechtfertigt. U n d überhaupt: weshalb denn hätten Dämonen i n der Gestalt v o n mergi dem Biographen Martins peinlich sein sollen, da er sich doch z u m Beispiel nicht geniert, v o n einer K u h zu erzählen, die ein D ä m o n r i t t (dial. I I 9, 1/4)? 4. Doch w i r w o l l e n das Einfache nicht zerreden! Forma steht hier klärlich i m Sinne v o n figura , signum, imago , wie so oft i n der christlichen L a t i n i t ä t . D i e Beutejagd der M ö w e n ist B i l d , Zeichen des dämonischen Treibens. Fontaines sprachliche Bedenken, forma i n solcher Bedeutung gehöre dem abstrakten Vokabular der Bibelexegese an u n d komme sonst bei Sulpicius nicht v o r 1 1 , sind gegenstandslos. Forma = είκών, σύμβολον, τύπος ist kein lebensferner Begriff theologisch-esoterischer Traktate, sondern begegnet auch i n der Poesie, sogar i n der lyrischen Dichtung des Prudentius 1 2 . U n d wenn ein Begriff i n allen Genera christlichen Schrifttums eingebürgert ist, darf nicht der Sprachgebrauch eines Autors gegen die Annahme eines solchen Sinnes ins Feld geführt werden. Was besagt es schon, daß forma v o n Sulpicius sonst so nicht gebraucht w i r d , da er die Sache zu erwähnen eben weniger Gelegenheit hatte? I m m e r h i n verwendet er einmal species u n d imago i m gleichen Sinne (dial. I I 10,4). I n dem populären Buch v o n Walter N i g g , Martin von Tours ist die Möwengeschichte i m Ganzen richtig erfaßt 1 3 , u n d 10

Fontaine 1300. Fontaine 1295 mit Anm. 3. 12 Vgl. Prud. cath. 1,26; ferner: harn. 735; psych. 884; tit. 8. 60. 13 Martin von Tours. Leben und Bedeutung des großen Heiligen . . . Mit einem Essay von Walter Nigg, 48 Farbtafeln von Η . N . Loose und Auszügen aus den 11

4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 25. Bd.

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man muß sich wundern, daß keiner der etwa dreißig Gelehrten, die sich m i t Fontaines Ausgabe rezensorisch beschäftigten, an dem verwirrenden H i n u n d H e r seiner Interpretation Anstoß nahm 1 4 . Aber e i n Gutes haben Fontaines Auslassungen doch. Sie beweisen, daß es unmöglich ist, die Sache allein v o m einzelnen W o r t her zu begreifen. Es genügt auch nicht, die Ausdrücke »symbole«, »symbolisme« i n die Darstellung einzustreuen 15 : m a n muß Verständnis für das Wesen christlichen Analogiedenkens aufbringen. Fehlt dieses V e r ständnis, dann k a n n die Interpretation ganzer Werke der christlichen L i t e ratur i n Mitleidenschaft gezogen werden, wie die moderne Betrachtung der Tageslieder des Prudentius erkennen l ä ß t 1 6 . D e n n der Schaden, den w i r hier i m Kleinen feststellen, zeigt sich dort i m Großen, w e i l die prudentianischen H y m n e n wesentlich auf der analogischen Naturbetrachtung aufbauen. A n drerseits: faßt man den K e r n soldier Naturanschauung fest ins Auge, lösen sich Probleme wie jenes, das dem französischen Erklärer bei Behandlung unserer Stelle z u schaffen machte, leicht auf. 5. Für den Christen ist die sichtbare W e l t erfüllt v o n Zeichen, die auf höhere, unsichtbare Tatsachen hinweisen. Diese Zeichen harren der Entdeckung durch den Menschen, sie sind aber unabhängig v o m erkennenden Subjekt. Sie sind selbst v o n G o t t geschaffene Realitäten, gehören zur objektiven Struktur der Schöpfung. Das Zeichen steht zu jener höheren Tatsache, auf die es hingeordnet ist, i m Verhältnis einer tiefen Ähnlichkeit, einer wesenhaften A n a l o gie. Deshalb k a n n das Zeichen auch eine gewisse W i r k u n g ausüben, u n d umgekehrt: die W i r k u n g beweist die Existenz des Zeichens. M i t Magie hat das nichts zu tun. H i e r zunächst zwei Beispiele aus Prudentius! Wie bei Tagesanbruch das D u n k e l weicht u n d die Dinge wieder Farbe annehmen, so werden einst i m Lichte des Jüngsten Gerichts die verborgenen Geheimnisse unserer sündigen Seelen zutage treten 1 7 . D a ß dies für den Dichter mehr ist biographischen Schriften des Sulpicius Severus (Freiburg/Basel/Wien : Herder 1977) 39: »(Martin) beobachtete einmal Tauchervögel und sah darin ein Bild des furchtbaren Streits, der sich unsichtbar, aber real im Hintergrund des Lebens abspielte«. Irreführend ist dann das folgende: »Sulpicius Severus meinte: >Es mag uns rätselhaft [!] vorkommen, warum Gott dem Teufel solche Gewalt eingeräumt hat< «. Davon steht nichts im Text, und derlei dürfte einem Sulpicius kaum »rätselhaft« gewesen sein. 14 Ausdrückliches Lob spenden ihr J. M.-F. Marique, Classical Folia 23 (1969) 265, teilweise auch Y. M. Duval, Latomus 29 (1970) 512 f. und P. Antin a. O. (oben Anm. 3) 33. 15 Fontaine 1295. 1297. 16 Ich habe versucht, die Dinge zurechtzurücken: »Die Natursymbolik in den Tagesliedern des Prudentius«, Pietas . Festschr. B. Kötting = JbAC Erg.-Bd. 8 (1980) 411/46.

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als ein literarischer Vergleich, zeigt die analogische W i r k u n g , die er i n dem natürlichen Vorgang erkennt. Das Morgenlicht verhindert Schandtaten, ja mehr noch: es ruft selbst beim Sünder Scham, Ekel, Reue hervor. Prudentius meint: solche W i r k u n g könnte das Licht nicht zeitigen, wenn es nicht gottgewolltes άνάλογον wäre; die W i r k u n g beweist seinen Zeichencharakter. Das zweite Beispiel ist anderer A r t u n d steht unserer Möwengeschichte i n gewisser Beziehung näher. Einem Volksglauben zufolge, der zur Zeit des Prudentius offenbar verbreitet w a r , fliehen die nachts umherschweifenden D ä monen beim Krähen des Hahns. Prudentius greift diesen Volksglauben auf 1 8 . E r findet darin eine Bestätigung jener Analogie, auf der sein H y m n u s Ad galli cantum beruht: der Hahnenschrei, der das Licht ankündet, ist Symbol des Weckrufs Christi, der an seine baldige Wiederkunft erinnert. N a t ü r l i c h fliehen die Dämonen nach Ansicht des Dichters nicht etwa v o r dem H a h n ! Sie fliehen, w e i l sie die Bedeutung des Hahnenschreies kennen u n d w e i l ihnen a l l das verhaßt ist, w o f ü r das Zeichen steht: die N ä h e des (ewigen) Lichts, des Heils, Gottes. Sie fliehen also tatsächlich v o r dem Zeichen, dem A b b i l d des höheren Geschehens. U n d deswegen ist das Beispiel so lehrreich: es zeigt — selbstverständlich unabhängig davon, wie man jenen Volksglauben einst beurteilte oder heute beurteilt — , welche Auffassung der Christ i m allgemeinen v o m Wesen eines Natursymbols hat. D i e Möwengeschichte bei Sulpicius mag auf den ersten Blick recht ungleichartig anmuten, sie ist jedoch, wie gesagt, i n bestimmter Hinsicht durchaus ähnlich. D i e mergi sind nicht m i t den Dämonen identisch, sie bleiben aves, Tiere. Aber sie dienen dem Heiligen auch nicht bloß zur Illustration seiner Lehre nach A r t eines frei erfundenen Vergleichs. Sie sind reales άνάλογον des Bösen i n der N a t u r . Dieses άνάλογον w i r d v o n M a r t i n erkannt u n d erklärt, aber nicht v o n i h m ausgedacht. Es ist objektiv vorhanden u n d besitzt eine wesenhafte Ähnlichkeit m i t der geistigen Realität, auf die es deutet. A l l e i n deswegen kann es auch auf den Heiligen eine abstoßende W i r k u n g ausüben. E r erträgt nicht den Anblick des Symbols des Bösen u n d verbannt es aus seinem Gesichtskreis. Er schaudert v o r dem Symbol der Dämonen ebenso zurück wie — bei Prudentius — die Dämonenschar v o r dem Symbol Christi. Es wäre spitzfindig, w o l l t e man gegen St. M a r t i n oder gegen seinen Biographen einwenden, das B i l d der M ö w e n sei ja u m der Belehrung w i l l e n da, dürfe also nicht beseitigt werden. H i e r muß man gerade die lehrhafte Absicht des Bischofs ins Gewicht fallen lassen, der sich m i t der Erklärung des Bildes an seine Schüler wendet. Durch seine T a t bekräftigt er die Wahrheit seiner E r k l ä rung. I m übrigen b e w i r k t M a r t i n j a nicht etwa eine allgemeine naturwidrige 17 Prud. cath. 2, 1/36. Beide Beispiele sind eingehender behandelt in dem genannten Aufsatz (s. die vorige Anmerkung) 426 f. bzw. 431/35. 18 Prud. cath. 1, 37/48.

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Metamorphose der mergi i n Landtiere. So darf der Schluß nicht mißverstanden werden. M a r t i n verändert nicht insgesamt das B i l d der N a t u r . Es bleibt dem Menschen allenthalben sichtbar.

6. A l s eines der Fundamente christlichen Analogiedenkens darf gelten, was der Apostel i m Römerbrief schreibt (Rom. 1,20): τα γαρ αόρατα αύτοΰ (sc. Θεοΰ) από κτίσεως κόσμου τοις ποιήμασιν νοούμενα καθοραται, ή τε άΐδιος αύτοΰ δύναμις κ α ι θειότης 1 9 . Unter den alttestamentlichen Äußerungen über die natürliche Gotteserkenntnis (ζ. B. Ps. 18,2; Job 12, 7/9) hebe ich hier Sap. Sal. 13,5 L X X hervor: εκ μεγέθους κ α ι καλλονής κτισμάτων α ν α λ ό γ ω ς ό γενεσιουργός θεωρείται, w e i l hier i n einem Text, den die Väter als inspiriert oder doch den kanonischen Texten nahestehend ansahen, jener Schlüsselbegriii v o r k o m m t 2 0 . Freilich hätte sich die analogische Betrachtung der W e l t i n der frühen Kirche nicht so rasch u n d reich entfalten können, w e n n nicht Gedankensysteme der vorchristlichen K u l t u r , v o r allem Piatonismus 2 1 u n d Stoa 2 2 , Elemente bereitgestellt hätten, deren sich die christlichen Denker bedienen konnten. D i e Symbolik, gerade auch die Tiersymbolik, entwickelte sich stark innerhalb der jüdisch-christlichen Bibelexegese, durch Philon, Clemens v . Alexandrien, Origenes u. a. 2 3 Uberhaupt durchdringen die spiri19 Vgl. Act. 14,17: καίτοι ούκ άμάρτυρον αύτόν άφήκεν άγαθουργών. Die Keime des Analogiedenkens im Neuen Testament mögen darüber hinaus vielfältiger A r t sein. Auch wenn Christus auf die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes hinweist (Mt. 6,26/30), ist dies eine Aufforderung zum Lernen aus der Natur: έ μ ß λ έ ψ α τ ε εις τα πετεινα τοΰ ούρανοΰ . . . κ α τ α μ ά θ ε τ ε τα κρίνα του άγροΰ . . . κτλ. Ph. Rech in ihrem unten (S. 59) genannten Werk (20 f.) legt Nachdruck auf Col. 1,16: τα πάντα δι 9 αύτοΰ και εις αύτόν (sc. Χριστόν) εκτισται (»ist auf Ihn hin erschaffen«). 20 Zitiert wird Sap. Sal. 13,5 in passendem Kontext bei Äthan, c. gentes 44, 31/34 (p. 122 Thomson); Euseb. dem. I V (8) 157 (GCS 23, Euseb. 6,161); Hilar, trin. 1,7 (PL 10, 30 B); Cyr. Alex, in Ps. 13, v. 3 (PG 69,801 C). Vgl. Orig. in Joh. I (26) 167 (GCS 10, Orig. 4,31): δύναται γαρ άναλογίαν εχειν τό α'ισ&ητόν προς το ν ο η τ ό ν . . . κτλ. 21 A m Anfang steht Plat. rep. 508 B/C: die Sonne ist der Sproß des Guten, öv (sc. τον ήλιον) τάγαθον έγέννησεν άνάλογον έαυτφ (was die Sonne für die Sehkraft und die sichtbaren Dinge ist, das ist das Gute für den Geist und das Geistige). Zur Entwicklung des Analogie-Begriffs s. W. Kluxen, Art. Analogie, Histor. Wb. der Philosophie 1 (1971) 213/227 mit Lit.; ferner: W. Schulze, Zahl, Proportion, Analogie. Eine Unters, zur Metaphysik [...] des Nikolaus v. Kues, Münster 1978, bes. 8 5 (Lit.); 18/23; W. Fiedler, Analogiemodelle bei Aristoteles, Amsterdam 1978 mit Lit. (8 1 ); Μ . Ν . Esper, Allegorie und Analogie bei Gregor v. Nyssa, Bonn 1979, 113/116. 22 Vgl. M. Pohlenz, Die Stoa 1,94 f. und dazu R. Lorenz, »Die Wissenschaftslehre Augustins II«, Zeitschr. f. Kircbengescb. 67 (1955/56) 229/32. Einige Bemerkungen sind auch in der Pietas (oben Anm. 16) 415 gemacht. 23 C. Siegfried, Philo von Alexandria als Ausleger des Alten Testaments, Jena 1875, 182/85; P. Heinisch, Der Einfluß Philos auf die älteste christliche Exegese,

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tuelle Erklärung der Schrift u n d die der N a t u r einander. Das berühmte Handbuch christlicher N a t u r s y m b o l i k , der Physiologus, liefert Schriftzitate zur Bestätigung seiner Deutungen 2 4 . Diese Entwicklung auch nur skizzenhaft nachzuzeichnen, ist hier unmöglich. Es k o m m t nur darauf an, sich gegenw ä r t i g zu halten, daß Analogie keine Sache nur der Gelehrten u n d Bücher ist, sondern auf einer lebensvollen, vielfältigen u n d doch zugleich einheitlichen Anschauung der W e l t beruht. Ich finde, daß eine Stelle aus Augustinus, De ordine die Lebendigkeit jener Anschauung schön z u m Ausdruck bringt. Augustinus erzählt, wie er v o r dem Eingang eines Badehauses einen H a h n e n k a m p f beobachtete. Er bemerkt 2 5 : »Für den Menschen, der die Schöpfung liebt, enthüllt sich überall, w o er sich umsieht, die Schönheit der Vernunft, unter deren M a ß u n d Leitung alles steht . . . « . U n d weiter: » W i r hatten uns vielerlei zu fragen. W a r u m handeln alle Tiere so . . . , w o ist kein Gesetz, w o gebührt nicht dem Besseren die Gewalt, w o ist kein Zeichen der Folgerichtigkeit, w o kein A b b i l d jener wahrhaftigsten Schönheit, w o kein Maß? U n d v o n hier k a m uns die Warnung, daß auch dem Betrachter Grenzen gesetzt sind«. Gewiß ist zwischen der Reflexion Augustins u n d dem Bericht des Sulpicius ein gewisser Abstand fühlbar, aber doch nicht i n dem wesentlichen Punkte, der uns beschäftigt. I m übrigen folgt schon aus der textimmanenten Interpretation der e i n e n Stelle bei Sulpicius, wie selbstverständlich i h m analogisches Denken war. N i c h t eigentlich u m das B i l d der M ö w e n zu erläutern, schiebt er den Bericht ein. D a ß die Vögel dem Befehl Martins folgten, erscheint i h m wichtig, die virtus Martins also. W a r u m der Heilige das Wunder w i r k t , weshalb er analogisch denkt u n d sogar dementsprechend handelt, w i r d gar nicht erörtert. Das Verständnis solcher N a t u r betrachtung setzt er voraus. 7. Aber uns ist solche A r t der Naturbetrachtung nicht mehr vertraut, u n d deswegen gehört es zur Aufgabe des Interpreten, die geschilderten Verhältnisse durch passendes Vergleichsmaterial z u verdeutlichen. Ich entnehme es der mittelalterlichen Hagiographie, da auf die Grenzen der Epochen bei solcher Sache nicht v i e l a n k o m m t 2 8 . Münster 1908, 94/96. Vgl. z.B. Clem. Alex, ström. V 27, 1/4; 51, 2ff. (Auslegung der Speiseverbote des A T ) ; Ruf. Orig. comm. in Rom. I X 1 (PG 14,1204 A). Euseb. eel. proph. I V 8 (PG 22,1212 A) sagt, Wölfe, Panther, Löwen usw. nenne der Prophet (Is. 11,6 ff.) die bösen Menschen κατ' άναλογίαν της έν έκάστφ ποικίλης κακίας τε και πονηρίας. 24 Hierzu s. Β. E. Perry, Art. Physiologus: PW 20,1 (1941) 1074/1129. 25 Aug. ord. I 25 f. (CSEL 63, 137 f.). Übersetzung nach C. J. Perl, Augustinus. Die Ordnung, Paderborn 1947, 24. 26 Außer der schon erwähnten Textsammlung von Bernhart erweist sich vor allem die Arbeit von Liselotte Junge als förderlich: Die Tierlegenden des hl. Franz

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Der hl. Launomar ( f u m 590) lebte als Einsiedler i m Walde zwischen Chartres u n d Le Mans. Beim Anblick einer Hirschkuh, die v o n Wölfen verfolgt w i r d , erfaßt i h n M i t l e i d . Er befiehlt den Wölfen, v o n der Verfolgung abzulassen, dann fügt er hinzu alludens ad signifie ationem: »Da sieh, diese böse, gefährliche Tierart! Wie die Wölfe da niemals das Rauben lassen, sondern immerfort fremdes Fleisch reißen u n d verschlingen, so schweift der Teufel, der wildeste W o l f , täglich umher u n d sucht sich aus der Kirche Christi seine Opfer, u m sie zu vernichten u n d zu würgen«. D i e Hirschkuh bleibt eine Zeitlang bei Launomar, der sie streichelt u n d dann wieder entläßt. Der Bericht endet m i t den Worten: »O H e r r Jesus! Auch hierin hast D u durch den Geist seiner M i l d e Deinen Heiligen verherrlicht, so daß i h m sogar die W i l d h e i t der Tiere unter dem Schauer Deines Namens gehorchte« 27 . Wohlgemerkt: bestiarum ferocitas! Aber der Heilige blickt durch das natürliche Geschehen hindurch auf dessen geistlichen Grund, ganz wie St. M a r t i n . U n d wie dieser läßt er dem W o r t die bekräftigende Wundertat folgen. D i e Parallele spricht jetzt gleichsam für sich selber. Was bei Sulpicius fehlt, ist das Moment des Mitleids. M a r t i n w i r d allein durch das zweite M o t i v Launomars bewegt: durch die Zeichenhaftigkeit der Beutejagd. Das liegt natürlich an der jeweiligen Besonderheit des Erlebnisses: H i n d i n u n d Fische sind nicht einerlei; die N o t des verfolgten Wilds ist ein sichtbarer Vorgang u n d ein bewegender Eindruck. W o sich solcher Eindruck dem hl. M a r t i n bietet — wie anläßlich einer Hasenjagd (Sulp. dial. I I 9,6) — , zeigt er gleiches Empfinden für das verfolgte T i e r 2 8 .

von Assisi. Studien über ihre Voraussetzungen und ihre Eigenart, Leipzig 1932 = Königsberger Historische Forschungen 4. Zur notwendigen Kritik an dieser Darstellung s. unten S. 57 f. Für unsere Zwecke weniger ergiebig ist das Buch von Sister Mary Donatus, Beasts and Birds in the Lives of the Early Irish Saints (Diss. Philadelphia 1934). Nur am Rande wird Christliches bei U. Dierauer berührt: Tier und Mensch im Denken der Antike, Amsterdam 1977 = Studien zur antiken Philosophie 6. Vgl. auch unten Anm. 57 (Ende). 27 Acta Sanctorum Ο. S. Β. I, 19. Jan., p. 337, cap. 12 = ASS I I Jan. (19.) p. 232 f. cap. 3, n. 14. Übersetzt und besprochen bei Bernhart a. 0 . 1 0 2 bzw. 26. Vgl. Junge a. 0.102. 28 Beiwege sei angemerkt, daß in dem großen geistigen Zusammenhang christlichen Analogiedenkens auch einzelne Stellen der Literatur, die wir als bloße Vergleiche anzusehen uns gewöhnt haben, tieferen Glanz erhalten können. I n einem seiner Märtyrerlieder sagt Prudentius (per. 1,97ff.): Cerne, quam palam feroces hic domentur daemones, | quae lupino capta ritu (v. 1. rictu) dévorant praecordia , | strangulant mentes et ipsas, seque miscent sensibus. Auch hier haben wir wohl mehr vor uns als eine bloß literarische Veranschaulichung. Wenn Prudentius feststellt, die Dämonen rauben und reißen die Seelen »nach Art der Wölfe«, dann gebraucht er das Bild, weil es in der Natur realiter diesen Sinn trägt. Und erst so erhellt die Vorzüglichkeit der Lesart ritu gegenüber rictu vollständig. Das Analogisdie liegt darin.

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b. I m Jahre 1097 reitet der hl. Anselm v o m H o f e K ö n i g Wilhelms I I . (des Roten) heim auf sein G u t Hayes. Unterwegs flüchtet ein Hase, v o n H u n d e n verfolgt, unter sein Pferd. D e r Heilige hält das Roß an u n d deckt den Hasen, so daß die H u n d e nicht zuzupacken wagen. Einige Begleiter lachen über das Mißgeschick des gefangenen Hasen. D a bricht St. Anselm i n Tränen aus: » I h r lacht? Aber der A r m e hat nichts zu lachen, nichts zu spaßen. Seine Feinde sind u m i h n her [ . . . ] U n d geradeso ist's m i t der Seele des Menschen. Wenn sie aus dem Leibe fährt — gleich sind auch ihre Feinde da, die bösen Geister, u n d w o l l e n sie nach a l l den krummen Hetzen auf den Lasterwegen erbarmungslos packen u n d ins ewige Verderben reißen. I n ihrer Angst aber sieht sie hierhin u n d dorthin, u n d wer beschreibt ihr Verlangen nach einer H a n d , die sich ausstreckt, u m ihr z u helfen! D i e Teufel aber sind's, die lachen. Was für ein Vergnügen, daß die Arme keinen Retter findet!«. Anselm gebietet den H u n d e n Einhalt, u n d der Hase e n t k o m m t 2 9 . D i e Parallelen zur Möwengeschichte treten wiederum deutlich hervor. Auch der Rahmen ist ähnlich: St. Anselm befindet sich w i e St. M a r t i n auf Reisen u n d wendet sich belehrend an seine Begleiter. Aber das Analogische w i r d hier noch weiter ausgedehnt, insofern auch der Heilige selbst, der den Hasen schützt, u n d die lachenden Leute seiner Begleitung daran A n t e i l haben. D i e Gesamtsituation ist analogisch aufgefaßt. Außerdem f ä l l t die starke Erschütterung des H e i ligen auf. D a die anderen lachen, vollendet sich i h m das B i l d , u n d er k a n n die Tränen nicht mehr zurückhalten. Das heißt: St. Anselm weint nicht des Tieres wegen, sondern w e i l er tief die Analogie empfindet, die das Ereignis ausdrückt. Er weint, w e i l er i n dem sichtbaren Bilde das Unsichtbare: die Bedrohung der menschlichen Seele erkennt. E i n andermal beobachtet er einen Jungen, der m i t einem kleinen Vogel ein grausames Spiel treibt. D e r Junge hat den Vogel an einem Fuß festgebunden, u n d immer, wenn er fortfliegen w i l l , zieht er i h n an dem Faden zurück. D e r Heilige hat M i t l e i d m i t dem Tier, u n d da er wünscht, der Faden möge reißen, reißt er tatsächlich. D e r Knabe weint, St. Anselm freut sich, ruft seine Schüler herbei u n d erklärt: » H a b t i h r den Spaß dieses Jungen gesehen? . . . So macht es auch der Teufel, wenn er m i t den Menschen s p i e l t . . . « usw. 8 0 .

29 Eadmeri ... vita Sancii Anselmi (ed. R. W. Southern [London 1962]) I I 18, p. 89. Ich folge wiederum der deutschen Übersetzung von Bernhart a. 0.158/60. 30 Eadmer. 1. c. I I 19 (p. 90) = De 5. Anselmi similitudinibus 190 (PL 159, 701 A/C). Aus den »Gleichnissen« Anselms wäre noch mancherlei beizubringen, vgl. z.B. simil. 99 (PL 159, 664 f.): Quod superbia sit vallis maxima bestiis vitiorum plena. Was hier gelehrt wird, kann man sich erlebt denken. Man braucht sich nur vorzustellen, wie der Heilige, durch ein wildes Waldtal schreitend, das άνάλογον erkennt und des zeichenhaften Charakters dieses Orts inne wird.

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Es läßt sich nicht bestreiten, daß i n solchen Berichten das Persönliche u n d Erlebnishafte stärker h e r v o r t r i t t als etwa i n der Möwengeschichte. D i e Jagd der M ö w e n bildet einen stets sich wiederholenden Vorgang der N a t u r , jedermann k a n n das Zeichen sehen. Dagegen beruht das άνάλογον i n den beiden zuletzt erwähnten Geschichten jeweils auf einer besonderen Situation, die sich i n genau gleicher Weise nicht allenthalben wiederholt. Dennoch wäre es verkehrt, diese Beispiele v o n den anderen abzutrennen u n d als Darstellungen bloß subjektiver Eindrücke abzutun. W i r müssen uns daran erinnern, daß sich das christliche Analogiedenken nicht nur auf naturgesetzlich geregelte Abläufe erstreckt, sondern viel weiter sich dehnt, etwa auch gewisse menschliche Verrichtungen u n d bestimmte Ereignisse der Geschichte, u n d z w a r nicht nur der biblischen, umfaßt, v o r allem aber: daß ein Geist, der gewöhnt ist, durch die Dinge gleichsam hindurchzusehen, auf Schritt u n d T r i t t tiefere Strukturen entdecken w i r d , ohne daß er damit den objektiven G r u n d u n d Boden seiner Weltsicht verläßt. D a z u gehört die hl. Schrift. D i e Analogie des grausamen Kinderspiels m i t dem Vogel dürfte dem hl. Anselm deswegen ins Auge gesprungen sein, w e i l i h m dabei der Psalmvers einfiel: Anima nostra sicut passer erepta est de laqueo venantium; laqueus contri tus esty et nos liberati sumus (Ps. 123 [ 1 2 4 ] 7, V u l g . ) . 3 1 c. U n t e r den vielen Tiergeschichten, die das Leben des hl. Franz v . Assisi umranken, findet sich gar manche, die für unsere Zwecke passend ist. Bei i h m zeigt sich besonders k l a r die enge Verbindung v o n Bibel u n d N a t u r . D i e Kenntnis der hl. Schrift, der ständige, lebensvolle Umgang m i t ihr u n d die fromme Naturbetrachtung verschmelzen zu einer unauflöslichen Einheit, so daß Schriftworte die Entdeckung natürlicher Symbole anregen u n d zugleich bestätigen. Thomas v . Celano schreibt i n seiner ersten V i t a des hl. Franziskus: »Unter allen A r t e n der Tiere [ . . . ] w a r er m i t besonderer Liebe u n d großer Zärtlichkeit den Lämmlein zugetan, w e i l die D e m u t unseres H e r r n Jesus Christus i n der Heiligen Schrift häufig m i t der eines Lammes verglichen u n d passend damit i n Verbindung gebracht w i r d 3 2 . So umfing er auch alles andere, besonders wenn er damit eine sinnbildliche Ähnlichkeit m i t dem Sohne Gottes finden konnte (aliqua similitudo allegorica ), m i t großer Liebe u n d sah es m i t noch größerer Freude« 3 3 . Thomas berichtet weiter 3 4 , w i e der 31

Vgl. Junge a. O. (Anm. 26) 103. Vgl. Joh. 1,29.36; Ape. 5,6.8 etc.; Is. 53,7; Act. 8,32. 38 Thomas de Celano, Vita I 28,77 (Analecta Franciscana 10, 57). Übersetzung nach E. Grau, Thomas v. Celano. Leben u. Wunder des hl. Franziskus ν . Assisi (Werl/Westf. 1955) = Franziskanische Quellenschriften 5, 150. 34 Vita I 28, 77 f. (a. O. 57/59). 32

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Heilige einst ein Schaf loskaufte, das i n einer Herde v o n Ziegen u n d Böcken dahinzog. Franziskus wurde bei diesem Anblick v o n tiefem Schmerz erfaßt; er ertrug es nicht, das Schaf so zu sehen, w e i l er darin ein B i l d Christi erblickte, der sanftmütig u n d demütig zwischen Pharisäern u n d H o h e n Priestern wandelte 3 5 . E i n andermal hörte er davon, daß ein neugeborenes L a m m v o n einem Schwein getötet worden sei. Er wurde v o n M i t l e i d gerührt u n d verfluchte das Schwein. Der Biograph bemerkt d a z u 3 6 : »Er erinnerte sich an ein anderes L a m m . . . « usw. I n den Fioretti steht die Erzählung v o n den Turteltauben. Der Heilige begegnete einem jungen Manne, der Turteltauben zu M a r k t e trug: »[Franziskus] sah die Turteltauben m i t milden Augen an u n d sprach zu dem Jüngling: >Guter Jüngling, gib m i r diese sanftmütigen Turteltauben, denen i n der Heiligen Schrift die keuschen, demütigen u n d getreuen Seelen verglichen werden 3 7 , auf daß sie nicht i n die H ä n d e der Grausamen fallen, die sie tötenDream of Gerontius< « (91/124, ebd. 97). Dazu Gordon Tidy in der Einleitung zur Ausgabe The Dream of Gerontius (London/New York 1916) 36: »The snapdragon on the wall of Trinity was a snapdragon to him and it was something very much more. The moor and fen, the crag and torrent were to Newman by no means only moors and fens, and crags and torrents«. Gordon bemerkt weiter, daß nur Newmans meisterhafte Beherrschung der englischen Sprache seine Naturbetrachtung habe ausdrücken können und daß letztere keineswegs mangelndes Empfinden für die Schönheit der Natur voraussetze. Vgl. Newman selbst in dem Essay »Philosophische Geisteshaltung als Ersterfordernis des Evangeliums« {Ausgewählte Werke, hrsg. von M. Laros, Mainz 1940, Bd. 3), 20 f. I n Newmans Religionsphilosophie spielt das Werk von J. Butler, The Analogy of Religion to the Constitution and Course of Nature (1736) eine gewisse Rolle.

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nur unterhalten, er fühlt sich vielmehr verpflichtet, über das, was er selbst erlebt oder aus einer i h m glaubwürdigen Quelle erfahren hat, Zeugnis abzulegen. So werden z . B . bei Sulpicius (dial. I 15,6) zwei Mönche Zeugen der wunderbaren H e i l u n g blindgeborener Löwenjungen durch einen Anachoreten. Sie fühlen sich daraufhin für die Mühe, die es sie gekostet hat, den Anachoreten i n der Wildnis aufzuspüren, reich belohnt: qui in testimonium tantae virtutis admissi fidem sancii , gloriam Christi, quae per ipsos esset testificanda, vidissent. Ebenso wie diese beiden Mönche sieht sich auch der Hagiograph selbst i n höhere Pflicht genommen. Sulpicius bemerkt i n dem Widmungsbrief, den er der Vita Martini voranschickt, er halte es für Sünde, wenn die Taten eines solchen Mannes (durch seine Schuld) verborgen blieben 4 7 . D a m i t ist, w i e gesagt, ein ganz neues, außer- u n d überliterarisches M o t i v literarischen Schaffens gegeben, das der A n t i k e fremd war, w e i l sie die Pflicht des Zeugnisablegens nicht kannte 4 8 . Weiter: die Tiere gehorchen dem Heiligen, w e i l er selbst G o t t gehorcht! D i e Herrschaft über die Tiere, die A d a m (nach Gen. 1, 25/28) zunächst besaß, aber durch seinen Ungehorsam verlor, w i r d dem Heiligen aufgrund seiner christlichen Tugenden, gerade auch wegen seines ausgezeichneten Gehorsams, zurückgegeben 49 . Sichtet man nun den Motivschatz der Tiergeschichten, so stellt sich heraus, daß sie i n ungezählten Einzelzügen m i t vorchristlichen Tiergeschichten, wie sie etwa durch A e l i a n De natura animalium erhalten sind, übereinstimmen. U n d dennoch: die anderen geistigen Voraussetzungen 50 u n d Ziele machen 47 Sulp, vita Mart. ep. ded. 5: Ego enim, cum primum animum ad scribendum appuliy quia nefas [!] putarem tanti viri latere virtutes eqs. Hinzuzunehmen ist der Schluß der Vita 27,7: Ego mihi conscius sum me, rerum fide et amore Christi impulsum ut scriberem y manifesta exposuisse , vera dixisse. Augustinus schalt eine geheilte Frau, weil sie das Wunder nicht verkündete (civ. 22,8). 48 Tacitus Agr. 1 f. fühlt sich vor dem allgemeinen moralischen und kulturellen Bewußtsein verpflichtet, die Biographie seines Schwiegervaters zu schreiben. Die Pflicht des Christen, zur Ehre Gottes von Leben und Wundern eines Heiligen Zeugnis zu geben, ist nach A r t und Maß etwas anderes. Vgl. Sulp. dial. 1,14,6/8 im Anschluß an die Erzählung von der reuigen Wölfin: intuemini, quaeso, Christi etiam in hac parte virtutem ... Tua haec virtus , Christe, Tua sunt haec, Christe, miracula; etenim quae in Tuo nomine operantur servi Tui, Tua sunt . . . eqs. 49 Apophthegm , patr., Antonius 36 (PG 65, 88 Α/Β ): είπε πάλιν, ότι ή υποταγή μετά έγκρατείας υποτάσσει θηρία, ebd., De abbate Paulo (381 A ) : . . . èàv τις κτήσηται καθαρότητα, πάντα υποτάσσεται αύτφ ώς τφ 9 Αδάμ δτε ήν εν παραδείσφ, πριν ή παραβήναι τήν έντολήν. Vgl. Joh. Chrys. in Gen. 1 hom. 7,5 (PG 53,67); ad pop. Antioch. hom. 11,4 (49,125): die Tiere gehorchen dem Menschen nicht mehr, seit er selbst Gott ungehorsam ward. Ferner s. Junge a. O. 8/10. 38. 50 Nicht nur die geistigen Voraussetzungen sind andere. Bei Mc. 1,13 heißt es von Jesus in der Wüste: ην μετά θηρίων, und erst die christlichen Wüstenheiligen lebten mit den Tieren wie Christus, was keinem antiken Philosophen jemals eingefallen wäre. Erst also die asketische Bewegung des 3. und 4. Jh. n. Chr. schuf die faktischen Voraussetzungen für A r t und Häufigkeit christlicher Tiererlebnisse, die in der paganen Paradoxographie eher bemerkenswerte Absonderlichkeiten darstellten. So konnte sich auch erst jetzt das Empfinden für die Naturschönheit der Einöden

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sich bis i n die Einzelheiten bemerkbar. Es ist ein Unterschied, ob Frösche für immer verstummen müssen, w e i l sie den Schlaf des Perseus störten 5 1 , oder ob ihnen Schweigen geboten w i r d , damit sie nicht das gottesdienstliche Gebet durch ihr Quaken beeinträchtigen 52 . Es ist ein Unterschied, ob Vögel bei der Geburt eines Menschen singen, wie die Schwäne bei der Geburt des A p o l l o nios v . T y a n a 5 3 , oder ob sie i n der Todesstunde jubilieren wie die Lerchen am Sterbebett des Poverello 5 4 . U n d es ist wiederum ein Unterschied, ob die Tiere über den T o d des Daphnis seufzen 55 , oder ob sie, wie eben die Lerchen beim Tode des hl. Franz, ein »klagendes Jubilieren u n d ein jubilierendes Klagen« hören lassen 56 . Junge hat diese u n d andere Unterschiede richtig erkannt, sie hätte freilich noch fester zupacken sollen 5 7 . Doch mag das hier auf sich beruhen bleiben. Bedenklicher ist ein anderer Mangel, der das ganze Buch durchzieht. D i e A u t h e n t i z i t ä t der Quellenberichte über Franzens V e r hältnis zu den Tieren w i r d an einem zweifelhaften K r i t e r i u m gemessen: an dem der »Wunderlosigkeit« 5 8 . Ihre These läßt sich etwa so umschreiben: Wunder gibt's nicht; folglich ist alles Wunderbare freie Z u t a t des mehr oder minder wundersüchtigen Erzählers, m i t h i n nicht echt, nicht w a h r — es muß abgestreift werden, w i l l man z u Person u n d Geist des Heiligen selbst v o r stoßen 59 . Vielleicht könnte das Prinzip, richtig angewandt, stellenweise zu einer überzeugenden Interpretation führen, da wachsender Zeitabstand u n d entfalten; s. L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms I e , Leipzig 1919, 478 5 . 51 Aelian. nat. anim. I I I 37. 52 Ambros. de virginibus I I I 3, 14. 53 Philostr. vita Apoll. I 5,7. 54 Speculum Perfectionis, ed. P. Sabatier (Manchester 19282; Nachdruck: 1966) 11,7, p. 320; Thomas de Celano, tract, de miraculis 32 (Analecta Franciscana 10, 284); S. Bonaventura legenda maior 15,6 (ebd. 623). 55 Verg. bue. 5, 24/28. 56 Tract, de miraculis 1. c. (Anm. 54) : Flebilis iubilus et iubilans fletus resona bat ab eis (sc. alaudis), 57 Es gibt im ersten Teil ihres Buchs, der die vergleichende Motivuntersuchung enthält (13/81), religionsgeschichtliche Parallelen, die nicht recht treffen, während andrerseits die Möglichkeiten der Differenzierung zwischen dem Christlichen und dem Vorchristlichen nicht voll ausgeschöpft werden. Hier nur ein Beispiel: »Dieselbe Liebe . . . veranlaßte Franziskus . . . die Würmchen aus dem Wege zu räumen. Diese Art der Charakterisierung des Mitleids eines frommen Mannes ist nun durchaus nicht original christlich« (Junge a. Ο. 37). Die Verfasserin meint weiter, »fast noch klarer« komme die Absicht in griechischen Philosophenlegenden wie in der über den Piatonschüler Xenokrates bei Aelian. nat. an. 12,31 zur Geltung. Und das, obwohl es bei Thomas v. Celano heißt (Vita I 29,80: Analecta Franciscana 10,60): Circa vermiculos etiam nimio flagrabat [!] amore , quia legerat de Salvatore [!] dictum: >Ego sum vermis et non homo< (Ps. 21,7)! Noch weniger deutlich zeigt sich das christliche Profil bei bloßer Aneinanderreihung der Belege, wie sie H . Günter, Psychologie der Legende (Freiburg 1949) 178/87 bietet. 58 Der Begriff bei Junge a. O. 97. 59 Vgl. etwa Junge a. O. 79/81 ; 84/86; 97 f. u. ö.

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zunehmende Verehrung nicht ohne W i r k u n g auf die biographischen Berichte bleiben mögen. Junges A r t jedenfalls, das Prinzip zu gebrauchen, setzt sie selbst i n allerlei Verlegenheit u n d mündet i n haltlose Erklärungen der Texte 6 0 . Ich würde derlei an einem älteren W e r k nicht beanstanden, würde Vergessenes nicht wieder hervorziehen, wenn nicht ein ähnlicher Mangel die moderne Erklärung der Martinsschriften beeinträchtigte.

10. Wer es unternimmt, Wunder u n d Visionen der christlichen Hagiographie v o r dem T r i b u n a l der historisch-kritischen Wissenschaft z u verteidigen, hat einen schweren Stand. Fontaine hat sich i n der Einleitung seiner E d i t i o n dieser Aufgabe unterzogen 6 1 , veranlaßt durch die gelehrte Auseinandersetzung über den historischen W e r t der Vita Martini, die besonders i n den zwanziger Jahren geführt w u r d e 6 2 . Er w i l l eine via media 63 einhalten z w i schen gläubiger K r i t i k l o s i g k e i t u n d jener H y p e r k r i t i k , die dem Buch v o n E d m o n d Charles Babut (Saint Martin de Tours, Paris o. J. [1912]) zur Berühmtheit verhalf. Der M i t t e l w e g Fontaines führt zu dem Ergebnis, daß die Berichte v o n übernatürlichen Ereignissen z u einem guten T e i l als Einkleidungen natürlicher Begegnungen u n d Vorkommnisse z u verstehen seien. D a neben w i r d ein Bestand an sogenannten »objektiven« Wundern anerkannt, dem auf der anderen Seite ein gewisses Q u a n t u m purer Erfindung, literarischer oder sonstiger A r t , gegenübersteht 64 . Aber vieles w i r d auf besagtem 60

Die Berichte über das Schweigen der Schwalben (Thomas de Celano, Vita I 21,59: Analecta Franciscana 10,45) und den Gehorsam der Zikade (ders., Vita I I 130,171: ebd. 229) möchte die Verfasserin als authentisch ansehen. Aber dann gäbe es ja Wunder! Ihr Ausweg (a. O. 86): »Daneben kann man aber das Schweigegebot, wenn es tatsächlich von Franziskus ausgesprochen ist, wohl auch als Zeugnis dafür werten, daß dem Heiligen die Vorstellungsweise der Legenden geläufig war und daß er zum mindesten mit ihr spielte [!]«. Eine verzwickte Lösung: Franz redete und handelte bereits zu Lebzeiten, wie es die literarische Tradition der Legende erforderte! 61 Fontaine 1,191/203. 62 Vgl. bes. H . Delehaye, Saint Martin et Sulpice Severe: Analecta Bollandiana 38 (1920) 5/136, der sich mit dem oben im Text genannten Buch von Babut befaßt. Uber die Beiträge von C. Jullian und das Martinbuch von P. Monceaux (1927) s. Fontaine 181/83. 63 Fontaine 1,191. 64 Vgl. die vierfache Einteilung der Wunder ebd. 198/203. Hier noch ein Wort zur zweiten Gruppe (»miracle coincidence«)! Der Fall, daß ein natürliches Ereignis (plötzliche Friedensgesandtschaft der Barbaren) dem Eingreifen Gottes zugeschrieben wird, begegnet vita Mart. 4, 7/9; hier liegt das Wunderbare in der zeitlichen Koinzidenz, der Martin seine Rettung verdankt. Aber gerade der Umstand, daß Sulpicius in einem solchen Falle keine phantastische Einkleidung anstrebt, sondern seine Deutung frei anfügt (4,7: unde quis dubitet hanc vere beati viri fuisse vieto riam . . . eqs.), sollte den Interpreten davor bewahren, gegen das Wort des Autors möglichst viele Wunderberichte dieser Gruppe zuzuschanzen.

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Wege i n den Bereich der historischen Wirklichkeit hinüber gerettet: als zeitgebundene Ausdrucksform einer psychologisch-religiös bedingten Sicht natürlicher Dinge. Der Philologe w i r d v o r allem wissen wollen, was sich aus alledem für die Erklärung des Texts ergibt, u n d er w i r d daher recht bald zu Fontaines Kommentarbänden greifen. U m einen Eindruck davon zu geben, welche kritische Zurückhaltung dort zu üben ist, biete ich hier drei Proben, die der v o n Fontaine vorgenommenen Einteilung i n »satanisme«, »visions« u n d »miracles« 65 entsprechen: 1) Bei M a i l a n d t r a t dem Heiligen der Teufel i n menschlicher Gestalt entgegen, versuchte ihn, wurde aber abgewiesen ( v i t a M a r t . 6). Fontaine vermutet, dieser Teufel sei i n Wahrheit der arianisch gesinnte Kaiser Constantius I I . gewesen, der damals i n M a i l a n d residierte. Gerechterweise muß man hinzufügen, daß dieser E i n f a l l nicht v o m Kommentator selbst stammt 6 6 u n d nur als Möglichkeit erörtert w i r d . Doch schon i n der Einleitung w i r d er als »exzellente Arbeitshypothese« vorgestellt 6 7 , i m Kommentar dann einer seitenlangen Behandlung gewürdigt 6 8 . Dabei heißt es i m T e x t der V i t a , M a r t i n habe jenes Erlebnis gehabt cum Mediolanum praeterisset! Er w a r also bereits an M a i l a n d vorübergezogen, als i h m der Teufel i n den Weg trat. U n d auch wenn man diese K l i p p e irgendwie zu umschiffen sucht — die Begegnung m i t dem Kaiser könne ja außerhalb der Mauern stattgefunden haben, mutmaßt Fontaine weiter, vielleicht sei überhaupt nicht der Kaiser selbst, sondern nur seine Polizei gemeint 6 9 — , es bleibt die Frage, weshalb i n einer Biographie, die doch Martins Auftreten v o r Julianus (Apostata) u n d dem Usurpator Maximus schildert (4. 20), ausgerechnet dem Constantius sollte eine Maske aufgestülpt worden sein. 2) Z w e i Engel erschienen St. M a r t i n , u m i h n der himmlischen H i l f e bei der Zerstörung des Tempels v o n Levroux (Leprosum) z u versichern ( v i t a M a r t . 14,5). Sie erschienen bastati adque sentati instar militiae caelestis. Das könnten doch wiederum nur kaiserliche Beamte gewesen sein, die Ruhe u n d O r d n u n g garantieren sollten, meint der französische Gelehrte 7 0 . N u n läßt 65

Fontaine 1,191. Sondern von C. Jullian: Rev. Ét. Ane. 12 (1910) 272 f. 67 Fontaine 1,192. 68 Fontaine 2, 571/79. 69 Fontaine 2, 572. 574 f. Andrerseits hält er bis zum Schluß der Erörterung (p. 579) daran fest, daß der Teufel so rede, wie man das von Constantius (!) erwarten würde. Überhaupt schüttet Fontaine aus dem Füllhorn seiner Intuition fortwährend so viele Einfälle aus, daß es erheblichen Aufwand erfordern würde, sie anhand des Textes nachzuarbeiten. Ich bemerke hier nur noch, daß mir seine Auslassungen über die »Inkarnation« (sie!) Satans (573) — ausgelöst durch die Wendung humana specie assumpta (vita Mart. 6,1) — gar nicht glücklich erscheinen. 70 Fontaine 2, 781/86, bes. 783 f. 66

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Sulpicius nirgendwo erkennen, daß er zwischen Engeln u n d Polizisten nicht zu scheiden wüßte. Was aber noch schwerer wiegen dürfte: es geht aus dem Text k l a r hervor, daß die Engel bei der Zerstörung des Tempels (14, 6/7) der Menschenmenge unsichtbar blieben, was doch den protectores des Kaisers gewiß nicht möglich gewesen wäre. D a ß Engel i n der frühchristlichen Kunst als Krieger u n d Wächter dargestellt werden, erlaubt nicht den umgekehrten Schluß für die Literatur: Krieger u n d Wächter als Engel. Welch blasphemische Folgerungen müßte sich sonst die frühe Christenheit aufgrund der bildlichen Darstellungen des Christus Basileus gefallen lassen! Fontaine operiert allenthalben auf der Grundlage einer trüben religiösen Phantasie, die er teils M a r t i n , teils den Gewährsleuten, teils dem Biographen unterstellt 7 1 . 3) M a r t i n heilte Paulinus, den späteren Bischof v o n N o l a , v o n einer schweren Augenkrankheit ( v i t a M a r t . 19,3). H i e r ist sich nun der K o m m e n tator sicher: diese H e i l u n g schlägt er der »vierten Kategorie« der Wunder zu, das heißt: denjenigen, die nichts weiter sind als literarische F i k t i o n . D i e Blindenheilung ist »Symbol« u n d »Metapher« für Paulins Bekehrung z u m asketischen Leben 7 2 . M a r t i n habe i h m sozusagen die Augen geöffnet. D a m i t wäre also wieder ein »Mirakel« für die Geschichte gerettet. Wenn nur der T e x t nicht wäre! D e n n der sagt unmißverständlich k l a r : pristinam ... ei sanitatem sublato omni dolore restituii. Niemals ist eine Conversion die Rückversetzung i n einen früheren Zustand: sie ist immer ein totaler N e u beginn. Der Mönch löscht beim E i n t r i t t ins Kloster sein früheres Leben gleichsam aus, fängt ein neues Leben an. Pristina sanitas ist das nicht. Es hilft also nichts: w i r müssen uns damit abfinden, daß der A u t o r v o n der wunderbaren Wiederherstellung des Sehvermögens berichtet. 71 Vgl. dagegen Gregor. Thaumaturgos or. in Orig. 5,71 (Sources Chrét. 148,122). Ein Soldat hatte ihn von Pontos nach Palästina geleitet. Aber statt nach Berytos zum Schwager, wie geplant, gelangte Gregor zu Origenes : » N i c h t der Soldat also, sondern ein himmlischer Reisegefährte, ein guter Begleiter und Wächter, er, der uns während unseres ganzen Lebens wie auf einer weiten Reise beschirmt, er hat uns . . . hierhergebracht. Er setzte alles daran, um uns auf jedwede Weise diesem Manne (d. h. dem Origenes) zu verbinden, der für uns die Ursache zu viel Gutem ward . . . « usw. Wie hätte dies der Soldat tun können? Gregor ist also weit davon entfernt, Soldat und Engel zu identifizieren. 72 Fontaine 1, 203; 2, 887. Diese Beweisführung ging selbst dem Kommentator Smit zu weit (279 z. St.), der sich sonst Fontaines Hypothesen gegenüber recht duldsam erweist (vgl. 275 zu duo angeli ), ihnen jedenfalls nie mit der notwendigen Entschiedenheit entgegentritt. Bei der Erklärung zu vita Mart. 12, 4 (in vertiginem rotabantur) scheint er seinerseits von der Methode Fontaines angesteckt (273 f.). Dagegen wird bei Chr. Mohrmann (in der Einleitung zu dem betreffenden Bande der Vite dei Santi [s. oben S. 46], X V I I f.) eine Zurückhaltung gegenüber Fontaines Behandlung der »problemi del diavolo, dei sogni, delle visioni, ed anche dei miracoli« fühlbar: »(Certi problemi) possono trovare la loro soluzione definitiva solo su un terreno che non è più quello della filologia, ma soprattutto della storia delle religioni, della spiritualità, ecc.«

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11. Wie zu erwarten, ist die Saat, die Fontaine ausgestreut hat, auf fruchtbaren Boden gefallen. A . Loyen sucht i n einem einschlägigen Aufsatz 7 3 zu v o l l enden, was i h m der Vorgänger übrig ließ. »Symbol« (»Symbolismus«, »symbolisch«) lautet das Zauberwort, das fast alle Rätsel des Mirakelwesens lösen soll. Auch dieses M i t t e l hatte ja Fontaine schon bereitgestellt. Verführt durch die allegorische Bibelerklärung, lehrt uns Loyen, hätten Autoren wie Sulpicius natürliche Ereignisse, i n denen man Gottes Fügung erkannte, symbolisierend dargestellt. Sogar bei der H e i l u n g des gelähmten Mädchens zu Trier (vita M a r t . 16) habe St. M a r t i n vielleicht bloß ein natürliches K r a n k heitsintervall ausgenützt oder aber durch sein Erscheinen bei dem Mädchen einen heilsamen Schock ausgelöst 74 . N u r die Totenerweckungen Martins (vita M a r t . 7/8) bereiten Loyen noch ernste Schwierigkeiten, aber, so hofft er, diese würden vielleicht einst unsere Enkel begreifen, wofern die Religionshistoriker bis dahin durch vergleichende Betrachtung der Thaumaturgien i n anderen K u l t u r e n K l a r h e i t geschaffen hätten. Unsere Möwengeschichte ist allerdings, soweit ich sehe, noch nicht naturgeschichtlich gerechtfertigt worden. Wendet man die aufklärerischen Tendenzen der modernen Forschung auf die Interpretation dieser Erzählung an, so müßte das Ergebnis etwa wie folgt ausfallen: die fischfressenden Wasservögel seien just i n dem Augenblick, als St. M a r t i n vorüberzog, v o n einem seltenen A p p e t i t auf Eichhörnchen ergriffen worden, was M a r t i n , einer glücklichen Eingebung gehorchend, rechtzeitig erkannte! 7 5 M a n möge mich nicht mißverstehen: ich möchte niemanden dazu bekehren anzunehmen, St. M a r t i n habe es vermocht, die Gesetze der N a t u r außer K r a f t zu setzen, also »objektive« Wunder zu w i r k e n (um Fontaines Terminologie aufzugreifen) — damit wäre die Grenze philologischer Arbeit überschritten. Es geht m i r vielmehr darum zu zeigen, daß Sulpicius es glaubte. U n d weiter: daß eine wohlgemeinte Apologie, welche die Vita Martini möglichst i n allen Punkten v o r einer Instanz rechtfertigen w i l l , die außerhalb jenes geistigen Systems steht, dem auch das W e r k des Sulpicius als eine seiner Äußerungen angehört, sehr leicht zu einem A t t e n t a t auf den 73

A. Loyen, »Les Miracles de saint Martin et les debuts de l'hagiographie en Occident«, Bulletin de Littérature Ecclésiastique 73 (1972) 147/57. 74 Solches Verfahren muß letzten Endes zu dem Ergebnis führen, daß St. Martins Krafttaten auf einer wohlberechneten Taktik beruhten, die der des Kaisers Vespasian gleicht, als er zu Alexandrien nach vorheriger Befragung seiner Ärzte zwei Anhänger des Serapiskults »heilte« (Tac. hist. 4,80). 75 Derlei rationalistische Erklärungsversuche, die ja nicht selten eine unfreiwillige Komik an sich haben, müßten übrigens auch dem absichtsvollen Detail grege facto des Sculpicius-Texts (oben S. 47) Rechnung tragen. 5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 25. Bd.

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wahren spirituellen Gehalt dieses bedeutenden Zeugnisses christlichen Geists mißraten k a n n — u n d damit wiederum auch zu einem Anschlag auf die Geschichtswissenschaft selbst. D e n Wert der Möwengeschichte sehe ich darin, daß sie dem modernen Leser anhand e i n e s Beispiels u n d auf begrenztem R a u m k l a r v o r Augen stellt, was man v o m Standpunkt des Autors aus »Symbol« nennen darf u n d was nicht; was ein »Symbol« für den Christen ist u n d was es nicht ist. Das Treiben der M ö w e n ist Symbol, u n d dafür w i r d auch der rechte Terminus gebraucht: forma. Ihre Flucht i n trockenes W a l d gebirge dagegen, ist ein Beweis der Wundermacht ( virtus ) des Heiligen. Beides ist nach dem W i l l e n des Autors streng zu scheiden. D e n n wenn er sagt, viele hätten gestaunt darüber, daß M a r t i n sogar über die Vögel gebiete, so denkt er natürlich an das Staunen derer, die sich fragten: »Wer ist dieser, daß i h m sogar die Winde u n d das Meer gehorchen?« ( M t . 8,27) 7 6 .

Nachtrag Während des Drucks erschien das Buch v o n Clare Stancliffe, St. Martin and His Hagiographer. History and Miracle in Sulpicius Severus, O x f o r d 1983. D i e Möwengeschichte w i r d darin (229) richtig als Gleichnis (»simile«) aufgefaßt. I n anderer Hinsicht bewegt sich die Verfasserin ganz auf der Linie Fontaines. D i e Wunderberichte werden allesamt rationalistisch erklärt (250/55): als I r r t u m , Z u f a l l , Übertreibung, Metapher, Telepathie, Hypnose usw. (Fontaines Deutung der beiden Engel zu Levroux — s. oben S. 63 f. — findet Zustimmung [ 1 9 5 ] ) . Sie sollen Ausdruck sein einer Heiden wie Christen gemeinsamen Weltsicht des 4. Jh. (213 ff.), innerhalb derer Gegensätze z w i schen Christentum und H e i d e n t u m untergeordnete Bedeutung haben (vgl. J. Fontaine, »Christentum ist auch Antike«, JhAC 25, 1982, 5/21). Selbst St. Augustins »Theologie des Wunders« (223/27) erscheint so hauptsächlich als T e i l eines allgemeinen Weltbildes des » fourth-century man« (249). D a ß ich m i r solche Betrachtung frühchristlicher Geistesgeschichte nicht zu eigen machen kann, sei hier nur festgestellt. Z u r Begründung verweise ich auf meine Studie Cbrêsis . Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur. I : Der Begriff des »rechten Gebrauchs«, Basel/Stuttgart 1984, passim, bes. 91/94.

76 Vgl. Hier, in Mt. 8,26 (CCL 77,52): Et ex hoc loco intellegimus quod ο trine s creaturae sentiant Creatorem.

DIE SCHLACHT V O N I N CAROL U N D

AZINCOURT BALLADE

V o n Wolf gang G. Müller 1. D i e Schlacht v o n A z i n c o u r t (1415) muß für die englischen Balladensänger u n d Dichter des ausgehenden Mittelalters ein reizvolles Thema gewesen sein. D e r Feldzug Heinrichs V . , der anfangs unter einem Unstern zu stehen schien — das kleine englische Heer w a r durch die R u h r dezimiert, schlecht ernährt u n d v o n langen Märschen erschöpft — , erwies sich als einer der größten militärischen Erfolge der englischen Geschichte1. O b w o h l das französische Feudalheer fünf- bis sechsmal größer war, trugen die Engländer, angeführt v o n dem charismatischen Heinrich V . , den man den ersten modernen General genannt hat 2 , dank ihres Mutes u n d ihrer D i s z i p l i n den Sieg davon. Insbesondere waren die beweglidien englischen Langbogenschützen der französischen Kavallerie u n d den schwer gepanzerten französischen Soldaten w e i t überlegen. Nach seinem siegreichen Feldzug kehrte K ö n i g Heinrich m i t vielen Gefangenen aus dem französischen A d e l nach England zurück u n d r i t t i m T r i u m p h durch die Straßen v o n L o n d o n nach Saint Paul's, u m G o t t für den Sieg z u danken. D i e militärische Glanztat, die die Engländer i n der Schlacht v o n A z i n court — oder Agincourt, wie es i m Englischen heißt — vollbrachten, fand beträchtlichen W i d e r h a l l i n der Literatur. D i e bekannteste Agincourt-Dichtung ist das lange Zeit nach dem historischen Ereignis geschriebene D r a m a Henry V (1599) v o n Shakespeare. E i n Gedicht, das sehr bald nach der Schlacht entstand, ist das Agincourt Carol, v o n dem Richard Leighton Greene sagt, es sei »perhaps the best-known carol i n English not concerned w i t h the N a t i v i t y . « 3 Außerdem gibt es eine Agincourt-Ballade, die i n Childs Samm1 Vgl. die Geschichte des Feldzugs und das umfangreiche Quellenmaterial in Sir Nicholas Harris Nicolas, History of the Battle of Agincourt and of the Expedition of Henry the Fifth into France , in 1415. (Third Edition, London, 1833 insu]). 2 Vgl. George Macauley Trevelyan, Illustrated History of England (Repr. London, New York, Toronto, 1958 [H926]), p. 230. 3 The Early English Carols. Ed. by Richard Leighton Greene. (Second Edition, Oxford, 1977), p. 474.

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lung The English and Scottish Popular Ballads abgedruckt ist 4 , u n d einige balladenartige Dichtungen zu dem Thema 5 . Wenn diese Werke auch keine herausragenden dichterischen Schöpfungen sein mögen, so ist es doch fraglich, ob die folgende Bemerkung aus der Einleitung zu dem Abdruck einer der Agincourt-Balladen i n der Ausgabe v o n Bishop Percy's Folio Manuscript gerechtfertigt ist: » [ . . . ] i t is somewhat o d d that no better ballad or poem [ o n the Battle of A g i n c o u r t ] should have come d o w n to us.« 6 Wie wenig die Agincourt-Balladen bis i n unsere Zeit bekannt sind, zeigt sich i n A . L . Lloyds Fragen: »Where is the f o l k ballad of Magna Carta? O r of Agincourt for the matter of that? I t was celebrated i n upperclass poetry and song but d i d not engage the attention, or failed t o h o l d the interest, of the folk.« 7 D i e Versdichtungen über die Schlacht v o n Azincourt sind gattungsgeschichtlich u n d gattungskritisch v o n großem Interesse. A u f g r u n d der sehr unterschiedlichen Behandlung, die ein u n d dasselbe historische Ereignis i n dem C a r o l u n d i n der Ballade erfährt, läßt sich die Verschiedenartigkeit der beiden Gattungen besonders gut erkennen u n d darstellen u n d damit das Problem der Abgrenzung der beiden Genres, das bis heute kontrovers diskutiert w i r d , einer Lösung näherbringen. Darüber hinaus ist auch der Vergleich der Child-Ballade über Azincourt m i t anderen Balladen desselben Themas gattungstypologisch aufschlußreich. I n den Agincourt-Balladen treten uns nämlich Volks- u n d Chronikballade u n d balladisches Lied i n charakteristischer Ausprägung entgegen. Interessant sind die Agincourt-Dichtungen auch i m H i n b l i c k auf das Problem des Verhältnisses v o n Geschichte u n d Literatur, die Frage, wie die Literatur Geschichte rezipiert, was sie uns über die Geschichte m i t t e i l t u n d inwiefern sie als historisches Zeugnis gelten kann. Diese Fragestellung soll i n den folgenden Textanalysen mitberücksichtigt werden.

2. D a es uns u m die dichterische Behandlung eines historischen Ereignisses geht, betrachten w i r zunächst näher, wie K ö n i g Heinrichs Feldzug i n dem Carol dargestellt w i r d 8 : 4 The English and Scottish Popular Ballads. Ed. by Francis James Child. 5 vols. (Boston, 1882 - 1898), I I I , p. 323 (Nr. 164). 5 , Eine Liste literarischer Werke, die die Schlacht von Azincourt behandeln, findet sich in der Einleitung zu Agincourte Baiteli in Bishop Percy's Folio Manuscript. Ed. by John W. Hales and Frederick J. Furnivall. 3 vols. (London, 18671868), I I , pp. 159 - 160. Dort wird das Agincourt Carol mit zu den Balladen gerechnet. 6 Ebd. p. 158. 7 Folk Song in England (London, 1967), p. 146. 8 The Early English Carols , pp. 257 - 258 (No. 426).

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Deo gracias Anglia Redde pro victoria.

[1] Owre kywge went forth to Normandy With grace and myght of diyualry; Ther God for hym wrought mervelusly; Wherfore Englonde may calle .and cry, >Deo gracias.
Deo gracias.< Die erzählerische Substanz des Gedichts könnte k a u m einfacher sein. D i e E r zählung ist i m Grunde nicht mehr als eine Aufzählung der Stationen des Feldzugs v o n dem Aufbruch nach Frankreich über die Belagerung u n d E r oberung v o n H a r f l e u r u n d den Marsch durch Frankreich bis zur siegreichen Schlacht v o n Agincourt m i t der Ergreifung u n d T ö t u n g der Gefangenen. Das Gedicht schließt m i t der triumphalen Rückkehr des Heeres nach L o n -

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don. Für den Feldzug w i r d keine M o t i v a t i o n gegeben — das Gedicht beginnt m i t den Worten: »Owre kywge went forth to Normarcdy« — , und die einzelnen Elemente der wiedergegebenen H a n d l u n g sind weder kausal noch i n irgendeiner anderen Weise logisch verknüpft, was sich i n dem parataktischen Satzstil ausdrückt. Syntaktisch stellt sich das Carol als eine Folge v o n Hauptsätzen ohne Bindewörter außer der K o p u l a »and« dar. Eine Beziehung v o n Strophe zu Strophe und v o n Satz zu Satz w i r d durch die Adverbien »then« u n d »there« hergestellt. D a r i n manifestiert sich eine Tendenz, den Bericht auf den zeitlichen u n d räumlichen (oder topographischen) Aspekt der Geschehnisse zu beschränken: Than went oure kynge . . . (Str. 3) Than , forsoth, that k n y g h t . . . faught manly (Str. 4) Ther God for hym wrought mervelusly (Str. 1) There dukys and erlys . . . were take (Str. 5) Das Agincourt Carol ist unzweifelhaft ein narratives Gedicht, aber i n der Wiedergabe einer bloßen Sequenz v o n militärischen Operationen i n ihrer zeitlichen Reihenfolge läßt sich ein Erzählen der allereinfachsten A r t erkennen. Es handelt sich m i t anderen Worten u m ein Erzählen ohne plot , d. h. ohne eine logische Verkettung der wiedergegebenen Handlungsschritte, ein Phänomen, das E. M . Forster i n seiner bekannten Unterscheidung v o n story und plot gewürdigt hat. Für Forster ist »a story« »a narrative of events arranged i n their time-sequence« u n d »a plot« i m Unterschied dazu »a narrative of events, the emphasis falling on causality.« 9 Hinsichtlich seiner erzählerischen Gestaltung ist das Agincourt Carol m i t seiner bloßen Wiedergabe einer Reihe von Ereignissen i n ihrer zeitlichen Folge dem Erzähltypus story zuzuordnen. Die Frage nach dem Vorkommen und dem Gewicht des narrativen Moments ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Carols als Gattung. Während die narrative Komponente i n den Carols früher stark betont wurde 1 0 , hält man sie heute für weniger wichtig 1 1 . Tatsächlich ist der erzählerische Gehalt (»narrative content«) i m Carol nur fakultativ. U n d wenn ein Carol einmal eine Geschichte erzählt, dann ist — wie das Agincourt Carol exemplifiziert — sein narrativer Charakter insofern eingeschränkt, als es sich um eine Erzählung ohne jedes p/oi-Element handelt. Die historisch-politischen Carols erzählender A r t und die zahlreichen Carols, die die Geschichte der Geburt Christi wiedergeben, haben grundsätzlich keine 9

Aspects of the Novel (Repr. Harmondsworth, 1966 [H927]), p. 93. Iolo A. Williams sagt in seinem Buch English Folk-Song and Dance (London, New York, Toronto, 1935), p. 118: »Most carols [ . . . ] have a strong narrative interest, being, in fact, ballads about the birth and childhood of Jesus.« 11 »Now neither complete objectivity nor narrative content is essential or even usual in the carol, although both may be present.« (Greene, The Early English Carols y p. lxv). 10

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H a n d l u n g i m Sinne v o n plot . H i e r liegt, wie bisher noch nicht erkannt wurde, der Schlüssel zur Unterscheidung v o n Carol u n d Ballade. Wenn man sich nicht darüber i m klaren ist, ob man einen Text den Carols oder den Balladen zurechnen soll, ist das ^ / o i - K r i t e r i u m entscheidend. K u r z e Verserzählungen ohne plot sind i n der Regel Carols, u n d kurze Verserzählungen m i t plot sind i n der Regel Balladen. Francis James C h i l d scheint diese Unterscheidung i n t u i t i v erfaßt zu haben, als er St Stephen and Herod, The Cherry-Tree Carol , The Carnal and the Crane , drei Texte, die i n pointierter Weise Teile der Weihnachtsgeschichte behandeln, m i t i n seine Balladensammlung aufnahm 1 2 . D a v i d C. Fowler i r r t dagegen, wenn er derartige Texte, die eine deutliche plot- Struktur aufweisen, u n d sogar die JudasBallade 1 3 m i t ihrem dramatisch zugespitzten erzählerischen V o r t r a g als »religious songs« oder »carols« bezeichnet 14 . Unsere Betrachtung des Erzählgehalts des Agincourt Carol hat zunächst die wichtigste Komponente des Gedichts vernachlässigt, das religiöse Gefühl, v o n dem es v o n A n f a n g bis Ende durchdrungen ist. A m konzentriertesten erscheint es i n dem Refrain, der an der Spitze des Gedichts steht und nach jeder Strophe wiederholt w i r d u n d v o n dem Greene sagt: »The burden makes and marks the carol.« 1 5 D e r Refrain ist hier lateinisch, eine Erscheinung, die i n den Carols recht häufig ist u n d m i t der Vorliebe der Gattung für makkaronische Konstruktionen übereinstimmt 1 6 : Deo gracias Anglia Redde pro victoria. Der Refrain ist eine Apostrophe an England, i n der das L a n d aufgefordert w i r d , G o t t für den Sieg zu danken. H i e r hat sich offensichtlich die vielfach überlieferte Uberzeugung des Königs niedergeschlagen, der Sieg über die

12 Diese tragen in Childs Sammlung die Nummern 22, 54 und 55. Zu ihnen gehört noch The Bitter Withy, eine von Frank Sidgwick 1905 erstmals veröffentlichte Ballade (Notes and Queries , 4th series, I, 53), die eine Episode aus Jesu Kindheit behandelt. Wenn solche Balladen Carols genannt werden (wie z.B. The Cherry-Tree Carol), so erklärt sich diese Fehlbenennung daraus, daß sie wie viele Carols etwas mit der Weihnachtsgeschichte zu tun haben. Das aus dem französischen carole übernommene Wort carol entwickelte sich im Englischen in einem langen Prozeß von seiner ursprünglichen Bedeutung als »Tanzlied« zur generellen Bezeichnung für ein religiöses Lied, insbesondere für ein Weihnachtslied. 13

Diese Ballade trägt bei Child die Nummer 23. David C. Fowler, A Literary History of the Popular Ballad (Durham, North Carolina, 1968), pp. 6, 20, 42. 15 The Early English Carols, p. clx. 16 Vgl. ebd., p. lxxxi: »English poetry, at least, has no other province in which macaronic construction plays so large, so earnest, and so happy a part.« 14

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Franzosen sei auf Gottes M i t w i r k u n g zurückzuführen 1 7 . Während der prächtigen Prozession anläßlich der Rückkehr des Königs wurde v o n einem K n a benchor mit Orgelbegleitung das Te deum laudamus gesungen, und auf einem T u r m war die Aufschrift Deo Gracias angebracht 18 . Die Siegesfeier w a r i n gleicher Weise ein nationales und religiöses Ereignis. O b w o h l der CarolRefrain eine Einheit für sich bildet und außerhalb der Strophen steht — i m Gegensatz zum Refrain der Volksballade, der i n die Strophen eingeflochten ist — , ist er sehr eng m i t dem Thema des Gedichts verbunden. Schon die erste Strophe bekräftigt die Aussage des Refrains, indem sie G o t t als den Urheber v o n Heinrichs T r i u m p h bezeichnet: »Ther G o d for h y m wrought mervelusly« (1,3). Aus diesem G r u n d kann England i h m m i t der Formel des Refrains danken: »Wherfore Englonde may calle and cry, / >Deo graciasSprungstil< der authentischen Volksballade ist hier durchaus zu erkennen. D i e Auslassung der inquit-Formeln trägt zur dramatischen Unmittelbarkeit des Texts bei und läßt den Antagonismus zwischen den beiden Königen scharf hervortreten. Der Balladensänger verzichtet i n charakteristisch abkürzender Manier darauf, die Gefühle des englischen Königs beim Empfang der Botschaft darzustellen; er gibt lediglich seine Reaktion auf den A f f r o n t wieder, den augenblicklichen militärischen Befehl: » >Recruit me Cheshire and Lancashire, / A n d DerbyH i l l s that are so free [ . . . ] < « (Strophe 9). Der elliptische und übergangslose Vortrag unterstreicht die kompromißlose Einstellung der Balladenhelden, die stets zu handeln wissen, wenn sie einen G r u n d haben. Die Agincourt-Ballade läßt auch eine große Z a h l iterativer Elemente erkennen, die die Ballade als Gattung kennzeichnen. D i e Wiederholung ist eine A r t stilistisches Gegengewicht zu dem abrupten u n d abkürzenden erzählerischen Vortrag. Durch die Wiederholung verweilt der Sänger für eine Zeit auf den für die Darstellung ausgewählten isolierten Momenten, so daß sich jene Form des sprunghaften u n d zugleich verweilenden Erzählens (the leaping-and-lingering technique) konstituiert, die seit Gummere als das entscheidende M e r k m a l des Balladenstils g i l t 3 8 . E i n einfaches u n d offensichtliches Beispiel für die Wiederholungstechnik ist die zweite Strophe, deren zweite Zeile die erste Zeile unter Umkehr der Wortstellung wiederholt: He called for his lovely page, His lovely page then called he, 38 Francis B. Gummere, The Popular Ballad (London, New York, 1907), pp. 91, 117, 327.

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Dieses Verspaar kehrt m i t gewissen Abwandlungen i n den Strophen 3 u n d 6 wieder, so daß ein Zusammenwirken der binären u n d trinären Wiederholungsstrukturen erkennbar w i r d , die D a v i d Buchan i n seiner bahnbrechenden Untersuchung zur Volksballade als der mündlichen Kompositionsweise eigentümliche Baumuster (»patternings intrinsic t o the oral mode of composition«) erläutert h a t 3 9 . Eine weitere charakteristische F o r m der Wiederholung erscheint i n den Strophen 9 u n d 10, w o der Befehl des Königs u n d seine Ausführung fast i n die gleichen Worte gekleidet sind: »Recruit me Cheshire and Lancashire, / [...]< They recruited Cheshire and Lancashire, / [ . . . ] E i n M e r k m a l der Agincourt-Ballade, das sich i n den letzten Strophen zeigt, ist das Pronomen »we«, das natürlich i n dem »our king« der ersten Strophe i m p l i z i t schon vorhanden ist: Ο then we mardid into the French land, (Strophe 11,1) We killd ten thousand of the French, (Strophe 12,3) And then we marched to Paris gates, (Strophe 13,1) Das Pronomen »we« ist i n historischen Balladen recht häufig, wenn sich ein nationaler oder parteilicher Standpunkt bemerkbar macht. Sehr auffällig ist es i n der Ballade Musselburgh Field (Child, N r . 172), w o eine Schlacht z w i schen den Engländern u n d Schotten v o n einem Dichter wiedergegeben w i r d , der eindeutig auf der Seite der Engländer steht. Oder i n der Border-Ballade Kinmont Willie (Child, N r . 186), die die waghalsige Rettung des Angehörigen eines schottischen Clans aus dem Schloß der englischen Stadt Carlisle z u m Gegenstand hat, w i r d die Geschichte so erzählt, als habe der Dichter zu der kleinen Gruppe v o n Schotten gehört, die an der Unternehmung beteiligt waren. Durch die Verwendung des »we« w i r d der H ö r e r hier ganz dicht an die H a n d l u n g herangeführt. D e r P l u r a l trägt zur Lebendigkeit u n d U n mittelbarkeit der Darstellung bei, wie die folgenden Verse aus der 29. Strophe v o n Kinmont Willie zeigen: We crept on knees, and held our breath, T i l l we placed the ladders against the wa; Das Vorhandensein des Pronomens »we« bedeutet nicht notwendigerweise, daß der Balladensänger an dem erzählten Geschehen teilnahm. Es handelt sich meistens u m einen pluralis nationis oder einen pluralis factionis, i n den sich der Erzähler einschließt. Das »we« i n historischen Balladen k a n n auch, wie am Ende v o n Bothwell Bridge ( C h i l d , N r . 206), die kollektive Erinnerung der N a t i o n verkörpern: 39

David Buchan, The Ballad and the Folk (London, Boston, 1972).

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Wolfgang G. Müller But lang we'll mind, and sair we'll rue; The bloody battle of Bothwell H i l l .

Der pluralis nationis (»we«, »our«, »us«) ist ein M e r k m a l , das die A g i n court-Ballade m i t anderen historischen Balladen aus Childs Sammlung teilt. Es ist zwar richtig, daß unser Text nicht viele Eigentümlichkeiten besitzt, die unmittelbar auf die genuine Volksballade zurückweisen wie den Satz »O then went away this lovely page« (3,1) m i t seiner umgekehrten W o r t stellung oder die folgenden Zeilen aus Strophe 12 The first shot that the Frenchmen gave, They killd our Englishmen so free; m i t ihrer charakteristischen Tendenz der Vermeidung v o n K o n j u n k t i o n e n 4 0 . Aber i m ganzen k o m m t die Erzählstruktur der Agincourt-Ballade m i t ihrer Selektion einzelner Handlungsmomente, den raschen u n d abrupten Übergängen und den vielfältigen iterativen Elementen der Erzählweise der Volksballade ziemlich nahe. Die vorhandenen Fassungen erlauben z w a r keinen Zweifel daran, daß es sich bei dieser Ballade u m eine Broadside-Ballade handelt; diese atmet aber den Geist der Volksballade, u n d i n ihr sind wesentliche Elemente der Straßenballaden wie auktoriale Kommentare u n d die Publikumsanrede nicht zu erkennen. Insbesondere fehlen ein BroadsideI n c i p i t wie »Come light and listen, y o u gentelmen all [ . . . ] a story true Γ Ι tell unto y o u « 4 1 u n d eine der Schlußformeln der Straßenballaden wie »God saue our king , and blesse this land [. . . ] . « 4 2 C h i l d hat King Henry Fifth's Conquest of France zu Recht i n seine Volksballadensammlung aufgenommen. 4. Die spezifischen ästhetischen Qualitäten v o n King Henry Fifth's Conquest of France zeichnen sich bei einem Vergleich m i t einer anderen Ballade über die Schlacht v o n Azincourt, die i m 17. Jahrhundert mehrfach belegt ist, besonders deutlich ab. Dieses Stück heißt Agincourte Battell 43; es weist die übliche Strophenform der Ballade auf (common metre , common measure ), und w i r wollen es als Chronikballade bezeichnen. Chronikballaden sind erzählende Versdichtungen, die unter Verwendung einer oder mehrerer Chro40 Vgl. zum Satzbau der Volksballade Vf., »Syntactic Features of 1 the Folk Bailad«, Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik, Vol. 6 (1981), 227 - 240. 41 Robin Hood and the Beggar , I, Child, The English and Scottish Popular Ballads , Vol. 3, p. 156 (Nr. 133). 42 The Hunting of the Cheviot , ebd., Vol.3, p. 314 (Nr. 162 B). Zur Struktur der Straßenballade vgl. Natascha Würzbach, Anfänge und gattungstypische Ausformung der englischen Straßenballade (München, 1981). 43 Hales/Furnivall, Bishop Percy's Folio Manuscript , Vol. 2, pp. 166 - 173.

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niken geschrieben wurden oder sich zumindest auf Material aus den Chroniken beziehen. I h r Ursprung liegt nicht i n der mündlichen T r a d i t i o n , u n d ihre Erzähl weise hat nichts oder k a u m etwas gemein m i t der Formelhaftigkeit des Stils u n d des Aufbaus, die charakteristisch für die mündliche K o m positionsweise ist. Formeln, die i n solchen Texten auftreten u n d auf ihren Ursprung hindeuten, sind »The chronicle says« oder » I am sure the chronicle of this w i l l not lie«. D i e erstgenannte Formel erscheint i n Agincourte Baiteli ( V . 71), die letztgenannte i n historischen Balladen aus Childs Sammlung, die m i t der Chronikballade verwandt sind, z. B. i n The Hunting of the Cheviot (Child, N r . 161 A , 35,2) u n d The Rose of England (Child, N r . 166, 17,2; 22,4). I n den Chronikballaden t r i t t der Erzähler als eine A r t Historiker auf. Es ist sein Ziel, Geschichte i n einer leicht faßlichen Form zu vermitteln, ein Ziel, das der historischen Volksballade fremd ist. Der Sänger der Volksballade ist nicht an der Historie als solcher interessiert. D i e Geschichte ist für i h n das Rohmaterial für packende Erzählungen. Er sucht sich aus der Geschichte erregende Ereignisse, die er rasch u n d dramatisch zugespitzt wiedergibt. Vielfach stellt er gerade unhistorische Vorfälle i n den M i t t e l p u n k t , w e i l sie mehr an jenem zwischenmenschlichen Konfliktstoff bergen, an dem er interessiert ist. I n der T a t ist es, wie A l a n B o l d bemerkt, nicht selten, daß eine Ballade u m so besser ist, je mehr sie die Geschichte verfälscht 4 4 . So ist die Ballade Earl Bothwell (Child, N r . 174), die den M o r d an D a r n l e y historisch wahrheitsgemäß B o t h w e l l zuschreibt u n d i h n als eine d u r d i M a r i a Stuart inspirierte Vergeltungstat für den M o r d an Riccio darstellt, ein spannungsarmes Gedicht; The Bonny Earl of Murray (Child, N r . 181) dagegen, eine Ballade, die v o n dem historischen M o r d an dem E a r l of M u r r a y am 7. Februar 1592 ausgeht, gewinnt ihre tragische Intensität aus der gänzlich fiktiven Vorstellung, daß der E a r l der Geliebte der schottischen K ö n i gin w a r 4 5 . I n der Agincourt-Ballade aus Childs Sammlung ist es die unhistorische Geschichte v o n dem Geschenk der Tennisbälle, die i n den M i t t e l p u n k t der H a n d l u n g rückt. I n der Chronikballade v o n Agincourt ist dieses Ereignis nur eines der kuriosen Details, die der Erzähler i n seinen T e x t aufnimmt, u m i h n interessanter u n d wirkungsvoller zu machen ( V . 1 3 - 3 2 ) . Weitere solcher Einzelheiten sind u. a. die höhnische Frage des französischen Königs, wieviel Lösegeld Heinrich für sein Leben zahlen w o l l e ( V . 73 - 80), und die Beschreibung des frivolen Verhaltens der Franzosen, die v o r der Schlacht 44 The Ballad. The Critical Idiom (London, 1979), p. 60: »It is often the case that the more distorted the history the better the ballad.« Daß dieses Urteil nidit verallgemeinert werden darf, zeigt ein Aufsatz von David Buchan über The Battie of Harlaw (Child, Nr. 163): »History and Harlaw«, Ballad Studies. Ed. by Ε. Β . Lyle (Cambridge, 1976), pp. 29 - 40. 45 Diese beiden Beispiele führt Bold, The Bailad, p. 60, an.

6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 25. Bd.

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um die Engländer würfeln und deren rote Röcke m i t 8 Pence u n d die weißen mit 4 Pence bewerten ( V . 93 - 100). E i n auffälliges Beispiel dafür, wie die Chronikballade historische Ereignisse ändern und raffen kann, findet sich auch am Ende des Texts: but then ther was neuer a peere with-in france of all those Nobles then, of all those worthye Disse peeres, durst come to King Harry then. but then Katherine, the K/wgs fayre daughter there, being proued apparant his heyre, with her maidens in most sweet attire to King Harry did repayre; & when shee came before our Κing y shee kneeled vpon her knee, desiring him that his warres wold cease, & that he her loue wold bee. there-vpon our English Lords then agreed with the Peeres of ffrance then; soe he Marryed Katherine, the KzVzgs faire daughter, & was crowned King in Paris then. Der Balladendichter erzählt, wie sich alle französischen Adligen nach der Niederlage scheuen, dem englischen K ö n i g gegenüberzutreten. N u r Prinzessin Katherine macht eine Ausnahme und geht zu K ö n i g Heinrich und bittet ihn, sie zu heiraten. Er w i l l i g t ein, die Hochzeit w i r d beschlossen, u n d er w i r d i n Paris zum K ö n i g Frankreichs gekrönt. I n Wirklichkeit w a r die Hochzeit zwischen Heinrich und der französischen Prinzessin eine rein politische Heirat, die nicht v o n der Prinzessin ausging. Darüber hinaus mußte Heinrich noch viele mühselige Belagerungen und Kämpfe hinter sich bringen, ehe er seine schöne Braut sah, und erst am 20. M a i 1420 heiratete er sie i n Troyes, u n d er wurde nie i n Paris zum K ö n i g gekrönt 4 6 . Die Erzählung knüpft i n der Chronikballade insofern an den Berichtstil der Chronisten an, als sie keine plot- Struktur aufweist, keine logische Verkettung der Handlungselemente. So ist ζ . B. die Rede v o n dem Wunsch des D u k e of Y o r k , die Schlacht anzuführen (V. 1 1 7 - 120), über seine Leistung i m K a m p f und seinen T o d schweigt sich die Ballade jedoch aus. Insgesamt ist die Chronikballade sehr viel umständlicher u n d gemächlicher i m erzählerischen Vortrag als die Volksballade. Sie legt großes Gewicht auf die Darbietung v o n Fakten wie die Z a h l der am Krieg beteiligten Soldaten 4 7 , 46 Vgl. die Vorbemerkung zu Agincourte Battle in Hales/Furnivall, Bishop Percy's Folio Manuscript , Vol. 2, pp. 165- 166. 47 Ein Element, das in den Chronikballaden vielfach auftritt, in Agincourte Battle aber fehlt, ist der Gefallenenkatalog, wie er sich ζ. B. in The Hunting of

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topographische Einzelheiten u n d — wie bereits erwähnt — kuriose Details. H i e r soll nur noch ein Blick: auf die Zahlen, die i n der Chronikballade zur Sprache kommen, geworfen werden. Insgesamt handelt es sich u m vier: (1) die Z a h l der Engländer, die nach der Einnahme v o n H a r f l e u r i n der Stadt zurückgelassen werden, w i r d als 300 angegeben ( V . 59), was vermutlich zu wenig ist; (2) die französischen Soldaten werden m i t 600 000 beziffert ( V . 72), was natürlich eine gewaltige Ubertreibung i s t 4 8 ; (3) es heißt, 10 000 Franzosen seien gefallen, eine ziemlich genaue Zahl, die m i t den Berechnungen v o n Nicolas übereinstimmt 4 9 ; (4) die Gefangenen werden zweim a l beziffert: m i t Bezug auf die erste Phase der Schlacht ist v o n fast 10 000 die Rede ( V . 139), u n d die Gesamtzahl sei — so heißt es später ( V . 157) — 200 000 gewesen, was absolut unmöglich ist. Diese Zahlen erlauben den Schluß, daß der Balladendichter u n d Historiker sich nicht u m Genauigkeit bemüht: gelegentlich rundet er Zahlen ab; öfter aber erhöht er sie — manchm a l bis zur w i l d e n Übertreibung — , u m seinen Bericht eindrucksvoller zu machen. I m Unterschied zu der Sprunghaftigkeit der Child-Ballade, die v o n H a n d lungsgipfel zu Handlungsgipfel springt u n d auf Uberleitungen verzichtet, ist die Chronikballade durch einen gleichmäßigen Erzählfluß gekennzeichnet, der sich aus verbindenden u n d überleitenden syntaktischen Elementen ergibt wie den Adverbien »therefore«, »thus«, »so«, »thereupon«, »then«, der sehr häufigen Satzeröffnung »and when« u n d der Formel »this being done«. Es ist sogar eine Tendenz zur B i l d u n g größerer syntaktischer Perioden erkennbar, die sich i n mehreren Fällen über eine Gruppe v o n Strophen erstrecken, ein Phänomen, das der Volksballade fremd ist u n d das sich i n einer C h i l d Ballade w i e The Hunting of the Cheviot findet 50, die — wie w i r bereits feststellten — der Chronikballade nahesteht. Als ein Beispiel aus Agincourte Batteil seien die Verse 6 1 - 7 2 z i t i e r t : this being done, our Noble King marched vp & downe that land, — & not a ffrenchman ffor his liffe durst once his fforce withstand, — the Cheviot (Child, N r . 162, A Str. 52 ff., Β Str. 48 ff.) oder in Flodden Field (Child, Nr. 168, Appendix, Str. 37 - 47, 67 - 71) findet. 48 Ironischerweise erscheint gerade im Zusammenhang mit dieser absurden Zahl die Formel »the chronicle sayes« (V. 71). Der Balladendichter scheint einfach eine N u l l an die Zahl angehängt zu haben. Vgl. Hales/Furnivall, Bishop Percy's Folio Manuscript, Vol. 2, p. 163. Bei Nicolas (History of the Battle of Agincourt , p. 109) findet sich eine Liste mit den Zahlen, die in 16 Chroniken für die Stärke des französischen Heeres angegeben werden. Diese bewegen sich zwischen 10 000 und 150 000. 49 History of the Battle of Agincourt , pp. 132 - 134. 60 Child, Nr. 162 Β, ζ. B. Str. 4 - 6, 15 - 16, 19 - 20, 24 - 25. 6*

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Wolfgang G. Müller till he came to Agincourt; & as it was his chance, to ffind the King in readinesse, with him was all the power of ffrance, a mightye host they had prepared off armed souldiers then, whiàì was noe lesse (the chronicle sayes) then 600 000 men. 5.

Eine letzte Agincourt-Dichtung, die hier betrachtet werden soll, ist Agincourt, or the English Bowmen's Glory , eine elfstrophige Black-Letter-Ballade frühen Datums, deren Beginn i n Thomas Heywoods King Edward IV zitiert w i r d 5 1 . Dieses schöne Gedicht steht ganz i m Zeichen eines Refrains, der jede Strophe eröffnet. M i t dem wiederholten Ausruf »Agincourt« u n d einer anschließenden rhetorischen Frage schlägt der Refrain einen jubilierenden T o n an, der das ganze Gedicht dominiert: Agincourt, Agincourt! Know ye not Agincourt? Seinen Höhepunkt erreicht der Jubelton i n den letzten Strophen, w o sich der Refrain zu »Huzza for Agincourt« wandelt (Str. 8) u n d das exklamatorische Sprechen i n die Schlußverse der Strophen eindringt. A u f diese Weise gewinnt die Strophenepipher »bowmen«, die sich durch das ganze Gedicht zieht, an dessen Ende besonderen Nachdruck. D i e Ausrufe, die die letzten drei Strophen beschließen, lauten: Huzza! our bowmen. Such were our bowmen. Rare English bowmen. Ein auffälliges Kennzeichen dieses Gedichts über Agincourt ist das Fehlen des narrativen Elements. Es ist keine erzählerische Linie vorhanden, keine Folge v o n Ereignissen i n zeitlicher Sukzession. Die Strophen könnten ausgetauscht werden, ohne daß das Gedicht dadurch größeren Schaden nähme. Zur Veranschaulichung der Tatsache, daß es i m Verlauf des Gedichts nicht zu einer narrativen Progression kommt, seien die Strophen 1, 4 und 9 zitiert: Agincourt, Agincourt! Know ye not Agincourt? Where English slue and hurt A l l their French foemen? 51 Das Lied wird in dem Drama als »the three mans Song« bezeidinet. Vgl. The Dramatic Works of Thomas Hey wood, Vol. 1 (London, 1874), p. 52. Wir zitieren das Gedicht nach Hales/Furnivall, Bishop Percy 3s Folio Manuscript, Vol. 2, pp. 595- 597.

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With our pikes and bills brown, How the French were beat downe, Shot by our bowmen. Agincourt, Agincourt! Know ye not Agincourt? English of every sort, High men and low men, Fought that day wondrous well, as A l l our old stories tell us, Thanks to our bowmen. Agincourt, Agincourt! Know ye not Agincourt? When our best hopes were nought, Tenfold our foemen. Harry led his men to battle, Slue the French like sheep and cattle: Huzza! our bowmen. Das Gedicht ist eine ständig neuformulierte u n d immer intensivere u n d freudevollere Rühmung der englischen Bogenschützen, eine lyrische Evokat i o n eines ruhmreichen Moments der Vergangenheit der N a t i o n , m i t anderen W o r t e n ein panegyrisches geschichtliches Lied. V i e l v o n seinem Reiz verdankt es dem beschwingten Refrain u n d den daktylisch aufgelockerten K u r z versen, die einem Meister der Sprachmusik wie Sidney Lanier aufgefallen sind 5 2 . D a dieser Text keine Geschichte erzählt u n d vor allem da er keine Ereignisfolge wiedergibt, die als plot strukturiert ist, können w i r i h n nicht als Ballade bezeichnen. D a ß eine Ballade eine Geschichte erzählt, ist »eine Bedingung, die unter allen Umständen erfüllt werden muß« 5 3 . D e r narrative Charakter der Ballade ist seit W i l l i a m Shenstone u n d Joseph Ritson axiomatisch 5 4 . W e n n Agincourt, or the English Bowmen's Glory auch keine Geschichte erzählt u n d damit eine zentrale Bedingung der Gattung Ballade unerfüllt bleibt, so ist die Geschichte v o n Agincourt, die Geschichte des heroischen Kampfes, der dort gefochten wurde, doch stets als Bezugspunkt gegenwärtig. W i r können das Gedicht deshalb unter Verwendung eines Be52 Sidney Lanier, The Science of English Verse and Essays on Music. Ed. by Pauli Franklin Baum (Baltimore, 1945), pp. 140-142. [The Centennial Edition of the Works of Sidney Lanier, Vol. 2.] Lanier zitiert das Gedicht in voller Länge als ein Beispiel für den »3-rhythm«. 53 Erich Seemann, »Die europäische Volksballade«, Handbuch des Volksliedes. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich, Lutz Röhrich, Wolfgang Suppan. Bd. 1 (München, 1973), S. 37 - 56, Zitat: S. 38. 54 Vgl. Hans Hecht, ed., Thomas Percy und William Shenstone. Ein Briefwechsel aus der Entstehungszeit der Reliques of Ancient English Poetry (Straßburg, 1909), S. 52 (Brief von Shenstone an Percy vom 24. 4.1761), Joseph Ritson, A Select Collection of English Songs, with Their Original Airs (London, 1813 [ 1 1783]), p. i, Anm.

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griffs aus Friedrich W i l h e l m Neumanns Geschichte der russischen Ballade als »balladisches Lied« bezeichnen 55 .

6. W i r fassen zusammen. Unsere Untersuchung einiger Dichtungen über ein und dasselbe historische Ereignis hat gezeigt, daß die einzelnen Gattungen Geschichte i n sehr unterschiedlicher Weise rezipieren. Das Carol hat m i t seiner bloßen Wiedergabe der einzelnen Stationen des Feldzugs v o n Heinrich V . i n ihrer zeitlichen Folge eine narrative Struktur ohne jedes p/oi-Element. Die Erzählung w i r d v o m Anfang bis zum Ende von religiösem Gefühl dominiert, das am deutlichsten i n dem für das Carol charakteristischen Refrain hervortritt. Die i m Carol fakultative narrative Komponente t r i t t auf diese Weise nicht i n Widerspruch zu dem essentiell lyrischen Charakter der Gattung. Als ein religiöses Lied, das das historische Geschehen allein aus göttlicher Fügung erklärt, stimmt das Carol m i t der Auffassung des Königs überein, das Verdienst für den Sieg über die Franzosen liege allein bei G o t t ; aufgrund seiner spezifischen Form u n d Aussage stellt das Gedicht auch keine Mißachtung von Heinrichs Verbot dar, Lieder zu seinem R u h m zu verfassen oder zu singen. I n der Vorrede zu Elmhams Liber Metricus de Henrico Quinto heißt es dazu u . a . : » [ . . . ] nullo modo, sermonibus ampullosis aut musicalibus instrumentis, cantica rhythmica histrionum aut gesta de se vel suis commendantia triumphale certamen proferri consentit.« 56 I n seiner Einstellung zu dem historischen Ereignis entspricht das Carol gänzlich der zeitgenössischen Geschichtsinterpretation. Auch die Chroniken führen den Sieg v o n Agincourt nicht auf die größere Disziplin u n d die bessere Kriegstechnik der Engländer zurück, sondern auf Gottes Walten. Insofern ist das A g i n court-Carol ein ernstzunehmendes Zeitdokument. W i r erfahren z w a r nur umrißhaft, was tatsächlich geschah, aber das Gedicht bezeugt doch sehr eindringlich, wie die Engländer — u n d nicht nur der oder die Kleriker, die das Carol vermutlich schufen — über die Schlacht v o n Agincourt dachten. Ganz anders stellt sich der Sachverhalt i n der Child-Ballade über A g i n court dar. Diese ist nur insofern an der Historie interessiert, als sie den Stoff für eine fesselnde Erzählung liefert, die v o n einem A f f r o n t u n d dessen Rächung berichtet. Kennzeichnend für das geringe Interesse des Balladendichters an der Geschichte ist, daß er einen unhistorischen V o r f a l l , die Pro55

(Königsberg und Berlin, 1937), S. 9. Memorials of Henry the Fifth , p. 80. Auch Holinshed überliefert diese Aussage: » [ . . . ] neither would he suffer any ditties to be made and soong by minstrels of his glorious victorie, for that he would wholie have the praise and thanks altogither given to God.« (R. S. Wallace and A. Hansen, eds., Holinshed' s Chronicles , Henry V [Oxford, 1917], p. 43). 56

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v o k a t i o n des englischen Königs durch das Geschenk der Tennisbälle, ins Zentrum seiner Erzählhandlung stellt. Dieses Verfahren ist charakteristisch für die meisten historischen Volksballaden, so wie die Verwendung apokryphen Materials ein Charakteristikum der religiösen Volksballaden ist. I m Unterschied zur historischen Volksballade hat die Chronikballade das Ziel, Geschichte i n lebendiger Form zu vermitteln. M i t der Erzählweise der Chroniken hat sie gemeinsam, daß sie einen fortlaufenden Bericht liefert, i n dem eines auf das andere folgt, ohne daß die Geschehensabläufe i m Sinne einer p / o i - S t r u k t u r geordnet sind. I n den großen Umrissen hält sich die Chronikballade an die Geschichte, wie sie i n Chroniken überliefert ist. So berichtet sie darüber, wie der A n s t u r m der französischen Kavallerie durch i n den Boden gerammte spitze Pfähle abgefangen wurde, u n d sie übergeht nicht die durch den englischen K ö n i g befohlene T ö t u n g der Gefangenen. A u f der anderen Seite bemüht sie sich aber, ihren Bericht durch den Einbezug interessanter Einzelheiten, die vielfach über die verifizierbare W i r k lichkeit des historischen Geschehens hinausgehen, wirkungsvoller zu machen. Das Ergebnis ist eine popularisierte, m i t sensationellen Details angereicherte u n d i m ganzen grobkörnige Geschichtsdarstellung. I n Agincourt, or the English Bowmen's Glory w i r d das historische Ereignis nicht berichtend dargestellt, sondern i n der F o r m des Liedes als ein glorreicher Augenblick der nationalen Geschichte beschworen. Es ist bemerkenswert, daß ausgerechnet das balladische L i e d als ein eindeutig lyrisches Gebilde das für den Ausgang der Schlacht v o n Agincourt entscheidende m i l i tärische F a k t u m i n den M i t t e l p u n k t rückt, die Leistung der englischen Bogenschützen, die i n dem Carol u n d der Volksballade wie auch i n Shakespeares Henry V unerwähnt bleibt. Insofern ist auch dieses Gedicht ein beachtenswertes D o k u m e n t für die Rezeption v o n Geschichte.

F O R M E N DES W E L T T H E A T E R S B E I V o n Franz

SHAKESPEARE

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— H e r m a n n Heuer z u m 80. Geburtstag — I n der m i t Piaton beginnenden Geschichte der Welttheatermetapher n i m m t — w o r a u f bereits Ernst Robert Curtius verwies 1 — England eine besondere Stellung ein. V o n frühchristlichen Autoren aus der antiken Literatur zunächst übernommen, w a r die Metapher i n relative Vergessenheit geraten, bis sie durch Johannes v o n Salisbury i n seinem 1159 erstmals erschienenen Policratus m i t Rückgriff auf Petronius zu neuem Leben erweckt wurde. I m 16. Jahrhundert z u m Gemeinplatz geworden, schlug sie sich u. a. i n der Benennung des Globe Theatre nieder. D e n Wahlspruch für das Theater entnahm man — i n geringfügiger A b w a n d l u n g — dem Policratus: »Totus mundus agit histrionem«. D i e Rede Jacques' i n As Y oh Like It A l l the world's a stage And all the the men and women merely players ; (II, 7,139 f.) k a n n als Shakespeares Kommentar zu dem Wahlspruch des Theaters, auf dem eine beachtliche Reihe seiner Werke zur A u f f ü h r u n g gelangte, betrachtet werden 2 . D i e Metapher erscheint aber i n mehrfacher A b w a n d l u n g fast i n allen Dramen Shakespeares, u n d seine Zeitgenossen bedienen sich ihrer i n gleicher Weise. Es handelt sich u m einen bekannten Tatsachenbestand, der oft genug kommentiert wurde u n d keiner neuen Untersuchung bedarf 3 . Der Gebrauch der Metapher w a r keineswegs auf England beschränkt. Das B i l d v o n der W e l t als Bühne hatte i n der gleichen Weise auf dem K o n tinent Verbreitung gefunden. Nach Ernst Robert Curtius blieb es jedoch dem 1 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern und München, 51965), S.149-151. Zur Geschichte der Metapher siehe auch Jean Jacquot, »Le Théâtre du Monde«, Revue de Littérature Comparée , Bd. 31 (1957), S. 341 - 372, und Thomas Β . Stroup, Microcosmos: The Shape of the Elizabethan Play (Lexington, Kentucky, 1965), S. 7 - 22. 2 E. R. Curtius, a.a.O. I m Policratus heißt es: »Totus mundus iuxta Petronium exerceat histrionem...«. As You Like It zitiert nach der New Cambridge Edition (NCE) (Cambridge, 1948). 3 Siehe vor allem Anne Righter, Shakespeare and the Idea of the Play (London, 1962), besonders »Part Two«, S. 89 - 207.

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spanischen Theater vorbehalten, es nicht nur i m herkömmlichen Sinne als Kommentar zum menschlichen Leben zu gebrauchen, sondern es auch i n paradigmatischer Weise zu dramatisieren 4 . Dies geschah i n Calderóns El gran teatro del mundo, wenn dort G o t t auf der Bühne erscheint und die Geschichte der Menschheit als Theater inszeniert. Curtius' Charakterisierung von Calderóns auto sacramental als erster Dramatisierung der Metapher blieb nicht unwidersprochen. Thomas B. Stroup unternahm es nachzuweisen, daß eine soldie bereits i n den Mysterienspielen und Moralitäten des M i t t e l alters vorliege und v o n diesen i n vielfältiger A b w a n d l u n g v o m elisabethanischen Drama übernommen worden sei 5 . Stroup gebührt zweifellos das Verdienst, i n aller Ausführlichkeit dargestellt zu haben, wie das Konzept des Welttheaters dem englischen D r a m a seit dem Mittelalter zugrunde lag und sich i n vielfältiger Weise i n seiner Struktur niederschlug. Was i h m jedoch nicht gelang, ist, dem Untertitel seiner Studie, The Shape of the Elizabethan Play , gerecht zu werden 6 oder — spezifischer i n Hinsicht auf Curtius* Behauptung — ein Werk nachzuweisen, i n dem G o t t die Menschheitsgeschichte tatsächlich als Theater inszeniert. I n seinem sehr aufschlußreichen K a p i t e l über »Encompassing Actions« unterscheidet er i n bezug auf das elisabethanische D r a m a vier »spheres of force« oder »spheres of action«, »the sphere of private affairs, the sphere of public affairs, the sphere of w o r l d affairs, and the sphere of spiritual affairs«, wobei die jeweils folgende die vorhergehende umgreift 7 . Was dabei unberücksichtigt bleibt — bzw. in den folgenden Ausführungen nur am Rande zur Geltung gelangt — , ist die Sonderstellung, die der alle umfassenden — meist der »sphere of spiritual affairs« — zukommt, soweit sie nicht zu dem inszenierten Spiel gehört, sondern außerhalb des Spieles steht bzw. über ihm. Es ist erst die Stellung Gottes oder der i h n vertretenden Figuren als »spectateur et j u g e , . . . auteur et directeur de théâtre« 8 , die das jeweilige Werk als Dramatisierung der Welttheatermetapher i m Sinne v o n Curtius erscheinen läßt. I n der Geschichte des Dramas gibt es allerdings seit der A n t i k e H a n d lungsstrukturen, die als Vorformen einer dramatisierten Welttheatermetapher betrachtet werden können, deren Geschichte ich i n meinem Aufsatz über »Götter, G o t t und Spielleiter« zu skizzieren versuchte 9 . Auch das elisa4

E. R. Curtius, a. a. O., S. 152. Thomas B. Stroup, a. a. O. Der Einwand gegen Curtius S. 211. 6 Siehe hierzu die Besprechung von Hermann Heuer, JDSh (1966), S.253. 7 a.a.O., S. 41. 8 J. Jacquot, a. a. O., S. 347. 9 In Theatrum Mundi : Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart, hg. Franz Link und Günter Niggl (Berlin, 1981), S. 1 - 47. Die Beiträge des Bandes untersuchen insgesamt Formen der dramatisierten Welttheatermetapher. 5

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bethanische D r a m a ist reich an solchen Formen, auf die ich i n dem umfassenderen Rahmen, den ich für meinen Beitrag gewählt hatte, nur i n Andeutungen verweisen konnte. Daraus ergibt sich die Aufgabe, diese zu erweitern u n d zu begründen. Diese Aufgabe stellen sich die folgenden Ausführungen. M i t der Ausnahme v o n Thomas K y d s The Spanish Tragedy u n d Thomas Heywoods The Ages werden sie sich jedoch auf das W e r k Shakespeares beschränken. Die Einbeziehung v o n K y d s Tragödie soll v o r allem die M ö g lichkeit einer Ableitung bestimmter Shakespearescher Handlungsstrukturen aus der Konzeption des Welttheaters i m allgemeinen und dessen V o r f o r men i m antiken D r a m a i m besonderen erhellen, nachdem die Forschung der letzten Jahrzehnte die Bedeutung der einheimischen T r a d i t i o n des mittelalterlichen Schauspiels i n oft einseitiger Weise i n den Vordergrund stellte 1 0 . *

Neben dem unmittelbaren Eingreifen der Götter i n das zwischenmenschliche Geschehen — w i e etwa demjenigen der Athena i n Aischylos' Oresteia — kennt das antike D r a m a bereits die Götter, die auf der Bühne erscheinen, u m das Geschehen unter den Menschen v o n einer höheren Ebene aus zu bestimmen. I n Sophokles' Aias setzt Athena das Spiel i n Gang, das nach ihrem W i l l e n verlaufen w i r d . Götter führen bei Euripides — i n dessen Ion, Hip poly tos y Troades u n d Backchai — das Spiel ein u n d fordern — so i m Hippolyts y i n den Troades u n d i n den Backchai — Bestrafung für versäumte Opfer. I n seiner Hekabe erscheint anstelle einer Gottheit der Geist des ermordeten Polydor als Sprecher des Prologs. Seneca greift die T r a d i t i o n der griechischen Tragödie auf u n d entwickelt sie weiter, wenn er i m Vorspiel zu seinem Thyestes die Furie den Geist des Tantalos aufhetzen läßt, seine Enkel ins Verderben zu führen, u n d i n seinem Agamemno Thyestes' Geist — hier als Sprecher des Prologs — die gleiche F u n k t i o n überträgt. I n dem v o n der Furie angestachelten Geist des Tantalos u n d i m Geist des Thyestes vereinigt Seneca damit die Rolle, die der Geist des Polydor als einfacher Prologsprecher übernommen hatte, m i t derjenigen der auf Rache oder Bestrafung sinnenden Götter. Diese i m Thyestes u n d Agamemno vorgebildete Konstellation erscheint nun i n abgewandelter Form i n K y d s The Spanish Tragedy wieder, wobei durchaus die T r a d i t i o n des Volkstheaters oder der »metrical tragedies« ihre Einführung erleichtert haben mag 1 1 . A n die Stelle 10 So Thomas B. Stroup, a. a. Ο., Anne Righter, a. a. Ο.; in Abhängigkeit von den »metrical tragedies« des Mittelalters Howard Baker, Induction to Tragedy (New York, 1939). 11 I n dem die Forschung zusammenfassenden Shakespeare-Handbuch (hg. Ina Schabert, Stuttgart, 1972) wird Thyestes noch als direktes Vorbild betrachtet (S. 62). Howard Baker dagegen sieht das Vorbild allein in den »metrical tragedies« (α. α. Ο. Repr. von 1965, S. 108 - 118). Umsichtiger spricht Η . Β. Charlton von »a sufficiently

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von Tantalos bzw. Thyestes t r i t t i n The Spanish Tragedy der Geist von D o n Andrea, dem ermordeten Geliebten Belimperias, u n d an die Stelle der zur Rache auffordernden Furie t r i t t die allegorische Figur der »Revenge«. Der Geist D o n Andreas und Revenge übernehmen i n The Spanish Tragedy nicht nur die F u n k t i o n v o n Prolog u n d Chorus zu Beginn des Spieles u n d zwischen den A k t e n , sondern agieren als Zuschauer bzw. Lenker des Spieles. Here sit we down to see the mystery, And serve for Chorus in this tragedy (I, 90 f.) 1 2 heißt es am Ende des Prologs. D o n Andrea w i r d als Zuschauer Zeuge der Rache, die Belimperia für i h n durchführt; Revenge ist nur die allegorische Personifikation der i m Spiel wirksamen Rache. K y d realisiert damit eines der Grundelemente der dramatisierten Welttheatermetapher, insofern er das irdische Geschehen als Theater für eine jenseits v o n deren Wirklichkeit angesiedelte Instanz spielen läßt. Diese über dem Spiel stehende Instanz inszeniert das Geschehen auf der Bühne der Welt, insofern Revenge es lenkt, um D o n Andrea Genugtuung zu schaffen. Kyds The Spanish Tragedy dürfte damit das anschaulichste Beispiel für die A n v e r w a n d l u n g der als Prolog bei Seneca fungierenden übernatürlichen Instanz i m elisabethanischen D r a m a sein. K y d liefert hierzu jedoch noch ein weiteres Beispiel, wenn w i r i h n als A u t o r des Ur-Hamlet betrachten dürfen 1 3 . D a uns der Text des Ur-Hamlet nicht überliefert ist, wissen w i r sehr wenig über ihn. Z u dem wenigen jedoch, das w i r m i t Sicherheit wissen, gehört, daß der Geist des ermordeten Vaters H a m l e t zur Rache aufruft. »Hamlet, revenge« w a r zur M i t t e der 1590er Jahre zu einem geflügelten W o r t geworden. K y d wäre damit i m Ur-Hamlet i n der Ausgestaltung der Funktion des Geistes weiter gegangen als i n seiner Spanish Tragedy, insofern er zwischen den beiden Spielebenen eine K o m m u n i k a t i o n stattfinden läßt. Es darf jedoch angenommen werden, daß sich diese auf die Auftragserteilung am Anfang des Stückes — ähnlich derjenigen i n Sophokles* Aias — beschränkt, w i r d sie doch i n The Spanish Tragedy, die — wie H a r o l d Jensuitable amalgam of Seneca and popular tradition«, in The Senecan Tradition in Renaissance Tragedy (Manchester [1921] 1946), S. 143 f. A. Righter sieht das Vorbild für den Geist Don Andreas in der Figur des Oseas in Robert Greenes A Looking Glass for London and England (a. a. O., S. 77 f.). Siehe ferner F. W. Moorman, »The Pre-Shakespearean Ghost«, MLR, Bd. 1 (1906), S. 25 - 95, bes. 86 u. 91. 12 Zit. nach Minor Elizabethan Drama, Vol. I, Pre-Shakespearean Tragedies, hg. Ashley Thorndyke (London, 1958), (Everyman's Library, 491). 13 Siehe hierzu Harold Jenkins in seiner Ausgabe des Hamlet in der Arden Edition of the Works of William Shakespeare (London, New York, 1982), S. 82 85.

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kins i n überzeugender Weise darstellt — nach dem V o r b i l d des Ur-Hamlet entstand, wieder fallengelassen u n d keineswegs weiterentwickelt 1 4 . I n bezug auf den Geist i m Ur-Hamlet muß allerdings eingeräumt werden, daß er nicht allein auf das V o r b i l d Senecas zurückverweist. D i e Quelle für die Tragödie, Belleforests Histoires Tragiques , legt das Erscheinen eines solchen bereits nahe. H a r o l d Jenkins erläutert den Sachverhalt m i t Rückgriff auf frühere Forschung: I t is even possible that Belieforest helped to suggest the Ghost; f o r , . . . he twice refers to the shade (ombre) of the murdered man. When Amleth finally dispatches his uncle, he bids him report to his brother in the underworld that his son has avenged him, so that his shade may rest in peace (son ombre s'appaise). From a metaphorical shade to a visible speaking ghost is an immense imaginative leap and one for which Belleforest alone could provide no adequate springboard. But the errand to the underworld is of a kind to gratify the vengeful spirits of Seneca, whose vogue could facilitate the leap; and a tradition once established, a dramatist wishing to bring a ghost on to the stage might well find in Belleforest suggestions for its use15. Z u diesem ist nichts hinzuzufügen. Es gilt nur zu betonen, daß weniger — oder nicht nur — der A u f t r a g an die U n t e r w e l t den Sprung erleichterte, sondern das V o r b i l d Senecas. Jenkins vermerkt besonders, daß v o n einem A u f t r a g an den Geist am Ende v o n Shakespeares Hamlet nicht die Rede ist, w o r a u f w i r noch zurückkommen werden, hält aber einen solchen i m Ur-Hamlet i n Analogie zu The Spanish Tragedy durchaus für möglich 1 6 . *

Es k a n n angenommen werden, daß Shakespeare für seinen Hamlet auf die Vorlage des Ur-Hamlet zurückgreifen konnte, ohne sich selbst an dessen Quelle, Belleforest, orientieren zu müssen. Aus dem Ur-Hamlet konnte er auch bereits das Erscheinen des Geistes übernehmen. Wie dort werden auf diese Weise i m Hamlet zwei Wirklichkeitsebenen angesetzt, eine diesseitige u n d eine jenseitige. D i e H a n d l u n g auf der Ebene der diesseitigen W e l t w i r d durch einen A u f t r a g aus der jenseitigen W e l t i n Gang gebracht. Der Auftraggeber bleibt i n der H a n d l u n g als derjenige gegenwärtig, der auf die Erfüllung seines Auftrags wartet. Das bei Shakespeare gegenüber K y d entscheidend Neue ist, daß die I n stanz auf der übergeordneten Ebene i n Frage gestellt bzw. problematisiert 14 15 16

ebd., S. 97 - 101. ebd., S. 93 f. ebd., S. 94, Anm. 2.

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w i r d . U m nicht die Z a h l der Gesamtinterpretationen der Tragödie noch weiter vermehren zu wollen, beschränken w i r uns darauf, auf einige Stellen zu verweisen, i n denen die übergeordnete Instanz, d. h. die A u t o r i t ä t des Geistes, problematisiert w i r d . Gleich bei dem ersten Erwähnen des Geistes (1,1) ist davon die Rede, daß H o r a t i o nicht an Geister glaubt: Horatio says 'tis but our fantasy, And w i l l not let belief take hold of him, Touching this dreaded sight twice seen of us. (1,1, 26 - 28) 17 H o r a t i o läßt sich durch die Begegnung m i t dem Geist überzeugen, Barnardo fragt i h n zu Recht: Is not this something more than fantasy? (1,1, 57) Barnardos Frage erinnert an H i p p o l y t a s A n t w o r t auf Theseus' Aussage i n A Midsummer-Night's Dream, daß die Erzählung der Liebenden nur »shaping fantasies« gewesen seien: But all the story o f the night told over, And all their minds transfigured so together, More witnesseth than fancy's images. (V, 1, 23 - 25) 18 Doch i m Hamlet Geist handelt.

bleibt offen, ob es sich u m einen guten oder einen bösen Be thou a spirit of health or goblin damn'd, Bring with thee airs from heaven or blasts from hell, Be thy intents wicked or charitable (I, 4, 40 - 42)

spricht H a m l e t i h n bei seiner ersten Begegnung m i t i h m an. Selbst wenn H a m l e t den K ö n i g durch das Spiel i m Spiel auf die Probe stellt, u m zu erfahren, ob der Geist i h m die Wahrheit gesagt habe, bleibt für i h n offen, ob H i m m e l oder H ö l l e jenen gesandt haben. Er weiß sich »Prompted to [his] revenge b y heaven and hell« ( I I , 2, 580). Der Geist erscheint allerdings nicht nur als derjenige, der H a m l e t seine Rolle zuweist. Bereits i n der 1. Szene kommentiert H o r a t i o sein Erscheinen: This bodes some strange eruption to our state. (I, 1, 72) Die Geschicke des Staates — nach Stroup die »public affairs« — stehen demnach gewissermaßen unter seiner K o n t r o l l e . Für H a m l e t w i r d der A u f trag zur Rache nicht nur zu einer »private affair«, sondern zu einer solchen seiner Zeit, der » w o r l d affairs«, wenn er seine Rede am Ende des 1. Aktes m i t den W o r t e n beschließt: 17 18

Hier und im folgenden nach der oben genannten Ausgabe zitiert. Zit. nach NCE, A Midsummer-Night's Dream (Cambridge, 1924).

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The time is' out of joint. Ο cursed spite, That ever I was born to set it right. (I, 5,196 f.) I n diesem umfassenden Sinne sieht er die Rolle, die i h m durch den Geist z u spielen aufgetragen wurde. E i n besonderes M e r k m a l des Geistes i m Hamlet ist, daß sichtbar v o r i h m erscheint, sondern auch v o r seinem inneren bevor i h m H o r a t i o v o n dem Erscheinen des Geistes berichten er, i h n zu sehen: M y father - methinks I see my father Hor. Where, my lord? Ham. I n my mind's eye, Horatio.

er nicht nur Auge. N o c h kann, glaubt

(I, 2,184 f.)

D i e übernatürliche Ebene der Geistererscheinung spiegelt sich damit auf der psychischen Ebene. Dies braucht nicht i n dem modernen psychologischen Sinne verstanden zu werden, läßt sich aber i n diesem erklären. Es ist dies die Ebene, auf der auch der » ombre« i n Belief orests Wiedergabe der H a m let-Geschichte erscheint u n d die auch bereits i m Ur-Hamlet m i t vorgegeben gewesen sein könnte. Es handelt sich dabei u m Vorahnungen, die das Verhalten Hamlets i n der ganzen 2. Szene des 1. Aktes bereits bestimmen. D i e Frage, ob es sich u m einen guten oder bösen Geist handle, wäre dahingehend zu präzisieren, ob er v o m H i m m e l oder der H ö l l e gesandt sei, denn die Seele v o n Hamlets Vater leidet unter der Schuld seiner Sünden i m Fegefeuer. Er w a r ermordet worden With all his crimes broad blown, as flush as May. ( I l l , 3, 81) D a ß er als Sünder leidet, charakterisiert i h n natürlich nicht als v o n der H ö l l e gesandt. Doch H a m l e t weiß, daß er selbst als Sohn seines Vaters u n d seiner ehebrecherischen M u t t e r an der »frailty« (nicht der Frauen, sondern seines Stammes) teilhat. I m Spiel i m Spiel w a r n t der Player K i n g : What to ourselves in passion we propose, The passion ending, doth the purpose lose. ( I l l , 2,189 f.) Es ist »passion«, m i t der H a m l e t nun i n den restlichen Szenen des Aktes seine Rache verfolgt u n d Polonius tötet. A m Ende w i r d er schließlich i n dem gleichen A k t , i n dem er seinen Vater rächt, Opfer v o n Laertes' Rache für Polonius. I m Welttheater Calderóns hat der Mensch die Wahl, die i h m zugeteilte Rolle anzunehmen oder sich ihr zu verweigern. Entsprechend w i r d er am Ende gerichtet. I m Hamlet finden w i r die die Rolle zuweisende Instanz wieder i m Geist v o n Hamlets Vater, den Menschen, dem eine bestimmte Rolle zugewiesen w i r d , i n H a m l e t selbst. Doch sowohl die Instanz, die die

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Rolle zuteilt, als auch die Rolle selbst werden problematisiert. Diese Problematisierung führt nicht allein zur Verzögerung der Rache u n d der N o t wendigkeit der Probe i m Spiel i m Spiel, sondern bedingt auch die Meditationen Hamlets über das i n der Spannung zwischen H i m m e l u n d Erde stehende Wesen des Menschen i n den Monologen. D a r i n zeigt sich einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Hamlet u n d The Spanish Tragedy oder — wie w i r annehmen dürfen — dem Ur-Hamlet. I n unserer bisherigen Interpretation folgten w i r weitgehend den Ausführungen H a r o l d Jenkins'. W i r folgen ihnen auch i n bezug auf den letzten A k t . H a m l e t erkennt jetzt . . . a divinity that shapes our ends, Rough-hew them how we w i l l — (V, 2,10 f.). » I t is a destiny he appears n o w to accept . . . , « heißt es hierzu bei Jenkins. »For he n o w perceives i n the universe, embracing a l l its apparent good and evil, a supreme i f mysterious design.« 19 Jetzt ist er bereit, seine Rolle anzunehmen. D a m i t beugt er sich aber einer Instanz, die jenseits derjenigen des Geistes seines Vaters angesiedelt ist. Es bedarf dementsprechend am Schluß keiner Bestätigung, daß dessen A u f t r a g erfüllt ist. Anstelle dessen steht das Gebet Horatios: And flights of angels sing thee to thy rest. (V, 2, 365) Bisher sprachen w i r v o n der Instanz des Geistes, die H a m l e t die Rolle seines Rächers abfordert. Diese jenseitige Instanz steht jedoch i n K o n k u r renz zu der diesseitigen des Königs. I n paradigmatischer Weise t r i t t Claudius als Verteiler der Rollen gleich i n der Kronratsszene i m 1. A k t auf. Er erteilt Voltemand u n d Cornelius ihren A u f t r a g als Botschaftern u n d gew ä h r t Laertes die Bitte, sich z u m Studium nach Paris begeben zu dürfen. N u r H a m l e t verweigert sich der i h m v o n Claudius zugedachten Rolle. Deutlich w i r d i n der gleichen Szene der Kontrast, den H a m l e t zwischen seinem Vater u n d Claudius sieht. Während er i m Vater einen H y p e r i o n sieht, erscheint Claudius i h m als Satyr ( I , 2,140). Alles Böse scheint sich i h m i n diesem, alles Gute dagegen i m Vater z u vereinigen. Doch w i r sahen schon, wie er den Geist des Vaters i n Frage z u stellen sich genötigt sah. Er muß aber audi seine eigene Reinheit i n Frage stellen, u n d an einer entscheidenden Stelle identifiziert er sich unbewußt m i t Claudius. I n dem Gonzago-Stück, das den M o r d an seinem Vater i n fremdem Gewände spielen soll, w i r d nach dem Kommentar Hamlets nicht der Bruder z u m Mörder, sondern der Neffe (111,2,239); d . h . , H a m l e t , der Neffe des Königs, identifiziert sich m i t die19 a. a. O., S. 157. Der noch in Frage gestellte Geist kann daher nicht als »the voice of God« betrachtet werden, wie Stroup es sieht (a. a. O., S. 19).

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sem als Mörder seines Bruders. I m Spiel der v o n Claudius verteilten Rollen w i r d er verantwortlich für den T o d des Polonius, den Laertes an i h m rächt, wie er den T o d seines Vaters an Claudius rächt. Jede Instanz fordert damit ihr Recht u n d erweist sich der durch H o r a t i o am Schluß angesprochenen als untergeordnet. I n gewissem Sinne ließe sich dabei sagen, daß die weltliche A u t o r i t ä t die Rolle des Teufels als Gegenspieler i m Welttheaterspiel übernähme. Entscheidend für den Geist der Zeit, den Shakespeare anders als K y d zur Anschauung zu bringen vermag, ist jedoch, daß das erwachende menschliche Selbstbewußtsein i n die Auseinandersetzung zwischen diesseitiger und jenseitiger Instanz gestellt ist, bzw. die übergeordnete Instanz i n Frage gestellt w i r d . Neben dem Schema des Spiels zwischen den beiden Ebenen einer diesseitigen u n d einer jenseitigen Wirklichkeit kennt das elisabethanische D r a m a eine Reihe weiterer Schemata des Spiels auf verschiedenen Ebenen, auf die w i r i n unserem oben genannten Beitrag bereits verwiesen. Für die Werke Shakespeares, die w i r unter dem Aspekt der dramatisierten Welttheatermetapher hier betrachten wollen, gewinnt das Spiel i m Spiel eine besondere Bedeutung. Das Spiel i m Spiel spiegelt i n einem gewissen Sinne noch einmal die zwei Ebenen, v o n denen bisher die Rede war. Zunächst erscheint hierzu wieder eine Instanz, nämlich H a m l e t , die ein Geschehen, nämlich ein fiktives Geschehen, inszeniert, und die gleichzeitig — u n d zwar zusammen m i t dem H o f e — Zuschauer und Beurteiler dieses inszenierten Geschehens w i r d . Das fiktive Spiel i m Spiel bzw. die Reaktion des Königs auf das Spiel w i r d darüber hinaus zum I n d i z , das über die Richtigkeit der Aussage des Geistes entscheiden soll. D . h. aber, daß die Kunst des Schauspielers bzw. dessen, der diesem den Text liefert, zu einer Instanz w i r d , die i n Analogie oder i n K o n kurrenz zu der jenseitigen Instanz steht. D a z u gehört auch, daß H a m l e t den Schauspieler zunächst allein dazu fähig hält, das auszudrücken, was i h n bewegt bzw. bewegen sollte: What would he do Had he the motive and the cue for passion That I have? He would drown the stage with tears, And cleave the general ear with horrid speech, Make mad the guilty and appal the free, Confound the ignorant, and amaze indeed The very faculties of eyes and ears. (II, 2, 554 - 560) D i e Kunst vermag die Augen für eine Wirklichkeit zu öffnen, die uns i n der Befangenheit i n unserer diesseitigen Wirklichkeit verschlossen bleibt u n d erst i m »mirror« des Spiels vor Augen t r i t t ( I I I , 3, 22). Das Spiel i m Spiel w a r vor Shakespeare bereits auf der elisabethanischen Bühne Brauch. Auch K y d s The Spanish Tragedy bediente sich seiner und sogar i n der besonderen Form, 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 25. Bd.

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daß das Spiel zur Wirklichkeit w i r d . Das Besondere des Spiels i m Spiel i m Hamlet liegt jedoch, wie gesagt, darin, daß i n i h m der Schauspieler bzw. A u t o r des Stücks i n Konkurrenz zur »sphere of spiritual affairs« t r i t t .

Für Goethe sind die Geister i n Shakespeare nur Truggestalten, die keine Hauptingredienzien seiner Werke darstellen. I n seinem Aufsatz »Shakespeare und kein Ende« heißt es: Das Interesse, welches Shakespeares großen Geist belebt, liegt innerhalb der Welt: denn wenn auch Wahrsagung und Wahnsinn, Träume und Ahnungen, Wunderzeichen, Feen und Gnomen, Gespenster, Unholde und Zauberer ein magisches Element bilden, das zur rechten Zeit seine Dichtungen durchschwebt, so sind doch jene Truggestalten keineswegs Hauptingredienzien seiner Werke, sondern die Wahrheit und Tüchtigkeit seines Lebens ist die große Base, worauf sie ruhen. 20 Wenn er Shakespeare m i t den »Alten u n d Neusten« vergleicht, das H a n deln bei den A l t e n durch das Sollen, bei den Neusten durch das W o l l e n bestimmt sieht, so findet er bei dem englischen Dichter beides i n glücklicher Weise verbunden. Z u dem inneren K o n f l i k t zwischen Sollen u n d W o l l e n sieht er nun aber einen äußeren hinzukommen, und er erhitzt sich öfters dadurch, daß ein unzulängliches Wollen durch Veranlassungen zum äußerlichen Sollen erhöht wird. Diese Maxime habe ich früher an Hamlet nachgewiesen; sie wiederholt sich aber bei Shakespeare; denn wie Hamlet durch den Geist, so kommt Macbeth durch Hexen, Hekate und die Überhexe, sein Weib, Brutus durch die Freunde in die Klemme, der sie nicht gewachsen sind. 21 I m Hamlet wie i m Macbeth w i r d i n diesem äußeren K o n f l i k t das Sollen durch eine übernatürliche Instanz vertreten, i m Hamlet durch den Geist, i m Macbeth durch die » W e i r d Sisters«. A u f die Basis unserer Argumentation umgesetzt, w i r d i m Hamlet durch den Geist ein Sollen i m Sinne Goethes postuliert, das H a m l e t seinem W o l l e n anzueignen lernen muß. I m Macbeth jedoch findet das W o l l e n des Titelhelden i n den Weissagungen der Hexen als scheinbares Sollen seine Selbstrechtfertigung. D e m umgekehrten Verhältnis zwischen ergeht v o n den H e x e n i m Macbeth nicht ein Auftrag, sondern erfolgt durch sie eine »my black and deep desires« ( I , 4, 51) 2 2 , 20

Sollen u n d W o l l e n entsprechend, wie durch den Geist i m Hamlet Versuchung, das geheime Wollen, als Sollen bestätigt zu sehen. D i e

Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. Ernst Beutler, Bd. 14. Schriften zur Literatur (Zürich, 1950), S. 759. 21 ebd., S. 762 f. 22 Hier wie im folgenden zitiert nach NCE, Macbeth (Cambridge, 21951).

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Versuchung, der Macbeth durch die Hexen ausgesetzt ist, besteht i n dem Versprechen, daß er K ö n i g v o n Schottland werde. I n beiden Tragödien w i r d die übernatürliche Instanz hinterfragt. Es w i r d danach gefragt, ob sie die Wahrheit sage. H a m l e t erfährt die Wahrheit durch die Probe des Spiels i m Spiel. Für Macbeth erfüllen sich die ursprünglichen Prophezeiungen, erweisen sie sich als Wahrheit. So vertraut er denn auch den Versicherungen der Hexen, die i h n m i t ihrem Spiel i m Spiel, den Schaubildern i n I V , 1, i n eine falsche Sicherheit zu versetzen versuchen. Wie i m Hamlet ist i m Macbeth die Frage, ob die übernatürliche Erscheinung gut oder böse sei, v o n der Frage, ob sie die Wahrheit sage, z u trennen. Auch i m Macbeth hat sie zunächst zwielichtigen Charakter. Symptomatisch steht dafür bereits das »Fair is foul, and foul is fair« (1,1,11) der Hexen. Macbeth wägt ab: This supernatural soliciting Cannot be i l l ; cannot be good. (I, 3,130 f.) Dabei w i r d allerdings auch die i n der Forschung mehrfach untersuchte Frage v o n Bedeutung, ob es sich bei den » w e i r d sisters« nicht nur u m eine A r t v o n N o r n e n handle, die erst durch spätere Hinzufügungen zu » witches« wurden. Doch ist sich Macbeth durchaus bewußt, daß er sich dem Bösen verschreibt, wenn er sich durch sie versuchen läßt. L a d y Macbeth spricht schon zuvor die Geister, »that tend on m o r t a l thoughts«, an ( I , 5, 40), daß sie ihr helfen mögen, die Verheißungen zu verwirklichen. M i t dem »We'ld j u m p the life to come« i n seinem M o n o l o g i n I , 7, 7 ist Macbeth bereit, ewige Verdammung auf sich zu nehmen, wenn er die Konsequenzen seines Mordes i n diesem Leben aufzuhalten vermöchte. Macduff verweist i h n i m letzten A k t auf die Instanz, die i h n über die Täuschung, der er erlegen war, aufzuklären vermag: Despair thy charm, And let the angel whom thou still hast served Tell thee,... (V, 8,13 - 15) D e r Engel, den Macduff hier meint, ist Satan 2 3 . Wie i m Hamlet bedarf es i m Macbeth am Ende nicht noch einmal eines A u f t r i t t s der übernatürlichen Instanz. I n beiden Fällen w i r d jedoch auf sie verwiesen, m i t den guten Engeln, die H o r a t i o anspricht, m i t dem gefallenen Engel, auf den Macduff Macbeth verweist, jedesmal aber auf eine noch höhere Instanz anspielend. I m Hamlet ist der K o n f l i k t zwischen den beiden Instanzen bzw. z w i schen Sollen und W o l l e n geprägt durch das Zögern Hamlets. Hamlets W o l 23 Nach der Anmerkung in der oben genannten Ausgabe kann mit Verweis auf das Sonett 144 es audi jeder Abgesandte des Teufels sein, was für unsere Interpretation aber ohne Bedeutung bleiben würde.

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len muß gewissermaßen erst reifen, u m dem Sollen gerecht werden zu können. Er muß i n die i h m aufgetragene Rolle erst hineinwachsen. U n t e r dem umgekehrten Vorzeichen der Versuchung steht i m Macbeth anstelle des Zögerns das vorwegnehmende Handeln. Macbeth ist nicht bereit abzuwarten, daß die Prophezeiungen sich erfüllen. Er erzwingt ihre Erfüllung durch seinen M o r d an Duncan. D i e Versuchung des Teufels besteht gewissermaßen darin, daß der Protagonist sein W o l l e n an die Stelle des Sollens setzt, das W o l l e n zu einem Sollen i m Sinne der Verneinung w i r d . Macbeth glaubte, seine Zeit auf Erden m i t seinem W o l l e n bestimmen und damit sein Wollen an die Stelle des Sollens setzen zu können. Doch er muß am Ende — i n seinem letzten M o n o l o g — die Vergeblichkeit seines Unterfangens erkennen. Die Zeit ist ihren vorgeschriebenen Gang gelaufen. To-morrow, and to-morrow, and to-morrow, Creeps in this petty pace from day to day, To the last syllable of recorded time; And all our yesterdays have lighted fools The way to dusty death. (V, 5, 19-23) Aus der Perspektive des scheiternden Macbeth erfährt dann die Metapher des Lebens als Spiel auf der Bühne der W e l t ihre w o h l pessimistischste A b w a n d l u n g bei Shakespeare: Life's but a walking shadow, a poor player That struts and frets his hour upon the stage, And then is heard no more: it is a tale Told by an idiot, full of sound and fury, Signifying nothing. (V, 5, 24 - 28) Macbeth erkennt sich als Menschen, dem aufgetragen ist, nur eine Rolle zu spielen. Er hat eine Rolle usurpiert, die i h m nicht zustand. Das Spiel des Lebens verliert damit für i h n seinen Sinn. Der Gebrauch der Metapher i m Spiel spiegelt hier noch einmal das Spiel als nach der Metapher sich v o l l ziehend. *

A u f andere Weise als i m Hamlet und i m Macbeth steht i n The Tempest das Geschehen unter dem Einfluß eines übergeordneten Wirklichkeitsbereiches. Prospero hat durch einen Zauber die Macht, es zu leiten bzw. i n es einzugreifen. Der i n der 1. Szene dargestellte Untergang des Schiffes w i r d gleich i n der 2. Szene als Zauber enthüllt. Miranda, der das Unglück, das sie m i t ansah, zu Herzen ging, bittet ihren Vater: I f by your art — my dearest father — you have Put the wild waters in this roar — allay them. (I, 2,1 f.) 2 4 24

Hier wie im folgenden zitiert nach NC Ε, The Tempest (Cambridge, 1921).

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Sie selbst möchte anders gehandelt haben: Had I been any god of power, I would Have sunk the sea within the earth . . . (I, 2, 10 f.). Prospero bekennt sich zu dem Zauber. M i t dieser Kunst übt er göttliche bzw. den Göttern vergleichbare Macht aus. Er t u t dies m i t H i l f e Ariels, eines Geistes, der i n seinem Bericht über sein W i r k e n auf dem Schiff selbst seine Macht m i t derjenigen Jupiters und Neptuns vergleicht ( I , 2, 201 u. 204). I n der späten Romanze geht es nicht mehr u m Rache. Prospero lenkt das Geschehen zu einem glücklichen Ende. Er verzeiht denen, die i h m Unrecht getan haben. M i t H i l f e seines Zaubers führt er Ferdinand u n d M i r a n d a zusammen u n d läßt A r i e l Alonso u n d seine Begleitung zu seiner H ö h l e geleiten, w o alsdann die Versöhnung stattfindet. Prospero beherrscht als Zauberer aber nicht nur das Geschehen auf seiner Insel, er inszeniert audi das Spiel i m Spiel. Über der Szene stehend (»Prosper on the top, invisible«, I I I , 3) inszeniert er für die Gestrandeten ein Bankett und läßt, bevor diese sich zu i h m niederlassen können, A r i e l als H a r p i e sie erschrecken. Das Schlaraffenland, das Gonzalo sich i n 1 1 , 1 , 1 4 2 - 166 erträumt u n d das sich i n dem Bankett zu erfüllen scheint, w i r d als Illusion enthüllt, da trotz des Zaubers das Böse, vertreten durch Sebastian u n d A n tonio, bleibt. Für Ferdinand u n d M i r a n d a inszeniert Prospero i m 4. A k t das Maskenspiel der Ceres. Doch er muß das Spiel abbrechen, da Caliban m i t Stephano und Trinculo den Aufstand erprobt. U n d n o d i ein drittes M a l zeigt sich Prospero als Regisseur, wenn er i m letzten A k t den Vorhang v o n seiner H ö h l e zieht, i n der er Alonso u n d seine Begleiter das Liebespaar beim Schachspiel sehen läßt. Er enthüllt als Schaubild, was er durch seinen Zauber zustande gebracht hat. Für M i r a n d a enthüllt sich gleichzeitig i m Angesicht derer, die nun v o r sie treten, eine neue W e l t : O, wonder! How many goodly creatures are there here ! How beauteous mankind is! Ο brave new world, That has such people in't! (V, 1, 182 - 185) Prospero muß ihr Erstaunen dämpfen, wenn er dem hinzufügt: »'Tis new to thee.« M i t seinem Zauber vermag er das Schlaraffenland vorzugaukeln, das sich Gonzalo erträumt. Angesichts des Bösen erweist es sich als Illusion. M i t dem Ceres-Spiel versetzt er die Liebenden i n ein Paradies. Ferdinand kommentiert: Let me live here ever — So rare a wondred father and a wise Makes this place Paradise. (IV, 1, 122 - 124)

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Dieses Paradies w i r d jedoch durch Caliban bedroht. Was Prospero den Liebenden als Paradies vorführte, vergleicht er m i t dem Leben schlechthin. Das Leben erscheint an dieser Stelle nun z w a r nicht als Schauspiel, doch i n einer m i t der des Welttheaters konkurrierenden Metapher, die i n gleicher Weise neben ihr bei Calderón später auftauchen sollte, der Metapher des Lebens als T r a u m 2 5 . Insofern die Handelnden i n diesem T r a u m als »actors« angesprochen sind, w i r d die Welttheatermetapher sogar i n die Traummetapher einbezogen: These our actors, As I foretold you, were all spirits, and Are melted into air, into thin air, And, like the baseless fabric of this vision, The cloud-capped towers, the gorgeous palaces, The solemn temples, the great globe itself, Yea, all which it inherit, shall dissolve, And, like this insubstantial pageant faded, Leave not a rack behind. We are such stuff As dreams are made on; and our little life Is rounded with a sleep. (IV, 1, 148 - 158) Der Theatercharakter v o n Prosperos Zauber zeigt sich jedoch nicht nur darin, daß er Spiele i n seinem Zauberspiel inszeniert. Das Zauberspiel selbst enthüllt sich als Theater, wenn seine H a n d l u n g i n genau der Zeit abläuft, die für das Spiel gebraucht w i r d . Gegenüber den langen Zeitabläufen, die i n anderen Schauspielen Shakespeares dargestellt werden, f ä l l t es auf, daß i n The Tempest gespielte Zeit und Spielzeit identisch sind 2 6 . I m Spiel selbst w i r d aber auf diesen Umstand selbst verwiesen. Prospero fragt am A n f a n g des 5. Aktes A r i e l nach der Zeit. Es ist die 6. Stunde, u n d das heißt soviel, daß drei Stunden seit Beginn des Geschehens verflossen sind. Alonso spricht i m gleichen A k t v o n »three hours since / [ w e ] Were wracked u p o n this shore« ( V , 1,137 f.) u n d erwähnt kurz darauf noch einmal die Zeit, als er Ferdinand m i t M i r a n d a verbunden sieht: »Your eld'est acquaintance cannot be three hours« ( V , 1,187). Z w e i bis drei Stunden sind die Zeit, die es zu einer A u f f ü h r u n g eines Shakespeareschen Stückes bedurfte, u n d drei Stunden dürfen w o h l für The Tempest beim Ausspielen der Spiele i m Spiel angesetzt werden. 25 Vgl. Frank J. Warnke, »The World as Theatre: Baroque Variations on a Traditional Topos«, in Festschrift für Edgar Mertner , hg. B. Fabian und U. Suerbaum (München, 1969), S. 185-200. Dort heißt es S. 199: »For Calderón, as for Shakespeare, >dream< and >theatre< almost always imply each other.« Anne Righter sieht hierin den Endpunkt, den die Entwicklung der Theatermetapher bei Shakespeare erreicht, insofern Bühne und Welt identisch werden (a. a. O., S. 203). 26 Vgl. Franz H . Link, Dramaturgie der Zeit (Freiburg i. Br., 1977), insbes. S. 46.

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Eine besondere Ausformung der Theatermetapher rundet schließlich das Spiel i n dem v o n Prospero gesprochenen Epilog ab: Now my charms are all o'erthrown, And what strength I have's mine own, Which is most faint: now, 'tis true, I must be here confined by you, Or sent to Naples. Let me not, Since I have my dukedom got, And pardoned the deceiver, dwell I n this bare island by your spell. But release me from my bands With the help of your good hands : Gentle breath of yours my sails Must fill, or else my project fails, Which was to please : Now I want Spirits to enforce . . . art to enchant — And my ending is despair, Unless I be reliev'd by prayer, Which pierces so, that it assaults Mercy itself, and frees all faults As you from crimes would pardoned be, Let your indulgence set me free. D i e Diskussion über diesen Epilog ist i n der Vergangenheit zu sehr v o n der Frage überschattet worden, inwieweit Shakespeare m i t diesen Zeilen A b schied v o n seiner Laufbahn als Bühnenautor u n d Schauspieler n i m m t . Als solcher verstanden, ergeben die Zeilen durchaus einen trefflichen Sinn. Seine Kunst w a r der Zauber, m i t dem er die W e l t auf die Bühne zu bannen vermochte. D a m i t würde sich der Sinn der Zeilen jedoch nicht erschöpfen. I m Epilog verabschieden sich Prospero u n d der Schauspieler, der i h n darstellt. Wie Prospero die Insel verläßt, so der Schauspieler die Bühne. D i e Welt, für die die Insel stand, w i r d als Bühne enthüllt, der auf ihr Agierende als Schauspieler. D a m i t w i r d noch einmal am Schluß der Romanze die Welttheatermetapher wirksam. I n ihr w i r d nun aber noch eine zusätzliche Instanz angerufen, nämlich das Publikum. Das P u b l i k u m w i r d aufgefordert, den Schauspieler durch seinen Beifall zu entlassen. Es n i m m t aber damit auch eine dem G o t t als Lenker des Spiels analoge Stellung ein. Das Gebet des Zuschauers u m »mercy« für den A k t e u r des Geschehens u n d seine »indulgence« treten ein für die Bewertung des Handelns i m Sinne der E r f ü l l u n g seiner Rolle, die i h m v o n einer höheren Instanz zugewiesen war. D e r Gnade bedarf es dabei, da der Versuch, der Rolle gerecht zu werden, sich immer wieder als gefährlich erwies.

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Eine Schematisierung v o n D a v i d M . Bevington 2 7 aufnehmend, sieht D a v i d P. Y o u n g i n seiner Studie zu A Midsummer-Night's Dream die Handlungsstruktur der Shakespeareschen Komödie bereits i n den Moralitäten u n d »Pastoral Romances« vorgegeben. D e m Schema fall from grace / temporary prosperity of evil I divine reconciliation i n der M o r a l i t ä t u n d separation / wandering / reunion i n der Romanze entspricht i n der »Pastoral Romance« das Schema society / wilderness / an improved society.28 D i e Bedeutung, die dabei der Wildnis z u k o m m t , umschreibt Y o u n g wie folgt: In the pastoral romances, it is usually a pseudo-ideal and a temporary haven. I n A Midsummer Night's Dream , as personified in the fairies, it governs most of the action and controls most of the characters, recalling the more powerful forces of disruption at work in the midsection of both morality and romance. 29 Y o u n g bestimmt alsdann die Struktur der Komödie als eine Gliederung i n konzentrische Kreise, i n der der jeweils umfassendere Kreis zu einer besseren Einsicht i n die Problematik des Geschehens gelangt. Youngs Kreise entsprechen dabei i n etwa den »spheres« Stroups. Wichtig für unseren Zusammenhang ist die Tatsache, daß danach der übernatürlichen W e l t der Feen eine übergeordnete F u n k t i o n zukommt, die wie i n The Tempest i n Analogie zu der des Dichters steht, der das Spiel entwirft bzw. inszeniert. Bei Y o u n g heißt es: Oberon and T i t a n i a . . . are not the subjects of Theseus. Their awareness exceeds his, and their world is larger, enveloping his; he is their unconscious subject. Thus we discover another and larger circle, enclosing the first two. 3 0 D a m i t sind bei Y o u n g bereits die wichtigsten Elemente genannt, die die Parallelität zu den bisher interpretierten Schauspielen erkennen lassen, darunter als wichtigstes die Führung der H a n d l u n g durch eine i m Übernatürlichen angesiedelte Instanz. Der auffallendste Unterschied besteht darin, daß die übergeordnete Instanz nicht gleich zu Beginn erscheint. Sie entfaltet zwar ihre eigene D r a m a t i k , greift i n das Geschehen der Menschen aber eher korrigierend denn handlungsfördernd ein. Erst allmählich erweist sie sich als die Macht, v o n der das Geschehen unter den Menschen abhängt. 27

From Mankind to Marlowe (Cambridge, Mass., 1962), S. 190. Something of Great Constancy : The Art of »A Midsummer Night's Dream « (New Haven, 1966), S. 90. 29 ehd. 30 ebd., S. 91. Ähnlich bei Th. B. Stroup, a. a. O., S. 58 f. 28

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Der v o n Y o u n g aufgezeigten konzentrischen Struktur entsprechend, erscheint i n jedem der Kreise eine Figur, die die H a n d l u n g i n Bewegung setzt. Die i n Bewegung gesetzte H a n d l u n g w i r d dabei aber jeweils deutlich als inszeniertes Spiel erkennbar. A m H o f e v o n A t h e n inszeniert Theseus das Spiel m i t H i l f e seines »Master of the Revels« Philostrate. I m Bereich des Waldes übernimmt diese F u n k t i o n Oberon m i t seinem »stage manager« 3 1 Puck. Das Spiel der Handwerker probt Peter Quince m i t seinem Schauspieler·» Star« Bottom. Entscheidend für die Grundstruktur der Komödie ist die Konkurrenz zwischen den Instanzen des Hofes u n d des Waldes. Diese beiden Welten sind i n der bisherigen Forschung unter verschiedenen Aspekten bereits ausführlich miteinander verglichen worden, vor allem unter dem des Kontrastes v o n »reason« und »imagination«. Unter dem Aspekt der das Spiel leitenden Instanz möchten w i r noch auf einen die bekannteren erweiternden Kontrast hinweisen. Die erste Szene der Komödie ist wie die zweite i m Hamlet eine Staatsszene, i n der der Herrscher seine Anweisungen gibt u n d damit auch ein Geschehen i n Bewegung setzt. Theseus setzt den Rahmen für das folgende Geschehen, indem er Philostrate m i t der Vorbereitung der Hochzeitsfeierlichkeiten beauftragt. Er w i r d unmittelbar darauf auch als Richter angesprochen, wenn Egeus v o n i h m verlangt, daß er seine Tochter H e r m i a richte, falls sie seinem Gebot, Demetrius zu heiraten, nicht folge. Theseus versucht nun, H e r m i a m i t einem Bilde zu überzeugen: To you your father should be as a god; One that composed your beauties; yea and one To whom you are but as a form in wax By him imprinted, and within his power To leave the figure or disfigure it. (I, 1, 47 - 51 ) 8 2 Shakespeare bedient sich i n diesen Zeilen eines geläufigen Topos, demzufolge G o t t dem Menschen sein Bildnis aufprägt, sei es i m Bilde der Prägung einer Münze oder des Eindrückens eines Stempels i n Wachs 33 . Entscheidend i n unserem Zusammenhang ist, daß hier der Vater als Instanz angesprochen ist, diese Instanz aber als die eines Gottes gesehen w i r d . Egeus u n d — v o n i h m als Richter angerufen u n d i h m übergeordnet — Theseus handeln gewissermaßen als eine der göttlichen gleichzusetzende Instanz. Wie der T r a u m steht der Topos v o n dem Einprägen des Bildes i n Analogie zu dem Topos 31

ebd., S. 151. Hier wie im folgenden zitiert nach NCE, A Midsummer-Night's Dream (Cambridge, [1924] 1949). 33 Edward Taylor gebraucht den Topos in seiner 6. Meditation der 1. Serie. Siehe: The Poems of Edward Taylor, hg. Donald E. Stanford (New Haven, 1960), S. 16. 32

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des Welttheaters, insofern G o t t das B i l d prägt, wie er auch die Rolle des Menschen bestimmt. Theseus bzw. Egeus teilen H e r m i a ihre Rolle zu. Doch H e r m i a verweigert sich dieser Rolle. Sie beruft sich dabei auf eine Macht (»power«), die sie selbst nicht näher zu bestimmen vermag. I know not by what power I am made bold. (I, 1, 59) Es ist die gleiche Macht, auf die sich Demetrius beruft, wenn er seinen Gesinnungswandel am Morgen nach der Nacht i m Walde zu rechtfertigen versucht. But, my good lord, I wot not by what power — But by some power it is — my love to Hermia, Melted as the snow. (IV, 1,163 - 165) Es ist eine Macht, die sich der Vernunft (»reason«) entzieht. Sie ist i n den Liebenden wirksam. I h r Bereich w i r d i n der Komödie i m W a l d angesiedelt, ihre Zeit i n der Nacht. Sie steht unter dem Zeichen des Mondes. Es ist die W e l t der Feen, die v o n Oberon u n d T i t a n i a regiert w i r d . Sie ist keine W e l t der reinen Harmonie. Oberon u n d T i t a n i a liegen i m Streit. Doch w i r d durch sie das Geschehen auch der übrigen W e l t bestimmt, wie i n Titanias Worten, m i t denen sie sich gegenüber Oberon verteidigt, deutlich w i r d : . . . with thy brawls thou hast disturbed our sport. Therefore the winds, piping to us in vain, As in revenge, have sucked up from the sea Contagious fogs : which falling in the land, Hath every pelting river made so proud, That they have overborne their continents. And this same progeny of evils comes From our debate, from our dissension : We are their parents and original. (II, 1, 87 - 92,115 - 117) Unmittelbar wirksam w i r d die Macht, die dieser W e l t innewohnt, wenn Oberon T i t a n i a u n d die jungen Athener ihre alte Liebe vergessen läßt. T r o t z des guten Willens, die richtigen Partner zusammenzuführen, kann er fehlgreifen, wenn Puck den falschen verzaubert. A m Ende fügt sich jedoch alles wieder zu einer Harmonie. D e r Streit zwischen Oberon u n d T i t a n i a w i r d beigelegt. H e r m i a u n d Helena finden die ihnen bestimmten Partner. Für die aus dem Schlaf Erwachenden erscheinen die Ereignisse der Nacht wie ein Traum. Entsprechend der Macht, die H e r m i a u n d Demetrius nicht zu definieren wissen, k a n n Bottom, der m i t ihnen i n den Bann geraten w a r , i h n nicht erklären: I have had a most rare vision. I have had a dream — past the wit of man to say what dream it was. Man is but an ass, if he go about to expound this dream ... The eye of man hath not heard, the ear of man hath not seen, man's

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hand is not able to taste, his tongue to conceive, nor his heart to report, what my dream was. (IV, 1, 203 - 214) M i t einer für i h n charakteristischen Verballhornung der Worte aus dem 1. Brief an die K o r i n t h e r (2,9), m i t denen der Apostel Paulus das Mysterium der Weisheit Gottes zu umschreiben versucht, drückt B o t t o m seine Unfähigkeit aus, das zu beschreiben, was er i n der Nacht erlebte. Für Theseus sind die Berichte der Liebenden v o n ihren Erlebnissen i n der Nacht nur . . . shaping fantasies, that apprehend More than cool reason ever comprehends. (V, 1, 5 f.) Für H i p p o l y t a bedeuten sie, wenn sie sie audi nicht zu erklären vermag, mehr.

^^ ^ night t o i d over, story 0f And all their minds transfigured so together, More witnesseth than fancy's images, And grows to something of great constancy... But, howsoever, strange and admirable. (V, 1, 23 - 27)

D a ß letztlich auch die W e l t Theseus', die sich auf »reason« beruft, unter der Macht Obérons steht, erweist sich, wenn dieser m i t seinem Gefolge seinen Beitrag zu den »revels« der Hochzeit einbringt, indem er das Haus segnet u n d die bösen Geister bannt. I n seiner, i n der Forschung immer wieder u n d auch v o n uns schon teilweise zitierten Äußerung über den Bericht der Liebenden vergleicht Theseus deren Imagination m i t der des Dichters u n d des Verrückten: The lunatic, the lover, and the poet Are of imagination all compact. One sees more devils than vast hell can hold; That is, the madman. The lover, all as frantic, Sees Helen's beauty in a brow of Egypt. The poet's eye, in a fine frenzy rolling, Doth glance from heaven to earth, from earth to heaven; And as imagination bodies forth The forms of things unknown, the poet's pen Turns them to shapes, and gives to airy nothing A local habitation and a name. (V, 1, 7 - 17) D i e Imagination der Liebenden hat des »poet pen« zu »shapes« verwandelt u n d dem, was als »power« i n ihnen wirksam w a r , »a local habitation and a name« verliehen. Daraus ergibt sich letztlich, wie w i r dies bereits an The Tempest aufzuzeigen versuchten, eine weitere Spielebene, die des Dichters selbst. Wie i n der Forschung mehrfach hervorgehoben, sieht auch Y o u n g darin einen weiteren Kreis i n der Struktur v o n A Midsummer-Night's Dream , der sich u m den der Feenwelt legt. I n Fortsetzung der oben bereits zitierten Stelle heißt es bei Y o u n g : »Then comes Puck's epilogue, which

Franz Link

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reminds us that everything we have been watching is a play, an event i n a theater w i t h ourselves as audience.« 34 Doch es ist nicht erst Pucks Epilog, der uns dies enthüllt. Der Spielcharakter w i r d bereits i n der 1. Szene nahegelegt; auf i h n w i r d ständig verwiesen. Gleich zu Beginn beauftragt Theseus Philostrate, den »Master of the Revels«, für Unterhaltung bei der Hochzeit zu sorgen: Go, Philostrate, Stir up the Athenian youth to merriments. (I, 1,11 f.) W i r wissen, daß A Midsummer-Night's Dream für eine Hochzeit am königlichen H o f e oder am H o f e eines hohen Adligen v o n Shakespeare geschrieben wurde. Die Komödie ist Shakespeares Beitrag zu den » revels« dieser Hochzeit. Es ist der gelungene Beitrag (Shakespeares) gegenüber dem mißlungenen, den die H a n d w e r k e r als Spiel i m Spiel einzubringen versuchen. Oberon und T i t a n i a leisten den ihren i n ihrem Erscheinen am Ende, wenn sie das Haus u n d die Vermählten segnen u n d die Geister bannen. Sie feiern aber »revels« auch schon i m Walde. V o n Oberon danach befragt, wie lange sie sich i n dem Walde aufhalten werde, antwortet T i t a n i a : Perchance, till after Theseus' wedding-day. I f you w i l l patiently dance in our round, And see our moonlight revels, go with us. (II, 1, 139 - 141) Die »revels« i m Walde stehen allerdings unter einem besonderen Vorzeichen. Z u Beginn v o n I I I , 2, dem H ö h e p u n k t des Spiels i m Walde, fragt Oberon Puck: What night-rule now about this haunted grove? ( I l l , 2, 5) Gegenüber Philostrate, dem »Master of the Revels«, w i r d damit Puck zum »Lord of N i g h t - r u l e « i n Analogie zu dem typischen Spielleiter der K o m ö die, dem »Lord of Mis-rule«. Der »Lord of Night-rule« trägt, wie das Ende der Komödie zeigt, den Sieg davon. Puck selbst sieht das Geschehen i m Walde als »play« u n d »pageant« (111,2,114), sich selbst als »auditor, / A n actor too perhaps« ( I I I , 1, 74 f.). D i e W e l t w i r d damit für die Geister nicht schlechthin zur Bühne, sondern das »wooing« u n d »wedding«, das i n der Shakespeareschen »love comedy« immer wiederkehrende zentrale Geschehen, erscheint i n der F o r m v o n »revels«. Nachzuholen wäre an dieser Stelle nun nur noch eine weitere Parallele, die sich zwischen The Tempest u n d A Midsummer-Night's Dream ergibt. I n The Tempest enthüllt sich der Spielcharakter des Stückes u. a. durch die Festlegung der m i t der Spielzeit identischen gespielten Zeit auf drei Stunden. I n A Midsummer-Night's Dream erscheint nun auch ein Verweis auf drei 34

*.ä.O.,S.91.

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Stunden. Nach dem abendlichen Hochzeitsmahl fragt Theseus seinen »Master of the Revels«: Come now; what masques, what dances shall we have, To wear away this long age of three hours Between our after-supper and bed-time? (V, 1, 32 - 34) M a n entschließt sich, die Handwerker ihr Spiel v o n Pyramus u n d Thisbe aufführen zu lassen. Philostrate betont, es sei so schlecht, daß es trotz seiner Kürze noch zu lang sei. Die Spielzeit des dann folgenden Spiels i m Spiel kann, den abschließenden Tanz eingerechnet, m i t etwa 10 bis 15 M i n u t e n angesetzt werden. I n der gespielten Zeit sind inzwischen drei Stunden verronnen. Dabei handelt es sich aber nicht nur u m eine konventionelle Verkürzung der gespielten Z e i t 3 5 , sondern auch u m einen Hinweis, daß die »masque«, die Shakespeare zu den »revels« der Hochzeit beizutragen vermochte, drei Stunden zur A u f f ü h r u n g i n Anspruch nahm. N i c h t der H a n d werker Pyramus and Thisby, sondern Shakespeares A Midsummer-Night's Dream sind der angemessene Beitrag zu den »revels« der zu feiernden Hochzeit.

Was einleitend zu der Betrachtung v o n A Midsummer-Night's Dream über »a pseudo-ideal and a temporary haven« i n der »pastoral romance« gesagt werden konnte, gilt i n gewissem Sinne auch für The Merchant of Venice. Rein äußerlich unterscheidet sich die Struktur der beiden Komödien dadurch, daß i n der einen sich die H a n d l u n g v o m H o f e i n den W a l d u n d wieder zurück an den H o f bewegt, i n der anderen ein Ortswechsel v o n Venedig nach Belmont u n d zurück v o n Szene zu Szene stattfindet, wenn w i r die Szenen I I , 2 - 6 u n d I V , 1 - 2 als kontinuierlich spielbar jeweils als szenische Einheit betrachten. Wesentlich ist jedoch, daß es sich i n beiden Fällen u m jeweils zwei sehr verschiedene Welten handelt. D i e W e l t Venedigs ist wie die des Athenischen Hofes bestimmt durch Vernunft und Gesetz. Belmont ist nun zwar nicht wie die Welt der Feen eine W e l t der Geister u n d des Zaubers, doch walten i n ihr andere Mächte als i n der W e l t der Stadt. Belmont ist nichts anderes als das, was es schon immer i n der Forschung charakterisiert wurde, eine W e l t des Märchens. I n Venedig verläuft das Geschehen m i t der Folgerichtigkeit einer Intrige, i n der jedem eine feste Rolle zugeteilt ist. D i e Charaktere sehen sich selbst als Rollenspieler. So A n t o n i o gleich zu Beginn: I hold the world but as the world, Gratiano — A stage, where every man must play a part, And mine a sad one, 35

Siehe Franz H . Link, Dramaturgie der Zeit, S. 214.

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Franz Link

worauf Granano gleich seine Rolle w ä h l t : Let me play the fool. (1,1, 77 - 79) 3β Eine Instanz, die wie i n den bisher besprochenen Stücken das Spiel i n Bewegung setzt, gibt es nicht. Der Doge k a n n allenfalls als Instanz betrachtet werden, die darüber zu wachen hat, daß die Gesetze eingehalten werden. Anders verhält es sich i n Belmont. H i e r gibt es eine Instanz, die die Regeln des Spiels festgesetzt hat u n d auch nach dem Tode durch sie i n i h m weiterhin w i r k t . Es ist dies der Vater Portias, der den Freier z u m Gatten seiner Tochter ausersehen hat, der das richtige Kästchen w ä h l t . Es w i r d gewissermaßen derjenige gesucht, der die Rolle angemessen zu übernehmen vermag. Sie f ä l l t demjenigen zu, der Portia w i r k l i c h liebt. Dessen ist sie sich selbst sicher, wenn sie Bassanio sagt: I f you do love me, you w i l l find me out. ( I l l , 2, 41) D i e Liebe zeigt sich darin, wie es der Spruch auf dem Kästchen sagt, daß sie alles zu geben bereit ist: >Who chooseth me must give and hazard all he hathI Find an Apt Remission in Myselfsolid flesh< w i t h >melt< and >thawanleiten< an. Entsprechendes gilt oben v o n bend, pray, fawn : »The subordinated informat i o n ( i m vorliegenden Beispiel pray , fawn) may present a different side of the thing referred t o than the thing i t is subordinated t o (sc. bend). I n reference, however, the t w o are the same« 14 . K ö n n e n w i r das auch v o n melt , thaw, resolve itself into a dew behaupten? Nicht ohne weiteres; denn es sind nicht Synonyme, sondern Antonyme, die gerade verschiedene A r t e n der Verflüssigung bezeichnen. Z u r allgemeinen semantischen Kongruenz m i t >liquid< u n d >solid< treten bei thaw u n d resolve noch spezielle Kongruenzen, die diese Verben v o n melt unterscheiden. Z u den Gebrauchsbedingungen v o n thaw gehört nämlich nicht nur ein fester Körper, sondern speziell ein fester Körper, der gefrorene Flüssigkeit enthält, u n d nur letztere verflüssigt sich, ζ . B. thaw out a frozen towel. Der feste Körper selbst (das Handtuch i m vorliegenden Beispiel) bleibt aber immer noch fest und verflüssigt sich nicht. I n diesem Sinne sprechen w i r z w a r v o n Tauwetter (»a thaw«), aber v o n melting snow, k a u m v o n »thawing snow« 1 5 . Was sollte H a m l e t also m i t »thawing flesh« meinen? E r w i r d k a u m anachronistisch die moderne Tiefkühltruhe vorwegnehmen, die frozen meat enthält, das v o r Verzehr aufzutauen ist. Vergreift sich Shakespeare hier vielleicht i n seiner Bildersprache? 13

Pike—Becker—Young, 1. c. Joseph E. Grimes, The Thread of Discourse, den Haag 1975, S. 215. Grimes expliziert das Schema statement: restatement als Äquivalenzrelation, ohne es jedoch speziell auf Shakespeare anzuwenden. 15 Noah Webster's International Dictionary (3. ed.) gibt »the ice thaws« als Beispiel an. Das ist wohl ein metaphorischer Gebrauch (»the ice thaws in their mutual relations«) oder zielt auf die tauende Oberfläche einer (darunter noch immer festen) dicken Eisschicht. 14

Herbert Pilch

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Noch problematischer ist die zweite Umschreibung resolve itself into a dew . Das Verbum resolve steht i m Friihneuenglischen (so wie heute dissolve) in semantischer Kongruenz zu einem festen Körper, der nicht etwa schmilzt, sondern sich i n einer Flüssigkeit auflöst, ζ. B. Zucker i n Wasser. Soll sich also (nach Hamlets Wunschvorstellung) das Fleisch i n T a u auflösen, genauer in einem Tautropfen (»a dew«)? Das verstieße gewiß gegen die verisimilitudo. Oder soll gar das aufgelöste Fleisch zum Tautropfen werden? Das wäre ein Widerspruch. Haben w i r doch alle i m Physikunterricht gelernt, daß T a u durch Kondensation v o n Luftfeuchtigkeit entsteht, nicht durch Lösung fester Körper i n einer Flüssigkeit. H a t der gute Shakespeare also wieder geschlafen? Ja, an einer anderen Stelle nennt er den T a u unter jenen Himmelserscheinungen, die bei Einbruch der Dunkelheit auftreten (statt bei Sonnenaufgang): The Sunne of Rome is set! Our day is gone; Clowds, Dewes and Dangers come (Julius Cesar V, 3, 63 f.). Es sieht so aus, als habe Shakespeare (ebenso wie sein Vorläufer Robert Henryson) i n seiner Schule nicht nur »little L a t i n and less Greek« gelernt, sondern auch »little physics and less astronomy« (wenn es das Fach Physik damals schon gegeben hätte). Oder liegt hier vielleicht eine Interpolation vor, u n d sollten w i r resolve zu condense emendieren? U n d ähnlich bei H e n ryson a. a. O . oppositioun zu elongatiouni Folgen w i r den üblichen Maßstäben der T e x t k r i t i k , so liegt hier zweifellos eine hybride Metapher (»mixed metaphor«) bzw. zumindest hybride Ausdrucksweise vor, u n d sie ist zu beanstanden. Es verstößt gegen jedwede verisimilitudo, daß Venus i n Opposition zur Sonne stehen soll. Ebenso unrealistisch ist es, daß ein fester Körper erst schmelzen soll, dann tauen, schließlich z u T a u kondensieren oder auch alles drei gleichzeitig. U n d daß sich etwas »in T a u auflösen« soll, ist paradox, es kann sich höchstens zu T a u kondensieren. Der übliche Verweis auf 2. K o r . V , 1 (»if our earthly house of this tabernacle were dissolved«) berührt unser Problem nicht, w e i l dort v o n >in T a u auflösen< gar nicht die Rede ist. Gewiß, man könnte sich für vorliegende Textstellen auf die dichterische Freiheit berufen, die sich über physikalischen K l e i n k r a m souverän hinwegsetze: »Regarded more generally«, so verteidigt Henrysons Herausgeber seinen Dichter, » . . . in opposition . . . acceptably indicates the contrast between the rising Evening Star and the setting sun« 1 6 . Oder man könnte psychologisierend behaupten, »der Leser« denke nicht an den mangelnden 18

op. cit. (fn. 5), S. 148.

»The solid flesh resolves itself into a dew«

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Realismus bzw. die Paradoxic. Vielleicht hat auch mancher Herausgeber i m Physikunterricht gerade gefehlt. Solche Erklärungen lösen das Problem nicht. Analoge »Erklärungen« ließen sich nämlich für jede hybride Metapher v o r bringen. Das liefe darauf hinaus, daß jede, auch die hybrideste Metapher als gelungen anzusehen wäre. W o l l e n w i r ein solches Ergebnis aber? Oder w o l len w i r diese A r t »Erklärung« speziell für Shakespeare? D a n n käme heraus, daß Shakespeare nie ein Ausdruck mißlang. E i n solches Ergebnis gehört aber bestenfalls i n den Bereich des Shakespearekultes, nicht seriöser Philologie. Das U r t e i l über das aptum einer Ausdrucksweise läßt sich, wie w i r meinen möchten, aus der Textinterpretation nicht verbannen, sondern gehört unauflöslich dazu. Wenn Henryson a. a. Ο . Opposition m i t Elongation verwechselt, so halten w i r das für »improprium«. Auch wenn ich i n einem Gutachten lese, der V f . interpretiere nicht ganze Werke, sondern nur »mikroskopische Ausschnitte« daraus, so urteile ich wieder negativ über das aptum dieser hyperbolischen Metapher. Für ebenso mißlungen, eine »sharp v i o l a t i o n of metaphoric u n i t y « 1 7 halten w i r Hamlets Formulierung, wenn er »take arms against a sea of troubles« w i l l ( I I I , 1, 59). Es mangelt ihr an verisimilitudo; denn realiter läßt sich m i t Waffen nichts gegen das Meer ausrichten, u n d w i r wollen H a m l e t weder als zweiten K ö n i g K n u t noch als verrückt interpretieren 1 8 . Gewiß reden w i r keiner normativen L i t e r a t u r k r i t i k i m klassizistischen Sinne das W o r t , aber w i r meinen, daß jede empirische Typologie der Metapher bzw. H y p e r b e l das aptum unvermeidlich impliziert. Es geht uns deshalb hier nicht i n erster Linie darum, den H a m l e t t e x t zu beanstanden oder zu rechtfertigen, sondern es geht uns u m jene Maßstäbe, nach denen w i r allgemein über das aptum entscheiden. Gehört der Realismus bzw. die verisimilitudo dazu? W i r meinen, nicht i n jedem Falle. Z u m Beispiel arbeitet die Metapher, wie w i r andernorts ausgeführt haben, gerade nicht m i t Realien, sondern m i t Semantik, genauer m i t einer bestimmten Sprache m i t ihren internen, lexikologischen Relationen wie ζ . B. der semantischen Kongruenz. Genau hierin liegt, wie w i r meinen, die differentia specifica der Metapher gegenüber bildhafter Ausdrucksweise i m allgemeinen, auch 17 So Michail M. Morozov, »The Individualization of Shakespeare's Characters through Imagery«. Shakespeare Survey 2 (1949), 83 -106. Zitat S. 99. Morozov verteidigt die vorliegende Formulierung damit, sea of troubles sei »identical with >many troubles