Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 28. Band (1987) [1 ed.] 9783428462650, 9783428062652

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 28. Band (1987) [1 ed.]
 9783428462650, 9783428062652

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT

HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N K U N I S C H , PROF. DR. T H E O D O R BERCHEM, PROF. DR. E C K H A R D HEFTRICH, PROF. DR. FRANZ L I N K U N D PROF. DR. ALOIS W O L F

NEUE FOLGE / A C H T U N D Z W A N Z I G S T E R B A N D 1987

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Hermann Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 München 19, Professor Dr. Theodor Berchem, Institut flir Romanische Philologie der Universität, Am Hubland, 8700 Würzburg, Prof. Dr. Eckhard Heftrich, Germanistisches Institut der Universität, Domplatz 20-22,44 Münster, Prof. Dr. Franz Link, Englisches Seminar der Universität, Kollegiengebäude IV, 7800 Freiburg i. Br., und Prof. Dr. Alois Wolf, Deutsches Seminar der Universität, Werthmannplatz, 78 Freiburg i. Br. Redaktion: Dr. Kurt Müller, Englisches Seminar der Universität, Kollegiengebäude IV, 78 Freiburg i. Br. Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr flir die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingegangener Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot GmbH, Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES ACHTUNDZWANZIGSTER

JAHRBUCH

BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N HERMANN KUNISCH T H E O D O R BERCHEM, ECKHARD HEFTRICH FRANZ LINK U N D ALOIS WOLF

NEUE FOLGE / A C H T U N D Z W A N Z I G S T E R B A N D

1987

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Redaktion: Kurt Müller

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hermann Hagedorn GmbH & Co, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06265-5

INHALT AUFSÄTZE

Matthias Baltes (Münster), Beobachtungen zum Aufbau der Ilias

9

Ruprecht Wimmer (Eichstätt), Michael Denis und seine Ossianübersetzung . . . .

27

Michael Neumann (Münster), Die Macht über das Schicksal: Zum Geheimbundroman des ausgehenden 18. Jahrhunderts

49

Joseph Jurt (Freiburg i. Br.), Widerstand oder Gehorsam? Bernanos, der Spanische Bürgerkrieg, das Vichy-Regime und der Nationalsozialismus 85 Alfred Schopf (Freiburg i. Br.), »Especially When the October Wind« von Dylan Thomas: Ein poetologisches Gedicht? 99 Helen Hagenbüchle (Zürich), Laurels for a Bat: Aesthetic Theories in Randall Jarrell's The Bat-Poet 115 Franz Link (Freiburg i.Br.), »Racket's Inner Silence«: Zur Lyrik A. R. Amnions'

133

SYMPOSIUM: DAS EUROPÄISCHE GESCHICHTSDRAMA N A C H 1945 Ulrich Broich (München), Einleitung

153

Karl Alfred Blüher (Kiel), Das französische Geschichtsdrama nach 1945: Zur semiotischen Bestimmung theatralischer Historizität 167 Günther Erken (München), Geschichte im deutschen Theater der Gegenwart: Repertoire und Inszenierung 195 Klaus-Detlef Müller (Kiel), Das Problem der Zeitebenen im modernen deutschen Geschichtsdrama 211

6

Inhalt

Bernd W Seiler (Bielefeld), Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit in der neueren Geschichtsdichtung 227 Kurt Tetzeli von Rosador (Münster), Formen der Historizität im englischen Geschichtsdrama 243 Michael Göring (München), Luther und die Reformation als Gegenstand des historischen Dramas der Gegenwart 263 Helmut Dotterweich (München), Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung von Geschichte im Fernsehen 283

KLEINE BEITRÄGE Fritz Peter Knapp (Passau), Integumentum und Äventure: Nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris?) und Thomasin von Zerklaere 299 Grete Liihbe-Grothues (Einsiedeln), Klopstocks »Rosenband«

308

Volker Kapp (Erlangen), Erich Köhlers Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur 320 Ruprecht Wimmer (Eichstätt), Zugänge nur neueren deutschen Literaturwissenschaft: Zu den Einführungen des Artemis-Verlages 327

BUCHBESPRECHUNGEN Torsten Eggers, Die Darsteüungvon Naturgottheiten bei Ovidundfrüheren Gregor Vogt)

Dichtern (Von 345

Fred C. Robinson, Beowulf and the Appositive Style (Von Alfred Bammesberger) . . Marianne Wynn, Wolfram's

Parzival:

346

On the Genesis of Its Poetry (Von Alois Wolf)

Arthurian Legend and Literature: An Annotated Bibliography in Two Volumes. Ed. Edmund Reiss, Louise Horner Reiss, Beverly Taylor. Volume I: The Middle Ages (yon Ulrich Müller) 350

348

Inhalt Thomas Cramer, Hg. Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts. Band 3: Pfaffenfeind — Zwinger. Band 4: Anonyma (Von Ulrich Müller) 352

Kurt Ruh, Kleine Schriften , hg. Volker Mertens, Band I: Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters. Band II: Scholastik und Mystik im Spätmittelalter (Von Walter Blank) ... 353

Hubertus Schulte Herbrüggen, hg. Thomas Morus Werke (Von Willi Erzgräber) . . . .

357

Klaus Weiss , Grundlegung einer puritanischen Mimesislehre: Eine literatur- und geistesgeschichtliche Studie der Schriften Edward Taylors und anderer puritanischer Autoren (Von Alfred Schopf) 360

Briefwechsel zwischen Friedrich Carl von Savigny und Stephan August Winkelmann (1800- 1804) mit Dokumenten und Briefen aus dem Freundeskreis. Gesammelt, herausgegeben und kommentiert von Ingeborg Schnack (Von Ernst Behler) 365

Ludwig Tieck, Schriften, mann)

Band 6: Phantasus, hg. Manfred Frank (Von Michael Neu369

Nigel Cross, The Common Writer: Böker)

Life in Nineteenth-Centuiy

Grub Street (Von Uwe 376

Rolf Günter Renner, Lebens- Werk: Zum inneren Zusammenhang der Texte von Thomas Mann (Von Heinz Gockel) 379

Die amerikanische Literatur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, hg. Helmbrecht Breinig und Ulrich Halfmann (Von Klaus Lubbers) 385

Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter (Von Günter Schnitzler)

bis zur Gegenwart, hg. Walter Hinderer 388

Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, hg. Klaus L. Berghahn und Hans Ulrich Seeber (Von Friedrich K. Unterweg) 390

Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hg. Ulrich Broich, Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich (Von Paul Goetsch) 393

Horst Meiler, Zum Verstehen englischer Gedichte (Von Willi Erzgräber)

Willi Erzgräber, Utopie und Anti-Utopie in der englischen Literatur: Wells, Huxley, Orwell (Von Hubertus Schulte Herbrüggen)

Namen- und Werkregister (Von Kurt Müller)

395

Morus, Morris, 398

401

BEOBACHTUNGEN Z U M AUFBAU DER

ILIAS 1

Von Matthias Baltes Für Martin Sicherl Von allen uns aus der vorschristlichen Antike erhaltenen und bekannten Epen ist die Ilias das umfangreichste. M i t ihren 15693 Versen übertrifft sie selbst die Odyssee um 3 583 Verse. Dem großen Umfang entspricht der reiche Inhalt; denn von »tausendfachem Leid« (^lopia äXyca 1,2) w i l l der Dichter berichten und v o m Tod zahlloser Helden, die alle Opfer des verderbenbringenden Zorns des Achill geworden sind (noXXaq S'icp&i^ioix; v|/i)%äIliad< « , / / / £ 52,1932,264 ff; Whitman 249 ff; T.B. L. Webster, Von My kern bis Homer , München—Wien 1960, 334 ff. stieß, die mir manchen am Homertext gewonnenen Gedanken bestätigt haben, andererseits aber auch wieder in vielen Punkten zu weit gehen. 7 C.W. Macleod, Homer , Iliad, Book XXIV ,

Cambridge, London, N e w York 1982, 32.

8

Vgl. z. B. G. Beck, Die Stellung des 24. Buches der Ilias in der alten Epentradition , Diss. Tübingen 1964, 53 ff. mit der älteren Literatur in den Anmerkungen; ich nenne besonders C. Rothe, Die Ilias als Dichtung, Paderborn 1910, 329ff; Peters 14ff; Whitman 259f; vgl. ferner Andreae / Flashar 221 f; Macleod 32 ff. 9 Allerdings findet i m 18. Buch eine Verlagerung des Zorns v o n Agamemnon auf Hektor statt. 10 Whitman 259: ». . . Achilles w i t h Priam, where the magnanimous restitution o f Hector's body inverts the selfish seizure of Briseis, and the compassion between technical enemies reverses the hostility between technical allies o f Book I.«

Beobachtungen zum Aufbau der Ilias

11

beschließt (1,495 ff), so beschließt er i m Q das versöhnliche Ende (24,64 ff). I m A w i r d dem Achill die Briseis, die er »von Herzen« liebte (9,342 f), genommen, Achill zieht sich grollend zurück, und das Unheil nimmt seinen Anfang (1,318 ff); i m £2 — nach der allerletzten Versöhnung, der mit Priamos — teilt sie zum erstenmal wieder 1 1 sein Lager (24,676). Die i m A aus den Fugen geratene Welt ist i m Q wieder i n Ordnung. 1 2 Der Kampf um Troja geht zwar weiter (24,667), aber es ist kein Kampf mehr, der v o m Z o r n Achills bestimmt ist. Doch der Entsprechungen in beiden Büchern gibt es noch mehr. A m Anfang der Ilias kommt Chryses, ein Greis, ein Vater, Priester des Apoll, ins Griechenlager, bringt reiche Lösegaben mit, fleht vor allen Achaiern die Atriden an, ihm seine i m Krieg erbeutete Tochter herauszugeben, und wird wider Erwarten hart abgewiesen (1,12ff). I m Q kommt ebenfalls ein Greis, ein Vater, Schützling des Apoll, Priamos, ins Griechenlager, bringt reiche Lösegaben mit, fleht den Achill i m Kreise der engsten Gefährten an, ihm den Leichnam seines Sohnes freizugeben, wird wider Erwarten freundlich aufgenommen, und seinem Wunsch wird entsprochen (24,32 f). 1 3 Die Ablehnung der Bitte i m A erfolgt ebenso ohne die Billigung der übrigen Achaier wie ihre Gewährung i m Q (1,22 f. 24,650 ff). I m A mahnt der Priester die Atriden und die Achaier, den Gott Apollon zu achten, die Lösegaben anzunehmen und die Tochter freizugeben (l,20f). Gleiches tut Priamos i m Q. Auch er mahnt Achill — und zwar mit ganz ähnlichen Worten — die Götter zu achten und Hektor auszulösen; er bringe ja reiche Lösegaben (24,501 ff). Die Reaktion bei Agamemnon i m A ist ein Zornausbruch, in dem er den Priester mit Drohworten wegschickt (1,24 ff), bei Achill zunächst Mitleid (24,507 ff), dann aber, als der Greis auf sofortige Erfüllung der Bitte dringt, steigt auch in ihm der Zorn auf, der sich in drohenden Worten entlädt (24,560ff). 14 Doch gelingt es Achill i m Gegensatz zu Agamemnon, sich zu fangen. Denn anders als Agamemnon ist Achill gewarnt, gewarnt durch Thetis (24,133 ff), die ihm mitgeteilt hatte, er habe sich den Zorn der Götter zugezogen, weil er den Leichnam Hektors nicht herausgegeben habe. 15 Ebenso zieht Agamemnon sich i m A den Zorn Apolls zu, weil er die Chryseis nicht freigibt (1,43 ff). I m A wird die Chryseis nach dem Eingreifen Apolls dennoch ausgelöst (1,430 ff), und auch i m Q erfolgt die Lösung Hektors auf Initiative Apolls (24,31 ff). A m Ende der beiden Bittgänge, dem des Chryses und dem des Priamos — und d. h. am Anfang und Ende der Ilias — brennen Scheiterhaufen; zu Beginn des A werden die » V g l . 24,128ff. 12

Vgl. W. Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk, , «Stuttgart 1965, 349.

13

Z u den wörtlichen Übereinstimmungen in beiden Situationen vgl. K . Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter , Göttingen 1961,63 ff; Beck 64 f; D . Lohmann, Die Komposition der Reden in der Ilias , Berlin 1970, 169 ff. 204 f; Macleod 34. V g l . Reinhardt 63 f. 15 Darum hatte Hektor ihn ja sterbend gebeten (22,340 ff; vgl. 254 ff).

Matthias Baltes

12

Leichen der von der Pest Dahingerafften verbrannt (1,52), am Ende des Q die Leiche Hektors (24,785 ff). A m Beginn der Ilias stehen »hastige Massenbestattungen«, am Ende »ein großes Staatsbegräbnis«. 16 N u n darf man natürlich fragen, ob diese und andere Übereinstimmungen und Entsprechungen nur notwendige Folgen der Erzählung sind, d. h. ob sie sich nur aus dem Gang der Ereignisse von selbst ergeben oder ob der Dichter sie bewußt so gestaltet hat, ob er den Hörer mit stilistischen Mitteln auf diese Bezüge hingewiesen hat. Das letztere ist der Fall, wie vor allem die Übereinstimmungen i m Formalen zeigen. Das erste Buch beginnt auf der Erde und endet auf dem Olymp in einer Götterversammlung, das letzte Buch beginnt mit einer Götterversammlung auf dem Olymp und endet auf der Erde. Die Bewegung geht i m ersten Buch von der Erde aus — von Achill — und erreicht durch die Vermittlung der Thetis den Olymp, i m letzten Buch geht sie v o m Olymp aus und erreicht über Thetis die Erde — Achill. 1 7 Die Abfolge der Szenen in beiden Büchern ist chiastisch: 1,348 ff: 1,495 ff: 1,533 ff:

Achill — Thetis Thetis — Zeus 1 8 Götterversammlung

24,23 ff: 24,74 ff: 24,120 ff:

Götterversammlung Zeus — Thetis 1 9 Thetis — Achill

Durch die Umkehr in der Abfolge weist der Dichter auch auf eine Umkehr in der Handlung: Was i m A gesponnen wurde, wird i m Q aufgelöst. 20 Beide Bücher sind also nach dem Prinzip der Umkehr gebaut, welches auch der moderne Roman kennt. 2 1 Hinzu kommen die präzisen Zeitangaben, mit welchen der Dichter auf die gleichsam spiegelsymmetrische Entsprechung der beiden Gesänge hinweist. E l f Tage muß Thetis i m A warten, bis die Götter von ihrem Ausflug zu den Aithiopen wieder auf den Olymp zurückgekehrt sind; erst am 12. Tag trifft sie 16 Beck 59. 17 Vgl. Beck 59. 18 Beck 61 schreibt mit Recht: »Schon allein an den charakteristischen Gemeinsamkeiten (ich ergänze: und Unterschieden) der Zeus-Thetis-Szenen ließe sich mit Q und A der Rahmenplan für die Ilias deutlich machen.« V g l . G. Kurz, Darstellungsformen menschlicher Bewegung in der Ilias, Heidelberg 1966, 47; J. Griffin, Homer on Life and Death, Oxford 1980, 17.

19 S. Anm. 18. 20 Vgl. Macleod 33. 21 Vgl. Reinhardt 413, Anm. 1.

Beobachtungen zum Aufbau der Ilias

13

Zeus, der dann die Entscheidung zugunsten Achills fällt (1,423 ff. 493 ff). E l f Tage müssen auch die Götter i m £1 warten, erst am 12. Tag 2 2 fällt Zeus die Entscheidung zu Ungunsten Achills (24,31). Neun Tage zürnt A p o l l i m A den Griechen wegen der Nicht-Herausgabe der Chryseis (1,53), erst am 10. Tag wird in einer turbulenten Volksversammlung die Lösung gefunden, wird die Chryseis feierlich zurückerstattet (1,54ff. 430 ff). I m Q sind die troerfreundlichen Götter ebenfalls neun Tage lang aufgebracht über die Nicht-Herausgabe Hektors und die Schändung seiner Leiche (24,31 ff. 107.113 ff). A m 10. Tag wird in einer erregten Götterversammlung die Auslösung beschlossen, wird Hektors Leiche dem Priamos ausgehändigt. Neun Tage dauern zudem die Vorbereitungen für die Verbrennung Hektors, die am 10. Tag stattfindet. A m 11. Tag wird Hektor beigesetzt, und im Palast des Priamos hält man den Totenschmaus. A m 12. Tag soll dann der Kampf wieder anheben (24,784 ff. 660 ff). 2 3 Nirgendwo sonst in der Ilias wird so wie in diesen beiden Büchern mit den Zeitangaben von 9, 10 und 12 Tagen gespielt. Daß diese Tagesangaben für den Dichter mehr waren als bloße Zeitangaben, daß er mit ihnen auf die Entsprechungen in beiden Büchern aufmerksam machen wollte, ja, daß sie selbst ein Mittel seiner Klammertechnik sind, zeigt die Tatsache, daß das elftägige Warten der Götter i m Q gut motiviert ist, für das elftägige Warten der Thetis i m A dagegen nur eine wenig plausible Erklärung gegeben wird: die Götter seien gestern 1,424) zu den Aithiopen gegangen — und das, obschon sie doch nur wenig vorher (1,194 ff. 221 f) — am selben Tag! — noch auf dem Olymp waren. 2 4 Offenbar nimmt der Dichter um der zeitlichen Entsprechung willen sogar eine Inkonsequenz in Kauf. 2 5 W i r können also zusammenfassend feststellen, daß die Bücher A und Q inhaltlich und formal v o m Dichter aufeinander bezogen worden sind, daß beide Bücher wie Klammern um den Kern der Ilias gelegt sind. 2 6 — Wie steht es nun

22 Beide Tage werden durch den gleichen, nur an diesen beiden Stellen vorkommenden Formel-Vers eingeleitet (1,493 = 24,31). 23

Vgl. F. Stählin, Philol. 78,1923,299: »Q verdoppelt also das Spiel von A mit der Zahl 9 und 12.« 24 F. Pfister, Wür^b. Jahrb. 3,1948,138; Beck 54. 58; ein Erklärungsversuch der ^ T a g e Frist bei J. Latacz, »Zeus' Reise zu den Aithiopen (zu Ilias 1,304-495)«, in: Gnomosyne, Festschrift W. Marg y München 1981, 77 ff; vortrefflich schon die Ausführungen von K . F . Ameis-C. Hentze, Anhang Homers Ilias , Leipzig 1877, 18 f. 25 Z u dieser Inkonsequenz s. Ameis - Hentze, Anhang 13 f. 15. 19 ff. 62 ff. Vgl. auch F. Stählin, Philol. 78,1923, 300: »Die Zeiteinteilung seiner Tage geht dem Dichter über die verstandesmäßige Berechnung. Er nimmt ihr zuliebe die Unwahrscheinlichkeit in Kauf, daß Hektors Leiche 12 + 9 Tage unbestattet liegt und läßt den Achill viel mehr Tage für die Klage um Hektor bewilligen, als selbst dem Patroklos geweiht waren Q 664«. 26

So Flashar / Andreae 221 f.

14

Matthias Baltes

mit den übrigen Gesängen? Läßt sich an ihnen vielleicht eine ähnliche Beobachtung machen? 27 A m auffälligsten sind die Entsprechungen in den Büchern T und X , d. h. i m dritten und drittletzten Gesang. 28 I m Zentrum dieser beiden Bücher steht ein Zweikampf von rcpöna%Ol.29 I m 3. Buch kämpft Menelaos gegen Paris, i m 22. Buch Achill gegen Hektor. 3 0 I m 3. Buch droht der trojanische Krieg durch den Zweikampf ein vorzeitiges Ende zu nehmen, i m 22. Buch ist nach dem Tode Hektors das wirkliche Ende des Krieges in Sicht; denn Hektor allein hat Troja bisher gerettet: oloq yäp ¿pueto "IA,iov "Exxcüp (6,403. 22,507), und mit seinem Tod ist auch Troja praktisch gefallen (22,382f. 410f. 507. 24,727ff). 31 D . h . das 3. Buch bringt den angeblich entscheidenden Zweikampf, das 22. den wirklich entscheidenden. 32 Der angeblich entscheidende Zweikampf steht vor der ersten Schlacht, die i n der Ilias erzählt wird, der entscheidende am Ende der let%ten y so daß beide Zweikämpfe das übrige Kampfgeschehen rahmen. Auch in der Durchführung der beiden Zweikämpfe lassen sich Beziehungen feststellen: Als Paris sieht, wie Menelaos ihm entgegentreten will, gerät er in Furcht und weicht zurück i n die Schar der Kämpfer — was ihm anschließend von Hektor als unmännlich und feige vorgeworfen w i r d (3,30 ff). Als Achill hingegen dem Hektor entgegenkommt, da kann dieser sich nicht wie früher (20,375 ff) in die Schar der Gefährten zurückziehen; denn er ist allein vor den Mauern Trojas. Auch den Rückzug in die Stadt, der ihm noch offensteht und zu dem er von Vater und Mutter aufgefordert wird, lehnt er ab, weil er das Schelten des Pulydamas und die K r i t i k der Stadtbewohner fürchtet; so bleibt er draußen und wartet auf Achill (22,91 ff). A u f die Entsprechung der beiden Situationen hat der Dichter selbst durch zwei Schlangengleichnisse aufmerksam gemacht, wie sie nur an diesen beiden Stellen in der Ilias vorkommen: (1) Als Paris den Menelaos ihm entgegentreten sieht, da erschrak er in seinem Herzen, U n d zurück in die Schar der Gefährten wich er und vermied die Todesgöttin. U n d wie wenn ein Mann eine Schlange sieht und zurückfahrend wegspringt I n den Schluchten des Bergs, und Zittern ergriff i h m unten die Glieder, 27

Vgl. Beck 54: »Die Parallelismen erstrecken sich nicht nur auf A / Q , sondern auch auf

B / ¥ , T / X « ; vgl. ebd. 57f. 28

Vgl. Peters 76.

29

Vgl. 3,16. 22,85.

30 V g l . E. Bethe, Homer / , Leipzig 1914, 62; Webster 340. 31 32

V g l . auch 16,834 ff. 24,242 ff. 727 ff; Griffin 1.

Whitman 274: »To a degree also, the disgraceful and indecisive duel o f Paris and Menelaus in I I I is balanced by this grave and catastrophic one, and the escape o f the transgressor is somehow tragically answered by the fall o f the unoffending hero (sc. Hektor).«

15

Beobachtungen zum Aufbau der Ilias U n d er wich wieder zurück, und Blässe überkam i h m die Wangen: So tauchte wieder in die Menge der stolzen Troer

I n Furcht vor dem Sohn des Atreus Alexandros, der gottgleiche. (3,30 ff; Übers. Schadewaldt) 33 (2) A l s H e k t o r d e n A c h i l l z u m entscheidenden Z w e i k a m p f herannahen sieht, da w e i c h t er n i c h t , Sondern er wartete auf Achilleus, den ungeheuren, wie er näher kam. U n d wie eine Schlange in den Bergen vor ihrem Loch einen Mann erwartet, Vollgefressen mit bösen Kräutern, und ein furchtbarer Groll tauchte in sie, U n d schrecklich blickt sie, um ihr Loch sich ringelnd: So unauslöschlichen Kampfmut hatte Hektor und wich nicht zurück. (22,91 ff; Übers. Schadewaldt). Z w e i S c h l a n g e n g l e i c h n i s s e 3 4 — die e i n z i g e n i n der Ilias

— stehen also i m

E i n g a n g des ersten u n d des letzten Z w e i k a m p f e s ; beide e r l ä u t e r n die R e a k t i o n der b e i d e n t r o j a n i s c h e n K ä m p f e r : h i e r bleiche F u r c h t u n d hastiger R ü c k z u g , d o r t z o r n i g e E n t s c h l o s s e n h e i t u n d A u s h a r r e n . 3 5 D i e Gleichnisse stellen die b e i d e n H e l d e n nebeneinander u n d g e g e n e i n a n d e r , 3 6 u n d der H ö r e r s o l l das offenbar merken. M e r k e n s o l l der aufmerksame H ö r e r w o h l a u c h n o c h weiteres: H e k t o r bietet d e n A c h a i e r n i m 3. B u c h v o r d e m K a m p f des Paris einen V e r t r a g an, der d a n n a u c h feierlich v o r d e n G ö t t e r n b e s c h w o r e n , schließlich aber v o n d e n T r o e r n g e b r o c h e n w i r d (3,76 ff). I m 22. B u c h schlägt derselbe H e k t o r v o r

33

seinem

Z u dem Gleichnis vgl. C. Moulton, Similes in tbe Homeric Poems, Göttingen 1977,89 ff.

34

Diese werden sehr feinfühlend interpretiert v o n W. Bergold, Der Zweikampf des Paris und Menelaos ( Ilias r 1 -A 222), Bonn 1977,27 ff, der auch auf weitere Entsprechungen in beiden Zweikämpfen weist; vgl. vor allem die S. 30, A n m . 1 herausgearbeiteten Entsprechungen: » X : Hektor als Apo^a^O*; xpöfioq beim Anblick Achills und Flucht Athenes Täuschung Hektor stellt sich A c h i l l zum K a m p f T: Paris als Ttpöpaxoq Tp6|!0out in Nature< and w i t h the F M on loud, Randall wrote his Bat-Poet. His creatures were the half-tamed ones we fed. Some of them, or ones just like them, live on in these woods; and the real cardinal, the one w h o knew Randall, is the red bird in the green pine who still calls birdie-birdie-birdie-birdie for his sunflower seeds.« The manuscript o f The Bat-Poet in the

118

Helen Hagenbüchle

in front of his home, the poet must have been struck by the shape and behavior of that species, and one easily understands that he identified his own isolated existence as a poet w i t h the strange life rhythm of these animals. Characterized as »a furry mouse w i t h wings« (BP 1), the bat-poet appears in the tale like an inversion of the >winged genius< of romantic poetry. Indeed, one might plausibly argue that Jarrell's poetic oeuvre can be understood as that of a post-Romantic who rebels against the metaphysical assumptions of Romanticism. Right from the beginning, Jarrell emphasizes the odd nature o f the bats as a singular species. Moreover, the bat-poet in turn alienates himself from the rest o f the bat family: »Instead of snuggling against the others and going back to sleep, he would just hang there and think.« (BP 2) I t is through becoming aware of himself and the world around him that he begins to feel lonely — very much like the author who, as a writer, suffered from a strong sense o f loneliness and alienation due to his intense self-awareness. 9 Unlike the other bats who sleep during the day, the »little brown bat« — w i t h a child's curiosity — opens his eyes during the unfamiliar daytime. He readily accepts cold and discomfort and burning eyes in order to learn of the unknown world, which he begins to explore w i t h wonder and enthusiasm. Jarrell's description stresses the paradigmatic situation of the poet in the world. Here, the narrator intrudes once again and compares the bat's »queer feeling« to that of a person waking up and »looking out into the moonlight« (BP 2) for several hours, an uncanny experience which young and adult readers may equally share. I f the act of thinking creates distance, that of looking into the romantic moonlight results in a process of defamiliarization (to use the Russian formalist term). To see the world i n a fresh light by suspending ordinary conventions is, of course, the very root of poetic experience. The effect is an uncommon keenness of observation. I t is w i t h a surprised nod, for example, that the reader notes »the way the squirrels chattered when they were angry, like two rocks knocked together« (BP 3). The story abounds in sharply depicted details of movement, color, and especially sound. Most importantly, however, the bat's way of seeing the world anew urges him to communicate his experience to

Berg Collection at the New York Public Library contains t w o pages o f lists o f all the idiosyncrasies of bats. This detailed study shows that Jarrell not only observed these animals, but also sought information about them in technical books. 9 Jarrell wrote several poems on the crucial moment o f awakening self-awareness. The separation o f the child from his pristine unity w i t h the w o r l d creates that ambiguous state o f mind which, in Jarrell's eyes, is the basis not only o f human existence but of creativity as well; the ability to give form to human experience is dearly paid for by the loss o f a unitary existence. I n the words o f »The Sphinx's Riddle to Oedipus«: »to see is to have spoken. / — Yet to see, Blind One, is to be alone.« (CP 270) Other poems dealing w i t h this subjectmatter are »The Venetian Blind«, »The Island«, »The Märchen«, »The Blind Sheep«, »90 North«, »The Woman at the Washington Zoo«, »Aging«, »The Lost World«, »Field and Forest«, and »Thinking of the Lost World«.

Randall Jarrell's The Bat-Poet

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the other animals and share his knowledge w i t h them. I t is, therefore, w i t h an almost missionary zeal that he tries to enlighten his fellow bats. To Jarrell, the dedicated teacher, such education was no less than a moral d u t y . 1 0 This didactic impulse, moreover, is attended by the need for an audience, a need that the author himself acutely felt throughout his life. O n many occasions Jarrell bitterly attacked the insensitivity and lack of interest on the part of the American public. I n »The Obscurity of the Poet«, he envisions a caricature of the future American who w i l l no longer even remember what a book looks like: »1 call to this imaginary figure, >Why don't you read books?< — and he always answers, after looking at me steadily for a long time: >Huh?«< (PA 17) I n »Randall: His Kingdom«, Alfred Kazin gives a vivid account of the poet's enthusiasm in trying to get his favorite authors — Whitman, Frost, Stevens, K i p l i n g — across to an audience of »ordinary, mean, non-reading people!« 11 I n a number of poems, Jarrell both pities and scorns the »medium-sized lives« (CP 221) of men and women imprisoned in a routine existence devoid o f beauty and meaning, who never make the least effort to transcend their consumerized lives. 1 2 I n much the same way, the fellow bats in this story are smugly self-complacent and totally uninterested in anything but eating and sleeping. Content w i t h their humdrum existence, these bats make up no audience at all. I t is, significantly, not among his own people that the bat-poet finds appreciative listeners, but in the unaccustomed daytime world. W i t h the mockingbird and the chipmunk Jarrell has created t w o unforgettable allegoric animals that express his views on aesthetics in general and on audience response in particular. These animals may be seen as representing two basic types of readers. The mockingbird (somewhat reminiscent of Dickinson's famous »preceptor« Thomas W. Higginson) is first looked to by the bat-poet as the ideal critic and ultimate authority for his poems. However, the bat's attitude toward the

10 I n his essay »The Obscurity o f the Poet« Jarrell explains that art is indispensable because it is the only source o f that »truth« which w i l l »set us free«. The artist's insight carries w i t h it the responsibility to share it through his work: »if we are satisfied to know these things ourselves, and to look w i t h superiority or indifference at those who do not have that knowledge, we have made a refusal that corrupts us as surely as anything can.« (PA

21) 11

Randall Jarrell 1914-1965, pp. 89-90.

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I n »The End of the Rainbow« the poet compassionately apostrophizes these ordinary people as Little Women, Little Men, Upon what shores, pink-sanded, beside what cerulean Seas have you trudged out, nodded over, napped away Your medium-sized lives! (CP 221) Other poems to the same effect are »Next Day« and »Three Bills«.

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bird is ambiguous from the start. He notices that the versatile mockingbird has emotional ups and downs, but invariably carries »a peremptory, authoritative look« (BP 8 - 9 ) . 1 3 I n »The Group of Two«, Mary Jarrell suggests that this animal may have been modelled on the examples of Frost and Lowell (and possibly Yeats). 14 These poets were, indeed, apt to dismiss the work of their rivals and thus exercised the kind of literary authority wielded in the story by the mockingbird. Such biographical identifications must, of course, be taken w i t h reservations. 15 I t is w i t h rather mixed feelings that the bat-poet first introduces himself to the mockingbird, and he diplomatically offers himself to the bird as a »responsive audience« (BP 10). However, the mockingbird does not seem to need an audience at all, even though he feels greatly flattered by the bat's admiration. Besides, his vanity and self-importance are such that the bat finds it hard to get one o f his o w n poems in edgewise. Obviously, having to listen to somebody else's poetry is >unnatural< to the bird. O n being complimented on his poem »To a Mockingbird«, the mockingbird looks »pleased but modest; it was easy for him to look pleased but hard for him to look modest« (BP 10). When the bat offers to recite a poem of his own, the mockingbird settles himself »on his branch w i t h a listening expression« (BP 11). He puts on the mask of the art lover, but his reaction reveals the attitude of the academic critic: »The way you change the rhyme-scheme's particularly effective ... A n d it was clever of you to have the last line two feet short. ... The next-to-the-last line's iambic pentameter, and the last line's iambic

13 According to Mary Jarrell, the description of the mockingbird's »clear, quick, decided look« carried positive assocations, since »Randall said it first about Kitten«< his pet cat. »They were Kitten's qualities and Randall wanted them from tennis partners and automobile mechanics and critics«. Randall Jarrell 1914-1965, p. 280. 14

I n her letter o f December 10, 1983, Mary Jarrell writes that »Lowell, Frost and even Yeats are the mockingbird prototypes — all o f w h o m RJ admired greatly as you know.« A n d in »The Group o f Two« she notes that both »Frost and Cal were Mockingbirds.« Jarrell's relation to Lowell as a critic and friend was, however, as mixed as the bat's relation to the mockingbird. Mrs. Jarrell comments: »Cal's and Randall's temperaments, it seemed to me, were about as opposite as some o f the poets they compared. But the t w o friends' intelligences were complementary. A t each visit they roused up once or twice, whether they meant to or not; and then, like physicists on different hemispheres w h o advance their o w n knowledge on each other's papers, Cal and Randall (when their initial resistance passed) often pushed w i t h their paws and found something palatable in each other's latest Enthusiasms. >Cal's right,< Randall might say. >1 was dumb about X —. He's better than I thoughts O r he might say, >The people Cal likes!< For a day or t w o after being w i t h Cal, Randall was more Randall than ever.« Randall Jarrell 1914-1965, p. 293. 15

I n reality, Frost and Lowell were, o f course, more than »naturals«. Unlike the mockingbird, w h o appears stripped o f poetic originality, they were writers o f great symbolic power. Jarrell's biographical identifications, as reported by his wife, should rather be understood as ad hoc, though not entirely gratuitous, personal witticism.

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trimeter.« (BP 14) The bat feels terribly embarrassed to hear the mockingbird's praise of technical brilliance he did not suspect was i n his poem: »What do I care how many feet it has? The o w l [the subject of the poem] nearly kills me, and he says he likes my rhyme-scheme!« (BP 15) The bat-poet has put his whole soul into a poem that expresses his deepest dread of the night-prowling owl, and the mockingbird discusses meter! As expressed through the mask of the bat-poet, one clearly recognizes Jarrell's o w n views regarding academic criticism. 1 6 Poets, it is said, rarely make unbiassed critics. I t is understandable, therefore, that the mockingbird, whose art is largely imitative, finds it hard to appreciate the bat-poet who works wholly from lived experience. I n his poem »Esthetic Theories: A r t as Expression«, Jarrell defends what is essentially a variant o f Romantic organicism: Poems, like lives, are doing what we can A n d very different from what we know. They start surprisingly, like blood in bones. (CP 384)

The above verses continue w i t h a plea for art as the spontaneous expression of man's existential suffering. A t the same time Jarrell attacks the formal approach of the New Criticism prevalent i n his t i m e . 1 7 The poet's life-blood »preserved in jars« [i.e. works of art], Jarrell sarcastically notes, is all too often unfeelingly displayed by the incumbents o f »The Chair of Paleohaemolysis« (CP 384), that imaginary department of archeology which analyzes ancient blood samples. Here, as well as in essays like »The Age of Criticism« (PA 63-86), his satire is directed against the kind of academic exegesis that is limited to technicalities o f form only. I n The Bat-Poet his indignation is softened to a playfully ironic tone. Throughout his work, however, Jarrell opts for a more naive and spontaneous reading of poetry: for art as experience. I n The Bat-Poet it is the chipmunk who comes closest to Jarrell's ideal of a direct emotional response. Unlike the mockingbird he has no artistic rules to judge by but reacts intuitively and instinctively, just as Jarrell always wanted his readers to react. The bat's poem about the o w l genuinely terrifies the chipmunk, although the bird, which he has never seen before, poses no threat to his daytime existence: » the chipmunk listened intently; when the poem was over the chipmunk gave a

16 One is strongly reminded o f Jarrell's sarcastic remarks about the patronizing behavior of certain academic critics to »poor Wordsworth«: »they knew how poems . . . are put together, and W o r d s w o r t h . . . didn't, but had just put them together.« Jarrell adds cynically: »In the same way, i f a pig wandered up to you during a bacon-judging contest, you w o u l d say impatiently, >Go away, pig! What do you know about bacon?«< (PA 66-67) 17 A l t h o u g h Jarrell was a student at Vanderbilt University in the thirties, he never was a partisan of the Fugitive-Agrarian tradition or the later school of criticism commonly called The New Criticism. See Allen Tate, »Young Randall« in Randall Jarrell 1914-1965, pp.230232.

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big shiver and said: >It's terrible, just terrible! Is there really something like that at night?«< (BP 17) I n consequence o f these verses, the chipmunk w i l l from now on go »to bed earlier«, and he is determined »to dig some more holes«, should he ever be in need of escape. I t is through the poem, the objectified form of his fears, that the bat is able to share his experience w i t h the chipmunk, even though the two animals (as Jarrell takes pains to point out) are strikingly different: »The bat gulped and said quickly: >For only six crickets I ' l l do your portrait in verse.< The chipmunk said: >What are crickets?1 knew I might have to tell him about poems,< he thought, >but I never thought I ' d have to tell him about crickets.«< (BP 16-17) Evidently, our understanding of art does not presuppose a relation of identity between writer and reader. I t is through the transformation o f innerness into form that people of widely differing modes o f life can participate in each other's experiences. I n the last analysis, it is the chipmunk's emotional response and not the mockingbird's technical praise which is, in Jarrell's eyes, the true touchstone of a poem's value: »He [i. e. the chipmunk] didn't say anything o f that two-feet-short stuff ... he was scared!« (BP 19) 1 8 That a poem should recreate the author's experience in the reader is, of course, an influential postulate of Romantic aesthetics. I t comes as a surprise, however, that the chipmunk — despite his awe — wants to hear the terrifying poem about the o w l again. He is himself intrigued by this reaction: »It makes me shiver. Why do I like it i f it makes me shiver?« (BP 22) The question, why exactly the vicarious experience of fear — as Aristotle first pointed out — can induce a pleasurable feeling, remains unanswered in the context of this story. I t is only natural that the chipmunk should be eager to hear a poem about himself, and he advises the bat that beside holes there should be nuts in it and »big fat seeds«. The passage recalls, in a subdued manner of course, the Freudian concept of art as wish-fulfilment and along w i t h it the original function o f poetry as magic. 1 9 Later, when the chipmunk listens to the bat's poem »The Chipmunk's 18 The existential fear evoked in a responsive audience is considered by Jarrell to be the touchstone of great art. His poem »Esthetic Theories: A r t as Expression« ends w i t h the lines: »The spirit curling from the careful page / To call the hair up on another age« (CP 385). Jarrell may have thought o f a passage in Graves' The White Goddess: »Perfect faithfulness to the Theme affects the reader o f a poem w i t h a strange feeling, between delight and horror, of which the purely physical effect is that the hair literally stands on end. A . E. Housman's test o f a true poem was simple and practical: does it make the hairs o f one's chin bristle i f one repeats it silently while shaving? But he did not explain why the hairs should bristle.« Robert Graves, The White Goddess New York, 1948, rpt. 1970, p. 21. 19 Jarrell, w h o has been called »the most psychoanalytic oriented poet o f his generation« (Richard Damashek, »The World o f Randall Jarrell«. Unpublished dissertation, University o f Wisconsin, 1972, p. 13), clearly saw the Freudian wishfulfilment as an important element in the production and appreciation o f art. I n his introduction to The Anchor Book of Stories

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Day«, he is greatly pleased to recognize himself in it: » Oh, it's nice. I t all goes in and out, doesn't it?« (BP 22) Sensing the alternation of long and short lines in his verse portrait, he intuitively discerns the rhythm of his own animal existence, and in the prominent use of verbs and adverbs indicating sudden changes o f direction, he recognizes his o w n rapid and unpredictable way of moving about. Despite his apparent anti-formalist attitude, Jarrell clearly invites such an analysis. After all, he too counted and experimented w i t h feet, as his worksheets show. The ideal critic, then, is mockingbird and chipmunk in one; 2 0 his presence in The Bat-Poet is a covert one, as befits a children's story. Further on in the tale, when the mockingbird, in turn, listens to the bat's poem about a mockingbird, he gets quite upset and angrily exclaims: »You sound as i f there were something wrong w i t h imitating things!« (BP 31) and starts lecturing the bat and the listening chipmunk about »what it was like to be a m o c k i n g b i r d « ^ / * 33). A t the close of this harangue, the bat timidly asks the bird i f he likes the way he »rhymed the first lines of the stanza and then didn't rhyme the last two«. But the mockingbird curtly replies: »1 didn't notice«. I n one sense, the mockingbird's shock of self-recognition, overpowering all technical discussion, is quite a success for the bat poet; in another, however, the lack of an adequate response merely proves that the mockingbird — like so many astute critics — listens mostly to himself. . The problem of audience response, so charmingly dealt w i t h in this children's tale, is also a pervasive theme in Jarrell's poetic oeuvre. »In Galleries«, a poem written in the year The Bat-Poet was published, offers a similar, though more penetrating, analysis. The three museum guards in the poem correspond in several ways to the three types of listeners figuring in the story. The first guard, much like the audience of fellow bats, shows absolutely no interest in the works of art he has to watch over. The second guard somewhat resembles the selfimportant and loquacious mockingbird; he busily calls the visitors' attention to artistic features that are commonly overlooked without, however, betraying any (New York, 1958, p. i.) he pointed out that »The Muses are the daughters o f hope and the stepdaughters of memory.« The reader, too, instinctively likes what he can recognize as himself and as his o w n familiar world. For this reason, the chipmunk, at the end of the book, advises the bat-poet to tell his poem about bats to his fellow bats: »They'll like it just the way I liked the one about me.« »Really?« »I'm sure of it. When it has all the things you do, you can't help liking it.« (BP 41-42) 20

I n his critical work Jarrell often combines a strongly empathetic approach w i t h close textual analysis. His famous essay »Robert Frost's >Home Burial«< The Book of Crisicsm, p. 191 ff.) is a case in point. Through a meticulous discussion o f Frost's use o f artistic devices, such as register (archaisms), sound effects, and deviations from meter, etc. he analyzes their role in the expression o f the most delicate shades and nuances of emotion.

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deeper understanding of their meaning. The third guard, finally, not unlike the child-like chipmunk, appears »dumb« and »rapt.« Using a magnifying glass, he points out a tiny detail in one o f the paintings, but this detail — a tear — is expressive of the picture's symbolic center: suffering. The V i r g i n Mary's pain is also that of the painter and of man in general: His gestures are full of faith in — o f faith. When at last he takes a magnifying glass From the shiny pocket o f his uniform A n d shows you that in the painting o f a woman W h o holds in her arms the death o f the w o r l d The something on the man's arm is the woman's Tear, you and the man and the woman and the guard Are dumbly one. (CP 299)

The guard's deeply-felt response to the painting also becomes that of the visitors, who share their experience w i t h the artist and each other. For Jarrell, all art should function as a catalyst, bringing man's empathy into play. The artist's experience finds expression in form, but the form, in turn, should once more give rise to experience. I n Jarrell's The Bat-Poet, the bat and the mockingbird not only stand for different types of audience response, they also represent two fundamental modes o f art. Although the bat is first encouraged to become a poet by listening to the imitative song o f the mockingbird, he cannot ever hope to rival the bird's range and versatility but instead creates a new mode of expression altogether. I n view of the underlying similarity between author and bat-poet (a sort of alter ego), the fact that there is no poem by the mockingbird in this story remains suggestive. Jarrell either could not or did not want to write mimetic verse. Nonetheless, the principles of mimetic and expressive art are examined by him in some detail. Four poems demonstrate the bat's art: »The Owl«, »The Chipmunk's Day«, »The Mockingbird«, and a poem about a newly born baby bat. I t is tempting to see these songs as prototypes of the four distinctive phases of Jarrell's o w n poetic oeuvre. The poem on the o w l recalls the many poems concerned w i t h death, evoking the insecurity and fatality of human existence, a part of his work best exemplified by the grim war poems. The second poem represents that body o f Jarrell's oeuvre which deals w i t h the dailiness of life as experienced by ordinary, i f vulnerable, men and women. As the author himself confesses: »1 identify myself, as always, ... / W i t h something human.«,(CP 317) The mockingbird poem is a descriptive poem w i t h a philosophical and metafictional slant, a genre illustrated by poems like »The O l d and the New Masters«, »In Galleries«, or »The X-Ray Room in the Hospital«. The poem on the baby bat, finally, is typical of Jarrell's late poetry, which often deals w i t h »the lost world« of his childhood. The bat's regressive movement in these verses, and his search for a womb-like peace and shelter, reflect a similar concern in Jarrell's poetry of the sixties.

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By examining the two types of poetic creativity represented by the mockingbird and the bat, and by analyzing more closely the bat's art, we shall gain a deeper insight into Jarrell's aesthetic principles and his poetic techniques. To begin with, the mockingbird greatly enjoys imitating the other birds, but when he himself appears in one of the bat's poems, he is startled. He had already »put on his listening expression«, when the bat said: >»It's a poem about — well, about mockingbirds.< The mockingbird repeated: >About mockingbirds!< His face had changed, so he had to look listening all over again.« (BP 30) Why this confusion? Evidently, the bird dislikes being faced w i t h a mirror, and he seems afraid of losing his self-assumed authority by being made the >subject< o f somebody else's poem. Although one of his pieces is called »To a Mockingbird«, he shrinks back from confronting himself in his own poetry. Equally important, as the bat is quick to notice, the mockingbird only begins to mimic the other animals at nightfall, after he has managed to drive them off his territory in a fury. The bird, to the bat's surprise, seems to hate life but dearly loves to imitate it. The bird's peculiar behavior is, of course, true to life, but Jarrell makes use of it i n this story to allude to what he considers a crucial motive of man's desire for representation. A m o n g Jarrell's unpublished work there are some poetic fragments which explore w i t h greater profundity what i n the tale is only lightly dealt with: the problematic relation between representation and the drive for power. One example is a poem unpublished as yet, whose protagonist is a cave painter of the Stone Age: . . . A miner O f natural graves, a painter o f natural Objects, he is unnatural. I t is unarguable: Whether he names in gardens, paints in caves His animals, Adam is Adam. Still awed By what he kills, since he cannot always kill it, He traces in ochre, umber, all the earths I n the red or black o f blood, all animals. Man is the measure O f all things; and, showing all the w o r l d Except himself, is he not shown? The deer w h o m the stagheaded dancer slew A n d by the flame o f whose fat he painted, L y i n g here upon his back . . . W h o knows h i m or his slayer? 21

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Even i f one keeps the differences in terms of genre and o f seriousness between the two works in mind, certain affinities between the poem and the afore-mentioned passage in the story cannot be overlooked. Like the mockingbird, the cave man recreates in art what in reality he tries to overpower. Both artists use parts of the objects which they wish to represent: the mockingbird composes his songs out of the sounds o f the animals he has chased away, the cave dweller, after killing the animals, paints them w i t h their o w n blood and uses their fat to light the cave by. Originating in a deeply destructive impulse, art substitutes a controllable artifact for life so as to gain power over it. A m o n g the variants of this poem we find the following memorable verses: »What so accurate it looks like love/Was only conquest.« The lines clearly suggest that man's love of artistic representation is in fact inseparable from his lust for power. Jarrell, strongly Freudian in many of his attitudes, considers all art — and indeed all culture — as the sublimation of man's unconscious egotistical drives. I n the unpublished poem, the »painter of natural / Objects« is called »unnatural« because of his peculiarly human urge to remake the world in his o w n image; »Adam is Adam« in that his symbol-making consciousness radically severs him from the rest of the creation. I n The Bat-Poet, too, Jarrell hints at man's eccentric position through the chipmunk's comment on the mockingbird: «He thinks that he is different from everything else, and he is.« (BP 33) I n the words of the fragment: » ... man PRESUPPOSES/His own unnaturalness; is unpictured I Because unpicturable.« Both the cave painter and the mockingbird are incapable of self-reflection; they only »picture« themselves indirectly through style and subject matter. Without unduly pressing the story, it may yet be suggested that it is the batpoet's (and, in a larger sense, the author's) self-reflective art — his metafictional stance — which allows him to show forth what to the mimetic artist must remain »unpicturable«. 22 By thematizing the bird's eccentric behavior the bat-poet not only reveals the hidden motivation underlying the mockingbird's art (and — by implication — of art in general), he also manages to throw into relief the problematic relationship between fiction and reality: »Which one's the mockingbird? which one's the world?« (BP 28) I n this climactic line o f the poem, the reader is finally confronted w i t h the author's own epistemological doubts: how to 21

This is a quotation from an untitled poem beginning w i t h the line »When, lit as in a painting o f Latour's«. The manuscripts containing various sketches and revisions o f this piece belong to the Berg Collection at the N e w York Public Library. I herewith gratefully acknowledge the permission to quote from them. 22 Indeed, it can easily be demonstrated that many o f JarrelPs poems are conspicuously metafictional in nature, e. g. »The House in the Wood«, »The O l d and the N e w Masters«, »Field and Forest«, »The Augsburg Adoration«, »Esthetic Theories: A r t as Expression«, »Orestes at Tauris«, »The Author to the Reader«, »Man in Majesty«.

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distinguish subjective experience from objective reality, art from life, fiction from truth. To Jarrell, who was never a naive realist, the status of art remained a lifelong crux. He hankered back to a romantic unity between art and life, while all along being acutely aware that the two realms are ineluctably separate. From this angle, his presentation o f the mockingbird turns out to be a covert criticism of all mimetic art. I f one compares the mockingbird's art to that of the bat-poet, one can hardly resist the conclusion that the t w o animals typify — within the limited scope of the story — what M . H . Abrams has called the t w o antithetic modes of poetic thinking: mimetic poetry on the one hand and romantic poiesis on the other. I n his introduction to The Anchor Book of Stories Jarrell claims that the »muses are the daughters o f hope and the stepdaughters of memory.« 2 3 The mockingbird obviously sings from »memory« (or »fancy«, to use Coleridge's term), whereas the bat relies on the power o f his imagination. Unable to create poetry at will, he has to wait for a poem to take shape, the starting point being an experience that affords him some unexpected flash of insight. The mockingbird's sarcastic remark: »You haven't any idea!... Nobody but a mockingbird has any idea!« (BP 32) reveals its full irony in view of the fact that it is precisely the bat's poetry which is based on the intuitive click of an »idea«. N o idea, no poem. I n vain he tries to compose an occasional poem about the cardinal: »No matter how the bat watched, he never got an idea.« (BP 25) For the genuine artist, the sense o f identity must be complemented by a sense of non-identity. A l l creative activity, the passage implies, springs from the awareness of difference; the recognition of otherness is itself an imaginative act. I t is therefore significant that the bat's poem on the mockingbird is conceived the very moment he is struck by the queerness of the bird's behavior. Hearing the mockingbird imitate a jay, »not the way a jay squawks or scolds but the way he really sings, i n a deep soft voice« (BP 26), the bat suddenly remembers how the mockingbird drove off two jays that morning, and the very incongruity becomes the nucleus of his verse: >»It's queer the way he drives everything off and then imitates it. You wouldn't think that —< and that instant he had an idea for a poem.« (BP 26-27) I n »The Poet, Truth, and Other Fictions: Randall Jarrell as Storyteller« Kathe Davis Finney remarks that »the bat poet also writes a mockingbird poem which impresses his audience w i t h its mimetic accuracy.« 24 This is misleading. The bat does, indeed, write a »mockingbird poem«, but not in the manner of the mockingbird. Instead of merely imitating the bird's voice and outward behavior, the bat poet reveals what is an essential characteristic o f the mockingbird: his paradoxical disposition. Even the bat's poem about the chipmunk, which most approaches mimesis, is not 23

The Anchor Book of Stories (New York, 1958), p.i.

24

Suzanne Ferguson ed., Critical Essays on Randall Jarrell (Boston, 1983), p. 289.

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mimetic in a superficial way but tries to capture the very life rhythm o f an animal markedly different from himself. From the start, the bat does not simply imitate the world around him. Unlike the mockingbird who hates the animals he mimics, the bat responds w i t h empathy and sympathy. He notices not merely particular features, but features and events o f universal significance: »One night he saw a mother possum, w i t h all her little baby possums holding tight to her ... one night an o w l swooped down on him« and almost »caught him« (BP 7). The former experience w i l l reappear in the cheerful piece about the chipmunk; the latter is the theme of the sombre verses about the nightly bird of prey. Since the bat strives to give form to his feelings of fear and awe, the poem becomes necessarily symbolic. The nightly bird is described as an intangible and haunting presence, as a fleeting shadow w i t h soundless wings. Through strategically selecting synecdochic features like »long claws«, »bright beak«, and »piercing eyes«, the bat-poet succeeds in evoking powerful associations o f physical danger and w i t h it a feeling o f intense vulnerability. The second stanza uses a synaesthetic image to convey the emotion o f dread at the intimation o f death. »It calls and calls: all the air swells and heaves / A n d washes up and down like water. / . . . / The owl's air washes them like water.« (BP 12) The call o f the prowling o w l pervades space as intensely as the fear of annihilation pervades the soul. I t is through this symbolic ablution that the bat gets initiated into death-consciousness. This fearful awareness drains all life from the animals, and all existence is finally effaced by the silent night: ... the bat beneath the eaves, The mouse beside the stone are still as death — The owl's air washes them like water. The o w l goes back and forth inside the night, A n d the night holds its breath. (BP 12)

I t is through the bat's symbolic verse that the particular event is here being raised onto the level of the universal. The problem of symbolic versus mimetic art has found poignant expression in »The Old and the New Masters«, a poem written at about the time of The BatPoet's composition. Here, Jarrell defines his o w n artistic credo by taking sides w i t h the >old masters< against the >new mastersold mastersold 25

Jarrell classifies both painters as »old masters« although they belong to different epochs and traditions in the history o f the arts.

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mastersnew mastersold mastersold mastersreligious< function of art. The poem ends w i t h the apocalyptic vision of a »radioactive planet«, flaring as »a bright spot somewhere in the corner« o f the last master's »picture of the universe« (CP 333). Without empathy enacted in symbolic art, this 26

I n the third part o f the poem Jarrell describes the w o r l d of »the new masters« which, according to him, includes the painter Pieter Breughel w h o m Auden in his »Musée des Beaux-Arts« classifies as an »old master«. 27 The Renaissance artists o f the 15th and 16th centuries represented the w o r l d »objectively« in the sense that they strictly followed the laws of perspective, disregarding the medieval convention of indicating moral status by relative size. This manner of depicting things in their perspectival proportions coincided w i t h a growing interest o f most painters in subjects from their o w n surroundings; religious motifs were increasingly used as a pretext for representations o f a topical and often subjective nature. A m o n g the Italian mannerists o f the 16th century there even developed a tendency to go to the opposite extreme o f the Middle Ages and to allot but marginal space to the central religious figures. Pieter Breughel was one of the most prominent Flemish artists who acquired this mode in Rome and took it north. I t is best exemplified by his famous »Christ Carrying the Cross« (Vienna, Kunsthistorisches Museum) and »Icarus« (Brussels, Musée des Beaux-Arts). 28 This painting is not mentioned in Jarrell's poem but the poet could well have had this or a similar picture in mind. The scene of the Lord's Supper is set in a Venetian palace of the painter's o w n time; it can hardly be distinguished from a nobleman's banquet, the realism including the hungry dogs prowling round the table in the hope o f catching some crumbs.

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 28. Bd.

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Helen Hagenbüchle

world — Jarrell warns — is bound to destroy itself. A t the same time, Jarrell's vision of the universe as a giant work of art is itself a grandiose metaphor o f the poet's belief that art and life, in some sense, are ultimately coextensive. I n »The Obscurity of the Poet« Jarrell argues that »Art matters ... because it is life itself«: From Christ to Freud we have believed that, i f we know the truth, the truth w i l l set us free: art is indispensable because so much o f this truth can be learned through works of art and through works o f art alone — for which o f us could have learned for himself what Proust and Chekhov, Hardy and Yeats and Rilke, Shakespeare and Homer learned for us? and in what other way could they have made us see the truths which they themselves saw, those differing and contradictory truths which seem nevertheless, to the mind which contains them, in some sense a single truth? (PA 21)

I t is this Platonic confidence that »there is an order of the world« in which »the lost plays of Aeschylus are no different from those that have been preserved, an order in which the past, the present, and the future have in some sense the same reality« (PA 24), which — mutatis mutandis — also informs The Bat-Poet, i f only i n a very subdued manner. The real life i n Jarrell's garden and the existence of that life in the author's mind as fixed in the story of The Bat-Poet complement each other. A r t is the means through which we come to understand life, and from this angle the two have ultimately the same order of reality. I f the bat-poet, as the end of the tale suggests, should forget the poem which he wanted to tell his fellow bats, it does not matter. Art's truth is forever subsumed and preserved i n Life's truth. Reviewing the overall structure of The Bat-Poet, one is struck by its strongly cyclical quality. The fictional story emerges out of the narrator's actual existence, as it were, and it ends by returning to the same world of >realityNouveau Théâtres

(Paris, 1967); I. Coomb, Camus, homme de théâtre (Paris, 1968); K . Schoell, Das

französische Drama seit dem Zweiten Weltkrieg,

2 Bde. (Göttingen, 1970); J. Duvignaud — J.

Lagoutte, Le théâtre contemporain. Culture et contre-culture

(Paris, 1974); E. Jacquart,/^ théâtre

de dérision (Paris, 1974); R. Lorris, Sartre dramaturge (Paris, 1975); R.. Daus, Das Theater des Absurden in Frankreich 5

(Stuttgart, 1977); M . Corvin, Le théâtre nouveau en France (Paris,

1980); K . A . Blüher (ed.) Modernes französisches Theater. Adamov-Beckett-Ionesco (Darmstadt,

1982); P.-L. Mignon, Le théâtre au XX* 4

siècle (Paris,

2

1986).

Cf. z. B. M . Jarrety, Valéry: L'Histoire , écriture d'une fiction , Poétique 13 (1982), p. 71-82.

Das französische Geschichtsdrama nach 1945

169

worden waren. Sie ist aber zugleich auch die Folge jener heftigen K r i t i k , die von der französischen Avantgarde seit Alfred Jarry und den spätsurrealistischen Theaterkonzeptionen Antonin Artauds an dem aus dem 19. Jahrhundert überkommenenen Modell des mimetisch-illusionistischen Theaters geübt worden ist 5 . 3. Es fehlt in der Nachkriegszeit mit geringen Ausnahmen — hier wäre insbesondere Adamov zu nennen — eine theoretische Reflexion der Autoren über das Konzept des Geschichtsdramas. Wenn Dramatiker historische Stoffe aufgreifen, so meiden sie bezeichnenderweise den Begriff drame historique (oder ähnliche traditionelle Begriffe wie pièce historique , tragédie historique , épochée historique, scènes historiques usw. 6 ); sie gehen auch in ihren eigenen Kommentaren und Erläuterungen zu den betreffenden Stücken nur sehr selten auf die Problematik der Geschichtsdramen näher ein und lehnen hierbei zumeist offen jeden Bezug zu diesem Genre ab. Auch in dieser Hinsicht ist der Unterschied zur Situation i m deutschsprachigen Theater unübersehbar, wo in der gleichen Zeit namentlich Bertolt Brechts Bestimmungsversuche zu einem auf Verfremdungs- und Distanzierungseffekten basierenden epischen Theater zugleich zu einer Neudefinition eines modernen nichtaristotelischen Geschichtsdramas geführt hat 7 . 4. I m Bereich des politischen und gesellschaftskritischen Theaters, das zum Teil von der seit den späten fünfziger Jahren einsetzenden Brecht-Rezeption beeinflußt i s t 8 , werden die Geschichtsdramen in Frankreich allgemein als bloße Varianten politisch-sozialer Dramatik behandelt und deshalb vor allem i m Hinblick auf eine Zuordnung zu Formen des epischen Theaters, des Lehrstücks

5

K . A . Blüher, »Die französischen Theorien des Dramas i m 20. Jahrhundert«, in: W.

Pabst (ed.), Das moderne französische 6

Drama (Berlin, 1971), p. 33-48.

Die genannten Begriffe treten seit Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich auf. So

nennt z. B. Ramond de Carbonnières seine Bearbeitung von Goethes Götz von Berlichingen mit dem Titel La Guerre d' Alsace, pendant legrand schisme d'Occident (1780) ein drame historique, während Mercier sein Schauspiel La Mort de Louis XI

(1783) als pièce historique und La

destruction de la Ligue (1782) als pièce nationale bezeichnet. Marie-Joseph Chénier spricht in seiner Vorrede zu Charles IX (1789) von einer tragédie nationale, und auch Stendhal fordert in seiner Programmschrift Racine et Shakespeare (1823 / 25) die Schaffung einer tragédie nationale en prose; Vitet sieht den Begriff >scènes historiques< für seine unter dem gemeinsamen Titel La Ligue publizierten Geschichtsdramen vor (entst. seit 1826; Gesamtausgabe 1883). Romain Rolland verwendet die Termini épopée historique und épopée nationale. 7

Cf. K . - D . Müller, Die Funktion der Geschichte im Werk

Verhältnis 8

von Marxismus und Ästhetik ( T ü b i n g e n ,

A . Hüfner, Brechtin Frankreich,

1968).

2

Berthold Brechts: Studien

zum

1772).

1930-1963: Verbreitung,

Aufnahme, Wirkung (Stuttgart,

170

K a r l Alfred Blüher

oder eines avantgardistischen théâtre populaire untersucht 9 . D i e Eigenständig-

keit des Geschichtsdramas bleibt in diesen Arbeiten weitgehend unberücksichtigt 1 0 . Angesichts dieser Forschungslage blieb nur der Weg, von der Analyse der dramatischen Texte selbst auszugehen und diese i m Hinblick darauf zu befragen, ob sie dem Typ eines Geschichtsdramas zugeordnet werden können. Hierbei verbot sich von vornherein, die Konzeption des drame historique des 19. Jahrhunderts zum Maßstab zu erheben. Denn die außergewöhnlich vielfältigen, zum Teil offen experimentellen Formen des modernen Geschichtsdramas sind mit den Kriterien herkömmlicher A r t nicht mehr ausreichend zu bestimmen. Andererseits wurde mir nach der Durchsicht wichtiger Arbeiten aus der germanistischen und anglistischen Forschung klar — ich verweise insbesondere auf die Untersuchungen und Veröffentlichungen von Sengle (1952, 2 1969), Lukâcs (1965), Lindenberger (1975), Tetzeli von Rosador (1976), GrimmHermand (ed., 1976), Martini (1979), Neubuhr (ed., 1980) und Hinck (1981) 1 1 — , daß die hier erarbeiteten und benutzten Definitionen nur sehr bedingt geeignet sind, um den vielfach von ganz anderen dramaturgischen Konzeptionen ausgehenden französischen Geschichtsdramen der Nachkriegszeit gerecht zu werden. Eine semiotische Analyse des Geschichtsdramas Ich möchte deshalb i m folgenden ein neues Modell dieses dramatischen Genres zur Diskussion stellen, das anhand eines Corpus von Stücken entwickelt wurde, die sowohl dem Bereich des traditionellen drame historique wie dem Gebiet der modernen französischen Geschichtsdramen der Zeit nach 1945 entstammen. Dieses Modell geht i m Gegensatz zu den genannten Studien von einem 9

Cf. hierzu beispielsweise B. D o r t , Théâtre public 1953-1966 (Paris, 1967); Théâtre réel

1967-1970 (Paris, 1971); K . Robra, Frankreich Theaterstücke

im Spiegel gesellschaftskritischer

französischer

1955-1970 (Diss. Tübingen, 1973); A . Neuschäfer, Das >Théâtre du Soleih:

Commedia deWArte und création collective (Rheinfelden, 1983). 10

Dies zeigt sich auch in den Beiträgen zu Konrad Schoell (ed.), Avantgardetheater

Volkstheater:

Studien

Dramen und Theater des 20. Jahrhunderts

und

in der Romania [Kasseler

Arbeiten zu Sprache und Literatur Bd. 13], (Frankfurt, a . M . — B o n n , 1982). 11

1952,

F. Sengle, Das deutsche Geschichtsdrama: Geschichte eines literarischen 2

Mythos (Stuttgart,

1969); G. Lukâcs, Der historische Roman (Neuwied-Berlin, 1965) (darin: 2. Kap.:

Historischer Roman und historisches Drama); H . Lindenberger, Historical Drama — The Relation of Literature and Reality (Chicago, 1975); K . Tetzeli v o n Rosador, Das englische Geschichtsdrama seit Shaw (Heidelberg, 1976); R. G r i m m — J . Hermand (ed.), Geschichte im Geschichtsdrama

(Stuttgart etc., 1976); F. Martini, Geschichte im Drama,

Drama in der

Geschichte (Stuttgart, 1979); E. Neubuhr (ed.), Geschichtsdrama (Darmstadt, 1980); W. Hinck (ed.), Geschichte als Schauspiel (Frankfurt a.M., 1981).

Das französische Geschichtsdrama nach 1945

171

theatersemiotischen Ansatz aus, der an die kommunikationsorientierten und textanalytischen Konzepte dieser neuen Forschungsrichtung anknüpft, hierbei aber auch die theatergeschichtlich erkennbaren Entwicklungsphasen dramaturgischer Darbietungsmodi berücksichtigt, soweit sich diese aus den bisher vorliegenden relevanten literatur- und theaterhistorischen Untersuchungen erkennen lassen 12 . Überblickt man den aktuellen Stand der Gattungstheorie zum Geschichtsdrama, so zeigt sich, daß eine allein v o m Stoff und dessen quellenmäßig verbürgter Historizität her begründete Bestimmung des Geschichtsdramas, wie sie früher zumeist unbesehen akzeptiert worden war, heute zu Recht allgemein als unbefriedigend abgelehnt wird. Die meisten Forscher neigen offensichtlich dazu, das Hauptkriterium für die Definition dieses Genres i n die Intention des Werks und des Werkproduzenten zu legen: in die ein historisches Drama formende Geschichtsauffassung (Tetzeli von Rosador 1976), in die v o m Anliegen des Dichters gelenkte Geschichtsdeutung der Dichtung (Neubuhr 1980), i n eine aus den Erfahrungen des Autors schöpfende Sinnvorgabe (Hinck 1981) usw. Lediglich einige von den Theoremen der hegelianisch-marxistischen Geschichtsphilosophie ausgehende Kritiker (Schumacher 1959, Lukäcs 1965) vertreten die Auffassung, daß die — vielfach auch unabhängig vom Bewußtsein des Autors realisierte — objektive Widerspiegelung der historischen Wirklichkeit das entscheidende Kriterium darstelle. Ob nun aber von der vorgegebenen Geschichtsauffassung des Dramatikers ausgegangen wird, der die historischen Ereignisse subjektiv deutet, oder aber v o m Gesichtspunkt der Wirklichkeitswiderspiegelung, welche die möglichst objektive Abbildung geschichtlicher Vorgänge als oberstes Richtmaß benutzt, in beiden Fällen werden letztlich Kriterien zum Maßstab erhoben, die außerhalb des Bühnenwerks liegen; dem Dramentext selber wird hierbei nur ein untergeordneter Rang eingeräumt. I m Gegensatz zu diesen — hier etwas vereinfacht — wiedergegebenen Gattungsbestimmungen gehe ich i m folgenden davon aus, daß sich die Spezifität des Geschichtsdramas aus der besonderenTextorganisation dieses Dramentyps ergibt, deren Zeichenstruktur in der Weise gestaltet ist, daß sie bei der Aufführung i m Zuschauer den Eindruck der Rekonstruktion und Deutung einer vergangenen, historisch verbürgten Wirklichkeit zu erwecken vermag. Nach der hier vertrete-

12

Eine semiotische Arbeit zum Geschichtsdrama ist mir nicht bekannt. Z u r allgemeinen

Orientierung über den aktuellen Stand der Theatersemiotik verweise ich insb. auf P. Pavis, Problèmes de sémiologie théâtrale (Montréal, 1976); A . Ubersfeld, Lire le théâtre (Paris, 1977); P. Pavis, Dictionnaire du théâtre (Paris, 1980); K . Elam, The semiotics of theatre and drama (London, 1980); M . de Marinis, Semiotica del teatro: L'analisi testuale dello spettacolo (Milano, 1982); E. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, 3 Bde. (Tübingen, 1983); P. Pavis, Voix et images de la scène: Pour une sémiologie de la réception (Lille,

2

1985).

172

K a r l Alfred Blüher

nen Ansicht ist das Geschichtsdrama also i m Sinne von Roland Barthes eine A r t semiotischer Maschine zur Erzeugung fiktionaler Historizität i n der Imagination des implizierten Publikums. M i t dieser Bestimmung ist gewährleistet, daß Bühnenwerke auch entgegen der ausdrücklich geäußerten Autorintention durchaus dem Genre des Geschichtsdramas zugeordnet werden können, sofern sich nämlich in der Textstruktur Merkmale vorfinden, die es dem Zuschauer bei der Aufführung erlauben, das betreffende Stück als historisches Drama zu verstehen. Entsprechendes gilt z. B. für Sartres Résistancedrama Morts sans sépulture (1946), von dem der Autor selbst sagte: »Ce n'est pas une pièce sur la Résistance« 13 , oder für Montherlants Renaissancestück Malatesta (1946), von dem der Verfasser trotz zugestandener weitgehender Respektierung der historischen Fakten beteuerte: »La pièce n'est pas une pièce historique« 1 4 . Diese Stücke weisen in der Tat eine mehrfach und unterschiedlich dekodierbare Textstruktur auf, die entgegen der Auffassung der Autoren auch zu einer Lektüre i m Sinne eines Geschichtsdramas berechtigt. Bei einer Inszenierung kann dementsprechend entweder die Darstellung der existenzphilosophischen (Sartre) oder der psychologischen Konflikte (Montherlant) hervorgehoben werden, oder aber der geschichtliche Aspekt dieser Stücke, so daß bei Sartre die Problematik des Widerstandes während der Okkupationszeit und bei Montherlant die der Herrschaft s kämpfe während der italienischen Renaissance in den Vordergrund treten. Andererseits wird aber mit diesem semiotisch-strukturalistischen Ansatz das letztlich noch von der realistischen Dramaturgie des 19. Jahrhunderts abgeleitete Kriterium der (möglichst) objektiven Widerspiegelung geschichtlicher Wirklichkeit hinfällig, dessen Anwendung auf die modernen experimentellen französischen Geschichtsdramen Schwierigkeiten bereitet. Unser neues Bestimmungskonzept ermöglicht es, auch nicht-mimetische Fiktionsspiele, die mit historischen Figuren und Ereignissen frei und ohne jede Rücksicht auf Faktentreue umgehen, sowie Geschichtsmontagen und -revuen mit farcenhaftem oder parodistischem Charakter dem Genre des Geschichtsdramas zuzuordnen. Man denke hierbei an die auf Formen der Barockdramatik zurückgreifenden Monumentalstücke von Paul Claudel, die bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren in Frankreich ein modernes episches Geschichtsdrama begründen, das christliche Heilsgeschichte und Profangeschichte in Gestalt eines modernen Theatrum mundi vereint. Claudels Le Soulier de satin (1929), dessen mehrsträngige Handlung sich über fast hundert Jahre von 1549-1640 erstreckt und dessen Schauplätze sich über die verschiedensten Regionen des damaligen spanischen Weltreichs verteilen, bietet ebenso wie Le livre de Christophe Colomb (1935), das die Figur des spanischen Seefahrers und Konquistadors zur Darstellung christlicher Erlösungsproblematik einsetzt, ein

13

Jean-Paul Sartre, Un théâtre de situations (Paris, 1973), p. 241.

14

Henry de Montherlant, Théâtre (Paris, 1965), p. 544.

Das französische Geschichtsdrama nach 1945

173

vielschichtiges, illusionsdurchbrechendes Schauspiel, dessen Historizität in die transzendente Ebene christlicher Weltsicht eingebettet ist. Moderne Geschichtsdramen i n Form von mehrschichtigen subjektiven Illusionsspielen sind z.B.. Audibertis Pucelle (1950), wo die historische Gestalt der Jeanne d'Arc i m Rahmen eines theatralischen Spiels im Spiel in die Figur des naiven Bauernmädchens Joannine und die der mystisch-heroischen Heerführerin Jeanette aufgespalten ist, oder Anouilhs bekannte Dramatisierung des gleichen Themas L'Alouette (1953), wo das Märtyrerschicksal der Jungfrau von Orléans ebenfalls als Theater im Theater auf einer mittelalterlich stilisierten Simultanbühne erscheint. I n allen diesen historischen Dramen ist eine objektive Abbildung der geschichtlichen Wirklichkeit nicht zu beobachten und natürlich auch nicht v o m Autor intendiert. Da sich unserer Ansicht nach der Status eines Geschichtsdramas aus bestimmten Merkmalen der Textorganisation ergibt — wobei der Begriff Text i m theatersemiotischen Sinne nicht nur die Dialoge, sondern die Gesamtheit aller verbalen und nichtverbalen Konstituenten eines Theaterstücks bezeichnet, stellt sich deshalb die Frage, welche Textmerkmale als allgemein konstitutiv für diese Dramengattung anzusehen sind, und zwar bei Berücksichtigung sowohl der älteren Formen des drame historique als — vor allem — der modernen Varianten dieses Typs, wie sie i n der Zeit nach 1945 i n Frankreich auftreten. Diese Merkmale lassen sich in folgende vier Kategorien einordnen, die allerdings erst zusammengenommen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß ein Bühnenstück vom Zuschauer als Geschichtsdrama aufgefaßt und gedeutet werden kann: 1. das — fiktionale — Postulat einer historischen Authentizität der dargestellten Figuren und / oder der gestalteten Ereignisse oder zumindest des evozierten zeiträumlichen epochalen Kontextes, 2. die Gestaltung einer dramatischen Handlung, die nicht auf die private Sphäre der Hauptfiguren, ihre persönlichen Liebeskonflikte, charakterlichen Prägungen, moralischen Entscheidungen, existentiellen Probleme beschränkt bleibt, sondern Aspekte politisch-gesellschaftlicher Öffentlichkeit als motivierende Faktoren einsetzt, 3. die Markierung der theatralischen Historizität mittels relevanter dramaturgischer Textverfahren, zu denen i m mimetisch-illusionistischen Theater des 19. Jahrhunderts die detailgetreue Vorspiegelung eines historischen Lokalkolorits gehört, während i m nicht-illusionistischen Theater der Moderne distanzierende Episierungstechniken, als Dokumente eingesetzte Zitate aus geschichtlichen Quellen usw. die Funktion der szenischen Historisierung des Textes übernehmen, 4. die Einarbeitung einer aktualisierenden Geschichtsdeutung der dramatisierten Vorgänge, die einen intertextuellen Bezug zu kultursemiotisch vorgegebenen historischen Diskursen (z.T. auch zu literarischen Intertexten) und deren

174

K a r l Alfred Blüher

Deutungen der geschichtlichen Ereignisse herstellt (und die beim implizierten Zuschauer zumeist als — zumindest in groben Zügen bekannt — vorausgesetzt werden können). Das Postulat historischer Authentizität Aufgrund des zuerst genannten Postulats historischer Authentizität unterscheidet sich das Geschichtsdrama insbesondere von allen Bühnenstücken mit rein fiktiver, ahistorischer Thematik, aber auch von mythologischen Dramen, sowie von politischen Zeitstücken die (bei der Erstaufführung) i n der Gegenwart situiert sind. Das Geschichtsdrama erhebt den Anspruch, auf der Bühne ein fiktionales Geschehen zu verwirklichen, das v o m Zuschauer infolge seines historischen Vorwissens als Interpretation eines tatsächlich vorgefallenen vergangenen Geschehens empfunden werden kann. Hierzu ist die ohnehin nicht zu erreichende völlige Authentifizierung sämtlicher dargestellter Vorgänge, wie sie etwa das moderne historische Dokumentationsstück zu erreichen vorgibt, keinesfalls erforderlich. Es ist nicht nötig, daß die Hauptfiguren und -ereignisse der Geschichte entnommen sind. Wie schon zahlreiche romantische Geschichtsdramen belegen, die in Frankreich unter dem Einfluß von Goet^ von Berlichingen und Schillers historischen Dramen sowie durch Nachahmung von Verfahren der historischen Romane Scotts entstanden sind, kann das Postulat historischer Authentizität allein schon dadurch erfüllt sein, daß die fiktiven Helden in einen mit entsprechendem Lokalkolorit ausstaffierten geschichtlichen Kontext eingefügt sind. So hat z. B. Victor Hugo für sein bekanntes historisches Kostümstück Ruy Blas (1838) seinen eigenen Worten zufolge lediglich eine geschichtliche réalité de l'ensemble der dargestellten spanischen Wirklichkeit des 17. Jahrhunderts mittels exakter Wiedergabe der petits détails d'histoire et de vie domestique anvisiert (Vorwort). Auch in dem modernen Geschichtsdrama Paolo Paoli (1957) von Adamov ist nur der gesellschaftliche und ökonomische Hintergrund der Jahre 1900-1914 mit dokumentarischer Akribie nachgezeichnet worden, während die Figuren und die Intrige frei erfunden sind. Historischer Authentizitätsanspruch darf demnach nicht mit historischem Illusionismus verwechselt werden, wie er i n der mimetisch-realistischen Dramatik des 19. Jahrhunderts zunehmend angestrebt worden war — in Deutschland beispielsweise in Hauptmanns naturalistischem Geschichtsstück Die Weber (1892), in Frankreich in den épopées historiques y die Romain Rolland für sein Théâtre du peuple schrieb und von denen die Dramen Les Loups (1898), Danton (1899) und Le quatorze juillet (1902) die Atmosphäre der historischen Ereignisse der Französischen Revolution detailgetreu zu vergegenwärtigen suchten. I m dramaturgischen Illusionismus historischer Stücke ist letztlich nur ein stützendes Verfahren zu sehen, das den Authentizitätsanspruch des Geschichtsdramas zu intensivieren versucht. Dieser selbst aber ergibt sich allein schon aus den

Das französische Geschichtsdrama nach 1945

175

referentiellen Zeichen des Stücks, die einen intertextuellen Bezug zu geschichtlichen Diskursen herstellen, und zwar namentlich durch Verwendung historisch beglaubigter Namen, Schauplätze und Aktionen, deren Kenntnis beim Publikum weitgehend vorausgesetzt werden kann. Gerade in den modernen Geschichtsdramen ist das Authentizitätspostulat häufig allein schon dadurch verwirklicht, daß Figuren, Ereignisse oder ein epochaler Kontext auf der Bühne erscheinen, die jedem Zuschauer bereits aus seiner Schulzeit vertraut sind. Der Intertext, auf den referiert ist, wird hierbei weniger v o m vorgegebenenen historischen Diskurs spezieller Schriften der universitären Geschichtswissenschaft gebildet, als von den Geschichtsbüchern des elementaren Schulunterrichts, aber auch von populären Darstellungen und — nicht zuletzt — von jenen Geschichtsbildern, die Film und Fernsehen verbreiten. Historischer Authentizitätsanspruch heißt in diesen Stücken also lediglich das Signalisieren einer Referenz des Dramentextes zu Intertexten eines historischenDiskurses, der in jener Kulturgemeinschaft, der Autor und Zuschauer angehören, gängige Münze ist. Man versteht, weshalb das Geschichtsdrama mit Vorliebe zu Stoffen greift, die der eigenen geschichtlichen Vergangenheit dieser kulturellen Gemeinschaft entstammen oder die zumindest der Geschichte naher, benachbarter Völker und Staaten entnommen sind. I n Frankreich traten bereits die Begründer des Geschichtsdramas der Spätaufklärung in diesem Sinne für die Behandlung nationaler Themen ein. Stendhal forderte in seiner frühromantischen Programmschrift Racine et Shakespeare (1823/25) die Kreation von tragédies nationales. Und auch Romain Rolland sah das Hauptziel seines Schaffens in der Verwirklichung einer épopée nationale (in Le Théâtre du peuple, 1903). Entscheidend ist hierbei allerdings nicht, daß diese Sujets bereits i m historischen Diskurs Gemeinplätze der Nationalgeschichte bilden, sondern daß sie schon dort als konfliktreiche, dramatische Ereignisse dargestellt sind. Teils handelt es sich hierbei um das — zumeist tragische — Schicksal einzelner herausragender historischer Persönlichkeiten. I n Frankreich ist Jeanne d'Arc die am häufigsten dramatisierte geschichtliche Gestalt. Ihr Heldentum und Martyrium ist i n zahllosen Stücken behandelt worden, angefangen beim spätmittelalterlichen Mystère du siège d'Orléans (um 1435), fortgesetzt in mehreren Tragödien und Dramen des 16.-19. Jahrhunderts, und das i m 20. Jahrhundert bereits vor Audiberti (Pucelle, 1950) und Anouilh (L'Alouette, 1953) unter anderem von Péguy (Le Mystère de la charité de Jeanne d'Arc, 1917), François Porché (La vierge au grand coeur, 1925), Claudel (Jeanne d'Arc au bûcher, 1938), Claude Vermorel (Jeanne d Arc avec nous, 1942), Robert Brasillach (Domrémy, 1943) und Thierry Maulnier (Jeanne et les juges, 1949) dramatisiert worden w a r 1 5 . Auch französische Könige, so 15

Die Geschichte der Dramatisierungen dieser historischen Figur ist gut bekannt. Cf.

Comte de Puymaigre, Jeanne d'Arc au théâtre (1439-1890) (Paris, 1890); E. van Jan, Das

176

K a r l Alfred Blüher

vor allem Heinrich IV., wurden früher häufig als Dramenfigur gewählt. Besondere Beachtung finden immer wieder das gewaltsame Ende Marats, Dantons und Robespierres (u.a. Romain Rolland, Danton, 1899; Robespierre, 1938; Saint-Georges de Bouhélier, Lesangde Danton ,1931; Audiberti (La guillotine, Hörspiel 1964), sowie Leben und Untergang Napoléons (Saint-Georges de Bouhélier, Napoléon, 1933; Audiberti, L'Ampélour, 1937/1948; Paul Raynal, Napoléon unique, 1939; Charles Prost, Veillons au salut de r empire , 1959; Anouilh, La foire d'empoigne, i 9 6 0 ) 1 6 . Wichtiger werden insbesondere für das moderne französische Geschichtsdrama die Gestaltungen des kollektiven Schicksals von unterdrückten und revoltierenden ganzen Bevölkerungsgruppen, Gesellschaftschichten und Widerstandskreisen. Auch diesen Ereignissen ist natürlich in der französichen Geschichtsschreibung bereits eine teilweise sehr ausführliche Behandlung zuteil geworden. Hierzu gehören Dramen über die Ermordung französischer Protestanten in der Bartholomäusnacht (mehrere Stücke seit Ende des 16. Jahrhunderts) oder über die Verfolgung der Jansenisten i m 17. Jahrhundert (Montherlant, Port-Royal, 1954). Den Bauernaufstand der Jacquerie i m Jahre 1358 hat als erster Mérimée zum Thema eines romantischen Geschichtsdramas erwählt (1828); die Tage der Barricades (1588) sind in der gleichen Zeit von Vitet zu einem Geschichtsfresko gestaltet worden (1826). Natürlich sind auch die Ereignisse der französischen Revolution von 1789 in der Moderne mehrfach als Kollektivereignis dramatisiert worden (u. a. Romain Rolland, Le quatorze juillet, 1902; Ariane Mnouchkines Revolutionsstücke 1789 und 1793 am Théâtre du Soleil, 1970-1972; Roger Planchon, Bleus, Blancs, Rouges, 1971); die Zeit der Terreur evoziert Bernanos i n seinen Dialogues des carmélites (1949; nach Gertrud LeForts Novelle Die Letzte am Schafott). Adamov hat die Pariser Kommune von 1871 i m Anschluß an Grieg und Brecht auf die Bühne gebracht (Le Printemps 71, 1961). Während in den dreißiger und vierziger Jahren der Erste Weltkrieg für mehrere Dramatiker die Sujets lieferte (André Obey, Bataille de la Marne, 1931; Ultimatum, 1945; Paul Raynal, La Francerie, 1933; Le Matériel humain, 1948), wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das Résistancethema aktuell (Jean-Richard Bloch, Toulon, 1945; Salacrou, Les nuits de la colère, 1946; Sartre, Morts sans sépulture, 1946). Auch bei nicht-nationalen Stoffen kann i n vielen Fällen beim impliziten Zuschauer auf eine gewisse Kenntnis des historischen Hintergrunds referiert

literarische

Bild der Jeanne d'Arc (1429-1926)

(Halle a. d. Saale, 1928) Beihefte z . Z . f.rom.

Philologie 76; »Das Bild der Jeanne d'Arc in den letzten 25 Jahren«, Rom. fahrbuch 5 (1952), p. 101-137; »Das Bild der Jeanne d'Arc in den letzten 10 Jahren«. Rom. Jahrbuch 12 (1961), p. 136-150. 16

Cf. E. Kreihanzl, Napoleon im französischen

Drama des 19. Jahhunderts (Diss. Wien,

1953); J. Tulard, Le mythe de Napoléon (Paris, 1971).

Das französische Geschichtsdrama nach 1945

177

werden. Dies gilt in der Nachkriegszeit namentlich für engagierte Stücke mit Themen aus der nahen Vergangenheit und hoher politischer oder gesellschaftskritischer Brisanz. Der französich schreibende Spanier Fernando Arrabal hat in Guernica (1960) mit Bezug auf Picassos berühmtes Gemälde die brutale Zerstörung des baskischen Orts durch den Fliegerangriff der Legion Condor als antiillusionistische Groteske über die Unmenschlichkeit des Krieges gestaltet. Besonders häufig hat Armand Gatti in seinen politischen Dramen mit experimenteller Dramaturgie Themen der Gegenwartsgeschichte aufgegriffen, die dem Zuschauer vertraut sind, so in La Passion du général Franco (1965) die Problematik des spanischen Faschismus, in V comme Vietnam (1967) die amerikanische Intervention i m Vietnamkrieg und in Rosaspartakus prend le pouvoir (1971) die Ermordung Rosa Luxemburgs. Bekannte Themen der Zeitgeschichte werden auch von Aimé Césaire in seinem politischen Lehrstück über Lumumba und den Kampf gegen den Kolonialismus Une saison au Congo (1966) oder von Kateb Yacine in seinen beiden Dramen Le Cadavre encerclé und Les Ancêtres redoublent de férocité (1959) über den Widerstand des algerischen Volkes gegen die französische Kolonialherrschaft angesprochen. Werden hingegen historische Sujets gestaltet, für die beim implizierten, d. h. in unserem Fall beim französischen Standardpublikum, kein Vorwissen vorausgesetzt werden kann, da es sich um wenig bekannte Gegebenheiten aus der eigenen historischen Vergangenheit oder um ferne Ereignisse aus fremden Kulturgemeinschaften handelt, so w i r d das Postulat historischer Authentizität dem Zuschauer im Haupt- und/oder Nebentext des Dramas selbst mittels entsprechender Textsignale glaubhaft gemacht. Henry de Montherlant, der mit Vorliebe auf prominente, aber dem französischen Zuschauer nicht immer vertraute Figuren aus der italienischen Renaissance und des spanischen Siglo de oro zurückgreift, suggeriert z.B. stets durch den Nebentext eine exakte zeiträumliche Situierung des Geschehens und verläßt sich darüber hinaus auf die Wirkung der illusionistischen Dramaturgie, die ein gewisses Lokalkolorit evoziert. Malatesta (1946) bringt die letzten Monate des italienischen Condottiere nach historischen Quellen in einer sich in Rimini und Rom von Juni bis Oktober 1468 abspielenden Handlung auf die Bühne; Le Maître de Santiago (1947) zeigt die historische Figur des letzten Großmeisters des spanischen Ritterordens i m Januar 1519 i m Empfangssaal eines alten kastiüschen Schlosses, wohin er sich aus Empörung über die Unterdrückung der Indianer bei der beginnenden Eroberung Amerikas zurückgezogen hat; Le Cardinal d'Espagne (1960) verlegt das Geschehen um den Kardinal Francisco Ximenez de Cisneros in den November 1517 nach Madrid. Camus präzisiert in der Prière d'insérer von Les justes (1950), daß die Ereignisse um das Attentat auf den Großfürsten Sergej i m Februar 1905 in Moskau stattfinden. Und Aimé Césaire läßt in seiner Tragédie du roi Christophe (1963/70) einen >présentateur-commentateur< auftreten, der den Zuschauer über 12

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 28. Bd.

178

K a r l Alfred Blüher

die historischen Hintergründe der Freiheitsbewegung der Negersklaven auf Haiti aufklärt, die das Thema dieses Stückes bildet. Je weiter Handlungsort und -zeit von der Wirklichkeit des implizierten Zuschauers entfernt und je geringer daher das historische Vorwissen ist, das beim Publikum vorausgesetzt werden kann, desto zwingender entsteht die Notwendigkeit, die Historizität der Vorgänge durch den Dramentext und die Inszenierung selbst zu unterstreichen. Wie erkennbar, sind es stets intertextuell auf den historischen Diskurs verweisende referentielle Zeichen, mit denen dem Zuschuer historische Authentizität signalisiert wird. Es reicht aus, wenn innerhalb der theatralischen Fiktion gewisse Signale der Geschichtlichkeit gesetzt werden, sei es durch Nennung bekannter historischer Namen und Örtlichkeiten, Evozierung historisch ausgewiesener Ereignisse oder Rekonstruktionen eines bestimmten kontextuellen geschichtlichen Hintergrunds, die dem Zuschauer unmittelbar einsichtig sind oder von diesem ohne Schwierigkeit überprüft werden können. Der Anspruch absoluter Faktentreue wird hingegen v o m modernen französischen Geschichtsdrama bezeichnenderweise nie erhoben, und zwar selbst dann nicht, wenn eine weitgehende Übereinstimmung zwischen der fiktionalen Handlung und den historisch bezeugten, dokumentarisch-quellenmäßig belegbaren Tatsachen erkennbar ist (und v o m Autor i n kommentierenden Äußerungen bestätigt wird). Das moderne Produkt des historischen Dokumentärstücks, das das Authentizitätspostulat zu einem uneingeschränkten Wahrheitsanspruch übersteigert, indem es vorgibt, auf jegliche Fiktion bei der Vergegenwärtigung geschichtlicher Ereignisse zu verzichten, begegnet in Frankreich einer generellen Skepsis 17 . Man bleibt sich bewußt, daß — wie B. W. Seiler hervorgehoben hat — dokumentarische Exaktheit eine ästhetische Kategorie i s t 1 8 , die i m kommunikativen A k t der Theateraufführung als ein fiktionales semiotisches Verfahren zur Authentifizierung der Historizität verwendet wird. Selbst solche Dramatiker, die ihre Stücke auf eine sehr genaue und umfassende historische Dokumentation stützen, können daher die Frage der Faktentreue als nebensächlich abtun. So lehnt Albert Camus für sein Drama Lesjustes (1950), obwohl dessen Handlung eng an die historischen

17

Symptomatisch ist hierzu die folgende Äußerung Sartres zu Kipphardts Dokumentar-

stück In der Sache f. Robert Oppenheimer (1964): »Cette fois, il ne s'agit plus, comme dans les pièces historiques, de présenter une réalité transposée et reconstituée pour la subjectivité d'un auteur. I l s'agit de répéter le procès lui-même et les mots que chacun a réellement prononcés à un moment. Le résultat a été l'inverse de ce qui se produit dans le happening. Dans le happening, c'est finalement le réel qui absorbe l'imaginaire. Dans le cas du document, la réalité se transforme en imaginaire: c'est l'imaginaire qui mange la réalité.« »Mythe et réalité du théâtre«, in: Un théâtre de situation (Paris, 1973, p. 182). 18

B. W. Seiler, »Exaktheit als ästhetische Kategorie: Zur Rezeption des historischen

Dramas der Gegenwart«, Poetica 5 (1972), p. 388-433.

Das französische Geschichtsdrama nach 1945

179

Ereignisse beim Anschlag russischer Terroristen auf den Großfürsten Sergej i m Jahre 1905 anknüpft, so wie diese in den Souvenirs d'un terroriste (1931) von Boris Sawinkow geschildert worden waren, ausdrücklich die Bezeichnung pièce historique a b 1 9 , da für ihn die generelle Problematik der politischen Rechtfertigung von M o r d i m Zentrum steht. Montherlant, der für sein Drama über die Verfolgung jansenistischer Nonnen Port-Royal (1954) eine Vielzahl von Quellen aus dem 17. Jahrhundert und Sainte-Beuves Histoire de Port-Royal (1840) benutzt hat, meidet ebenfalls den Begriff des Geschichtsdramas, da er in seinen Stücken Seelentragödien in der Nachfolge Racines sieht, die ein »exposé psychologique nuancé et sobre« von überhistorischer Bedeutung geben 2 0 . Armand Salacrou nennt sein weitgehend illusionistisch konzipiertes Dokumentarstück Boulevard Durand (1960) i m Untertitel »chronique d'un procès oublié«, um damit anzudeuten, daß es sich um die Rekonstruktion eines tatsächlichen Ereignisses handelt, nämlich um einen Justizskandal aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, bei dem ein Streikführer aus Le Havre aufgrund von falschen Zeugenaussagen zum Tode verurteilt worden war. Selbst Salacrou versteht jedoch sein bilderbogenartig gestaltetes Drama, das die skrupellose Haltung mächtiger Unternehmer gegenüber gewerkschaftlich organisierten Arbeitern anklagt, keineswegs nur als exakte Wiedergabe eines historisch bezeugten Ereignisses. Kein Autor moderner Gechichtsdramen verfällt in Frankreich der Illusion, er könne auf der Bühne historische Wahrheit unverändert und ungedeutet widerspiegeln oder abbilden. Das Postulat historischer Authentizität erfüllt die Rolle eines fiktionalen Textverfahrens, das die Dramenhandlung scheinbar in der Geschichte verankert, jedoch hierbei lediglich einen referentiellen Bezug zu vorgegebenen historischen Diskursen unterstellt.

Das M e r k m a l der politisch-sozialen Öffentlichkeit Der fiktionale Anspruch des Geschichtsdramas auf historische Authentizität muß jedoch durch ein anderes Kriterium eingeschränkt werden, das i m Merkmal der gesellschaftlich, politisch oder auch ökonomisch begründeten Öffentlichkeit des Dramengeschehens besteht. I m Gegensatz zu Hegel und Lukâcs, die zu Recht auf die Bedeutung dieses Aspekts für das Geschichtsdrama hingewiesen haben 2 1 ,

19

»Si extraordinaires que puissent paraître, en effet, certaines des situations de cette

pièce, elles sont pourtant historiques. Ceci ne veut pas dire, on le verra d'ailleurs, que les Justes soient une pièce historique« (Albert Camus, Théâtre, récits, nouvelles, Paris 1962, p. 1826. 20

H . de Montherlant, Théâtre (Paris, 1965) p. 982. A n anderer Stelle spricht der A u t o r

v o n einer »exploration de l'homme« und einer Darstellung der tiefsten »mouvements de Tarne humaine« (ibid., p. 1101). 21

12*

G. Lukâcs, Der historische Roman (Neuwied-Berlin, 1965) p. 154 sq.

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K a r l Alfred Blüher

möchte ich dieses Kriterium allerdings nicht normativ-deduktiv aus geschichtsphilosophischen Prämissen, sondern aus den empirischen Gegebenheiten der strukturellen Eigenart historischer Dramen ableiten. M i t diesem Textmerkmal wird der Kreis der Stücke, die als Geschichtsdrama bezeichnet werden können, insofern eingeengt, als Werke, die lediglich die private Lebenssphäre der Hauptfiguren gestalten, trotz des Postulats historischer Authentizität ausgeklammert bleiben. Schauspiele, deren Kernhandlung aus einem Liebes- oder Ehrenkonflikt besteht, Charakterstücke, die den psychologischen Abgründen der Leidenschaften nachspüren, moralisierende Tendenzdramen der Aufklärung, Dramen mit vorwiegend existentialphilosophischer oder anderer philosophischer Problematik, werden selbst dann den Kriterien eines Geschichtsdramas nicht gerecht, wenn sie geschichtlich verbürgte Figuren und Ereignisse dem Dramengeschehen zugrundelegen. Es ist unabdingbar, daß über die privaten Vorgänge hinaus öffentliche Faktoren als entscheidende Motivationen auftreten, sei es in Form von gesellschaftlich relevanten Konflikten, ökonomischen Abhängigkeiten oder politischen Machtkonstellationen, die sich in einem bestimmten historischen Kontext auswirken. Unter diesen Gesichtspunkten beurteilt, erscheint es kaum gerechtfertigt, den vornehmlich psychologisch motivierten Tragödien der französischen Klassik den Status von Geschichtsdramen zuzusprechen, nur weil zum Teil auch historische Persönlichkeiten als Haupthelden gewählt werden 2 2 . Ebenso wie i n ihren Tragödien mit mythologischen Sujets berücksichtigen zwar Corneille und Racine in diesen Stücken bei der Gestaltung der Konflikte auch staatspolitische und gesellschaftsrelevante Faktoren: diese bleiben jedoch der Gestaltung der Auseinandersetzungen menschlicher Leidenschaften untereinander oder dem Kampf von >amour-passion< mit Vernunft und Ehre untergeordnet. Weder ist Corneilles einen persönlichen Konflikt zwischen Liebe und Ehre zu tragischer Größe steigerndes Schauspiel Le Cid (1637) ein Geschichtsdrama über die historische Rolle des kastilischen Nationalhelden Rodrigo Diaz de Vivar aus dem 11. Jahrhundert, noch versteht sich Racines Tragödie Britanniens (1670), i n der Nero seinen Halbbruder als Rivalen in der Liebe zu Junie aus Eifersucht vergiften läßt, als historische Darstellung der Machtverhältnisse i m römischen Kaiserreich. Selbst ein Stück wie Corneilles Cinna (1640), das den Wandel des Augustus v o m tyrannischen Herrscher zum staatsmännisch weisen Fürsten beschreibt, stellt nicht das politische Moment der Reaktion des römischen Kaisers auf die Verschwörung Cinnas und dessen Anhänger in den Mittelpunkt, sondern den privat-individuellen Aspekt der inneren Selbstüberwindung und stoisch-souveränen Selbstbeherrschung.

22

Diese Ansicht vertreten z. B. G. Lukacs, op. cit. } p. 184, und H . Lindenberger, op. cit.,

passim.

Das französische Geschichtsdrama nach 1945

181

I m 20. Jahrhundert sind aufgrund dieses Kriteriums Stücke wie Camus' Caligula (1938) auszuschließen, wo der Handlungsablauf von der persönlichen Problematik der in einem >suicide supérieur endenden Erkenntnis der Lebensabsurdität des Helden bestimmt wird, oder Sartres Kean (1953), eine Bearbeitung des romantischen Dramas gleichen Titels von Alexandre Dumas père (1836), die der Figur des an den puritanischen Gesellschaftsverhältnissen seiner Zeit gescheiterten englischen Schauspielers eine existentialistische Deutung unterlegt und die damit, das Thema enthistorisierend, die psychische Situation des Schauspielerrolle und Lebensrealität vermischenden Protagonisten ins Zentrum rückt. Es gilt freilich darauf hinzuweisen, daß die Inszenierungspraxis mancher Regisseure gegenwärtig dahin tendiert, auch vorwiegend >privat< motivierte Stücke durch entsprechende Änderungen und Zusätze mit öffentlich-gesellschaftliche^ Aspekten anzureichern, wodurch zweifellos bei der Aufführung eine gewisse Annäherung an den Typ des Geschichtsdramas erreicht wird.

D i e dramaturgische Wirkung der Historizität Es ist erstaunlich, daß in den bisherigen Bestimmungsversuchen zum Geschichtsdrama, abgesehen von einigen kurzen Hinweisen bei Tetzeli von Rosador 2 3 , die Frage der Funktion der — verbalen und nicht-verbalen — Darbietungsmittel bei der szenischen Konstituierung von Historizität explizit überhaupt noch nicht angeschnitten wurde, so als wäre hierzu der Hinweis auf die Intention des Autors, dessen Beteuerung, er habe sich an geschichtliche Fakten gehalten, oder die Tatsache einer >stofflichen< Entsprechung zwischen Dramenfiktion und geschichtlicher Realität ausreichend. Von einem theatersemiotischen Gesichtspunkt aus betrachtet, ergibt sich jedoch die Notwendigkeit, bei der Bestimmung der Textmerkmale eines Geschichtsdramas die über die allgemeine Postulierung der Historizität hinausgehenden spezifischen dramaturgischen Verfahren zu berücksichtigen, die zur szenischen Markierung der fiktionalen Geschichtlichkeit eines Theaterstückes eingesetzt werden. Ich muß mich hierbei mit Andeutungen begnügen. Als erstes gilt es, daran zu erinnern, daß — wie in Deutschland vor allem Brecht schon früh erkannte — ein Geschichtsdrama keineswegs mit den i m 19. Jahrhundert üblichen mimetisch-illusionistischen Mitteln ausgestattet sein muß, sondern daß ebensogut und vielleicht sogar noch wirksamer nichtillusionistische Techniken zur Kennzeichnung von Historizität verwendet werden können. I n Frankreich ist — wie bereits angedeutet — das konventionelle drame historique mit seinem Konzept der Suggestion eines möglichst detailgetreuen, realitätsspiegelnden historischen >Lokalkolorits< schon in den zwanziger

23

Op. cit. p. 44 sq.

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und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts definitiv in Frage gestellt worden, als man auf den Bühnen neue, den naturalistischen Illusionismus überwindende Inszenierungstechniken einführte (Copeau, das >Cartel des quatremythischen< Theatermodells, wie es namentlich in den Entwürfen zu seinem Schauspiel La Conquête du Mexique (1933) verwirklicht erscheint 25 . I n der Zeit nach 1945 findet man daher die herkömmliche illusionistische Markierung der theatralischen Historizität nur noch i n wenigen Stücken. Es sind einerseits klassizistisch orientierte Dramatiker, die weiterhin an dieser Technik festhalten, allen voran Montherlant, der z. B. die Ausstattung des Palastsaals in seinem 1519 i m spanischen Avila spielenden Geschichtsdrama Le Maître de Santiago (1947) oder die des >parloir< des Klosters von Port-Royal im gleichnamigen Bühnenstück (1954) in traditioneller Weise, wenn auch mit einer gewissen Stilisierung der historischen >couleur locale< vorsieht. Aber auch Camus, der i n L'Etat de siège (1948), von Claudel und Artaud beeinflußt, mit nichtillusionistischen epischen Verfahren experimentiert hatte, benutzt in Les Justes (1949) wieder eine klassische Dramaturgie; ebenso wie zuvor schon Sartre in Morts sans sépulture (1946). Armand Salacrou bleibt ebenfalls in seinem Résistancestûck Les nuits de la colère (1947) dem Illusionismus verpflichtet, trotz des Versuchs, durch von Filmtechniken inspirierte Einblendungen und Flashbacks die konventionellen Formen aufzulockern. Gleiches gilt für sein historisches Drama Boulevard Durand (1961), wo darüberhinaus erneut der Einfluß filmischer Verfahren, so in der A r t der Szenenverknüpfung und der mit Raffungstechniken arbeitenden Schlußsequenz, zu beobachten ist. I m Gegensatz zu diesen illusionistischen Markierungstechniken, die dem Zuschauer weiterhin das Prinzip passiver >Einfühlung in die historische Vergangenheit aufzudrängen versuchen, experimentieren die meisten modernen Geschichtsdramen der Nachkriegszeit mit illusionsdurchbrechenden Verfahren, die — zum Teil i m Anschluß an die Theatertheorien Artauds, später auch unter dem Einfluß Brechts — die Identifizierung des Publikums unterlaufen und zu kritischer Distanz gegenüber dem geschichtlichen Geschehen auffordern. Hierzu gehört in erster Linie die Bloßlegung des Fiktionalitätsstatus des Geschichtsdramas durch Betonen der szenischen Theatralität und durch den Einsatz >epischer< Distanzierungseffekte. Die Verwendung von illusionsaufhebenden, die dargestellten Ereignisse erläuternden Erzähler- und Regiefiguren, die mehr oder weniger in die Rolle eines auf der Bühne anwesenden Historikers

24

Cf. hierzu insb. D . Bablet, Les révolutions scéniques du vingtième siècle (Paris, 1975).

25

Ich behandle diese Entwürfe eingehend in meinem Buch Antonin Artaud und das

>NouveauThéâtre
Annoncier< und in Le livre de Christophe Colomb (1935) einen >Explicateur< einführte. Audiberti läßt in seinem Jeanne-d'Arc-Stück Pucelle (1950) einen Ansager und einen Chor auftreten. Aimé Césaire benutzt in seiner surrealistisch-mythischen Tragédie du Roi Christophe (1963), die die geschichtliche Unabhängigkeitsbewegung der Negersklaven auf Haiti 1807 -1820 zum Inhalt hat, einen >Présentateurepischen< Theaters i m Sinne Brechts angelehnt. Bei nicht-illusionistischer Markierung der Historizität wird i m übrigen von zahlreichen Autoren ausdrücklich der Fiktionalitätsstatus des Dargestellten hervorgehoben. Dies kann durch die bekannte dramaturgische Technik des >Spiels i m Spiel< geschehen. Hierbei wird der Zuschauer von Anfang an unmißverständlich darüber aufgeklärt, daß die auf der Bühne erzeugte Repro-

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duktion geschichtlicher Ereignisse nur als ein fiktionales Arrangement von Deutungshypothesen über die tatsächlichen historischen Vorgänge aufzufassen ist. Das Postulat historischer Authentizität wird damit offen als theatralisches Verfahren durchschaubar. Das Geschichtsdrama herkömmlicher A r t verwandelt sich in ein skeptisch-distanziertes Spiel mit Fiktionen von Historizität. Anouilh hat zu diesem Zweck in seinem Jeannne-d'Arc-Stück L'Alouette (1953) nicht weniger als drei theatralische Fiktionsebenen ineinander verwoben: eine Rahmenfiktion, die das dargestellte Geschehen als bloßes Theaterspiel kennzeichnet und bei der die Schauspieler immer wieder aus ihrer Rolle fallen, die eigentliche Dramenhandlung, die den Prozeß über Jeanne d'Arc rekonstruiert, und — als dritte Ebene — die Präsentierung einzelner Episoden aus ihrer Vergangenheit, die in Flashbacktechnik eingefügt sind. Auch in Audibertis Pucelle (1951) wird die Bühnenaktion als mehrschichtiges Illusionsspiel dargeboten, und zwar in Form eines mittelalterlichen >mystere theätralcréation collective< das Stegreiftheater der Commedia dell'arte zu politisch-aktualisierender Geschichtsdeutung heranzieht 26 . Welche Bedeutung die dramaturgischen Mittel für die Gestaltung eines Geschichtsdramas haben, läßt sich daran erkennen, daß statt einer szenischen >Historisierung< auch eine >Enthistorisierung< i n Richtung auf eine >Mythisierung< geschichtlicher Ereignisse möglich ist. So hat Camus in L'Etat de siège (1948) unter dem Eindruck des Artaudschen Konzepts eines Mythentheaters trotz der Situierung der Handlung in der von einer Diktatur beherrschten spanischen Stadt Cadiz jede genaue historische Angabe vermieden, um einen >mythe de la peste< theatralisch zu gestalten (Avertissement). Eine Mythisierung des Geschehens findet sich auch in Sartres Drama Le diable et le bon dieu (1951), das zwar in der Reformationszeit in Worms spielt, wo jedoch die geschichtlichen Konturen zugunsten der existentialistischen Problematik weitgehend verwischt worden sind. Bei derartigen Stücken führt die — häufig durch entsprechende Inszenierungen noch verstärkte — Enthistorisierung des Dramentextes zu einer Entwertung des Postulats historischer Authentizität. Sie können deshalb nicht dem Typ des Geschichtsdramas zugeordnet werden.

Geschichtsdeutung als Konstitution historischer Intertextualität Als letztes entscheidendes Merkmal jedes Geschichtsdramas ist das Auftreten einer Geschichtsauffassung und -deutung i m Dramentext anzusehen. I n der bisherigen Forschung hat man zu Recht bereits mehrfach auf die Existenz einer >deutenden< Geschichtskonzeption hingewiesen, die den geschichtlichen >Stoffen< unterlegt 26

Cf. hierzu A . Neuschàfer, Das >Théâtre du Soleih: Commedia dell'Arte undcréation collective

(Rheinfelden, 1983).

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ist, diese freilich vor allem — wie bereits erwähnt — v o m > Anliegen des Dichters< oder vom >Zweck der Dichtung< her bestimmt (Neubuhr 1980), allenfalls noch unter zusätzlicher Berücksichtigung der >Publikumskenntnis< und >-erwartung< (Tetzeli von Rosador 1976). I m Gegensatz hierzu möchte ich hier die Ansicht vertreten, daß auch in dieser Hinsicht von der spezifischen Textorganisation des Dramas auszugehen und hierbei jeweils die Frage zu stellen ist, ob i m verbalen (und nichtverbalen) Zeichensystem des betreffenden Stücks eine >Deutung< historischer Ereignisse und Figuren artikuliert erscheint, und zwar unabhängig davon, ob Äußerungen des Autors diese Textmerkmale stützen oder nicht und ob das anwesende Publikum bereits über ein ausreichendes Vorwissen verfügt, um in den dargestellten Vorgängen die geschichtsdeutenden Komponenten zu erkennen. Es gilt demnach, daß i m Haupt- und Nebentext eines Geschichtsdramas eine Interpretation der Handlung vorliegen muß, die sich zwar von geschichtlich situierten politisch-sozialen Faktoren, dem kontextuellen Profil einer historischen Epoche ableitet, jedoch über die rein deskriptive informative Evozierung historischer Figuren und Ereignisse hinausgeht. Die Figuren eines Geschichtsdramas erscheinen hierbei entweder selbst als bewußte Akteure innerhalb von Konflikten, die sich aus den geschichtlichen Kräften einer Epoche erklären, oder sie werden als unbewußte Opfer historischer Determinierungen dargestellt. I n jedem Fall liegt aber dem Motivationskomplex, der den Handlungsspielraum der Figuren bedingt, eine bestimmte Geschichtsauffassung oder Geschichtsideologie zugrunde, die das Dramengeschehen modelliert und die historischen Fakten deutet. Wesentlich erscheint hierbei, daß die textinterne Deutungsperspektive des Geschichtsdramas einen Bezug zu bereits vorgegebenen Deutungen der Figur der Ereignisse oder der Epoche herstellt, so wie diese in den geschichtlichen Diskursen kursieren, die dem implizierten Zuschauer — zumindest in groben Zügen — bekannt sind. Natürlich können darüberhinaus auch Bezüge zur literarischen Reihe früher existierender Dramatisierungen oder anderen fiktionalen Bearbeitungen des Themas eine Rolle spielen, wie z. B. bei der Gestaltung der Figur der Jeanne d'Arc sichtbar ist. Die Geschichtsdeutung eines Geschichtsdramas hängt, i m Sinne von Bachtin, Kristeva und Barthes, mit einem System >interdiskursiver< Referenzen zusammen, das ich historische Intertextualität nennen möchte, da es einen interpretierenden Dialog zwischen der Dramenhandlung und den vorgegebenen historischen >Intertexten< einführt, die zum kultursemiotischen Fundus von Autor und impliziertem Publikum gehören. Wie wichtig dieser Aspekt einer von den Kommunikationsbedingungen der Autor-Publikum-Situation abhängigen historischen Intertextualität für jedes Geschichtsdrama ist, läßt sich daraus erkennen, daß eine Deutung geschichtlicher Ereignisse, die sich in einem extrem fremden Kulturkreis zugetragen haben, infolge des mangelnden Vorwissens v o m Zuschauer wenn überhaupt, dann nur äußerst eingeschränkt nachvollzogen

Das französische Geschichtsdrama nach 1945

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werden kann. Dies zeigt sich z.B. bei einem modernen Geschichtsdrama wie Césaires Tragédie du Roi Christophe (1963), dessen exakte politisch-historische Hintergründe — die Befreiungskämpfe der Negersklaven auf Haiti und die Errichtung eines selbständigen Staates unter einem zum K ö n i g Henry I. ausgerufenen General Anfang des 19. Jahhunderts — dem europäischen Publikum nicht vertraut sind, so daß dieses die Darstellung der geschichtlichen Vorgänge nur als generelles Problem der Überwindung einer Kolonialherrschaft, nicht aber als historische Deutung der spezifischen Vorgänge bei der Gründung des Neger- und Mulattenstaates Haiti wahrzunehmen imstande ist. M i t dem impliziten Interpretationsbezug des Geschichtsdramas zu vorgegebenen historischen Intertexten erklärt sich zugleich die mehr oder weniger ideologisch akzentuierte >Aktualisierung< des geschichtlichen Stoffes, die von der Forschung seit langem als konstitutiv für das Geschichtsdrama erkannt worden ist. Denn die textinterne Deutung der historischen Ereignisse, die ein Geschichtsdrama vornimmt, tritt stets als eine kritisch intervenierende, zuweilen sogar offen parodistische Umdeutung und Neudeutung des von den vorgegebenen historiographischen Darstellungen übermittelten Geschichtsbildes auf, die sich v o m >aktuellen< Standpunkt des Autors und dessen politisch-sozialen und geschichtlich-philosophischen Anschauungen herleiten. Das Geschichtsdrama bleibt daher niemals auf der Stufe einer lediglich dokumentarisch-informativen Rekonstruktion geschichtlicher Fakten stehen, sondern fordert den implizierten Zuschauer dazu auf, seine eigenen, von den historischen Diskursen vermittelten Vorstellungen und ideologischen >Vorurteile< über das historische Ereignis mit der Interpretation dieses Vorgangs i m Drama zu vergleichen und das Vorwissen, das ihm die historischen Diskurse vermittelt haben, einer Korrektur zu unterziehen. I n den modernen interpretatorischen Aktualisierungen werden hierbei außerdem häufig mehr oder weniger direkte Anspielungen auf Parallelen in der zeitgeschichtlichen Situation des angesprochenen Publikums eingefügt, wodurch sich das Geschichtsdrama in ein politisches Lehrstück über Probleme der Gegenwart verwandelt; Brecht hat auch hier als entscheidendes Vorbild gewirkt. I m eigentlichen Geschichtsdrama steht jedoch nicht die Aktualisierung, sondern die von einer bestimmten Geschichtsauffassung diktierte Deutung der historischen Vorgänge i m Vordergrund. Der Text eines Geschichtsdramas enthält einen — kritischen — Dialog mit historischen Intertexten und gängigen Geschichtsdeutungen. Fragen wir uns zum Abschluß, welche Geschichtsauffassungen und -ideologien in den modernen Geschichtsdramen der Nachkriegszeit in Frankreich die Deutungsperspektiven modellieren, so ergibt sich ein äußerst vielfältiges und heterogenes Bild. Insgesamt gesehen, überwiegen die geschichtsskeptischen und geschichtspessimistischen Anschauungen gegenüber Deutungen, die von einem fortschrittsgläubigen optimistischen GeschichtsVerständnis getragen sind. Aller-

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dings ist in den sechziger Jahren gleichzeitig mit der Ausbreitung eines >engagierten< Theaters auch eine Zunahme des Anteils an politisch und gesellschaftskritisch ausgerichteten Geschichtsdramen zu beobachten. I n der unmittelbaren Nachkriegszeit herrscht hingegen noch ein skeptisch-desillusioniertes Geschichtsbild vor. Die modernen Dramatisierungen der Jeanne d'Arc belegen z.T. deutlich eine Tendenz zur Entheroisierung dieser französichen Nationalfigur, die i m 19. Jahrhundert als Inbegriff einer v o m Volkswillen getragenen Heiligen und Heldin gegolten hatte, so wie sie auch bei Michelet in dem berühmten Kapitel seiner Histoire de France erscheint. I n der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich dieses Bild insofern verändert, als nun in den Interpretationen von Péguy (Trilogie Domrémj, Les Batailles , Rouen, 1897; Les Mystère de la Charité de Jeanne d'Arc, 1909) und Claudel (Jeanne d'Arc au bûcher , dramatisches Oratorium, 1939) die religiöse Dimension, das Einwirken der göttlichen Gnade in die irdischen Geschehnisse völlig ins Zentrum gerückt war. I n seinem auch als aktualisiertes Résistance-Stück verstehbaren Drama Jeanne d'Arc avec nous (1942) hatte Claude Vermorel noch einmal versucht, den aus religiöser Überzeugung entspringenden kämpferischen Heroismus der Pucelle als nationale Tat zu feiern, wobei zugleich die französischen Richter i m Prozeß von Rouen rehabilitiert wurden, während nun den damaligen englischen Politikern die alleinige Schuld an der Verurteilung und Hinrichtung Jeanne d'Arcs zugewiesen war. Als französische Widerstandskämpferin aus dem Volke ist Jeanne d'Arc bekanntlich auch von Brecht in seinem Stück Der Prozeß der Jeanne d'Arc Rouen 1431 (1952) gestaltet worden, dem ein Hörspiel Anna Seghers' (1937) zu Grunde liegt. Von der Ideologie der >Action française< ist dagegen Robert Brasillachs Domrémj (1932/1943) geprägt. Thierry Maulnier knüpfte in Jeanne et les juges (1949) an die schon von Shaw in seiner Saint Joan (1924) hervorgehobenen Problematik tragischer Menschlichkeit an. Audibertis Pucelle (1951) hingegen bietet in Form eines skeptisch-parodistischen Fiktionsspiels eine kritische Auseinandersetzung mit den traditionellen Geschichtsbildern. Ebenso entkleidet Anouilh in seinem Drama L' Alouette (1953) mit ironischer Distanz die Jungfrau von Orléans ihres heroischen und religiösen Nimbus und stellt sie, in psychologisierender Deutung, nur noch als trotziges, kompromißlos handelndes junges Mädchen dar. E i n intuitiv begründeter Humanismus mildert bei Anouilh zwar den grundlegenden Pessimismus, doch scheint i m Schlußbild des Stückes, wo sich die Szenerie in eine >belle image de livre de prix< verwandelt, auch dieser ironisch in Frage gestellt 2 7 . Äußerst kritische Korrekturen an herkömmlichen 27

Einige Hinweise auf intertextuelle Bezüge v o n Anouilhs L'Alouette zu französischen

Schulgeschichtswerken gibt E. Rattunde, »Die Bedeutung des Titelsymbols in Jean Anouilhs Drama >L} Alouetteexistentialistische< Deutung erfahren. So wird in Sartres Morts sans sépulture (1947) das Problem des zugleich existentiell wie politisch-militant motivierten >Engagements< anhand der ge-

persönliche Erlebnisse verarbeitet hat (Œuvres complètes , ed. M . C. Bancquart-^L. Scheler, Bd. 12, Paris, 1970).

Das französische Geschichtsdrama nach 1945

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schichtlichen Ausnahmesituationen der Bewußtseinshaltung von Widerstandskämpfern und Kollaborateuren entwickelt. I n diesem frühen Stück ist Sartres Geschichtsbild noch ganz von der Frage der >Geworfenheit< des Menschen in ein absurdes Dasein beherrscht. Le diable et le bon dieu (1951) mythisiert sogar ausdrücklich die Geschichte, um Philosopheme des Existentialismus zu dramatisieren. Auch Sartres Dumas-Bearbeitung Kean (1953) deutet die romantische Vorlage i m Sinne seiner philosophisch-ideologischen Prämissen um. Sartres letztes Stück schließlich, Les séquestrés d' Altona (1960), nimmt trotz einer gewissen zeitgeschichtlichen Einbettung letztlich doch nur noch einmal das bereits in Huis Clos (1945) behandelte >existentielle< Thema der Hölle auf Erden auf. Eine von humanistischen Moralanschauungen geprägte individualistische Geschichtsauffassung modelliert hingegen Salacrous Résistance-Stück Les nuits de la colère (1947), in dem die Konfrontation von Maquis-Kämpfern und Vichy-Anhängern weniger aus politisch-gesellschaftlicher Perspektive denn aus psychologischmoralischem Blickwinkel angegangen wird. Auch in Salacrous Dokumentarstück Boulevard Durand (1961) steht weiter das persönliche Schicksal des aufgrund einer falschen Denunziation zum Tode verurteilten, begnadigten und dann i m Irrsinn sterbenden Gewerkschaftlers Durand i m Zentrum, wenn auch darüberhinaus das Paradigma einer moralischen Überlegenheit der französichen Gewerkschaftsbewegung vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber der brutalen und hinterhältigen Unmoral von Bourgeoisie und Kapitalismus angedeutet ist. Eine extrem pessimistische Geschichtsdeutung beherrscht schließlich Werke wie Boris Vians L' équarrissage pour tous (1950), w o mit schwarzem Humor die Thematik der >Libération< Frankreichs anhand der Darstellung absurder Einzelschicksale zu einer aggressiven Antikriegssatire umgemünzt wird, oder Arrabals AvantgardeStück Guernica (1961), das am Beispiel eines alten Ehepaars, das unter den Trümmern eines zerbombten Hauses begraben wird, die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des spanischen Bürgerkrieges demonstriert, aber auch die traumhaft-unwirkliche Dimension einer inneren Evasion des Individuums aus äußerem Terror und Chaos aufzeigt. Dieser surrealen Alptraumdramatik blieb Arrabal i m Kern auch in der späten Phase seines politischen >Théâtre de guerilla< treu, mit dem er sich, wie in dem gegen die Unmenschlichkeit der Diktatur Francos gerichteten Stück Et ils passèrent des menottes aux fleurs (1969) oder in La grande revue du X?C siècle (1971), Themen der Zeitgeschichte zuwandte, ohne damit freilich Geschichtsdramen i m eigentlichen Sinne zu verfassen. Als Ergebnis unserer Untersuchung läßt sich das Folgende festhalten: Bei einem Vergleich mit den deutsch- und englischsprachigen Geschichtsdramen der gleichen Periode, die sich trotz der Entwicklung neuer Formen letztlich doch in einen fast ungebrochenen Traditionszusammenhang einordnen lassen, fallt auf, daß sich kein französischer Dramatiker der Nachkriegszeit als Fortsetzer und Neubeieber der Geschichtsdramen des 19. Jahrhunderts versteht. I n keinem der

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hier behandelten Stücke wird ausdrücklich an Strukturen des traditionellen Geschichtsdramas angeknüpft. Die Verwendung des Begriffs drame historique wird sogar ausdrücklich vermieden. Man greift nur noch selten auf die mimetischen Verfahren der realistischen Dramaturgie zurück und bevorzugt stattdessen moderne, zum Teil von Artaud, später auch von Brecht beeinflußte Formen des nicht-illusionistischen und >epischen< Avantgardetheaters. E i n eigenständiger Typ des Dokumentartheaters wird in der Zeit bis 1970 ebenfalls noch nicht entwickelt; das einzige Stück dieser Richtung bleibt Salacrous dramaturgisch eher konventionelles Drama Boulevard Durand (1961), das i m strengen Sinne nicht einmal als Dokumentarstück angesehen werden kann. Die bei der Deutung der geschichtlichen Ereignisse auftretenden Geschichtsauffassungen und -ideologien bewegen sich in der Nachkriegszeit zunächst vornehmlich innerhalb eines skeptisch-individualistischen Geschichtspessimismus oder einer existentialistisch-absurden Menschensicht; später nimmt der Einfluß der fortschrittsgläubigen marxistischen Geschichtsphilosophie zu; christlich-religiöse Geschichtsdeutungen, die noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig waren, treten seit 1945 kaum noch auf. Die Resonanz der Geschichtsdramen in der Öffentlichkeit bleibt aber gering. Lediglich die von den Konzeptionen eines weitgehend marxistisch orientierten >théâtre populaire< beherrschten Bemühungen um ein modernes >episches< Geschichtstheater haben seit Beginn der sechziger Jahre, nicht zuletzt unter der Wirkung der Aufnahme Brechts in Frankreich, in der K r i t i k zunehmende Beachtung gefunden. Sie werden jedoch zumeist nur als Sonderformen des engagierten politischen und gesellschaftskritischen Theaters aufgefaßt. Die interessantesten Experimente auf diesem Gebiet sind wohl Adamovs Le Printemps 71 und das Théâtre du Soleil , von denen das erstgenannte Stück in der Nachfolge Brechts steht, während bei Ariane Mnouchkine der Einfluß Antonin Artauds, des französischen Avantgardetheaters der zwanziger und dreißiger Jahre und der Commedia dell'arte nachwirkt. Andere Dramatiker behandeln geschichtliche Themen in Form von zeitkritischen Agitations stücken, deren Brisanz sich aus dem aktuellen Bezug herleitet und die deshalb rasch an Wirkung verlieren. Insgesamt gesehen bleibt in Frankreich das Geschichtsdrama in der hier behandelten Zeit ein relativ wenig beachtetes Dramenmodell, das man in einzelnen Werken von Shakespeare, Büchner, Brecht, Kipphardt, Peter Weiss, Heiner Müller oder anderer nichtfranzösischer Autoren zu bewundern geneigt ist, für das jedoch gelungene französische Beispiele kaum zu finden sind. Soweit erkennbar, hat sich diese Situation auch seit 1970 nicht wesentlich verändert. Auch für die Gegenwart gilt zweifellos noch immer, daß sich das Geschichtsdrama in Frankreich bislang als voll anerkanntes, eigenständiges Genre nicht durchsetzen konnte.

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Das französische Geschichtsdrama nach 1945 Ausgaben der behandelten französischen Stücke 1945-1970 Adamov, Arthur. Paolo Paoli, in: Théâtre III

(Paris, 1966);Le Printemps 71, in: Théâtre IV

(Paris, 1968). Anouilh, Jean. L'Alouette,

in: Pièces costumées (Paris, 1962); Becket ou l'honneur de Dieu, in:

Ibid.; La foire d'empoigne, in: Ibid. Arrabal, Fernando. Guernica, in: Théâtre //(Paris, 1968); Et ils passèrent des menottes aux fleurs, in: Théâtre

VII

(Paris, 1969).

Audiberti, Jacques. L'Ampélour,

in: Théâtre I (Paris, 1948); Pucelle, in: Théâtre II (Paris,

1952). Bernanos, Georges. Dialogues des Carmélites (Paris, 1949). Camus, Albert. Les justes, in: Théâtre, récits, nouvelles (Paris, 1962); L'Etat

de siège, in: Ibid.

Césaire, Aimé. La Tragédie du Roi Christophe (Paris, 1970). Gatti, Armand. Chant public devant deux chaises électriques (Paris, 1964); V comme Vietnam (Paris, 1967); La passion du général Franco (Paris, 1968). Maulnier, Thierry, feanne et les juges (Paris, 1949). Mnouchkine, Ariane. 1789: La révolution doit s'arrêter 1793: La cité révolutionnaire

à la perfection du bonheur (Paris, 1971);

est de ce monde (Paris, 1972).

Montherlant, Henry de. Malatesta, in: Théâtre (Paris, 1965); La Maître de Santiago, in: Ibid.; Port Royal, in: Ibid.; Le Cardinal d'Espagne (Paris, 1960); La guerre civile (Paris, 1965). Prost, Charles. Veillons au salut de l'empire (Paris, 1957). Salacrou, Armand. Les nuits de la colère (Paris, 1947; Boulevard Durand (Paris, 1960). Sartre, Jean-Paul. Morts sans sépulture, in: Théâtre I (Paris, 1947); Le diable et le bon dieu (Paris, 1951); Kean (Paris, 1953). Vian, Boris. L'équarrissage pour tous, in: Théâtre I (Paris, 1965). Yacine, Kateb. Le Cadavre encerclé, in: Le Cercle des représailles, redoublent de férocité,

13

in: Ibid.

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 28. Bd.

(Paris, 1959); Les Ancêtres

GESCHICHTE I M DEUTSCHEN THEATER DER GEGENWART Repertoire und Inszenierung Von Günther Erken

Erleben wir gegenwärtig eine neue Zuwendung zur Geschichte? Oder eine zunehmende Enthistorisierung? Oder beides zugleich? Das Theater als Teil der literarischen Öffentlichkeit müßte es anzeigen. Für die Theaterproduzenten selbst ist diese Frage interessant und wichtig: M i t welchem Geschichtsbewußtsein können sie rechnen, wie ist es durch den Spielplan zu wecken und zu qualifizieren? Und wie können Inszenierungen Historizität vermitteln? Wie also ist mit Geschichte auf dem Theater sinnvoll und wirksam umzugehen? Denn das ist ebenso Chance und Aufgabe der Schaubühne als kultureller Anstalt wie die, zur Gegenwart Stellung zu nehmen. Beides scheint sogar auf komplizierte Weise miteinander verknüpft zu sein. Der Terminus Geschichtsdrama ist dem Dramaturgen allerdings fremd geworden. Probleme der Gattungsdefinition berühren seine Praxis kaum. Zwar vollzieht sich die Theaterrezeption von alten und fremdsprachigen Stücken auch durch deren Angleichung an die Vorverständnisformen bestimmter BühnenGenres, doch erscheinen »Gattungen« bei solcher Verpflanzung eher als Hindernisse, wie z.B. die noch immer wirksamen englischen Traditionen der comedy of manners , der music hall , der farce oder eben auch des history play , für die es i m deutschen Gegenwartstheater keine Entsprechungen gibt. Wenn wir uns den Terminus Geschichtsdrama nach der Unterscheidung von Elfriede Neubuhr 1 zu dem anspruchsloseren des historischen Dramas ermäßigen und zunächst untersuchen, welchen spezifischen Anteil Stücke mit geschichtlichen Stoffen heute am Repertoire der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz haben, so kann dies die prinzipiellere Frage nach den historischen Dimensionen des Spielplans vorbereiten. Die Inventur gilt einem Systemzusammenhang und läßt deshalb das Theater der D D R einerseits und das Kinder- und Jugendtheater, Dialektbühnen und »Boulevard«-Theater andererseits außer acht. U m ein von bloßen Saisonschwankungen unberührtes Bild zu erhalten, werden die Spielpläne einer größeren Zeitspanne, i n der Regel seit Mitte der Siebziger jähre, zugrundegelegt. 1 Einleitung S. 3 f., in Geschichtsdrama, Bd. 485 (Darmstadt, 1980).

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hrsg. v. E. Neubuhr, Wege der Forschung

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Historische Dramen nehmen etwa ein Zehntel dieses Repertoires ein. Pro Spielzeit sind das ca. 80 Stücke in ca. 140 Inszenierungen, davon durchschnittlich 20 als Uraufführung oder Deutsche Erstaufführung. Insgesamt wurden seit 1975 etwa 300 historische Dramen inszeniert, manche von ihnen nur einmal. — Dieses Repertoire kommt nur zu einem Drittel aus dem Ausland. Während i m Gesamtrepertoire die original deutschsprachigen Stücke nicht die Hälfte ausmachen, dominieren sie eindeutig bei den historischen Stoffen. Geschichte ist also i m Spielplan vor allem eine nationale Domäne. — Untypisch ist in diesem Sektor auch der hohe Anteil der Novitäten: 72 % der seit 1975 gespielten historischen Dramen sind nach dem letzten Krieg geschrieben, nur 50 gehören zum klassischen Repertoire (von den Persern bis Strindberg) und weitere 30 stammen von »modernen Klassikern« vor 1945. Wo die neuere Produktion so sehr das Feld beherrscht, darf zumindest nicht mehr pauschal von Geschichtsverlust und Rückgang des historischen Dramas gesprochen werden. Gewisse Schwunderscheinungen sind allerdings i m älteren Teil des Geschichtsrepertoires nicht zu übersehen. Bei Shakespeare und Schiller, neben Brecht und Goethe die Säulen dieses Bestands, gab es signifikante Einbußen. Skakespeares Königsdramen, die in den Jahren 1967-1972 eine auffällige Konjunktur auf der deutschsprachigen Bühne hatten, quantitativ wie auch hinsichtlich der politischen Bedeutung, die man ihnen damals zusprach, haben diese Attraktivität verloren, wie auch die Römerdramen, deren Bühnenschicksale fast immer mit denen der Historien verbunden waren. Bei Schiller fand eine weniger abrupte, aber stetige Umschichtung zugunsten der Jugendwerke Kabale und Liebe und Die Räuber statt, während Maria Stuart , bis in die späten Sechziger jähre noch das meistgespielte Schiller-Drama, statistisch deutlich zurückfiel, Wallenstein seit den Siebziger jähren fast zur Rarität geworden ist und der Teil , früher zum festen Repertoirebestand gehörend, schon so diskontinuierlich gespielt wird wie die Jungfrau von Orleans. Auch die historischen Dramen Schillers haben also an Bedeutung für den Spielplan verloren, mit merklichstem Sprung in der Entwicklung um das Jahr 1968. Das lenkt den Blick ganz allgemein auf Verluste und permanente Lücken i m Repertoire, vor allem, wenn man es mit literarhistorischen Erwartungen und Wertkriterien betrachtet. Die historischen Dramen des Barock und der französischen Klassik fehlen, weil die Autoren dieser Zeit überhaupt fehlen. Es ist fast umgekehrt ein Plädoyer für das Geschichtsdrama als das meistversprechende Genre jener Epoche, wenn Lohensteins Epicharis, Agrippina und Sophonisbe wieder ein punktuelles Interesse erringen konnten, Corneilles Horace oder Racines Britannicus kometengleich vorbeizogen. Grillparzers Geschichtsdramen, oft als Inbegriff der Gattung gepriesen, sind ebenfalls aus den Spielplänen so gut wie verschwunden; König Ottokars Glück und Ende war schon immer sehr sporadisch und nur in Österreich vertreten, Ein Bruderzwist in Habsburg fiel ab

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1968 aus. Ähnlich steht es mit Grabbe. Andererseits ist Hebbel, obwohl ebenso selten gespielt, ein Geheimtip für die unversiegten Möglichkeiten der Geschichtsdramatik geblieben, vor allem wenn es immer mal wieder um das Großprojekt einer Nibelungen-lnszzmeiung geht. Auch Kleist und Büchner beschäftigen unser Theater mehr denn je, und ehrgeizige Anstrengungen galten nicht nur dem lange gemiedenen Prin^ Friedrich von Homburg, sondern sogar der Hermannsschlacht und dem Guiskard-Yi&gmenX.. Danton Tod ist nach wie vor als prototypisches Geschichtsdrama auf der Bühne lebendig. Wieder anders, wenn wir uns dem 20. Jahrhundert nähern. Strindbergs und Gerhart Hauptmanns geschichtliche Dramen haben sich nie besonderer Wertschätzung des Theaters erfreut, und die von Friedrich Wolf, Ernst Toller und Georg Kaiser sind nahezu vergessen. Die Zeitstücke dieser Autoren haben heute den Rang historischer Zeugenschaft eingenommen; ihre Auseinandersetzung mit geschichtlichen Sujets verwirrt und bricht das Bild eher als es dieses erweitert. Das verweist bereits vorweg auf eine zweite A r t des Theaters, Geschichtliches wahrzunehmen und umzusetzen. Von ihr wird noch zu reden sein. Bei der Sichtung des großen Repertoires an neueren historischen Stücken drängt sich keineswegs, wie noch vor 15 bis 20 Jahren, das dokumentarische Drama in den Vordergrund. Die Literaturwissenschaft hat an diesem Phänomen aus verständlichem poetologischen Interesse ausdauernder festgehalten als das Theater, das nach der ersten Erfolgswelle nur noch wenigen Stücken ein Comeback gönnte. Dagegen fällt ins Auge, wie sehr sich die Stoffwahl wieder in traditionellen Bahnen bewegt. M i t Vorliebe wurden und werden dramatisch bereits prominent behandelte »dramatische« Epochen und »prominente« Figuren wiederaufgegriffen: Thomas Becket (Eliot, Anouilh, Fry), Jeanne d'Arc (von Shakespeare und Schiller über Shaw bis zu Maxwell Anderson, Anna Seghers / Brecht und Anouilh), Luther (Osborne, Ahlsen, Forte, K o m m ) , Elisabeth I. von England (von Schiller und Bruckner bis zur farcenhaften Behandlung bei Paul Foster und Dario Fo), Crom well (zuletzt David Storey und Christoph Hein), Friedrich II. von Preußen (Hacks, Rolf Schneider, Heiner Müller), die Französische Revolution (von Goethe und Büchner über Schnitzler, Rolland, Feuchtwanger bis zu Weiss, Ariane Mnouchkine und Heiner Müller), Georg Büchner und sein Umkreis (von Csokor über Salvatore und Zwerenz bis zu Hübner, Gerd Hornawsky und Renate Axt) — all das war schon in vielen Gestaltungen auf dem Theater und scheint von unverbrauchtem Reiz zu sein. Auch bei jüngeren historischen Personen wird gleich mehrfach zugegriffen: Jean Henry Dunant (Forte, Herbert Meier), Robert Walser (Gert Hofmann, Jürgen Amann, Wilhelm Wolfgang Schütz), Majakowskij (Greiner, Stefan Schütz, Heiner Müller), Trotzki (Weiss, Hartmut Lange), schließlich auch Hitler (Lange, Heiner Müller, Forte, Niklas Radström, Tabori und viele andere mehr).

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I n den Hitler-Stücken treffen sich die beiden dominanten Typen des neueren Geschichtsrepertoires, die dramatische Biographie und die nationalkritische Historie, die sich vor allem mit deutscher Nazi-Vergangenheit auseinandersetzt. M i t über 70 biographischen Stücken i m Spielplan seit 1975 hat das Theater da geradezu ein Modegenre kreiert. Natürlich waren um eine geschichtliche Gestalt zentrierte Dramen schon immer ein fester Bestandteil des Repertoires, und sie gehören — von Tasso bis Leben des Galilei — auch heute zum besten Fundus. Seit Mitte der Sechziger jähre erfuhr die Gattung jedoch eine ungewöhnliche Belebung durch Stücke einer verschärften Selbstreflexion ihrer Autoren. »Der Dichter und die Politik« war das sie bedrängende aktuelle Thema, das in historischer Spiegelung abgehandelt wurde, von Grass (Die Plebejer proben den Aufstand, 1966), Dorst (Toller, 1968, Eiszeit, 1973), Weiss (Hölderlin, 1971), Salvatore (Büchners Tod, 1972), Lange (Staschek, 1973), Muschg (Kellers Abend, 1975), Bond (Bingo, D E 1975) und anderen. Die fokale Schärfe dieser A r t Stücke verlor sich i n den Achtziger jähren ins Panoramatische, ohne den Stachel einzubüßen: Ariane Mnouchkines Mephisto ( D E 1981) und Christopher Hamptons Geschichten aus Hollywood ( D E 1983) mögen als Beispiele genügen. Daneben aber etablierte sich seit der zweiten Hälfte der Siebziger jähre ein Genre, das Künstlerbiographien anderer Reize wegen auf die Bühne brachte. Die Selbstergründung und -kritik wich unbestimmteren Motiven. Interessant an der historischen Dichterpersönlichkeit war nun eher sein Weg zum Ruhm, seine Unbürgerlichkeit, sein Illusionismus, seine Liebesfahigkeit und Todesnähe. Gemeint sind Stücke über und um d'Annunzio (Elfriede Jelinek, Dorst), Strindberg und Andersen (Enquist), Hemingway (Hochhuth), George Sand (Rolf Schneider), Goethe (Hacks, Martin Walser), Heym (Brasch) und — als bezeichnendstes Beispiel für die Erfolgstendenz dieses Genres, wenn es sich dem dramatisierten Sachbuch nähert — Mozart / Salieri (Peter Shaffer). Nach dem Toller-Typus der Amadeus-Typus — und die Reihe setzt sich modisch fort bis zu solchem historisch-biographischen Theater, das kaum noch literarischen Werk-Charakter beansprucht und oft als Dramaturgen- und RegisseursArbeit auf eine »Autorisierung« verzichtet. Die Bühne adaptiert die Fernsehform des Features und unterhält über die Piaf, Sarah Bernhardt, Cläre Waldorf, John Lennon, Wilhelm Busch, Caspar David Friedrich, Rousseau, Casanova oder wen immer. Schließlich werden auch fiktive Mögliche Begegnungen (Paul Barz) aller A r t ausgespielt, wie schon in der vorweggenommenen Parodie der ganzen Gattung, Stoppards Travesties ( D E 1976), in Terry Johnsons Monroe-Einstein-Komödie mit der i m englischen wie deutschen Titel trefflichen Kennmarke des Genres (Insignificance / Bedeutende Leute, 1983) oder in David Pownalls Meisterklasse (1984). Die »unmögliche Begegnung« von d'Annunzio mit Clara und Robert Schumann führte Elfriede Jelinek in Clara S. (1982) sarkastisch vor, und Hampton die Horvaths mit den kalifornischen Exilanten.

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Daß quer zu diesem Trend anhand von Figuren wie Lasalle, John D . Rockefeiler, Henry Ford, Otto Weininger oder Joseph Fouche noch politische Aussagen transportiert werden sollen, fallt, auch wegen mancher Schwächen der Stücke, bei dieser ausgereizten Gattung der dramatischen Biographie nicht mehr ins Gewicht. Die zweite Repertoiregruppe, Stücke über deutsche Geschichte von 1933 bis in die Fünfziger jähre, umfaßt etwa 60 nach 1975 auf dem Spielplan stehende Werke. Die immer noch vielgespielten Muster hat Brecht mit drei exemplarisch verschiedenen Stücken geliefert: mit Furcht und Elend des Dritten Reiches, jenem »Zyklus aus der deutschen Gegenwart« von 1938, der heute als historische Dokumentation genommen wird, mit der »Historienfarce« v o m Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui und dem grotesken Volksstück Schweyk im Zweiten Weltkrieg. Noch aus den Fünfziger jähren stehen drei andere Erfolgsstücke i m heutigen Repertoire: die »Tragische Posse« Der Bockerer von Ulrich Becher und Peter Preses, Qualtingers- Herr Karl und die Dramatisierung des Tagebuchs der Anne Frank V o n den Dokumentardramen der Vergangenheitsbewältigung wurden nur Der Stellvertreter und Die Ermittlung ab 1978 nach zehnjähriger Pause vereinzelt wiederaufgeführt. Dazu kamen als späte Varianten Bruder Eichmann von Kipphardt und Die Wannseekonferenz (1986) von Paul Mommertz. Nachdem der Stellvertreter beispielhaft daran gescheitert war, KZ-Schrecken auf der Bühne darzustellen, und die Ermittlung ganz auf Szenisches verzichtet hatte, begann George Tabori mit Versuchen eigener A r t , sich mit Naziterror und Völkermord auseinanderzusetzen. Zur europäischen Erstaufführung seiner Kannibalen in Berlin schrieb er 1970: Was nach Auschwitz unmöglich geworden ist, das ist weniger das Gedicht als vielmehr Sentimentalität oder auch Pietät. Es wäre eine Beleidigung der Toten, etwa u m Sympathie für ihre Leiden zu werben oder die zermalmende Wucht ihrer totalen Ausgesetztheit zu bejammern. Das Ereignis ist jenseits aller Tränen, und ich habe meine Häftlinge nur aus der Sicht ihrer Söhne präsentieren können — Söhne, die versuchen, jenseits von Gut und Böse sich das Gewesene zurückzurufen, mit der kühlen Neugier v o n Leuten, die überzeugt sind, daß ihre Väter vor den Augen der Nachwelt bestehen werden. Da ich ihr Vermächtnis nie angezweifelt habe, durfte ich es mir erlauben, auch den H o h n und Ekel ihrer Menschlichkeit zu zeigen, ehe ich am Ende ihren Widerstand feierte. Es gibt Leute — und ihre Anschauungen sind heute große Mode — , die die Geschichte allein unter dem Gesichtswinkel v o n Macht und Stärke betrachten [...] Gewalt kann eine große befreiende Kraft sein, aber es gibt Zeiten, in denen der praktischste, der menschlichste und — wenn man so w i l l — der gewalttätigste A k t einfach in der Weigerung besteht, sich zu etwas zwingen zu lassen; eine Geste der Verneinung, die nicht ohne tiefes Geheimnis ist: nicht zu essen, obgleich man verhungert. 2

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Schiller-Theater Werkstatt, 1969/70, Heft 210.

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Tabori blieb solchen Gestaltungsgrundsätzen in seinen Shylock-Variationen (1978), My Mother's Courage (1979) und Jubiläum (1983) treu, die HolocaustFernsehserie (1978) aber nahm dem Theater die alten Bedenken gegenüber der direkten Abbildung des Grauens: Martin Shermans Bent (1980) und Joshua Sobols Ghetto (1984) begannen ihren Weg über die deutschen Bühnen, Arthur Millers Spiel um Zeit ist angekündigt. Es sind seit langem die ersten Beiträge zu diesem Thema, die aus dem Ausland zu uns kommen. Eine neue Stufe des gesellschaftlichen und ästhetischen Problembewußtseins erreichte die deutsche nationalkritische Historie Mitte der Siebzigerjahre. Den wichtigsten, bis heute prägenden Anstoß brachte Heiner Müller, dessen alte Entwürfe Die Schlacht und Traktor nun vollendet und auch i m Westen aufgeführt wurden. Germania Tod in Berlin und Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei, Stücke bzw. Szenencollagen, die einem differenzierten D D R Selbstverständnis geschichtlich nachfragen und von daher auf »unbewältigte« Vergangenheiten stoßen, wurden in der Bundesrepublik sogar uraufgeführt (1978/79). Deutsche Stücke — dies der bezeichnende Titel des ersten Bands von Dorsts ieuer Werkausgabe — schrieben nun aber auch westdeutsche Autoren unter neuer Perspektive. Sie spürten der Alltagsgeschichte in den Jahren des Unheils und eines verfehlten Neuanfangs nach. I n biographischen Fragmenten, Familiengeschichten, ganzen Zyklen gaben sie deutsche Chroniken i m Spiegel des Privaten und eines genau erinnerten Milieus. Dorst entwarf das weiteste Panorama mit den Theaterstücken Auf dem Chimbora^o (1975), Die Villa (1980) und Heinrich oder Die Schmerlen der Phantasie (1985) und den dazugehörigen Fernsehfilmen Dorothea Merz (1976), Klaras Mutter (1978) und Mosch (1980); Gerlind Reinshagen zeigte in Sonntagskinder (1976) und Das Frühlingsfest (1980), wie ihre Generation Krieg und Nachkrieg erlebt hatte. Daß schon Sperrs Bayerische Trilogie (Jagds^enen aus Niederbayern, 1966, Landshuter Erzählungen, 1967, Münchner Freiheit, 1971) ein großangelegter Historienentwurf war, mit den Stationen 1946, 1958 und 1969, v o m D o r f über die Kleinstadt in die Metropole führend, ist erst spät erkannt worden; die Stücke wurden seinerzeit nicht als historische und ohne diesen Zusammenhang rezipiert. Einen paradigmatisch deutschen Lebensweg von 1933 bis 1965 zeigt Brasch i n Rotter (1977). Horst Wolf Müller behandelt typische Zeitsituationen von 1932 i m Siebenjahresabstand bis 1953 in einer Deutschen Tetralogie, deren einzelne Stücke ( Komarek, Und wie die Welt so weit, Schedlhöfen und Heimweh ) seit 1985 von einigen Stadttheatern gespielt werden. Z u m Typus der nationalen Chronik gehören auch jene fiktiven Biographien, die zeigen, wie ein Mensch von den Zeitumständen jeweils korrumpiert wird oder auch völlig unpolitisch an ihnen vorbeilebt, weil er einer fixen Idee von individueller Lebenserfüllung nachhastet; Horst Laubes Der Dauerklavier Spieler (1974), Cecil P. Taylors So gut — so schlecht ( D E 1982), Rainer

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Mennickens Der starke Hans (1984) und Gerd Oelschlegels Die letzte Selektion (1986) sind hier zu nennen; René Kaliskys Falsch ( D E 1985) weitet das Schema zu einer Familienchronik aus. M i t Eiche und Angora hatte Martin Walser schon 1962 ein Muster dieses Genres gegeben. Daneben bleiben jene Stücke zu erwähnen, die sich auf den Umschwung von 1945 und seine Folgen konzentrieren: Lovely Rita (1978) von Thomas Brasch, Großvater und Halbbruder (1981) von Thomas Hürlimann, Das Alte Land (1984) und La Balkona Bar (1985) von Klaus Pohl, 1945 (1986) von André Müller, die Trilogie Die Republik des Vergessens (1985-87) von Heinz Rudolf Unger und Wünsche und Krankheiten der Nomaden (1987) von Harald Kuhlmann. Schließlich gibt es auch theatralische Fallstudien zur nationalsozialistischen Vergangenheit, etwa über den Reichstagsbrand von Frank Geerk und Peter Greiner, über das gescheiterte Hitler-Attentat des Johann Georg Elser von Peter-Paul Zahl und den Fall Karlrobert Kreiten von Hartmut Lange. Dramaturgisch vertrauen sie darauf, daß die geschichtliche Wirklichkeit hier wie bei anderen spektakulären Fällen, Anekdoten und Skandalen schon »dramatisch« vorgearbeitet hat. Deshalb sind auch die Affären Dreyfus, Kaspar Hauser, Adele Spitzeder, des Hauptmanns von Köpenick, des Elefantenmenschen oder der Mata Hari wie der Berufsverbot-/ 7 ^// E. von Horvâth verläßliche Repertoire-Posten. Damit ist der Spielplan historischer Dramen so gut wie ausgemessen. Verzichten wir auf die Kommentierung des schwer klassifizierbaren Restbestandes und begnügen wir uns mit dem vorläufigen Fazit, daß i m Repertoire zwar ein Biographie-Typus überhandgenommen hat, bei dem die Wahl einer historischen Persönlichkeit zur stücktragenden Figur kaum mehr mit einem geschichtlichen Interesse verbunden ist, daß aber die Insistenz, mit der nach wie vor deutsche politische und soziale Geschichte seit der Weimarer Republik aufgearbeitet wird, auch für ein waches Bedürfnis spricht. Für diesen Aspekt sind vor allem Dramatiker von Bedeutung, die in der D D R leben oder früher gelebt haben und v o m dortigen Geschichtsverständnis geprägt oder beeinflußt worden sind. Wie sehr das historische Interesse heute aufs Nationale ausgerichtet ist, und zwar aufs konkret Stoffliche der eigenen Geschichte, und nichts mehr mit Modellen und Analogien in fremden Bereichen anfängt wie noch zu Blütezeiten der Brecht-Rezeption, das wird ex negativo dadurch bestätigt, daß das ähnlich orientierte historjplaj der neueren englischen Dramatiker v o m deutschen Theater kaum noch wahrgenommen wird. Als Wesker 1958 seine Trilogie begann, den ersten chronikalischen Rückblick auf die jüngere Geschichte des britischen Sozialismus, wurde sie in Deutschland alsbald nachgespielt. Ihr Echo 1983, Majdajs von David Edgar, ein Stück, in dem sich die Erfahrung des Scheiterns 1968 ebenso symptomatisch niederschlägt wie die Desillusion nach der ThatcherWahl 1979, wurde nicht einmal mehr übersetzt, so aussichtslos schätzte man die Aufnahme bei uns ein. Daß Shakespeares Königsdramen stofflich fernliegen, war

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eine Rezeptionsschwierigkeit, die man Ende der Sechziger jähre noch gering achtete. Aber John Ardens Stücke über die Magna Charta, über Nelson, das Artus-Reich und den irischen Unabhängigkeitskampf wurden nicht mehr ins Deutsche übertragen. Und so fehlen auch Schlüsselstücke der neubelebten englischen Geschichtsdramatik i n unserem Spielplan: Brassneck (1973) von Howard Brenton und David Hare, The Party (1973) von Trevor Griffiths, The Bemtched (1974) von Peter Barnes, The Churchill Play (1974), Weapons ofHappiness (1976) und The Romans in Britain (1980) von Brenton, Teeth'n'Smiles (1975) und Plenty (1978) von Hare, Liberty Hall ( 1980) von Michael Frayn. Howard Barker wurde erst jetzt zum erstenmal übersetzt (The Castle , Anna Galactia ), Bonds Restoration kommt mit sechsjähriger Verspätung auf die deutsche Bühne. Dabei sind die Methoden der Geschichtsmontage bei Bond (am deutlichsten bei Early Morning und Lear) oder Brenton (The Romans) denen von Heiner Müller nicht unähnlich. Und England liefert unserem Theater trotz rückläufiger Tendenz noch immer mit Abstand die meisten neuen Stücke. Doch beim Transfer historischer Dramen setzt die Partnerschaft aus. Die erste Inventur des Repertoires ist beendet. Indem wir das Referatthema Geschichte im Theater neu ins Auge fassen, müssen w i r unsere fächerübergreifende Konsensbasis, das Rahmenthema Geschichtsdrama y schon verlassen. Denn der Geschichte begegnet das Theater nicht nur, indem es historische Dramen spielt. Es verarbeitet ja überhaupt und in viel größerem Ausmaß alte Stücke als »historisches Material«. Man darf Theater eben nicht nur als stückevermittelnde Instanz, Organ der Literatur nehmen, sondern muß ein eigenständiges Gestaltungsmedium, analog der Literatur, darin sehen. Die Literatur ist Partner, nicht Chef und Auftraggeber des Theaters, und ein Spielplan w i r d nicht (nicht nur) um der Dramatik willen und aus Dramen gemacht. Er besteht nicht aus Stücken, sondern aus Inszenierungen. Autorennamen und Stücktitel sind nur die einfachsten Bezeichnungen, sich darüber zu verständigen. I n Wirklichkeit sind Stücke für das Theater »Stoffe« und Stücke der Vergangenheit historische Stoffe mit mehr oder weniger Prädisposition für eine Geschichtsdeutung der Vergegenwärtigungskunst des Theaters, für ein Geschichtstheater sui generis. Kabale und Liebe, ein Zeitstück, das einen geschichtlichen Augenblick auf den Punkt brachte, w i r k t für uns heute in ebendem Maße als historisches Zeugnis; und man erschrickt, wenn eine Inszenierung Lessings Emilia Galotti i m 16. Jahrhundert in einem italienischen Guastalla ansiedelt, die historische Maske ernster nehmend als Lessing selbst das getan hat. Gorki, Sternheim und Horvath sind dem Theater heute »Geschichtsdramatiker«, weil sie ihrem Anspruch, »Chronisten« ihrer Zeit zu sein, genauestens nachgekommen sind. Horvath nennt die 1. Fassung seines Sladek eine Historie , obwohl nur vier Jahre zwischen der Stoffzeit (Inflation) und der Entstehungszeit (1927/28) liegen. U n d Sternheims Schauspiel 1913 von 1914 markiert geradezu symbolisch den Zusammenfall von

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Historie und Zeitstück. 1 Jahr kann doch w o h l nicht entscheiden, ob ein Stück ein historisches Drama ist oder nicht. Es dürfte also sinnvoll sein, das Repertoire noch einmal zu vermessen, diesmal i m Hinblick auf seine Altersstruktur, wobei auch Quantitäten — wie oft etwas gespielt wurde — stärker berücksichtigt werden müssen, allerdings nicht, um mit Statistik etwas beweisen zu wollen, sondern auf etwas aufmerksam zu werden. Der Theaterstatistiker Franz-Heinz Köhler hat 1968 einen merkwürdigen Versuch dazu unternommen. Er hat die Spielpläne deutscher Opernbühnen von 1896 bis 1966 untersucht, um das Alter, die Antiquiertheit des Repertoires zu belegen. Er fand heraus, daß 1896 das Durchschnittsalter der gespielten Opern, gewichtet nach Aufführungshäufigkeit, bei 44 Jahren lag. Das heißt: täglich wurden an allen deutschen Opernhäusern Werke gespielt, deren mittleres Entstehungsjahr 1852 war. I m Jahre 1966 hatte sich das Opernrepertoire um ganze 6 Jahre modernisiert, lag da also um 108 Jahre hinter der Gegenwart zurück. Diese minimale »Modernisierung« war aber schon i m 1. Weltkrieg erreicht. Köhler bedauerte diese Stagnation bzw. die wachsende Veraltung des Repertoires, weil er dabei an die Chancenlosigkeit des modernen MusiktheaterSchaffens dachte. 3 Mein Paralleltest für das Schauspiel, bezogen auf die heutige Situation, ergab als mittleres Entstehungsjahr des Repertoires, diesmal gewichtet nach der Inszenierungsfrequenz, etwa 1870. Hätte ich allerdings die antike Dramatik weggelassen, so hätte sich etwa 1900 ergeben, weil sie eben mit ihrem Alter von fast zweieinhalb Jahrtausenden auch bei ihrem geringen Inszenierungsanteil von wenig über 1 % stark auf das Gesamtergebnis drückt. Ich erfuhr die Sinnlosigkeit solcher statistischen Analysen. Die Historizität des Repertoires ist nicht nach der Arithmetik der Jahresringe zu bemessen. Historische Nähe oder Ferne der alten Stücke bestimmen sich durch die A r t der Bezugnahme des Theaters auf sie. Auch wenn man einige Brechtsche Axiome, die Dialektik von Aktualisierung und Historisierung betreffend, nicht bezweifelt, sondern am liebsten unerläutert voraussetzen möchte, so muß man doch erst in der Praxis erfahren, daß Zugang und Haltung des Theaters zu historischen Materialien von -diesen selbst mitbedingt sind und je nach Epochen ganz verschieden ausfallen. Das historische Bewußtsein des Theaters bewegt sich offenbar recht ruckartig in die Vergangenheit zurück, springt einmal voraus, hält einmal inne. Es kennt Geschichte nicht in chronologischer Gleichmäßigkeit, sondern nimmt sie diskontinuierlich i n stark wechselnder Konkretion wahr. Das gilt es an einigen Beispielen zu beschreiben, vor der Folie der Chronologie. Dabei sind Wandlungen in der Nutzung des Repertoires nur schwer auszumachen, erscheint dieses selbst doch von großer 3 Franz-Heinz Köhler, Die Struktur der Spielpläne deutschsprachiger Opernbühnen von 1896bis 1966: Eine statistische Analyse, vervielfältigtes Manuskript, 58 S. (Koblenz, 1968).

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Unveränderbarkeit. Fast zwei Drittel der etwa 250 Autoren des öffentlichen Theaters sind feste Repertoire-Autoren, i m Gegensatz zum Knockout-System des Boulevard-Theaters, dessen Signum schneller Verbrauch und starke Fluktuation ist. Die Innovationsrate des »Kulturtheaters« ist minimal: nur etwa 20 neue Autoren pro Spielzeit, von denen außerdem meist nur kurz die Rede ist. Es handelt sich also um ein gesättigtes System mit hohem Identitätsgrad von Spielzeit zu Spielzeit und von Theater zu Theater. Neuentdeckungen sind selten. Die Erneuerung an den Rändern des festen Fundus geschieht höchstens durch jene wenigen Novitäten, die nach ihrer Uraufführung auch nachgespielt werden (in der Regel halten sich nicht mehr als 10-15 Stücke ein Jahrfünft lang) und durch Wiederbelebungen in jenem noch nicht ganz kanonisierten Bestand des 20. Jahrhunderts, der selten weiter zurückreicht als bis zum 1. Weltkrieg. Das Strukturprinzip dieses verfestigten Repertoires läßt sich, etwas paradox, als uniformer Pluralismus bezeichnen. Es demonstriert Vielfalt und scheinbar unbegrenzte Wahlmöglichkeit, die aber durch die diachrone Wiederholung von Saison zu Saison und die synchrone von Stadt zu Stadt als uniform erscheint. Die pluralistische Konstruktion w i r k t als Korsett, das auch Neu- und Wiederentdeckungen ihren kategorialen Platz und quantitativen Anteil strikt zuweist. Die allgemeine Standardisierung kann nur durch punktuelle Abwechslung durchbrochen, die Konvention nur durch eine begrenzte Originalität belebt werden — ein steriles Gesamtsystem mit produktiven Möglichkeiten einzelner Positionen darin. Solche Möglichkeiten aber liegen nicht nur i m Neuen, sondern auch in der differenzierten Entfaltung von Historizität. I m scheinbar »musealen« Charakter des Repertoires liegt auch eine Chance, nämlich Geschichtspotential gegen die geschilderte Egalisierung zu mobilisieren. Wie hat das heutige deutsche Theater das große Reservoire der Vergangenheit ausgeschöpft, bei welchen Stücken, wie intensiv, auf welche Weise? Die Repertoiregruppe der ältesten Stücke, von Aischylos bis etwa 1770, hat einen Spielplananteil von 13-14 %. Das ist wenig, wenn man bedenkt, daß ein Großteil der dramatischen Weltliteratur in diesen Bereich fällt. Deren Kanon, wie er durch die Literaturwissenschaften vermittelt wird, erscheint auf dem Theater nur in schmaler und nicht repräsentativer Auswahl. Die Komödie überwiegt bei weitem, aber als Gebrauchsstück, das auch durch moderne Adaptionen zu ersetzen wäre und oft ja auch ersetzt wird. Diese alten Komödien scheinen nur noch dankbare Szenarien für theaterimmanente Lustbarkeiten zu sein, für schauspielerische Virtuosität, Tempo und Abwechslung, Geschichte nur noch ein Kostümreiz und Erinnerung an Dialogkultur. Dieser Mechanik verfiel auch einer der bemerkenswertesten Versuche einer Wiederbelebung i m alten Repertoire, nämlich der Restoration comedy in den Jahren 1966-73. N u r wo unser Vorfahr, der Bürger, als Figur und Problem auftaucht, wird der historische Zugang engagierter, gibt es Ansätze zu einer gesellschaftsbezogenen Inszenierungsweise,

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wie bei einzelnen Molière-, Goldoni- und Marivaux-Komödien nach Regievorbildern aus den Heimatländern dieser Autoren (Planchon, Strehler, Chéreau). Aber auch i m ernsten Bereich sind die antiken oder elisabethanischen Stücke in unserem Spielplan kaum mehr Träger von geschichtlicher Revokation, fungieren sie nicht mehr als Zeugen ihrer Zeit. Ein Programmheft kann noch so stark betonen, wie sehr etwa die Phönizierinnen des Euripides Reflex auf den Peloponnesischen Krieg waren, die Inszenierung wird weder dies noch allgemeinere ideologiegeschichtliche Zusammenhänge assoziieren können. Der Regisseur eines Shakespeareschen Königsdramas mag sich noch so sehr bewußt sein, was den Elisabethanern die Darstellung ihrer erst wenig mehr als ein Jahrhundert zurückliegenden eigenen Geschichte bedeutete: — auf der Bühne wird er ein parabolisches Spiel inszenieren, in dem Königtum, Adel oder Volk v o m Geschichtsstoff abstrahierte Positionen sind, die ganz andere, heutiger Erfahrung nähere Vorstellungen von politischen Vorgängen und Machtstrukturen hervorrufen. Die nächste Repertoiregruppe, mit den von etwa 1770 bis 1870 geschriebenen Stücken, hat gleich große Spielanteile. Es ist das Jahrhundert, das auf unseren Bühnen, von wenigen russischen und französischen Autoren abgesehen (Gogol, Ostrowski, Musset, Labiche), nur von deutschen Dramen (die in der 1. Gruppe noch fehlten) vertreten wird. Die deutsche Klassik i m engeren Sinne (Lessing, Goethe, Schiller, Kleist) ist nur zu 6 - 7 % an heutigen Inszenierungen beteiligt, aber hier wird die historische Perspektive entscheidend bestimmt, und die Modellwirkung gerade solcher Klassikerinszenierungen strahlt weit in andere Repertoirebereiche aus. Darüber noch kurz i m Schluß teil. Für unsere Umschau vorerst signifikanter ist die dritte Repertoiregruppe mit der Dramatik der »Jahrhundertwende«. Sie ist wieder international zusammengesetzt, beginnend mit Ibsen, der auch zu seiner Zeit den gemeineuropäischen Konnex des Theaters markiert hat; neben ihm Strindberg, Tschechow, Gorki, Shaw, Feydeau, Hauptmann, Wedekind, Sternheim und Schnitzler, um nur die meistgespielten zu nennen. Diese Gruppe ist die am deutlichsten historisch geprägte auf unseren Bühnen — eine paradoxe Umkehrung, weil die Stücke zu ihrer Zeit ja gerade dadurch modern erschienen, daß sie statt der i m 19. Jahrhundert dominierenden historischen Stoffe Probleme der unmittelbaren Gegenwart aufgriffen und realistisch darstellten, sich so auch i m Äußeren eng an die eigene Zeitsituation bindend, während sie heute als Kostümstücke und Abbilder einer Vergangenheit erscheinen, die viel seltener jenen »Aktualisierungen« der Ausstattung unterliegen als etwa die Werke der Antike, Shakespeares oder der deutschen Klassiker. Hamlets in Jeans, wenn schon nicht mehr i m Frack, gibt es reihenweise, die Figuren Tschechows bleiben meist in der Robe, die sie zu Jahrhundertbeginn schon trugen.

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Da sich unser Theater heute i n einer Phase befindet, wo dem Anachronismus als Inszenierungsmittel eine besondere Aussagekraft zugetraut wird, fällt der patinageschützten, Geschichte gleichsam authentisch bewahrenden Dramatik der Jahrhundertwende i m Spielplan eine eher konservative Funktion zu. Wenn sie auch ihrer Thematik wegen nicht zum Fluchtraum für Nostalgien verkommen kann, so ist es doch, gemessen an den engagierter befolgten und diskutierten Regietendenzen anderswo, nur eine unspektakuläre Alltagsqualität, die sie der Bühne ermöglicht. Aber ist sie damit nicht schon immunisiert gegen die berechtigten Wünsche der Rezipienten, sie auf sich und ihre Probleme zu beziehen? Welches Interesse könnte einen Regisseur noch leiten? Wohl kaum mehr die einfache »Sittenschilderung« und plane K r i t i k an einer Gesellschaft, die definitiv nicht mehr die unsere ist. Aber vielleicht doch die Frage, welche i n den Stücken angezielten Strukturmomente jener Gesellschaft in der unseren nachwirken. Die Gefahr dieses Zugangs ist ihre Klischierung zu spätbü-rgerlichen Endspielen und die Überzeichnung der Hysterien und Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaft vor ihrem geschichtlichen Verschwinden. Das machte ihre Historizität wieder abstrakt und pauschalierte sie ohne genaueres Ansehen von Zeit und Ort. Zwar ist es zu begreifen, daß Regisseure z. B. die in Schnitzlers Dramen vor 1914 dargestellten gesellschaftlichen Verhältnisse allesamt final auf den 1. Weltkrieg und die Revolution von 1918/19 hin sehen, zumal Schnitzler selbst i n der Komödie der Verführung die Katastrophe thematisiert hat, also ein Vorbild des Verfahrens zu geben scheint. Zwar kann man verstehen, daß Regisseure die großbürgerliche Welt in Tschechows Dramen so sehen, wie sie Gorki in Feinde gesehen hat, als zum unwiderruflichen Abtreten bestimmt, zumal Tschechow das seine Figuren gelegentlich selbst aussprechen läßt. Doch wenn beides ungefähr als dasselbe herauskommt, das zaristische Rußland wie das k. u. k. Wien erscheint und nicht spürbar wird, daß Liehelei ein Jahrzehnt früher spielt als Drei Schwestern, dann hat das pauschale »Menetekel« die konkrete Historizität ebenso verfehlt wie früher die bloße Einfühlung i n Einzelfiguren. E i n anderer, die historistische Isolation aufbrechender Zugang zur Dramatik der Jahrhundertwende ist das Interesse an Frauenschicksalen von Nora und Fräulein Julie über Hedda Gabler, Salome und L u l u bis zu Rose Bernd und Klara Hühnerwadel. Ein verwandtes Interesse hat seit Mitte der Siebziger jähre zu einer augenfälligen Renaissance von Frühlings Erwachen geführt. Auch in der häufig wiederkehrenden Reflexion über Kunst und Künstler und ihr Verhältnis zum »Leben« findet das heutige Theater i n den Stücken von gestern Anlaß und Nahrung zur Selbstreflexion. Es gibt also — das lehren die Beispiele — w o h l zwei unterschiedliche Möglichkeiten, an Vergangenes anzuknüpfen und Historisches für die Gegenwart relevant zu machen: das schrittweise Rückverfolgen einer Entwicklung bis zu jenem Frühstadium, wo die Wurzeln des Heute erkennbar

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und doch fremd zutage liegen, und das Aufsuchen von partiellen Analogien i m generell Verschiedenen. A u f die Mischung von Vertrautem und Fremdem kommt es beidesmal an. Was nach dieser dritten Repertoiregruppe folgt — und die nach dem 1. Weltkrieg entstandenen Stücke machen immerhin noch zwei Drittel der Inszenierungen aus — , gilt unseren Bühnen als modern, und das heißt: der erste Zugriff auf diesen Bestand ist ein aktualistischer. I n diesem Repertoirebereich begegnen nun auch verstärkt jene Umschichtungen, die w i r gerne Renaissancen nennen. Der Begriff ist trotz seiner organologischen Herkunft passender als der früher oft gebrauchte der Ausgrabungen, der übersieht, daß man eigentlich nur Totes wieder ausgraben kann. Renaissancen wollen nicht den Leichengeruch geschichtlich bereits begrabener Werke verbreiten, sondern wiederentdecken und wiederbeleben, was historisch fast oder völlig vergessen war. Sie sind Nachholleistungen und Transplantationen. I n der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 gab es viele solcher Renaissancen; sie machten wett, was in der Nazizeit versäumt worden war. Von diesen unterscheiden sich die Renaissancen i m deutschen Theaterrepertoire seit 1960 durch die bewußte Suche nach Anknüpfungsmöglichkeiten an eine ältere Tradition. Solche Renaissancen erlebten die Stücke Sternheims und O'Caseys (seit 1960), Vitracs (1963), Feydeaus (1967), Babels (1968), Gorkis (1970) und Erdmanns, Valle-Inclans und Svevos (1975). Besonders intensiv aber war die erneute Zuwendung zu Stücken aus der Weimarer Republik: zu den Volksstücken Horväths (seit 1964), gewiß die folgenreichste und quantitativ auffalligste, zum frühen Brecht (1968), zu Marieluise Fleißer (1970) und zum sogenannten Zeitstück der späten Zwanzigerjahre (ab 1972): Lampel, Bronnen, Bruckner, Friedrich Wolf, Toller, Feuchtwanger, Barlach und Jahnn. Diese Rehabilitierung einer ganzen Epoche der deutschen Dramatik wandte sich — dies war ihr Gemeinsames bei allen sonst unterschiedlichen Motiven — gegen die idealistischen oder formalistischen Verallgemeinerungen, die sich meist mit dem Etikett expressionistisch verbanden. Sie entdeckte den Realismus jener Zeit, rekonstruierte vergessene Möglichkeiten gesellschaftskritischen, politisch engagierten Theaters und maskierte damit zugleich die eigene politische Äußerung der heutigen Theatermacher. Selbst Einzelversuche, die keine Nachfolge fanden, sind charakteristisch: So dramatisierten Dorst und Zadek zur Wirtschaftskrise Falladas Roman Kleiner Mann, was nun? (und konnten den Breitenerfolg zu Zeiten der allgemeinen Arbeitslosigkeit nicht vorhersehen), so spielte man zur Ölkrise Feuchtwangers Petroleuminseln und zur Diskussion um den §218 Wolfs Cyankali, so gedachte man aus anderen Anlässen bestimmter Stücke von Camus, Kaiser, Bronnen oder Toller. Aber diese Entwicklung ist heute abgeschlossen, ihre Ergebnisse beginnen bereits zu verfallen. Renaissancen sind heute eher Überprüfungen, warum die Erfolgsstücke von vor 20 Jahren so in

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die Breite wirken konnten: Die Physiker,

Andorra, Wer hat Angst vor Virginia

Woolf . . . ?, Black Comedy, Tango, Die Heimkehr. Die abschließend zu stellende Frage, auf welche Weise Inszenierungen der letzten beiden Jahrzehnte geschichtliche Stoffe / Stücke ästhetisch umgesetzt und Fiktionen der Historizität auf der Bühne hergestellt haben, kann hier nur noch durch Einzelbeobachtungen beantwortet werden, aus denen sich kaum allgemeine Strategien ableiten lassen. Die Frage zielt nicht nur auf die Mittel sondern die Haltung des Theaters, geht es doch nicht nur darum, das historisch Verbürgte abzubilden, sondern (mit Camus zu reden 4 ) »wahre Begebenheiten wahrscheinlich zu machen«, und nicht nur glaubhaft darzustellen, wie etwas war, sondern wie es erinnert werden soll, kurzum: nicht nur um das Ins7enieren von Vergangenheit, sondern von unserem Verhältnis zum Vergangenen. Eins ist ohne das Andere gar nicht zu leisten. Das Theater vergegenwärtigt, und so »hat« es Geschichte nur i m Bezug auf sie. Dies szenisch zu verdeutlichen, ist seit Brecht üblich. Nicht nur die Dramatiker wählen nun gerne das Theatermotiv als Rahmen für ihre historischen Sujets, auch das Regietheater pointierte seit den Sechziger jähren häufig mit dem ausgestellten Modus »Schauspieler versuchen das alte Stück ... zu spielen« seinen provokatorischen Umgang mit Klassikern, legitimierte ihn damit zugleich und grenzte ihn ab. Davon zeugt z.B. der ironisch aufwendige Titel einer Bremer Veranstaltung 1967: Maß für Maß von William Shakespeare in der Übersetzung und Bearbeitung von Martin Sperr unter Mitarbeit von Peter Zadek und Burkhard Mauer / als / Ausgangspunkt einer Inszenierung des aktuellen Stückgehaltes auf freier Bühne von Peter Zadek, Bühne: Wilfried Minks. Die Historisierung geschieht oft auch auf einer zweiten theatralischen Werkebene durch die traditionellen oder zumindest Piscator / Brechtschen Episierungsmittel Prolog, Erzähler, Kommentator, Beschriftung der Szene, Text- und Film-Projektion (Heyme z. B. zitierte zwischen den Szenen seiner Wallenstein-lnszcnietung ausgiebig den Historiker Schiller). Auch die Teilhistorisierung kommt vor: bestimmte Dramenabschnitte, oft Schlüsse, werden nicht in die theatralische Interpretation einbezogen, sondern lediglich informativ geliefert, rezitiert, aus einem Reclamheft vorgelesen (Heyme ließ seine Nathan-Datstellet dazu noch blitzschnell in Kostüme der Lessingzeit schlüpfen). Bei der Inszenierung von Historien vertraut das Gegenwartstheater kaum mehr den illustrativen Behelfen von früher, der naiven Szenen-Beflaggung, der erklärenden Heraldik oder Farbordnung, dem Zeremoniell, den Ritualen um Krone, Thron und Sarg oder der Allegorisierung der Szene. Ganz kann es freilich der Großmetaphern noch nicht entraten, wie sie ihm w o h l auch von den Autoren

4

Albert Camus, Dramen (Hamburg, 1959), Vorwort, S. 12.

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nahegelegt werden: Das »Theater« der Geschichte, ihre »Komödie«, das »Marionettenspiel« ihrer Protagonisten, die welthistorische »Schaubude«, der »Jahrmarkt«, das »Karussell« der Geschichte — solche Vorstellungen begegnen in mehr oder weniger sinnfälligen Varianten immer wieder. I n ihnen drückt sich meist ein fatalistisch-pessimistisches GeschichtsVerständnis aus. So auch in den szenischen Metaphern »Schlachthaus«, »Irrenhaus«, »Gefängnis«, in der um 1970 beliebten Bildidee der überlebensgroßen »Popanze«, welche die Spielfläche umstanden. Heiner Müllers Historien werden bei uns gerne in »Environments« angesiedelt, hinter denen die Vorstellung vom historischen »Schutt« steht; Volker Brauns Dmitri wurde bei der Uraufführung 1982 auf eine riesige »Baustelle« der Geschichte versetzt. Szenische Metaphern dieser A r t haben eine Tendenz zur Bausch- und BogenDeutung und machen den konkreten Geschichtsbezug kaum ansichtig. Auch in bestimmten Regietrends nisten solche Metaphern: in der Parodie oder Boulevardisierung von Staatsaktionen (oft von Autoren gefordert und gefördert: Dürrenmatt!), in der Geschlechtsvertauschung oder der Besetzung von Geschichtsgrößen mit Zwergen, in der Mode, die schauspielerischen Näherungsweisen demonstrativ i m Probenstadium zu belassen und die »private« Auseinandersetzung mit Öffentlich-Historischem durch die klischeehafte Nichtkostümierung der Darsteller mit Clochard-Mantel, -Hut und Turnschuhen anzuzeigen. Für Historizität öffnet sich eine Inszenierung erst, wenn sie sich auf die Definition von Zeitebenen einläßt. Meist dominiert dabei heute die Entstehungszeit des Stücks gegenüber der Stoffzeit. Vielfach werden die Fabeln sogar ganz aus der Optik des Autors erzählt (Kleists Traum vom Prinzen Homburg, Tasso bekränzt eine Goethe-Büste), bis hin zur Ergänzung um eine autor-biographische Rahmenfiktion (Die Räuber von Karlsschülern gespielt, Die Jungfrau von Orleans vor dem Weimarer Hof, Lessing sieht seinem Nathan zu). Solche Perspektivierung sucht nicht im Autor den archimedischen Punkt für eine historische Deutung und zielt nicht besserwisserisch auf alte Richtigkeiten. Inszenierungen, die bei den Stücken nicht mehr oder nicht ausschließlich die Ausstattungs- und Benehmenskonventionen der Stoffzeit beachten, werden ohnehin mißverstanden, wenn man ihnen unterschiebt, sie hätten die »Handlung« in eine andere Zeit »verlegt«. Eine völlige oder teilweise Umkostümierung ist noch keine Umcodierung, keine Umwandlung aller poetischen Substanzen in einen einzigen anderen »Bedeutungs«-Komplex. Was eine Figur anhat, definiert sie noch nicht total. Die zuletzt beschriebenen Versuche, durch eine spätere Zeit eine frühere aufzuschließen, sollten eher als sinnliche Assoziationshilfen genommen werden, als Angebote an die mitarbeitende Phantasie des Zuschauers und Anregung, diese in Bewegung zu setzen, in eine Richtung mit dem Ziel einer Verknüpfung. I m Idealfall ist es der produktive Umgang mit dem Anachronismus. Schon Goethe hat deutlich gemacht, »daß alle Poesie eigentlich in 14

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 28. Bd.

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Anachronismen verkehre« 5, u n d Heiner M ü l l e r w i r d nicht müde zu behaupten u n d m i t seinen S t ü c k e n z u belegen, »daß m a n o h n e A n a c h r o n i s m e n G e s c h i c h t e n i c h t m e h r beschreiben k a n n « 6 . D a s ist aber a u c h fürs T h e a t e r eine Frage der Q u a l i t ä t , die sich n u r i n der Einzelanalyse erweisen läßt.

5 1827 in seiner Besprechung des Trauerspiels Adelcbi von Alessandro Manzoni: »Wir sprechen das vielleicht paradox scheinende Wort aus: daß alle Poesie eigentlich in Anachronismen verkehre; alle Vergangenheit, die w i r heraufrufen, um sie nach unsrer Weise den Mitlebenden vorzutragen, muß eine höhere Bildung als es hatte dem Altertümlichen zugestehen; der Poet mag hierüber mit seinem Gewissen übereinkommen; der Leser aber muß gefallig durch die Finger blicken. Die Ilias wie die Odyssee , die sämtlichen Tragiker und was uns von wahrer Poesie übrig geblieben ist, lebt und atmet nur in Anachronismen. Allen Zuständen borgt man das Neuere, um sie anschaulich, ja nur erträglich zu machen, so wie w i r ja auch in der letzten Zeit mit dem Mittelalter verfuhren, dessen Maske w i r viel zu sehr bis in Kunst und Leben herein als wirklich gelten ließen.« 6

Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer : Interviews S. 36.

und Gespräche (Frankfurt/M. 1986),

DAS PROBLEM DER Z E I T E B E N E N I M M O D E R N E N GESCHICHTSDRAMA

DEUTSCHEN

V o n Klaus-Detlef Müller A m Ende des 3. Aktes von Goethes Göt% von Berlichingen, desjenigen Werkes, mit dem die Geschichte des modernen GeschicKtsdramas in Deutschland beginnt, steht die Vision einer Friedensordnung, die den Ritterstand zu seiner eigentlichen Aufgabe, zum Dienst an der »allgemeinen Glückseligkeit« 1 befreien würde. Diese Utopie ist szenisch widerlegt, insofern der freie Ritter von der kaiserlichen Gewalt bereits verfolgt ist, und sie wird am Ende eingeholt durch die Einsicht des sterbenden Götz, daß er sich selbst und die >Edeln< seinesgleichen überlebt hat: die Freiheit, von der i m Stück so viel die Rede war, ist nur i m Tode zu erreichen, und die Überlebenden bleiben i n einer >verderbten Welt< zurück: »Schließt eure Herzen sorgfaltiger als eure Tore. Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen.« 2 I m Spannungsfeld von widerlegter Utopie und erfüllter Prophetie erscheint hier i m historischen Drama die Gegenwart seiner Entstehungszeit. Die Zeitgenossen haben den Hinweis verstanden, wenn sie — wie Lenz — eine Epoche beklagten, in der die große Persönlichkeit unzeitgemäß geworden ist 3 oder umgekehrt — wie Hegel — die »abenteuernde Selbständigkeit ritterlicher Individuen« angesichts der sich ausbildenden »gesetzlichen Ordnung in ihrer prosaischen Gestalt« als Donquichotterie empfanden. 4 Damit wird der dargestellten Geschichte ihr Sinn aus der Gegenwart zugewiesen, die sie gestaltet und von der sie aufgehoben ist. Das gilt auch für Brecht, der das mit Recht totgesagte Genre des Geschichtsdramas für unsere Zeit wiederentdeckt und in grundlegender Weise erneuert hat. Sein Leben des Galilei vermittelt i n der Schlußszene ganz offen zwischen dargestellter Geschichte und aktueller Problematik, wobei bekanntlich zwei verschiedene Versionen über die Bedeutung des Widerrufs entstehen. Indem Brecht »der überlieferten geschichte folg(t)« wird »eine materie gewisser ideen 1

Goethe, »Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand«, in Goethes Werke (Hamburger Ausgabe), Band 4 (Hamburg 3 1958), S. 143. 2 Ebd., S. 175. 3 Jakob Michael Reinhold Lenz, »Über Götz v o n Berlichingen«, in LenWerke Schriften / , hg. v. Britta Titel und Hellmut Haug (Stuttgart 1966), S. 378-382. 4 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Ästhetik,, (Frankfurt/Main o.J.), S. 195.

1*

und

hg. v. Friedrich Bassenge, Band 1

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Klaus-Detlef Müller

entbunden« 5 , wobei aber die Lesart v o m unmittelbarsten gegenwärtigen Problemstand abhängt. Der soziale Verrat wird zum vernichtenden Urteil erst angesichts der Atombombe. Auch hier verbinden sich i m Ausblick auf die Zukunft Utopie und Prophetie. Daß das historische Drama mehr ist als die szenische Wiedervergegenwärtigung von Vergangenem, daß der Dichter — mit Hebbels prägnantem D i k t u m — nicht »Auferstehungsengel der Geschichte« ist 6 , auch wenn er i m Sinne Büchners uns »die Geschichte zum zweiten Mal erschafft« 7 , kann heute nicht mehr bestritten werden. Ebenso verbindlich ist das Recht der Gegenwart, aus ihrem spezifischen Anspruch und Bedürfnis heraus das Vergangene zur Sprache zu bringen und ihm die eigene Perspektive nicht nur mittelbar einzuschreiben. Der Zugang zu den Gegenständen fingiert sich nicht als interesselos. Das hat Konsequenzen für die Darstellung, die sich insbesondere i m Bereich der Zeitstruktur auswirken. 8 Idealtypisch ist die dramatische Form ja Vergegenwärtigung. Szondi hat in seiner Typologie, deren unhistorischer Apriorismus ihren heuristischen Wert nicht aufhebt, die Zeit des Dramas als »je die Gegenwart« und seinen Zeitablauf als eine »absolute Gegenwartsfolge« bestimmt 9 , und die Dramenpoetik hat sich mit Recht auf die Untersuchung der Zeitverhältnisse innerhalb des Ablaufs der szenischen Handlungsfolge orientiert. 1 0 Eine solche

5

Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, (Eintragung v o m 30. 7. 1945).

hg. v. W. Hecht, Band 2 (Frankfurt/Main 1973), S. 747

6 Friedrich Hebbel, »Mein Wort über das Drama«, in Friedrich Hebbel, Werke, hg. v. Gerhard Fricke, Werner Keller und K a r l Pörnbacher, Band 3 (München 1965), S. 550. 7 Georg Büchner, Brief an die Familie v o m 28. 7.1835, in Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe, hg. V. Werner R. Lehmann, Band 2 (München 1972), S. 443. 8

Grundsätzliches zur Frage der Zeitstruktur in der Geschichte hat Reinhart Koselleck in seinem Aufsatzband Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt/Main 1979) ausgeführt. Besonders wichtig für die hier angesprochenen Fragen sind die Aufsätze »Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen« (S. 130-143) und »Darstellung, Ereignis und Struktur« (S. 144-157). Das Geschichtsdrama bleibt angesichts der narrativen Muster der Historiographie außerhalb der Betrachtung, die hier angesprochenen Fragen werden aber i m Zusammenhang mit dem prognostischen Wert der Geschichtserkenntnis thematisiert. 9

Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (Frankfurt/Main 1967), S. 17. Manfred Pfister kommt von einem kommunikationstheoretischen Ansatz her zu einem vergleichbaren Ergebnis, wenn er den »Eindruck unmittelbarer Gegenwärtigkeit des dargestellten Geschehens« als gattungsspezifisch erklärt (Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse (München undramatisch< ausfällt«. 11 Das hängt einmal damit zusammen, daß die dramatische Gegenwart den Charakter von >Vor-Geschichte< der dem Zuschauer gegenwärtigen Erfahrungswelt hat, zum anderen aber auf eine geschichtlich rekonstruierbare Totalität wirklicher Zusammenhänge verweist. Die Exposition des historischen Dramas ist deshalb immer nur punktuell, an die jeweilige Darstellungsintention gebunden, jedoch mit dem historischen Wissen des Zuschauers vermittelbar. Das gilt auch, wenn die Darstellung in hohem Maße fiktiv ist. Die der Handlung vorausliegende Zeit verliert damit weitgehend den Charakter der Vergangenheit, weil das Vergegenwärtigte schon selbst als ein Vergangenes bewußt wird. Sehr viel bedeutsamer ist freilich eine andere Konsequenz der Zeitstruktur i m historischen Drama. Seine Zukunftsdimension ist auf die Gegenwart des Rezipienten gerichtet, und in diesem Bereich liegt die wichtigste Möglichkeit einer Vermittlung von dramatischer Handlung und aktueller Erfahrung. Das Geschichtsdrama muß von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen, wo es sie aber nutzt, realisiert es eine strukturelle Tendenz zur offenen Form. Das geschieht, wie die eingangs erwähnten Beispiele bezeugen, in Gestalt von Utopie und Prophetie. Beide Erscheinungsweisen enthalten die Möglichkeit von K r i t i k . So weist Goethe i m Göt% von Berlichingen auf die verdinglichte und institutionell verfestigte Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts und die Folgezeit voraus. Er ermöglicht eine geschärfte Wahrnehmung ihrer Zwänge, indem er das Ende einer historischen Zeit vergegenwärtigt, in der das freie Handeln selbstverantwortlicher Individuen noch als N o r m bewußt war oder zumindest als solche fingiert werden kann. Und Brecht zeigt die Möglichkeit einer Verpflichtung der Naturwissenschaften auf das Wohl der Menschheit statt auf die Interessen der herrschenden Klassen. Unabhängig davon, ob diese Alternative historisch möglich w a r 1 2 , dient das Modell einer Erkenntnis und Wahrnehmung aktueller Mißstände. I n beiden Dramen ist also die Zukunftsperspektive aus der Wahrneh11 12

Szondi, a.a.O. (s. A n m . 9), S. 17.

I n seiner Selbstverurteilung führt Galilei aus: »Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen E i d der Ärzte entwickeln können, das

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Klaus-Detlef Müller

mung der Gegenwart und ihrer Probleme entwickelt worden. Das ist möglich, weil die Geschichte Fiktion und außerästhetische Aktualität in einer Zeitfolge verbindet. Die Utopie hingegen erscheint entweder als eine unverwirklichte Möglichkeit der Geschichte oder als eine noch immer uneingelöste Forderung, die auch für die Gegenwart des Rezipienten zukünftig bleibt — in beiden Fällen kritisiert auch sie die aktuellen Zustände. Die Möglichkeiten des historischen Dramas liegen also in der Komplexität seiner Zeitebenen. Dieses Spannungsverhältnis ist von Brecht in den Kategorien Historisierung und Aktualisierung wieder bewußt gemacht worden 1 3 , und es hat für die Gegenwart eine Erneuerung der Form ermöglicht, die i m Bezug auf die idealistische Geschichtsphilosophie einerseits und in der perspektivelosen Rekonstruktion der bloßen Faktizität des Gewesenen andererseits obsolet geworden war. Es kommt freilich darauf an, und das scheint mir ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Analyse des zeitgenössischen Geschichtsdramas zu sein, daß die ästhetischen Möglichkeiten der Verschränkung der Zeitebenen auch sachgerecht genutzt werden. Dabei ist zwischen verschiedenen Typen des historischen Dramas zu unterscheiden. Die konventionellste Form, die scheinbare Rekonstruktion von Geschichte, ist zwar zum Film und Fernsehspiel abgewandert, lebt aber in modifizierter Form i m Dokumentartheater fort. Der Versuch, die arrangierten und montierten Fakten unmittelbar sprechen zu lassen, ist freilich nicht ohne Risiko. Denn der Zuschauer w i r d gleichsam zum Zeugen von Vorgängen, für die ihm die Urteilskompetenz der Zeitgenossenschaft fehlt. Nicht umsonst bevorzugt das dokumentarische Geschichtsdrama deshalb Vorgänge der jüngsten Vergangenheit, deren Klippe dann aber den Anspruch der Betroffenen auf faktische Übereinstimmung bis ins Detail ist: die Auseinandersetzungen zwischen Kipphardt und Oppenheimer sind dafür eines von zahlreichen instruktiven Beispielen. Bedenklich ist hingegen die dokumentarische Methode bei weit zurückliegenden Vorgängen, bei denen der Dramatiker sich als Geschichtsschreiber ausgibt. Eines der besten Beispiele dafür ist Dieter Fortes ungemein erfolgreiches und wirkungsvolles Stück Martin Luther & Thomas Münder oder Die Einführung der Buchhaltung. Forte verdeutlicht seinen Anspruch mit der lapidaren Bemerkung:

Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden!« (Brecht, »Leben des Galilei«, in Bertolt Brecht, Gesammelte Werke Band 3 (Frankfurt/Main 1967), S. 1341). Als Brecht diesen Gedanken 1945 formulierte, wußte er, daß der hippokratische E i d deutsche Ärzte durchaus nicht gehindert hatte, sich an den Greueltaten in den Konzentrationslagern zu beteiligen. 13

Vergleiche hierzu Klaus-Detlef Müller, Die Funktion der Geschichte im Werk Brechts: Studien %um Verhältnis von Marxismus und Ästhetik (Tübingen 2 1972).

Bertolt

Zeitebenen i m modernen deutschen Geschichtsdrama

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»Die Texte sind zum größten Teil Originaltexte. Zahlen und Fakten stimmen. Alle Währungen sind in D M umgerechnet.« 14 Der Stücktext wird durch eine Bibliographie ergänzt, die eine >kleine Auswahl< des Materials nachweist. I n einer Bemerkung »Zur Methode« (140) gibt Forte Auskunft über sein Verfahren. Er zeigt sich erstaunt über die Gegenwärtigkeit der dramatischen Konstellation: »Es bedurfte keiner Aktualisierung, keiner für das Theater zurechtgebogenen Konfrontation. Es gibt anscheinend Konstellationen, die sich modellhaft wiederholen«. Die Erklärung sieht er in seinem Versuch, entgegen gängigen Betrachtungsweisen die politische und die Kirchengeschichte in ihrer Beziehung zur Wirtschaftsgeschichte darzustellen. Daraus ergibt sich eine Lesart, die sich den »Rastern« der bisherigen Geschichtsbetrachtung widersetzt, so daß sich die Frage stellt »Was ist uns da bisher erzählt worden?«. Die Reformation wird aus dem Blickwinkel der sich durchsetzenden Herrschaft des Kapitals geschildert. Der eigentliche Protagonist ist der Bankier Fugger, der Fürsten und Kaiser mit immensen Summen finanziert, daraus aber in den Jahren der Reformation einen Profit von tausend Prozent schlägt. Luther, in religiösen Fragen Opportunist und Ideendieb, erscheint als Makler der Fürsten, der mit seinem K a m p f gegen den Ablaß den Reliquiendienst Friedrichs des Weisen von Sachsen unterstützt, der i m Interesse der Fürsten die Enteignung von Kirchengut rechtfertigt, der durch seine Obrigkeitslehre die revolutionären Tendenzen der Reformation unschädlich macht. Sein Gegenspieler Münzer benutzt seinerseits religiöse Vorstellungen zur Revolutionierung der Bauern und Minenarbeiter, also ebenfalls i n politisch säkularisiertem Sinne. Er scheitert aber an der Macht des Kapitals und an der Unaufgeklärtheit der Volksmassen. Die Kurie aber wird gezwungen, den Prozeß einer aufklärerischen Säkularisation der Glaubenslehren abzubrechen und sich auf die mittelalterlichen Traditionen ihrer Herrschaft zu besinnen. Die Denk- und Handlungsmuster des Stücks sind vollkommen modern. Diese Modernität wird nicht durch einen gewollten Anachronismus erreicht, der ja eine Form der Verfremdung wäre und in der scheinbaren Aufhebung der Zeitebenenspannung den historischen Abstand bewußt machen und verdeutlichen müßte. Diese Technik ist der Regiepraxis des modernen Theaters geläufig, wird aber von den Autoren kaum genutzt. 1 5 Sie widerspräche in diesem Falle dem pseudowissenschaftlichen Gestus der Richtigstellung einer falschen Überlieferung, die das Gezeigte als historisch fingieren muß. Dabei glaubt Forte bezeichnenderweise, den »theologischen Aspekt der Reformation« ignorieren zu können (140). Damit nimmt er ihr aber ihre historische Dimension, ebenso wie er den gesellschaftli14

Seitenangaben beziehen sich hier und i m folgenden auf: Dieter Forte, Martin Luther & Thomas Münder oder Die Einführung der Buchhaltung (Berlin 1971). 15

Ansatzweise findet sie Verwendung in Martin Walsers Sauspiel.

Klaus-Detlef Müller

chen Fortschritt der frühkapitalistischen Wirtschaftspraktiken ignoriert. Die Aktualität der gezeigten Vorgänge wird nicht durch Geschichtsdeutung hergestellt, sondern durch den Verzicht auf Historisierung erschlichen. 16 Wenn das Geschehen so zeitgemäß wirkt, so liegt das nicht an der Wiederholbarkeit geschichtlicher Konstellationen, sondern am Verzicht auf Vergegenwärtigung, die die Geschichte als Vergangenheit sichtbar macht und die Aktualität als ihre Zukunftsdimension einholt. Daß die montierten Texte sich dem Deutungsanspruch fügen, liegt an den Kontexten, durch die sie zur Sprache gebracht werden. Diese Kontexte sind nicht von ungefähr kabarettistische. Das Kabarett ist aber eine Form der Verfremdung zeitgenössischer Erfahrungen, die i m kritischen Einverständnis des Publikums, in seinem erkennbaren Gelächter, bewußt werden. Die Enthistorisierung der Figuren zu aktuellen Typen hebt auch die historische Dimension ihrer authentischen Äußerungen auf und verkürzt sie ins Tendenziöse. Forte kommt ohne Aktualisierung aus, weil er in Unterstellung des Immergleichen die Geschichte verfehlt. Die Provokation, die das Stück bewirkt hat, erfüllt sich allenfalls in der wissenschaftlichen Richtigstellung, die aber nur eine Widerlegung der dargestellten Sachverhalte sein kann. Das gilt für viele der dokumentarisch fundierten Geschichtsdramen, deren vergegenwärtigende Darstellungsweise auf die ästhetischen Möglichkeiten des Spiels mit den Zeitebenen verzichten. Anders verhält es sich mit Tankred Dorsts Revolutionsdrama Toller, das zwar auf sorgfältig recherchierten Materialien beruht, jedoch kein Dokumentär stück ist. Dorst hat die Materialien vielmehr in einem Dokumentationsband vorab publiziert 1 7 und bezieht sich auf sie. I m Stück entwirft er hingegen in der Form einer Revue von Szenen aus der Geschichte der Münchner Räterepublik ein Zeitpanorama, das Widersprüchliches eher akzentuiert als in einer historischen Sinndeutung aufhebt. Die Münchner Räterepublik, deren Konstituierung Ernst Niekisch in seinen Erinnerungen als eine »politische Groteske« 18 gekennzeichnet hat, erscheint auch bei Dorst als von vornherein aussichtslos. Die politischen Kräfte — die K P D und die Führung der SPD — verweigern sich ganz oder teilweise, so daß die Führung drei Literaten zufallt, die sich zwar durch ihre Meinungen exponiert haben, aber zur Organisation von Interessen unfähig sind.

16 Zur K r i t i k vgl. insbesondere: Klaus L . Berghahn, »Die Geschichte des deutschen Bauernkriegs — dramatisiert«, in Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Geschichte im Gegenwartsdrama (Stuttgart 1976), S. 81-95, hier: S. 88ff.; Franz Norbert Mennemeier, »Dieter Forte. >Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der BuchhaltungTollerMarat/SadeWahrheit< heißt, sind eben zunehmend die der Geschichtswissenschaft. A n Lassalles Sickingen-Dizmz erörtern Marx und Engels 1859 beinahe ausschließlich, ob es die Bewegung des Bauernkrieges >richtig< erfasse, und in den zahlreichen Römer- und Stauffer-Dramen, die von der Jahrhundertmitte an mehr und mehr das Bild der historischen Dichtung bestimmen, begegnen uns auch schon Quellennachweise und kommentierende Fußnoten. Das bedeutet nicht, daß man sich nicht noch immer gern auf die »poetische Freiheit beriefe. Praktisch jedoch reicht diese Freiheit kaum weiter, als daß etwelche verstreuten historischen Einzelmomente einmal in einer einzigen Situation zusammengezogen werden oder daß man i m Privatbereich der historischen Akteure dieses und jenes hinzuerfinden kann. Was in der Klassik noch als Beispielfall zeitloser menschlicher Wahrheit gedacht war, nimmt so am Ende des 19. Jahrhunderts schon weitgehend den Charakter szenisch zurechtgemachten Geschichtsunterrichts an, nicht unähnlich unserem Schulfunk, der sich dieses Materials w o h l sogar wirklich bedient. Entsprechend gering wird das öffentliche Interesse. Die wenigsten dieser Dramen werden noch aufgeführt, und nichts sprach dafür, daß die Gattung noch eine Zukunft hatte. Richtet man von diesem Hintergrund her den Blick auf die Wiedergeburt eines an der Geschichte orientierten — also historischen — Dramas in unserer jüngeren 10 Goethe zu H . Luden am 1. Oktober 1812, in Goethes Gespräche , hg. F. Frh. v o n Biedermann (Leipzig, 1909), Bd. 2, S. 157 f. 11

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik (1828/29), hg. F. Bassenge (Frankfurt/M., 1965), Bd. 2, S. 359.

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Vergangenheit, so w i r d einem als erstes bewußt, daß das meistbeachtete formale Merkmal dieses Dramas, seine dokumentarische Tendenz, der am wenigsten erstaunliche Z u g an ihm ist. Die Orientierung an den historischen Dokumenten bis hin zum direkten Zitat ist nur der letzte Ausdruck davon, daß das heutige Bild von der Geschichte ein wissenschaftlich gegründetes Bild ist und daß es zu den durch die Wissenschaft festgestellten und beglaubigten Tatsachen keine Alternative mehr gibt. Jedenfalls keine wahrscheinliche Alternative — denn natürlich bleibt immer die Möglichkeit, sich v o m wissenschaftlichen Erkenntnisweg einfach zu trennen. Die noch am ehesten geschichtlich-abbildliche Variante i n dieser Hinsicht ist die Parabel, wobei freilich der historische Aufschlußwert dieser Form — von Brechts Ar furo Ui bis zu Frischs Andorra — heute auch schon zweifelhaft ist. I n anderen Fällen gelangt man auf diesem Wege zur Komödie oder zur Satire — Dürrenmatts Romulus z. B. — , also zu Formen, die das wissenschaftliche Geschichtsbild gerade ironisch infrage stellen. Aber auch die ernsthaftkritische Beleuchtung dieses Geschichtsbildes ist so möglich, wenn wir an die Stücke Heiner Müllers denken. I m Unterschied zum originären Geschichtsdrama, das die historischen Vorgänge selbst zur Anschauung bringen will, kann man in diesen Fällen allerdings w o h l nur von einem Drama Über die Geschichte sprechen, insofern es ein wissenschaftlich fixiertes Geschichtsbild immer schon voraussetzt und auf dieses reagiert. Dabei ist hier nicht zu erörtern, ob der wissenschaftliche Erkenntnisweg auf diese Weise wirklich noch infrage gestellt oder korrigiert werden kann. Das Entscheidende ist, daß jedenfalls das andere Drama, das die Geschichte noch unmittelbar abbilden will, der Konkurrenz zu diesem Erkenntnisweg nicht mehr entkommen kann. Jede Abweichung v o m wissenschaftlich Erwiesenen kann hier die Gefahr heraufbeschwören, als Verfälschung angesehen zu werden oder anderweit hinter unseren gewöhnlichen Erkenntnisansprüchen zurückzubleiben. Natürlich muß das nicht notwendig das Zitieren oder Nachspielen der Dokumente selbst zur Folge haben — auch das Dokumentarstück ist nicht immer i n diesem Sinne dokumentarisch — , aber der intentionale Bezug auf die Dokumente ist doch jedenfalls unabdingbar. Was hat dann aber überhaupt zur Wiedergeburt des Geschichtsdramas geführt, wenn es der Geschichte gegenüber doch kaum mehr Freiräume besitzt? Wo liegt sein besonderer Zweck oder — um mit Goethe zu sprechen — seine Wahrheit? Halten wir uns zunächst an jene Serie von Stücken, die mit Hochhuths Stellvertreter im Jahre 1963 ihren ersten und mit Weiss' Hölderlin 1971 ihren letzten großen Erfolg verzeichnete, so ist die A n t w o r t sogleich zur Stelle: es waren politische Botschaften, politische Anklagen, die für sie den Antrieb bildeten. Schon die Stoffe, überwiegend die jüngere und jüngste Vergangenheit betreffend, deuteten das an: die Verfolgung und Ermordung der Juden (Der Stellvertreter, Joel Brand, Die Ermittlung ), Kriegs verbrechen und Widerstandsbewegung (Soldaten , Die Verschwörer, Prozeß in Nürnberg ) der Bau der Atombombe

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(In der Sache J. Robert Oppenheimer ), der 17. Juni (Die Plebejer proben den Aufstand ), die Invasion i n Cuba (Das Verhör von Habana), der Vietnam-Krieg (VietnamDiskurs ). Nicht ganz so dicht an die Gegenwart heran führten die Stücke über Trotzki und Toller (Trotzki im Exil , Toller ), doch von wirklich anderen Epochen handelten nur die über Hölderlin und Luther (Hölderlin, Münder).

Martin Luther & Thomas

Der überwiegend geringe zeitliche Abstand zu den behandelten Ereignissen ist für den politischen Sinn allerdings nur ein Indiz, dieser selbst ergibt sich aus etwas anderem. Wie Egon Schwarz am Beispiel des Stellvertreters dargelegt hat, ist entscheidend dafür erst die Perspektive, unter der das behandelte historische Geschehen wahrgenommen wird. Für den Historiker ist das Wichtigste die Genese und der Verlauf der Ereignisse, er w i l l klären, um es mit Ranke zu sagen, »wie es eigentlich gewesen«. 12 Dazu gehört insbesondere auch, daß er den Motiven der handelnden Personen nachgeht, ihre Antriebe und Skrupel aufdeckt, ihre Entscheidungen nachzuvollziehen versucht usw. Doch eben das findet man bei Hochhuth nicht. Bei ihm drängt vielmehr alles zu der Aussage hin, daß das, was geschehen ist, nicht hätte geschehen sollen und dürfen, also in diesem Falle, daß der Papst zur Vernichtung der Juden nicht hätte schweigen dürfen. Das aber ist, wie Schwarz betont, nicht die Aussage eines Historikers, sondern die eines Moralisten, und da die Institution, der sie gilt, noch immer existiert und mächtig ist, ist es natürlich auch eine politische Aussage. 13 Ist man erst einmal auf das Muster der moralischen Geschichtsbewertung zum Zweck politischer Wirkung aufmerksam geworden, dann erkennt man es auch i n den anderen Stücken der 60er Jahre wieder. Besonders aufschlußreich ist, daß es in mehreren Fällen Prozeßsituationen sind, die den Blick auf die historischen Vorgänge lenken: in der Ermittlung von Peter Weiss der Auschwitz-Prozeß, in Kipphardts Oppenheimer das Verhör dieses Physikers und >Vaters der Atombombe< durch einen Sicherheitsausschuß, in Schneiders Prozeß in Nürnberg die Aburteilung der deutschen Hauptkriegsverbrecher, in Enzensbergers Verhör von Habana die Untersuchung der gescheiterten Schweinebuch-Invasion. Aufschlußreich ist diese Form der Einholung geschichtlicher Ereignisse deshalb, weil die prozessuale Geschehensermittlung i m Gegensatz zur historischen ja von vornherein mehr schuldfeststellenden als erklärenden Charakter hat, weil sie also schon an sich moralischer Natur ist. Während i m direkten Zugriff auf die historischen Ereignisse die moralische Anklage-Position in der Regel erst konstruiert werden muß — bei Hochhuth zumeist in Gestalt einer moralischen

12 Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Vorrede (1824), Sämtliche Werke (Leipzig, 1872 ff.), Bd. 33, S. V I I .

- 1 3 Egon Schwarz, »>Der Stellvertreter — Rolf Hochhuths Verhältnis zur Geschichte«, in Geschichte als Schauspiel , hg. W. Hinck (Frankfurt/M., 1981), S. 289-303, bes. S. 291 f.

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Vorbild-Figur, i m Stellvertreter der des Paters Riccardo — , ergibt sich diese Position in der Prozeßform von selbst. Andererseits ist das moralische Raster dieser Form grob, da sie ja nur die öffentlich zu erhebenden Schuldvorwürfe erfaßt, und auch der historische Horizont w i r d durch sie stark eingeengt. Über die politisch-moralische Tendenz der Stücke ist hier nicht i m einzelnen zu sprechen. Generell lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Die eine hat die direkte Anklage politischer Verhältnisse zum Ziel, also das Versagen des Papstes in der Judenfrage, die M i t w i r k u n g der deutschen Industrie bei der Ausbeutung der KZ-Häftlinge, die Politik der USA in Vietnam oder Mittelamerika u. a. Die andere gilt der Infragestellung politischer Leitbilder und Leitwerte. Hierher gehören die Demontage Churchills oder die der Offiziere des 20. Juli, die moralische Abwertung Brechts und die politische Aufwertung Hölderlins. Den spektakulärsten Fall einer solchen Werteverschiebung stellte allerdings w o h l Fortes Luther-Stück dar, insofern es die Reformation als einen von den deutschen Fürsten inszenierten Anschlag auf den gesellschaftlichen Fortschritt interpretierte, der für Jahrhunderte die gemeinsame Herrschaft von Kapital und Obrigkeit begründen half. A l l das löste heftige öffentliche Diskussionen aus und machte das Theater zu einem politischen Forum, wie es das selten zuvor war, so daß auch seine Rolle i m gesellschaftlichen Leben neu bestimmt zu sein schien. I m Rückblick ist nun allerdings vor allem der Gegensatz auffallig zwischen dieser außerordentlichen Wirkung am Anfang und der alsbaldigen Gleichgültigkeit, die ihr folgt. Keines der Stücke hat sich über eine erste Aufführungswelle hinaus am Theater halten können, auch wenn die eine und andere Wiederaufführung noch zustande gekommen i s t . 1 4 Woran liegt das? Vergegenwärtigt man sich die damaligen öffentlichen Auseinandersetzungen, so wird deutlich, daß sich die erregende Wirkung der Stücke in erster Linie der Tatsache verdankte, daß sie sich für historisch wahr, zuverlässig, unanfechtbar ausgaben, also ihre provokante Deutung der geschichtlichen Vorfälle für mehr oder minder zwingend erklärten. Das forderte zum Widerspruch, zur Überprüfung heraus, d.h. es führte zu historischen Sachdebatten, die die Stücke selbst schnell hinter sich ließen. Je mehr man sich bei diesen Debatten aber davon überzeugte, daß der geschichtliche Zusammenhang in ihnen doch hier und da vereinfacht, Dokumentiertes' abgeändert, Unbeweisbares hinzugefügt war, desto uninteressanter wurden sie, weil das, was ihre Idee zu sein Schien, auf eine bloße Meinung oder Behauptung zusammenschrumpfte, wie man sie natürlich auch anderweit haben konnte. So haben die Dokumentarstücke zwar zum Nachdenken oder sogar zum Nachfor14 Das einzige Dokumentarstück, das von den Bühnen beständig wieder aufgeführt wird, ist Kipphardts In der Sache]. Robert Oppenheimer (etwa 40 Inszenierungen innerhalb der letzten 15 Jahre). Für die Ermittlung v o n Weiss sind noch acht Wieder-Inszenierungen zu verzeichnen, für Hochhuths Stellvertreter und Fortes Luther je fünf (Mitteilung von Prof. D r . G. Erken, München).

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sehen angeregt und auf diese Weise das öffentliche Geschichtsbild vielleicht auch wirklich verändert, nur sind sie selbst v o n diesem Prozeß überholt worden und interessierten alsbald nicht mehr. Wie vorrangig die historische Sachorientierung i n der Rezeption dieser Stücke gewesen ist, sieht man auch daran, daß die formalen Unterschiede zwischen ihnen für ihr weiteres Schicksal ohne jede Bedeutung geblieben sind. N u n kann man natürlich sowieso fragen, ob die Literaturwissenschaft die Tragweite solcher Formunterschiede nicht prinzipiell überschätzt, ob also wirklich die epische Form ein reflektierteres Verhältnis zum dargestellten Geschehen aufbaut als die aristotelische, ob uns wirklich eine Spiel- im- Spiel-Handlung v o n der Frage nach der Wahrheit des Dargestellten weiter entfernt als eine direkt inszenierte, ob ein i n isolierten Einzelmomenten gezeigtes Geschehen unsere Lebenserfahrung wirklich genauer widerspiegelt als ein zusammenhängendes usw. Aber selbst wenn es i m allgemeinen so sein sollte — i m Falle des Dokumentarstückes sind alle diese Formverschiedenheiten, an denen man noch immer wer weiß was für Erkenntnisunterschiede festmachen w i l l 1 5 , von der kruden Frage nach der historischen Richtigkeit beiseite geschoben worden. Einmal in den Blick gerückt, läßt sich das historische Wissen heute eben durch keinerlei >Kunst< mehr aufheben oder korrigieren. Gerade der dokumentarische Gestus, der, sofern er nicht bloß Provokation war, diesem Wissen so weit wie möglich entgegenkommen wollte, ist an ihm nur u m so zwingender gescheitert. Für das schnelle Veralten des Dokumentarstücks gibt es aber auch noch einen anderen Grund — die fehlende Menschlichkeit. Denn merkwürdig: die älteren Geschichtsdramen, die dem heutigen Wissen i m Prinzip ja genauso wenig genügen, werden immer noch wieder gespielt. Man kann sich den intentionalen Unterschied, der dafür die Ursache ist, besonders gut an Schillers SchaubühnenAufsatz klar machen. Dieser Aufsatz mit seiner Idee v o m Theater als »moralischer AnstaltHolocaust< oder >Feuersturm< — jederzeit können Filmbilder vor unserem inneren Auge stehen, wenn w i r mit historischen Verhältnissen in Berührung kommen, und wer weiß, welche Ansichten wir darüber hinaus Filmen verdanken, von denen wir nicht wissen, daß wir sie ihnen verdanken. Gleichwohl scheint es so, als ob wir nicht ganz einverstanden mit diesen Verdeutlichungen sind. I n historischen Diskussionen bezieht man sich niemals auf sie, als Filme stehen sie ebenfalls in keinem guten Ruf, und selbst die gelungensten unter ihnen lassen in uns wohl Zweifel zurück, ob wir wirklich i n allem einen Blick in die Geschichte getan haben. Was ist die Ursache dieser Skepsis? Zunächst einmal sollte man annehmen, daß dem Film alle Möglichkeiten offenstehen, das historische Wissen so vollständig und richtig, wie es nur immer verlangt wird, zur Anschauung zu bringen, daß wir hier also wirklich einen Eindruck davon bekommen können, wie es — der Wahrscheinlichkeit nach jedenfalls — gewesen ist. Was das äußere Erscheinungsbild der historischen Verhältnisse angeht, so ist das in der Tat auch der Fall. O b Kostüme oder Einrichtungen, Gebäude oder Fahrzeuge, Straßenszenen oder Landschaftsbilder — der neuere Geschichtsfilm kann uns diese Dinge in einer Perfektheit entwerfen, die nichts zu wünschen übrig läßt. Nicht zufallig sind manche dieser Filme — Ben Hur mit seinen Wagenrennen, Krieg und Frieden mit seinen Schlachtszenen usw. — allein schon wegen ihrer Ausstattungen berühmt geworden. Was sich in dieser historischen Szenerie allerdings oft fremd ausnimmt, das ist das Agieren der historischen Personen. Sehen wir davon ab, daß sie meistens sowieso viel zu sehr nach unseren heutigen Geschmacks- und Schönheitsbegriffen gebildet und absichtlich heroisiert sind. Eine gewisse UnWirklichkeit ergibt sich fast immer allein schon daraus, daß sie um der historischen Handlung willen andauernd in bedeutenden Situationen, bei bedeutenden Entscheidungen vorgeführt werden müssen. I m historischen Drama, wo dieser Z u g natürlich ebenfalls vorhanden ist, fällt er wegen der allgemein stilisierten Situation nicht so auf. Vor dem viel lebenswahrscheinlicheren Hintergrund des Filmes jedoch nehmen die Menschen darüber leicht etwas Flaches, Plakatives an, und zwar umso eher, je näher die Handlung an unsere Zeit heranrückt. Verschärft wird dieses Glaubwürdigkeitsproblem noch durch die Forderung nach personaler Ähnlichkeit. Solange es um Personen geht, von denen uns Abbildungen nicht überliefert sind, hat es damit nicht viel auf sich — alle Welt ist sich darin einig, daß Kleopatra wie Elizabeth Taylor und Cäsar wie Rex Harrison ausgesehen h a t . 2 2 Gibt es Gemälde oder Fotografien, nehmen w i r es mit den 22

Cleopatra , amerikanisch-englische Co-Produktion von 1963, mit Elizabeth Taylor, Richard Burton und Rex Harrison.

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Darstellern schon sehr viel genauer. Ins schlechthin Unerfüllbare aber können die Anforderungen wachsen, wenn uns Filmaufnahmen v o n den Personen zur Verfügung stehen und w i r auch sonst Lebenszeugnisse aller A r t von ihnen haben. E i n Hitler oder Stalin, ein Churchill oder Roosevelt, wie sie z.B. in der amerikanischen Fernsehserie Feuersturm

auftreten, bleiben immer heikel, auch

und gerade dann, wenn sie an >Echtheit< möglicherweise gar nicht zu übertreffen sind. Denn da man immer weiß, daß man sie nicht wirklich vor sich hat, kann das Staunen über die gelungene Porträtierung allzu leicht umschlagen i n das Gefühl einer unwürdigen Imitation, ähnlich den Empfindungen, die uns i n einem Wachsfigurenkabinett überkommen. Mehr und mehr verzichten neuere Geschichtsfilme deshalb ja auch darauf, solche Gestalten noch ins Bild zu bringen. Auch wenn sie i n der Handlung mitwirken, w i r d v o n ihnen nur berichtet. Ganz überzeugend ist diese Lösung freilich auch wieder nicht, d.h. es schränkt die Dokumentiertheit der Vergangenheit eben auch die Möglichkeiten des Films i n einem gewissen Umfang ein. Die Glaubwürdigkeitsgrenze bei der Personendarstellung ist jedoch nur eine und nicht die problematischste Folge, die sich aus der Festgelegtheit des Films auf das historische Wissen ergeben kann. V i e l gravierender ist, daß die Annäherung an dieses Wissen überhaupt, so notwendig und unabweisbar sie ist, für den Erkenntnishorizont des Films eine Gefahr bedeutet. Das Problem ist, daß diese Annäherung, je größer sie wird, diesen Horizont gerade nicht erweitert, sondern verengt. Wenn man es gemeinhin als die Idee der Geschichtsschreibung bestimmt, uns i n die Vergangenheit zurückzuführen, so war es doch natürlich nie der letzte Sinn dieser Idee, die historischen Vorgänge selbst wieder auferstehen zu lassen. So sehr die Historie auch danach trachte, sagt schon Ranke 1836, jeder historischen Begebenheit »ihre Farbe und Gestalt wiederzugeben«, so bleibe sie doch dabei nicht stehen, sondern schreite zur Erforschung der Ursachen fort und suche »bis zu den tiefsten und geheimsten Regungen des Lebens« vorzudringen. 2 3 M i t anderen Worten: nicht letztlich sinnliche Rekonstruktion ist ihr Ziel, sondern das Auffinden v o n Antrieben, Entwicklungen, Gesetzmäßigkeiten. Gerade die neuere und neueste Geschichte, die sich uns immer mehr i n Dokumenten und Filmbildern schon selbst konserviert, macht die Notwendigkeit eines solchen analytischen oder auch synthetischen Zugriffs deutlich. D e m Geschichtsfilm jedoch, dem es seiner ganzen Anlage nach u m nichts anderes gehen kann, als eben uns die historischen Erscheinungen selbst noch einmal vor Augen zu führen, bleibt diese Erkenntnisrichtung gerade verschlossen. Da sie i m Prinzip eine des Wortes, der Abstraktion ist, reichen seine Bilder nur höchstens mittelbar und gewissermaßen zufallig an sie heran. Als Medium historischer Erkenntnis w i r d der Film am Ende also vielleicht u m so unwesentlicher, je genauer er seinen Zweck erfüllt. 23

Leopold von Ranke, »Antrittsvorlesung« (1836), Sämtliche Werke,

Bd. 24, S. 284.

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E i n Beispiel für diese Problematik bietet der 1983 herausgekommene Danton des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda. I n diesem Film w i r d das Milieu der Französischen Revolution, soweit wir uns überhaupt ein Bild von ihr noch machen können, i n einer schwerlich zu übertreffenden Intensität wieder hergestellt. Die Armut, der Schmutz, der Lärm, die Rohheit und Häßlichkeit der Menschen, ihre gierigen Leidenschaften und Hoffnungen, die Intrigen und die Gewalt und die große Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, aber auch die kleinen Inseln der Menschlichkeit und die erste Ahnung von Freiheit — das alles fällt einen hier mit einer Direktheit an, daß man wirklich das Gefühl bekommen kann, dabeigewesen zu sein. Aber es w i r d einem zugleich auch jede Erklärung verweigert. Wer nicht weiß, was die Französische Revolution geschichtlich zu bedeuten hat, der w i r d aus diesem Film nicht mehr entnehmen, als daß es früher offenbar schlimm zugegangen ist und daß wir froh sein können, es besser zu haben. Gewiß ist das kein falscher Schluß. Läßt man beiseite, was darin als aktuell-politischer V o r w u r f gegen das >revolutionäre< Polen steckt — daß man es nämlich hier noch keineswegs durchaus besser hat — , so könnte man dies sogar als die eigentliche und wesentliche Einsicht des Films bezeichnen. 24 U m mit ihr in historischer Hinsicht etwas anfangen zu können, muß man allerdings wissen, was wir dieser Revolution möglicherweise auch verdanken. Erst dann wird aus dem Gefühl >So war es< und aus dem sprachlosen Erschrecken darüber, daß es so war, eine Auskunft zu den geschichtlichen Verläufen, eine wirklich historische Erkenntnis. Ohne ein solches Wissen bleibt der Film als Geschichtsfilm stumm. Oder w i l l Wajda auf einen möglichen >Sinn< der Französischen Revolution vielleicht gar nicht mehr hinaus? Ist der Film gerade Ausdruck der Überzeugung, daß alle diese feierlichen Bedeutungszuweisungen zu historischen Ereignissen in die Irre gehen und in Wahrheit nur etwas Banales, Vernunftloses einfach geschieht? Nicht i m Geschichtsfilm, wohl aber i m historischen Drama kennen w i r solche Infragestellungen historischer Sinnstiftungen ja schon länger, in Shaws Heiliger Jobanna z. B. oder in Giraudoux' Trojanischem Krieg, der unsinnigerweise doch stattfindet, oder in Anouilhs Becket oder die Ehre Gottes. Hier sind es freilich ironische Kontrafakturen zum Nimbus geschichtlicher Größe. Sie verkleinern diese Größe wohl, insofern sie sie mit unseren Alltagsbegriffen von menschlicher Schwäche konfrontieren, führen sie damit aber gleichzeitig doch auch näher an unser Verständnis heran und geben insoweit die Möglichkeit eines Sinnes nicht völlig preis. Die andere Kontrafaktur wäre radikaler. Sie würde allen

24 Daß Wajdas Film dem geschichtlichen Stoff eine aktuell-politische Bedeutung gibt, ist für die Bewertung der historischen Dimension insofern nicht wichtig, als sich solche politischen Aspekte in vielen — auch wissenschaftlichen — Geschichtsdarstellungen finden. Z u einer Infragestellung des geschichtlichen Sinnes eines Werkes führen sie erst dann, wenn sie dem historisch Wahrscheinlichen widersprechen. Das ist bei Wajdas Film nicht der Fall.

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Konstruktionen von Bedeutung die Skepsis entgegensetzen, ob es sich nicht nur um erfundene Bedeutungen handelt, während die wahre Geschichte vielleicht nichts als ein Abgrund von Brutalität, eine Anhäufung von Schrecknissen ist. Daß wir uns dies bei Wajdas Danton denken können, zeigt, daß es uns als letzte Konsequenz des Rückblickes in die Geschichte nicht ausgeschlossen erscheint. Es zeigt aber auch, daß aus der Vermehrung des geschichtlichen Wissens längst Gravierenderes für das Geschichtsdrama folgt als nur die Einschränkung der Erfindungsfreiheit. E i n Drama, das uns diese letzte Konsequenz, nämlich das prinzipiell Unfaßliche aller Geschichte, demonstriert, ist Hildesheimers 1970 erschienene »historische Szene< Mary Stuart. Dargestellt werden hier die letzten Stunden vor Maria Stuarts Hinrichtung, historisch-authentisch, soweit man dies aus der Rekonstruktion der Dokumente und in Zubilligung einiger Vereinfachungen sagen kann, und doch auf eine beklemmende Weise absurd. W i r werden konfrontiert mit den Vorbereitungen des Scharfrichters, den Erbstreitigkeiten des Gefolges, den Tätigkeiten von Arzt und Apotheker, die der Delinquentin Beruhigungsmittel verabreichen und ihre Verdauung stillstellen, deren Einkleidung für die Enthauptung und den letzten Handlungen des Priesters. Die K ö n i g i n selbst, wirr und heruntergekommen, überläßt sich währenddessen teils leichtfertigen, teils sentimentalen Erinnerungen, schikaniert ihr Gefolge, trifft konfuse Verfügungen und verfallt schließlich dank der eingenommenen Sedative in eine Gebetseuphorie, die sie das Geschehen gar nicht mehr wahrnehmen läßt. Das Ganze ist auf eine gespenstische Weise gefühllos, von unvermuteten Brutalitäten durchsetzt oder auch plötzlich i n eine absurde K o m i k umschlagend, letztlich nichts anderes als der Blick in einen historischen Zoo. I n einem erklärenden Nachwort zu seinem Stück hat Hildesheimer ausgeführt, daß all dies, so absurd es uns vorkommen mag, unzweifelhaft geschehen sei und daß jeder Versuch, es mit Sinn erfüllen zu wollen, zum Scheitern verurteilt sei. Vor dem, was Maria Stuart erlebt, was sie sich zugemutet habe, müsse die Vorstellungskraft jedes redlichen Geschichtsschreibers versagen; sie sei uns fremd und bleibe uns fremd, und so wie mit ihr ergehe es uns mit allen Menschen früherer Zeiten, mit allen früheren Verhältnissen. Das Bemühen der Geschichtsschreibung, uns hier etwas >nahebringen< zu wollen, sei »bestenfalls Spekulation, schlimmstenfalls Kitsch«. Das wirklich geschichtliche Drama könne nicht mehr tun, als »die Einsicht der Unvorstellbarkeit eines historischen Ereignisses zu fördern». Grundsätzlich sei deshalb auch ein moralischer Standpunkt der Geschichte gegenüber fehl am Platz. Wo »Sinnloses das Sinnlose gebiert und ernährt«, gebe es nur eins: hinnehmend zu registrieren. 25 25

Wolfgang Hildesheimer, Mary Stuart. Eine historische S%ene / »Anmerkungen zu einer historischen Szene«, in Spectaculum , Bd. 14 (Frankfurt/M. 1971), S. 261-332.

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Der Vergleich zu Schiller drängt sich natürlich auf, und er zeigt, was wir verloren haben. Denn ganz gleich, für wie übertrieben wir Hildesheimers »historische Szene< halten — sicher ist doch, daß sie in jedem Falle dichter an der historischen Realität steht als Schillers Exempel der Erhabenheit. Vielleicht war dieses Exempel auch damals schon ein Wagnis. Goethe, der dieses Wagnis prinzipiell forderte, hat immerhin schon die sarkastische Bemerkung gemacht, er sei doch gespannt, wie das Publikum es aufnehmen werde, »wenn die beiden Huren zusammenkommen und sich ihre Aventuren vorwerfen«. 2 6 Aber man konnte seine Skepsis eben doch noch stillstellen und sich auf diese Umdeutung einlassen, konnte einer verjüngten Maria zusehen, wie sie alle Todesfurcht beiseite schiebt, um der anderen, die ihre Unterwerfung verlangt, die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Und wer w i l l ausschließen, daß dieses Beispiel nicht auch gewirkt hat, daß es über Generationen hin den Menschen nicht vielleicht wieder und wieder M u t gemacht hat, auch für sich selbst zu einem aufrechteren Gang zu kommen? Uns jedoch hat das Wissen, daß es dieses Beispiel nicht gegeben hat, eingeholt, und so wie hier ist es mit aller historischen Beispielhaftigkeit. Und wenn es uns bei Schiller vielleicht auch noch möglich ist, so zu tun, als wüßten wir nichts — einem Autor von heute würden wir auf diesem Wege nicht mehr folgen. W i r glauben einfach nicht mehr, daß die großen geschichtlichen Akteure auch die großen Muster der Menschlichkeit sind. Oder ist das doch wieder nicht die ganze Wahrheit? Werden nicht Filme mit Geschichtshelden immer noch gern gesehen, werden sie nicht der nüchternbelehrenden Filmdokumentation, wie sie das Fernsehen in seiner volkserzieherischen Fürsorglichkeit des öfteren anbietet, immer noch vorgezogen? Das Wissen, auch wenn es in der Welt ist, ist eben noch durchaus nicht so gleichmäßig verteilt, daß diese so angenehm menschlichen historischen Bilderbögen auf einhelliges Mißtrauen stoßen. Und wir sollten uns auch hüten zu sagen: besser nichts als sie. Wer sich seine eigenen Begriffe und Maßstäbe in ihm gesellschaftlich freigehaltener Zeit in Ruhe hat bilden können, der mag eine »Holocaust«-Serie nicht brauchen. Für viele war sie der erste ernsthafte Blick auf das, was war, und immer können sich weitere und genauere Blicke anschließen. Und wie für die Trauer, so für die Hoffnung. Wenn wir auch, um mit Brecht zu sprechen, kein Land, kein^ Gesellschaft mehr sein wollen, die >Helden nötig hat< — als Leitbilder für das eigene Handeln sind sie vielleicht doch von Zeit zu Zeit nötig. I n unserer eigenen nationalen Geschichte sind die Möglichkeiten — oder auch Verführungen — in dieser Hinsicht zwar nicht groß, aber es ist auch nicht beunruhigend, wenn sich inmitten unseres wissenschaftlichen Zeitalters z. B. um die Person Kennedys so etwas wie ein neuer Mythos bildet. I m großen und ganzen freilich ist abzusehen, daß das Geschichtsdrama, der Geschichtsfilm mehr und mehr in historische Durchschnittsverhältnisse führen 26

16

Goethe zu F. Schlegel i m September 1800, in Goethes Gespräche , Bd. 1, S. 285. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 28. Bd.

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werden, ja eigentlich schon jetzt bei ihnen angekommen sind. N u r hier, i n der noch unerschlossenen, unaufgeschriebenen Alltagsgeschichte sind die Freiräume noch groß genug, die historischen Verhältnisse so aufzufinden oder umzugestalten, daß nicht nur das Historische, sondern auch das Menschliche glaubhaft zu seinem Recht kommt. Oder um noch einmal Goethes Begriffe aufzunehmen: nur hier vermag uns die historische Welt w o h l noch wahr und wahrscheinlich zugleich zu sein. Als Geschichtsdramen sollte man solche Alltagsgeschichten jedoch nicht mehr bezeichnen. I n diesem Begriff steckt grundsätzlich der Bezug sowohl auf ein öffentliches als auch ein dokumentarisch belegtes Geschehen. Die Darstellung eines Privatschicksals, auch wenn es vielleicht dokumentarisch belegt ist, rechtfertigt also die Zuordnung eines Werkes zum Bereich der historischen Dichtung noch ebenso wenig wie die Darstellung eines allgemeinrepräsentativen Geschehens, dem es an der individuellen Dokumentiertheit fehlt. Eine Quelle historischer Einsicht können die Alltagsgeschichten freilich durchaus sein, und sei es am Ende nur der, daß wir keinen Grund haben, uns die Vergangenheit zurückzuwünschen. Hat das auch damit zu tun, daß unsere Zeit schon den Stoff für Geschichtsdramen nicht mehr liefert? »Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks«, heißt es bei Hegel, »die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr«. 2 7 W i r brauchen jedenfalls den größer werdenden Abstand zum Geschichtsdrama nicht zu bedauern.

27

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen

über die Philosophie der Geschichte ,

Einleitung (1822ff.), Sämtliche Werke, hg. H . Glockner (Stuttgart, 1961), Bd. 11, S. 56.

FORMEN DER HISTORIZITÄT I M ENGLISCHEN GESCHICHTSDRAMA * Von Kurt Tetyeli von Rosador Geschichte muß doch w o h l allein auf Treu U n d Glauben angenommen werden? — Nicht?

Dem, der dieses sagt, dem hat sein Schöpfer zu Recht den Beinahmen »der Weise« gegeben; denn Nathans Weisheit wird auf das schönste dadurch belegt, daß er das, was für seine eigene Argumentation und für unser Problem zentral ist, nur als Frage formuliert und damit i n Frage stellt. Und auch dadurch, daß er mit dem »Nicht?« seiner Frage eine weitere hinzufügt, die nun sogar ein Angebot zur Negation enthält (wobei dieses Angebot freilich als ein bloß rhetorisches wieder geschickt zurückgenommen wird). Der Literaturwissenschaftler aber, der Nathans Problem auf seine Aufgabe überträgt 1 und fragt, ob denn das Drama von der Geschichte auch w o h l allein auf Treu und Glauben angenommen werde(n müsse), der sich also müht, der auf den ersten Blick so simplen Frage nachzugehen, was es denn nun sei, das einen Leser oder Zuschauer erkennen lasse, bei dem ihm Präsentierten handle es sich um ein Geschichtsdrama, dieser Literaturwissenschaftler kann seine Ausführungen leider nicht in der Form der Parabel, mit Hilfe von (rhetorischen) Fragen oder Negationsangeboten gestalten. Das collegium logicum , das von ihm erwartet wird, rückt Nathans Aussage jedoch sogleich ins Frag-Würdige; denn das Nathan'sche Vokabular der Biederkeit verhüllt Probleme: Sind Treu und Glauben i m 18. Jahrhundert denn wirklich verläßliche Kategorien der Erkenntnis (wobei dahingestellt bleiben kann, ob sie es zu Zeiten des Sultan Saladin waren)? Wer oder was verbürgt denn des * Danken möchte ich den Teilnehmern der Oberseminare zum englischen Geschichtsdrama, die sich mit großem Eifer und größerer Geduld an der Entstehung meiner Gedanken beteiligt haben. 1 Daß die Übertragung v o n Nathans historisch orientierter Frage auf die Probleme des Geschichtsdramas legitim ist, vermag ein kurzer Blick in die Diskussion um die Definition der Dramenart zu belegen. Werden nämlich als historische Dramen jene Werke bezeichnet, »deren Stoff und Handlung auf authentischem Material basieren ... und deren.Charaktere größtenteils geschichtlich sind,« so kann dies i m Theater nicht anders vermittelt werden als durch des Publikums Glauben an des Autors Treu. Als einander ergänzende Studien und Bestandsaufnahmen zum Geschichtsdrama, u.ar auch dieses Problems, vgl. Herbert Lindenberger, Historical Drama: The Relation of Literature and Reality (Chicago-London, 1975), passim, und K u r t Tetzeli v. Rosador, Das englische Geschichtsdrama seit Shaw (Heidelberg, 1976), insbes. Kap. 1,1.

1*

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K u r t Tetzeli von Rosador

Dramatikers Treu, woraus besteht und worin gründet des Publikums Glauben? Wem gegenüber ist der Dramatiker zur Treu verpflichtet — gegenüber einer Autorität? einem (literarischen) Vorbild? einer (historischen) Quelle? den sogenannten Fakten? Ist wenigstens des Publikums Glauben vorgegeben? Oder ist es Aufgabe des Textes selbst, den Glauben an die Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit bzw. Authentizität bzw. Plausibilität der dramatischen Welt zu generieren, auf daß Coleridges Forderung erfüllt werde, nämlich die nach der »Willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith«? Daß sich ein Dramatiker des 18. Jahrhunderts auf den Glauben seines Publikums verlassen konnte, scheint wenig wahrscheinlich; denn schon knapp dreißig Jahre vor Lessing hatte Dr. Johnson mit gewohnter Prägnanz das Walten einer »malice of learning« festgestellt, die jedes Autors Treu einer peniblen und oft pedantischen Überprüfung unterziehe. 2 Und Bernd W. Seiler hat ebenso material- wie geistreich nachgewiesen, wie i m Bereich der Wahrscheinlichkeitsliteratur, zu der das Geschichtsdrama ja quintessentiell gehört, Exaktheit zunehmend als ästhetische Kategorie verstanden — mißverstanden? — wird und als Urteilsmaß Verwendung findet. 3 Das heißt aber dann doch nichts anderes, als daß der Geschichtsdramatiker nicht auf Glauben bauen kann, sondern mit dem historischen Wissen seines Publikums rechnen muß. Dies ist zumindest für die zweite Hälfte des 19. sowie das 20. Jahrhundert nicht mehr als ein Gemeinplatz, und zwar so sehr, daß nunmehr in der K r i t i k allerorten und ohne weitere Diskussion festgestellt werden kann, daß »Geschichtsdichtung beim Rezipienten geschichtliches Wissen voraus(setzt), um als solche erkannt zu werden.« 4 Was umstritten bleibt, sind zum einen A r t und Umfang des historischen Wissens, das von den Geschichtsdramatikern je konkret vorausgesetzt wurde, ist zum andern das Maß an Kenntnis, das prinzipiell vorausgesetzt werden darf: »Ein richtiges historisches Drama darf v o m Hörer nicht mehr als eine oberflächliche Kenntnis der Zeit verlangen, etwa soviel als man i n den höheren Schulen lernt oder i m Konversationslexikon steht«. 5 Was der Versuch aus dem Jahre 1901 anschaulich macht, ist die Problematik all solcher Festlegungen: Der Autor begreift das 2

I n The Rambler v o m 31. 3.1750: »They [the novelists] are engaged in portraits o f which every one knows the original, and can detect any deviation from exactness o f resemblance. Other writings are safe, except from the malice o f learning ...; as the slipper i l l executed was censured by a shoemaker who happened to stop in his way at the Venus of Apelles.« 3 »Exaktheit als ästhetische Kategorie: Z u r Rezeption des historischen Dramas der Gegenwart«, Poetica, 5 (1972), 388-433; ders., Die leidigen Tatsachen: Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert (Stuttgart, 1983). 4

Ferdinand Fasse, Geschichte als Problem von Literatur: Brenton und Rolf Hochhuth (Frankfurt, 1983), S. 79.

Das »Geschichtsdrama« bei Howard

5 O t t o von der Pfordten, Werden und Wesen des historischen Dramas (Heidelberg, 1901), S. 95. Und analoge, wenn auch vorsichtiger formulierte Überlegungen fehlen in nahezu keiner Studie zur Geschichtsdramatik.

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homogene bürgerliche Theaterpublikum der Jahrhundertwende, das eine höhere Schule besucht hat und i m Bücherschrank den Großen Meyer oder Brockhaus dekorativ zur Schau stellt, als invariable N o r m und vergißt dabei, daß etwa das elisabethanische Publikum weder eine entsprechende soziale Homogenität aufwies 6 noch eine konversationslexikalisch gespeiste Bildung besaß. Damit sind wir bei dem Bemühen herauszufinden, was uns erkennen lasse, ein Drama sei ein historisches, notwendig bei der Forderung angelangt, für jede Epoche, für jeden Autor, für jedes Werk sei der geschichtliche Wissensstand des Publikums je in seiner historischen Variation zu konkretisieren. Und in der Tat sind solche Konkretisierungen, insbesondere für das Geschichtsdrama der Shakespearezeit, vielfach erfolgt. 7 Daß Studien dieser A r t unser Bild der elisabethanischen Zeit i m allgemeinen und der Historien Shakespeares und seiner Zeitgenossen i m besonderen bereichert und präzisiert haben, steht außer Frage. Wenn sie — und vergleichbare Studien zum Geschichtsdrama anderer Epochen — dennoch Wünsche offenließen, so aus drei Gründen: Z u m einen w i r d in solchen Studien Geschichtlichkeit nahezu ausschließlich in einem recht modernen, dem Historismus verpflichteten Sinne als Faktentreue, als Authentizität von Daten, Personen und Ereignissen, begriffen. Daß Geschichtlichkeit sich auch als Verlaufsmuster konstituieren bzw. sich aus einer — i m wörtlichen Sinne — WeltAnschauung ergeben kann, wird nur selten ausreichend in das K a l k ü l einbezogen. 8 Z u m anderen ist es zuvörderst Ziel dieser Arbeiten, aus vielerlei Quellen das Geschichtsbewußtsein sowie das historische Wissen einer Zeit zu ermitteln. Ein breites und buntes Spektrum dessen, was i m Horizont des Publikums an Geschichtskenntnis aufscheinen kann, wird so in aller Regel entworfen. W i r d dies dann als Folie dem Geschichtsdrama hinterlegt, erweist sich der Text immer nur als eine Teilrealisation des Real-Existenten — nicht als eine angemessene oder gar die Realität überschreitende Deutung der Wirklichkeit, sondern als deren Verkürzung. 9 Vor allem aber setzen — drittens — die Studien voraus, daß das Publikum stets unzweifelhaft wisse, ob es sich bei dem 6 Der Versuch A n n Jennalie Cooks in The Privileged Playgoers of Shakespeare's London, 1576-1642 (Princeton, 1981), das elisabethanische Publikum als privilegierte leisure class zu begreifen, läßt zu viele Indizien außer acht, die den sozialen Querschnittcharakter betonen. 7 Es mag genügen, auf die umfangreichen Erörterungen der Frage in den Einleitungen zu den N e w Arden-Editionen der Historien Shakespeares hinzuweisen. Einen exzellenten Abriß der elisabethanischen Geschichtsauffassungen bietet neuerdings J. G. A. Pocock, »The Sense of History in Renaissance England«, in: William Shakespeare: His World, His Work, His Influence , hg. v. John F. Andrews (New York, 1985), I, 143-157. 8 9

Berücksichtigt w i r d dies insbes. v o n Lindenberger, S. 138.

Vgl. etwa die programmatischen Aussagen des Vorworts der in ihrer A r t immer noch anregenden Studie v o n Lily B. Campbell, Shakespeare's Histories: Mirrors of Elizabethan Policy (San Marino, Calif., 1968). I m Ansatz vielversprechender ist Ulrich Broich, »Shakespeares Historien und das Geschichtsbewußtsein ihres Publikums«, Shakespeare

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Vorgeführten um ein Geschichtsdrama handle oder nicht. Wann, wie und wodurch dieses Wissen sich etabliert, scheint keiner Frage wert zu sein; 1 0 sie wird, vor jeder Aktualisierung des Textes auf der Bühne, als vorgängig entschieden betrachtet. Dies jedoch ist eine Annahme, die von der Erfahrung nicht bestätigt wird; denn das, was der Zuschauer vor aller bühnischen Aktualisierung allein kennen kann — und das ist nur der Dramentitel — , vermag nicht als verläßlicher Indikator für die Geschichtlichkeit eines Dramas zu dienen: Robert Greenes James IV etwa ist kein historisches Drama, wiewohl es in der Titulatur dem Patentmuster des elisabethanischen Geschichtsdramas, der Nennung eines Königsnamens, folgt. Und welcher unvoreingenommene Zuschauer wird nicht — wie auch von T. S. Eliot beabsichtigt — durch einen Titel wie Murder in the Cathedral auf die falsche kriminalistische Fährte gelockt werden? Kein Zweifel freilich, daß durch den Titel Erwartungslenkung betrieben wird und daß mit ihm beginnt, was dann in der Exposition recht eigentlich zur Aufgabe wird: die Konkretisierung von Inhalt und A r t der Geschichtlichkeit des historischen Dramas. Dies ist darum der Nachweis, der i m folgenden zu führen versucht wird, der Nachweis nämlich, daß Geschichtlichkeit, und zwar sowohl Inhalt wie A r t , dort exponiert werden muß, wo alle Prämissen eines Dramas vermittelt werden, nämlich zu dessen Beginn, innerhalb derprotasis, i m Auftakt. Eine Untersuchung der Textsignale ist hierzu vonnöten — und nicht der Vergleich von Geschichtsdokumenten und historischen Fakten mit ihren Entsprechungen i m Text. Es w i r d zu fragen sein, welcher A r t die Textsignale sind, die vorhandene Publikumskenntnis zu aktivieren und Geschichtlichkeit zu evozieren vermögen (wobei auch der v o m Dramatiker benötigte Umfang der Publikumskenntnis umrißartig sichtbar werden kann). Und es w i r d zu fragen sein, welcher A r t die Historizität ist, die mittels dieser Textsignale definiert wird und die das Geschichtsdrama als solches etabliert. Eine Analyse von Dramen aus mehreren Jahrhunderten bietet sich an, um die Bandbreite der Formen der Historizität zu veranschaulichen. Die Beschränkung auf Dramen aus nur zwei Stoffkreisen, den um K ö n i g Johann, den um Thomas Becket, erlaubt dabei den konturierenden Vergleich.

Jahrbuch West (1983), 41-60, der Expositionen und Schlüsse der Historien daraufhin untersucht, welche Geschichtsvorkenntnisse sie zu ihrem Verständnis benötigen. 10 Vgl. aber die den Problemkreis berührenden Hinweise bei Franz H . L i n k , »Die Fiktion der Gegenwart i m Drama«, DVjsch, 48 (1974), 417-431. Wie real oder verbal präsentierte Requisiten Geschichtlichkeit zu etablieren vermögen, ist für das französische Geschichtsdrama des 19. Jahrhunderts exzellent erhellt worden v o n Barbara T. Cooper, %»Canvas Walls and Cardboard Fortresses: Representations o f Place in the National Historical Dramas of Early Nineteenth-Century France«, CompD, 17 (1983/84), 327-347.

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König Johann bei John Bale und W i l l i a m Shakespeare Daß die eben leichthin und wie selbstverständlich benutzten Konzepte Dramenbeginn, protasis und Auftakt durchaus problematisch sind, macht King Johan deutlich; denn bei einiger Zuspitzung ließe sich behaupten, daß schon die ersten vierzehn Zeilen des etwa 1534 verfaßten, später mehrfach umgearbeiteten Werks des reformatorischen Eiferers und Bischofs John Bale 1 1 eine hinreichende Verständigungsgrundlage für das Kommende bilden. Eine moderatere Sicht wird die präzisierende Klage der Witwe England sowie die Einführung des Konflikts, also die Auseinandersetzung zwischen K i n g Johan und der Lasterfigur Sedition, einbeziehen wollen (bis Z. 312). Extensiv ausgelegt aber kann gar der ganze erste Teil des durch eine interpretierende Sprecherfigur verknüpften zweiteiligen Werks als notwendige Vorbereitung der i m zweiten Teil ausgetragenen Konflikte verstanden werden. Die ersten vier Zeilen umreißen das darzustellende Problem sogleich in aller wünschenswerten Deutlichkeit: To declare the powres and their force to enlarge The scriptur o f G o d doth flow in most abowndaunce; A n d o f sophysteres the cauteles to dyscharge, Bothe Peter and Pawle makyth plenteosse utterauns; (1-4)

Was dargestellt werden soll, ist also die »force«, die Stärke und der Umfang, der »powres«, der weltlichen Macht. Die leitende Perspektive hierzu gibt die Schrift, die Bibel, vor. Damit sind eine religiöse, eine theologische Sicht und N o r m unverzüglich und unverrückbar etabliert worden. Worauf sie sich richten, wird sodann weiter konkretisiert: H o w that all pepell shuld shew there trew alegyauns To ther lawfull kyng Christ Jesu dothe consent, ... (5f.)

Es geht also um die Frage nach der Gehorsamspflicht gegenüber einem rechtmäßigen König. Oder genauer formuliert: Es geht u m die Darstellung dieser Gehorsamspflicht; denn durch die Autoritäten der Bibel sowie das Beispiel Jesu Christi ist die Frage entschieden, sie braucht nur noch sinnenhaftanschaulich exemplifiziert zu werden. M i t wessen Hilfe dieses exemplum statuiert werden soll, erläutern die folgenden Zeilen: To shew what I am I thynke yt convenyent: Johan, K y n g o f Ynglond, the cronyclys doth me call. M y granfather was an emperowre excelent, 11

Z u Datierung, Entstehung, Revision und Textgestalt vgl. die sich spannungsreich ergänzenden Einleitungen zu den Ausgaben von Barry B. Adams (San Marino, Calif., 1969) und Peter Happé (Cambridge, 1985). I m folgenden w i r d nach der Ausgabe v o n Happé zitiert, ohne die von diesem eingeführte Zeilenzäsur zu übernehmen.

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K u r t Tetzeli v o n Rosador M y fathere a kyng by successyon lyneall, A kyng my brother lyke as to hym ded fall — Rychard Curdelyon they callyd hym in Fraunce ... (8-13)

Wiewohl eine Figur sich mit Namen vorstellt, geht es ganz offensichtlich nicht nur um sie und ihr historisch-spezifisches Geschick. Die insistente Betonung der Legitimität, der Abstammung von Kaisern und Königen, unterstreicht die Typik der Figur, ihren Königsstatus, ihre Existenz als rexjustus. M i t der Erwähnung des Richard Löwenherz wird schließlich die faktische historische Konkretisierung gewährleistet; denn wenn auch die mehr als dreihundert Jahre zurückliegenden Vorgänge um K ö n i g Johann gewiß nur dem gebildeten Zuschauer der Tudorzeit etwas bedeuteten, 12 so war Richard Löwenherz aus Geschichte und — vor allem — Legende durch Schrift und mündliche Überlieferung allseits bekannt. Was die ersten Zeilen leisten, ist also nicht wenig: Sie geben eine theologischreligiöse N o r m vor, sie nennen einen zu exemplifizierenden Sachverhalt sowie die Figur, an der er vorgeführt werden soll. Ein M i n i m u m an Geschichtskenntnis w i r d beim Publikum vorausgesetzt, damit es die Figur als eine historische erkennt. Gleichzeitig aber erscheint diese Figur auch als ein moralischer Typus, weitab von jeder historischen Konkretisierung. Eine theologisch-religiöse Perspektive, eine exemplarische Dramatik sowie die Gleichzeitigkeit von historischer Konkretisierung und moralischer Typisierung: Eine solche Darstellung von Welt und Geschichte war dem Publikum des frühen 16. Jahrhunderts aus den geistlichen Spielen der Zeit, aus Misterien und Moralitäten, wohlvertraut. John Bale verwendet für sein Werk Elemente aus beiden Genres. Insbesondere für sein Geschichtsverständnis, für seine Theologie der Geschichte, 13 für deren figurale, typologische Interpretation, ist er den Misterien, für die allegorische Sicht und Darstellung der Welt hingegen den Moralitäten verpflichtet. Die Gleichzeitigkeit von buchstäblichem Sinn bzw. historischer Spezifik — die Figur als K ö n i g Johann, Bruder des Richard Löwenherz — und moralischem Sinn bzw. Typisierung — die Figur als rexjustus — stellt das Drama sub specie alle goriae\ 14 der Rückbezug auf die Autorität der Schrift sowie die Genealogie der gerechten Könige (10-12) aber zeigen, daß sich Geschichte in figurae ereignet, die nicht 12

Dies war sicherlich der Fall bei dem theologisch-historisch kenntnisreichen Publikum von Höflingen und Reformatoren, dem das Stück in der Weihnachtszeit 1539 in Cranmers Residenz vorgeführt wurde; sicherlich nicht bei dem Stadt- und Dorfpublikum, das der Reformer Bale mit Hilfe seiner herumziehenden Schauspieltruppe zu erreichen suchte. 13 So auch John R. Elliott, »The History Play as Drama«, RORD, 11 (1968), S. 23; zum Misterien-Hintergrund vgl. weiterhin Klaus Sperk, Mittelalterliche Tradition und reformatorische Polemik in den Spielen John Bales (Heidelberg, 1973). 14 So sollte nicht von zwei Teilen oder gar v o n zwei Dramen, einem politischhistorischen und einem moralischen, gesprochen werden, wie etwa von I r v i n g Ribner, The English History Play in the Age of Shakespeare (Princeton, 1957), S. 37. Die Gleichzeitigkeit mehrerer Ebenen gehört zum Wesen allegorischer Dramatik.

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durch eine innerweltliche Analogie miteinander verbunden sind, sondern ihren Sinn daraus beziehen, daß sie irdische Erscheinungen der Heilsgeschichte sind. 1 5 Was in den ersten Zeilen des geistlichen Spiels angedeutet und angelegt ist, wird nun des weiteren Schritt für Schritt entfaltet: Dabei wird das, was seit dem Historismus als das eigentlich Geschichtliche begriffen wird, nur beiläufig behandelt. Die Anspielungen etwa auf den Verlust der französischen Provinzen durch Johann (569ff.) oder die Verwandlung der Lasterfigur in Stephen Langton, Erzbischof von Canterbury, wären zu nennen. Die Beiläufigkeit der Behandlung darf nicht verwundern: Bei einer allegorischen Deutung von Welt und Geschichte ist eben der buchstäbliche, konkrete Sinn der unterste und geringste. Was nun hingegen zur Entfaltung kommt, ist die moralische Ebene, wobei der Konflikt von rexjustus und Lasterfiguren wie Sedition, Dissimulation oder Usurped Power um die Seele bzw. das Wohl Englands nicht mehr nur um die Frage des Gehorsams ausgetragen wird, sondern sich auch als einer von Gut und Böse darstellt. Über diese moralische Ebene wird eine typologische gelagert, auf der Johann als Präreformator erscheint, als jemand mit den gleichen Problemen und Zielen wie Heinrich V I I I . (vgl. etwa 179-312), und über diese hin wiederum eine mystische, auf der der Konflikt Johann contra Innozenz I I I . , Gut gegen Böse gar als apokalyptischer, als K a m p f gegen den Antichristen in Gestalt des Papstes erläutert wird (so 492 f.). Eine viersinnige Auslegung historischer Ereignisse — das ist es, was Bales Kingjohan bietet. U m aber gar keinen Zweifel aufkommen zu lassen, wie das Werk zu verstehen sei, deutet schließlich der »Interpretour« i m Zwischenakt den heilsgeschichtlichen Sinn des allegorisch und figural Dargestellten. Er stellt fest, daß Thys noble kynge Johan as a faythfull Moyses Withstode proude Pharao for hys poore Israel, Tyll that duke Josue whych was our late kynge Henrye Clerely brought us in to the lande o f mylke and honye. (1107-1113)

Moses, Johann und Heinrich V I I I . wider die Mächte des Pharaos, des Papstes, Antichrists: Geschichte ist für Bale nichts anderes als Heilsgeschichte, die irdischen Konkreta sind nur als Erscheinungsformen der Heilsgeschichte verständlich. Sie erhalten ihren Sinn deshalb auch nicht aus einem innerweltlichen Zusammenhang, sondern solcher Sinn ist immer bereits vorgegeben und hat sich in der Schrift manifestiert. Darum kann Historizität, Heilsgeschichtlichkeit, in Bales King Johan in wenigen Zeilen schlicht damit begründet werden, daß die Autorität der Bibel festgestellt und ein figurales bzw. allegorisches Deutungsmuster festgelegt wird. Dieses vermag von der Empirie bis zur Apokalypse alles zu umschließen. 15

Z u m Prinzip der Figuralexegese vgl. den maßgeblichen Aufsatz von Erich Auerbach, »Figura«, Archivum Romanicum , 22 (1938), 436-489.

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Eine ganz andere Dramenwelt, eine ganz andere A r t , Geschichte zu betrachten und darzustellen, tut sich mit den ersten Worten von Shakespeares in den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts entstandenem King John auf: 1 6 K. John. N o w say, Chatillion, what w o u l d France w i t h us? Chat. Thus, after greeting, speaks the K i n g o f France I n my behaviour to the majesty, The borrowed majesty, o f England here. Philip o f France, in right and true behalf O f thy deceased brother Geffrey's son, Arthur Plantagenet, lays most lawful claim To this fair island and the territories, To Ireland, Poictiers, Anjou, Touraine, Maine, Desiring thee to lay aside the sword Which sways usurpingly these several titles, A n d put the same into young Arthur's hand, T h y nephew and right royal sovereign. (1.1. 1-15)

Es ist dies eine Welt der zeremoniellen Haupt- und Staatsaktion, eine Welt der historischen und geographischen Spezifizierung. Was auch immer der Dramentitel dem elisabethanischen Theaterpublikum suggeriert haben mag, das Bild des schwächlichen Usurpators der mittelalterlichen Chroniken, das des mannhaften Vorläufers der Reformation, wie es John Bale oder John Foxe gezeichnet haben, das des Schurken der Robin Hood-Legenden oder nur ein blasses, inhaltsloses Schemen, 17 der Dramentext allein konkretisiert hinreichend genau die A r t der Geschichtlichkeit von Shakespeares Historie. Wiederum genügen dem Publikum minimale Kenntnisse, um die intendierte Authentizität des Dargestellten nachvollziehen zu können; denn der Konflikt mit dem Erzfeind Frankreich, der in den ersten Zeilen angesprochen wird, gehört nicht nur seit Jahrhunderten zum festen Bestand der englischen Geschichte, er ist zudem in den neunziger Jahren dank der Armada und der aktuellen politischen Auseinandersetzungen und Invasionsbefürchtungen jedem präsent. Der Name »Plantagenet« (1.1.9) aber, der wohlbekannte Name des einstigen Königshauses, lokalisiert den Konflikt i n einer 16 Durchgehend zitiert nach The Riverside Shakespeare, ed. G. Blakemore Evans (Boston, 1974). Die Frage der genauen Datierung, ob 1590/1 oder 1594/5, sowie des umstrittenen Verhältnisses von Shakespeares Stück zu The Troublesome Raigne spielt für unseren Zusammenhang keine Rolle. 17 Das Nebeneinander verschiedener Traditionen ist w o h l das auffallendste Charakteristikum in bezug auf King John; vgl. für die verschiedenen Positionen die Ausführungen E. A . J. Honigmanns in seiner »Introduction« zur Ausgabe in der N e w Arden-Edition (London, 1954); John R. Elliott, »Shakespeare and the Double Image o f K i n g John«, ShStudies, 1 (1965), 64-84; Michael Manheim, The Weak King Dilemma in the Shakespearean History Play (Syracuse, N . Y . , 1973), S. 118; Peter Saccio, »Shakespeare's Treatment o f English History«, in: William Shakespeare , ed. John F. Andrews, I I , 459.

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realgeschichtlichen, wenn auch nicht exakt datierten Vergangenheit. Fakten, Namen, Titel und Ortsangaben, sowie ein zeitenübergreifender Zwist der Nationen definieren somit eine reale, gleichsam objektivierte Welt, eine Welt der zeremoniellen Ordnung und der traditionellen Konflikte. Eine Haupt- und Staatsaktion scheint i n Szene zu gehen, die Johanns Rechte und Arthurs Anspruch vor dem Hintergrund der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich verhandeln wird. Fortuna aber bzw. das, was i m deutschen Trauerspiel des Barock Verhängnis heißt, wären die waltenden Schicksalsmächte einer solchen Handlung und beschrieben die A r t der dargestellten Geschichtlichkeit. Doch Shakespeare ist nicht an einem pathosgeladenen barocken Schicksalsspektakel gelegen. Er inszeniert das höfische Zeremoniell einer verläßlichen Weit der Fakten und Objekte nur, um es als Inszenierung begreifbar zu machen. Die objektivierte Welt gibt sogleich ihre raisons d'être preis. Hinter ihr werden die Mechanismen der Machterhaltung sowie das Machtstreben des einzelnen sichtbar. Die Königinmutter Eleanor und Johann erläutern dies i n kruder Offenheit, kaum daß der französische Gesandte sie verlassen hat: El.. What now, my son, have I not ever said H o w that ambitious Constance w o u l d not cease T i l l she had kindled France, and all the world, Upon the right and party of her son? K. John. O u r strong possession and our right for us. El. Your strong possession much more than your right, O r eise it must go wrong w i t h you and me. (1.1. 31-41)

Ehrgeiz (»that ambitious Constance«), das Streben nach Macht sowie deren Erhaltung, unbeschadet aller Legitimität — das sind die wahren Antriebskräfte der Geschichte, wie sie Shakespeare in King John gestaltet. 18 Keine heilsgeschichtliche Teleologie, keine transzendente Autorität legitimiert das Handeln der Figuren, »strong possession« ist deren Ausgangspunkt und Ziel, Opportunität — oder wie es i m zentralen Monolog des Bastard heißen wird: »commodity« — das je unmittelbare M o t i v . Und es regiert die Dramen weit hinfort: Ob sich die Könige von England und Frankreich eben vertragen oder schlagen; ob der Dauphin heiratet, um einen Frieden zu besiegeln, i m nächsten Augenblick aber gegen die Partei seiner Braut zu den Waffen greift; ob der päpstliche Legat zum Krieg gegen England oder zum Frieden mit ihm aufruft; ob die englischen Barone dem englischen oder französischen K ö n i g gerade die Treue halten — stets werden Eide gebrochen, das Recht der Macht unterworfen, Opportunität zum Prinzip erhoben. M i t einiger Radikalität führt Shakespeare in King John vor, wie 18

V g l . Alexander Leggatt, »Dramatic Perspective in King John«, ESC, 3 (1977), 1-17, hierzu S. 2.

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Geschichte in wenigen naturhaften, menschlichen Strebungen, denen der Machterlangung und -erhaltung, gründet, öeschichte ist somit nicht mehr als gesicherter Ablauf oder vorgegebene Struktur erfahrbar. Sie erweist sich als eine Reihe von naturhaft bedingten, opportunitätsverpflichteten Einzelhandlungen: Geschichte wird zur Realpolitik. 1 9 Es ist dies eine Geschichtsauffassung, wie sie i m 16. Jahrhundert vor allem von Niccolö Machiavelü, insbesondere in seinem Fürstenspiegel, II principe, vertreten worden ist. Prompt tritt nun nach knapp 50 Versen die Gestalt ins Drama, die zum einen dem Publikum stets erneut und mit satirischer Vitalität die wahren Motive der handelnden,Personen offenlegt, 2 0 die zum anderen aber selbst ihre Karriere ihrer naturhaften virtü verdankt: der Bastard Philip Faulconbridge. Für unseren Zusammenhang ist freilich von größerer Bedeutung, daß Shakespeare mit Hilfe dieser Figur geradezu exemplarisch belegt, wie eine historisch nicht authentische Gestalt und Handlung historisiert werden können. Die Methode ist ebenso einfach wie wirkungsvoll: Philip Faulcqnbridge wird von Anfang an mit einer historisch unzweifelhaft existenten, i m Yolksbe wüßt sein lebendigen Figur in Verbindung gebracht: Sein Vater ist von Richard Löwenherz zum Ritter geschlagen worden (1.1.53 f.), die Königinmutter entdeckt an ihm »a trick of Cordelion's face« (1.1.85), für John ist er gar »perfect Richard« (1.1.90). Der Namenswechsel, nachdem seine wahre Abstammung offenkundig geworden ist, belegt überdies seine Authentizität: Aus Philip Faulconbridge wird Sir Richard Plantagenet (1.1.161 f.). Daß die Handlung um den Bastard diejenige um John auf niederer Ebene wiederholt und somit spiegelt — auf beiden Ebenen geht es um ein Erbe, um Legitimität und Machterhaltung — , erhöht nicht nur ihre dramatische Relevanz, sondern weist sie auch als Teil der authentischen historischen Problematik aus. Es wird offenkundig, daß es nicht historische Dokumentierbarkeit ist, die dem Zuschauer Historizität begründet, sondern ein erlebtes Wechselspiel zwischen der eigenen Vorkenntnis und den Signalen des Textes. Was der spätere Wissenschaftler als ein »flirting w i t h the fictional« 2 1 erkennen kann, erlebt das Theaterpublikum als Vergegenwärtigung einer geschichtlichen Problematik. Dies umso eher, als es in Shakespeares machiavelli-

19 Der politische Charakter des Stücks ist vielfach herausgestellt worden, in negativer Wertung etwa von Robert Ornstein, A Kingdom for a Stage: The Achievement of Shakespeare's History Plays (Cambridge, Mass., 1972), S. 93, in positiver durch Douglas C. Wixson, >»Calm Words Folded Up in Smokec Propaganda and Spectator Response in Shakespeare's King fohn«> ShStudies, , 14 (1981), 111-127. 20

Z u m Publikumsbezug der Figur vgl. Robert Weimann, »Vice-Tradition und Renaissance-Gestalt in Kingfohn: Z u Aufbau und Funktion des Bastards«, Shfb y 108 (1972), 24-34. 21

So Robert L. Smallwood in der überaus anregenden Einleitung zu seiner Ausgabe des Stücks in der Reihe des New Penguin Shakespeare (Harmondsworth, 1974), S. 9.

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stischer Anatomie der Geschichte und Akteure darum geht, einen Blick hinter die Fassade der objektiven Welt der Fakten auf das naturhafte und egoistische Streben des einzelnen zu tun. Thomas Becket und Heinrich I I . bei Alfred Tennyson, T. S. Eliot und Christopher Fry Eine erste Lektüre des ausgedehnten Vorspiels von Tennysons Versdrama Becket, i m Probedruck 1879, endgültig 1885 veröffentlicht, vermöchte wohl den Eindruck zu vermitteln, das eben zu King John Gesagte ließe sich, nur geringfügig abgewandelt, auf dieses Werk übertragen. I n der Tat wird auch in Tennysons Drama mit Hilfe von Namen, Titeln und Orten eine objektiv-authentische Welt evoziert, verwendet Tennyson das Instrumentarium des elisabethanischen poetischen Dramas wie Blankvers und zweifache Handlung, Metaphorik und komische Chorusfigur. Der Schatten Shakespeares lastet schwer auf dem W e r k . 2 2 Dem viktorianischen Theaterbesucher freilich konnten die gravierenden Unterschiede vor allem i m Dramen- und Geschichtsverständnis nicht lange verborgen bleiben; denn was er betrachtet, ist nicht mehr eine symbolträchtige Handlung, präsentiert auf einer nur mit wenigen (emblematischen) Requisiten ausgestatteten Plattformbühne. Er blickt in die der totalen Illusionierung geweihte Guckkastenbühne, und zwar gemäß der einleitenden Bühnenanweisung auf »A Castle i n Normandy. Interior of the Hall. Roofs of a City seen thro' Windows.« 2 3 Die Kargheit der Beschreibung verbirgt dem heutigen Leser die Üppigkeit und Detailliertheit der Szenerie, die sich dem viktorianischen Betrachter bot: Nicht nur sind Bühnenbild und Kostüme und Requisiten aus den besten, »lebensechtem Materialien gefertigt, sie bilden auch die Welt des späten 12. Jahrhunderts so detailgetreu und exakt nach, wie es der beste zeitgenössische, historischantiquarische Sachverstand nur gewährleisten konnte. Dies ist, was Tennyson bei der Abfassung seines Dramas aus der Kenntnis der Theaterpraxis seiner Zeit erwarten konnte, dies ist auch, was Henry Irvings Lyceum-Inszenierung des Jahres 1893 b o t . 2 4 Eine solche Bühnenausstattung aber überwältigt nicht nur den ersten Blick des Zuschauers. Sie präsentiert überdies in ihrer antiquarischen Detailgenauigkeit 22 E i n breites und umfassendes Spektrum der Rezeption Shakespeares durch das viktorianische Drama und Theater bietet neuerdings der Sammelband Shakespeare and the Victorian Stage , hg. v. Richard Foulkes (Cambridge, 1986). 23

Zitiert nach Tennyson: Poems and Plays, hg. v. T. Herbert Warren, rev. Frederick Page (Oxford, 1953 u.ö.). 24 Einen Eindruck von der W i r k u n g des Bühnenbilds geben die Kritiken der amerikanischen Tournee Henry Irvings; vgl. John O. Eidson, »Tennyson's Becket on the American Stage«, Emerson Society Quarterly, 39 (1965), 15-20.

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und historischen Lebensechtheit wortlos, aber anschaulich das GeschichtsVerständnis des Dramas: Eine ferne, vergangene Zeit soll in all ihren Einzelheiten und in aller Komplexität heraufbeschworen werden, eine Darstellung des »wie es eigentlich gewesen« wird angestrebt. Die Ranke'sche Zielsetzung weist auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund von Tennysons Drama. Der Historismus hat sich in England — und nicht nur dort — als die vorherrschende Geschichtsauffassung und Weise der Geschichtsbetrachtung etabliert. Dem Historisten dünkt es möglich, eine vergangene Situation in all ihrer historischen Spezifik detailgetreu und umfassend erstehen lassen zu können. 2 5 Eine weit ausholende, dem Detail und der Exaktheit verpflichtete, objektverhaftete und darum (vermeintlich!) objektivierende Präsentation der Vergangenheit ist Mittel und Folge der historistischen Sicht. Solche historistische Vorstellungen versucht Tennyson ganz offenbar bereits in seinem Vorspiel zu Becket i n die dramatische Tat umzusetzen. Das Bühnenbild gibt ihm hierzu, wie zu sehen war, den Rahmen vor. Die folgenden Dialoge und Auseinandersetzungen zwischen Heinrich I I . und seinem Kanzler Thomas Becket, der K ö n i g i n Eleanor von Aquitanien und dem grimmigen Baron Reginald Fitzurse füllen nun diesen Rahmen bis zum Bersten mit allen Problemen und Konflikten der Zeit aus (wobei Tennyson durch nicht immer zwanglose Metaphorisierungen und Analogiebildungen gleichzeitig versucht, dem realistischen Exotismus einer solchen historischen Betrachtung entgegenzuwirken, um die Relevanz des Dargestellten für die eigene Zeit sicherzustellen): Der ebenso aktuelle wie überzeitliche Konflikt zwischen Thron und Kirche; die weltpolitischen Verstrickungen mit Papst und Kaiser; die Gefahr einer Auseinandersetzung der Generationen zwischen Heinrich I I . und seinem ältesten Sohn; der Machtkampf zwischen Adeligen und Kanzler bzw. Adeligen und König; das Dreiecksverhältnis von Heinrich zu seiner Gemahlin Eleanor und seiner Ehefrau zur Linken, Rosamund de Clifford; die Märtyrerproblematik — all dies wird i m »Prologue« heranzitiert und auf der öffentlichen wie privaten Ebene gestaltet, um den historistischen Forderungen nach Exaktheit und Totalität, nach Darstellung des »wie es eigentlich gewesen«, nachzukommen. 2 6 Mag es mit Hilfe solcher Fakten- und Konfliktfülle dem Historiker gelingen können, eine angemessene Darstellung seines Gegenstands zu liefern, dem Drama ist solches Authentizitäts- und Vollständigkeitsstreben fremd. 2 7 Die 25 Erst i m 20. Jahrhundert ist mit Studien wie R. G. Collingwoods The Idea of History (Oxford, 1946) und Hay den Whites Metahistory: The Historical Imagination in NineteenthCentury Europe (Baltimore-London, 1973) zum Generalangriff auf diese historistischen Positionen angesetzt worden. 26 Vgl. für Tennysons historistische Tendenzen insbes. seine Anmerkungen zum Drama, abgedruckt in The Works of Alfred Lord Tennyson, Eversley Edition (New York, 1908), V I , 431 ff.

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Konflikte, jeder einzelne zureichend, um eine Dramenhandlung zu konstituieren, kommen nicht zur Entfaltung, die Details werden zum Selbstzweck. Tennysons Becket ist die Materialsammlung eines Dramas (was Tennyson selbst durchaus anerkannte, als er Henry I r v i n g das Werk zur freien Verfügung überließ, u m es den Erfordernissen der Bühne anzupassen). Doch Becket ist in der vorliegenden Form nicht nur kein spielbares Drama, Tennysons historistische Kalkulation ist überdies keineswegs konsequent; denn, wohl u m den melodramatisch-sentimentalen Bedürfnissen seines Publikums entgegenzukommen, baut er nicht nur die Legende um die Auseinandersetzung zwischen der K ö n i g i n Eleanor und der Geliebten des Königs, Rosamund, in das Drama ein, er erweitert sie überdies, indem er Becket zum Beschützer Rosamunds macht, auf daß er als Schlußtableau eine schöne Leich' zu arrangieren vermag mit einer blitzumzuckten Rosamund, die über dem ermordeten Becket betet. Was freilich Shakespeare mit dem Bastard Faulconbridge gelingen konnte, die historische Plausibilisierung einer i m wesentlichen unhistorischen Figur, kann Tennyson nicht mehr gelingen, trotz analoger Techniken, wie enge Verschmelzung des unhistorischen Stoffes mit unzweifelhaft authentischen Figuren und Handlungen. Das historische Bewußtsein hat sich geändert. 28 Es verlangt kraft eigener Kenntnis nun historischdokumentarische Authentizität und verurteilt Tennysons Behandlung der Rosamund-Figur mit William Archer als »unhistorical, inconceivable and profoundly uninteresting.« 29 Die historistische Betrachtung der Geschichte, die in Tennysons Becket bereits durch das Bühnenbild etabliert und i m weiteren durch die Anhäufung von Fakten und Problemen der Zeit bestätigt wird, macht das Publikum zum Zensor und Richter der Authentizität des Geschichtsdramas. Wie aber ist dem historistischen Imperativ der detaillierten und umfassenden Dokumentation zu entkommen, wie die Zensur des historisch kenntnisreichen Publikums ästhetisch zu nützen? Einen Weg, den Sonderweg des christlichen Geschichtsdramas, zeigt T. S. Eliots Murder in the Cathedral. 1935 i m Kapitelsaal zu Canterbury uraufgeführt, ist das geistliche Dramenritual i n der Tat — in Eliots eigenen Worten — für ein überaus »special kind of audience« geschrieben. 30 Nicht nur waren an ebendieser Stelle in den Jahren zuvor Stücke über Heinrich I I . und Thomas Becket gespielt worden, nämlich Tennysons Becket 1932 und Lawrence Binyons The Young King 1933 und 1934. Eine Darstellung des Schicksals 27 Dies ist zu Recht immer wieder betont worden, etwa von Terry Otten, The Deserted Stage: The Search for Dramatic Form in Nineteenth-Century England (Athens, Ohio, 1972), S. 95. 28

Der Befund entspricht so exakt dem Bernd W. Seilers, Die leidigen Tatsachen, passim, für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts. 29 30

The Theatrical

>World< for 1893 (London, 1894), S. 47.

»Poetry and Drama«, in On Poetry and Poets (London, 1957), S. 79. Eliots Ironisierung des Sachverhalts bzw. Publikums mindert die grundlegende Bedeutung dieser Ausrichtung seines Dramas nicht.

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des Erzbischofs an der Stätte seines Wirkens und Sterbens konnte in jedem Fall auf die Existenz eines eingeweihten Publikums bauen, das keiner faktischen Information bedurfte. I n dem einleitenden Chor der armen Frauen von Canterbury wie auch später i m Drama kann sich Eliot deshalb auf eher beiläufig eingestreute Hinweise auf Ort, Zeit, Vorgeschichte sowie politische Konstellationen und Konflikte von der A r t »King rules or barons rule« oder »What does the Archbishop do, and our Sovereign L o r d the Pope/With the stubborn K i n g « 3 1 verlassen. Der eingeweihte Zuschauer vermochte die Andeutungen unschwer historisch zu ergänzen und einzuordnen. Bei aller scheinbaren Beiläufigkeit der Vermittlung sollte gleichwohl nicht übersehen werden, daß Eliot Schritt für Schritt und immer wieder in der gleichen anspielungshaften Weise Fakten zur politischen Geschichte und Situation in sein Drama einstreut, so daß schließlich ein recht vollständiges Bild der Konflikte entsteht. V o n einer »Ausmerzung der historischen Details«, 3 2 wie sie die K r i t i k häufig gerügt hat, kann somit nur sehr bedingt gesprochen werden. Der Botenbericht etwa, der dem Frauenchor folgt, erläutert in wenigen Zeilen Beckets Rückkehr aus Frankreich, seinen Empfang durch das Volk und die politische Situation: The streets o f the city w i l l be packed to suffocation, A n d I think that his horse w i l l be deprived o f its tail, A single hair o f which becomes a precious relic. He is at one w i t h the Pope, and w i t h the K i n g o f France, W h o indeed w o u l d have liked to detain h i m in his kingdom: But as for our K i n g , that is another matter. (I, 241 f.)

Freilich darf diese durchgehende historisch-faktische Spezifizierung nicht als der Tribut betrachtet werden, den selbst ein christliches Geschichtsritual dem Geist des Historismus zollen muß. Ganz wie i n Bales King Johan ist vielmehr auch in Murder in the Cathedral die historisch-faktische Handlung die unterste der Verständnisschichten innerhalb einer Hierarchie der Erkenntnis, und zwar diejenige, die am Ende des Dramas als die der Ritter und Mörder erscheint und folglich verworfen wird. Die vornehmste Aufgabe des Auftakts von Eliots Drama besteht nun darin, diese Hierarchie der Erkenntnis zu dramatisieren, d. h. sie zunächst vorzustellen, u m sie dann als Entwicklung, als Prozeß zu veranschaulichen. 33 Geschichtlichkeit bzw. die rechte Geschichtsauffassung aber

31

Zitiert nach The Complete Poems and Plays ofT. S. Eliot (London, 1969), und zwar gemäß Teil und Seite, hier I , 239 f. 32 So Robert Fricker, Das historische Drama in England von der Romantik bis %ur Gegenwart (Bern, 1940), S. 332. 33

Sein Konzept der verschiedenen Erkenntnisebenen hat T. S. Eliot mehrfach erläutert; vgl. etwa »The Pensées o f Pascal«, in Selected Essays (London, 3 1951), S. 416. V g l . auch die

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ist das Problem, an Hand dessen diese Hierarchie der Erkenntnis dramatisch konkretisiert w i r d . 3 4 Dabei übernimmt der Chor der armen Frauen von Canterbury in seiner ahnungsvollen Erwartung kommenden Unheils sogleich die Rolle des Zuschauers — »Here let us stand, close by the cathedral. Here let us wait.« — , so daß das Publikum, das ja ins Theater eine ähnliche Erwartungshaltung mitbringt, sich mit dem Chor zu identifizieren vermag. Geschichte aber ist diesen Frauen natural bestimmt, sie besteht in der Regelmäßigkeit des Ablaufs der »quiet seasons« (I, 240), in der schicksalhaften ewigen Wiederkehr des Jahreszeitenzyklus: 35 Since golden October declined into sombre November A n d the apples were gathered and stored, and the land became b r o w n sharp points o f death in a waste of water and mud, The N e w Year waits, breathes, waits, whispers in darkness. (I, 239)

Was sich den Frauen ahnungsvoll mitteilt, ist, daß ihr zyklisches Geschichtsbild, die Unvermeidlichkeit und Verläßlichkeit des Jahreszeitenablaufs, bedroht ist: N o w I fear disturbance o f the quiet seasons: Winter shall come bringing death from the sea, Ruinous spring shall beat at our doors ... (I, 240)

Ohne es selbst zu wissen, verdeutlicht der Chor, was es ist, das diese naturale Welt und Geschichte bedroht, nämlich der Eintritt des Ewigen in die Zeit durch ein Martyrium, wobei die Etymologie dieses Wortes sinnstiftend wirkt: Some presage o f an act Which our eyes are compelled to witness , has forced our feet Towards the cathedral. We are forced to bear witness. (I, 239; meine Hervorhebungen)

Damit w i r d deutlich, was der Chor — und mit ihm der Zuschauer — zu leisten hat: Der Chor muß sein naturales, zyklisches Geschichtsverständnis als der Wirklichkeit nur bedingt angemessen erkennen. Und er muß erkennen, daß es jenseits dieser beschränkten Geschichtssicht wahrhaftere Deutungen gibt. Das Wortspiel weist ihm hierfür die Richtung: E i n Martyrium ist zu affirmieren, die ausführlichen Deutungen der Werke auf dieser Grundlage durch Carol H . Smith, T. S. Eliot's Dramatic Theory and Practice (Princeton, 1963). 34

Für eine Gesamtdeutung des Dramas unter diesem Aspekt s. die konzentrierende Revision der entsprechenden Kapitel meines Das englische Geschichtsdrama seit Shaw, »Christian Historical Drama: The Exemplariness o f Murder in the Cathedral «, Modern Drama, 29 (1986), 516-531. 35 V g l . die präzisen Erläuterungen v o n Murray Krieger, »Murder in the Cathedral-. The Limits o f Drama and the Freedom o f Vision«, in The Shaken Realist: Essays in Modern Literature in Honor of Frederick J. Hoffman , hg. v. M e l v i n J. Friedman und John B. Vickery (Baton Rouge, 1970), S. 82 ff.

17

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 28. Bd.

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heilsgeschichtliche Dimension eines solchen Ereignisses wenigstens in Teilen zu erfahren. Erst am Ende des Dramas w i r d dieser Prozeß der Bewußtwerdung und Affirmation für den Chor der Frauen abgeschlossen sein und i n ein mächtiges, den Zyklus überwindendes L o b Gottes münden. Die drei Priester, die nach dem einleitenden Chor auftreten, besitzen ein untereinander differenziertes Geschichtsverständnis, das freilich ebenfalls, wenngleich graduell unterschiedlich, beschränkt ist. Sie nehmen, gemäß dem A m t , das sie innehaben, eine Mittel- und Vermittlerposition auch hinsichtlich ihrer Deutung der Geschichte innerhalb des Dramas ein. Sie wissen, daß Geschichte nicht (nur) natural bestimmt, sondern (auch) Menschenwerk und damit MachtPolitik ist: K i n g rules or barons rule: The strong man strongly and the weak man by caprice. They have but one law, to seize the power and keep it ... (I, 241)

Dies ist gewiß eine höhere, weil rationalere Erkenntnis der Geschichte. Gegenüber dem, was der Chorus ahnend fürchtet, dem Martyrium, erweist sich freilich auch die Einsicht der Priester in abgestufter Weise als unzulänglich. Der erste Priester fürchtet — und das ist wohl ganz i m Lessing'sehen Sinne das auf uns selbst bezogene Mitleid — um das Leben des Erzbischofs, u m das Wohl der Kirche urid macht den Stolz Beckets als alleiniges M o t i v des geschichtlichen Vorgangs aus. Der zweite sieht in der Rückkehr Beckets einen Anlaß zur Freude, da nunmehr er und die Kirche einen mächtigen Rückhalt gegen den K ö n i g und die Barone besäßen. Allein der dritte belegt durch den Gebrauch des für Murder in the Cathedral theologisch und ästhetisch so zentralen Bildes des Rades, 36 daß er etwas von den Paradoxien des heilsgeschichtlichen Stellenwerts eines Martyriums ahnt. Wie der Chor, so müssen auch die drei Priester einen Prozeß der Bewußtwerdung und der Affirmation durchmachen, einen Prozeß, der sich gleichfalls über das Drama erstreckt. Die Exposition der Geschichtsdeutungen i n Murder in the Cathedral endet mit dem Auftritt Beckets. Seine an den Chor und die Priester gerichteten Auftrittsworte scheinen die rechte heilsgeschichtliche Sicht der Dinge auszudrücken: They know and do not know, what it is to act or suffer. They know and do not know, that action is suffering A n d suffering is action. Neither does the agent suffer N o r the patient act. But both are fixed I n an eternal action, an eternal patience 36

V g l . vor allem Louis L . Martz, »The Wheel and the Point: Aspects o f Imagery and Theme in Eliot's Later Poetry«, Sewanee Review , 55 (1947), 126-147; Donna Gerstenberger, »The Saint and the Circle: The Dramatic Potential o f an Image«, Criticism , 2 (1960), 336341.

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To which all must consent that it may be willed A n d which all must suffer that they may w i l l it, That the pattern may subsist, for the pattern is the action A n d the suffering, that the wheel may turn and still Be forever still. (I, 245)

Was als kryptisch-verschlüsselt anmuten könnte, erschließt sich leicht einer theologischen Interpretation; denn die Ausdrucksform des Paradoxons, die paradoxe Verstrickung von Tun und Erleiden, Wollen und Entsagen sowie das Bild des sich drehenden und gleichzeitig in sich ruhenden Rades — sie alle sind als Beschreibungen heilsgeschichtlicher Sachverhalte, insbesondere des Eintritts des Ewigen in die Zeit, des Figuralprinzips sowie eines mystischen Gottesbildes, der Theologie wohlvertraut. Becket scheint somit von Anfang an das höchste und wahrhafte Verständnis der Geschichte sowie seiner konkreten Situation, der des bevorstehenden Martyriums, in das Drama einzubringen. Eine Entwicklung wäre somit nicht vonnöten. Einer solchen Interpretation stehen freilich der hohe Abstraktionsgrad von Beckets Ausführungen, ihre geklügelte Rationalität, wie auch die völlige Abwesenheit von christlichen Bezugspunkten in der Rede entgegen. Das heißt: Beckets Einsicht ist rationale Erkenntnis, nicht erlebte Erfahrung. Ihre Erprobung und Bewährung steht aus. Sie erfolgt durch die vier Versucher, in Beckets Monolog zu Ende des ersten Teils und vor allem durch die als »Interlude« gekennzeichnete Predigt Beckets am Weihnachtstag des Jahres 1170. Damit definiert sich Geschichtlichkeit in Eliots Murder in the Cathedral als eine Hierarchie historischer Deutungsmöglichkeiten. Die Hierarchie der Geschichtsdeutungen erstreckt sich von der faktifizierenden Auffassung der Ritter über das natural-zyklische Geschichtsverständnis des Chors hin zu Beckets figuraler imitatio Christi , durch die sich Heilsgeschichte irdisch manifestieren kann. M i t Ausnahme der Ritter bewegen sich alle Akteure des Dramas, Chor, Priester und Becket, auf die Erkenntnis bzw. Affirmation des heilsgeschichtlichen Augenblicks zu, wobei diese erneut hierarchisch abgestuft erfolgen. Der Prozeß der Bewußtwerdung tritt an die Stelle einer dramatischen Handlung. Das geistliche Dramenritual aber etabliert sich als ein historisches Drama dadurch, daß es, die nicht geringen Vorkenntnisse seines eingeweihten Publikums nutzend, mit dem ersten Auftreten der Figuren verschiedene Möglichkeiten, Geschichte zu deuten, präsentiert, um diese i m weiteren konfliktreich zu entfalten und zu hierarchisieren. Auch Curtmantle (1960), Christopher Frys Drama v o m K o n f l i k t zwischen Heinrich I I . und Becket sowie — vor allem! — von Heinrichs Bemühen, das Gesetz in seinem Reich durchzusetzen, unterwirft sich nicht historistischem Faktenz wang: 17*

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Memory is not so harsh as the experience. W h o can recall now the full devastation o f the time when young Henry Plantagenet first came into his Kingdom? (Prol., l ) 3 7

Dies sind die einleitenden Zeilen, gesprochen von einer Figur, die sich später als William Marshai, Soldat und Höfling, zu erkennen geben wird. Ihre Worte definieren das Stück sogleich als ein memory play. Sie ordnen es damit nicht nur in eine florierende dramatische Reihe ein, 3 8 sie belegen auch, daß es sich in Einklang mit der besten Theorie der Geschichtsschreibung seiner Zeit befindet. 3 9 Präsentiert sich Geschichte aber als erinnernde Wiederbelebung, so wird sie durch das Medium eines individuellen Bewußtseins perspektiviert und subjektiviert. Die Intensität der persönlichen Erfahrung wird somit geschichtsmächtig, 40 das Problem von (faktischer) Objektivität und (emotionsgeladener) Subjektivität der Erfahrung und Vermittlung ist aufgeworfen. Doch Marshals nächste Worte führen solches nicht weiter, sie weisen dem Drama einen anderen Weg: Henry Curtmantle, we sometimes called him, w i t h his cloak as short as his need for sleep. His energy was like creation itself; he was giving form to England's chaos, an England that, after eight years o f civil war, had no trade, no law, no conscience.... Order was being born out o f the sweat o f those days and nights ...

Weder das, was hier angesprochen wird, noch die Weise, wie es vermittelt wird, haben etwas mit perspektivierender Subjektivität und deren Geschichtserfahrung zu tun. Ein Problem, der Konflikt von Chaos und Schöpfung, Anarchie und Gesetz, wird beschrieben — und das mit narrativem Vorzeigegestus, der keinerlei Zweifel an der Objektivität der Diagnose erlaubt. Damit aber wird der Konflikt — und die überhöhende Wortwahl unterstützt dies — , wenn nicht zu einem zeitlosen, so doch zu einem zeitübergreifend-typischen, der nun der konkreten historischen Spezifizierung bedarf, soll das Drama nicht als poetisches Kostümstück mißverstanden werden. Da nun der Name Plantagenet in der Mitte des 20. Jahrhunderts geringere Verweiskraft besitzt als zu Ende des 16. und nicht genügt, Ort und Zeit des Dramas hinreichend zu konkretisieren, wird Fry wenig später die Techniken des epischen Theaters sinnentleert als narrative Tricks mißbrauchen: Aktüberschriften werden Jahreszahlen nennen, und William

37

Zitiert nach der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1965.

38

Vgl. Martin Brunkhorst, »Der Erzähler i m Drama: Versionen des memory play bei Fry, Shaffer, v Stoppard und Beckett«, AAA, 5 (1980), 225-240. 39

Vgl. etwa R. G. Collingwoods berühmte Formulierung, Geschichte sei »the reenactment o f past thought in the historian's o w n mind« (The Idea of History, S. 215). 40 Dies ist eine der zentralen Thesen des modernen Geschichtsdramas; vgl. dazu — ohne Bezug auf Fry — Paul Hernadi, Interpreting Events: Tragicomedies of History on the Modern Stage (Ithaca-London, 1985), S. 9f.

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Marshai, seiner perspektivierenden Subjektivität beraubt, wird, wo immer es nötig wird, die entsprechenden Fakten dem Zuschauer mitteilen. 4 1 Was als historisches memory play von Interesse hätte sein können, stellt sich somit als ein traditionelles Geschichtsdrama dar, das sich mit den Mitteln des epischen Theaters wie eben auch des memory play aufputzt. Die drastischsinnenfallige Darstellung von Heinrichs Gefolge und Lager, die auf William Marshals Eingangsworte folgt — Sein Lager nur erkläret sein Denken und Handeln! — , treibt die Exposition des übergreifenden Konflikts von Gesetz und Anarchie voran, der das Drama zusammenhält. Worum es Christopher Fry in Curtmantle geht, ist das, was ihn seine ganze Karriere hindurch beschäftigt hat. Es geht ihm um das, was er 1950 »the truth of the human creature«, 1961 »the permanent condition o f man« und 1976 schlicht die »perpetuals« genannt h a t . 4 2 Für die Darstellung solcher anthropologischen Konstanz ist eine historische Spezifizierung jedoch nicht wesentlich. Sie ist nichts weiter als Staffage, als das Kostüm der unveränderlichen Menschennatur und ihrer zeitlosen Konflikte. Sie kann daher dem Kostüm- und Bühnenbildner überlassen bleiben. *

Mag auch die Aussage nicht frei des Gemeinplätzigen sein: Geschichtlichkeit, das haben die Ausführungen gezeigt, ist keine unveränderbare Norm, sondern selbst historisch bedingt und variabel. Die Darstellung der Historizität i m Drama bedarf deshalb der Analyse des Einzeltextes und seiner Geschichtlichkeit evozierenden Signale. Erst auf der Grundlage solcher Einzelanalysen erscheinen vorsichtige Verallgemeinerungen als legitim, etwa die, daß das Geschichtsdrama des 16. Jahrhunderts nur minimale Kenntnisse seines Publikums voraussetzt und aktiviert, daß es vielmehr selbst die intendierte Geschichtlichkeit in der Exposition vermittelt. Oder die, daß historistische Forderungen nach detaillierter und umfassender Spezifizierung das Drama in die Dokumentation drängen und ästhetischen Wünschen nach Konzentration nicht gerade zuträglich sind. Oder die, daß das neuere und neueste historische Drama sich aus solchen historistischen Zwängen zu befreien sucht und Geschichtlichkeit zunehmend in den Bereich der subjektiven Erinnerung und Erfahrung verlegt. Oder die, daß jede Form der Geschichtlichkeit ihrer eigenen Vermittlungsweisen und dramatischen Konventionen bedarf. Oder schließlich die, daß Treu und Glauben nie die plausible dramatische Vermittlung von Geschichte durch das Werk selbst ersetzen können. Nicht? 41 Z u r K r i t i k an der presenter- Figur s.u.a. J. Chiari, Landmarks of Contemporary Drama (London, 1965), S. 105. 42

»The Contemporary Theatre: A Playwright Speaks«, The Listener , 23.2. 1950; »Talking o f Henry«, The Twentieth Century , 169 (1961), S. 189; William B. Wahl, »A Visit at the Toft: Interview w i t h Christopher Fry«, in Essays in Honour of Erwin Sturmi, hg. v. James H o g g (Salzburg, 1980), I I , 574.

L U T H E R U N D D I E R E F O R M A T I O N A L S G E G E N S T A N D DES HISTORISCHEN DRAMAS DER GEGENWART Von Michael Göring Die Diskussion über Luther und die Reformation zeigt i m Deutschland der Nachkriegszeit eine eigentümlich kontroverse Natur. Während i n der Bundesrepublik die positiv bewertete, persönliche Leistung Martin Luthers lange Zeit ganz i m Vordergrund der Reformationsdarstellung stand und gleichzeitig die Einschätzung der Bauernunruhen höchst zwiespältig ausfiel, 1 hatte die D D R bekanntlich gerade den Bauernkrieg als bedeutsamen Teil ihrer historischen Entwicklung für sich vereinnahmt und in der Nachfolge von Friedrich Engels' Schrift Der deutsche Bauernkrieg von 1850 eine mythisierende Sichtweise von Thomas Münzer übernommen. Dieser bildete als revolutionärer Held eine besonders wichtige Identifikationsfigur für das ostdeutsche Geschichtsbewußtsein, das von einer weit zurückreichenden revolutionären deutschen Tradition ausgeht, welche direkt in die Entstehung der D D R hinüberführt. 2 Seit ungefähr 1970 läßt sich jedoch in der Bundesrepublik ein Wandel i n der Reformationsdarstellung beobachten. Wie aus westdeutschen Schulgeschichtsbüchern leicht zu belegen ist, werden nun neben dem weiterhin positiven Lutherbild die Anliegen der Bauern mit mehr Verständnis als zuvor vermittelt, wobei vor allem auch die Person Münzers differenzierter gewürdigt w i r d . 3 Interessanterweise kam es in der D D R in den 80er Jahren ebenfalls zu einer Revision der bis dahin einseitig auf Münzers Verdienste hin zugeschnittenen Reformationsdarstellung, indem eine umfassende Aufwertung Luthers vorgenommen wurde. 4

1

Eine solche Feststellung läßt sich schnell durch einen Überblick über die Reformationsdarstellung in westdeutschen Schulgeschichtsbüchern bis ca. 1970 belegen. Vgl. bspw. Mittelalter und frühe Neuheit, Kletts Geschichtliches Unterrichtswerk für die Mittelklassen (Stuttgart, 1968), S. 122-128. 2 Vgl. Wolfgang Jacobmeyer, »Luther und die Reformation in den Geschichtsbüchern der D D R und der Bundesrepublik Deutschland«, auspolitik und Zeitgeschichte (1983), Heft 3, 35-46; hier vor allem: 36-39. 3

2

V g l . Hans Heumann, Unser Weg durch die Geschichte: Mittelalter und Neuheit (Frankfurt, 1971), S. 111-113 oder auch Politische Weltkunde, , I , 3 (Stuttgart, 1972), S. 28-33.

4 Diese Aufwertung zeigt sich am deutlichsten in den 15 »Thesen über Martin Luther«, Geschichte und Staatsbürgerkunde , 10 (1981), 906-918; gleichzeitig veröffentlicht in Einheit , 9

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Michael G ö r i n g

Die nachfolgende Beschäftigung mit den Reformationsdramen der Nachkriegszeit soll unter anderem klären, wie stark sich diese offensichtlich wandelbaren Präferenzsetzungen auch in der dramatischen Produktion wiederfinden und mit welchem Lutherbild der Zuschauer heute konfrontiert wird. Wenn dazu neben einigen bekannten, noch vor wenigen Jahren eifrig diskutierten Lutherdramen auch solche zur Sprache kommen, die — wie die Stücke von Otthinrich Müller-Ramelsloh oder Karlheinz K o m m — von der Forschung bisher vernachlässigt wurden, so soll vor allem erläutert werden, wie die einzelnen Dramatiker mit dem historischen Material umgehen, welche Geschichtssicht sie ihren Dramen zugrundelegen, inwieweit sie ihre Dramen als Konkurrenz zur Historiographie, als bessere Historiographie vielleicht, verstehen und wie sehr sie um einen Gegenwartsbezug bemüht sind, der die Historie letztlich zum Vehikel für die Offenlegung aktueller Problematiken degradiert. Die bereits angesprochenen Differenzen und vor allem der Wandel i m Verständnis der Reformation legen ein chronologisches Vorgehen nahe. Hierbei sollen auch nicht-deutschsprachige Reformationsdramen miteinbezogen werden. Luther auf der Bühne — das ist wahrlich kein Phänomen der Gegenwart. Seine Bühnenexistenz läßt sich bis in seine Lebenszeit zurückverfolgen, als beispielsweise Simon Lemnius sein Drama Monachopornomachia verfaßte, in dem sich Luther zwischen Liebesgöttern, Freudenmädchen und der Venus bewegt, und das nicht weniger tendenziöse Bockspiel Martini Luthers entstand, das dem Luthergegner Cochläus zugeschrieben wird; auf der protestantischen Seite schrieb Thomas Naogeorg in dieser Zeit seine antipäpstlichen Kampfstücke wie Pammachius (1538) oder Incendia (1541). 5 Wie Friedrich Kraft in einem 1971 erschienenen Aufsatz über die Tradition der Lutherdramen ausführt, stehen neben diesen tendenziösen — entweder katholischen oder protestantischen — Dramen früh bereits solche, die in erster Linie belehren wollen. So zeichnet Zacharias Rivender 1593 in Lutherus redivivus den Abendmahlstreit nach, oder Friedrich Dedekind legt in Papista Conversus von 1596 dar, mit welchen Argumenten ein Papist durch Luther und Melanchthon bekehrt w i r d . 6 I m 19. Jahrhundert mit seiner besonderen Vorliebe für.historische Dramen kommt es dann zu einer Blütezeit von Lutherschauspielen und sogar zur Gründung eines eigenen Lutherfestspiel Vereins in Jena, mit dessen Hilfe das 400. Geburtsjahr Luthers 1883 würdig gefeiert werden sollte. 7

(1981), 890-903. Z u r Diskussion dieser für den Geschichtsunterricht in der verbindlichen neuen Inhalte siehe Jacobmeyer, op. cit.

DDR

5 Friedrich Kraft, »Die bösen Bälge«, in Luther als Bühnenheld , hg. Friedrich Kraft, [Zur Sache: Kirchliche Aspekte heute, Heft 8] (Hamburg, 1971), S. 75-86; hier: S. 77. 6

Ebd., S. 78.

7

Ebd., S. 79.

Luther und die Reformation

265

Auch i n den Jahren nach 1945 haben sich europäische Dramatiker in vielfaltiger Weise der Reformation als einer Zeit des signifikanten Umbruchs zugewandt. So verlegt Jean-Paul Sartre Ort und Zeit seines 1951 entstandenen existentialistischen Dramas Le Diable et Le Bon Dieu in das Deutschland der Reformation. 8 Doch auch, wenn die Unruhen und Kämpfe jener Zeit den Hintergrund der Handlung um den Protagonisten Götz bilden, auch wenn eine ganze Szene Tetzel und seinem Ablaßverkauf gewidmet ist, auch wenn Götz am Ende Führer des Bauernheeres wird, geht es Sartre keineswegs um die Darstellung der Reformation und ihrer Folgen. I m Mittelpunkt steht vielmehr ein nahezu vollkommen enthistorisierter Götz, der über mehrere Stationen schließlich zu der Erkenntnis gelangt, daß Gott tot ist. Götz, der zuerst in schlechten Taten ( A k t 1), dann in vollkommen guten ( A k t 2) Gott sucht und zu einer A n t w o r t herausfordern will, wird am Ende zu einem Gott leugnenden Existentialisten. Das v o m Armeleutepriester Heinrich zu Beginn angesprochene christliche Geschichtsbild Rien n'arrive sans la permission de Dieu et Dieu est la bonté même; donc ce qui arrive est le meilleur. (S. 24)

wird i m Verlauf der dramatischen Handlung destruiert, wenn sowohl Heinrich als auch Götz lernen, daß sie für die von ihnen ausgehenden Taten ganz allein verantwortlich sind und sie sich in ihnen den Sinn ihrer Existenz selbst setzen. Als erstes Drama, das dann völlig anders als Sartres Stück die Folgen der Reformation unmittelbar zum Inhalt hat, stellt sich das 1953 von dem D D R Dramatiker Friedrich W o l f verfaßte Schauspiel Thomas Münder dar. 9 Es zeigt den Titelhelden in den entscheidenden Jahren des deutschen Bauernkrieges von 1523 bis 1525 als ungebrochen positiven Helden, während für Luther, der kein einziges Mal auftritt, aber in den Reden der Dramenfiguren ständig präsent ist, kein gutes Wort bleibt. Letzterer ist — hier nur eine kurze Auswahl — der »Doktor Lügner« (S. 326 u. ö.), »der falsche Schmeichler und Wittenberger Papst« (S. 309 u. ö.), »der martinische Fürstendreck, das eselische Fleisch« (S. 320) oder kurz »Bruder Mastschwein« (S. 324). Die nahezu universelle Ablehnung Luthers wird dann auch gleichsam »objektiv« begründet durch entsprechende Zitate aus Luthers Schrift »Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern«, welche in den Lutherdramen der Gegenwart überhaupt die am häufigsten zitierte Schrift des Reformators darstellt. Münzer hingegen erscheint i m hellsten Licht eines revolutionären Volksführers, dessen gesamtes Handeln von seiner sozialen Konzeption des »omnia sunt communia« (S. 361) bestimmt ist. Wenn Münzer 8 9

Jean-Paul Sartre, Le Diable et Le Bon Dieu (Paris, 1951).

Friedrich Wolf, »Thomas Münzer«, in Gesammelte Werke (Berlin, 1960), S. 283-416.

in sechzehn Bänden, Bd. 6

Michael Göring

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erkennt, daß er mit der Predigt allein seine Vorstellungen nicht verwirklichen kann, erscheint der Schritt zur Kampfschrift und dann zum Schwert, zum blutigen Kampf, nur konsequent: Kann doch auch alles Neue nur mit Blut und Schmerzen kommen und mit der Flammenzung des Evangelii. (S. 367)

Friedrich W o l f folgt bei seiner Charakterisierung von Münzer und der Darstellung des Bauernkrieges i m wesentlichen der bereits genannten Studie Der deutsche Bauernkrieg von Engels, aus der er auch i m ausführlichen Nachwort zu seinem Stück mehrfach zitiert. Das Drama stimmt nicht nur in der Aufwertung Münzers mit dem Reformationsbild der D D R überein, sondern gerade auch darin, daß W o l f Münzer ganz für den Befreiungskampf des Volkes vereinnahmt, der getragen w i r d von revolutionären Führern und — das verdeutlicht das Drama immer wieder — von der Solidarität der Bauern und Arbeiter. Kurz bevor sich die Ereignisse des Bauernkrieges gegen die Bauern und Münzer wenden, hat Münzer eine Vision, die unmittelbar auf Entstehungsland und Entstehungszeit des Dramas zurückverweist. Münzer spricht davon, wie am Ende des großen Kampfes »des Menschen Werk aufgehen [wird] wie goldner Weizen, und die Ernten werden reifen i m Sommerwind.« (S. 364) Und er fahrt fort: Der Werkmann aber w i r d mit dem Bauern durch die Felder gehn, und der Bauer w i r d mit dem Tuchweber sein Tuch befühlen. Es w i r d eine Lust sein, zu säen und zu ernten und eine Ehre, die Stoffe zu weben, die Wolle zu färben, das Erz zu graben, zu schmelzen und zu schmieden. (S. 364)

Wie hier durch die von sozialistischem Pathos erfüllte Sprache, so impliziert W o l f auch an anderen Stellen, daß i m Sozialismus die revolutionäre Bauernbewegung, die unter Münzer noch scheiterte, zu ihrer Erfüllung gebracht wird. Der Autor unterstützt damit in seinem Reformationsdrama, in dem sich — verdeutlicht durch die Gegenwartsbezüge — Geschichte klar als zielgerichteter Fortschritt zu erkennen gibt, die bereits eingangs erwähnte offizielle Vereinnahmung des deutschen Bauernkrieges durch die D D R als Teil ihrer nationalen Tradition. Wenden w i r uns nun von der D D R nach Großbritannien, w o 1960 i m Londoner Globe Theatre Robert Bolts Drama A Manfor AllSeasons uraufgeführt wurde, das zu einem großen Theater-, später auch Filmerfolg avancierte und eine Neubelebung des historischen Dramas i n England einleitete. 10 Thema von A Man for All Seasons ist Thomas Mores Widerstand gegen die Auflösung der Ehe von Heinrich V I I I . mit Katharina von Aragon und gegen den damit verbundenen Act of Succession sowie den Act of Supremacj von 1534, der bekanntlich besagt, daß der englische K ö n i g »justly and rightfully is and ought to be Supreme Head of the Church of England.« 1 1 10

Robert Bolt, A Man for All

Seasons (London, 1963).

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Bolt benutzt als Vorlage für sein Drama über die englische Reformationsgeschichte vornehmlich einmal die von Mores Schwiegersohn und Erstbiographen William Roper erstellte More-Biographie sowie diejenige von Nicholas Harpsfield, ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert. Er folgt diesen Biographien in den äußeren Einzelheiten, den Fakten, Reden und Zitaten recht genau, wobei er schon einmal aus dramatischen Gründen die Chronologie der Ereignisse mißachtet. 1 2 Sehr viel gewichtiger aber als die zeitlichen Verschiebungen sind zwei Änderungen, die aus dem historischen More letztlich ein ahistorisches Ideal machen. Bolt, der sich selbst i m Dramenvorwort als »not a Catholic nor even in the meaningful sense of the word a Christian« (S. xiii) bezeichnet, unterschlägt nämlich weitestgehend Mores tiefe Religiosität und nimmt ihm damit die ganz entscheidende Bindung an seine Zeit. So ist die Dramengestalt More sehr wohl den angenehmen Seiten des Lebens zugewandt ohne jede historisch verbürgte Askese und ohne jede ebenfalls historisch verbürgte Neigung zum Märtyrer. Der Dramatiker konzipiert einen Thomas More, der gegen seinen Willen zum Helden wird, wobei er an die Stelle christlicher Werte »den der Integrität des autonomen Individuums, an die Stelle der >soul< das >self< [setzt].« 13 Der Begriff conscience , wie ihn die Dramengestalt More gebraucht, entspricht zu sehr der modernen Vorstellung von souveräner Entscheidungsgewalt und hat daher mit der christlichen Bedeutung von Gewissen i m 16. Jahrhundert nichts mehr gemein. 1 4 Somit finden wir in diesem Reformationsdrama einen Protagonisten, der mit seiner Betonung der ureigensten Identität, diesem »adamantine sense of his o w n seif« (S. xii), zu einer nicht mehr historischen, sondern allgemeingültigen Vorbildfigur, zu dem großen Einzelnen, wird, zu dem sich Bolt i m Vorwort seines Dramas auch ausdrücklich bekennt. Hildegard Hammerschmidts Feststellung, daß Bolt »[a]uf jeden Fall [...] mit seiner Konzeption des >reluctant hero< der historischen Figur gerechter geworden sein [dürfte] als die ersten MoreBiographen, bei deren Darstellung eine religiös-politische Färbung zu veranschlagen ist«, 1 5 erscheint nicht einsichtig. Deutlich wird hingegen, wie sehr traditionelle dramatische Strukturen die Darstellung des Lebens von More bestimmen, wenn Bolt die Tragödie des More so offensichtlich als immergültiges 11 Zitiert nach Heinrich Lutz, »Der politische und religiöse Aufbruch Europas i m 16. Jahrhundert«, in Propyläen Weltgeschichte , Bd. 7 (Berlin/Frankfurt a.M., 1986), S. 25 -132; hier: S. 62. 12 V g l . Hildegard Hammerschmidt, Das historische Drama in England [ 1956-1971]: Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen (Wiesbaden, 1972), S. 30 ff. 13

K u r t Tetzeli von Rosador, Das englische Geschichtsdrama seit Shaw (Heidelberg, 1976), S.

295. 14

Vgl. auch Hammerschmidt, Das historische Drama , S. 43.

15 Ebd., S. 38.

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Melodrama gestaltet, bei dem anthropologische Konstanten in einfachster Form i n Opposition zueinander gebracht werden: Alles Gute liegt bei More, alles Schlechte versammelt sich in seinen Gegenspielern Cromwell und Rieh. Dabei wird eine höchstmögliche emotionale Intensität angestrebt, wie sie die Verfolgung des Opfers More durch die meineidigen Schurken besonders wirkungsvoll hervorruft. Neben den melodramatischen Strukturelementen weist Bolts Drama aber auch eine besonders eigenwillige Verarbeitung der Brechtschen Theorie des epischen Theaters auf. Anders als Sartre und Wolf, deren Dramen noch ganz dem traditionellen aristotelischen Illusionstheater verpflichtet waren, findet sich i n A Man for All Seasons mit der den Spielfluß unterbrechenden und steuernden Figur des Common Man ein typisches Element des epischen Theaters. Der Common Man nimmt i m Verlauf des Stückes nicht nur immer wieder neue Rollen an (unter anderem Mores Diener, sein Gefängniswärter, der Schöffe bei Gericht, der Henker), sondern er wendet sich auch mehrfach direkt an das Publikum, wobei er vor allem weitere Informationen über den historischen Verlauf gibt (S. 20, S. 47, S. 74/75 u.ö.). Überraschenderweise deutet Bolt dieses Verfremdungselement jedoch i m Sinne einer IllusionsVerstärkung, wenn er i m Vorwort schreibt, »that the proper effect o f alienation is to enable the audience reculer pour mieux saut er, to deepen, not to terminate, their involvement in the play.« (S. xvii) Bolts Drama bedeutete i m Ganzen keine Provokation gegenüber der etablierten Vorstellung von Thomas More, dessen Heldenstatus durch die fragwürdige, einen katholischen Christen wohl auch verletzende Zurücknahme der religiösen Komponente ja nicht gemindert wurde. Auch K ö n i g Heinrich V I I I . wird nicht zu einem Scheusal, das die patriotischen Gefühle des englischen Publikums hätte schockieren können. Anders verhält es sich dagegen mit dem ein Jahr später uraufgeführten Drama Luther des »angry young man« John Osborne, 1 6 wobei hier die Provokation für den deutschen Zuschauer, der zum ersten Mal 1962 in Bremen durch Peter Zadek mit dem Stück Bekanntschaft machte, natürlich stärker ausfallt als für den englischen, dessen Wissen über Luther und die kontinentale Reformation ja gemeinhin recht dürftig ist. Das Drama zeigt in direkter Anlehnung an Erik Homburger Eriksons psychoanalytische Biographie Young Man Luther: A Study in Psychoanalysis and History von 1958 den Neurotiker Luther. Dieser leidet bis zu seinem i m letzten A k t gezeigten Rückzug in die Ehe, Vaterschaft und Bürgerlichkeit an einer manifesten Identitätskrise, die aus einer gescheiterten Vater-Sohn-Beziehung herrührt und Luther in den die Reformation entscheidenden Jahren zu einem völlig verunsicherten, von Daseinsangst geplagten, nach

16

John Osborne, Luther (London, 1961).

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Autorität suchenden und zugleich gegen Autorität rebellierenden Menschen macht. Psychosomatischer Ausdruck seiner Neurose ist die beständige Obstipation, unter der Luther in zahlreichen Szenen leiden muß. Auch die im Drama genüßlich verbreiteten Begriffe aus dem Anal- und Fäkalbereich in Luthers Sprache sollen als Ausdruck und Nachweis der Neurose herhalten. So führt der Dramenheld von der Kanzel herab über seinen Weg zur Erkenntnis des zentralen sola-fides- Prinzips aus: A n d seated there, my head down, on that privy just as when I was a little boy, I couldn't reach down to my breath for the sickness in my bowels [...]. A n d I sat in my heap o f pain until the words emerged and opened out. »The just shall live by faith.« M y pain vanished, my bowels flushed and I could get up. (S. 63)

Wie steht es nun mit der Geschichte in diesem Psychodrama? Osborne reiht insgesamt 12 Szenen unverbunden aneinander. Darunter finden sich die Aufnahme Luthers in das Kloster, seine Primiz, eine Ablaßpredigt von Tetzel, der Anschlag der Thesen 1517, die Augsburger Reichs Versammlung 1518 mit der Unterredung zwischen Luther und dem Papst-Legaten Kardinal Cajetan, Luthers Verbrennung der Bannbulle 1520 und Worms 1521 mit Luthers »Here I stand, God help me; I can do no more. Amen« (S. 85). Diese lose Aneinanderreihung der wichtigsten Stationen der Luther-Biographie hat durchaus prägende Kraft bewiesen und findet sich i n den späteren Lutherdramen von Leopold Ahlsen (siehe S. 271) ebenso wieder wie bei Karlheinz K o m m (siehe S. 280), bei denen dann auch jegliche Akteinteilung fehlt, an der Osborne noch festgehalten hat. Osborne setzt nun die Schwerpunkte in den ausgewählten Episoden so, daß sie stets die zum V o r w u r f genommene psychoanalytische Sichtweise untermauern. Sie verdeutlichen Luthers Identitätskrise, indem sie seine Suche nach einer Geborgenheit und Autorität spendenden Vaterfigur aufzeigen und den Zuschauer an Luthers Enttäuschungen durch den leiblichen Vater Hans und durch die geistigen Väter wie die Kirche, den Orden, die Kardinäle und den Papst teilnehmen lassen. So erscheint Luther letztlich als jemand, der durch seine Neurose in die Rolle des Reformators gedrängt wird. Osborne hat ausdrücklich die dem psychoanalytischen Verfahren immanente Enthistorisierung der Person Martin Luthers gebilligt, wenn er in einem i m gleichen Jahr 1961 geschriebenen Aufsatz darlegt: Historical plays are usually anathema to me [...]. I hope that it w o n ' t make any difference i f you don't know anything about Luther himself, and I suspect that most people don't. I n fact the historical character is almost incidental. 1 7

So geht es Osborne wie zuvor Bolt u m das Aufzeigen ahistorischer Konstanten, nur bei Osbornes Luther mit dem bedeutenden Unterschied, daß der 17

John Osborne, »That A w f u l Museum« [1961], in John Osborne: Look Back in Anger: A Casebook, hg. John Russell Taylor (Glasgow, 1968), S. 67.

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exemplarische Charakter hier ein demontierter Held, ein Neurotiker und Zweifler ist, der aber gleichwohl die Welt revolutionär verändert hat. Einem zyklischen Geschichtsbild, wie es die Reduzierung der historischen Person auf die immergleichen Neurosen impliziert, w i r d ein progressives Geschichtsbild, das den change, die Veränderbarkeit, hervorhebt, an die Seite gestellt. Das letztere drückt Staupitz aus, wenn er in der wegen ihrer rührseligen Altmänner-Idylle oft und zu Recht gescholtenen letzten Szene gegenüber dem jetzt 47jährigen Luther auf die Veränderungen hinweist, die dieser bewirkte: The world's changed. For one thing, you've made a thing called Germany. [...] You've taken Christ away from the l o w mumblings and soft voices and jewelled gowns and the tiaras and put H i m back where He belongs. I n each man's soul. We owe so much to you. (S. 100)

I n der unmittelbar vorangehenden Szene jedoch hatte ein K n i g h t i m Anblick der Leiche eines niedergemetzelten Bauern Luther angeklagt, die rebellierenden Bauern i m Bauernkrieg schmählich i m Stich gelassen zu haben. Dieser Knight, der mit seiner i m heutigen Umgangsenglisch gehaltenen, direkten Anrede an das Publikum als übergeordneter Kommentator auftritt und somit ähnlich dem Common Man in Bolts Drama das innerdramatische Kommunikationssystem durchbricht, trägt mit dazu bei, über die eigentliche historische Situation hinauszugehen. Seine Aussage macht deutlich, daß Luther, der Vater der Protestanten, die Bauern, die Kinder der von ihm initiierten Reformation, ebenso enttäuscht und verlassen hat, wie er zuvor von seinen Vätern verraten worden war. Wenn demnach hier der Zyklus der gestörten Vater-Kind-Beziehung offensichtlich nicht durchbrochen ist, heißt das gleichermaßen, daß die am frühen Luther gezeigte Notwendigkeit der Rebellion gegen die Autoritäten kein historischer Fall ist, sondern weiterhin fortbesteht. 18 Cajetan, der i m Drama als äußerst scharfsinniger Analytiker von Luthers Problematik auftritt, nimmt diese Erkenntnis bereits in nuce vorweg, wenn er gegenüber Luther, der vor ihm in Augsburg nicht widerrufen hat, den andauernden Protest, vielleicht den Klassenkampf, für die Zukunft vorhersagt: Y o u know, a time w i l l come when a man w i l l no longer be able to say, »I speak Latin and am a Christian« and go his way in peace. There w i l l come frontiers, frontiers o f all kinds — between men — and there'll be no end to them. (S. 74)

Den Gedanken der kontinuierlich weiterbestehenden Rebellion hatte Osborne allerdings schon in seiner Vorlage, der erwähnten Lutherbiographie von Erikson, vorformuliert gefunden: Die Reformation währt fort — in mannigfachen Formen der Revolution und in Persönlichkeiten, die in unterschiedlichster Berufung protestieren. 1 9 18 N u r auf der persönlichen Ebene ist es Luther, nachdem er selbst Vater eines kleinen Sohnes geworden ist, gelungen, die Vater-Sohn-Problematik zu überwinden. Siehe das Dramenende S. 101-102.

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Leopold Ahlsen war 1965 der erste bundesdeutsche Dramatiker, der sich mit seinem Drama Der arme Mann Luther des Reformators annahm. 2 0 Luther liegt hier auf dem Sterbebett und ist angesichts des Todes voller Zweifel über die Richtigkeit seiner vergangenen Handlungen. I n über 30 Bildern, die in vielen Einzelheiten an Osbornes Drama erinnern, werden nun die wichtigsten Stationen seines Lebens noch einmal vorgeführt und gleichsam einem Examen unterzogen. Wenn uns der Klappentext der 1965 erschienenen Buchausgabe verspricht, daß »[b]ei aller freien Gestaltung der historischen Details [...] ein geschichtlich wahrhaftiges Bild [entsteht]«, so wird hier bereits mit der Werbewirksamkeit von »geschichtlich wahrhaftig« operiert, deren sich die englischen Reformationsdramen wohlweislich enthielten, die uns fünf Jahre später bei Forte aber wieder — und dann noch sehr viel stärker — begegnen wird. Sicherlich ist einerseits eine große Anzahl der Szenen in Ahlsens Stück historisch belegt und stimmt mit dem überein, was der Zuschauer als Basiswissen auch in Schulgeschichtsbüchern vorfindet. Doch kann andererseits bei vielen Szenen von historischer Wahrhaftigkeit ernsthaft w o h l keine Rede mehr sein. So führen beispielsweise gegen Ende in Bild 34, einer der längsten Szenen des Stückes, Luther und der älter gewordene K a r l V. einen Dialog miteinander, der von erstaunlichem Verständnis füreinander und vor allem von wachsender Annäherung Karls an die neue Lehre Luthers geprägt ist. A m meisten aber überrascht, daß zum Ende dieses Dialogs gerade K a r l V. Luther die gesuchte Bestätigung und Rechtfertigung für sein Wirken gibt, indem er sagt: Dieser neue Mensch ... Gott muß Lust gehabt haben nach ihm; nach einer neuen mündigen Andacht, die mir keine mehr scheint — aber dürfen w i r Gottes Vormund sein? (S. 91)

Und am Schluß dieser Szene ist es dann in ironischer Verdrehung wiederum der alte Kaiser, der Luther gegen die Anfechtungen in der Sterbestunde ausdrücklich empfiehlt: »Denk an Pauli Brief an die Römer.« (S. 92) Es ist offensichtlich, daß die Zweifel des auf seinem Totenbett liegenden armen Mannes Luther für den Autor Ahlsen nicht bestehen. Er führt den Zuschauer ohne Provokation zu der Erkenntnis, daß Luthers Reformation richtig war, einen Fortschritt bedeutete und Luther als Held gewürdigt werden muß. Die Selbstzweifel des Protagonisten als antiheldische Momente stellen das Heroische des Reformators nur u m so deutlicher heraus. Auch die Vorwürfe Münzers und Karlstadts ändern nichts daran, daß der Zuschauer durch Ahlsens historischen Bilderbogen in seinem tradierten Lutherbild i m wesentlichen bestätigt wird.

19

Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Erik Homburger Erikson, Der junge Mann Luther (München, 1964), S. 294. 20

Leopold Ahlsen, Der arme Mann Luther (Gütersloh, 1965).

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Hatten Osborne und Ahlsen Dramen geschrieben, die ganz die Persönlichkeit Luthers in den Vordergrund stellten, so präsentiert Friedrich Dürrenmatt 1967 mit seiner Komödie Die Wiedertäufer ein Stück, das einen Nebenschauplatz der Reformation beleuchtet und sich ausschließlich mit dem Wirken der Täufer i m westfälischen Münster 1534-36 befaßt. 21 Dürrenmatt läßt sich dabei keineswegs von der Zielvorstellung einer exakten Historizität leiten, sondern i n Die Wiedertäufer erfolgt der Zugriff auf die Geschichte über die Parodie, eine Technik, die Dürrenmatt auch für sein bekannteres Drama Romulus der Große angewandt hat. Aus mehreren Gründen stellt Die Wiedertäufer, das auf Dürrenmatts erstes abgeschlossenes Stück überhaupt, das Drama Es steht geschrieben von 1946 zurückgeht, eine Ausnahme unter den Reformationsdramen der Nachkriegszeit dar. I m Zentrum der dramatischen Handlung steht Johann Bockelson, der, auch Johann von Leyden genannt, eine der wichtigsten Gestalten der Münsteraner Täuferbewegung war und sich 1535 sogar zum K ö n i g der Täufer krönen ließ. Dürrenmatt weist zwar auf die historischen, Sozialrevolutionären Anliegen der Täufer mit ihrer radikalen Forderung nach Gemeinbesitz hin, er demonstriert auch, wie beispielsweise rein aus materiellen Gründen die Belagerung Münsters durch das Kaiser- und Fürstenheer so lange wie möglich durchgehalten wird, doch der Angelpunkt des Geschehens ist eben jener Bockelson. Die entscheidende Veränderung von Es steht geschrieben zu Die Wiedertäufer liegt darin, daß Bockelson i m zweiten Stück ganz als Schauspieler konzipiert ist, der nun, wie er selber sagt, die Rolle seines Lebens spielt (S. 55). Nicht nur faßt Bockelson seine Situation beständig in Theatermetaphern (S. 55, S. 64, S. 88 f. u.ö.), wobei er besonders gern passende Ausschnitte antiker Dramen rezitiert und so unter anderem zu Prometheus, Nero oder Herakles wird (S. 53, S. 54, S. 55, S. 90 u. ö.), sondern auch der Bischof, der Kaiser und die Fürsten stellen beständig einen Bezug zur Welt des Theaters dar, i n der sie vor allem als Intendanten auftreten. So streiten sie auf dem Reichstag von 1535, bei dem sie ihr Vorgehen gegen Münster beschließen wollen, i n erster Linie über die Qualität ihrer Schauspieler und vor allem um das komödiantische Talent ihres Gegenspielers Bockelson. Als dieser am Ende der Komödie Münster an die siegreiche Allianz übergeben muß, läßt Dürrenmatt ihn folgendes sagen: Ihr Fürsten, versammelt angesichts der Stadt Die euch seit Jahren trotzt Ich trete vor euch hin Ich stellte einen K ö n i g dar U n d rezitierte komödiantisch einen Possentext

21

Friedrich Dürrenmatt, Die Wiedertäufer [1967] (Zürich, 1980) und ders., Es steht geschrieben [1947] (Zürich, 1985). Seitenangaben i m Text beziehen sich auf Die Wiedertäufer.

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Durchsetzt mit Bibelstellen und mit Träumen einer beßren Welt Die halt das Volk so träumt So trieb ich denn, euch zur Erheiterung, was ihr auch treibt [...] Das Spiel ist aus, ihr Fürsten ohnegleichen Ich trug eure Maske bloß, ich war nicht euresgleichen (S. 118-119)

Die Revolution der Täufer wird hier zur Komödie eines Schmierenkomödianten, der historische Bockelson, wie Dürrenmatt explizit sagt, »zu einer Fiktion«, und »[djieser Fiktion wird die Geschichte unterworfen.« (Anhang, S. 135) Wenn Geschichte so offensichtlich zu Theater wird, wo die Fürsten den Wiedertäuferkönig nicht rädern und die Leiche am Lambertikirchturm aufhängen, sondern ihn bewundern, begnadigen und für ihre Residenztheater engagieren (S. 120), erübrigt sich jede Frage nach der historischen Exaktheit. W i r haben es vielmehr mit einer höchst interessanten Verbindung von zunächst erbrachter Vortäuschung von historischer Authentizität (Münster, 1534, die Figur des Bürgermeister Knipperdolling, die Täufer usw.) und zunehmender Destruktion dieser Historizität zu tun. Dabei wird nicht ein bestimmtes Geschichtsbild destruiert, um durch ein neues ersetzt zu werden, sondern Dürrenmatts spielerisch parodistische Anverwandlung von Geschichte, bei der statt Sinnhaftigkeit oder Sinnstiftung geschichtlicher Ereignisse nur noch deren Theatralik sichtbar gemacht wird, nähert sich der »décomposition« i m Barthesschen Verständnis des Begriffs als bewußte Sinnverweigerung an. 2 2 Als Restbestand von Sinn bleibt allein das Aufzeigen der Verbindung von Macht zu Theatralik, worauf Dürrenmatt selbst i m Nachwort noch einmal eigens hinweist (S. 135). Die Erfahrung der Welt als Theater wird auch durch formale Eigenheiten des Dürrenmattschen Stückes wie die mehrfachen Durchbrechungen der dramatischen Situation in Form von direkten Ansprachen an das Publikum (S. 24, S. 71 u.ö.) noch einmal betont. Abseits von einer zyklischen oder progressiven Geschichtssicht kann hier bei Dürrenmatt von einem postmodernen Geschichtsverständnis ausgegangen werden. V ö l l i g anders verhält es sich da mit Fortes 1970 in Basel uraufgeführtem Drama Martin Luther & Thomas Münder oder Die Einführung der Buchhaltung, welches Anfang der 70er Jahre schnell zu einem der populärsten Stücke in der Bundesrepublik aufgestiegen w a r . 2 3 Hatte Osborne mit seinem Luther nach 22 Vgl. Roland Barthes, Roland Barthes par Roland Barthe s (Paris, 1975), S. 67-68. Z u r Dekonstruktion i m modernen Geschichtsdrama siehe auch Werner Wolf, »Geschichtsfiktion i m Kontext dekonstruktivistischer Tendenzen in neuerer Historik und literarischer Postmoderne: Tom Stoppards Travesties% erscheint in Poetica , 18 (1986). 23

Dieter Forte, Martin Luther & Thomas Münder oder die Einführung der Buchhaltung [1970] (Frankfurt, 1981). 18

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 28. Bd.

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eigenem Bekunden »a play about religious experience« schreiben w o l l e n , 2 4 dann aber vor allem eine psychologische Fallstudie produziert, so behauptet Forte in dem der Druckfassung angehängten Beitrag »Zur Methode«: I n diesem Stück geht es nicht um Theologie. Der theologische Aspekt der Reformation ist 400 Jahre lang in unzähligen Büchern immer wieder untersucht worden. Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Ereignisse hat man kaum beachtet. Aber w i r spüren sie heute noch. I n diesem Stück geht es auch nicht um ideologische Belege. M i t fertigen Antworten und vorgegebenen Meinungen schreibt man kein Stück. [...] Es ging [...] darum, eine Situation konkret zu erforschen. Das Stück spielt v o n 1514 bis 1525. Daß die Bezüge auf unsere Zeit so klar und unübersehbar sind, hat mich selbst überrascht. Es bedurfte keiner Aktualisierung, keiner für das Theater zurechtgebogenen Konfrontation. Es gibt anscheinend Konstellationen, die sich modellhaft wiederholen. (S. 206)

I n diesem v o m Autor als unideologisch apostrophierten Drama wird eine uns bereits von Friedrich Wolfs Schauspiel her bekannte Sichtweise der Reformation wiederaufgenommen, nämlich die völlige Abwertung Luthers und die Aufwertung Münzers. Hinzukommt eine das gesamte Drama dominierende konsequent durchgeführte ökonomische Betrachtungsweise des Reformationsgeschehens. N u r Münzer und auch Karlstadt werden als Idealisten gezeigt, den anderen geht es um ihren eigenen Vorteil, zumeist ums Geld. Fugger mit seinem Vermögen, seiner modernen doppelten Buchführung, seinen Monopolen und Bestechungen wird zum Hauptdrahtzieher der Geschichte. Friedrich der Weise, die anderen Fürsten, der Papst, die Kaiser Maximilian und Karl V. — sie alle sind abhängig von Fugger, Luther lediglich eine Marionette, ein Ausführender des Kapitals. Und auf der anderen Seite dieses rein dichotomischen Weltbildes steht das Volk: ausgebeutet, unterdrückt, gutgläubig und belogen. Bei aller offensichtlichen Einfachheit des zugrundeliegenden Weltbildes gibt Forte jedoch vor, i n seinem Drama stets um ehrliche und umfassende Aufklärung bemüht zu sein: Daß Luther anders dasteht, als w i r ihn kannten, ist für viele gewiß schmerzlich. Aber es sind schließlich seine Worte. [...] Vieles, was so schockierend scheint, steht in jedem besseren Geschichtswerk und ist der Wissenschaft längst bekannt. Daß w i r trotzdem nur das wissen, was in ein bestimmtes Raster paßt, daß dieses Stück, das sich an Tatsachen hält, unser Gesellschaftsbild so auf den K o p f stellt, sollte uns mißtrauisch machen. Was ist uns da bisher erzählt worden? (»Zur Methode«, S. 206/207)

Es bleibt aber ebenso zu fragen, welch wahre Geschichte uns Forte in seinem über 200 Druckseiten starken Drama erzählt und wie er zu seiner Wahrheit kommt. Ich w i l l mich hier auf einige wenige Beispiele zum Lutherbild beschränken. 25 Wie bereits erwähnt, w i r d Luther zur Marionette, mit der die 24 25

Osborne, »That A w f u l Museum«, S. 67.

Eine besonders ausführliche und sehr kritische Auseinandersetzung mit Fortes Drama v o m Standpunkt eines evangelischen Theologen findet sich bei K u r t Aland, Martin Luther

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Mächtigen zu ihrem Vorteil spielen. So erscheinen zum Beispiel die 95 Thesen als »ein Gutachten für den Hof« (S. 16). Als Grundlage für diese Behauptung kann der Dramatiker nur einen Brief Luthers an Spalatin v o m November 1517 herangezogen haben, in dem sich Luther — wie der Kirchenhistoriker Walther von Loewenich ausführt — lediglich gegen das Gerücht wendet, »er habe die Thesen auf Befehl des Kurfürsten verfaßt, u m dem Ablaßgeschäft des Albrecht von Mainz zu schaden.« 26 Forte zeigt dann in der nächsten Szene, wie Luther zur Belohnung für dieses regierungsfreundliche Gutachten von Friedrich dem Weisen eine neue Kutte als Geschenk erhält (S. 17). Diese Behauptung aber findet nach von Loewenich ihren historischen Beleg in einer Schmähschrift des bekannten Luthergegners Cochläus. 27 Schon diese Beispiele belegen, daß der Autor gemäß seiner Behauptung tatsächlich intensives Quellenstudium betrieben hat, 2 8 dabei aber mit Vorliebe unbewiesene Verleumdungen über Luther und sämtliche Hinweise auf negative Eigenschaften des Reformators herausgreift. Nicht nur ist dieser eitel (S. 47 u. ö.), titelsüchtig (S. 140) und ein großer Trinker (S. 45, S. 78 u. ö.), sondern auch von keiner ernsten Überzeugung (bspw. S. 50). Die Heilsfrage spielt kaum eine Rolle, dafür ist es Luther ernst mit dem Geschäftemachen. Ist es i m ersten Drittel des Dramas die Kutte, so i m zweiten Drittel, als Luther sich auf der Wartburg befindet und dort bewußt an der Verbreitung der Lutherlegende arbeitet (S. 97 f.), die Bibelübersetzung, die in Fortes Drama als vollkommen überflüssig erscheint: Luther Ich übersetze die Bibel ins Deutsche. Berlepsch Ins Deutsche? Gibt es doch schon. Kann man an jeder Ecke kaufen. Luther Mein Drucker meint, ich hätte jetzt einen Namen, und man könnte ein Geschäft machen. (S. 99)

Nach dem bereits zitierten Walther von Loewenich handelt es sich bei dieser Behauptung eines »Geschäfts« um eine reine Erfindung Fortes. 2 9 I n der vorletzten Szene des Dramas, die am Ende des Bauernkrieges 1525 spielt, geht es Luther dann um »ein schönes Bauerngut« (S. 200). Bei Forte ist Luther durch seine fürstenfreundlichen Schriften wohlhabend geworden. Der Kurfürst gewährte mehrmals eine kräftige Gehaltserhöhung wie auch ein großzügiges Hochzeitsgeschenk und eben Geld für den Kauf des Gutes: in der modernen Literatur (Witten/Berlin, 1973), S. 19-87 und bei Walther v o n Loewenich, »Manipulierte Historie«, in Luther als Bühnenheld y op. cit., S. 20-48. 26 von Loewenich, »Manipulierte Historie« S. 31-32. 27

Ebd., S. 32.

28

Forte erklärt: »Ich habe mich fünf Jahre mit diesem Thema beschäftigt. M i r standen keine Geheimquellen zur Verfügung. Das vorhandene Material wurde in seiner ganzen Breite gelesen und durchgearbeitet.« (»Zur Methode«, S. 206). 29

18*

von Loewenich, »Manipulierte Historie«, S. 38.

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Frau Luther Dafür kaufen w i r ein schönes Bauerngut. Das ist eine gute Geldanlage. Luther Ja, Bauerngüter sind jetzt billig. (S. 200)

Forte suggeriert hier und an einer weiteren Stelle (S. 196), daß Luther am Tod der Bauern regelrecht verdient hat. 3 0 Aber nicht nur Luther, sondern auch die anderen historischen Figuren sind ähnlich verzerrt. So sind der Papst wie sein Legat Kardinal Cajetan Atheisten (S. 20 und S. 40), wobei Cajetan über die Bibel lediglich zu sagen weiß, sie sei »ein hübsches Buch, zugegeben, besonders wenn man nicht schlafen kann. Deswegen liegt es wohl auch immer in den Gasthäusern herum.« (S. 39) Und zur Ablaßproblematik läßt Forte gemäß seiner materialistischen Perspektive Cajetan gerade sagen: »Wichtig ist doch nur, daß Geld in die Kasse kommt.« (S. 38) Dieses Bild von Cajetan entspricht nun gar nicht dem, was man auch bei protestantischen Theologen an Hochachtung für diesen äußerst gebildeten und feinsinnigen Kardinal erfahrt. 3 1 Und auch Thomas Münzer, der positive Gegenpol zu Luther und der »Kapitalistengang« ist auf seine Rolle hin zugeschnitten, d. h. entsprechend verzerrt dargestellt, wie der Historiker Thomas Nipperdey in einem Aufsatz i m einzelnen nachgewiesen h a t . 3 2 Hatte Forte sein Stück mit einer Volksszene begonnen, an deren Ende der dritte Bürger sagt: Überhaupt geht nix über Geld. Was brauche ich da noch eine Meinung? (S. 7)

so waren damit Thema und einziger Blickwinkel dieses Dramas benannt. Es endet dann auch konsequent mit einer Apotheose des Geldes, wenn Fugger und sein Buchhalter über fünf Seiten hin das Kapital anbeten: Fugger O Kapital. Schwarz Erbarme dich unser. Fugger D u Anfang und Ende aller Dinge. Das du warst und bist und sein wirst. [...] Schwarz W i r bitten dich. Fugger Daß alle Menschen an dich glauben. Daß alle dich als ihren Schöpfer erkennen und anbeten. [...] (S. 201)

Es sei Forte unbenommen, das Reformationsgeschehen unter materialistischen Gesichtspunkten zu analysieren und aus dieser Perspektive dramatisch zu

30 Vgl. ebd., S. 45-46. 31

Vgl. bspw. die Diskussionsbeiträge von Professor Lohse in »Macht Fortes Stück Luther kleiner oder menschlicher?« [Podiumsdiskussion i m Hamburger Thalia-Theater v o m 2. M a i 1971], Theater heute, 6 (1971), S. 1 - 4 ; hier: S. 2. 32

Thomas Nipperdey, »Der manipulierte Müntzer«, in Luther als Bühnenheld, op. cit., S. 60-74.

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gestalten. Es sei auch nicht verschwiegen, daß diese Darstellung in der von ihm gewählten Form der Revue, die einen schnellen Wechsel von jeweils auf den Höhepunkt und die Pointe verkürzten Szenen bietet, immer wieder zum Lachen reizt. Fortes respektlosem Umgang mit Luther und den Mächtigen seiner Zeit fehlt es nicht an unmittelbarer Wirkung auf das Publikum. Durch Versatzstücke aus dem Kabarett wie beispielsweise die Karikatur des Kaiser Maximilian (S. 27 ff.) oder durch plötzliche Anachronismen wie die Aufzeichnung eines i m typischen Spiegel-Stil gehaltenen Interviews mit »Doktor Luther« (S. 146-150) bietet Forte Geschichte in Form von leicht goutierbaren Höhepunkten eines Dekouvrierungsspektakels, das den Zuschauer mit der Erkenntnis endäßt, daß der Kapitalismus einziger Motor der Weltgeschichte ist. Statt sich aber zu den Möglichkeiten des Theaters zu bekennen, die dem Dramatiker ja Manipulation und Karikatur zugestehen, hat Forte in den Jahren nach der Uraufführung mit einer seltenen Ausdauer darauf bestanden, nichts als die Wahrheit über Luther, Münzer und die Reformation verkündet zu haben. 3 3 Aufgrund des überzogenen Wahrheitsanspruchs muß Forte es sich dann gefallen lassen, wenn man die nachweislich mangelhafte Exaktheit als Bewertungskriterium für dieses Drama heranzieht. Daß die Gesellschaft damals allein einem Gott, nämlich dem Kapital, huldigte, daß die Reformation lediglich aus finanzpolitischen Opportunitätserwägungen zwischen Fugger, den Fürsten und dem Kaiser zustandekam, daß Kirche und Obrigkeit im Bauernkrieg eine unheilvolle Allianz bildeten und daß auch der große Reformator selbst auf seinen persönlichen materiellen Gewinn bedacht war, dies soll dem Zuschauer natürlich vertraut vorkommen. Die Gegenwartsbezüge durch die Sprache, aber auch durch bewußte Anachronismen (bspw. S. 203) sind deutlich genug: Nostra res agitur. Kein Fortschreiten zeigt sich also in der Geschichte, sondern ein immergleiches Ziel, nämlich die Machterhaltung des Kapitals. — Das vor 16 Jahren mit so viel Erfolg gespielte und als so autregend empfundene Drama w i r k t bei der heutigen Lektüre bereits als historisches Theaterdokument der bald legendären 68er Zeit. Hatte Forte in seinem Drama die Bedeutung Luthers für die Reformation deutlich heruntergespielt, so schreibt Yaak Karsunke drei Jahre später mit seiner Bauernoper ein Reformationsdrama, das ganz der Darstellung des Bauernkrieges gewidmet i s t . 3 4 Programmatisch vollzieht er die Wende von der Behandlung der Zentralgestalten der Reformation und w i l l statt großer Männer »die tatsächlichen Träger der historischen Aktion, also die Bauern in den Mittelpunkt [...] stellen.« (»Nachwort«, S. 117) So heißt es auch im Prolog:

33 34

Vgl. »Macht Fortes Stück Luther kleiner oder menschlicher?« . Yaak Karsunke, »Bauernoper«, in Bauernoperj Ruhrkampf-Revue (Berlin, 1980), S. 5-57.

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Die Geschichte wurde von Siegern geschrieben die sie verfälschten ganz nach Belieben und nach höchstdero eignem Ermessen — w i r vertreten heute mal die Interessen derer, die man grausam bezwungen und die trotzdem am Ende gesungen — als sie der Herren Verrat besiegt und sie genügend Schläge gekriegt — (g*r/0äg*//)>Geschlagen ziehen w i r nach Haus Die Enkel fechtens besser aus< (S. 7)

Karsunke präsentiert — teils i m direkten Kommentar, teils i n F o r m v o n dramatischen Kurzszenen — zunächst die wirtschaftlichen u n d sozialen Gründe, die die Bauern zu den Waffen greifen ließen, und läßt dabei eine Reihe v o n frühen Rebellen und Volksbewegungen Revue passieren, u m so eine Traditionslinie v o n Aufständen zu erstellen (S. 17-19, S. 35). E r zeigt dann verschiedene Stationen des Kriegsgeschehens v o n den anfanglichen Erfolgen der Bauern bis zum Verrat durch Truchseß v o n Waldburg und andere Fürsten, die sich nicht an die m i t den Bauern eingegangenen Verträge halten und diese grausamst niedermetzeln. A u c h i n der Bauernoper, die, wie Karsunke selbst angibt, ihre formalen Vorbilder i m »Arbeiter- und Politrevuetheater der Weimarer Republik« hat (S. 117), finden w i r die ganz eindeutige dichotomische Struktur v o n A r m = G u t versus R e i c h = B ö s als Grundlage und Erklärungsmodell des historischen Konflikts. D e m A u t o r geht es dabei aber offensichtlich v o r allem darum, die erste große deutsche Bauernerhebung für die Gegenwart fruchtbar zu machen und dazu aufzurufen, heute an eben diese Tradition wieder anzuknüpfen. So t r i t t am Ende des Stücks Truchseß, der Erzschurke des Dramas, noch einmal auf, diesmal aber als Repräsentant der heutigen, sehr vermögenden Familie v o n Waldburg, der vor den Zuschauern ausführlich die Besitztümer seiner Familie i n der Bundesrepublik aufzählt (S. 54-55). Das darauf folgende Schlußlied beendet die Agitprop-Revue erwartungsgemäß m i t einem A u f r u f zu kollektiver A k t i o n : W i r alle machen Geschichte Und keiner schafft es allein: Es können die Unterdrückten Sich nur selbst und gemeinsam befrein! (S. 55)

Geradezu als genaues Gegenstück zu Fortes salopper Reformationsrevue und Karsunkes Bauernoper, die den einfachen M a n n als gesellschaftliches Opfer der Reformation i n den M i t t e l p u n k t rückte, muß O t t h i n r i c h Müller-Ramelslohs Drama Martin

Luther v o n 1974 gelten. 3 5 Hier w i r d über fünf A k t e i n oft

schwerfälligen Versen ein einziger Lobgesang auf Luther gesungen. Wie zuvor 3

5 Otthinrich Müller-Ramelsloh, Martin Luther (Wien, 1974).

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Luther und die Reformation

bei Osborne und zum Teil bei Ahlsen begegnen uns auch hier wieder die bekannten Schlüsselszenen v o m Gespräch mit dem unverständigen Vater über Tetzeis Ablaßpredigt, den Thesen bis zu Worms und der letztendlichen Vaterund-Ehemann-Idylle, mit der das Drama — würdig untermalt vom Andante aus Beethovens Pastorale — ausklingt. Hier hat Luther keine Neurosen, nicht einmal Verstopfung, und statt von den Kapitalisten und Potentaten seiner Zeit hin und her bewegt zu werden, ist er selbst der große Beweger. So sagt ein anonymer Schreiber am Ende des als Höhepunkt gestalteten dritten Aktes, in dem Luther i n Worms vor dem Kaiser steht, über Luther: Alles Große, Neue, hat E i n einzelner zur Welt gebracht, E i n Schicksalswender, Lebensspender! (S. 53)

M i t so viel Ehrfurcht, wie sie Müller-Ramelsloh in seinem Drama gegenüber Luther zum Ausdruck bringt, hatte sich kein anderer Dramatiker seit 1945 dem Reformator genähert. Vor dem Hintergrund der anderen Lutherdramen lesen sich Teile dieses Stücks geradezu als unfreiwillige Parodie. Und auch hier w i r d wie in den meisten anderen Dramen zuvor der enge historische Rahmen transzendiert. Doch höchst beklemmend w i r k t es, wenn der Sprecher i m Prolog der gleichzeitig entstandenen Hörspielfassung über Martin Luther hinausgehend den Bezug zum deutschen Menschen schlechthin herstellt: Das geschichtliche Drama Martin Luther ist ein Drama des deutschen Menschen in seinem redlichen Ringen um die bestgelungene Selbstdarstellung, u m den mit allem Ernst betriebenen Selbstvollzug nach höchstmöglicher Sittlichkeit. Es ist ein Drama des Einzelmenschen Martin Luther, wie das seines Volkes, aus dem er geworden ist. (S. 3)

E i n Jahr später meldet sich auch Martin Walser mit einem Reformationsdrama zu W o r t . 3 6 Nachdem Forte bereits den Blick über den von ihm stark abgewerteten Luther hinaus auf Münzer und das sozialhistorische Umfeld der Reformation gelenkt und Karsunke kurz darauf den Bauernkrieg thematisiert hatte, geht es Walser in Das Sauspiel nun u m »die Stimmung der Jahre nach dem Bauernkrieg [...], die Stimmung also nach einer niedergeschlagenen Revolution.« 3 7 I n seinem Stück warten 17 in Nürnberg inhaftierte Täufer auf ihren Prozeß, während die in der Stadt versammelten Intellektuellen wie Dürer, Melanchthon, Faust, Hans Sachs und andere diesen historischen Fall diskutieren, ansonsten aber sich i m Wohlstand etablieren. W i r d Dürer dabei als erzkonservativer Künstler dargestellt, der vor allem an sicherer Geldanlage interessiert ist (S. 38 f.), so ist Faust ein 36 37

Martin Walser, Das Sauspiel: Svenen aus dem 16. Jahrhundert

(Frankfurt, 1978).

Martin Walser, »Entstehung des Stücks. Verhältnis zur Geschichte«, in Das Sauspiel , S. 158-160; hier: S. 159.

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Michael Göring

Alkoholiker und Schürzenjäger, dessen Pakt mit der Tiefe seit über 7 Jahren abgelaufen ist (S. 41) und der nun für die Nürnberger Patrizier die Montangeschäfte leitet. Alle Intellektuellen verkaufen sich an die Nürnberger Kapitalisten, auch Melanchthon und sogar Luther, der von Wittenberg aus ein historisch belegtes Placet zu einem Gutachten schickt, in dem er sich mit Melanchthon für die Hinrichtung der Täufer ausspricht und damit — wieder einmal — der Obrigkeit zu Diensten ist. So wie sich die Nürnberger Stadtsänger blind stellen, um höhere Einnahmen zu erzielen und um an einem v o m Magistrat der Stadt veranstalteten, nur von Blinden ausgeführten Saujagen teilzunehmen, stellen sich auch die Intellektuellen in dieser Blütezeit der Restauration nach den niedergeschlagenen Bauernunruhen »blind« und machen sich so am Schicksal der armen, brav-naiven, gefangenen Täufer mit schuldig. Der von Walser i m Nachwort ausdrücklich angesprochene Bezug auf die Entstehungszeit des Stückes zwischen 1973 und 1975 zielt auf die damalige Situation der Bundesrepublik ab, die als Zeit der Restauration nach den 68er Studentenunruhen verstanden wird, wobei die gefangene Gruppe der Täufer durchaus analog zu der Anfang der 70er Jahre gerade inhaftierten und auf den Prozeß wartenden Baader-Meinhof-Gruppe gesehen werden kann. 3 8 Noch einmal sollte die Person Martin Luthers in Karlheinz Komms 1983, i m 500. Geburtsjahr des Reformators, uraufgeführtem Drama Der Fall Luther i m Mittelpunkt eines Stückes stehen. 39 Ähnlich wie zuvor bei Ahlsen muß Luther auch hier Rechenschaft über sein Leben ablegen. K o m m kleidet das Drama in die Form eines Gerichtstribunals, das erst ganz am Ende des Stücks als Traum Luthers deutlich wird, der diesen wenige Tage vor seinem Tod plagt. I n der Gerichtsverhandlung steht Luther einem Ankläger gegenüber, der die Sache der Bauern vertritt, dabei aber in erster Linie stellvertretend für den unwissenden Zuschauer Luther eine Fülle von Fragen zu seinem Leben stellt. Diese werden i n Form von insgesamt 19 Spielszenen beantwortet, wodurch sich also auch in diesem Werk die gleiche Episodenstruktur ergibt, die schon Osbornes und Ahlsens Lutherdramen ausgezeichnet hat. Gemäß der Anklageerhebung des Verrats am Volk (S. 5) stehen vor allem i m zweiten Teil (»Beweisaufnahme« [S. 90]) die Ereignisse des Bauernkrieges i m Vordergrund. Den Greueltaten der Bauern an den Adligen in Weinsberg (S. 103 f.) stellt K o m m — recht ausgewogen

38

Vgl. die Anklageschrift S. 102-103 oder Hans Sachs' Vorschläge zur freiwilligen Überprüfung der persönlichen Daten S. 70-71, die deutliche Anklänge an die Situation in der Bundesrepublik 1973-75 beinhalten. 39

Karlheinz K o m m , Der Fall Luther (Vertriebsstelle und Verlag deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten, Norderstedt, o. J.).

Luther und die Reformation

281

— die Folter und Hinrichtung des Melchior Nonnenmachers durch die Fürsten gegenüber (S. 116 f.), wobei Luther stets seine unpolitische Grundhaltung beteuert. Dessen problematische Schrift »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern« läßt K o m m seinen Luther dadurch rechtfertigen, daß er nur mit ihr »den Bauern deutlich machen [konnte], daß ihr Aufstand in einen Krieg führen mußte, der sie verderben würde.« (S. 122) W i r d so einerseits aus der das fürstliche Morden gutheißenden Hetzschrift eine wohlmeinende, fürsorgliche Mahnschrift an die Bauern, so zeigt K o m m andererseits aber bei allem offensichtlichen Wohlwollen für Luther auch die Möglichkeit auf, daß gerade diese Streitschrift erst die lutherische Kirche hoffähig gemacht und entscheidend zu ihrer schnellen Verbreitung beigetragen hat (S. 126). *

Die Ausführungen haben gezeigt, wie unterschiedlich die zeitgenössischen Autoren von Geschichtsdramen auf die Reformationszeit antworteten. Von der dramatischen Form her läßt sich i m Vergleich mit der Allgemeinheit der Dramen nach 1945 kein bestimmtes formales Kriterium als allein spezifisch für die historischen Dramen festmachen. Auffallend ist jedoch eine den Geschichtsdramen seit altersher innewohnende Tendenz zur episodenhaften Struktur, die sich bei Forte und Karsunke zur Revue hin ausweitet, bei Ahlsen und K o m m dagegen in den Rahmen einer ArgumentationsSituation eingebunden ist. I m breiten Spektrum der unterschiedlichen Bewertungen der Person Luthers durch die Dramatiker dominiert eindeutig die kritische Sichtweise, wobei Fortes Drama 1970 die stärkste Provokation für das tradierte westdeutsche Lutherbild bedeutete und die heftigsten Diskussionen auslöste. Neben Dramen mit klarer Tendenz zur Enthistorisierung, die wie Bolt und Osborne aus den historischen Gestalten der Reformation idealisierte Selbstverwirklicher oder verstopfte Neurotiker machen, finden sich bei Forte und Walser Reformationsdramen, die — i m Gleichklang mit einer ganzen Reihe deutscher Geschichtsdramen der Gegenwart — vor allem ihren dokumentarischen Charakter betonen. Verstehen sich diese Stücke zwar als Geschichtswerke, die nun endlich die seit Jahrhunderten belogenen Zuschauer aufklären wollen, so wird doch schnell deutlich, mit welcher Hemmungslosigkeit diese Dramatiker die Geschichte ideologisieren. Die für die Reformation entscheidenden theologischen Aspekte nehmen i n den Reformationsdramen eine untergeordnete Stellung ein. Die gesellschaftlichen Ursachen und vor allem die Folgewirkungen der Reformation hingegen werden Anfang der 70er Jahre mit Ausnahme des Dramas von Müller-Ramelsloh von den Autoren sehr viel stärker als zuvor in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt. Hier zeigt sich eine ähnlich veränderte Präferenzsetzung, wie sie eingangs bereits für die allgemeine Geschichtsbetrachtung in der Bundesrepublik festgestellt

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wurde, wobei mehrere Dramatiker jedoch ein auffallend negatives Bild von Luther zeichnen, das in dieser A r t nicht in westdeutschen Schulgeschichtsbüchern zu finden ist. Wie schon 1953 der DDR-Dramatiker Wolf, so machen jetzt auch Forte und Karsunke deutlich, daß sie den Bauernkrieg als Anfang der deutschen Revolutionsgeschichte betrachten, die für W o l f i n der D D R i n ihre abschließende Phase eingetreten ist, die für die beiden bundesdeutschen Autoren aber nun unbedingt fortgesetzt werden muß. Anders als Forte und Karsunke sieht Walser jedoch in der Reformationsgeschichte vornehmlich den immer wiederkehrenden Zyklus von Revolution und Restauration und erst in zweiter Linie den Stoff für ein Thesendrama gegen den Kapitalismus. Die eindeutige Parteinahme für die Bauern in Fortes und Karsunkes Werken aus den frühen 70er Jahren wird 1983 bei K o m m schon wieder erheblich zurückgenommen und weicht einer eher neutralen Betrachtung, die Anklage und Rechtfertigung Luthers für sein Verhalten i m Bauernkrieg nebeneinanderstellt. Läßt sich bei Wolf, Ahlsen, Müller-Ramelsloh und auch K o m m eine progressive Geschichtssicht ausmachen, die die Veränderbarkeit betont, während bei Walser und auch bei Osborne und Forte eine eher zyklische Perspektive vorherrscht, so war es Dürrenmatt schon 1967 vorbehalten, all unseren Geschichtsmodellen gleichsam ironisch den Spiegel vorzuhalten und Geschichte als Theaterspiel zu fiktionalisieren. A l l diese Antworten haben gezeigt, welch starke Herausforderung gerade die Reformationszeit für die zeitgenössischen Autoren von Geschichtsdramen vor allem zwischen 1960 und 1975 bedeutete.

MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER V E R M I T T L U N G V O N GESCHICHTE I M FERNSEHEN* V o n Helmut Dotterweich Man möge es mir bitte nicht als Unbescheidenheit auslegen, wenn ich mit einer Anekdote aus meinem eigenen Arbeitsbereich beginne. Ich bin Redakteur für geschichtliche Programme beim Bayerischen Fernsehen und habe da vor einigen Jahren eine Sendereihe über die Kunst-Hinterlassenschaft der Wittelsbacher produziert: »Das Erbe der Wittelsbacher«. I n einer der zwölf Folgen stelle ich das Schloß Herrenchiemsee vor und berichte über den Zusammenhang zwischen dem Schloßbau Ludwigs II. und den Zahlungen Bismarcks an den K ö n i g aus dem Weifenfond. A m Tag, nachdem die Sendung ausgestrahlt worden war, hat mich eine mir bekannte Dame angesprochen, die Frau eines Arztes. »Ich hab' Sie gestern i m Fernsehen gesehen. I n einem Schloß. War das Potsdam, Sanssouci?« Ich erzähle das nicht, um unsere Zuschauer zu denunzieren, sondern weil mir diese Reaktion ein Indiz dafür zu sein scheint, wie skeptisch wir Fernsehleute die Erfolgsmeldungen unserer Zuschauer-Erhebungen beurteilen müssen, die wöchentlichen Indexzahlen, die, entsprechend den Methoden der Demoskopie, auf der Basis repräsentativer Messungen ermittelt werden. 1 Ich erwähne es auch, weil ich meine, daß eine Reaktion wie die geschilderte zumindest ein Hinweis darauf sein muß, mit welchem Maß an Zerstreutheit wir bei unseren Zuschauern rechnen müssen. Wie gedämpft unsere Hoffnung sein muß, unsere Sendungen könnten etwas zur Belehrung, zur Erweiterung des Wissens und zur Vertiefung des Verständnisses beitragen, nicht nur zur Unterhaltung in müßigen Stunden. Das wird besonders deutlich, wenn man den Fernsehzuschauer mit dem Theater- oder Kinobesucher vergleicht. Der Fernsehzuschauer befindet sich in den allermeisten Fällen in einem privaten Milieu. Er wechselt i m allgemeinen von einer Situation des häuslichen Lebens unmittelbar zum Fernsehkonsum. Er ist dabei allen Störungen, wie sie das häusliche Leben mit sich bringt, ausgesetzt, hat nicht nur mit Unterbrechungen durch Mitanwesende zu rechnen, sondern kann

* Der Vortrag ist die überarbeitete Fassung eines Aufsatzes: »Geschichte i m Fernsehen: Überlegungen zum Programm, zur Bedeutung des Erzählerischen, zur Rolle der Landesgeschichte und zum Verhältnis von Wissenschaft und Medium«, in: Land und Reich, Stamm und Nation. Festgabe für Max Spindler , (München, 1984) S. 175-188. 1

Wochen-Berichte der G F K Fernsehforschung G m b H . & Co. K G .

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Helmut Dotterweich

auch selbst nach Belieben das Zuschauen unterbrechen. Er kann sich überdies gleichzeitig anderweitig beschäftigen, ja er kann sogar fernsehen und nebenbei lesen. Überdies ist es ganz in sein Belieben gestellt, wann er beginnt, eine Sendung zu sehen und wann er damit aufhört. Er kann freilich auch, sofern er einen VideoRecorder besitzt, das Gesehene speichern und dann beliebig oft wieder sehen. Ganz anders der Theater- oder Kinobesucher. Dem Besuch geht eine ganz andere, intensivere Erwärtungshaltung voraus. Nicht selten kleidet sich der Theaterbesucher vorher um und erlebt damit die mit einem solchen Vorgang verbundene psychische Verwandlung. Der Theaterbesucher ist gestimmt, etwas Außergewöhnliches zu erleben, selbst wenn er das Theater häufig besucht. Die gleichzeitige Anwesenheit vieler anderer Menschen i n ähnlicher seelischer Lage steigert diese Erwartungshaltung. Dazu kommt das Besondere der Räumlichkeiten, der Wechsel von der gewohnten häuslichen Alltäglichkeit zum Außergewöhnlichen eines öffentlichen Orts. Die gemeinsame Aufmerksamkeit des Publikums fördert auch die Aufmerksamkeit des Einzelnen. Die einzige Möglichkeit, dem Gebotenen nicht zu folgen, ist das Einschlafen, das aber durch spontane Reaktionen der übrigen Besucher, sei es allgemeines Gelächter oder auch außergewöhnliche, gespannte Stille, erschwert wird. Selbst wenn er wollte, kann sich der Theaterbesucher der Darbietung nur schwer entziehen. Das Verlassen des Theaters während der Vorstellung wird dadurch erschwert, daß dabei die übrigen Besucher empfindlich gestört werden. Das Weggehen während der Pause wird nicht selten dadurch gehemmt, daß der Theaterbesucher für die jeweilige Vorstellung eigens bezahlt hat und ihn die Ausgabe reuen würde, i m Gegensatz zum Fernsehzuschauer, der für das Angebotene während eines gewissen Zeitraums pauschal bezahlt. Auch die mit einem Theaterbesuch verbundenen Vorbereitungen, das oft mühselige Besorgen der Eintrittskarten, das vorhergehende Studium des Spielplans, das schon erwähnte Umkleiden, der oft lange Anmarschweg, wirken hemmend auf den Entschluß, ein einmal begonnenes Unternehmen dieser A r t vorzeitig abzubrechen. I m Gegensatz zum Theater hat es das Fernsehen mit einem außerordentlich amorphen Kreis von Rezipienten zu tun, mit Zuschauern der unterschiedlichsten Voraussetzungen des Bildungsstands und Erwartungshorizonts, während das Theaterpublikum gewissermaßen vorsortiert ist. Nach wie vor wird das Theater vornehmlich von gebildeten oder bildungswilligen Menschen besucht, die überdies weit weniger spontan als der Fernsehzuschauer darüber entscheiden, was sie sehen oder nicht sehen wollen und dementsprechend das begonnene Unternehmen nur selten vorzeitig abbrechen. I m Rahmen dieser qualitativ-einschränkenden Bedingungen ist das Fernsehen heute gleichwohl mengenmäßig der gewichtigste Vermittler von Geschichtsstoff. Auch nicht die illustrierte Presse mit ihren Massenauflagen erreicht ein so großes

Vermittlung v o n Geschichte i m Fernsehen

285

Publikum, wenn sie sich geschichtlicher Themen annimmt. 2 Das Fernsehen hat die Rolle der Armen-Bibel des Mittelalters, der Flugblätter der frühen Neuzeit, der Jahrmarkts-Volksbücher und der historisch-patriotischen Erbauungsliteratur des 19. Jahrhunderts übernommen. Einige Zahlen mögen das belegen: Eine Sendung über »Das Land der Pharaonen« am 16. November 1985 wurde in 35 % aller Haushalte eingeschaltet, die über ein Fernsehgerät verfügen; das entspricht etwa 14 Millionen Zuschauern. Eine Sendung des Bayerischen Fernsehens über bayerische Landes-Archäologie am Pfingstmontag 1985 wurde von 400 000 Zuschauern gesehen, nahezu eine M i l l i o n verfolgten i m gleichen Jahr am Samstag vormittag eine Sendereihe über die Nibelungen, eine halbe M i l l i o n nachts um 11 Uhr eine Sendung über den Vertrag von Locarno, um ein Beispiel aus der neueren Geschichte zu geben, elf Millionen Zuschauer wurden bei einer Sendung über das Urteil von Nürnberg registriert und eine Menge zwischen einer Viertel- und eineinviertel Millionen sieht regelmäßig die Sendung »Zeugen des Jahrhunderts«, die zweimonatlich v o m Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt w i r d . 3 Die Sendeformen, in denen das Fernsehen Geschichte vermittelt, reichen von strengen Dokumentationen bis zum Spielfilm. Mengenmäßig führen die Sender der A R D , der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands, weil sie außer den Beiträgen der einzelnen Sender zum Gemeinschaftsprogramm, dem Ersten Programm, auch noch entsprechende Sendungen i m jeweiligen eigenen Regionalprogramm in ihren eigenen Sendebereichen ausstrahlen. Neben hunderten von Einzelsendungen in Form von Dokumentationen, Lehr Sendungen i m Rahmen des Schulfernsehens und des Telekollegs, Fernsehspielen mit historischen Inhalten und, wie gesagt, einschlägigen Spielfilmen, ist die Geschichtslandschaft des deutschen Fernsehens vor allem von zahlreichen vielteiligen Serien geprägt, die besser als die Einzelsendung in der Erinnerung haften. Ich erinnere an 15 Folgen »Das Dritte Reich« am Anfang der sechziger Jahre, an die siebenteilige Reihe »Die Weimarer Republik«, an 26 Folgen über den Ersten Weltkrieg, an acht Sendungen »Europa unter dem Hakenkreuz« 1982, an eine Serie »Abenteuer Bundesrepublik«, an die Serie »Die Deutschen im Zweiten Weltkrieg«. Dann gibt es, praktisch seit den Anfängen des Fernsehens, die Reihen, in denen Zeitgenossen als Geschichtszeugen befragt werden. »Zeugen des Jahrhunderts« werden seit den sechziger Jahren bis heute ausgefragt, andere

2

Hans Süssmuth, »Erzählte Geschichte in der Massenpresse« in: Historisches Erzählen

(Göttingen, 1982), S. 171. Vgl. Anm. 1.

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Sender vernehmen »Zeugen der Zeit« oder lassen »Augenzeugen berichten«. Viele Titel für die gleiche Sache.4 Vorrang der Zeitgeschichte Ein Überblick nicht nur über die genannten Reihen weist aus, daß die jüngste deutsche Geschichte i m Fernsehen Vorrang genießt. 5 Das hat mehrere Ursachen. Da ist einmal die leichte Verfügbarkeit einer unermeßlichen Anzahl von Bildern in Form von Filmen und Fotografien, die dem Medium entgegenkommt. Dann ist nicht gering anzuschlagen die Möglichkeit, noch lebende Zeitgenossen der jüngsten Vergangenheit und historisch relevanter Ereignisse zu befragen und vorzustellend Besonders wichtig scheint mir aber auch das gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihrer neuesten Vergangenheit, die unablässig Fragen provoziert. 6 Dem Mangel an positivem Sinn der jüngsten deutschen Geschichte entspricht ein immerwährendes bohrendes, anklagendes Dokumentieren. Dazu kommt, daß die deutsche Geschichte, wenn man von der vorstaufischen Zeit absieht, keine Nationalgeschichte kennt, sich auffächert in die Geschichte einzelner Territorien, die keinen Anspruch auf das Interesse der gesamten Deutschen erheben können, zur Nationalgeschichte erst wieder mit dem Beginn des Bismarck-Reiches wird, i m weitesten Sinn also in der Phase, mit der sich die Zeitgeschichte und das Fernsehen beschäftigen. Ernst Nolte hat in einem Aufsatz i n der Frankfurter Allgemeinen Zeitung jüngst einen weiteren, bedenkenswerten Gesichtspunkt dafür genannt, warum Zeitgeschichte, vor allem die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, einen so breiten Raum einnimmt. Er fragt, ob es sich dabei nicht auch um Auswirkungen des latenten Vater-Sohn-Konflikts handle, sowie u m ein Manöver zur Ablenkung von Gegenwartsproblemen. Er meint, daß es doch eigenartig sei, wie oft an die Euthanasie i m Dritten Reich und wie wenig an die Pflicht zum Schutz des ungeborenen Lebens in unserer Zeit erinnert werde. 7 4 Eine Statistik der Geschichts-Sendungen des Fernsehens gibt es nicht. Der Fernsehdirektor des Westdeutschen Rundfunks meint, daß allein die Dokumentationen zur NS-Zeit »in die Nähe des Vierstelligen« reichen. Das scheint mir übertrieben. Heinz-Werner Hübner, »die Welt v o n gestern, Zeitgeschichte i m Fernsehen«, ARD-Jahrbuch, 81, S. 48. 5

»Zeitgeschichte geht vor Sozialgeschichte, deutsche Geschichte vor europäischer, europäische vor Weltgeschichte; Sendungen über Antike und Mittelalter finden sich seltener, populäre Stoffe werden eher i m Gemeinschaftsprogramm der A R D , >wissenschaftliche< Themen bevorzugt i m Dritten Programm behandelt«. Erhard Klöss (Redakeur beim W D R ) , »Kriterien für historische Programme«, Geschichte fernsehen, 2,1983, S. 28; Dazu und über die Ressort-Zuständigkeiten beim Z D F : Guido K n o p p , »Zeitgeschichte i m ZDF«, Geschichte fernsehen, 1, 1982, S. 34. 6 K a r l Dietrich Bracher, »Geschichte und Medium, Gedanken zum Verhältnis v o n Fernsehen und Geschichtsbewußtsein«, aus politik und Zeitgeschichte (beilage zur wochenzeitung das Parlament B. 8/80), 1980, S. 4. 7

Ernst Nolte, »Vergangenheit, die nicht vergehen will«, FAZ y

1986, N r . 128, S. 25.

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287

M i r scheinen solche Überlegungen nicht abwegig, wenn ich an den didaktischen Eifer mancher meiner Kollegen denke, die utilitaristisch ihre Arbeit nur für sinnvoll halten, wenn aus der Kenntnis der Vergangenheit eine unmittelbare Nutzanwendung für die Gegenwart gewonnen werden kann, was Thomas Nipperdey zu der Bemerkung veranlaßt hat, dabei komme »ein etwas sauertöpfisches Belehrungspathos heraus«, bei dem alles als Vorgeschichte der Gegenwart gesehen wird und nichts seinen eigenen Wert hat. 8 Jedenfalls haben viele Redakteure des deutschen Fernsehens den »Abschied von der bisherigen Geschichte«, den Alfred Weber 1946 postuliert hat, auf ihre Weise vollzogen. Die für die Erklärung der Gegenwart herangezogene Vorgeschichte reicht allerdings i m allgemeinen nicht weit zurück, kaum jemals über die Mitte des 19. Jahrhunderts, so als ob die ältere Geschichte nichts zur Erkenntnis des Menschen über seine Daseinsbedingungen beitragen könne. Das hängt auch damit zusammen, daß manche Fernsehredakteure deutsche nationale Identität ausschließlich in der Tradition der demokratischen Linie der deutschen Geschichte sehen, was bedeutet, daß für sie deutsche Geschichte erst in Hambach beginnt. 9 Parallel dazu ist eine latente Neigung zu erkennen, die herkömmlichen geschichtsmächtigen Kräfte zu negieren und an ihrer Stelle »Geschichte von unten« zu zeigen, wobei es selten ohne ein gewisses anklägerisches Pathos gegen »die bisherige Geschichtsbetrachtung« abgeht. 1 0 Der Versuch, die jüngste Vergangenheit zu verstehen, endet oft in allgemeinen Schuldzuweisungen mit der Gefahr latenter »massiver Drohgebärden« 11 und verkürzt dargebotenen monokausalen Beweisketten. 12 Was fehlt, sind nicht nur 8 Thomas Nipperdey bei der Podiumsdiskussion am Würzburger Historikertag 1980 »Geschichte in den Medien«, in: Geschichtswissenschaft und Massenmedien 1 (Gießen, 1981), S. 40. 9

»Denn nur wenn es gelingt, diese Tradition in der demokratischen Linie deutscher Geschichte zu finden, in der Tradition von Hambach 1832 und von Frankfurt 1848, nur dann kann die Bundesrepublik auch geistig zu sich selbst finden, ...« Guido K n o p p (Redakteur beim Z D F ) in Fragen %ur Zeit. Das Buch zur ZDF-Reihe, I I I (Aschaffenburg, 1983), S. 7. 10 E i n jüngstes Beispiel der Bericht über die Dreharbeiten zur Serie »Preußen« des W D R . Der A u t o r Menge hat nach eigenen Aussagen »intensiv in Quellen gewühlt [!], u m die sich Experten bislang wenig gekümmert haben. Denn er wollte die Welt des kleinen Mannes in Preußen zeigen und nicht die übliche Geschichtsbetrachtung>von oben< betreiben«. Die Welt, 1983, Nr. 215, S. 16. 11 Michael Stoffregen-Büller (Chefredakteur Fernsehen des Hessischen Rundfunks). »Wie soll das Fernsehen deutsche Vergangenheit bewältigen«, Notizen %um ARDProgramm (München, 1977), S. 75. 12

z.B.: »Warum habt ihr Hitler nicht verhindert« ( Z D F 1983). Guido Knopp/Bernd Wiegmann, Warum ... Fragen an Mächtige und Ohnmächtige (Fischer Taschenbuch 3476). Z u r Sendung: Andreas Hillgruber, »Zur ZDF-Sendung >Warum ...Normalität< möglich«, Stoffregen-Büller, Notizen, S. 70 (vgl. A n m . 11). 15

"

Bracher, Geschichte und Medium, S. 5 (vgl. A n m . 6). Ebenda, S. 6.

17 V g l . A n m . 7.

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hat das Fernsehen auf den Plan gerufen. So wurde von den Programmdirektoren der A R D beschlossen, eine zwölfteilige Folge zur deutschen Geschichte produzieren zu lassen, die i m frühen Mittelalter beginnen und bis zur Zeit des Nationalsozialismus reichen soll. 1 8 Die Begründung, warum gerade jetzt eine solche Serie zur deutschen Gesamtgeschichte in Angriff genommen wird, lautet: »Weil das nationalgeschichtliche Interesse der Zuschauer zugenommen hat« und »weil die D D R dabei ist, die deutsche Geschichte und ihre herausragenden Personen für sich und ihren Staat zu beanspruchen«. Bismarck und Friedrich II. tauchen über Nacht wieder als geschichtswürdig auch für das Fernsehen auf und werden als Desiderate des Programms entdeckt. Sie sollen die Plätze einnehmen, die während der Emanzipationseuphorie der sechziger und siebziger Jahre und während der sozial-liberalen Koalition dem Pfeifer von Nikiashausen und Thomas Müntzer vorbehalten waren. Eine »Wende« also auch i m deutschen Fernsehen.

Der Fluß der Bilder Das Fernsehen stützt seine Überzeugungskraft bei der Darstellung der Geschichte dieses Jahrhunderts, vor allem des Nationalsozialismus, des Faschismus und inzwischen auch bereits der Nachkriegszeit vornehmlich auf die Wirkung der ungeheuren Masse von vorhandenen Film-Bildern. Da das Bild aber für sich kaum eine über das unmittelbar Gegenständliche hinausgehende Aussage liefert, sondern immer der Interpretation bedarf, müßten die laufenden Bilder unentwegt erklärt und aufgeschlüsselt werden, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen. Gleichzeitig erfordert der Fluß der Bilder aber auch eine dichtgedrängte Information über den Ablauf des Geschehens. Beides zugleich, Interpretation des Sinngehalts und Handlungserklärung, sind aber in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit, die nach Sekunden bemessen wird, nicht zu leisten. So bleibt das Bilddokument fast immer unaufgeschlüsselt und erschließt sich richtig eigentlich nur dem, der die gezeigten Situationen aus eigener Anschauung in Erinnerung hat oder dank seiner Bildung zur Entschlüsselung fähig i s t . 1 9 W i r haben bei der Arbeit an einem Film über die Hitlerjugend für das Schulfernsehen diese Problematik in der Weise erlebt, daß die vorhandenen Bilder sehr oft genau den gegenteiligen Eindruck dessen vermittelten, was über die Hitlerjugend ausgesagt werden sollte. 2 0 Drill, geistige Bevormundung, die 18

Sitzung der »Arbeitsgemeinschaft Geschichte« der A R D v o m 1. 2.1984.

19

»Lernmöglichkeiten vor allem für Zuschauer, die ohnehin Zeichen und Symbole zu entschlüsseln vermochten und sie einordnen konnten in konkrete Bezüge« Hertha Sturm, »Die Bedeutung von Anschauung und Begriff für die politische Sozialisation«. Überlegungen nach Holocaust, Hessische Blätter für Volksbildung 3, 1981, S. 213. 20

19

Edeltraud Glaser. Begeistert — Gedrillt — Betrogen, Die Hitlerjugend, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 28. Bd.

BR, 1982.

290

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Entfremdung v o m Elternhaus und von überlieferten Bindungen, die Vorbereitung der Jugend auf den Kriegseinsatz erschienen in den Filmen aus der Zeit des Dritten Reiches als Ordnung, Sauberkeit, mitreißende sportliche Attitüde und gläubige Begeisterung, Wirkungen, die auch durch einen darübergesprochenen Kommentar nicht ohne weiteres eliminiert werden können. Eine Korrektur war erst durch einen »Zeitzeugen« zu erreichen, der die einzelnen Abschnitte der Sendung mit kurzen Berichten über seine eigenen Erlebnisse relativierte. 21 Solche als »didaktisch-schulfernsehmäßig« bezeichnete Hilfestellungen verweigern die i m Abendprogramm laufenden Dokumentarsendungen jedoch dem Zuschauer. So bleibt zu fragen, ob die zwangsläufig ständig wiederkehrenden Marschkolonnen, rollenden Panzer und heulenden Stukas wirklich jenen Abscheu vor dem Dritten Reich vermitteln, den der Kommentar suggerieren will. I m Zusammenhang damit muß auch ein Problem angesprochen werden, das die »Haftfähigkeit« des Gezeigten betrifft. Nicht wenige Redakteure und Regisseure neigen zu der Meinung, daß die Aufmerksamkeit des Zuschauers am besten dadurch gewonnen und erhalten werden kann, daß ihm in möglichst kurzer Zeit möglichst viele, und dazu möglichst wirkungsvolle, Bilder angeboten werden. Technisch bedeutet das, daß das Filmmaterial »kurz geschnitten« wird, einzelne Einstellungen kaum länger als mit drei Sekunden bemessen werden, ja bis auf Sekundenlänge reduziert werden. Diese auf den Sinnenreiz des Zuschauers berechnete Methode hat sich vor allem beim Werbefilm entwickelt und wird als Stilmittel besonders stark i m Fernsehen der USA eingesetzt, um Zuschauer an das jeweilige Programm zu fesseln. Dazu gehört auch die Methode, möglichst überraschend, unvermittelt die Szenen zu wechseln, so daß ein Überraschungseffekt schnell den anderen ablöst. Eine jüngste Untersuchung 2 2 indes zeigt, daß länger andauernde Wirkungen damit beim Zuschauer nicht zu erreichen sind, ja geradezu der gegenteilige Effekt eintritt, wenn es sich nicht nur u m das oberflächliche Einprägen bestimmter Namen oder Produkte handeln soll wie beim Werbefernsehen. Sinnzusammenhänge, Verständnis können auf diese Weise nicht vermittelt werden, ihre Vermittlung braucht, ganz i m Gegensatz dazu, vielmehr bewußt eingesetzte Zäsuren, kleine Pausen, die ein Absinken des Gesehenen, ein Speichern zur Weiterverarbeitung i m H i r n ermöglichen. Dazu kommt ein weiteres Problem: der hohe Grad von Selektivität, der dem überlieferten Bildmaterial anhaftet. Festgehalten ist i m allgemeinen nur das, was den damaligen Zeitgenossen überliefernswert und jeweils zugänglich war. Das wurde z. B. i n der Sendereihe »Abenteuer Bundesrepublik« deutlich, i n der ein Bild der Nachkriegszeit vermittelt wird, das sich in hohem Maß, jedenfalls i n den 21 22

Hertha Sturm berichtet über die gleichen Erfahrungen. V g l . A n m . 19.

Hertha Sturm, Peter Vitouch, Marianne Grewe-Partsch. »Medienvermittelte Pausen und Lerneffekte«, Unterrichtswissenschaft, 1986, N r . 2, S. 111-125.

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suggestiven Teilen, den Auswahlkriterien der Wochenschauen unterordnet. Fragt man nach der vermutlichen Wirkung solcher Geschichts-Darstellungen, insbesonders dann, wenn eine erzieherische Absicht damit verbunden ist, so stellt sich heraus, daß viele dieser Sendungen entschieden i m Widerspruch zu Untersuchungsergebnissen der Psychologie und der MassenkommunikationsForschung stehen. Hertha Sturm, die entsprechende Untersuchungen vorgenommen hat, meint, daß das Überstülpen abstrakter Begriffe über Bilder Lernmöglichkeiten nur für die Zuschauer bietet, die ohnehin fähig sind, Zeichen und Symbole zu entschlüsseln, und sie in konkrete Bezüge einordnen können. W i r d dieser Bezug zum Konkreten nicht hergestellt (in der genannten Hitler-JugendSendung beispielsweise der ehemalige Hitler junge, der seine eigene Erfahrung schildert), dann werden begriffliche Hülsen vermittelt. »Es geht um die Bereitstellung von Konkret-Nachvollziehbarem, von Differenziert-Erfahrbarem und Vielfaltig-Denkbarem, nicht aber u m das Überstülpen von aktuellen Begrifflichkeiten«. 23 Sturm glaubt auch, auf Grund ihrer Untersuchungen feststellen zu können, daß die »allzu direkte Ansteuerung einer erwünschten Wirkung auf den Rezipienten vermieden werden sollte«. Eine Forderung, die ebenso ideologische Vor-Fabrikate wie stereotypes medienvermitteltes Besserwissen ausschließt. »Es geht darum, dem Rezipienten die Freiheit zu lassen, sich in einem politischen Labyrinth selber zurechtzufinden« 24 , so daß er auch eigene gedankliche Entscheidungen treffen kann, anstatt der überhitzten Intellektualität von Besserwissern ausgeliefert zu sein. Ebenfalls auf Hertha Sturm geht eine andere Erkenntnis zurück, daß nämlich »das eigentlich Medienspezifische die stabilen emotionalen Eindrücke sind, die — wegen ihrer Dauer — emotionalen Bindungen gleichkommen«. 25 Sie verweist dabei auf die Wirkung der Serie »Holocaust«, die eine »gewisse emotionale Verläßlichkeit« geschaffen habe, indem sie die Möglichkeit geboten hat, »sich mit den handelnden Personen und ihren Schicksalen zu identifizieren«. 26 Einer der führenden deutschen Mediävisten, Horst Fuhrmann, zielt i n die gleiche Richtung, wenn er meint, daß der große Erfolg der amerikanischen Serie »Holocaust«, die so viele deutsche Fernsehredakteure ratlos und, angesichts ihrer eigenen Bemühungen auf diesem Gebiet, auch etwas ärgerlich gemacht hat, einfach darauf zurückzuführen ist, daß hier eine tiefere menschliche Schicht angesprochen ist. »Wo schaffen, wo fassen wir den Menschen i n der Existenz, nicht i m Wissen. Der Intellekt macht gar nichts. Denn vieles haben die vorher 23

Sturm. Holocaust, S. 217 (vgl. A n m . 19).

24

Ebenda, S. 216.

25

Hertha Sturm, Peter Vitouch u. a. »Emotion und Erregung — Kinder als Fernsehzuschauer«. Eine psychologische Untersuchung«, Fernsehen und Bildung, , 16, 1982, S. 1 - 3 . 2

* Vgl. A n m . 19.

19*

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schon gewußt«. 2 7 Karl Dietrich Bracher kommt zu dem gleichen Ergebnis. Er meint: »Bedenken müssen doch auch der Tatsache Rechnung tragen, daß es in einer Geschichtsdarstellung für das große Publikum u m mehr geht als um intellektuelle oder antiquarische Wissensaneignung. Geschichte als Gedächtnis der Menschen will, ausgesprochen oder nicht, die moralischen Wertfragen zur Anschauung und Entscheidung stellen, die zur Orientierung und Ortsbestimmung der Gegenwart beitragen. Und hier besitzt die emotionelle Komponente der geschichtlichen Anschauung, das Angebot zur Identifikation mit menschlichen und politisch-gesellschaftlichen Schicksalen, eine wesentliche Bedeutung. Gerade unser zerspaltenes, verunsichertes Bild der Vergangenheit verlangt danach, daß hinter den Dokumenten auch die menschliche Dimension, das menschlich Verständliche wie das Unverständliche erscheint, daß die Bedeutung nicht nur des Staates und der Gesellschaft oder der Klassen und der Nation, sondern die Empfindungen des einzelnen, der Familie, der namenlosen Durchschnittsbürger ebenso wie der geschichtlichen Figuren verständlich, nachfühlbar gemacht werden. Hier liegt die Chance der Literatur und des Films, die Chance des Fernsehens zumal, das über die verschiedenen Darstellungsformen verfügt.« 2 8

Die Bedeutung des Erzählerischen I m Widerspruch zu dem aufklärerisch volkserzieherischen Hauruckverfahren vieler zeitgeschichtlicher Sendungen bedeutet das nichts anderes, als daß die »narrative« Geschichte ihren Platz haben muß, wenn Geschichte am Menschen nicht ablaufen soll wie der Regen an der Ente. Die Erzählung in der Geschichte, die dem Verdikt modischer Didaktiker zum Opfer gefallen war und nicht nur in der Schule, sondern auch i m Fernsehen an den Rand gedrängt worden ist, fordert wieder ihren Platz. 2 9 E i n Modell, wie zeitgeschichtliche Themen in ebenso informativer als auch emotionell bewegender Weise »erzählend« gestaltet werden können, hat, um ein Beispiel zu nennen, Eberhard Fechner geliefert mit der Sendung »Nachrede auf Klara Heydebreck« ( N D R 1970), wo die Schilderung eines Lebensschicksals zugleich die gesellschaftlichen Zusammenhänge, den Zerfall von Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen, die Isolierung des Menschen in der heutigen Gesellschaft verdeutlicht. Ähnlich seine Sendung »Unter Denkmalschutz« (HR 1974), in der sich Bewohner eines Frankfurter 27 »Geschichte in den Medien«, 48 (vgl. A n m . 8); Ähnlich: K n u t Hickethier, »Fiction und Fact. Das Dokumentarspiel und seine Entwicklung bei Z D F und A R D « in: Fernsehsendungen und ihre Formen (Stuttgart 1979), S. 67 f. 28 29

Bracher, Geschichte und Medium, S. 5. V g l . A n m . 6.

Siegfried Quandt und Hans Süssmuth, Hrsg., Historisches Funktionen, (Göttingen, 1982).

Erzählen, Formen und

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Bürgerhauses erinnern und ihre Lebensläufe beschreiben. I n diese Kategorie gehört etwa auch der dokumentarische Film von Erika Runge »Warum ist Frau B. glücklich?« ( W D R 1968). Durch die Reduktion auf individuelle Schicksale wird für viele Zuschauer Geschichte unmittelbar einsichtbar, erfaßbar und sowohl emotional als auch kognitiv zugänglich. Die »Zeugen-Aussage« schafft allerdings wieder eigene Probleme, denn sobald sie als Untermauerung für allgemeine Aussagen dient, sind an sie die gleichen Anforderungen zu stellen wie an jede historische Quellenkritik, z. B.: wie weit vermischen sich Erinnerung und spätere Erkenntnisse, stehen subjektive individuelle Erinnerungen i m Einklang oder i m Widerspruch zu objektivem Wissen, leitet den »Zeugen« ein persönliches Interesse. Die »Lebensgeschichten« der genannten Programme reichen ausnahmslos in unsere Zeit herein. I m Gegensatz dazu arbeitet Gertrud Diepolder i m Schulfernsehen des Bayerischen Rundfunks mit an Einzelpersonen gebundenen, erfundenen, aber quellennahen Situationen und Verläufen aus früheren Zeiten, die als Szenen in die Darstellung der allgemeinen Befunde eingearbeitet sind, so daß sich Analyse und Erzählung ergänzen. 30 Das aus den Quellen gehobene historische Wissen wird dramaturgisch in Leben zurückverwandelt. Die Bedeutung des Erzählerischen in der Geschichte zeigt sich generell darin, daß sich Dokumentarspiele und Kostümfilme mit historischem Inhalt größerer Beliebtheit beim Publikum erfreuen als Dokumentationen. Das Fernsehspiel und das Dokumentarspiel leisten einen beträchtlichen Anteil bei der Vermittlung historischen Wissens, selbst dann, wenn sie ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Unterhaltung ins Programm eingebracht werden. Das Dokumentarspiel, das seine Wurzeln im Dokumentartheater der Nachkriegszeit hat (Hochhuth, Der Stellvertreter — Kipphardt, In Sachen Robert Oppenheimer u. a.) wurde zu einer fernsehspezifischen Gattung zum Transport historischer Inhalte, ebenso wie das meist aus epischen Vorlagen gewonnene Fernsehspiel. 31 Das bisher Gesagte kreist wesentlich um die Probleme bei der Vermittlung von Zeitgeschichte. Wie aber steht es um die Neuzeit, um ältere Geschichte, um Mittelalter und Antike. Es überrascht, daß sich die Fernseh-Kollegen, die Mittelalter und Alte Geschichte gern meiden, ausgerechnet auf das Zeugnis eines der führenden deutschen Mediävisten berufen können, von Horst Fuhrmann, Präsident der Monumenta Germaniae Historica, der meint, die Mediävisten seien von der »Gegenwartserklärung total abgeschnitten«. 32 Stimmt das? Ist nicht unsere Welt, in der wir leben, zutiefst geprägt von den Spuren vergangener Jahrhunderte, i m Bereich der Siedlungsgeschichte, der Sozialgeschichte, der 30

z.B. »Gesellschaftsgeschichte«, 1 - 9 , 1972ff.

31

Grundsätzliches dazu von Hickethier, »Fiction und Fact« (vgl. A n m . 27).

32

»Geschichte in den Medien« 42 (vgl. Anm. 8).

Helmut Dotterweich

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Kunsttopographie, alter Herrschaftsstrukturen, der Sprachgeographie, der Religionsgeschichte, der Ethnik? N u r wer das Land und seine Menschen als ungegliederte Masse begreift, kann alle diese Befunde, die dem aufmerksamen Beobachter auf Schritt und Tritt begegnen, ignorieren. M i r scheint, die Abstinenz hat einfache Gründe. Die Mehrzahl der Redakteure, die sich mit Geschichte im Fernsehen beschäftigen, sind weder in Alter Geschichte noch in Mittelalterlicher Geschichte ausgebildet. Weil aber das große Reservoir der Vergangenheit für das Fernsehen nicht unbenützt bleiben kann, kommt es häufig zum Ausweichen auf das unverbindliche Gebiet der Kunst. Dann erscheint Geschichtp subsumiert in Sendereihen wie »Das Erbe der...«, »die Ursprünge des ...« oder »Auf den Spuren von ...«. Insgesamt fehlt ein »personell dicht besetzter Geschichtsjournalismus«, stellt Siegfried Quandt i n Gießen fest. 3 3 Ein Indiz in dieser Richtung hat ein ehemaliger Direktor des Westdeutschen Fernsehens i m Zusammenhang mit Überlegungen über Geschichte i m Fernsehen geliefert, als er, ohne Widerspruch zu finden, K a r l den Großen »einen frühen europäischen Touristen« nannte, »für den Besichtigung einer Landschaft mit dem Wunsch des Inbesitznehmens einherging«. 34 D i e Rolle der Landesgeschichte Ich komme auf ein weiteres zentrales Problem der Vermittlung insbesondere der deutschen Geschichte i m Fernsehen. Den Deutschen fehlt, ich habe es schon einmal gesagt, auf weite Strecken eine zur Identifizierung oder Distanzierung geeignete nationale Geschichte. »Es fehlt vor dem 19. Jahrhundert der durchgehende, zur staatlichen Einheit drängende Zug«.- 35 Geschichte hat sich in Deutschland vornehmlich in kleinen Räumen, innerhalb der politischen Formen des alten Reichs abgespielt. Sie ist in hohem Maße Regionalgeschichte und Landesgeschichte. Die wenigen, allgemein verbindlichen Themen und Bezugspunkte machen das besonders deutlich, das Interesse, das den Staufern, Luther oder allenfalls noch Preußen und Bismarck, ja auch Hitler entgegengebracht wird. »Die besondere deutsche Situation erfordert i m Blick auf diese Erfahrung, daß gerade die Vielheit und Vielfalt der vornationalstaatlichen Entwicklung bejaht, in ihrer Komplexität dargestellt und in ihrem Reichtum auf allen Gebieten gewürdigt wird«, meint Dietrich Bracher. 36 Unter den deutschen Sendern hat der Bayerische Rundfunk diesem Umstand am meisten Rechnung getragen. Das Bayerische Fernsehen ist in hohem Maß aus der eigengeprägten Geschichte des 33 Siegfried Quandt, »Geschichtswissenschaft und Massenmedien«, Geschichtefernsehen 2, 1983, S. 30. 34

Heinz Werner Hübner, »Die Welt von gestern«, S. 40 (vgl. A n m . 4).

35

Bracher, »Geschichte und Medium«, S. 4 (vgl. A n m . 6).

36

Ebenda.

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Landes und der auch nach 1945 ungebrochenen Staatlichkeit Bayerns zu verstehen. Allein im Bereich der Sendefolge »Unter unserem Himmel« werden Hunderte von Sendungen, sowohl Spielfilme als auch Dokumentationen, geboten, die dem Bedürfnis nach regionaler Identifikation entsprechen und sehr oft auch historische Implikationen enthalten. Für die Entwicklung eigener Geschichtsprogramme, sowohl i m Abendprogramm als auch i m Schulfernsehen, waren gute Voraussetzungen dadurch gegeben, daß eine Reihe von Historikern, die ihre Ausbildung bei Max Spindler erfahren haben, beim Fernsehen des Bayerischen Rundfunks arbeiten oder gearbeitet haben. 3 7 Der Preis für die Hinwendung zum Land und zur Landesgeschichte ist freilich die geringere Austauschbarkeit der Sendungen mit anderen Anstalten. Seit andere Sender eine systematische Regionalisierung betreiben ( W D R und N D R ) , setzen auch dort Bemühungen ein, das Programm i m Bereich des Historischen aus der Region zu speisen. Einen Schwerpunkt bildet das Ruhrgebiet. Bei der Loccumer Tagung der Arbeitsgemeinschaft »Geschichte und Massenmedien« 38 z.B. haben zwei Historiker aus Essen und Bochum darüber referiert. 39 Diese Hinwendung zum Regionalen ist i m Zusammenhang mit ähnlichen Tendenzen in der Schule in Nordrhein-Westfalen zu sehen, denn »obwohl die Düsseldorfer Landesregierung seit Jahren einen geschichtsfeindlichen Kurs steuert, sind von Nordrhein-Westfalen wesentliche Impulse für den lokal- und regionalgeschichtlichen Unterricht und die entsprechende fachliche Diskussion ausgegangen.« 40

37 Z u nennen sind hier: Gertrud Diepolder, O t t o Guggenbichler und Dieter Wieland sowie der Autor. — Über Fragen der Schulfernseharbeit: Gertrud Diepolder, »Geschichte« in: 5 Jahre Schulfernsehen im Studienprogramm des Bayerischen Rundfunks (München, 1970), S. 42-45. — Allgemein zum Schulfernsehen, aber die spezifische Situation der einzelnen Sender wenig treffend: Gerhard Schult, »Die Forderung des Geschichtslehrers an das Fernsehen und die A n t w o r t des Mediums«, Geschichte in der Öffentlichkeit, Hrsg. v o n W. van Kampen und H. G. Kirchhoff (Stuttgart, 1979). — Über Fragen der Geschichte i m Schulfernsehen und über »Geschichte in den Massenmedien« allgemein zuletzt in: Geschicktsdidaktik, 8, 1983, S. 3. 38

Arbeitsgemeinschaft »Geschichte und Massenmedien« an der Universität Gießen. Gegründet 1981, Geschäftsführer: Siegfried Quandt. 39 K a r l Rohe, »Regionale Teilkultur Ruhrgebiet«; Jürgen Reulecke, »Historische Identitäten i m Ruhrgebiet«, Evangelische Akademie Loccum, Landesgeschichte, Landespolitik, Landesrundfunk, Tagung 1982. Darüber: Sigrid Schniederken, »Nahwelt i m Medium«, FmkKorresponden^ 30, 1982, S. 4-7. Ergebnis dieser landeshistorischen Fernseharbeit ist der Film »Kumpel ist doch auch etwas...« ( H R 1981). Dazu das »Hochlarmarker Lesebuch«, Hrsg. Stadt Recklinghausen (Oberhausen, 1981) sowie die Spielserie »Rote Erde« ( W D R 1983). 40

Ulrich March, »Warum in die Ferne schweifen. Trend zur Heimatkunde-Renaissance der Region im Geschichtsunterricht«. Die Welt, 171, 1983, S. 15.

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Wissenschaft und M e d i u m Die Voraussetzung der Arbeit am konkreten historischen Befund eines historischen Raums ist die Kenntnis des Landes. Das läßt sich nicht nur am Schreibtisch und i m Filmarchiv machen. Wie viele Redakteure aber kennen ihr Land? Diese Frage ist auch an den Historiker zu stellen, der sich mit dem Fernsehen einläßt, und erklärt zum Teil die Enthaltsamkeit der Geschichtswissenschaft vor dem Fernsehen. Denn während das Fernsehen alles aus der Anschaulichkeit heraus entwickeln, v o m Einzelphänomen ausgehen und »Spurensuche« betreiben muß, arbeitet der Geisteswissenschaftler, sobald er sich über die Schilderung von Realien hinausbewegt, mit Begriffen, Ideen, Haltungen, Satzungen und Statistiken, bündelt die Einzelphänomene und bringt sie »auf den Begriff«. 41 Wenn ich Thomas Nipperdey richtig verstehe, dann liegt hier die »unaufhebbare Spannung« begründet, die den Historiker v o m Fernseh-Journalisten trennt. 4 2 Von zweitrangiger Bedeutung scheint mir die Reserve zu sein, die sich aus gegenseitigen Einschätzungen ergibt, wonach die Journalisten die Historiker für »elitär, weltfremd und publikumsfern« und die Historiker die Journalisten für »arrogant, wissenschaftsfremd und schludrig« halten, wie Siegfried Quandt: meint. 4 3 Die Abstinenz der Geschichtswissenschaft gegenüber dem Fernsehen ist begründet in der Bildferne des Geisteswissenschaftlers, der nur i n Ausnahmefällen gewöhnt ist, mit dem konkret Sichtbaren umzugehen. Ein Indiz dafür ist die A r t , wie der gesamte Bestand der Kunstüberlieferung ausschließlich unter kunstwissenschaftlichen Gesichtspunkten archiviert und erschlossen ist, die historischen Bezüge aber in kaum einer Sammlung oder Bibliothek herausgefiltert werden. Der Fernseh-Journalist muß sich da alles selbst erarbeiten. 44 M i t Bildern als Geschichtsquellen haben sich eigentlich erst jene Historiker auseinandersetzen müssen, die an den großen historischen Ausstellungen der Nachkriegszeit zu arbeiten hatten, beginnend mit der Ausstellung des Landes NordrheinWestfalen »Clemens August« (1962) bis hin zu den Ausstellungen über die Staufer, Max Emanuel, die Wittelsbacher, Preußen, Luther und Prinz Eugen i n jüngster Z e i t . 4 5 41 Wie dem Dilemma i m Fernsehen zu entkommen ist, zeigt die Reihe »Szenische Protokolle« des Bayerischen Fernsehens, w o das Gedankliche in dramaturgisch aufbereiteten Gesprächen übermittelt wird. z.B. »Gespräche mit Hitler«, rekonstruiert nach dem Buch von Hermann Rauschning (1980). 42

»Geschichte und Medium«, S. 46 (vgl. A n m . 6).

43

»Geschichtswissenschaft und Massenmedien«, S. 31 (vgl. A n m . 33).

44 Beispiele für das >Befragen< v o n Bildern bietet die Fernseh-Reihe »Geschichte in Bildern« von Rainer Hagen ( N D R 1972 ff.). 45 Es ist kein Zufall, daß das Bayerische Fernsehen aus dem Kreis der Bearbeiter solcher Ausstellungen Mitarbeiter gewonnen hat: Reinhold Baumstark, Hubert Glaser, Christoph Stölzl, Marcus Junkelmann.

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Wenn ich als Produzent von Geschichtsprogrammen mein Verhältnis zu den Kollegen der Fachwissenschaft überdenke, dann bleibt ein gewisses Gefühl der Resignation, nicht weil es an Fachleuten fehlt, die zur Mitarbeit gewonnen werden können und geeignet sind, sondern weil wir Fernseh-Redakteure uns wegen der fehlenden Reaktion auf unsere Arbeit i m Stich gelassen fühlen. Über den Schirm können gute und schlechte Filme ausgestrahlt werden, kostümierte Monumentalschinken oder subtil gearbeitete Dokumentationen: ein fachlich fundiertes, ernstzunehmendes Echo ist kaum jemals zu hören. Es fehlt sowohl an Stimulation als auch an Korrektur. Dabei wäre dem gemeinsamen Interesse, Geschichte unter die Leute zu bringen, ein gemeinsames Einstehen dafür sicher förderlich. Angesichts der sich abzeichnenden strengeren Trennung der Programme in die dominierenden, unterhaltenden Angebote und i n anteilmäßig sicher schrumpfende bildende Programme wird der Qualitäts-Anspruch an die bildenden Programme steigen, wenn sie sich überhaupt halten wollen. 4 6 Die Pseudo-Bildung i m Schnell-Verfahren von herkömmlichen Serien wird dem Zuschauer, der über die Unterhaltungs-Möglichkeiten des Satelliten-Fernsehens verfügt, zu wenig unterhaltlich, dem anspruchsvollen Zuschauer aber zu wenig seriös sein. Das bedeutet eine Chance für Programme, die sich an wissenschaftlichen Kategorien orientieren. Unabhängig davon ist aber einzugestehen, daß das, was einmal war, also Geschichte, weniger über die als Geschichtsprogramme deklarierten Sendungen vermittelt wird, sondern für das breite Publikum i m historischen Kostümfilm, in der Familienserie und i m Kinderprogramm. Das gilt jedenfalls, soweit es sich um atmosphärische Informationen handelt, die ich für genauso wichtig wie die kognitiven halte. Ich bin überzeugt, daß die allermeisten Zuschauer in Serien wie »Krieg und Frieden«, »Eaton Place«, »Die sechs Frauen Heinrichs VIII.«, »Ich, Claudius, Kaiser und Gott«, »Edward V I I . und Wally Simpson«, die vor allem aus Großbritannien kommen, in »Konsul Möllers Erben«, »Berlin Alexanderplatz« und auch in »Trotzkopf« williger und nachhaltiger etwas über vergangene Zeiten aufnehmen als in wohlmeinenden, mit dem Willen zur politischen Bildung befrachteten Geschichts-Sendungen. Sie scheinen geneigter, die naive Botschaft zu hören als die »Bigotterie des Skeptizismus«, von der Byron meint, sie sei ebenso schädlich wie die gläubigste Intoleranz.

46 Dazu: Holde Lhoest. »Täglich einmal >Dallas< in Belgien« in: %ur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 13, 1983, S. 4. Frau Lhoest schildert die Wirkungen des Satellitenfernsehens in Belgien. »Die Hauptleidtragendem des Überflußfernsehens sind offensichtlich die sogenannten Kultursendungen: Dokumentarisches, Theater, Musik, Tanz, Bildende Kunst, Wissenschaft und Technik, Geschichte...«.

KLEINE BEITRÄGE INTEGUMENTUM UND ÄVENTIURE Nochmals zur Literaturtheorie bei Bernardus (Silvestris?) und Thomasin von Zerklaere V o n Fritz

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Knapp

Ein neuer Beitrag von Christoph Huber (1986)1 gibt Anlaß, nochmals i m Detail auf zwei vielzitierte und vieldiskutierte Textstellen einzugehen, von deren genauem Verständnis eine Menge für die Beurteilung der mittelalterlichen Literaturtheorie abhängt. Dabei soll das weitere Umfeld, das ich an anderem Ort dargestellt habe 2 und das in etwas divergierender Richtung von Walter Haug ausführlich untersucht worden ist, 3 bewußt ausgespart bleiben. Zuerst zu dem Bernardus Silvestris zugeschriebenen Kommentar zu Vergils Aeneis (vor ca. 1140).4 Wie Huber zutreffend feststellt (89), ist dem Wortlaut des Prologs fürs erste nur eine Zweiteilung des Textverständnisses i m hermeneutischen Vorgang zu entnehmen. Zuerst zitiert Bernhard — der Einfachheit halber bleibe ich bei diesem (ungewissen) Autorennamen — ditgemine doctrine observatio, die Macrobius (Comm. in Somnium Scipionis 1,9,8; 2,10,11) Vergil zugesteht: et veritatem philosophie docuit et ficmentum non pretermisit (Bern. Comm. 1,1-5). I n einem zweiten Schritt expliziert er aber die Vorgangsweise Vergils — den er als et poeta et philosophus bezeichnet (1,6) — als Überhöhung der historischen Fakten, d. h. der Wechselfalle und Leiden des Aeneas und der anderen Trojaner, durch poetische Erfindungen. Die pure historische Wahrheit könne man dagegen bei Dares lesen: Intendit itaque casus Enee aliorumque Troianorum errantium labores evolvere 1 C. Huber, »Höfischer Roman als Integumentum? Das V o t u m Thomasins Zerklaere«, in: Zeitschrift f. dt. Altertum u. dt. Lit., 115 (1986), 79-100.

von

2 F. P. Knapp, »Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift f. Lit.wiss. u. Geistesgesch., 54 (1980), 581-635. 3

W. Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts: Eine Einführung, Darmstadt 1985 (das Thomasin-Kapital 222-234). 4 The Commentary on the First Six Books of the >Aeneid< of Vergil commonly attributed to Bernardus Silvestris , hd. v. J.W. u. E.F. Jones, L i n c o l n / L o n d o n 1977. Die Herausgeber stellen die Autorschaft des Bernardus Silvestris mit guten Gründen in Frage und ventilieren die Möglichkeit, Bernhard von Chartres könne der Verfasser sein.

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atque hoc non usque secundum historie veritatem, quod Frigius descripsit, sed ubique . . . Eneefacta fugamque figmentis extollit (1,8 -11). Z u dieser fiktionalen Ebene rechnet Bernhard offenbar auch den ordo artificialis (1,15-2,9). Für die Zweckbestimmung des Werkes geht er — man kann sagen: selbstverständlich — von der Zweiteilung in delectatio und utilitas aus: Poetarum quidarn scribunt causa utilitatis ut satirici, quidam causa delectationis ut comedi, quidam causa utriusque ut historici (2,11 -12), worauf er die berühmten Verse aus der Ars poetica (Hör. ep 2, 3, 333-34) zitiert. Diese gattungspoetische Dreiteilung übergeht Huber, denn sie enthält eine scheinbare Inkonsequenz. Da hier ein direkter Bezug zur Aeneis vorausgesetzt ist, kann diese nur unter die historia fallen, der sie auch traditionell zugeordnet wurde (vgl. z. B. Konrad von Hirsau, Dialogus 1561 f.). Gerade Bernhard hatte diese Zuordnung aber zuvor gemieden und die übliche Duplizität poeta et historicus durch poeta et philosophus ersetzt. Daß er damit eine Gleichsetzung von historicus und philosophus habe vornehmen wollen, ist jedoch nicht einzusehen. V o m philosophus ist in dieser Mittelpartie des Prologs gar nicht die Rede. Vielmehr ist die Gattungsdreiheit unmittelbar aus den Versen des Horaz abgeleitet (aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iocunda et idonea dicere vitae), wobei das letztere eben den historici entspricht. Unmittelbar daran schließt nun Bernhard seine Lehre von der aus dem Werk zu gewinnenden jeweils doppelten delectatio und utilitas an. Beide seien zugleich (simul bei Horaz) aus der poetisch-rhetorischen Form wie aus den erzählten Geschehnissen zu gewinnen: Et in hoc opere ex ornatu verborum et figura orationis et ex variis casibus et operibus hominis enarrandis habetur quedam delectatio. Si quis vero hec omnia studeat imitari, maximam scribendiperitiam consequitur; maxima etiam exempla et excogitationes aggrediendi honesta et fugiendi illicita per ea que narrantur habentur. Itaque est lectoris gemina utilitas: una scribendi peritia que habetur ex imitatione, altera vero rede agendi prudentia que capitur exemplorum exhortatione (2,15 - 21). Der Kommentator meint also, der Leser könne sich einerseits an der Schönheit der Form und der erzählten Handlung ergötzen, andererseits zu seinem Nutzen seine eigene Schreibfähigkeit daran schulen und sich an den positiven und negativen Beispielfiguren moralisch orientieren, so etwa an dem Dulder Aeneas und seinerpietas oder umgekehrt an dem immoderatus amor der D i d o (2,21 - 3,3). Das alles verstehe ich nicht anders als Huber (89) — mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, daß ich es i m unmittelbaren Kontext belasse und nicht einfach dem ersten und dem dritten, letzten Abschnitt des Prologs inkorporiere. 5

5 Vgl. Commentary on The First Six Books of Virgil's >Aeneid< by Bernardus Silvestris, translated, w i t h introduction and notes by E. G. Schreiber and Th. E. Maresca, L i n c o l n / L o n d o n 1979, S. X X I : »It is w o r t h noting that for Bernardus these ( = examples) form the overt moral o f the fiction and explain why the poet ist narrating these events in the first place; Bernardus has not yet begun talking about the covert allegory«.

Integumentum und Äventiure

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Der erste Abschnitt hatte die Vorgangsweise des Autors nach Stoff und Form (unde et qualiter agat), der zweite sein Wirkungsziel (cur agat) behandelt. Der dritte Abschnitt fragt nochmals, unde agat actor (auctor?) ut docilis reddatur lector; qualiter ut benivolus; cur ut attentus (3,7-8). Dazu nimmt er aber, wohlgemerkt, einen neuen Anlauf: Nunc vero hec eadem circa philosophicam veritatem videamus. Scribit ergo in quantum est philosophus vite naturam (3,8-9). Und hier fällt zum ersten Mal der Begriff integumentum. Bernardus beschreibt den modus agendi so: in integumento describit quid agat vel quidpaciatur humanus spiritus in humano corpore temporaliter positus (3,10-11). V ö l l i g zu Recht bemerkt Huber dazu (90): »Als philosophische Aussage wird so die neuplatonische Anthropologie vorgestellt: Schicksal (Tun und Leiden) des menschlichen Geistes, der aus dem Bereich der Idee in die Materie hinabsteigt, inkarniert wird, um von dort wieder zu seinem Ausgang zurückzukehren«. Der Begriff integumentum w i r d hier i m ^ 4 ^ / j - K o m m e n t a r — ganz ähnlich wie in Bernhards Martianus-Capella-Kommentar 6 — folgendermaßen definiert: Integumentum est genus demonstrationis sub fabulosa narratione veritatis involvens intellectum, unde etiam dicitur involucrum (3,14-15). Die sich daraus ergebende utilitas besteht in der Selbsterkenntnis der Menschen (sui cognitio: 3,16). Darin ist selbstverständlich auch ein moralphilosophischer Aspekt enthalten. Doch hat es damit keineswegs sein Bewenden. A u f der ersten Seite des Kommentars finden sich etwa die folgenden Erklärungen: Saturnus = tempus; Opis = materia (4,12); Jupiter = ignis superior (4,14); Neptunus = mare (4,15); Pluto = terra (4,16); Iuno = aer (4,17); etc. Diese integumenta liegen also eindeutig auf kosmologischer Ebene. Besonders beliebt sind dann Gleichungen wie Triton, quasi contritio, carnis est molestia (11, 20-21). Er werde ein Gott des Meeres genannt, da dieses den menschlichen Leib bezeichne (10,15 f.) und eben die carnis molestia i m Körper herrsche (11,21). Er blase eine Tuba, so wie das hungrige oder durstige K i n d weine (11, 21-23). Dergleichen läuft nicht primär auf moralische Anweisungen hinaus, auch wenn sie daraus gewonnen werden mögen, sondern auf anthropologische Erkenntnisse. Es sind also in allererster Linie ontologische Belange, die sub integumento behandelt werden, während die von Huber darin vor allem gesuchten »psychologischen und moralischen Fragen« (95 f.) dem Leser bereits auf der unverdeckten Handlungsebene per ea quae narrantur (2,19) weitgehend beantwortet werden. Denselben Schluß legt schon die antike Quelle für die integumentum-Definition nahe. Macrobius hat zwischen fabulae, die nur zum Ohrenschmaus erfunden sind, und solchen unterschieden, die auch zur Besserung ermahnen sollen. Auch diese zweite Gruppe bestünde zwar aus lügnerischer Fiktion, wie etwa die Fabeln

6 Zitat bei Huber, »Höfischer Roman«, 90; bei Knapp, »Historische Wahrheit«, 613, A n m . 160. Der Martianus- und der Vergil-Kommentar stammen offenbar v o m selben Autor, also w o h l nicht v o n Bernardus Silvestris (vgl. Jones, Edition zit. Anm. 4, S. X ) .

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Äsops — at in aliis argumentum quidem fundatur veri soliditate, sed haec ipsa veritas per quaedam composita et ficta profertur, et hoc iam vocatur narratio fabulosa, non fabula ...7 Beispiele dafür sind die Göttermythen Hesiods und Orpheus' und die mystischen Vorstellungen der. Pythagoreer. Der Philosoph aber müsse zu solchen fabulosae narrationes Zuflucht nehmen, wenn er vel de anima vel de aeriis aetheriisve potestatibus velde ceteris dis spreche (1, 2,13). Genau dieser Bereich ist es aber, den der AeneisKommentator erklären will. O b w o h l er natürlich i m Text keine strikte Unterscheidung zwischen historia und figmenta durchführen kann, verweist er die exhortatio exemplorum i m Prolog einfach prophylaktisch an die Ebene der historia — der ja, gemäß der Definition i m Martianus-Kommentar gar kein integumentum , sondern nur eine allegoria innewohnen kann. Huber hat diese doppelte Einstufung der Aeneis als historia un,d als narratio fabulosa eingeebnet, da er die Einteilung der Dichter i n satirici, comedi und historici einfach übergeht und so Aussagen miteinander verknüpft, die so nicht zusammengehören. A u f dieser Interpretation baut nun Huber die der dventiure-K.nxik bei Thomasin auf, der nun beileibe kein so tiefer Denker wie der ^//¿¿r-Kommentator ist. Haben wir schon bei diesem eine völlig klare Ausdrucksweise vermißt, so dürfen wir sie in dem deutschen Text um so weniger erwarten. Wolfgang Monecke hatte dazu geschrieben: »So simpel die Argumentation ist, geht sie doch nicht ganz auf. A n ihrem entscheidenden Punkt verschwimmen die Begriffe.« 8 Huber meint dagegen die nötige Klarstellung durch »den Bezug der Stelle zum Integumentum«, den Monecke noch nicht kannte (95), herstellen zu können. Die entscheidenden Verse 1079-1162 seien hier zur Gänze zitiert: 9 I r habt nu vernomen w o l

1080

waz ein kint hoern und lesen sol. ave die ze sinne komen sint die suln anders dann ein kint gemeistert werden, daz ist war. wan si suln verläzen gar

1085

diu spei diu niht war sint: da mit sin gemüet diu kint. ich enschilte deheinen man der äventiure tihten kan:

7 Macrobius, Commentarii in Somnium Scipionis 1, 2, 7-9. 8 W. Monecke, Studien %ur epischen Technik Abhandlungen 24], Stuttgart 1968, S. 105. 9

1965.

y

ed. J. Willis, Bibl. Teubn., Leipzig 1963, Konrads von Würyburg

[Germanistische

Der wälsche Gast des Thomasin v o n Zirclaria, hg. v. H . Rückert, Neudruck Berlin

303

Integumentum und Äventiure die äventiure die sint guot, wan si bereitent kindes muot.

1090

swer niht vürbaz kan vernemen, der sol da bi ouch bilde nemen. swer schriben kan, der sol schriben; swer malen kan, der sol beliben ouch da mit; ein ieglicher sol

1095

tuon daz er kan tuon wol. v o n dem gemalten bilde sint der gebüre und daz kint gevreuwet oft: swer niht enkan versten swaz ein biderb man an der schrift versten sol,

1100

dem si mit den bilden wol. der pfaffe sehe die schrift an, so sol der ungelerte man diu bilde sehen, sit i m niht

1105

diu schrift zerkennen geschiht. daz selbe sol tuon ein man der tiefe sinne niht versten kan, der sol die äventiure lesen und läz i m w o l dermite wesen,

1110

wan er vindet ouch da inne daz i m bezzert sine sinne, swenner vürbaz versten mac, so verlies niht sinen tac an der äventiure maere.

1115

er sol volgen der zuht lere und sinne unde wärheit. die äventiure sint gekleit dicke m i t lüge harte schone: diu lüge ist ir gezierde kröne.

1120

ich schilt die äventiure niht, swie uns ze liegen geschiht von der äventiure rat, wan si bezeichenunge hat der zuht unde der wärheit:

1125

daz war man mit lüge kleit. ein hülzin bilde ist niht ein man: swer ave iht versten kan, der mac daz versten w o l daz ez einen man bezeichen sol. sint die äventiur niht war, si bezeichnet doch v i l gar waz ein ieglich man tuon sol der nach vrümkeit w i l leben wol.

1130

304

Fritz Peter Knapp da v o n ich den danken w i l

1135

die uns der âventiure v i l in tiusche zungen hânt verkêrt: guot âventiure zuht mêrt. doch w o l d ich in danken baz, und heten si getihtet daz

1140

daz v i l gar an lüge waere; des heten si noch groezer ère. swerz gerne tuon w i l , der mag uns sagen harte v i l v o n der wârheit, daz waer guot.

1145

er bezzert ouch unsern muot mit der wârheit michels baz denn mit der lüge, wizzet daz. swer an tihten ist gevuoc, der gewinnet immer gnuoc

1150

mater je an der wârheit: diu lüge sî v o n i m gescheit. dâ v o n soi ein hüfsch man der sich tihten nimet an v i l wunderwol sin bewart

1155

daz er niht kome in die vart der lüge; ist er lügenaere, sô sint danne sîniu maere gar ungenaeme. ein man soi, swer iht kan sprechen wol,

1160

kern sîn rede ze guoten dingen, sô mag i m nimmer misselingen.

Der Gedankengang ist, wie ich meine, der folgende: Thomasin geht aus von der zuvor empfohlenen Kinderlektüre, die Enite und Penelope, Gawein und Karl den Großen etc. als Vorbilder vor Augen stellen soll, weist dieser Lektüre aber nunmehr den ihr zukommenden Platz, eben die Kinderstube zu und empfiehlt denen, die zu Verstand gekommen sind (1081), sie sollten diese unwahren Geschichten ganz sein lassen ( diu spei diu niht war sint : 1085). Er w i l l zwar niemand schelten, der âventiure verfassen könne, da diese ja zur Ausbildung junger Menschen beitragen. Die i n den âventiuren enthaltenen bilde achtet Thomasin den gemalten Bildern gleich und dementsprechend die âventiure-Lzsct den Schriftunkundigen (illitterati) , als deren Beispiele er nur Bauern und Kinder ausdrücklich erwähnt. Aber diesen stelle sich eben jeder gleich, der nicht über die âventiuren und die bilde hinausgelangen könne. Wer weiter nichts verstehen könne (swer niht vürba^ kan vernemen : 1091), d.h. eben schwierigere Sinnzusammenhänge ( tiefe sinne: 1108), für den sei es besser, sich wenigstens moralisch an den Vorbildern in den âventiuren auszurichten (1109-12). Aber wessen Verständnis tiefer reiche, der solle nicht seine Zeit mit der Erzählung von âventiuren (1113-15) verlieren,

Integumentum und Äventiure

305

sondern der Lehre von Anstand, Vernunft und Wahrheit folgen. 1 0 Es folgt nun die Definition der äventiure als Wahrheit, die mit Lügen sehr schön eingekleidet, ja mit ihnen geradezu gekrönt sei. Immerhin liege aber in dem bildlichen Verweis (be^eichenunge: 1124) auf %uht und wärheit ein Wert. Wiederum bemüht Thomasin den Vergleich mit der bildenden Kunst. Wie auch eine Holzskulptur nicht ein echter Mensch sei, so bezeichnet die unwahre Geschichte eine ethische Verhaltensmaßregel. Nach einem neuerlichen Dank an die deutschen äventiure-Dichter folgt wiederum die (halbe?) Rücknahme: Noch besser wäre es gewesen, wenn sie etwas ganz ohne diese Lüge verfaßt hätten (1139-41). M i t der reinen Wahrheit könne man ja die Gesinnung eines Menschen noch weit wirksamer bessern. Die Wahrheit stelle jedem Dichter stets genug Material zur Verfügung. Deshalb solle sich ein höfischer Dichter schlechthin jeder Lüge enthalten und statt dessen von guoten dingen reden (1161). — Was das Verständnis dieser Passage erschwert, ist die mangelnde Unterscheidung von veritas historiae und veritas fabulae. Sowohl Bernhard wie sein Gewährsmann Macrobius setzen die alte Abwertung der fabula gegenüber der historia voraus, versuchen sie aber offenbar gerade durch die Meidung einer unmittelbaren Konfrontation zu mildern. Immerhin erwähnt der ^ ^ / / - K o m mentar, wie wir gesehen haben, die facta-figmenta-Mischung. V o n eben einer solchen geht gewiß auch Thomasin aus, wie seine unterschiedslos aus Artusroman, Antikenroman und Chanson de geste gewählten Beispiele verraten. Aber expressis verbis formuliert er sie nirgends. Nirgends erwähnt er einen historischen Kern in den äventiuren. Vielmehr legt er die in ihnen angeblich enthaltene wärheit auf die be^eichenunge der %uht unde der wärheit (1124 f.) fest, was Huber treffend mit significatio disciplinae et veritatis wiedergibt (92 Anm. 52). A n die veritas historiae denkt auch Huber hier nicht, sondern an die »tiefere Veritas, die . . . keinesfalls mit historischer Wahrheit zu verwechseln ist« (95 — dazu weiter unten). Das hindert ihn aber nicht, eine Parallele mit der seit Laktanz und Isidor von Sevilla geläufigen Vorstellung, daß die Dichter den res gestae ein(en) decus (color) hinzufügen, herzustellen (93), obwohl dort offenbar nur von der formalen Gestaltung 11 die Rede ist und Thomasin nichts von res gestae erwähnt. Die Parallele benötigt er jedoch, um Thomasin ein Zweischichtenmodell der äventiure zu unterstellen, i n dem nur »die Oberfläche des erzählten Handlungsverlaufs . . . als Lüge qualifiziert wird« (92). Als einzigen konkreten Anhaltspunkt i m Text führt er dafür den Ausdruck der äventiure maere (1115) an, der eben jene Oberfläche bezeichnen soll, so daß dann die äventiure aus maeren und tiefen sinnen bestünden. Seine Interpretation lautet also (92): 10

Die Phrase der %uht lere und sinne unde wärheit ist syntaktisch unklar, sinne unde wärheit könnten ebensogut Dativ Singular sein. 11 V g l . P. v. Moos, Poeta und historicus i m Mittelalter, Beitr. (1976), 93-130, hier 108ff.

20

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 28. Bd.

Gesch. d. dt. Spr. u. Lit., 98

306

Fritz Peter Knapp

»Der äventiure werden hier [1107-1117] nicht grundsätzlich die tiefen sinne abgesprochen. Thomasin reiht nicht Bild und äventiure auf eine untere Stufe der Sinnträchtigkeit, um ihnen Schrift und wahrheitshaltige Texte auf einer höheren gegenüberzustellen. Es geht ihm nicht um die Verweiskraft des Mediums, sondern um die Verstehenskompetenz des Rezipienten«. Und daraus folgert er: »Das vürba^ versten (v. 1113, vgl. 1091) fordert so nicht unbedingt einen anderen Text« (92). Angeblich genügt es ja, wenn der gebildete Erwachsene die äventiure richtig versteht. Gegen dieses Textverständnis ist folgendes einzuwenden: 1. Thomasin verwendet maere in derselben Passage nochmals (1158), und zwar offenkundig in dem ganz allgemeinen, geläufigen Sinne von »Erzählung(en), Geschichte(n)«. Wollte man in dem Satz 1157-59 maere auf die notwendig lügenhafte Oberfläche der äventiure einschränken, entstünde eine Tautologie. Was liegt also näher, als der äventiure maere in 1115 auch nur als Umschreibung für äventiure aufzufassen? 2. Wenn wir mit Huber von einer oberflächlichen, kindgemäßen und »einer vertieften äventiure-Lektüre« der »gebildeten Erwachsenen« (94) ausgehen, ergeben sich unaufhebbare Widersprüche i n Thomasins Argumentation. I n 1084-86 werden diejenigen, die sinne komen sint (1081) aufgefordert, diu spei diu niht wär sint (1085) ganz aufzugeben. Das sind nach Huber nicht die äventiure , sondern eben der äventiure maere i m obgenannten Sinn (92). Wie kann man aber diese Oberfläche verläsen gar, wenn gerade sie die Zier der äventiure ist (1120)? Und diejenigen, die niht vürba % vernemen können (1091), also offenbar Kinder und ungebildete Erwachsene, welchen Nutzen können sie überhaupt aus den äventiuren ziehen, wenn sie nur an der Oberfläche bleiben? E i n solcher Nutzen wird jedoch dauernd beschworen, am ausführlichsten in 1107-15. Hier ist ausdrücklich von einem man, der tiefe sinne niht versten kan (1107 f.), die Rede. Gerade er könne, sagt der Autor, in den äventiuren etwas finden, da^ im bessert sine sinne (1112). Was kann das anderes sein als eben die be^eichenunge der %uht unde der wärheit (1124 f.)? Gerade diese dürfte er jedoch nur »in einer vertieften äventiureLektüre finden«, wenn Huber (94) recht hätte. Alle diese Widersprüche sind mit einem Schlage beseitigt, wenn man Hubers Zweischichtenmodell aufgibt und statt dessen die beiden von Thomasin streng getrennten, von Huber aber dennoch zusammengeworfenen Begriffe auseinanderhält: (1) der %uht lere und sinne unde wärheit und (2) die be^eichenunge der %ubt unde der wärheit, d.h. also veritas und significatio veritatis . Ihnen entsprechen eben doch verschiedene Texte, die freilich nicht in einem Verhältnis des totalen Gegensatzes, sondern der Steigerung zueinander stehen. Aus den äventiuren läßt sich indirekt, bildhaft, verkleidet das entnehmen, was andere Texte unverhüllt darbieten: die wärheit (1117 = 1145 = 1151). Diesen gehört auf alle Fälle der Vorzug. Thomasin

Integumentum und Äventiure

307

spricht hier deutlich pro domo, wenn er, wie selbst Huber zugibt, »die unverhüllte Lehre der Lehrdichtung höher stellt« (100). Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß Thomasin überhaupt Bernhards philosophica veritas dabei im Sinne hatte, die eine bildhafte Darstellung sub integumento ja geradezu erforderte (vgl. Macrobius). Auch die inhaltliche Bestimmung spricht dagegen. Thomasin beschränkt sich i m Welschen Gast eben i m wesentlichen auf rein ethische Fragen. Für deren Beantwortung können die äventiure eine A r t propädeutischer Funktion erfüllen. Daß man diese Intention des Autors so sehr mißdeuten konnte, liegt, wie w i r gesehen haben, an der mangelhaften Differenzierung von fabula und historia bei Thomasin. Da sie auch i m ^»¿//-Kommentar mehr vorausgesetzt als klar zum Ausdruck gebracht wird, konnte man ausgerechnet dort das den beiden Texten Gemeinsame suchen, wo es gar nicht vorhanden war, nämlich i m Ansatz einer philosophica veritas. Statt dessen liegt es vielmehr in der exhortatio exemplorum (s. o.), i m sensus moralis vonfabula und / oder historia. Da es sich dabei aber um Gemeingut der spätantik-mittelalterlichen Literaturtheorie handelt, ist ein direkter Zusammenhang der beiden Texte gar nicht erweislich, umso weniger einer zwischen volkssprachlichen äventiure-Romanen und der lateinischen integumentum-Theorie. »Thomasin von Zirklaere fällt jedenfalls als Gewährsmann dafür aus«. 12

12

20*

Knapp (zit. A n m . 2), S. 623.

KLOPSTOCKS »ROSENBAND« V o n Grete Lübbe-Grothues Für Ludger Oeing-Hanhoff 1. D i e späte Form Klopstocks Gedicht, 1752 mit dem Titel »Cidli« entstanden und unter diesem Namen noch 1768 handschriftlich mitgeteilt, wird hier in der Form zitiert, die ihm der alte Dichter für den 1. Band der Leipziger Ausgabe Sämtliche Werke, 1798, gegeben hat. Das Rosenband I m Frühlingsschatten fand ich Sie; Da band ich Sie mit Rosenbändern: Sie fühlt' es nicht, und schlummerte. Ich sah Sie an; mein Leben hing M i t diesem Blick an Ihrem Leben: Ich fühlt' es wohl, und wust' es nicht. Doch lispelt' ich Ihr sprachlos zu, Und rauschte mit den Rosenbändern: Da wachte Sie v o m Schlummer auf. Sie sah mich an; I h r Leben hing M i t diesem Blick an meinem Leben, U n d um uns ward's Elysium.

Nichts ist dem Verständnis problematisch an dieser »Ode . . . von einer Zeit, da ich sehr glücklich durch die Liebe war« (Klopstock, 1768). U m so eher mag man dem reimlosen Gedicht, das so oft vertont worden ist, als einem Gebilde aus Rhythmus und Sprachlauten nachhorchen. Dabei kann es passieren (mir ging es so), daß eine Sequenz so lange nachklingt, bis sie wie ein fremder Zauberspruch tönt: »fand ich sie / da band ich sie . . . «Diese unwillkürliche Verwandlung i n eine Glossolalie weckte, als sie mir bewußt wurde, die Aufmerksamkeit für die poetische Textur des Gedichts. Bei genauem Lesen mit dem Interesse: Wie ist es gemacht? spürt man den Verhältnissen nach, die die sprachlichen Elemente zur Einheit des Gedichts organisieren. Es sind einfache und komplizierte Spielarten der Symmetrie, welche die Teile untereinander und zum Ganzen verbinden. Sich

Klopstocks „Rosenband"

309

lesend von ihnen leiten zu lassen, führt oft zu überraschenden Entdeckungen und immer, ein Stück weit, zum Erkennen dessen, was das Gefühl, unser Organ für Ganzheiten, vorwegnimmt, wenn wir sagen: Das ist schön! Die folgende Analyse untersucht das Gedicht nicht als ein Beispiel deutscher Lyrik aus dem 18. Jahrhundert, sondern als »ein in sich vollkommenes Liebesgedicht, das auch heute noch nichts von seinem Reiz eingebüßt hat« 1 . »

fand ich Sie;

Da band ich Sie

«

Die Klangfigur — möglicherweise die Keim-Invention des Gedichts — durchwirkt mit einigen ihrer Merkmale das ganze Gedicht: a) Ihre grammatisch parallelen Glieder nehmen die zweite Hälfte des ersten Verses und die erste Hälfte des zweiten Verses ein. Die Unterteilung in Hälften (die wir An- und Abvers nennen wollen) charakterisiert, mehr oder weniger deutlich, alle Verse. Der Schnitt liegt unmittelbar nach der zweiten Hebung jeder Zeile (außer der ersten), so daß die Abverse wie die Anverse eine Vorschlagsilbe haben:

x

xx

xx

mit Rosenbändern

x

x x

x

und schlummerte

x

xx

x

mein Leben hing

x

x x

x x

an Ihrem Leben

(usf.)

b) Die Klangfigur prägt zudem, doppelt, die Nähe der Personenpronomen (ich sie) vor, die sich variierend durch alle Strophen fortsetzt: 2. ich . . . sie, mein. . [. .ihrem-, 3. ich ihr, 4. Sie. . . mich, ihr. . /. .meinem-,— bis in der letzten Zeile aus zwei Pronomen eines wird: uns. c) Auch das Lautspiel des a und i klingt durch alle Strophen. Z u Beginn der 2. Strophe bildet es eine neue Lautformel: »/ch s^h Sie an«, die sich in der 4. Strophe, bei vertauschtem Subjekt / Objekt, wiederholt: »S/e sah m/ch an«. Das ausdrucksstarke Enjambement beider Strophen «h/ng/. . .« führt zu » / . . .an« weiter. I n der 3. Strophe akzentuieren die beiden Vokalklänge die paradoxe Fügung »1/spelt' — sprachlos«. d) Schließlich enthält der verschiedene Sinn der binnenreimenden Verben, der mehr passiv-geschehnishafte des »fand« und der mehr aktiv-voluntative des 1

Walter Hinderer: »Irdische Gesänge eines Cherubs«. In: Frankfurter von Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt am Main 1984, S. 32-34.

Anthologie 8, hrsg.

Grete Lübbe-Grothues

310

»band«, den K e i m einer Bewegung, die sich i m Strophenverlauf zwischen »Ich« und »Sie« von Stufe zu Stufe wechselwirkend steigert. Schuberts Vertonung unterstreicht den Parallelismus, indem er beide dreisilbigen Glieder (»fand ich Sie«, »band ich Sie«) in eine gleichwertige, dreistufig absteigende Tonfolge bringt. Er akzentuiert gleichzeitig den kontrastierenden Sinn, indem die erste Tonfolge einem größeren Melodiebogen unauffällig eingeordnet ist, die zweite aber, nachdem der Vorschlag »da« von der erreichten Tiefe abstößt, überraschend höher als der vorige Bogen ansetzt und moduliert absteigt.

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