Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 16. Band (1975) [1 ed.] 9783428438921, 9783428038923

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 16. Band (1975) [1 ed.]
 9783428438921, 9783428038923

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH

NEUE FOLGE / SECHZEHNTER BAND

1975

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

LITERATÜRWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. I { E R M A N N K U N I S C H

NEUE FOLGE / S E C H Z E H N T E R BAND 1975

Das ,Literaturwissenschaftlidie Jahrbuch' wird im Auftrage der Görres-Gcsellschaft herausgegeben von Professor Dr. Hermann Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 München 19. Schriftleitung: Dr. Günter Niggl, Löfftzstraße 1, 8000 München 19. Das ,Literaturwissenschaftliche Jahrbuch4 erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an den Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Den Verfassern wird ein Merkblatt für die typographische Gestaltung übermittelt. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Schriftleitung erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot, Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH SECHZEHNTER

BAND

LITERATURWISSENSCHAFTUCHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT H E R A U S G E G E B E N VON H E R M A N N

NEUE FOLGE/SECHZEHNTER

KUNISCH

BAND

1975

D U N C K E R

&

H U M B L O T

I

B E R L I N

Schriftleitung: Günter N i g g l

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1977 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1977 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed i n Germany I S B N 3 428 03892 4

INHALT

AUFSÄTZE

Werner Bergengruen, Über Symbolik. Aus dem Nachlaß von Werner Bergengr.uen ausgewählt von Charlotte Bergengruen 1 Joachim Dalfen (Salzburg), Gibt es Tragik in den Tragödien des SophokLes? Walter

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Pötschcr (Salzburg), Das Schuldproblem in Senecas Tragödien

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Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert (Köln), Die aufrechte Körperhaltung als Ausdruck der göttlichen Herkunft des Menschen 55 Wolfgang Wittkowski (Columbus, Ohio), Daß er als Kleinod gehütet werde. Stifters ,Nachsommer'. Eine Revision 73 Hermann Kunisch (München), Thomas Mann, der „Deutsche". Ein Versuch . . 133 Johann Holzner (Innsbruck), Zu Alfred Döblins Ars militans. Bemerkungen zur Szenenreihe ,Die Ehe* und zum Hörspiel ,Berlin Alexanderplatz' . . . . 179 Klaus Lazarowicz (München), Die Rote Messe. Liturgische Elemente in Brechts ,Maßnahme4 205 Volker Kapp (Trier), Die Romanstruktur als Problem der Poetik des Christentums in ,Sous le Soleil de Satan4 von Georges Bernanos 221 Carola L. Gottzmann (Heidelberg), Intellektualismus und Triebhaftigkeit. Eine Interpretation von Wolfgang Bauers Stück ,Change' 243

BERICHT

Joachim Wich (Heidelberg), Thomas Manns frühe Erzählungen und der Jugendstil. Ein Forschungsbericht 257 Namen- und Sachregister

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ÜBER SYMBOLIK V o n Werner Bergengruen Aus dem Nachlaß v o n Werner Bergengruen ausgewählt v o n Charlotte Bergengruen

W i r täten gut, unsern Blick für den Symbolgehalt der stofflichen W e l t zu schulen u n d zu schärfen. D i e Kirche u n d die Dichtung sind auch heute noch die getreuesten H ü t e r i n n e n der Symbolwelt. Sonst aber ist die Fähigkeit des wirklichen Erlebens v o n Symbolen, i n früheren Jahrhunderten weit verbreitet, ja, ein sicherer Allgemeinbesitz der Menschheit, i n unserer Zeit zurückgegangen. W i e o f t hört man heute die geringschätzige Redewendung: „Das u n d das k a n n doch ,höchstens' oder ,nur f symbolisch gemeint sein", so, als handele es sich nicht u m eine andere Wahrheitsbekundungsart, sondern um einen geringeren Wahrheitsgehalt. Dieser Verlust hängt nicht eigentlich m i t den Wandlungen unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes zusammen; eher scheint er m i r eine Folge reinen Zweckmäßigkeits- u n d Nützlichkeitsdenkens zu sein. D i e bewunderungswürdigen Fortschritte der modernen Naturwissenschaft lassen, w i e es dieser Wissenschaft z u k o m m t , die Frage nach dem symbolischen Charakter der geschaffenen Dinge beiseite, aber auch unangetastet. Allenfalls könnte man die Behauptung wagen, die neueste theoretische Physik verwende gelegentlich m i t einer gewissen zögernden Ehrfurcht Begriffe u n d Bezeichnungen, v o n denen Brücken zur Symbolauffassung älterer Weisheiten führen. Auch der Naturforscher, der über die Beschaffenheit des Lichts u n d der Himmelskörper, so w i e sie sich der heutigen naturwissenschaftlichen E r kenntnis darstellen, aufs genaueste unterrichtet ist, vermag sich schwerlich — nicht als Naturforscher, sondern als Mensch! — den über die sinnliche Wahrnehmung u n d über die exakte wissenschaftliche Erfassung hinausgehenden, nach dem Z e n t r u m des menschlichen Organismus greifenden W i r k u n g e n zu entziehen, die etwa v o m Sonnenaufgang, v o m vollkommenen D u n k e l , v o m Anblick des silbergestickten Firmaments ausgehen, v o n den Empfindungen der Süße oder Bitterkeit oder v o n den räumlichen Erscheinungen der Höhe, der Tiefe, des Abgrundes. Es sind hier v o n allen Sprachen festgehaltene U r bedürfnisse, Urerfahrungen u n d Urerlebnisse am W e r k . 1958 1 Literatur-wissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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Werner Bergengruen

D i e ganze Schöpfung ist ein Schatzhaus der Symbolik, u n d die eigentliche Realität drückt sich i n den Symbolen aus. E i n untrügliches Gefühl für die Bedeutung der Symbole u n d ihren Zusammenhang m i t der Erscheinung ist dem Menschen eingeboren, nicht anerzogen. Schwarz u n d weiß, hell u n d dunkel, oben u n d unten, rechts u n d links, aufwärts u n d abwärts, empfangen u n d gebären, kriechen u n d schreiten, — der Symbolsinn aller dieser zunächst physikalischen Feststellungen ist immer u n d überall der nämliche. Insbesondere ist der Bau des menschlichen Körpers, die Gliederung u n d Lage seiner Organe hier v o n der höchsten Bedeutung. K ö n n t e n Wesen sein, die den Sitz der Denkfähigkeit unten, Genitalien u n d Ausscheidungsorgane oben trügen, so wäre die ganze W e l t aus den Angeln gehoben. 1944 M i t der Bezeichnung „Anziehungskraft der Erde" ist hinter einem T a t bestande ein Gesetz sichtbar gemacht worden. U m aber die v o l l e W i r k l i c h keit zu erfassen, dazu müssen w i r uns immer wieder dessen erinnern, daß dieser Anziehungskraft der Erde eine Anziehungskraft des Himmels ergänzend entgegenwirkt. Sie g i l t ebenfalls i n einem physikalischen Sinne, denn aller Schwerkraft entspricht i n der organischen N a t u r ein Bestreben, diese Schwerkraft zu überwinden. Es bedarf nicht erst der Erwähnung, daß beide Anziehungskräfte auch jenseits des Physikalischen w i r k s a m sind, nämlich i n einem symbolischen, das heißt: eigentlichen Sinne. 1945 D i e Dichtung bedarf nur weniger großer Symbole. I m Grunde ist m i t Brot u n d W e i n alles gesagt. & & 1940 Es gibt ein untrügliches Zeichen dafür, daß Gegenstände der technischen Sphäre i n die eigentliche menschliche W e l t aufgenommen wurden u n d ihre mechanische, ihre tödlich starre Fremdheit überwunden haben. N ä m l i c h diese Aufnahme hat sich vollzogen, sobald die technischen Dinge reif geworden sind, i n den Symbolschatz der Dichtung einzugehen. Nach welchen Gesetzen sich das vollzieht, ist k a u m zu sagen; i n jedem Falle scheint es n i d i t eine bloße Frage des Zeitverf lusses zu sein. Das Brausen der Telegraphendrähte gehört bereits v ö l l i g der dichterischen Symbolwelt an, u n d ebenso t u n es die Schußwaffen bis hinauf zur Kanone seit Jahrhunderten, wobei freilich zugegeben ist, daß die W o r t e Pistole, Büchse, Flinte, Gewehr, Kanone, Geschütz den Eingang erleichtert haben. D e m Dampfschiff, der Sirene ist der Eingang gelungen, der Eisenbahn u n d dem Flugzeug bis zu einem bestimmten Grade, dagegen dem photographischen A p p a r a t , der Schreibmaschine, dem A u t o m o b i l u n d dem Fahrrad nicht, weshalb schlechte

Ober Symbolik

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Dichter verschämt v o m Stahlroß sprechen. Der F a l l des Fahrrades ist besonders merkwürdig, denn der Wagen gehört seit Jahrtausenden der Symbolwelt an, u n d das mechanische Prinzip der beiden ist i m Grunde identisch. Freilich wurde der Wagen nicht industriell hergestellt, das Fahrrad aber v o m Tage seiner E r f i n d u n g an.

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V i e l nachsinnen ließe sich über die Bedeutung der Früchte, nicht nur über die Frucht schlechthin, v o n der ja alles Geschehen i m Kosmos beherrscht w i r d , das vegetative w i e das geistige, sondern auch über die der einzelnen Fruchtarten: des Apfels als Augapfel, Reichsapfel, A p f e l v o m Baum der Erkenntnis, A p f e l der Hesperiden, A p f e l als Preis i m Schönheitswettstreit der drei Göttinnen, A p f e l als diejenige Frucht, die i m M y t h o s zu Vergiftungen benutzt w i r d , was etwa m i t der Birne nie geschieht; der Feige; der Orange als A b b i l d der Sonne; der N u ß als der Bewahrerin eines Geheimnisses, die m i t der harten Schale den zuvor noch v o n keinem menschlichen Auge erblickten K e r n umschließt; der Mandel, deren F o r m auf das Auge sowohl als auf den weiblichen Schoß deutet. H i e r möchte sich noch mancher verborgene Aufschluß gewinnen lassen. 1946 Als Symbol des Süßen i n der Dichtung hat der urtümliche H o n i g immer noch den unbestrittenen V o r r a n g v o r dem Zucker. M a n könnte freilich auf den wunderbar melodischen K l a n g des Wortes H o n i g u n d den nichtssagenden des Wortes Zucker verweisen, allein i n der Dichtung anderer Sprachen ist das Verhältnis das nämliche. A l l e V ö l k e r empfinden hier einen U n t e r schied zwischen Geschaffenem u n d Gemachtem. H o n i g ist geschaffen, Zucker w i r d gemacht. & 1945 W i e i m dichterischen K u n s t w e r k F o r m u n d I n h a l t identisch sind, so vermählen sich i m Symbol (und keineswegs g i l t das nur für die religiöse Symbolik), das Darstellende u n d das Dargestellte bis zur mystischen Identität. W o i m Abendmahlsstreit die Formel „es bedeutet" den Sieg errang, da erlosch notwendig die Fähigkeit, Symbole als Symbole zu fassen u n d es trat an ihre Stelle die Allegorie; damit v o l l z o g sich die eigentliche Entgötterung der W e h . 1 9 5 6 D i e Geschichte wiederholt sich, indessen doch blos scheinbar oder für den aller gutwilligsten Betrachter. Fruchtbare Parallelen zwischen Geschichtsperioden lassen sich nur ziehen, sobald man sich auf einzelne Komponenten dieser Perioden beschränkt u n d partielle Ähnlichkeiten nicht zu prognostischen Berechnungen mißbraucht. ι

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Werner Bergengruen

I m einzelnen freilich ist es überraschend, wie oft überholte u n d halbvergessene Dinge plötzlich wieder zu Gebrauch u n d Ehren kommen, etwa die seinerzeit v o n der Eisenbahn entthronten u n d i n Verödung gefallenen L a n d straßen, der wiedergekehrte Metallhelm des Mittelalters oder die v o m ersten Weltkrieg neuentdeckte Handgranate des achtzehnten Jahrhunderts. Ähnliches geschieht aber auch i m Geistigen, u n d hier mag man an die sogenannte Disciplina arcani der ersten nachchristlichen Jahrhunderte denken, also an den Gebrauch des verfolgten Christentums, seine Lehren esotorisch u n d durch Symbolzeichen, w i e sie jeder aus der Kunstgeschichte kennt, weiterzugeben — durch Fisch, L a m m , Taube, Weinstock, Schiff, A n k e r , Pfau, K r a n z u n d dergleichen; noch die heutige Symbolsprache der Kirche ist ohne die A r k a n d i s z i p l i n nicht zu verstehen. Immer hat es auch weltliche Arkandisziplinen gegeben, etwa i n den Bauhütten, i n den Bildern des Giorgione, i n der Dichtung, i m Verkehr politisch unterdrückter Menschengruppen. Es läßt sich leicht denken, daß heute u n d morgen, also i n Zeiten, da die Massen m i t ihren groben Begriffen auf erstickende Weise dominieren, höhere Erkenntnisse sich verwandte Formen der Ü b e r m i t t l u n g werden suchen müssen, wenn sie nicht verloren gehen sollen. 1958 Eine Vorstellung, außerhalb deren ich nicht leben könnte, ist die unauflösliche Verbundenheit zwischen dem natürlichen u n d dem geistlichen Jahr. Ich k a n n hier keine Gegensätze erblicken, sondern Ergänzungen oder verschiedenartige Ausstrahlungsformen der gleichen kosmischen Bewegungen. D i e Gegner der Kirche w o l l e n hier nichts sehen als plumpe Spekulationen auf die Festgewohnheiten neubekehrter Heidenvölker. Aber wer da behauptet, die Kirche habe Ostern absichtlich auf die altgermanische Frühlingsfeier gelegt, der scheint zu glauben, der R a u m des heutigen Deutschland habe v o n vornherein i n ihrem M i t t e l p u n k t gelegen, u n d vergißt, daß für Ostern u n d Pfingsten der Z e i t p u n k t bereits durch die entsprechenden jüdischen Feste gegeben war. Darüber hinweg aber haben j a die Geheimnisse, denen die einzelnen Feste gelten, innerhalb des Kosmos ihren sicheren, ihren notwendigen O r t . Das g i l t nicht nur v o m ganzen weihnachtlichen Festkreis, m i t a l l seinen V o r - u n d Nachklängen, w o es freilich am deutlichsten ist, sondern auch v o n Fronleichnam, Allerheiligen, Allerseelen, den Bittagen oder dem Marienmonat. Ja, auch scheinbar w i l l k ü r l i c h bestimmte Feste, wie der Johannistag oder Peter u n d Paul, hätten, so sollte man meinen, garkeine andere Stelle erhalten können, so natürlich sind sie i n ihren O r t i m Jahresablauf hineingewachsen.

Über Symbolik

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Manchmal fühlt man sich zu dem Glauben versucht, auch die kalendarische Fixierung der Feste u n d Zeiten des Kirchenjahres müsse ein Bestandteil der Offenbarung sein. Sicherlich aber drückt sich i n der Weisheit, m i t der die Kirche diese Fixierung vorgenommen hat, ihre Beratenheit durch den heiligen Geist aus, also durch eine Spiegelung der gleichen Gottheit, die i n ihrer ersten Person die N a t u r m i t ihren Jahreszeiten erschaffen hat. A n solchen Gedanken w i r d es offenbar, wie sehr die Kirche i n ihrer sichtbaren Gestalt ein abendländisch mediterranes Gebilde ist oder doch uns Abendländern so ersdieint. Jenseits der Ozeane gelten andere Jahreszeiten, u n d die uns geläufige Symbolik des natürlichen Jahres hat dort keine Stätte. M a n muß sich erinnern, daß der Weinberg der Kirche v o m ganzen E r d b a l l getragen w i r d . Grönland, I n d i e n u n d M i t t e l a f r i k a haben das gleiche Recht w i e unsere Zonen, u n d vielleicht werden sie i n künftigen Jahrhunderten ein größeres haben. 1944 I n R o m wurde m i r einmal v o n einem Freunde eine Legende erzählt, v o n der ich nicht weiß, w o sie aufgezeichnet ist. Einer der mittelalterlichen Päpste ging m i t dem über die A l p e n gekommenen Kaiser i m Kolosseum herum. D e r Kaiser äußerte gesprächsweise den Wunsch, als Geschenk des Papstes eine besonders kostbare Reliquie z u erhalten. D e r Papst bückte sich schweigend, hob eine H a n d v o l l sandiger Erde auf u n d hielt sie dem Kaiser hin. D a n n sagte er, Kostbareres habe er i h m nicht z u geben u n d deutete damit an, hier i m Kolosseum, w o die Bekenner des Glaubens ehemals den w i l d e n Tieren vorgeworfen worden waren, sei jeder Z o l l b r e i t des E r d bodens v o m Blute der Heiligen getränkt. Gedenke ich jetzt dieser wunderbaren Erzählung, so ist es, w e i l sie merkwürdigsten Ausblicke eröffnet, Blicke i n unsere Zeit, Blicke auf ö r t l i c h k e i t e n der neuen M a r t y r i e n , Blicke auf die neuen M ä r t y r e r u n d deren Anrufung, die vielleicht schon i n naher Z u k u n f t sich eingeführt ben w i r d . 1947

die die auf ha-

M i t der Annahme des Christentums sind auch die nördlichen V ö l k e r i n den mediterranen Lebenskreis eingetreten. W e i n u n d ö l kamen ihnen nicht nur als Flüssigkeiten, sondern auch als Symbole zu. D i e Zueinandergehörigkeit v o n B r o t u n d W e i n offenbarte sich auch ihnen. Freilich sind w i r H ä r e t i k e r geblieben; denn das B r o t w i l l j a gebrochen sein, nicht geschnitten. Aber es h i l f t nichts: wer darauf bestehen muß, es m i t Butter zu bestreichen, der darf es nicht brechen wollen. 1942

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Werner Bergengruen

Viele Volksbräuche stammen n o d i aus heidnischer Z e i t ; die Kirche hat sie sich nachträglich adaptiert, — gewiß nicht immer oder audi nur meistens i m Wege eines bewußten oder beabsichtigten Prozesses, — u n d sie i n ihren Symbolschatz aufgenommen. Aber auch der umgekehrte F a l l hat sich ereignet. A u f den ersten Blick möchte man meinen, die volkstümliche V o r stellung des Osterwassers, die i n vielen Ländern verbreitet ist u n d z u mannigfachen Sitten u n d Zeremonieen den A n l a ß gibt, gehöre der altheidnischen Brauchwelt an u n d gehe auf Reinigungsriten u n d Fruchtbarkeitszauber zurück. A l l e i n das ist ein I r r t u m . Das christliche Ostern ist ja seit den ältesten Zeiten ein Wasserfest, die große Taufzeit der Neubekehrten. D i e ganze Liturgie v o m Karsamstag bis z u m Weißen Sonntag ist v o n der Wassersymbolik erfüllt, u n d so ist diesmal i n einer kirchlichen Ü b u n g der Ausgangspunkt eines Volksglaubens u n d der v o n i h m beherrschten Gebräuche zu suchen. 1946 D e r Kosmos läßt sich begreifen als eine ungeheure biblia pauperum. 1940 Es ist keine kostbarere, keine gewaltigere Reliquie denkbar als diese Erde, die Christi Füße getragen u n d i n der sein Leib geruht hat. Ja, es läßt sich w o h l sagen, alle Materie sei i n einem solchen Sinne Reliquie, sei sakramental, u n d als unmittelbar aus den H ä n d e n Gottes hervorgegangen, ist sie das gewesen v o m Augenblick der Weltschöpfung an. 1945 D e r den Bischöfen u n d Ä b t e n gesdiuldete Ringkuß w i l l als ein Ausfluß jenes großen Stils betrachtet werden, der allen traditionellen kirchlichen Lebensäußerungen eigen ist. Welch ein großartiges Zeichen der Ehrfurcht, der liebenden Demut, der spiritualisierten H ö f l i c h k e i t ! D i e H a n d k ü ß t man einem I n d i v i d u u m , den R i n g dem v o n der Personalität abgelösten Träger des höchsten Amtes, dem Nachfolger der Apostel, ja, ihnen selbst. 1958 Ich lese i n der Zeitung, daß ein bayerischer Bischof erklärt hat, er w ü n sche nicht mehr m i t ,Exzellenz', sondern m i t ,Herr Bischof angeredet zu werden. H i e r greift eine löbliche Absicht fehl, w e i l sie auf das Niedrige der menschlichen N a t u r spekuliert. Immer w i r d der Edlere weniger das Bedürfnis haben, Ehren z u empfangen, als vielmehr Ehren zu erweisen. D i e Kirche mißversteht ihre Aufgaben, wenn sie nicht mehr zur Ehrfurcht, sondern zu hemdsärmeliger Vertraulichkeit z u erziehen sucht.

ber Symbolik

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D i e Unfähigkeit, Symbole zu erfassen u n d m i t Symbolen zu leben, hat i n ihrer Ausbreitung auch v o r dem Klerus nicht haltgemacht. Z u den Befürchtungen, m i t denen ich dem kommenden K o n z i l entgegensehe, gehört auch die, es werde eine Fülle v o n großen u n d durch nichts ersetzbaren Symbolen abschaffen u n d der Meinung sein, es habe damit eine Reinigungsarbeit verrichtet. D a ß es sich u m ein W e r k der Zerstörung handelt, werden nur wenige begreifen. 1962 Z u den schwerwiegendsten Folgen der Reformation gehört der Verlust der Fähigkeit, i n Symbolen zu denken u n d z u leben, ja, bereits der, Symbole z u verstehen. D a m i t ist der weiße M a n n bis unter die Stufe des P r i m i t i v e n zurückgeworfen. Allerdings hat die Reformation diesen Verlust nicht unmittelbar b e w i r k t , w o h l aber i h n vorbereitet; u n d z u m mindesten bewirkte sie eine Wehrlosigkeit gegenüber dem Generalangriff, den ihre Enkelin, die Aufklärung, gegen das Symbol eröffnete. 1954

G I B T ES T R A G I K I N D E N T R A G Ö D I E N D E S S O P H O K L E S ? * V o n Joachim Dalfen

D i e Frage, die der T i t e l stellt, mag paradox u n d unbegründet erscheinen. W o sonst, wenn nicht i n den Dramen eines griechischen Tragikers soll m a n T r a g i k finden, w o sonst soll das Tragische gestaltet u n d dargestellt sein? Aber die Frage ist berechtigt, u n d ein kurzes Nachdenken über sie mag die notwendige methodische Grundlage für den Versuch einer A n t w o r t darauf geben, ob es das Tragische i n griechischen Tragödien, i n diesem F a l l i n den Tragödien des Sophokles gibt, ob u n d inwiefern man diesen Begriff bei der Interpretation griechischer Tragödien anwenden kann. Seit 1795 gibt es, v o r allem i m deutschsprachigen Bereich, ein intensives Nachdenken über das Phänomen des Tragischen, u n d es wurden i n z w i schen schier unzählbare Deutungen dessen, was als „ T r a g i k " gilt, formul i e r t 1 . Seit Schelling u n d Hegel gehen diese Deutungen v o n griechischen Tragödien aus, v o r allem v o n der ,Orestie', der ,Antigone' u n d dem , K ö n i g Oedipus', u n d w i e Schelling u n d Hegel haben alle späteren das Tragische beschrieben u n d gedeutet aus dem H i n t e r g r u n d ihres religiösen, philosophischen, weltanschaulichen Standpunktes, d. h. sie haben erklärt, was ihnen v o n ihrem jeweiligen Standpunkt aus als „tragisch" erscheint. A l l e Aussagen über das Tragische enthalten somit Elemente, die aus der Betracht u n g antiker Tragödien genommen sind u n d deshalb auch bei der Interpretation antiker Tragödien auf diese anwendbar scheinen, sie enthalten aber auch Elemente, die antikem Denken u n d Fühlen fremd waren. D i e * Vortrag, gehalten auf der Generalversammlung der Görres-Gesellsdiaft am 6. Oktober 1975 in Mannheim innerhalb der von den Abteilungen für Klassische und Deutsche Philologie durchgeführten Reihe zum Problem des Tragischen. Vgl. den Jahresbericht der G . - G 1975, S. 68 ff. ; 1 Ebenso unüberschaubar wie der inzwischen in viele Hunderte von Abstufungen zerfließende Begriff des „Tragischen" ist auch die Literatur darüber. Deshalb seien nur einige Titel genannt, die einen Überblick über die Entwicklung seit Schelling und über das Spektrum heutiger Aussagen geben sowie weitere Literatur anführen: P. Szondi, Versuch über das Tragische, Frankfurt/M. 1961; D. Mack, Ansichten zum Tragischen und zur Tragödie. Deutsche Theorien des 20. Jahrhunderts, München 1970; Tragik und Tragödie, hrg. von V. Sander, Darmstadt 1971 (Wege der Forschung C V I I I ) (Sammlung von 20 Aufsätzen verschied. Verfasser, im folgenden zitiert: Tr. u. Tr.).

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J o a i m Dalfen

Interpretation griechischer Tragödien v o n modernen Anschauungen über das Tragische her verfällt deshalb unausweichlich i n den Fehler, Fremdes i n sie hineinzutragen. Ferner gehen die neuzeitlichen Aussagen über das T r a gische nur v o n einzelnen griechischen Tragödien aus, u m v o n ihnen her das zu entwickeln, was einzelnen Denkern als das Wesen des Tragischen erscheint. Das Phänomen des tragischen Konfliktes oder Gegensatzes ζ . B. wurde i n der ,Orestie c oder i n der ,Antigone' gefunden, u n d inzwischen gibt es ein sehr weites Spektrum v o n Aussagen darüber, w o r i n der tragische K o n f l i k t besteht 2 . D i e Erfahrung, daß ein Mensch durch sein H a n deln unschuldig schuldig werden u n d i n tiefstes L e i d stürzen kann, die man i m , K ö n i g Oedipus' dramatisch gestaltet z u finden glaubte, stellt für manchen modernen Menschen das Wesen des Tragischen schlechthin dar 3 . Aber m i t solchen Kategorien lassen sich keine Deutungen des gesamten Werkes eines der drei griechischen Tragiker gewinnen, wenn man die Frage stellen 2 Um nur einige wenige solcher Kontrastpaare anzuführen: Sinnlichkeit und Sittlichkeit; unendliche Idee — endliche Erscheinung der Idee; Individuelles und Universum; das Einzelne und das Ganze; das menschlich Bedingte und das göttlich Unbedingte; Konflikt zweier gleichberechtigter Prinzipien bzw. gleichwertiger Pflichten; Sein — Sollen; subjektive Freiheit — objektive Notwendigkeit; Natur und Idee; das Allzuförmlidie — das Unförmliche; menschlicher Wille — Schranken, die diesem Willen gesetzt sind; gesellschaftlicher Anspruch — persönliche Leistungsfähigkeit; Schein und Irrtum — Wirklichkeit des Seins; Streit einer neu heraufkommenden gesellschaftlichen Klasse mit der alten usw. usw. So ziemlich alle diese und andere Schemata wurden auch an die griechische Tragödie angelegt. 3 Grillparzer sprach von der paradoxen Struktur der menschlichen Existenz und der Wesensnot des Menschen: wie der Mensch auch wählt, stets muß er sich in Schuld verstricken. H . Patzer, der die griech. Tragödie auf eine Schuld-SühneTheologie zurückführt, spricht vom paradoxen Schuldigwerden des Schuldlosen oder gar des Guten (Die Anfänge der griechischen Tragödie, Wiesbaden 1962, 138). M. Pohlenz, wendet sich, völlig zu Recht, gegen die von H . Weinstode und G. Nebel in die Deutung des »Oedipus' hineingetragene Vorstellung der „AllVerschuldung" des Menschen bzw. der „anthropologischen Schuld, die mit dem Wesen des Menschen gesetzt ist a und gegen die den griechischen Tragikern fremde Vorstellung von einer „Sünde der menschlichen Existenz" (Die griech. Tragödie, Göttingen 21954, I 213 f., I I 91). Zur christl. Deutung der Tragik als eines Schuldigwerden-Müssens vgl. E. G. Rüsch y Das Problem des Tragischen in christlicher Sicht, in: Tr. u. Tr. 109 ff. — Bereits Fontane hat, in der Besprechung einer Oedipusaufführung vom 20. 9.1873, geschrieben: „Unsere Dramaturgen haben es . . . zu einem Fundamèntalsatz erhoben, daß es ohne eine Schuld nicht geht — die Hinfälligkeit dieses Satzes kann nicht glänzender demonstriert werden als am König Oedipus.*' Bei Weinstock zeigt sich der Znsammenhang seiner Auffassung mit der von der mechanistischen Physik des 19. Jh. beeinflußten Interpretationsrichtung deutlich in Formulierungen wie der, der Mensch könne mit seinem begrenzten Wissen die Kausalzusammenhänge bei seinem Tun nicht überschauen, darum sei alles Handeln Schuld. — Klärend zu dem durch Aristoteles (scheinbar) aufgeworfenen Problem der „tragischen Schuld": K. von Fritz, Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit . . i n : Antike und moderne Tragödie, Berlin 1962, 1 ff. Mit Nachdruck weist F. Egermann die Versuche zurück, das Handeln der Hauptgestalten sophokleischer Tragödien mit den Kategorien der Schuld, Schuldverstrickung, Blindheit, Verblendung u. ä. zu deuten (Arete und tragische Bewußtheit bei Sophokles und Herodot, München 1957; Vom attischen Menschenbild, München 1962).

Gibt es Tragik in den Tragödien des Sophokles?

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u n d wenigstens annähernd beantworten w i l l , w o r i n nach der Anschauung eines jeden v o n ihnen das Tragische bestehe. D a ß diese Frage für jeden v o n ihnen einzeln zu stellen ist, daß das Tragische i n den D r a m e n des Aischylos sich anders darstellt als i n denen des Euripides u n d wieder anders bei Sophokles, ist eine i n der Klassischen Philologie inzwischen unbestrittene Einsicht. N i c h t neu ist auch die Forderung, daß man die antiken Tragödien nicht v o n den modernen Vorstellungen über T r a g i k her zu erklären versuchen darf. I n der Praxis der Interpretation w i r d diese Forderung aber sogar v o n jenen Philologen mißachtet, die sie programmatisch an den A n fang ihrer Untersuchungen stellen. Sie bemerken offenbar selbst nicht, daß sie bereits nach kurzer Strecke i m Fahrwasser einer hegelschen, christlichen, marxistischen, existentialistischen oder sonstweicher K o n z e p t i o n des T r a gischen segeln 4 . Für die möglichen Folgen möge ein Beispiel genügen: wer als das Wesen des Tragischen das Scheitern, die Katastrophe, den U n t e r gang des Menschen ansieht, w i r d drei der sieben erhaltenen Dramen des Sophokles, w e i l sie einen guten Ausgang haben, die Q u a l i t ä t absprechen, Tragödien zu sein 5 . I n W i r k l i c h k e i t zeigt dieses Ergebnis nur, daß m i t falschem M a ß gemessen wurde. U m ein bekanntes B i l d i n Erinnerung zu rufen®: das große K u n s t w e r k — u n d so auch eine sophokleische Tragödie — ist wie ein Gebirge. D e n Betrachtern, die es umwandern oder ersteigen, bietet es v o n jedem P u n k t der Wanderung ein anderes B i l d . Jedes dieser B i l der kann „richtig" sein. Wenn sich der Betrachter jedoch auf den K o p f 4 So bemerkt H . Weinstock richtig, daß alle deutschen Versuche, das Tragische zu bestimmen, am Griechischen vorbeigingen und nur die eigenen Anschauungen wiedergäben, um gleich im folgenden selbst aiuf Hölderlin und Kierkegaard zurückzugreifen (Die Wiederkehr des Tragischen, in: Sophokles, hr.gb. von H . Diller, Darmstadt 1967, 36 ff.). Diie Herkunft aus einer protestantisch-alttestamentlidien Pietät verrät z.B. die Interpretation des »König Oedipus' im Kommentar von Schneidewin-Nauck-Bruhn (Berlin 11 1910) schon in einzelnen Formulierungen, wie „Der Menschen Gedanken sind nichtig und ihre Anschläge eitel" (20). Im gleichen Kommentar wird zur ,Antigone' gesagt, Antigone handle zwar recht und man könne bei ihr nicht von Schuld sprechen, sie sei aber insofern nicht tugendhaft, als sie das Gute leider (sie!) aus Neigung tue. Als ob die Griechen Kantianer gewesen wären und es ihnen nicht als Zeichen sittlicher Vollkommenheit gegolten hätte, das Gute aus Neigung zu tun! 5 So tat es G. Ronnet ( Sophocle , poète tragique , Paris 1969) mit ,Elektra', ,Philoktet' und ,Oedipus auf Kolonos': hier fehle die vernichtende Tragik, der totale Pessimismus und der heroische Humanismus völlig, statt dessen finde sich hier oberflächlicher Optimismus und Negation der Tragödie. Ähnlich hatte bereits J. Geffcken (Der Begriff des Tragischen in der Antike, Vortr. d. Bibl. Warburg 1927/ 28, Leipzig 1930, 30) erklärt, ein versöhnlicher Dramenschluß sei mit Tragik unvereinbar, und damit fast dem ganzen erhaltenen Werk des Aisdiylos die Qualität abgesprochen, Tragödie zu sein. Bei solchen Verfahren wird der Dichter nicht interpretiert, sondern abgefragt, ob er den eigenen Vorstellungen genügt. 6 An dieses Bild von W. Schadewaldt erinnert auch A. Lesky in einem für grundsätzliche Interpretationsprobleme beherzigenswerten Aufsatz (Der Herren eigener Geist . . i n : Das Altertum und jedes neue Gute, Stuttgart 1970, 79 ff., bes. 97).

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stellt, darf man sich nicht wundern, wenn i n seinen Augen auch das Gebirge auf dem K o p f steht. Es führt notwendigerweise zu Mißdeutungen, wenn man, w i e es fast immer bewußt oder unbewußt geschieht, an die I n terpretation m i t der Frage herangeht: „Was ist das Tragische an den griechischen Tragödien?", dann aus dem breiten Angebot an Definitionen des Tragischen nach dem eigenen Standpunkt eine als die richtige auswählt u n d v o n i h r aus deduktiv das Gesuchte zu finden versucht. D i e heutige Literaturwissenschaft wendet dem Verhältnis zwischen Werk u n d Leser besondere Aufmerksamkeit zu. Dabei w i r d auch die These vertreten, Verstehen u n d Nichtverstehen eines künstlerischen Textes sowie U n terschiede der Interpretation seien nicht Folge akzessorischer Ursachen, sondern organische Besonderheit der rKunst. Es sei möglich, daß der Empfänger ( = Leser) dem T e x t seine eigene künstlerische Sprache ( = seinen Code) auf z w i n g t , so daß er dem T e x t schließlich das entnimmt, was er bereits kennt, wobei es geschehen kann, daß er „zufällige Textteile organisiert u n d ihnen dabei Bedeutung v e r l e i h t " 7 . Der Gedanke, daß die „Absicht" des Dichters der eigentliche Gegenstand der Literaturgeschichte sei, w i r d als I r r w e g bezeichnet. D i e Gesamtbedeutung eines Kunstwerkes sei vielmehr das Resultat eines Wachstumsprozesses, d. h. die Geschichte der K r i t i k dieses Kunstwerkes, die sich i m Laufe der Zeiten durch seine vielen Leser herausgebildet habe. M a n könne die Assoziationen der eigenen Sprache, die neu gewonnenen Einstellungen, die Inhaltsfülle u n d Tragweite der letzten Jahrhunderte nicht vergessen, ohne das W e r k selbst ärmer zu machen, man könne nicht z u zeitgenössischen Mitgliedern des Dionysos-Theaters zu A t h e n werden 8 . 7

J. M. Lotman, Die Struktur des künstler. Textes, Frankfurt/M. 1973, 44 ff. Das von Lotman beschriebene Verhalten des Lesers zum Text trifft auf viele Sophokles-Interpreten zu, die einzelne „Textteile organisierten und ihnen dabei Bedeutung verliehen". Ein sehr instruktives Beispiel ist die erste Strophe des vierten Stasimons im ,König Oedipus' (1186 - 1196). Κ .Reinhardt legte den Finger auf die Wörter dokein und doxanta und rechtfertigte mit ihnen seine These, der ,Oedipus' sei die Tragödie des Scheins und der Scheinhaftigkeit menschlichen Glücks; H . D. F. Kitto „organisierte" das in dieser Strophe stehende Wort paradeigma zu der Deutung, die Fabel von ,Oedipus' zeige das ganz natürliche und typische Ergebnis, das sich einstelle, wenn solche und solche Charaktere in solche und solche Situationen gelangen; M. C. Bowra nahm das Wort daimon heraus, um darauf seine religiöse Deutung aufzubauen. Warum aber gerade dieser eine „zufällige Textteil" diese Bedeutung für das Verständnis des ganzen Stückes haben soll, hat keiner von ihnen gesagt. 8 R. Wellek — A. Warren, Theorie der Literatur, Frankfurt/M. 1972, 43 f. An gleicher Stelle aber audi die Zurückweisung willkürlich-subjektiven falschen Lesens sowie die Feststellung, daß eine Unterscheidung .zwischen dem historischen Standpunkt und dem der Gegenwart durchführbar ist (vgl. auch die Ausführungen über Gedicht und individuelles Erlebnis des Lesers, a.a.O. 151 f.). S. ferner das Kapitel „Das Überlieferungsgeschehen der Wirkungsgeschichte. Die Rezeptionstheorie poetischer Texte" in: H . Turk , Literaturtheorie I, Göttingen 1976, 93 ff.; H . Glinz, Textanalyse und Verstehenstheorie I, Frankfurt/M. 1973, 22 f. (Glinz wendet sich hier gegen die Ausweitung des Begriffes „Text" in der Weise, daß in ihn auch die

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I n diesen Thesen steht Richtiges, aber notwendige Unterscheidungen sind unterblieben. Auch wenn m a n die V i e l f a l t der Assoziationsmöglichkeiten, die ein Kunstwerk verschiedenen Lesern z u verschiedenen Zeiten bietet, für die Bedingungen u n d die Folgen seiner Rezeption i n Rechnung stellt, sollte man methodisch zwischen dem W e r k , seiner Interpretation u n d seiner W i r kungs- bzw. Rezeptionsgeschichte unterscheiden. M a n sollte ferner unterscheiden zwischen dem „normalen" Leser, an den die Literaturwissenschaft i n den angedeuteten Zusammenhängen denkt, u n d dem „berufsmäßigen" Leser, dem Philologen u n d Literaturwissenschaftler. Letzterer hat die Aufgabe zu vermitteln, anderen den Zugang zu Werken der Literatur zu eröffnen u n d deren Verständnis zu ermöglichen. N a t ü r l i c h k a n n keine scharfe Trennungslinie zwischen dem „ n o r m a l e n " u n d dem „berufsmäßigen" Leser gezogen werden, u n d natürlich k a n n i n der spannungsvollen Beziehung zwischen O b j e k t u n d Subjekt der Interpretation das i n terpretierende Subjekt nicht v o n seiner eigenen Person abstrahieren. Das persönliche Element macht sich bereits i m „Interesse", i n der Zuwendung zu bestimmten Werken, Autoren, Epochen, Themen geltend 9 . Auch die Sehweise des berufsmäßigen Lesers ist v o n den Faktoren bestimmt, die seine Persönlichkeit geprägt haben, u n d sie w i r d sich m i t wechselndem Lebensalter ändern. Aber er muß doch die Methoden seines Faches sowie seine sprachlichen, literarischen, historischen Kenntnisse einsetzen, u m i m Verhältnis zwischen O b j e k t u n d Subjekt der Interpretation das Gewicht nicht einseitig zugunsten des Subjekts z u verlagern 1 0 . I n der philologischen Fachliteratur scheint die bewußte methodische Unterscheidung zwischen dem, was Versuch einer historischen, auf die Aussageabsicht des Autors zielenden I n Akte und Ergebnisse des Rezipierens eingeschlossen werden). — Was die „Assoziationen der eigenen Sprache" betrifft, so sei als Beispiel für mögliche Ergebnisse auf die Studie des Psychoanalytikers D. van der Sterren verwiesen (Oedipus, München 1974), der fast in jedem zweiten Wort des Sophoklestextes eine Metapher, eine „Verbergung" oder „Enthüllung" zu erkennen meint, die im Sinne der Psychoanalyse ausdeutbar scheint. Aus Sophokles wird bei diesem Verfahren zwar ein perfekter Psychoanalytiker (der nach v. d. Sterren sich selbst analysiert und sein eigenes Psychogramm gibt), aber der Tragödiendichter verschwindet. 9 Vgl. hierzu J. Meurer s, Kleine Wissenschaftslehre, Aschaffenburg 1970, 10 ff. 10 Vgl. die feinen und sehr eingehenden Ausführungen des Rechtswissenschaftlers E. Betti: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, in: Festschrift für E. Kabel, hrgb. von W. Kunkel u. H . J. Wolff , I I 1954, 79 ff. — Es soll hier selbstverständlich nicht einer Interpretation das Wort geredet werden, die Literatur aus der Distanz des innerlich unbeteiligten, unbetroffenen und unangerührten Zuschauers betrachtet oder sie als Übungsgelände für die Handhabung von Methoden um der Methoden willen nimmt. Die großen Werke der Literatur leben fort, weil sie Menschen verschiedener Zeiten und verschiedener Herkunft jeweils etwas zu sagen haben und von jeweils neuen Erfahrungen aus andere Seiten ihres Gehaltes enthüllen. Deshalb ist die Arbeit der Interpretation immer von neuem .zu leisten und es ist stets zu fragen, was das Werk hier und jetzt zu sagen hat. Aber gerade eine solche Interpretation braucht als Grundlage das Verständnis des Werkes aus dem Denken und den Absichten des Dichters und aus der geistigen Situation seiner Entstehungszeit hinaus. Andernfalls werden die Werke umfunktioniert zu einer Echowand, die das zurückwirft, was man in sie hineinruft.

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terpretation, u n d was Wiedergabe des subjektiven (wenn auch oft sehr tiefen u n d feinsinnigen) Empfindens u n d Assoziieren« des „berufsmäßigen" Lesers ist, nicht sehr w e i t verbreitet zu sein. D e r Benützer der Sekundärliteratur w i r d aber o f t nicht i n der Lage sein z u unterscheiden, was werkgerechte Auslegung u n d was Beschreibung der W i r k u n g eines Werkes auf einen Einzelnen ist. Es liegt f r e i l i d i nahe, daß ein christlicher Interpret bei Oedipus an H i o b denkt oder daß er i n seiner Oedipusinterpretation die Begriffe Dornenkrone, Kalvarienberg, Auferstehung verwendet 1 1 . Oedipus zu einem zweiten H i o b zu machen, mag erbaulich sein, w e i l man dann i n i h m das findet, was man schon zu kennen, beurteilen u n d einordnen zu können glaubt. D e r mögliche Gewinn, der sich ergeben kann, wenn man sich m i t geistigen Schöpfungen verschiedener Epochen einläßt u n d auf sie eingeht, die Möglichkeit z u neuen Einsichten u n d Erfahrungen geht freilich verloren, w e n n man das andere nur als einen Spiegel benützt, i n dem. man das eigene Gesicht erkennen w i l l . Erschwert w i r d jede A n t w o r t auf die Frage nach dem Tragischen i n der griechischen Tragödie durch den höchst auffälligen Umstand, daß die Griechen selbst offenbar nicht über das Phänomen des Tragischen reflektiert u n d keine Theorie davon aufgestellt haben. D i e Begriffe „ T r a g i k * u n d „ t r a gisch" i n unserem Sinn sind den Griechen fremd. Z w a r sind das Eigenschaftswort tragikós u n d das H a u p t w o r t tragikê Wörter der griechischen Sprache, aber sie bezeichneten i n i h r literarische Erscheinungen, waren bezogen auf die Tragödie als Kunstform, etwa auf den ihr eigenen S t i l 1 2 . Seit 11 G. M é au ti s, Sophocle. Essay sur 1' héros tragique, Paris 1925 — Sicher berechtigt ist eine Beschäftigung mit der griech. Tragödie unter dem Gesichtspunkt des „politischen Theaters'*, nur müßte methodisch geklärt werden, auf welche Weise eine mât dem Mythos als Stoff arbeitende Dichtung aktuelle Zeitbezüge herstellt, welche Möglichkeiten zum Erkennen dieser Zeitbezüge sie für den Rezipienten schafft usw. Es ist wohl nur Ergebnis eines freien Phantasierens und unbekümmerten Assoziierens, wenn man den König Oedipus in Parallele zu Perikles setzt, an ihm die Hybris dargestellt findet als die Überheblichkeit des Geistes, der glaubt, auf dem Gebiet der Politik sei alles planbar, und schließlich das Stück als eine Warnung vor dem Faschismus bezeichnet (S. Melchinger, Geschichte des politischen Theaters, Frankfurt/M. 1974, I 68 ff.). Wo endlich eine Aussage der Art, Oedipus, die wohl tragischste Gestalt der Weltdichtung, . . . verteidige herrisch den Bestand der auf der Sklavenwirtschaft beruhenden Polis, die sich geschichtlich schon aufzulösen beginne (J. Müller, in Tr. u. Tr. 137), am Text eine Stütze findet, wird schwerlich mit irgendeiner philologisdi-literaturwissenschaftlichen Methode zu zeigen sein. — Es ist heute verstehbar, wie die in den 20er Jahren einsetzenden Deutungen der Tragik griech. Tragödien mit den Kategorien der Scheinhaftigkeit menschlichen Glücks, der Verblendung und Wahnbefangenheit des Menschen aus der durch den ersten Weltkrieg ausgelösten Erschütterung und Ernüchterung erwuchsen (die Einsicht wurde schon von H . Weinstode, a.a.O. 41 f. ausgesprochen, der aber nicht die methodischen Konsequenzen gezogen hat). Ebenso kann man nachempfinden, warum die Deutung des Tragischen als absolutes und auswegloses Leid, das dem in Streit und Widerstreit stehenden Menschen notwendig erwächst und zugeordnet ist, in den letzten Jahren des zweiten Weltkriegs entstand.

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Aristoteles gibt es z w a r eine Poetik der Tragödie, eine Philosophie des Tragischen gibt es dagegen erst seit Schelling, Schiller u n d Hegel. So muß man die methodische Frage stellen, ob w i r recht daran tun, griechische Tragödien auf einen „tragischen" Gehalt h i n zu interpretieren. Das schließt die Frage ein, ob das Fehlen eines Begriffes i n einer Sprache, also das Fehlen des Begriffes „ T r a g i k " i n seiner heutigen Verwendung i n der griechischen Sprache, das Fehlen des entsprechenden Bewußtseinsinhaltes unabdingbar einschließt. Angesichts des vielen, was modernem Empfinden am I n halt griechischer Tragödien „tragisch" erscheint, w i r d man nicht leicht geneigt sein, diese enge Verbindung v o n Begriff u n d Bewußtseinsinhalt anzunehmen. M a n w i r d allerdings auch bedenken, daß „Tragisches" v o n heutigen Interpreten nicht n u r i n Tragödien gefunden w i r d , sondern auch außerhalb u n d sogar v o r der Tragödie, nämlich i m homerischen Epos. Somit ergäbe sich die weitere Frage, ob T r a g i k als Gehalt u n d Tragödie als literarische Form, i n der dieser Gehalt m i t künstlerischen M i t t e l n dargestellt w i r d , die einzig mögliche Verbindung v o n T r a g i k u n d Literatur sind. Doch hier geht es nur u m die Frage nach der T r a g i k i n sophokleischen Tragödien. D i e methodische Rechtfertigung einer Untersuchung antiker Tragödien auf einen tragischen Gehalt h i n w i r d auf jeden F a l l abhängen v o n einer A n t w o r t auf die Frage nach der Seinsweise v o n T r a g i k . D i e Frage meint, ob T r a g i k eine objektive W i r k l i c h k e i t ist (woraus folgen würde, daß das Tragische seinem Wesen nach immer u n d überall gleich sein müßte), ob es eine Idee i n einem v o n P i a t o n entlehnten Sinn des Wortes Idee ist (wie etwa Walter Benjamin i m Anschluß an M a x Scheler gemeint hat) oder ob m i t T r a g i k nur verschiedene Bewußtseinsinhalte des Menschen bezeichnet werden, Erfahrungen, Erlebnisse, Empfindungen, bestimmte Weisen, die W e l t u n d das Leben z u erfahren, anzuschauen u n d diese Erfahrungen zu deuten. D a n n wäre T r a g i k abhängig v o m U r t e i l des Menschen, der jeweils die W e l t u n d das Leben i n ihr betrachtet, sie existierte nur i m menschlichen Bewußtsein, wäre etwas Subjektives. D i e große Breite u n d Disparatheit der i n den letzten 180 Jahren gefällten Aussagen über das Tragische zeigt tat12 A. Lesky: „Die Griechen haben keine Theorie des Tragischen, die über dessen Gestaltung im Drama hinausgriff und -die Auffassung der Welt als ein Ganzes betraf, entwickelt" (Die griedi. Tragödie, Stuttgart 31964, 15). Angesichts dieser Tatsache und angesichts der Untauglichkeit heute geläufiger Tragik-Begriffe für die Erklärung griechischer Tragödien wird man geneigt sein, in der auf den ersten Blick ärgerlich positivistischen Definition der griech. Tragödie bei U. von Wilamowitz-Moellendorff (Euripides, Herakles I, Darmstadt 4 1959, 108) weise Beschränkung zu sehen. — Zur übertragenen Verwendung der Wörter „tragisch" u. ä. vgl. Verf., Übertragener Gebrauch von tragikós und tragodein . . . , in: Philologus 116, 1972, 76 ff. — Nebenbei sei vermerkt, daß die Frage nach dem Tragischen in der griech. Tragödie nicht von Philologen aller Länder gestellt wird. Angelsächsische Philologen fragen etwa nach der philosophy of Sophocles (ζ. Β. Η . D. F. Ritto , Greek Tragedy, London 1966, 145 ff.).

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sächlich m i t aller Deutlichkeit, w i e diese Aussagen v o n den geschichtlichen Erfahrungen, den religiösen u n d philosophischen Standpunkten derer, die über das Tragische gesprochen haben, abhängen. Sie zeigt auch, daß nicht immer die gleichen, sondern ganz verschiedene Handlungen, Ereignisse, Geschehensabläufe als tragisch bezeichnet werden. Graphisch dargestellt w ü r den die Aussagen über das Tragische gewissermaßen eine Gauß'sche K u r v e beschreiben m i t einem breiten Feld ineinander verfließender Vorstellungen u n d m i t Extremwerten eines radikalen Pessimismus (Tragik = das Vernichtende, Erfahrung der Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Scheitern gerade des Edelsten, Unerlösbarkeit des Menschen usw.) einerseits, eines befreienden Optimismus (Aufhebung u n d Lösung des K o n f l i k t s i n einer höheren O r d nung, E n t h ü l l u n g eines tieferen Sinns, Sieg des ewig Substanziellen, Versöhnung, Sieg des Werthaften, Beweis der Größe u n d Erhabenheit des Mensdien u. ä.) andererseits. U n d es gibt ganze geschichtliche Epochen u n d geschlossene Weltanschauungen, die als „untragisch" gedeutet werden, d. h. die keine tragische Deutung v o n Mensdi u n d W e l t entwickelt haben. Als theoretische Gegensätze z u einer tragischen Weltdeutung werden etwa genannt die sokratisch-platonische u n d die stoische Philosophie (aber der Stoiker Seneca hat Tragödien geschrie&en), die christliche Religion (doch es gibt genug Schriften über einen christlichen Begriff der T r a g i k u n d es gibt Deutungen griechischer Tragödien v o n solchem christlichen Tragik-Verständnis aus), ferner der Naturalismus, Mechanismus u n d Determinismus, weiters der moralische u n d der wissenschaftliche Optimismus. M a n hat behauptet, nach M a r x u n d Engels könne es keine Tragödie mehr geben, aber es gibt marxistische Theorien des Tragischen 13 . D i e Breite des Bedeutungsgehaltes, der jeweils m i t dem gleichen W o r t „ T r a g i k " bezeichnet w i r d , könnte als I n d i z dafür genommen werden, daß eine objektive Realität noch nicht genügend k l a r erkannt u n d beschrieben worden ist, daß also ein noch zu lösendes Problem vorliegt. N u n w i r d aber nicht nur Widersprüchliches, sondern sogar Konträres m i t dem gleichen W o r t bezeichnet. D i e O b j e k t i v i t ä t , die den verschiedenen Inhalten des W o r tes „ T r a g i k " zugesprochen werden soll, indem diese auf „Lebenswirklichkeiten", „ U r g r ü n d e des Daseins", „versteckte Strukturmomente" zurückgef ü h r t werden, indem v o n der Idee oder dem Wesen des Tragischen gesprochen w i r d , w i r d o f t genug v o n denselben Theoretikern relativiert, wenn sie i m gleichen Atemzug v o n einem „Lebensgefühl" sprechen oder erklären, das Tragische stütze sich nicht auf eindeutige Erfahrungen, sondern auf ein verschlungenes Gewebe vielfältigen Bewußtseinsbesitzes 14 . 13 Vgl. z.B. in Tr. u. Tr. die Aufsätze von L. Marcuse (99ff.), E. G. Rüsch (109 ff.), R. B. Sewall (148 ff.), W. Grenzmann (166 ff.) und W. G. McCollom (209 ff.). 14 W. Grenzmann a.a.O. als Beispiel für viele. Vgl. die unklaren, in Anschluß an M. Scheler vorgetragenen Ausführungen über die Idee des Tragischen und des

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D i e Begriffe „ T r a g i k " u n d „tragisch" werden verwendet zur Bezeichnung v o n Erfahrungen, Erlebnissen, Geschehensabläufen u n d -zusammenhängen, u n d z w a r v o n solchen, die für die menschliche Existenz u n d deren Interpretation bedeutsam sind. Je nach der historischen Situation sind die Erfahrungen u n d die erlebten Geschehensabläufe verschieden, je nach dem philosophisch-weltanschaulichen Standpunkt variiert die Deutung. Z u den vielen Nuancen der philosophischen, religiösen, kunsttheoretischen T r a g i k Begriffe k o m m t schließlich auch noch der ebenso disparate, verflachte, v o r wiegend ins Sentimentale umgebogene Begriff der Alltagssprache hinzu. Som i t erweisen sich, durch die A r t ihrer Verwendung, die W ö r t e r „ T r a g i k " u n d „tragisch" gleichsam als Chiffren oder Leerformeln: sie signalisieren, daß eine Deutung menschlicher Existenz gegeben w i r d . A r t , Richtung u n d I m p l i k a t i o n e n dieser Deutung müssen aber jeweils erst dem jeweiligen K o n t e x t entnommen werden. Das „Tragische" ist eher selbst möglicher Gegenstand einer ideengeschichtlichen Interpretation, als daß es eine geeignete Kategorie wäre, m i t deren H i l f e griechische Tragödien interpretiert werden könnten. Verstehen w i r T r a g i k auf diese Weise, können w i r die Frage nach dem Tragischen i n den griechischen Tragödien stellen. D i e Frage, ob es T r a g i k i n den Tragödien des Sophokles gibt, w i r d dann zu der Frage, was Sophokles i n seinen Tragödien dargestellt hat, w i e u n d w o r a n er es gezeigt hat, w i e er es gedeutet hat, zur Frage nach seiner Deutung menschlicher Existenz. Methodisch sind für eine solche Untersuchung z w e i Grundsätze festzuhalten. Erstens müssen sämtliche vertrauten modernen Vorstellungen, die m i t den Begriffen „ T r a g i k " u n d „tragisch" verbunden werden, ferngehalten werden. U n d zweitens, daraus folgend: es muß i n d u k t i v vorgegangen werden, d. h. es muß aus der Feststellung dessen, was Sophokles i n seinen Dramen darstellt u n d wie er es darstellt, das M a t e r i a l gewonnen werden, m i t dem der Versuch einer A n t w o r t unternommen werden kann. Das Ungenügen der deduktiven Interpretation zeigt sich ganz offenkundig an den Ergebnissen: man gelangte, v o n widersprüchlichen u n d einander Trauerspiels bei W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt/M. 1972, 20 ff. Sehr bedenkenswert sind dagegen die von R. B. Sewall (a.a.O. 151 f.) herangezogenen Worte des Philosophen, Dichters und Klassischen Philologen M. de Unamuno , der von einem „tragischen Lebensgefühl" spricht als von einer mehr oder weniger formulierten Subphilosophie, die weniger Ideen entspringt als sie bestimmt. — Der Streit um Objektivität oder Subjektivität berührt nicht nur die Auffassungen der Tragik und des Tragischen, sondern auch ihres Gegenpols, der Komik und des Komischen. Die an Hegel anschließenden Theorien (z. B. von Solger und Vwc&er) behaupten die Objektivität des Komischen und verlegen seine Begründung in die Metaphysik, während die bei A. W. Schlegel ansetzenden romantischen und die davon beeinflußten Theorien Komik als entfesselte Subjektivität, als Form der freien Auseinandersetzung des Menschen mit der Wirklichkeit betrachten. 2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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ζ . T . ausschließenden Aussagen über das „Tragische" bei Sophokles ganz abgesehen, nur dazu, v o n einer T r a g i k des Oedipus, einer T r a g i k der A n tigone usw. zu sprechen, bekam aber nicht den Blick auf das Ganze. Dieses Ergebnis ist geistesgeschichtlich erklärbar: zu Beginn der modernen Reflexion über das Tragische entwickelten die Denker ihren Begriff an einzelnen griechischen Tragödien, i n denen sie gerade ihre eigene Vorstellung dargestellt fanden. Auch dem hier angestellten Versuch w i r d es sicher nicht gelingen, der Aussage sophokleischer Tragödien i n ihrer Vielschichtigkeit gerecht zu werden. D i e sieben erhaltenen Tragödien, nur ein kleiner T e i l des Gesamtwerkes, sind doch so reich u n d vielfältig i n der Darstellung menschlichen Schicksals u n d menschlichen Verhaltens, daß sie nicht gestatten, die sophokleische Darstellung auf eine feste Formel zu bringen. N u r einzelne Aspekte können gewonnen werden, aber doch solche, die wesentlich für das Gesamtverständnis sind u n d die möglichst für alle erhaltenen Tragödien, nicht nur für diese oder jene, gelten können. Es w i r d hier v o n der Voraussetzung ausgegangen, daß Sophokles i n seinen Tragödien seine Sicht u n d Deutung menschlicher Existenz dargestellt hat, daß seine Dramen einen bestimmten, v o m Dichter i n sie gelegten Gehalt u n d einen „ S i n n " haben, daß sie tatsächlich die „jedem abgerundeten Dichtwerk inhaerente Weltanschauung" des Dichters enthalten, die A n spruch auf Wahrheit erhebt, daß er i n ihnen „unvermeidlich seine gesamte Lebenserfahrung u n d -anschauung ausdrückt" 1 5 . Bei der Betrachtung der Dramen des Sophokles sind einige Gesichtspunkte zu beachten, die bereits v o n früheren Interpreten herausgearbeitet wurden und die als sichere Grundlage für die Beschäftigung m i t seinem Werk angesehen werden können. Der erste ist der, daß Sophokles jeweils eine Gestalt i n den M i t t e l p u n k t der H a n d l u n g stellt. Diese Gestalt ist der Träger des Geschehens, das sich aus ihrem Wesen heraus entwickelt u n d wegen dieses Wesens einen bestimmten Verlauf n i m m t u n d ein bestimmtes Gepräge erhält. D i e anderen Personen der H a n d l u n g sind auf diese eine Gestalt bezogen, sie liefern die auslösenden Voraussetzungen z u deren H a n deln oder reagieren i n vielfach abgestufter Weise darauf; ihr Verhältnis zu der Hauptgestalt, das v o n Verbundenheit u n d Zuneigung über verständnislose Distanz bis zur Grausamkeit, H a ß und Bedrohung reicht, hat die dramatische Funktion, A r t u n d H a n d e l n der Hauptgestalt deutlich hervortreten zu lassen. Doch ihre F u n k t i o n erschöpft sich nicht darin, Re15 Siehe W eilek-Warren a.a.O. 33 f., 96, 299 Anm. 10. Die oben gemachte Voraussetzung wird nicht von allen akzeptiert; es gibt auch die Gegenthese, daß Sophokles keine Wahrheit habe, die er lehren wolle, daß er nur gute Stücke schreiben wollte: Λthere is no meaning in the plays of Sophocles " (z.B. A. J. A. Waldock , Sophocles the Dramatist, Cambridge 1966).

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liefgrund für die Hauptgestalt zu sein. D i e Nebenfiguren u n d die Chöre zeigen versdiiedene Möglichkeiten, sich i n einer u n d derselben Situation zu verhalten, auf die Anforderungen einer Situation verschieden zu reagieren, die Situation, ihre Hintergründe u n d Konsequenzen verschieden zu interpretieren. Dadurch w i r d bewußt gemacht, daß die H a l t u n g der H a u p t gestalt nicht die einzig mögliche u n d keineswegs die selbstverständliche ist. Es ist m i t Recht gesagt worden, daß es erst seit Sophokles den tragischen H e l d e n g i b t 1 6 . Strukturell zeigt sich dies an seinen Dichtungen darin, daß Sophokles die Trilogie zugunsten des Einzeldramas aufgegeben h a t : er stellt nicht mehr wie Aisdiylos i n einer Abfolge v o n drei zusammengehörenden Tragödien einen großen, mehrere Generationen u n d weite Zeiträume übergreifenden u n d auf ein Z i e l hinführenden Geschehenszusammenhang dar, sondern er gestaltet i n den engen Grenzen einer Tragödie i n sich geschlossene H a n d l u n g e n aus den Charakteren der Personen heraus. Stofflich zeigt sich dies daran, daß Sophokles das Geschehen, etwa die H a n d lungen v o n Oedipus u n d die v o n Orest u n d Elektra, aus dem Zusammenhang des Geschlechterfluches löst, i n die sie innerhalb der mythischen Uberlieferung u n d auch bei seinem Vorgänger Aischylos standen. Besonders deutlich w i r d dies daran, daß er Gestalten, die i m M y t h o s am Rande standen oder überhaupt keine Rolle spielten, w i e Antigone, Deianeira, Elektra u n d Neoptolemos, zu entscheidenden Trägern der inneren u n d äußeren H a n d l u n g gemacht hat. Gerade durch diese Gestalten erhält aber die H a n d lung seiner Dramen die Struktur, v o n der gleich gesprochen werden w i r d . D i e zweite Erkenntnis, die grundsätzliche Bedeutung für das Sophoklesverständnis hat, ist die v o n der Geschlossenheit seiner Kunstwerke. Anders als Aischylos u n d Euripides gibt Sophokles dem H ö r e r nie, auch nicht i n seinen Chorliedern, ausdrückliche Hinweise darauf, w i e er das Geschehen zu deuten hat. A l l e W o r t e seiner Gestalten sind v ö l l i g i n die H a n d l u n g integriert, entspringen der Rolle u n d dem Charakter der beteiligten Personen u n d des Chores, der bei Sophokles ebenfalls immer Person der H a n d lung i s t 1 7 . A l l e Versuche, auf einzelnen Aussagen der Personen u n d des Chores, die man aus dem Zusammenhang der Stücke gelöst u n d ohne methodische Rechtfertigung als „Stimme des Dichters" bezeichnet hat, eine i* Vgl. z.B. B. M. W. Knox y The Heroic Temper. Studies in Sophoclean Tragedy, Berkeley-Los Angeles 1966, 1; E. Dönt, Zur Deutung des Tragischen bei Sophokles, in: Antike und Abendland 17, 1971, 46. 17 Zur Unterscheidung der Rolle, welche dem Chor bei Aischylos und Euripides, anders als bei Sophokles, für die Formulierung der vom Dichter intendierten Auffassung seiner Stücke zugewiesen wird, s. G. Müller, Chor und Handlung bei den griechischen Tragikern, in: Sophokles, hrsg. von H . Diller, Darmstadt 1967, 212 ff. Hierzu vgl. auch E. R. Schwinge, Die Rolle des Choreis in der sophokleischen Antigone, Gymnasium 78, 1961, 294 ff. Einen mittleren Standpunkt zwi-

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Deutung sophokleischer T r a g i k aufzubauen, lassen sidi leidit als Fehlversuche nachweisen. D e r Satz, daß Sophokles als Dramatiker seine Aussagen durch das Ganze der Handlungen gibt u n d daß deshalb n u r die Beachtung der gesamten Dramen i n ihrem Verlauf u n d Ergebnis auf diese Aussagen hinführt, ist nicht neu, aber wichtig. Eine zuverlässige Grundlage gibt nur die genaue Beobachtung der Struktur sophokleischer Handlungen, der Abläufe des Geschehens u n d der sie bestimmenden Momente. Es ist also zu fragen nach immer wiederkehrenden Strukturen der H a n d l u n g , nach Mustern (patterns) u n d danach, ob soldie allenfalls auffindbaren strukturellen Übereinstimmungen etwas aussagen können darüber, w o r i n Sophokles T r a g i k erblickte (wenn w i r uns darauf einigen können, unter T r a gik die Deutung z u verstehen, die ein Denker v o n der W e l t u n d der E x i stenz des Menschen i n i h r gibt). Bei der Suche nach strukturellen Elementen, die für das Geschehen i n allen erhaltenen Tragödien k o n s t i t u t i v sind oder doch wenigstens so oft begegnen, daß ihnen allgemeinere Signifikanz beigelegt werden kann, f ä l l t der Blick auf drei Faktoren, die i n allen sophokleischen D r a m e n den A b lauf des Geschehens bestimmen: auf die Hauptgestalt, auf die U m w e l t , i n die der Dichter sie stellt, u n d auf die Götter u n d deren Rolle für u n d i n der menschlichen H a n d l u n g . Als ein vierter Faktor ließe sich noch die Situation hinzufügen, die für die sophokleischen Hauptgestalten z u Beginn der dramatischen Handlungen vergleichbar ist. Doch da sie einerseits i m Zusammenhang steht m i t der Hauptgestalt, andererseits m i t der U m w e l t , die jeweils die Hauptgestalt i n eine bestimmte Situation bringt, mag es sich erübrigen, sie gesondert zu nennen 1 8 . sehen der Betonung der völligen Integrierung der Worte des sophokleischen Chores in die Handlung und der Anerkennung einer gewissen „überrollenmäßigen" Gestaltung (Möglichkeit, in den Worten des Chores die „Stimme des Dichters" zu hören), nimmt A. Lesky ein (Der Herren eigner Geist . . . 79 ff.). — Zu wenig klar wurde bisher herausgearbeitet, daß die Aufgabe sophokleischer Chöre (die stets Repräsentanten einer Gruppe sind und schon allein deshalb für den Dichter das geeignete Medium darstellen, um vom Standpunkt der communis opinio Reaktionen auf das Geschehen artikulieren zu lassen) innerhalb der Dramen u. a. darin besteht, an einzelnen Punkten des Handlungsablaufes nach Kategorien zu suchen, um als Beteiligte und von der Handlung Betroffene das Geschehen und das Verhalten der handelnden Personen aus der Mentalität und von der Warte ihrer Rolle aus zu deuten. Um ein Beispiel zu nennen: Ant. 582 ff. interpretiert der Chor das bis dahin erreichte Stadium der Handlung vom Gedanken an den Geschlechter fluch und mit den ebenso traditionellen Vorstellungen von der Ate, mit der Götter Menschen schlagen. In der polyphonen Struktur der sophokleischen Tragödie ist dies eine Stimme. Sie sagt, wie man mit bekannten mythologischen Mustern und mit traditionellen religiösen Vorstellungen sich einen Reim auf das Geschehen machen könnte. Der Zuschauer stellt vielleicht fest, daß auch er so urteilen würde, er erkennt aber im weiteren Verlauf, daß diese Deutung hier nicht angemessen ist, und er wird dadurch provoziert, seine eigenen Maßstäbe zu überprüfen.

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D i e Hauptgestalten wollen jeweils einen Wert, u n d z w a r meist einen ideellen Wert, verwirklichen oder behaupten b z w . eine auferlegte V e r pflichtung erfüllen. Dieser W i l l e führt sie zu einem Widerstand oder zu einer Gegenaktion: die Hauptgestalten des Sophokles sind nicht Agierende, sondern Reagierende. Aias w i l l seine Ehre wieder herstellen, i n den ,Trachinierinnen c w i l l Deianeira sich die Liebe des Herakles, die i h r zu entschwinden droht, sichern, Antigone w i l l durch die Bestattung des Bruders die Pflicht erfüllen, die i h r durch die Zugehörigkeit z u m Bruder u n d durch die Gebote der Götter auferlegt ist, der K ö n i g Oedipus w i l l die über seine Stadt Theben verhängte Pest abwenden, dann, als diese zweite Aufgabe immer deutlicher hervortritt, sucht er gegen alle Widerstände nach der Wahrheit über seine Existenz. Elektra lebt ganz der Erinnerung an ihren heimtückisch gemordeten Vater u n d dem Gedanken der Radie an den M ö r dern, die aus rechtlichem u n d religiösem Gefühl gefordert scheint. Philoktet wünscht einerseits die Befreiung aus seiner notvollen Lage, andererseits weigert er sich, sein eigenes Ehr- u n d Rechtsempfinden preiszugeben, H e i m kehr u n d Gesundheit zu erkaufen durch Aufgabe des als richtig Erkannten u n d durch ein T u n , das seinen Peinigern V o r t e i l brächte. Oedipus sudit i n Kolonos die i h m verkündete Ruhe v o n den Leiden, w i e Philoktet weigert auch er sich, sich v o n denen, die an seiner Lage schuld sind, für deren Zwecke einspannen zu lassen. A l l e sophokleischen Gestalten werden durch ihre U m w e l t i n die Lage gebracht, daß sie ihr Eigenes zu behaupten oder durchzusetzen versuchen müssen. D e m Aias wurde durch das U r t e i l der Heeresversammlung über die Waffen Achills die i h m gebührende Anerkennung versagt. I n einer Gesellschaft, i n der Ehre gegründet w a r auf die Anerkennung durch die Gemeinschaft, w a r dem Helden dadurch der W e r t seiner Existenz genommen. Aias versuchte, sich durch eine Gewalttat seine Ehre zu erkämpfen, aber hier g r i f f die G ö t t i n Athena ein. Sie verhinderte z w a r den M o r d an den Führern des Heeres, indem sie Aias m i t W a h n schlug. A b e r i n diesem W a h n trieb sie ihren grausam-rohen Spott m i t i h m u n d gab i h n dem Gelächter des ganzen Heeres preis. So w a r f ü r Aias ein ehrenvolles Leben erst recht für immer v ö l l i g unmöglich geworden. Deianeira hat als G a t t i n des Zeussohnes Herakles ein Leben voller Ängste u n d Sorgen gelebt, auch der Angst u n d Sorge u m Herakles, der 18 R. B. Sewall geht in seinem Aufsatz (Die tragische Form, in: Tr. u. Tr. 148 ff.) von den drei Komplexen „Der tragische Mensch", „Der tragische Mensch und die Gesellschaft" und „Der tragische Kosmos" aus. Als seinen Grundsatz gibt Sewall an, er „möchte, lieber als eine Bestimmung der Tragödie auf die unendlichen Variablen der Publikumsreaktionen zu gründen, zuerst die Werke selbst . . . betrachten" (a.a.O. 153).

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ständig zu irgendwelchem Abenteuer unterwegs ist. Jetzt muß sie erfahren, daß Herakles, nach fünfzehn Monaten heimkehrend, gerade aus Liebe z u einer anderen Frau eine ganze Stadt zerstört, deren K ö n i g getötet u n d die Bewohner versklavt hat. N u n schickt er, gefühllos auch gegen seine Frau, i h r m i t einem Z u g v o n Gefangenen die jüngere Geliebte ins Haus. D e r gewalttätige u n d i n seinem Empfinden rohe Herakles bildet i n den ,Trachinierinnen' die feindliche U m w e l t für Deianeira, die die Hauptgestalt i n die Situation stellt, i n der eine Entscheidung u n d eine T a t gefordert werden. H i e r i n hat er die gleiche F u n k t i o n w i e die A t r i d e n Agamemnon u n d Menelaos i m ,Aias c , w i e K r e o n i n der , A n t i g o n e ' 1 9 . K r e o n hat i m Glauben an die Absolutheit seiner Stellung als Herrscher das Verbot erlassen, die Leiche des Polyneikes zu bestatten. E r w o l l t e dadurch ein Exempel statuieren u n d die L o y a l i t ä t seiner Untertanen prüfen, u n d er glaubte bei a l l dem, sich über alle Rücksichten Menschen u n d Göttern gegenüber hinwegsetzen zu können. I n der Elektra sind es die Mörder Klytaimnestra u n d Aigisthos, die, i n frivoler Weise die Frucht ihres Verbrechens genießend, den W i d e r stand Elektras herausfordern u n d diesen Widerstand auch dadurch nicht brechen können, daß sie das Mädchen i n der elenden Lage einer Sklavin halten u n d sie schließlich m i t dem Tode bedrohen. D i e Hauptgestalt sophokleischer Tragödien w i r d jeweils i n einer bestimmten Situation gezeigt, u n d z w a r w i r d sie i n diese Situation durch ihre U m w e l t hineingedrängt. Aus dieser U m w e l t kommen die aktiven Gegenspieler der Hauptgestalt, die gemessen an menschlichen, moralischen und religiösen N o r m e n schlecht sind u n d i n dieser Fragwürdigkeit deutlich charakterisiert werden. So muß Philoktet schon das zehnte Jahr m i t einer schwärenden W u n d e auf einer menschenleeren Insel dahinvegetieren, w e i l den Führern des griechischen Heeres der K r a n k e lästig geworden w a r u n d 19 Daß er im zweiten Teil die Bühne beherrscht, sagt nichts dagegen: hierzu sind ,Aias' und »Antigone* vergleichbar. Aussagekräftig ist dagegen, daß Sophokles die Apotheose des Herakles draußen gelassen hat. Man kann natürlich nicht behaupten, jeder athenische Zuschauer wußte aus dem Mvthos von der Apotheose des Herakles und konnte aus eigenem Wissen die Darstellung des Dichters ergänzen (Pohlenz, a.a.O. I 208, I I 89 f.). Da der Mythos gemeinsamer Stoff aller griechischen Tragiker war, konnte der einzelne Dichter seine Auffassung vor allem dadurch kenntlich machen, daß er einzelne Züge auswählte, abänderte, hinzufügte oder wegließ. — Die oben vorgetragene Auffassung der Rolle des Herakles in den »Trachinierinnen4 ist sicher nicht die geläufige; meist gilt Herakles als der „tragische Held" dieses Stückes (vgl. aber den 1946 von G. Murray verfaßten Aufsatz: Herakles, „der trefflichste der Männer", jetzt in: Sophokles, hrsg. von H . Diller, 325 ff.). B. M. W. Knox, der eine Deutung der sophokleischen Tragödien von der Sprache der Hauptgestalten aus unternimmt, kommt zu dem Ergebnis (a.a.O. 172), daß die »Trachinierinnen' nicht mit dem Muster der sechs anderen Stücke übereinstimmen: an Herakles (in dem auch Knox die Hauptgestalt sieht) fehlen die Züge des tragic hero , dagegen legt Sophokles der Deianeira „heroische Wendungen" in den Mund.

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sie i h n deshalb bei einer Unterbrechung der Fahrt nach T r o i a auf Lemnos zurückgelassen hatten. N i c h t allein i n diesem Stück läßt Sophokles es geschehen, daß Schlechtigkeit sich auf die Religion beruft: angeblich haben die Schmerzensschreie des Philoktet die Gebete beim Opfer gestört. Oedipus k o m m t , blind, zerlumpt, starrend v o n Dreck, nach Kolonos: Söhne u n d Schwager haben i h n aus Theben vertrieben, nicht damals, als er selbst gehen wollte, unmittelbar nach der Aufdeckung dessen, was er w a r und was er getan hat, sondern später, als sie die Lust überkam, selber zu herrschen. I m ,Philoktet' u n d i m ,Oedipus' auf Kolonos k o m m t der Augenblick des Widerstandes u n d des Verweigerns für die Hauptgestalten, wie die U m w e l t v o n ihnen verlangt, daß sie das ihnen Angetane vergessen u n d sida zu Handlangern für die Zwecke derer, die sie erst ausgestoßen haben, hergeben 20 . Doch ist es nicht so, daß Sophokles die U m w e l t der Hauptgestalten v ö l l i g ins Unrecht setzte. Ihre Grundsätze u n d M o t i v e haben nach traditionellen griechischen Vorstellungen u n d nach der Psychologie des Alltags durchaus etwas für sich. W e n n K r e o n i n der Antigone als Einleitung zu seinem Bestattungsverbot v o n der grundlegenden Bedeutung spricht, welche die Polis für alle ihre Glieder hat, so steht er i m E i n k l a n g m i t allgemeinen A u f fassungen. Fragwürdig w i r d das richtige Prinzip, wenn K r e o n i m weiteren Verlauf der H a n d l u n g verrät, daß er die Polis als sein persönliches Eigentum, die Bürger als Untertanen betrachtet u n d daß er nicht g e w i l l t ist, eine andere N o r m u n d eine andere Instanz als seine eigene Macht gelten zu lassen. Sicher ist richtig, daß nach griechischer Auffassung der einzelne seinen Beitrag z u m gemeinen Besten leisten sollte. D i e Frage ist, ob die neuen Herren i n Theben u n d die Führer des Heeres i n T r o i a dies nach menschlichem Empfinden v o n denen verlangen konnten, die sie erst ausgestoßen hatten. D a ß der Feind Feind ist u n d bleibt, ist ein alter Satz. D i e A t r i d e n berufen sich darauf. Aber g i l t der Satz auch dem gegenüber, den man durch eigenen Betrug z u m Feind gemacht hat, o b w o h l man G r u n d hätte, i h m dankbar zu sein? D i e V i t a l i t ä t u n d Gewaltsamkeit des Herakles w a r in der mythischen Überlieferung dadurch sanktioniert, daß er durch sie die W e l t v o n Ungeheuern gereinigt hat u n d somit z u m Wohltäter für alle geworden ist. Aber an Deianeira, Iole, Lichas, H y l l o s zeigt sich, zeigt Sophokles das w ä h l - u n d unterschiedslos Zerstörende dieser Potenz. Tekmessa, Ismene, lokaste, Chrysothemis usw. handeln sicher i n Übereinstimmung m i t den für Zuschauer u n d Leser gültigen Maximen, wenn sie zur Vern u n f t u n d klugen Besonnenheit raten u n d die Hauptgestalten davor w a r nen, sich i n einer Weise zu exponieren, daß die eigene Sicherheit u n d das Wohlergehen derer, die v o n ihnen abhängen, i n Gefahr geraten. D e r Z u 20 Zu den strukturellen Gemeinsamkeiten dieser beiden Dramen vgl. Verf., Philoktet und Oedipus auf Kolonos. Das Spätwerk des Sophokles und sein zeitgeschichtlicher Hintergrund, in: Studia Humanitatis, E. Grassi zum 70. Geburtstag, München 1973, 43 ff.

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schauer sieht Personen so reagieren, wie er es w o h l verständlicherweise selbst täte. Umso mehr w i r d er darauf gestoßen nachzudenken, w a r u m Aias, Elektra, Philoktet usw. anders reagieren. D i e Chöre interpretieren das Geschehen so, w i e es sich w o h l auch dem Zuschauer aus den religiösen T r a d i tionen oder aus seiner Kenntnis der Literatur nahelegte (ζ . B. m i t pessimistischen Aussagen angesichts einer Gestalt wie Oedipus) u n d w i e er es deshalb für richtig, w e i l m i t seinen Denkgewohnheiten übereinstimmend fand. Sophokles gibt offenbar der an sich fragwürdigen U m w e l t der Hauptgestalten deshalb so viel Recht (wodurch er so viele einander widersprechende Interpretationen seiner Stücke provoziert hat), w e i l er seine Zuschauer aus der Möglichkeit zur Identifizierung m i t ihr umso mehr zur Beachtung der r a d i k a l anderen H a l t u n g seiner Hauptgestalten führen wollte. Deren K o m promißlosigkeit läßt das Recht ihrer U m w e l t als kleines u n d nur partielles Recht deutlich werden u n d als einen Anspruch, der v o n Widerrechtlichem oder v o n Kompromissen getragen w i r d . I m Oedipus Tyramnos schaffen allerdings nicht Menschen die Situation, i n der die Hauptgestalt steht, sondern die Götter. Sie haben Oedipus den Weg gehen lassen, der darauf hinausgeführt hat, daß der K ö n i g v o n Theben durch die unwissentlich begangene T a t die Pest über sein V o l k gebracht hat. V o n dieser Situation geht Oedipus aus, u n d sein H a n d e l n führt i h n dazu, daß er entdeckt, was die Götter noch an Furchtbarem an i h m haben geschehen lassen. Der Stoff des , K ö n i g Oedipus' würde die Frage nach der Güte der Götter nahelegen. Aber Sophokles stellt sie nicht. Er protestiert auch nicht gegen das Unbegreifliche, daß die Götter selbst einen frommen Menschen unschuldig grauenvolle Taten begehen u n d i h n dafür noch unsäglich leiden lassen, w i e Euripides protestiert hätte. Er versucht aber auch nicht zu zeigen, daß hinter der Grausamkeit der Götter u n d hinter dem unverschuldeten Leiden des Menschen ein metyphysischer Trost steht, ein verborgener Sinn, der sich erst später offenbart, eine neue O r d nung, i n der alles versöhnt u n d aufgehoben ist, zu der letztlich die Gnade der Götter, mag sie auch eine gewaltsame Gnade sein, hinführt. So hätte es vielleicht Aischylos machen können, Sophokles zeichnet aber unbeschönigt die H ä r t e der Wirklichkeit, i n die der Mensch sich gestellt finden k a n n 2 1 . Diese H ä r t e der W i r k l i c h k e i t k a n n v o n Menschen geschaffen werden, aber auch v o n den Göttern. Dies ist nicht nur i m K ö n i g Oedipus so. D e r Beginn des ,Aias c zeigt eine G ö t t i n Athena, die sich an der Situation weidet, 21 Es geht selbstverständlich nicht an, den ,Oedipus Tyrannos' aus dem Oedipus auf Kolonos', der nach unserem Wissen ungefähr zwanzig Jahre später geschrieben wurde, zu interpretieren. Der Zuschauer, der das frühere Stück erlebt hatte, hat nicht die Möglichkeit gehabt, daheim gleich das andere Stück zu lesen, um sich dabei zu beruhigen, weil es mit Oedipus doch noch ein gutes Ende genommen hat. Gerade bei Werken der dramatischen Literatur sollte die Rezeptionssituation bedacht werden.

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i n die sie den Menschen gebracht hat. I n den ,Trachinierinnen f läßt Sophokles immer wieder daran erinnern, daß Herakles Sohn des Zeus ist, dieser Herakles, der i n rasdien A u f w a l l u n g e n seines Gemüts sofort tötet, der Städte zerstört u n d Mensdien i n das Elend der Sklaverei stürzt, u m sich eines seiner vielen Liebesabenteuer zu verschaffen, der durch seine Gefühllosigkeit das Leben seiner Frau zerstört u n d dadurch auch sich selbst den qualvollsten T o d verursacht, u n d der noch i m Todeskampf Forderungen an seinen Sohn stellt, die diesen i m Innersten verwunden müssen. D i e ,Trachinierinnen' schließen m i t dem W o r t „ U n d nichts v o n a l l dem, was nicht Zeus ist, was nicht Zeus b e w i r k t h a t " . M a n hat i n diesem Schlußwort den Ausdruck einer Religiosität zu erkennen geglaubt, die schlicht u n d unproblematisch an den Uberlieferungen festhält u n d unverzagt glaubt, daß alles schon recht sein w i r d , was die Götter tun. Richtig ist, daß Sophokles keine Fragen stellt, auf die der Mensch keine A n t w o r t e n finden kann. Aber unmittelbar v o r dem Schlußwort der ,Trachinierinnen c stehen Klagen über die Götter, steht das W o r t , daß man viel neuen T o d gesehen hat u n d viel ungekanntes L e i d u n d daß das L e i d der Menschen eine Schande für die Götter ist. Diesen W o r t e n w i r d innerhalb des Stückes nicht mehr w i d e r sprochen. D i e Religiosität des Sophokles ist hart, sie verschließt die Augen nicht davor, daß das Schwere der Wirklichkeit, auf die ein Mensch stoßen kann, i n unbegreiflicher Weise auch v o n den Göttern herrühren k a n n 2 2 . I n schwieriger, v o n G ö t t e r n oder Menschen geschaffener Lage befinden sich alle sophokleischen Helden. Seine erhaltenen Tragödien zeigen nie den Geschehensablauf, der v o n einigen als tragisch aufgefaßt w i r d u n d auch an Tragödien des Sophokles aufzuzeigen versucht wurde, den Sturz v o n einem Gipfel der Macht, des Ruhms u n d des Glücks, des scheinbaren Glücks, i n die Katastrophe, i n Unglück, N o t u n d tiefes Leid. Auch der , K ö n i g Oedipus' verschließt sich dieser beliebten Deutung. D e n n Sophokles hat alles getan, u m v o n Beginn an Oedipus nicht als den glücklichen oder sich glücklich wähnenden K ö n i g zu zeigen, sondern als den Herrscher, der v o n Sorgen u m seine Stadt erfüllt ist, der als einzelner das L e i d aller seiner Bürger gesammelt trägt, u n d v o r allem als Menschen, der seit Jahren i n tiefer Angst lebt, daß das Furchtbare, das die Orakel i h m vorausgesagt haben, w a h r werden könnte, u n d für den Theben deshalb nicht der O r t ist, w o er Macht u n d Glanz gefunden hat, sondern der Schlupfwinkel, i n dem er v o r K o r i n t h sicher zu sein glaubt, w o nach all dem, was er wissen kann, das Furchtbare geschehen müßte. 22 Zur „Härte" der sophokl. Religiosität vgl. G. M. Kirkwood, A Study in Sophoclean Drama, Cornell U. P. 1958 und G. Müllers Kommentar zur »Antigone' (Heidelberg 1967).

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J o a i m Dalfen D i e bisher beschriebenen, i m wesentlichen gleichartigen Ausgangssitua-

tionen müssen als ein erstes Element festgehalten werden bei einem Versuch der Beschreibung dessen, was Sophokles dargestellt hat. I n diesen Situationen sind seine Menschen v o r eine W a h l gestellt, müssen sie eine E n t scheidung fällen. Aias erkennt, daß die Wiederherstellung seiner Ehre unmöglich ist u n d daß i h m nur die W a h l bleibt, ruhmlos zu leben oder gut z u sterben. Den Göttern u n d dem griechischen Heere verhaßt, k a n n er auch nicht heimkehren u n d seinem Vater unter die Augen treten, ohne die Zeichen für die Anerkennung seines Heldentums mitzubringen. E i n T o d i m K a m p f ist i h m versagt, da er denen, die i h n entehrt hatten, V o r t e i l brächte. D i e Möglichkeit, den Göttern u n d den A t r i d e n nachzugeben, sich ihnen zu fügen, w e i l sie die Mächtigen sind, hat i m Denken des Aias nur i n der F o r m der Ironie Platz. W i e wichtig dem Sophokles aber dieses M o t i v des Nachgebens, Sich-Fügens gegenüber der Macht war, zeigt sich daran, daß der A p p e l l hierzu an fast alle seine Hauptgestalten gerichtet w i r d . U n d die Mächtigen i n seinen Stücken, innerhalb der U m w e l t der W i d e r p a r t der Hauptgestalten, verlangen auch Unterwerfung, das Ja-Sagen z u dem, was sie t u n u n d befehlen ohne Rücksicht darauf, was sie t u n u n d verlangen, die A t r i d e n i m ,Aias c ebenso wie K r e o n i n der ,Antigone', w i e die regierenden Königsmörder Aigisth u n d Klytaimestra, w i e Herakles v o n seiner Frau u n d seinem Sohn usw. Aias jedenfalls kann, sich, seiner A r t , seinem Selbstverständnis, treu, n u r den T o d wählen. N u r wegen des Lebens am Leben zu kleben, hält er für schimpflich, den T o d sieht er als Rettung an, als einzige Möglichkeit, sich zu bewahren. Deianeira ist unter den Hauptgestalten des Sophokles die einzige schwache, unheroisdie Figur. Der Wert, den sie behaupten w i l l , ist auch der einzige rein persönliche, die Liebe ihres Mannes. Aber sie empfindet nicht nur die Gefahr, diese Liebe zu verlieren, sondern auch die Schmach, die ihr als Frau angetan w i r d . Sie versucht, durch ein Geschenk, das sie dem heimkehrenden Gatten entgegensendet, seine Liebe an sich zu binden. Zeichen deuten i h r bald an, daß dieses Geschenk dem Herakles U n h e i l bringen könnte. D a steht ohne Zögern i h r Entschluß fest, zu sterben, falls sie den T o d des Herakles verschuldet haben sollte, weil für sie, die nicht schlecht sein w i l l , ein Leben i n Schande nicht erträglich ist. U n d w i r k l i c h gibt sie sich sofort den Tod, wie sie v o n den schrecklichen W i r k u n g e n ihres gutgemeinten Geschenkes erfährt. I n dem M o t i v für ihr Sterben k o m m t Deianeira i n gewisser Weise doch der Größe der anderen großen Gestalten nahe. Sie erhebt sich über das bloß Individuelle, sowohl i n der Beurteilung ihrer Situation als auch i n der Reaktion auf die ungewollten Folgen ihrer T a t . H i e r k o m m t sie, v o n Ferne zwar, dem K ö n i g Oedipus nahe: sie erkennt ohne Zögern

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an, daß sie zu dem, was sie getan hat, mag sie es auch nicht gewollt haben, stehen muß. Das Gegenbild zu beiden ist etwa der Kreon i n der ,Antigone'. Antigone ist ohne jedes Zögern u n d ohne Unsicherheit bereit, ihren B r u der gegen das Verbot Kreons zu bestatten, w e i l die Liebe z u m Bruder, das Zugehörigkeitsgefühl zu den anderen Toten ihres Geschlechts, die Gebote der Götter u n d ihre eigene Überzeugung i h r diese T a t gebieten, auch wenn sie weiß, daß als L o h n sie der sichere T o d erwartet. Für Antigone schafft Kreons Βestattungsverbot gleich zu Beginn der H a n d l u n g die Situation, i n der sie v o r die Entscheidung gestellt w i r d u n d i n der sie sich ohne Rücksicht auf die drohende Gefahr für das entscheidet, was sie aus persönlichen u n d überpersönlichen Gründen f ü r das Richtige hält. Elektra lebt dagegen schon lange Zeit i n der elenden u n d gefährlichen Lage, die sie wegen ihrer standhaften H a l t u n g den M ö r d e r n u n d jetzigen H e r r e n gegenüber erträgt. D e r Augenblick der Entscheidung k o m m t für sie, als ihr die falsche Todesnachricht die letzte H o f f n u n g n i m m t , ihr Bruder Orest werde als Rächer kommen. D a entschließt sie sich, die Gefahr der T a t auf sich z u nehmen. Sagte sie früher bereits, daß es nicht schön sei, den Toten z u vergessen, daß moralisches Empfinden u n d Frömmigkeit unter den Menschen schwinden, wenn die M ö r d e r nicht gerechte Strafe erleiden, so spricht sie nach dem Entschluß davon, der L o h n der T a t werde darin bestehen, daß die Forderungen der Frömmigkeit den Toten gegenüber erfüllt, daß sie u n d ihre Schwester frei werden u n d eine würdige Ehe finden werden, daß sie R u h m gewinnen, das väterliche Haus bewahren, ihre Übel abschütteln werden u n d die Schande, i n der zu leben für edle Menschen schimpflich ist. W i e A n t i gone handelt Elektra aus einer Verbindung vieler M o t i v e heraus, persönlicher u n d überpersönlicher, die alle für sich ihre Berechtigung haben. D i e sehr engen strukturellen Übereinstimmungen zwischen »Antigone' u n d ,Elektra' — v o n einigen w i r d b a l d zu sprechen sein — geben weitere H i n weise darauf, w i e Sophokles das „Tragische" aufgefaßt hat u n d w i e nicht. Beide-Mädchen treffen i n vergleichbaren Situationen aus verwandten M o t i v e n m i t dem gleichen Risiko eine ähnliche Entscheidung. Beide Taten gelingen, aber Antigone zahlt dafür m i t dem Leben, Elektra nicht. D e r T o d des Helden, sein „Scheitern", die Katastrophe sind offenbar nicht das E n t scheidende. Entscheidend ist die menschliche H a l t u n g unter bestimmten U m ständen. D i e ,Elektra' zeigt noch etwas anderes. Sophokles hat seine Gestaltung des Stoffes ganz aus der Problematik des Muttermordes gelöst. Der V o l l z u g der Rache für den Vater bedeutete die T ö t u n g der M u t t e r . Bei Aischylos u n d Euripides w i r d z w a r die Rache als berechtigt u n d gottgew o l l t gezeigt, Orest b z w . Orest u n d Elektra müssen aber schwer an den Folgen der gottgewollten T a t leiden. Sophokles macht i n der ersten Szene

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sofort klar, daß A p o l l o n die T a t u n d die A r t ihrer Durchführung sanktioniert hat (Elektra weiß davon allerdings nichts), u n d am Schluß weist nichts darauf hin, daß Orest u n d Elektra wegen der T ö t u n g der unmütterlichen M u t t e r v o n Seiten der Götter oder aus ihrem Gewissen heraus Qualen bevorstünden. Sophokles schaltet den i m Stoff gelegenen K o n f l i k t der Pflichten aus, er zeigt an seiner Elektra den Menschen, der das für richtig Erkannte ohne Rücksicht auf Bequemlichkeit u n d ohne Rücksicht auf die Gefahr tut. V o n Schuld k a n n i m Zusammenhang m i t dem Verhalten u n d dem H a n d e l n seiner Hauptgestalten u n d deren M o t i v i e r u n g nicht die Rede sein. Auch bei Oedipus legt Sophokles nicht das Gewicht auf dessen Taten, die T ö t u n g des Vaters, die Ehe m i t der M u t t e r . Sidier sind objektiv Frevel geschehen, aber Sophokles betont immer wieder, daß Oedipus subjektiv ohne jede Schuld ist. Sein K ö n i g Oedipus k a n n m i t v o l l e m Recht sagen, daß er „ d e m Gesetz nach rein ist", auf Kolonos k a n n er überzeugend seine Unschuld beteuern. Sophokles hat den Oedipusstoff nicht auf die Problem a t i k des „schuldlos schuldig werden" gestellt, als entscheidend w i r d sich auch hier die H a l t u n g zeigen lassen, m i t der ein Mensch sich gegenüber seiner Situation bewährt. D i e armseligsten der sophokleischen H e l d e n sind Philoktet u n d der Oedipus auf Kolonos: schwach, hilflos, v o n der Gemeinschaft, i n der sie standen, verstoßen. Oedipus hat den Trost, daß wenigstens ein Mensch i h n begleitet u n d daß ein O r a k e l i h m verkündet hat, hier i n Kolonos werde er Ruhe v o n seinen Leiden finden. Philoktet aber sehnt Menschen herbei, die i h n nach zehnjähriger Einsamkeit nach Hause bringen, w o er wieder unter Menschen sein k a n n u n d vielleicht H e i l u n g für seine W u n d e findet. U n d es kommen Menschen, Griechen, u n d sie versprechen, i h n heimzuführen. Aber schließlich bekennen sie, daß sie i h n erst nach T r o i a holen sollen, dam i t er m i t seinem wunderbaren Bogen den A t r i d e n T r o i a erobern helfe, das ohne i h n nicht zu erobern ist, wie ein Orakel verkündet hat. U n d da weigert sich Philoktet, er schlägt die Aussicht auf H e i m k e h r u n d H e i l u n g , er schlägt auch den Ruhm, als Eroberer Troias i n die Geschichte einzugehen, aus, w e i l sein Begriff v o n Ehre u n d Menschlichkeit i h m verbietet, m i t denen zu paktieren, die i h n gegen jedes menschliche Gefühl u n d gegen jedes religiöse Empfinden i n dieses Elend gestoßen haben. Auch als man i h m den Bogen n i m m t u n d i h n ohne jedes M i t t e l , sich N a h r u n g z u verschaffen, zurückzulassen droht, ist er nicht bereit, sich zu fügen. I n gleicher Weise verweigert sich Oedipus denen, die i h n einst vertrieben haben, i h n aber jetzt zurückholen wollen, w e i l ein Orakel verkündet hat, daß der i n Theben herrschen werde, der Oedipus t o t oder lebend besitze. Oedipus freilich verweigert sich i n dem sicheren Wissen, daß er am Ende seines Lebensweges angekommen ist, u n d unter dem Schutz v o n K ö n i g Theseus, der den

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Versuch, Oedipus m i t G e w a l t zu zwingen, abwehrt. Für Philoktet bedeutet die Weigerung w i r k l i c h Verzicht auf jede Z u k u n f t u n d jede H o f f n u n g . E n t scheidend i m Sinn des Sophokles ist audi hier nicht das Ergebnis, sondern daß ein Mensdi sich i n gewissen Situationen bestimmten Zumutungen gegenüber verweigert u n d w a r u m er sich verweigert. D i e U m w e l t , i n die Sophokles seine Hauptgestalten hineinstellt, w i r d nicht nur gebildet v o n feindlichen Menschen, die jene Situation schaffen, i n der der H e l d sich entscheiden u n d die Last seiner Entscheidung tragen muß. Sie w i r d audi gebildet v o n Menschen, die ihnen nahe stehen, v o n Verwandten, Vertrauten, Kameraden, Mitbürgern usw. I n der Struktur sophokleischer Dramen haben sie die Funktion, durch i h r Verhalten u n d durch ihre Beurteilung der Situation H a n d e l n u n d M o t i v e der Hauptgestalten stärker hervortreten zu lassen. Sie vertreten Alternativen, wodurch angedeutet w i r d , daß die H a l t u n g der Hauptperson nicht die einzige mögliche ist u n d nicht m i t irgendeiner N o t w e n d i g k e i t aus der Situation folgt. Sie bieten andere Interpretationen an u n d deuten das Geschehen v o n ihrem Standpunkt. Auch ihre Gedanken, v o r allem ihre Gedanken sind leicht nachvollziehbar. Der Dichter gibt ihnen auch i h r Recht, aber gegenüber dem vollen Recht der Hauptgestalten doch nur ein beschränktes, relatives Recht. D e n beiden Mädchen Antigone u n d Elektra stellt Sophokles jeweils die Schwester zur Seite. Antigone u n d Elektra fordern ihre Schwestern auf, die T a t gemeinsam z u tun. Aber die Schwestern weichen v o r dem Gedanken an das ungeheure Wagnis entsetzt zurück. Es sind die gleichen Argumente, die Ismene u n d Chrysothemis bereit haben: sie verweisen auf die Schwäche des Geschlechtes, darauf, daß sie Frauen sind u n d deshalb nicht gegen Männer auftreten können, sie verweisen auf das sichere Verderben, dem man sich aussetzen würde. U n d sie mahnen dazu, daß man nachgeben, daß man sich fügen müsse, w e i l die anderen schließlich die Macht haben. N i c h t nur an Elektra u n d Antigone ergeht v o n ihrer Umgebung die Mahnung, sich zu fügen, auch andere der großen Gestalten bekommen sie zu hören. U n d an alle w i r d appelliert, sie sollten vernünftig sein: „Sei gescheit!", , . N i m m Vernunft a n ! " , „ W i r meinen es gut m i t dir, w i r raten d i r das Beste." Das W o h l w o l l e n ist sicher echt, aber das, was als das Vernünftige u n d das Beste angepriesen w i r d , ist gemessen m i t der Elle des Mittelmaßes, beurteilt nach den Maßstäben derer, die es nicht verstehen können, daß ein Mensch sich wegen irgendwelcher Grundsätze ein unbequemes Leben macht oder sogar sein Leben aufs Spiel setzt. Z w a r ist man sich i m Innersten bew u ß t , daß die Kompromißlosen, die sich verweigern, die sich nicht fügen, das Recht auf ihrer Seite haben, u n d man spricht es a u d i aus. Auch das ist

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ein immer wiederkehrendes, wichtiges Strukturelement sophokleischer D r a men: neben dem A p p e l l an die „ V e r n u n f t " des Helden u n d der Mahnung, er solle sich fügen, steht die Bestätigung u n d Rechtfertigung des Helden, u n d z w a r gerade durch die, die anders sind als er, die i h n nicht verstanden oder i h m sogar feindlich gegenüberstanden. Aber o f t k o m m t diese Rechtfertigung erst so spät, daß der H e l d sie nicht mehr hören kann. Gerade hierin w i r d wieder ein wichtiges Element dessen erkennbar, was Sophokles unter „ T r a g i k " verstanden haben mag. D i e großen Gestalten t u n das, was sie als richtig und notwendig erachten, ohne die Deckung u n d die Stütze durch ihre U m w e l t , ohne die Stärkung durch die Zustimmung der anderen. Sophokles läßt deutlich werden, daß sie a l l dies nicht tun, w e i l ihnen das Leben u n d seine Freuden wertlos wären. I m Gegenteil: Antigone klagt auf ihrem letzten Gang über a l l das, was sie n u n nie haben w i r d , Aias n i m m t rührend Abschied v o n der W e l t , Philoktet möchte heimkehren zu den M e n schen u n d wieder gesund werden. Aber sie setzen alles aufs Spiel, w e i l sie andere Werte u n d Pflichten für höher erachten. U n d Sophokles gibt ihnen nicht den Trost, daß sie sich getragen fühlen können v o n der Übereinstimmung der Menschen, die ihnen nahestehen. Der H e l d muß es als Verschärfung seiner seelischen Lage empfinden, wenn er i n seiner Situation v o n den Mitmenschen als billigen Zuspruch nur solche Plattheiten h ö r t w i e die, was geschehen ist, ist n u n m a l geschehen, man darf sich darüber nicht betrüben, die Zeit heilt alle Wunden, anderen ist ähnliches widerfahren usw. Z u dem Bewußtsein, für das Richtige zu leiden, muß der sophokleische Mensch auch noch das Gefühl aushalten, ausgelacht zu werden. So w i r k t auf i h n die Rea k t i o n derer, die i h m gut gesinnt sind, während er v o n seinen Feinden weiß, daß sie sich ins Fäustchen lachen. Verständnislose Teilnahme geht bis zu gefühlloser Rohheit. O f t hört der H e l d , daß er an seinen Leiden selber schuld ist. Oedipus, der i n klarer Überlegung nach der Aufdeckung des U n geheuren u n d Furchtbaren seiner Existenz zu der Einsicht k o m m t , daß der T o d keine Lösung ist, dessen religiöses Gefühl i h m sagt, daß er nicht m i t sehenden Augen weiterleben u n d nicht m i t sehenden Augen i n die U n t e r w e l t eingehen kann, u n d der sich deshalb das Augenlicht n i m m t , muß sich v o m Chor sogar sagen lassen, i n seiner Lage wäre es doch das Beste gewesen, gleich Schluß zu machen. Chrysothemis, die sich m i t den M ö r d e r n u n d Mächtigen arrangiert, k a n n dadurch ein angenehmes Leben am H o f e führen. Sie sagt zu Elektra, w e i l sie frei sein wolle, müsse sie eben i n allem auf die Mächtigen hören. A n dieses W o r t lassen sich einige Bemerkungen knüpfen, die allgemein für Sophokles v o n Bedeutung sind. Zuerst: hier k l i n g t ganz schrill der innere Widerspruch ins O h r . D i e Freiheit, v o n der Chrysothemis naiv-verräterisch spricht, ist das angenehme u n d gefahrlose Leben, daß sie sich durch ihren

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K o m p r o m i ß erschachert, zu dem sie audi Elektra überreden w i l l . D i e Pervertierung und die Vulgarisierung der Sprache, auf falsche Maßstäbe zurückgehend, Sprache i n den Dienst genommen, u m eigene Verkehrtheit oder Schwäche zu bemänteln, w i r d o f t v o n Sophokles i n der Umgebung der Hauptgestalten gezeigt. W i e Chrysothemis arrangiert sich Neoptolemos i m Philoktet, trotz schlechter Erfahrungen, m i t den Mächtigen, w e i l er dadurch sein eigenes Ziel zu erlangen hofft. Der Chor i n der ^Antigone* wiederum redet dem neuen Herren K r e o n nach dem Munde, aus Angst v o r ihm. Diese Bereitschaft, sich den Mächtigen zu fügen, ist die andere Seite des Appells z u m Nachgeben, den die U m w e l t an die Hauptgestalten richtet. Sie selbst reagiert so auf den Anspruch, den die Befehlenden u n d Mächtigen erheben, die glauben, ohne jede Rücksicht über die Menschen, mögen sie tot sein oder lebendig, verfügen u n d sie i n den Dienst ihrer eigenen Interessen spannen zu können. W i e kein anderer griechischer Tragiker hat gerade Sophokles die Handlungen seiner D r a m e n daraus entwickelt, daß Menschen bereit sind, den ungerechtfertigten, menschliche u n d göttliche N o r men m i t Füßen tretenden Aussprüchen der Macht u n d der P o l i t i k entgegenzutreten, gegenüber ihrem Anspruch auf völlige Unterordnung die berechtigten Grenzen des Gehorsams aufzuzeigen, mögen auch alle anderen nachgeben 23 . U n d noch ein Drittes läßt sich an das W o r t der Chrysothemis anschließen. Chrysothemis fügt sich, Elektra nicht, ebenso wenig wie Aias, w i e Antigone, Philoktet u n d Oedipus. Durch die Struktur seiner Dramen, dadurch daß er zwei Schwesternpaare, K i n d e r der gleichen Eltern, Angehörige der gleichen Klasse, Produkte der gleichen Erziehung i n der gleichen geschichtlichen Situation sich verschieden entscheiden u n d verschieden handeln läßt, zeigt Sophokles, daß das H a n d e l n des Menschen nicht durch eine zwanghafte N o t wendigkeit bestimmt w i r d . Gleiches zeigt der K ö n i g Oedipus. Jokaste, die G a t t i n u n d M u t t e r , versucht Oedipus v o m weiteren Fragen abzuhalten, sob a l d sie erkennt, welch entsetzliche Wahrheit dadurch auch über sie ans Licht treten w i r d . Sie wäre bereit, m i t dem Wissen v o n all dem Schauerli23 Gerade angesichts dieses Elementes, das die Handlung fast aller sophokleischer Tragödien in bedeutsamer Weise mitbestimmt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Dramenhandlung zur zeitgenössischen Realität. Die Dramen des Sophokles entstanden (in der Zeit des Höhepunktes und der Krise der Demokratie Athens sowie der lebhaften Diskussion über Fragen der Religion, Moral, Politik und ihres Zusammenhanges. Man wird die klugen Unterscheidungen bedenken, die Wellek-Warren (a.a.O. 106 f.) für das Verhältnis der „Welt" eines Schriftstellers und der historischen Wirklichkeit machen, und wird hier nicht ein Spiegelbild historischer Verhältnisse, sondern eher den Ausdruck der Sorge des Autors und eine Warnung vor möglichen Entwicklungen, die er in einer diesbezüglich vielleicht weniger besorgten Gegenwart befürchtet hat, sehen. Dabei ist schwer zu sagen, ob er an Tendenzen und mögliche Entwicklungen, die in der politischen Praxis lagen, oder an die Uberführung gewisser Theorien in die Praxis dachte.

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chen zu leben, wenn nur nichts nach außen bekannt würde, wenn der Schein gewahrt bliebe. Als sie sieht, daß die Fragen des Oedipus nicht aufzuhalten sind, n i m m t sie sich das Leben: dieser T o d ist eine Flucht, keine Bewältigung der Situation, er entspringt einer ähnlichen M e n t a l i t ä t wie die gefühllose K r i t i k des Chores an Oedipus. Oedipus dagegen hat die K r a f t , t r o t z a l l des Entsetzlichen, das über i h n durch die letzte Erkenntnis hereinbricht, nicht v o m L e i d fortgerissen, sondern i n klarer Reflexion i n einem A k t souveräner Selbstbestimmung die Sühne zu wählen u n d zu bringen, die er auf G r u n d seiner religiösen Überzeugung als die Entsprechung für seine ungew o l l t getanen Taten ansieht. D i e H a n d l u n g des , K ö n i g Oedipus' läuft darauf hinaus z u zeigen, wie sich Oedipus verhält u n d was er t u t , sobald er aufgedeckt hat, welchen Weg die Götter i h n geführt haben u n d welche Taten sie i h n t u n ließen, u n d sobald er aus seiner Auffassung z u m Göttlichen u n d v o n Reinheit seine Lage beurteilt hat. A u f diesen Schluß führt Sophokles die H a n d l u n g hin, deshalb muß v o n i h m aus beurteilt werden, was er i n dieser Tragödie aussagen wollte. D i e mythologische Uberlieferung kannte, soweit w i r sie seit dem Epos überblicken können, die Selbstblendung nicht. A m nächsten k o m m t dem sophokleischen Schluß eine Variante, nach der Oedipus auf Geheiß des K r e o n v o n dessen Soldaten geblendet w i r d . Aber gerade die N ä h e i m Faktischen zeigt den riesigen Unterschied i n der Sinngebung. Auch eine „delphisch-apollinische" Version ist aus der Uberlieferung erkennbar. D a nach hat sich Oedipus i n einer Quelle durch kultisch-rituelle Waschung v o n seinen Taten gereinigt. I m D r a m a dies Sophokles gebietet der delphische A p o l l o n Reinigung des Landes durch T ö t u n g oder Vertreibung des Täters. Der sophokleische Oedipus könnte sich also auf dieses W o r t des Gottes zurückziehen u n d m i t freiwilligem E x i l seiner Stadt helfen u n d sich Ärgeres ersparen. Sophokles läßt i h n über dieses göttliche Gebot hinausgehen u n d nach eigenem — religiösem — Maßstab das tun, was er angesichts seiner Situation für das Geforderte hält. D i e großen Gestalten des Sophokles sind keine weichen, verbindlichen Menschen. Ihrer Umgebung erscheinen sie halsstarrig, stur u n d aufbrausend. Sie können sehr hart zu ihren Mitmenschen sein, sogar zu ihren Nächsten, u n d z w a r dann, wenn sie diese nicht bereit finden, aus dem, was sie für richtig erachten, ebenso rückhaltlos die Konsequenzen z u ziehen, w i e sie selbst es tun. Das heißt nicht, daß sie gefühlsarm sind. Sie suchen menschliche N ä h e u n d sie leiden, wenn sie sie nicht finden. Ebenso sind sie stark i m Verlangen, die Schuldigen sollten das Leid, das sie ihnen angetan haben, selbst erdulden müssen, u n d i h r Wunsch nach Vergeltung k a n n sich bis z u m schrecklichen Fluch steigern. Andererseits sind sie fähig, das Leiden anderer

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tief mitzuempfinden, M i t l e i d zu haben m i t dem anderen u n d seinem Geschick. U n d da Sophokles immer wieder, u n d offenbar m i t wachsender I n tensität, dem M i t l e i d einen Platz i m Geschehen seiner Tragödien angewiesen hat, w i r d es gut sein, daran n i d i t vorbeizugehen. Aias ist durch die Bitten seiner Gattin, durch den Anblick seines Sohnes zu M i t l e i d gerührt, er weiß, welches Schicksal sie erwartet, wenn er aus dem Leben scheidet. Aber da er nur am Leben bleiben könnte, wenn er aufhörte, Aias zu sein, k a n n er den Bitten, sidi zu fügen, nicht nachgeben. I h m bleibt nur ein Gebet für den Sohn. Deianeira k a n n keine bösen Gefühle gegen die Frau hegen, die i h r als K o n k u r r e n t i n ins Haus gebracht w i r d , sie hat nur tiefes M i t l e i d m i t ihr u n d m i t ihrer Familie, w e i l sie sieht, was sie wegen der Liebe des Herakles erlitten haben. D i e Hauptgestalten der beiden letzten Stücke, ,Philoktet' u n d ,Oedipus auf Kolonos', sind Menschen, die i n ihren Leiden u n d i n ihrer H i l f l o s i g k e i t des Mitleids selbst i n höchstem M a ß bedürfen. Beide bitten auch oft darum, u n d Sophokles zeigt hier eindringlich, i n welchem M a ß das Schicksal der U m w e l t davon abhängig ist, ob sie den Kompromißlosen gegenüber zu M i t l e i d fähig ist. Der junge Neoptolemos ist zuerst bereit, als Werkzeug der Befehlshaber P h i l o k tet m i t List nach T r o i a zu holen, w e i l er sich davon eigenen G e w i n n verspricht. Aber das Leiden, das Vertrauen u n d die i n aller Schwere kompromißlose Standhaftigkeit Philoktets, der — selbst über alles M a ß erbärmlich — i m eigenen L e i d nicht die Fähigkeit verloren hat, fremdes zu empfinden, ergreifen i h n so, daß er allmählich bereit w i r d , das Unrecht, an dem er m i t w i r k t , zu erkennen, die eigenen Wünsche aufzugeben u n d sich ganz v o n seinem M i t l e i d m i t Philoktet leiten zu lassen. U n d Neoptolemos w i r d deshalb am Ende ebenso i n die göttliche Verheißung einbezogen w i e Theseus, der K ö n i g v o n Athen, der Oedipus i n Kolonos aufnimmt u n d gegen alle Angriffe verteidigt, seinem L a n d den Segen gewinnt, der an die Aufnahme des Oedipus geknüpft ist. Theseus t r i t t Oedipus v o n vornherein m i t der menschlichen H a l t u n g entgegen, z u der Neoptolemos erst hindurch finden muß. D i e Fähigkeit des Theseus z u m M i t l e i d k o m m t aus der gleichen E i n sicht, v o n der auch Odysseus i m Aias spricht. Z u Lebzeiten Gegner des Aias, t r i t t er doch, nach dessen T o d , für i h n ein, aus der Erkenntnis heraus, daß alle Menschen dem gleichen Schicksal unterworfen sind, daß keiner v o r dem Morgen sicher ist: Einsicht i n die Bedrohtheit, der jede menschliche Existenz ausgesetzt ist, als Quelle humaner H a l t u n g . Ihre großartigste Gestaltung hat diese menschliche K r a f t z u m Mitleiden u n d aus dem M i t l e i d kommenden Mitsorgen i m , K ö n i g Oedipus' gefunden. Sophokles weist durch die K o m p o s i t i o n seines Stückes nachdrücklich darauf hin, u n d es ist deshalb überraschend, w i e wenig dies bisher beachtet wurde. 3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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Z u Beginn der H a n d l u n g t r i t t Oedipus auf als der K ö n i g , der m i t seinem V o l k mitleidet, der über den Leiden seines Volkes weint, der alles versucht, u m das L e i d v o n seinem V o l k e abzuwenden. A m Ende steht er da beladen m i t dem Wissen schrecklichsten eigenen Unheils, m i t blutenden, leeren Augenhöhlen, ausgestoßen aus jeder Gemeinschaft m i t Göttern u n d M e n schen. Aber aus seinem M u n d e kein W o r t des Jammers, seine Sorge g i l t seiner leidenden Stadt, daß sie nun endlich v o m Leiden befreit werde, seiner Gattin, daß sie ein angemessenes Begräbnis finde, seinen hilflosen K i n d e r n , für deren Z u k u n f t er vorsorgt, so gut er jetzt noch kann. D i e Struktur des Dramas sagt: der Oedipus am Ende ist der gleiche w i e am Anfang, v o m Schicksal getroffen, aber nicht geändert. Sie scheint auch zu sagen, daß der „tragische" Mensch i n a l l seiner Kompromißlosigkeit u n d bei all dem Leid, das i h m zugefügt w i r d , nicht die K r a f t zur Menschlichkeit verliert. Auch die Götter können die Situation schaffen, i n die der H e l d gestellt w i r d , i n der er sich entscheidet u n d handelt. So ist es i m ,Aias c , i m , K ö n i g Oedipus', i n etwas anderer Weise auch i n den ,Trachinierinnen c . Aber darauf beschränkt Sophokles die Gegenwart der Götter i n seinen Dramen ganz u n d gar nicht. Wenn er auch nur äußerst selten ein göttliches Wesen direkt in die menschliche H a n d l u n g eingreifen läßt, so ist doch jede seiner H a n d lungen entscheidend v o n den Göttern bestimmt. Symbol dafür sind die Orakel u n d die göttlichen Zeichen, die i n keiner sophokleischen Tragödie fehlen. A u f andere Weise deutet Sophokles durch Lieder der Chöre an, daß die Handlungen der Personen u n d die Bewertung dieses Handelns i n einen religiösen Rahmen u n d v o r den H i n t e r g r u n d des Göttlichen gestellt sind. Er läßt die Chöre immer wieder i n den traditionellen religiösen Vorstellungen u n d i n den mythischen Uberlieferungen nach Kategorien suchen, v o n denen aus sie das Geschehen z u begreifen u n d zu deuten unternehmen, u n d er läßt sie über das Verhältnis zwischen Menschlichem u n d Göttlichem reflektieren. Diese Kategorien u n d Reflexionen können i n sehr verschiedenem Verhältnis zur H a n d l u n g u n d v o r allem zur Hauptgestalt u n d deren M o t i ven stehen: sie können sie verfehlen u n d mißdeuten, sie können T r a d i t i o nelles so auf Handlungen anwenden, die durchschnittliches Verhalten w e i t überragen, daß Banalitäten herauskommen, sie können m i t ihren Reflexionen sich so w e i t v o m Bühnengeschehen entfernen, daß nur allgemeinste Bezüge möglich sind. Das ständige Hineinnehmen der göttlich-religiösen Them a t i k hält aber das Bewußtsein dafür wach, auf welchem H i n t e r g r u n d menschliches H a n d e l n bei Sophokles steht. D i e Orakel können den Z e i t p u n k t u n d die A r t des Todes eines M e n schen ankündigen, w i e die beiden O r a k e l i n den ,Trachinierinnen c . D i e Menschen verstehen das eine falsch, der dunkle Sinn des anderen sowie die

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Zusammengehörigkeit beider w i r d dem Betroffenen erst i m Augenblick seines Todes klar. So zeigt sich v o m Ende des menschlichen Geschehens, daß i n i h m Zusammenhänge walten, daß die Götter das Ende schon vorher wissen u n d daß die menschliche H a n d l u n g tatsächlich auf dieses Ende hinausläuft. Aber es zeigt sich ebenso deutlich, daß die Menschen i n ihrem H a n d e l n durch die Orakel nicht festgelegt werden. Deianeira hätte genauso gehandelt, wenn es die O r a k e l nicht gegeben hätte; sie hat ja audi nur eins gekannt u n d dieses falsch verstanden. Was die Götter sagen, k a n n den Menschen hilfreich sein. So ist es i n der ,Elektra', w o A p o l l o n dem Orest gegenüber v o n vorneherein die T a t u n d die A r t ihrer Durchführung gutheißt. Aber eben dies, die Durchführung m i t H i l f e einer List, verhindert, daß Elektra das W o r t des Gottes erfährt. D i e Hauptgestalt muß ganz auf sich gestellt u n d aus sich heraus, ohne die Stärkung u n d ohne die Deckung durch das Orakel, ihre Entscheidung fällen. D i e H a n d l u n g , die v o n G r u n d auf durch Orakel bestimmt w i r d , ist die des »König Oedipus'. I m Verlauf des Dramas zeigt sich, daß alle Versuche des Menschen, das Eintreten v o n O r a k e l n zu verhindern, scheitern, und daß der Glaube u n d die H o f f n u n g , O r a k e l könnten falsch sein, nichtig sind. Aber das ist nicht das einzige. Sophokles zeigt hier, i n der H ä r t e seiner Religiosität, auch das Unbegreifliche u n d Entsetzliche an den Orakeln. Oedipus w i l l sich v o m G o t t A p o l l o n A u f k l ä r u n g über seine Abstammung holen, aber der G o t t gibt i h m nicht die gewünschte A n t w o r t , sondern sagt i h m statt dessen, daß er seinen Vater töten u n d seine M u t t e r heiraten werde. Oedipus versucht alles, u m diese entsetzlichen Taten nicht zu begehen, w e i l er nichts t u n w i l l , was i h n v o r den Göttern unrein u n d ihnen verhaßt machen müßte. E r handelt aus religiösen M o t i v e n , aus Ehrfurcht v o r den Göttern, aber da i h m der G o t t die A n t w o r t auf seine Frage nicht gegeben hat, begeht er unwissend beide Taten. U n d die Götter lassen i h n dann Jahre i n Angst davor leben, daß er einmal das Furchtbare begehen könnte, u n d eines Tages schicken sie zur Strafe dafür, daß das v o n ihnen Vorausgesagte längst geschehen ist, die Pest über die Stadt des Oedipus. U n d w i e Oedipus, dem A u f t r a g Apollons gehorsam, den Schuldigen an der Pest m i t allen M i t t e l n zu finden versucht, da t r i t t i h m i n dem Seher Teiresias der Mensch entgegen, der all das göttliche Wissen besitzt. A b e r Teiresias weigert sich zu sprechen, aus Angst u m seine persönliche Sicherheit. U n d als er, v o n Oedipus bedrängt, i m Streit doch noch alles sagt, was geschehen ist u n d noch geschehen w i r d , da sagt er es i n einer Weise, daß Oedipus i h m nicht glauben kann. Das göttliche Wissen ist da, aber es h i l f t dem Menschen nicht, auch dem nicht, der sich ganz nach i h m richten w i l l . D i e Götter wissen, was an E n t 3*

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setzlichem geschehen w i r d , aber sie verhindern es nicht. Sophokles frägt nicht, ob das Wissen der Götter zugleich bedeutet, daß sie dieses Geschehen so gewollt haben. Er läßt seinen Oedipus auch nicht über die unbegreifliche H ä r t e der Götter klagen. Oedipus weiß, daß A p o l l o n hinter allem steht, aber er sagt auch, daß er selbst die Taten getan hat. Antigone hat ihre Taten auch für die Götter u n d deren nomoi getan. Sie geht i n den T o d m i t dem Gefühl, v o n allen Freunden verlassen, j a sogar v o n ihnen verlacht z u sein. D i e Schwester w a r nicht zur gemeinsamen T a t bereit; daß i h r Verlobter H a i m o n für sie eintrat, daß er sogar m i t ihr zusammen stirbt, läßt Sophokles sie nicht erfahren; ihre Mitbürger, vertreten durch den Chor, wagen aus Angst v o r K r e o n nicht auszusprechen, daß sie Antigones T a t bejahen. W i e sie es tun, ist Antigone bereits tot. U n d die Götter zeigen z w a r dem K r e o n ihren Z o r n über dessen T u n an u n d rechtfertigen damit das T u n der Antigone, i h r selbst aber geben sie kein Zeichen. Sie geht i n den T o d m i t dem Gefühl, auch v o n den Göttern verlassen zu sein, m i t der bitteren Frage, zu welchem G o t t sie noch aufschauen soll. I m ,Philoktet' u n d ,Oedipus auf Kolonos' verkünden Orakel, daß die schwachen, elenden, ausgesetzten Menschen diejenigen sind, die allein den Sieg über T r o i a u n d die Macht i n Theben garantieren. A b e r diese O r a k e l kommen nicht zu den Leidenden, als Trost i n ihrer N o t , sondern zu deren Gegnern, zu denen, die an ihrer Lage schuld sind. D i e Schurken wissen zuerst v o n den Orakeln u n d versuchen sofort, sich die i n ihnen enthaltenen Verheißungen zu sichern, u n d erst durch ihre Anschläge erfahren die Auserwählten v o n ihrer neuen Bedeutung. Oedipus freilich weiß auch v o n dem anderen Orakel, daß i h m hier i n Kolonos die endgültige Ruhe v o n seinen Leiden verheißen hat. Er steht schon fast außerhalb des menschlichen Bereiches, am Ende des Dramas werden ihn die Götter zu sich rufen. Es gehört auch zu der unbegreiflichen W i r k l i c h k e i t der Götter, daß die Leiden als Durchgang z u m R u h m fügen, daß sie den Menschen nach einem Leben v o l ler L e i d sogar zu sich emporheben können. Doch gerade dieser Oedipus stellt die Frage, was es denn für einen Sinn habe, daß die Götter i h n jetzt so emporheben, nachdem sie i h n i n seinen jungen Jahren so tief niedergedrückt haben. Philoktet dagegen k a n n sich nur weigern, zu denen zurückzukehren, die i h n einst gegen menschliches u n d göttliches Recht ausgesetzt hatten, die jetzt durch ein O r a k e l erfahren haben, daß sie i h n brauchen u n d die i h n deshalb m i t List, Betrug u n d sogar m i t Gewalt zurückholen wollen. Er weigert sich, o b w o h l er weiß, daß er damit die letzte H o f f n u n g auf H e i m k e h r u n d Genesung aufgibt. Seine Weigerung bringt sogar den göttlichen Spruch, daß T r o i a nur durch i h n erobert werden k a n n u n d durch i h n erobert werden

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w i r d , i n die Gefahr, nicht i n Erfüllung zu gehen. Nicht, daß Philoktet aus sich heraus dem göttlichen Spruch Widerstand entgegensetzte: w i e Oedipus, Antigone, Elektra ist er fromm, beurteilt er die Dinge nach religiösen Maßstäben, w i l l er nicht gegen den W i l l e n der Götter handeln. Doch er erfährt den W i l l e n der Götter v o n solchen Menschen u n d i n einem solchen Augenblick, daß er nicht glauben kann. Deshalb muß am Ende des D r a mas eine göttliche Erscheinung i h m bestätigen, daß es w i r k l i c h der W i l l e der Götter ist, daß er nach T r o i a gehe, daß er dort R u h m u n d H e i l u n g finden u n d schließlich heimkehren werde. D e m göttlichen W o r t fügt sich Philoktet ohne Widerrede. Sophokles spricht z w a r nicht mehr davon, aber die faktische Folge ist doch, daß die A t r i d e n trotz ihrer Schlechtigkeit gerade durch den v o n ihnen mißhandelten Philoktet i h r eigenes Z i e l erreichen. I n der ,Antigone' bleibt schließlich K r e o n am Leben. Er hat Antigone i n den T o d getrieben, er hat durch seine H y b r i s u n d seinen W a h n w i t z den T o d seiner G a t t i n u n d seines Sohnes verschuldet, er sieht z w a r seine furchtbare Torheit ein, aber statt aus seinem T u n die Konsequenzen zu ziehen, ergeht er sich i n Klagen des Selbstmitleids über das Geschick, das i h n getroffen hat. Aber er w i r d weiter i n Theben regieren. D i e Götter t u n nichts dagegen, daß die Schlechten Erfolg u n d Macht haben, es scheint vielmehr ganz so zu sein, w i e Philoktet klagt, als er v o n den Schicksalen einzelner Helden v o r T r o i a erfährt: daß die Schlechten v o n den Göttern umsorgt werden, während die guten sterben müssen. Dies alles gehört zu dem B i l d der „ W e l t " u n d des „Lebens", das der Dichter Sophokles i n seinen Tragödien zeichnet. Manche Züge wären i n dieses B i l d noch einzuzeichnen, etwa der, daß gut gemeinte W o r t e u n d Flandlungen gerade das Gegenteil dessen bewirken, was beabsichtigt w a r , daß Richtiges zu spät getan w i r d , daß geheimnisvolle Zusammenhänge plötzlich hervortreten u n d zwischen dem T u n der Menschen waltende Beziehungen sich dadurch manifestieren, daß „ d i e Toten die Lebenden töten", daß kleine Gestalten i n die Taten u n d Entscheidungen der großen hereingezogen werden u n d darunter leiden, wie z. B. die Frau u n d der Sohn des Aias oder der Bote Lichas. A b e r das sind Züge am Rande des Bildes, i n dessen M i t t e die Hauptgestalten stehen i n den Situationen, i n die sie durch ihre U m w e l t oder durch die Götter gestellt wurden u n d i n denen sie sich entscheiden u n d handeln. I n diesem Zentrum w i r d das zu suchen sein, was man als das Eigentliche der sophokleischen Darstellung u n d Deutung v o n Mensch u n d W e l t ansehen u n d w o r i n man seine Vorstellung v o n „ T r a g i k " , i n der oben umrissenen Verwendung des Wortes, erblicken w i r d . U n d da w i l l es scheinen, daß das Tragische noch nicht i n den Situationen liegt, die durch die menschliche U m w e l t u n d auch durch die Götter geschaf-

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fen werden können, i n denen Menschen sich der Entehrung, Bedrohung, Gefährdung ausgesetzt oder m i t unzumutbaren, ungerechten Ansprüchen k o n frontiert finden, die Leid schaffen, i n denen ungewollt Furchtbares getan w i r d , die i n den T o d hinausführen können. Das alles scheint noch nicht das Tragische zu sein, sondern die Realität dieser W e l t 2 4 . U n d Sophokles zeigt an vielen Gestalten seiner Tragödien, daß man v o r dieser W i r k l i c h k e i t die Augen schließen, daß man m i t ihr Kompromisse schließen u n d sich arrangieren kann, daß m a n v o r ihr davonlaufen kann, u n d sei es i n den Tod. Das Eigentliche u n d hier unter dem Begriff des Tragischen Gesuchte b z w . das, was innerhalb der W e l t sophokleischer Tragödien m i t diesem Begriff z u bezeichnen wäre, entsteht aus einem bestimmten Verhalten i n diesen Situationen, aus einer bestimmten Reaktion auf sie. N a c h der Struktur der Dramen zu schließen w i r d das Eigentliche i n den Hauptgestalten zu suchen sein, i n den Einzelnen, die i n ihrer Situation das tun, was sie v o r sich selbst u n d angesichts der N o r m e n , die sie f ü r verpflichtend halten, für das Richtige u n d Gebotene erachten, mögen sie dadurch auch i n K o n f l i k t m i t den Mächtigeren geraten u n d alles aufs Spiel setzen u n d sogar verlieren, was handelsübliche Vernunft für V o r t e i l hält. Sophokles läßt seine H a u p t gestalten immer wieder sagen, i h r V o r t e i l u n d G e w i n n sei es, das Schöne zu tun, sich selbst nicht zu betrüben. I m „Schönen" hörte der Grieche nicht nur die Bezeichnung des ästhetischen Wertes, sondern auch u n d besonders des ethischen 25 . „Sich selbst nicht betrüben" meint, daß diese Gestalten nichts gegen ihr Wesen, gegen ihre Selbstauffassung, gegen ihre „edle A r t " zu t u n bereit sind, daß sie sich nicht wegen äußerlicher Vorteile z u bequemen Kompromissen bewegen lassen 26 . Sie handeln autonom (was ihnen v o n 24 Nochmals sei auf die Unterscheidungen von WelleJe-Warren verwiesen, daß der Dichter zwar „unvermeidlich seine gesamte Lebenserfahrung und -anschauung" ausdrücke, nicht aber die Ganzheit des Lebens, nicht einmal des Lebens einer gegebenen Zeit, und daß die „Welt" eines Schriftstellers nicht einfach Reproduktion des wirklichen Lebens und somit nicht historisches Dokument sei. 25 Mit einer geistesgeschichtlichen, auf das attische Menschenbild gerichteten Interpretation hat F. Egermann in seinen Arbeiten (vgl. Anm. 3 gegen Ende) das Wesen sophokleischer Tragik gegen die landläufigen Auffassungen gedeutet als Verwirklichung hoher Arete durch bewußte, freie Entscheidung. Die hier vorgelegte, notwendig skizzenhafte, vor allem auf Bau, Verlauf und Strukturelemente der sophokleischen Tragödien konzentrierte Betrachtung, führt zum gleichen Ergebnis, das F. Egermann mit der geiistesgeschiditlichen Methode erreicht hat, und kann deshalb als Ergänzung seiner Untersuchungen angesehen werden. Ob man freilich, an einen der unzähligen modernen Begriffe von Tragik gewöhnt, die Quintessenz der sophokleischen Darstellung von Mensch, Welt und Göttern als „Tragik" zu bezeichnen bereit sein wird oder nicht, ist eine zweitrangige Frage. Auf das Etikett kommt es nicht an. 26 Von einem anderen weltanschaulich-geschichtlichen Standpunkt hat Hermann Hesse (im Traktat vom Steppenwolf) die Tragischen als die Kompromißlosen bezeichnet. Bei ihm steht als Gegensatz zum Tragischen das Bürgerliche als ein stets vorhandener Zustand des Menschlichen. Auf die Hauptgestalten des Sophokles

Gibt es Tragik in den Tragödien des Sophokles?

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ihrer U m w e l t z u m V o r w u r f gemacht w i r d ) nach dem, was sie für recht halten, u n d sie handeln f r o m m nach ihrem hohen M a ß u n d Begriff v o n Frömmigkeit, ohne zu fragen, ob auch die Götter f r o m m sind. D a m i t aber deutlich werde, daß ihre Autonomie nicht subjektive W i l l k ü r ist, sondern Überlegenheit über das gelten wollende M a ß , u n d z w a r Überlegenheit aufgrund der Bindung an übersubjektive N o r m e n u n d an W e r t haftes, u n d damit i h r Verhalten nicht als starre Widersetzlichkeit, als solipsistische Verblendung u n d Befangenheit i n einem W a h n mißdeutet werde 2 7 , setzt Sophokles als ein festes Strukturelement seiner Tragödien die Rechtfertigung der A r t , M o t i v e u n d Handlungen seiner Hauptgestalten ein. D i e dramatische Technik, die er dabei anwendet, ist verschieden u n d ebenso verschieden der Z e i t p u n k t , zu dem er es einsetzt. M a n d i m a l erlebt die H a u p t gestalt die Rechtfertigung durch ihre U m w e l t nicht mehr oder i h r H a n d e l n ist v o n vorneherein durch ein göttliches W o r t gerechtfertigt, ohne daß sie es weiß, manchmal rechtfertigen der ganze Verlauf u n d das Ende der D r a menhandlung das T u n der Hauptgestalt. U n d Sophokles scheint zeigen z u wollen, nicht n u r i n der ,Antigone' u n d ,Elektra', w o die beiden Mädchen auf der Beseitigung des Unrechten bestehen u n d den Z o r n der Götter v o n der Polis abwenden, sondern v o r allem i n seinen letzten Dramen, daß diese Gestalten, die ihrer U m w e l t als Toren erscheinen, durch ihr T u n keineswegs aus der Gemeinschaft herausfallen, sondern daß i m Gegenteil die Gemeinschaft diese Toren braucht.

ließen sich, bleibt man sich des jeweils verschiedenen Hintergrundes bewußt, Hesses Worte beziehen, nur „wenige finden ins Unbedingte . . . , sie sind die Tragischen, ihre Zahl ist klein", während für die Nebenfiguren, denen viele Interpretationen eine eigene Tragik zumessen wollen, Hesses Wort stehen könnte, „es reicht diesen zahllosen Existenzen nicht zur Tragik, wohl aber zu einem recht ansehnlichen Mißgesdiick und Unstern". Die entscheidende Übereinstimmung zwischen den beiden Dichtern liegt darin, daß sowohl Sophokles wie auch Hesse unter Tragik eine Leistung großer Persönlichkeiten sieht, einen Durchbruch ins Unbedingte. 27 Diese Vorwürfe werden den Hauptgestalten innerhalb der Tragödien tatsächlich immer wieder geimacht: von ihren Gegenspielern und von den Menschen ihrer Umgebung, die es zwar gut mit ihnen meinen, ihrer Kompromißlosigkeit aber verständnislos gegenüberstehen. Die gleichen Vorwürfe werden ihnen auch von manchen Interpreten heute gemacht, die in diesen Urteilen der Umwelt die „Stimme des Dichters" zu vernehmen meinen und dabei die bereits von Piaton ausgesprochene Einsicht ignorieren, daß der Dramatiker gegensätzliche Charaktere gestalten muß. Da die dramatische Handlung aus gegensätzlichen Absichten der beteiligten Personen und aus dem Zusammenstoß gegensätzlicher Anschauungen entsteht, ist es selbstverständlich, daß von den handelnden Personen auch gegensätzliche Urteile über den gleichen Sachverhalt gefällt werden. Einzelne von ihnen zu isolieren und absolut zu setzen bedeutet, die Eigenart dramatischer Darstellung zu verkennen.

DAS S C H U L D P R O B L E M I N SENECAS T R A G Ö D I E N * V o n Walter Pötscher Nach einer Zeit der Verkennung 1 v o n Sencas poetischer Absicht u n d Fähigkeit muß die Forschung i n kleinen Schritten versuchen, das Phänomen seiner Tragödien möglichst adäquat zu erfassen. M a n hat i n den letzten Dezennien verschiedene Gesichtspunkte i n den Vordergrund gerückt. U . Knoche 2 erblickte i n den Tragödien Senecas hyperbolische Beispiele schlechter Menschen. E. Lefèvre 3 meint, der Philosoph habe Exempla der stoischen Lehre dargestellt u n d m i ß t die Personen an den psychagogischen Absichten des Seneca; dabei ergeben sich der mythischen T r a d i t i o n scharf widersprechende Wertungen, wenn etwa H i p p o l y t u s oder Theseus schlechter abschneiden als Phaedra, die, wie Lefèvre betont, wenigstens weiß, daß sie fehlt. Eine Umsetzung stoischer Philosophie u n d Psychagogie ins D r a m a ist aber auch schon grundsätzlich sehr problematisch. Exempla müssen, wenn man sie richtig verstehen soll, besonders an mythisch-sagenhaften Stoffen, die v o n vornherein m i t gewissen Wertungen verbunden waren, i n eine klare Interpretation eingebettet sein; zudem würden die Beispiele durch ihre traditionsgebundene Uberdimensionalität z u m psychagogischen Exemplum wen i g taugen. V o r allem aber w i r d eine solche Auffassung dem Schaffen eines Dichters, dessen poetische Qualitäten zunehmend Anerkennung finden 4 , nicht gerecht. Ohne damit leugnen zu wollen, daß auch solche Aspekte i h ren Sinn i n der Forschung haben können, scheint es wichtig, einer Frage * Diese Abhandlung stellt den Text eines bei der Generalversammlung der Görresgesellschaft am 6. Oktober 1975 in Mannheim im Rahmen der Sektion für Sprach- und Literaturwissenschaft, Abteilung f. Deutsche Philologie und Abteilung für Klassische Philologie gehaltenen Vortrages dar. Das Rahmenthema der Veranstaltung war das Problem des „Tragischen". Zum Druck wurden einige wenige Anmerkungen hinzugefügt; ich habe mich daher, um den Charakter des Vortrages nicht zu sehr zu verändern, auf ein unbedingtes Minimum beschränkt. Die Kenntnis der wichtigeren Seneca-Literatur, wenigstens im Ausmaße der Sammlung „Senecas Tragödien" von E. Lefèvre, Darmstadt 1972, durfte ich voraussetzen. 1 Th. S. Eliot, The character, virtues and vices of Seneca's tragedies. Selected Essays, London2, 1934, 66 ff. u. a. 2 U. Knoche, Senecas Atreus. Ein Beispiel, Antike, Bd. 17 (1941), 60 ff. 3 E. Lefèvre , Quid ratio possit? Senecas Phaedra als stoisches Drama, Wiener Studien, Ν . F. Bd. 3, 1969, 131 ff. 4 Dazu vgl. etwa den Band der Wissenschafdichen Buchgemeinschaft, den E. Lefèvre unter dem Titel „Senecas Tragödien", Darmstadt 1972, herausgegeben hat.

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nachzugehen, welche die sittliche Q u a l i f i k a t i o n der handelnden Personen i n Senecas D r a m a durch den Dichter unter dem Gesichtspunkt der Einschränk u n g v o n deren v o l l e m W i l l e n durch t/o/or 5 , aber audi durch timor z u m Gegenstand hat. Diesem Problem sollen die heutigen Ausführungen gewidmet sein. D a die Tragödien Senecas nicht einfach i n Poesie umgesetzte Philosophie repräsentieren, sondern eine sicherlich lehrhafte, aber doch wieder nicht v o l l systemgerechte, sondern — v o n a l l dem Abstoßenden abgesehen — den Gesetzen poetischer u n d unmittelbarer Erfahrung entsprechende Darstellung v o n Ereignissen der mythischen sagenhaften T r a d i t i o n sind, spielen Faktoren eine Rolle, welche m i t den W ö r t e r n pudor (Scheu) u n d dolor (Schmerz) wiedergegeben werden. Beide liegen als solche außerhalb der ratio y auch wenn sie enge Beziehung zu i h r besitzen. K o n r a d H e l d m a n n 6 hat über die F u n k t i o n des pudor als wichtige Schranke gegen das Unrecht i n dem Falle, wenn die ratio nicht befolgt worden w a r , Wichtiges gesagt. D i e Tragödien Senecas zeigen ja, daß nicht die ratio allein Sdiutz gewährt, wenn auch den besten u n d v o r allem den edelsten, was w i r aus seinen Prosasdiriften wissen; sie zeigen, daß der pudor immer wieder der sittlichen U n t a t entgegensteht. Eine, man könnte sagen, symmetrische F u n k t i o n z u m pudor übt i m Negativen der dolor aus. I n einem Aufsatz, den ich H e r r n Professor Stoessl 7 w i d m e n durfte, wurde auf die Bedeutung des dolor i n der ,Medea' hingewiesen; indes scheint dieser Begriff einer der Angelpunkte z u m Verständnis der senecaisdien Tragödien überhaupt zu sein. M a n k a n n I l o n a O p e l t 8 leicht folgen, wenn sie diese Tragödiendichtung als D r a m a des nefas bezeichnet. I m m e r wieder steht j a das furchtbare Verbrechen i m M i t t e l p u n k t dieser Dichtung, ob es die grauenvolle Geschichte v o n Atreus und Thyestes, v o m Gattenmord der Klytaimestra, v o m Kindesmord einer Medea, v o m Inzestbegehren der Phaedra ist u n d was sonst an Schrecklichem dargestellt u n d erzählt w i r d . I n einer Hinsicht nicht m i t Unrecht wundert sich W . K u l i m a n n 9 darüber, daß derselbe Seneca, der jeden Menschen für einen recht schwachen Kämpfer gegen das Böse ansieht, der jedem rät, v o r der eigenen T ü r zu kehren, eine Medea darstellt, die angeblich v o n G r u n d 8 Zum dolor, freilich unter anderem Aspekt vgl. O. Regenbogen, Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas, Vorträge d. Bibl., Warburg 7, 1927/28; jetzt auch Kl. Sehr. hg. von F. Dirlmeier y München 1961, 409 ff. 6 Die funktionale Ähnlichkeit von dolor und metus zeigt auch etwa Thy. 968 (dolor an metus es?). 7 W. Pötscher, Dolor und malum in Senecas Medea, Grazer Beiträge, Bd. 6, 1977, Festschrift f. F. Stoessl. 3 Ilona Opelt y Senecas Konzeption des Tragischen, Oniginalbeitrag in Senecas Tragödien, ed. E. Lefèvre, 92 ff., vgl. zu Senecas jPhoenissen*, a.a.O. 272 ff. • W. Kulimann, Medeas Entwicklung bei Seneca, Forschungen zur römischen Literatur, Festschr. f. K. Biichner y Wiesbaden 1970, 158 ff., 162.

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auf schlecht ist. Seneca weiß u m die Schwierigkeit des sittlichen Kampfes des Menschen u n d er macht sich, was die höchste Form sittlicher V e r v o l l kommnung betrifft, keine Illusionen. Z u vieles ist es, was den Menschen belastet. Diese Last, dieses Gewicht, das nach unten zieht, haftet aber nicht nur den Guten, den v o n der ratio Geleiteten an, sondern auch denen, die zu schwach sind, u m den Weg des Sittlichen m i t einigem E r f o l g zu gehen. D a m i t w i l l Seneca keinen Freispruch für diese Menschen fällen, aber er sieht die Faktoren, welche sie behindern. Er entschuldigt sie nicht, aber d i f ferenziert doch zwischen der Möglichkeit, das Schlechte m i t ganzem W i l l e n zu w o l l e n u n d der, das Schlechte aus einer, w i e w o h l nicht entschuldbaren Schwäche heraus zu w o l l e n oder, wie es i n der Phaedra der F a l l ist, eigentlich nicht zu wollen. Was die Menschen der senecaischen Dramen z u m nefas bewegt, ist v o r wiegend der Schmerz, der i n verschiedenen Schattierungen auftreten kann, selbst i m amor , der ein πάθος, ein A f f e k t u n d zugleich ein Leiden sein kann. Über timor (Angst) heute zu sprechen, verbietet die Zeitspanne, die dem V o r t r a g gewährt ist. M a n darf seine Bedeutung aber nicht unterschätzen; er ist ja die Reaktion auf zukünftige mala, wie es der dolor (Schmerz) auf vergangene u n d gegenwärtige ist. Darüber hinaus erblickt Seneca i n der verderblichen Wirkungsweise des timor an manchen Stellen, vorwiegend i m ,Oedipus' u n d i n den ,Phoenissen c , die tragische Pathologie des psychisch Kranken, der i n seinen Taten verbrecherisch handelt u n d i n seiner inneren Disposition davon bedroht ist, aber selbst unter dem Druck der Angst schwer leidet. D a ß Seneca damit i m Gefolge des Klassikers Sophokles u n d zugleich, w i e w o h l zeitlich w e i t getrennt, an der Schwelle zur Entdeckung des Unbewußten steht, mag hier am Rande vermerkt werden. W i e der pudor, der w o h l außerhalb der ratio liegt, aber i n seinem Ziele m i t i h r konvergiert, das W o l l e n positiv beeinflußt bzw. das W o l l e n eines nefas behindert, so behindert der dolor gelegentlich das W o l l e n des Guten und drängt z u m bösen Entschluß. Besehen w i r einzelne Tragödien i n bunter Reihenfolge, ohne auf die Frage der Datierung oder der Echtheit einzugehen! Z u den größten Verbrechern i n Senecas Dramen gehört der Atreus i m ,Thyestes e ; U . Knoche 1 0 sagt über i h n : „ E r ist der vollendete Verbrecher aus eigenem W i l l e n ; u n d w i r wissen, daß dies Senecas eigenste Prägung gewesen ist." Zweifellos sind die Taten u n d Wünsche des Atreus furchtbar schlecht. Aber hat Seneca damit nur einen hyperbolischen Ausdruck, wie Knoche meint, bieten wollen? D e r Text scheint doch ein differenzierteres 10

U. Knoche, Senecas ,Atreus'. Ein Beispiel, Antike, Bd. 17, 74.

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B i l d zu zeigen. Atreus w i l l die U n t a t e n ; i h m ist das scelus (Verbrechen), das nefas (sittliche Unrecht) nicht groß genug (non satis magno meum ardet furore pectus 252 f., „ m i t nicht genügend großer Raserei erglüht mein H e r z " ) ; denn er hat die pietas gehen geheißen, falls je diese i m AtreidenHaus gewohnt habe (249 f.). Doch neben a l l dem Grauen hören w i r auch v o n dem furchtbaren Unrecht, das er erlitten hat (per regna trepidus exul erravi mea 237, „durch mein Königreich irrte ich als zagender Verbannter", corrupta coniunx, imperi quassa est fides , domus aegra , dubius sanguis 239 f., „verdorben die Gattin, erschüttert das Vertrauen meiner Herrschaft, das Haus k r a n k , zweifelhaft die Nachkommenschaft"); w i r hören v o n einem lange Zeit erlittenen dolor (doloris ... assueti, 255), v o n einem so großen Schmerz (tantus ... dolor, 257; vgl. 274 f.), der sich keine Zügel anlegen läßt (vix tempero animo, vix dolor frenos capit, 496, „ k a u m k a n n ich meinem Herzen Mäßigung gebieten, k a u m kennt mein Schmerz Zügel"). W i e w o h l Atreus die tiefste Demütigung u n d den größten Schmerz seines Bruders Thyestes w i l l , setzt er i n seinem Résumé am Ende der Tragödie (1104 ff.) dessen Leiden i n Relation zu dem eigenen (scelere praerepto doles, „ d u leidest, w e i l ich d i r i m Verbrechen zuvorgekommen b i n " ) ; Ü b e l w o l l t e er m i t Ü b e l vergelten, seine Taten erscheinen i h m fast w i e N o t w e h r , w e i l sich dem dolor über vergangene mala der timor, der metus v o r zukünftigen, gesellt. N i c h t das Böse u m seinetwillen strebt er an, sondern u m sich f ü r erlittenes Unrecht zu rächen u n d künftigem vorzubeugen. Er weiß darum, daß es scelus ist, was er tat u n d er wußte es, als er es ins Werk setzte, aber Zweck w a r nicht das Verbrechen, sondern die Strafe des anderen u n d der eigene Schutz. Dies alles rechtfertigt Atreus nicht, w e i l der Zweck die M i t t e l nicht heiligt u n d w e i l er sich nicht hätte hinreißen lassen dürfen. Schon der A f f e k t als solcher ist nach stoischer Auffassung erst recht nicht Ordnung, w e i l nicht i n der O r d n u n g der ratio, aber daß er das Ausmaß des scelus, das er tatsächlich dann gewollt u n d begangen hat, nicht propter scelus gewollt hat, geht aus der verleitenden K r a f t des dolor, auch des timor, hervor. I n den philosophischen Prosaschriften weist Seneca darauf hin, daß der A f f e k t , sobald man i h n willentlich akzeptiert hat, den W i l l e n mitreißt (De ira 1,8); dem entspricht die Ä u ß e r u n g Clytaemniestras i m ,Agamemno f , w e n n sie s a g t : . . . quocumque me ira, quo dolor, quo spes fer et, hoc ire pergam, A g . 141 ff., „daher ließ ich meine Herrschaft aus meinen Händen, w o h i n mich mein Zorn, w o h i n mein Schmerz, w o h i n die H o f f n u n g zieht, d o r t h i n zu gehen mache ich mich a u f " ; u n d Seneca fügt den Vergleich an: fluctibus dedimus ratem (143), „ d e n Fluten haben w i r den Nachen preisgegeben". Auch hier w i l l sie nicht v o n vornherein das Verbrechen, sondern

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zuerst bejaht sie die ira (Groll) u n d den dolor. D e n n i n dieser Situation wagt dann Vernunft nichts noch Erfahrung (nil ratio et usus audet, „nichts wagt V e r n u n f t u n d Erfahrung" 507), anders wenn jemand v o m Unglück unbesiegt ist wie A i a x (solus invictus malis luctatur Aiax 532 f., „ n u r Aias ringt unbesiegt v o n Unglücksfällen"). D e r unglücksschwangere dolor bereitet die Situation (vgl. 649 f.). D i e Frau, die durch die Opferung der Tochter u n d durch die Eifersucht getroffen ist, weiß sich als Genossin der Untaten des Buhlen (quae iuncta peccat debet et culpae fidem, „ d i e verbunden fehlt, schuldet auch der Schuldtat Treue", 307 vgl. 978). Sie w i r d schwach durch das Bewußtsein gemeinsamer Schuld u n d durch die w a h r haft psychologische Argumentation des Buhlen Aegisthus (assuevi malis. Si tu imperas, regina , non tantum domo Argisve cedo. Nil moror iussu tuo aperire ferro pectus aerumnis grave 302 ff., „ich habe mich an Leiden gew ö h n t . Wenn du, K ö n i g i n , befiehlst, weiche ich nicht nur v o n deinem Haus oder v o n Argos. N i c h t zögere ich auf Deinen Befehl hin, meine sorgenschwere Brust m i t dem Schwerte zu öffnen"). D a ß diese Worte die Frau zutiefst berühren, i n deren A n t l i t z der Schmerz, die Beleidigung geschrieben steht, läßt sich verstehen; dies attestiert die A m m e : mora (Verzögerung) könnte den dolor heilen, den die ratio nicht zu heilen vermag (quod ratio non quit y saepe sanavit mora 130), aber die W o r t e des Bettgenossen sind ein neuer impetus , ein solcher, der i n gewisser Weise auch an den pudor zu appellieren vermag. Sie w i l l die Rückkehr zur ehelichen Liebe u n d sie erkennt und anerkennt, daß die eheliche Liebe eine Pflicht ist; ja sie weiß es, daß die Rückkehr schwer ist, aber auch, daß die Reue der Schuldlosigkeit fast gleich k o m m t , was hier heißt, daß der gute W i l l e fast Schuldlosigkeit bedeutet (Amor iugalis vincit ac f ledit retro : remeemus illuc, unde non decuit prius abire ... nam sera numquam est ad bonos mores via; quem paenitet pecasse, paene est innocens 239 ff., „ D i e eheliche Liebe siegt u n d wendet mich zurück. Kehren w i r zurück dorthin, v o n w o ich früher nicht hätte abgehen sollen . . . denn nie ist der Weg zu Rechtschaffenheit zu spät: w e n es reut, gefehlt zu haben, der ist fast ohne Schuld"). Sie erlebt es, daß, was v o m alten pudor geblieben ist, sich erhebt, wieder a k t i v w i r d (288), aber die schürenden W o r t e besiegen sie. D e r dolor u n d das Bewußtsein der gemeinsamen Schuld, die eine Folge der K r ä n k u n g w a r , veranlassen Clytaemnestra zur Tat. Uber ,Medea f wurde i n dem genannten Aufsatz gesprochen. A u f das eine oder andere, was den dolor betrifft, soll auch hier hingewiesen werden. W ö r t l i c h entspricht die Feststellung totus in vultu est dolor (Med. 446) der i m Agam. 128. A u d i die Verwunderung immane quantum augescit et semet dolor accendit ipse y „grauenhaft, wie sich der Schmerz vermehrt u n d selbst entzündet" (Medea 671 f.) fügt sich bestens zu Ag. 141 ff. ( . . . quocumque me

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ira, quo dolor , quo spes feret, hoc ire pergam, „ w o h i n auch immer mein Z o r n , w o h i n mein Schmerz, w o h i n die H o f f n u n g mich treibt, d o r t h i n w i l l ich gehen" — u n d z u fluctibus dedimus ratem, „den Fluten haben w i r den Nachen preisgegeben"). Beide, Clytaemnestra u n d Medea schwanken v o r übergehend — Clytaemnestra fordert sich selbst auf remeemus, aber die Gemeinsamkeit der Schuld, die aus dem dolor über die Opferung der Tochter entstanden ist, u n d der Schmerz verletzter Treue durch Cassandra (vgl. 978.1002) werfen sie wieder zurück; Medea w i l l den dolor u n d seine verheerende W i r k u n g verscheuchen cede pietati, dolor! (944), aber dann muß sie feststellen, r ur sus increscit dolor et fervet odium, r e petit invit am manum antiqua Erinys (951 ff.). Medea f ü h l t sich gegen ihren W i l l e n 1 1 (invitam) getrieben zur T a t , die ihr der dolor befiehlt. Sein ist ja das Vorspiel (prolusit dolor ... noster, Med. 907 f.), er sucht sich das Opfer (Med. 914), u n d n u r ein leichter dolor gestattet ein consilium (Med. 155 f.). Verbindet die Feststellung, daß der v o m furor, v o m dolor entflammten Brust keine Rache genügt (vgl. T h y . 252 ff.), u n d maius hoc aliquid dolor inveniat ( T h y . 274 f.) die Tragödie Thyestes m i t Medea, welche am M o r d e i n e s Kindes nicht Genüge für ihren Schmerz findet (nimium est dolori numerus angustus meo, Med. 1011), so verbindet diese m i t der Phaedra nicht nur die Zentralgestalt einer Frau, sondern auch die Betonung ihrer Willenlosigkeit. V o n jener H a n d , die ohne W i l l e n (invitam manum) die gräßliche T a t des Kindermordes vollführte, haben w i r bereits gehört. Phaedra drückt ihren K o n f l i k t (603 ff.), den sie übrigens nicht nur m i t Medea, sondern zu einem guten T e i l m i t Clytaemnestra gemeinsam hat, i n der Weise aus, daß sie sagt: vos testor omnis, caelites, hoc quod volo me nolle (604 f.). volo u n d nolo heben einander auf (cf. ,Phoen e . 291); Phaedra w i l l den Inzest also nicht, oder doch zumindest nicht eigentlich. Freilich w i l l sie auch nicht das Gegenteil. D i e D y n a m i k der beiden Tendenzen velie — nolle ist nahe daran, sich selbst aufzuheben. Wieder ist es der dolor (Phaed. 589), der sie z u m Verbrechen treibt, u n d der pudor (595) unterstützt die Willenstendenz z u m Guten. H i e r sieht man deutlich, daß der W i l l e i n der einen oder anderen Richtung durch K r ä f t e m o t i v i e r t u n d gegebenenfalls so gedrängt werden kann, daß zwei Tendenzen velie — nolle einander gegenüberstehen u n d einander blockieren oder wenigstens velie keine Entscheidung u n d keinen Kräfteeinsatz darstellt. D e r dolor ist eine Macht (tela faciebat dolor, 549, „Geschoße stellt der Schmerz zur V e r fügung"), u n d z w a r eine große (99), die siegreich herrscht (vicit ac re gnat furor, „es siegte das Rasen, u n d es herrscht", 184) u n d das nefas, b z w . scelus nahelegt. 11

Vgl. mei non sum potens (Phaedr. 699).

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D i e Verderblichkeit des dolor u n d des timor , bzw. metus w i r d i n den ,Troerinnen c k l a r ausgesprochen: semper , a semper dolor est malignus („bösartig"). D i e Griechen haben Angst v o r Astyanax, der T r o j a wieder aufbauen u n d diese Stadt z u m B o l l w e r k machen könnte. D i e Greuel, die schon geschehen sind, gehen nach des Agamemnon W o r t eben darauf zurück: quicquid indignum aut ferum cuiquam videri potuti, hoc fecit dolor tenebr aeque, per quas ipse se irritât furor (,Troades c , 281 ff.). D e r Schmerz führt auch intellektuell zu falscher Einschätzung: est quidem iniustus dolor rerum aestimator, 545 f., „der Schmerz ist freilich ein ungerechter Beurteiler der Dinge." E i n großer Schmerz entbehrt ja der ratio und k a n n nicht gebeugt, verändert, überwunden werden (ratione ... flecti neget . . . 903 f.), er tendiert dazu, alles t/nglück u n d allen Jammer auszuwalzen ( 1 0 6 6 f . ) ; d . h . der dolor hat eine Tendenz zu perseverieren. D i e Macht des dolor, die er auf die Person ausüben kann, drückt Ulixes i n seiner D r o h u n g an A n d r o mache aus, wenn er sagt: . . . adiget invitam dolor et pectore imo condita arcana eruet: nécessitas plus posse quam pietas solet, „gegen deinen W i l l e n w i r d der Schmerz dich zwingen u n d aus tiefster Brust verborgene Geheimnisse ausgraben. N o t w e n d i g k e i t pflegt mehr z u vermögen als Zuneigung" 579 f.). M a n beachte dabei die Wörter invitam u n d adiget sowie eruet. W i r schließen hier trotz schwerster Bedenken gegen die Echtheit 1 2 der ,Oct a v i a ' einige Stellen aus i h r an, w e i l sie strukturell senecaischer Eigenart gut nachempfunden sind. D i e verderbliche K r a f t des dolor bekommt die A m m e zu spüren (mittit inmitis dolor Consilia nostra nec regimentis potest genero sus ardor, sed malis vires capti, „ i h r unversöhnlicher Schmerz v e r w i r f t meine Ratschläge, u n d die adelige G l u t ihres Sinnes läßt sich nicht leiten, sondern aus ihren Leiden schöpft sie neue K r ä f t e " Oct. 52 ff., v g l . 543). D e r dolor ist ein Hemmnis für die Consilia. Das tyrannische u n d verbrecherische Gebaren des N e r o w i r d durch ira u n d dolor (vgl. 829 f.) m o t i v i e r t ; auch der Praefectus sagt Poenam dolor constituet in cives tuosf „ W i r d dein Schmerz eine Strafe über deine Mitbürger verhängen?" (856). N i c h t so sehr die Vernichtung der Octavia als solcher sucht N e r o v o n vornherein, sondern die Beleidigung der neuen G a t t i n u n d seine eigene drängen ihn, die U n t a t zu vollenden. Eine unvergleichlich geringere Bedeutung k o m m t dem dolor für die Beurteilung der sittlichen Q u a l i t ä t der Oedipus-Gestalt i m ,Oedipus' u n d in den ,Phoenissen c zu. Freilich ist es nicht gerade stoisch, w i e affektgeladen 12 Vgl. dazu R. Helm, Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Berlin 1934, 283 ff., B. Axelson, Die Echtheitsfrage der Octavia Praetexta, Lund 1956 f., Seneca, Ottavia, ed. G. Ballair a, Turin, 1974 (dort noch Lit.) und meine Rez. zu dieser kommentierten Ausg. in Grazer Beiträge, Bd. 5, 1976.

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der Dulder n a d i der Entdeckung des Vatermordes u n d v o r allem des I n zests reagiert: K a l t e r Schweiß bedeckt seine Glieder (gelidus fluit sudor per artus, „ k a l t e r Schweiß fließt über die Glieder" Oed. 922 f.) u n d sein tief verborgener, großer Schmerz w o g t auf (mersus alte magnus exundat dolor, „der große tief eingeprägte Schmerz w o g t hervor" 924) u n d w i r hören parallel dazu: ira furit (957). A u d i i n den ,Phoenissenc fordert er seine rechte H a n d auf: dextra, nunc toto impetu, to to dolore, viribus totis veni! „ M e i n e Rechte, jetzt k o m m m i t ganzer Gewalt, m i t ganzem Schmerz u n d allen K r ä f t e n ! " (Phoen. 155 f.). A n t i g o n a belehrt i h n : at hoc decebat roboris tanti virum, non esse sub dolore nec victum malis dare terga; non est y ut putas, vir tus y pater , timere vitam, sed malis ingentibus obstare .. „aber es ziemte einem M a n n v o n so großer K r a f t , nicht unter der E i n w i r k u n g des Schmerzes zu sein u n d besiegt den Leiden den Rücken zu kehren. N i c h t ist es, wie du glaubst, Tüchtigkeit, Vater, das Leben zu fürchten, sondern ungeheuren Leiden entgegenzutreten" 188 ff. Sie fragt, was seinem Schmerz neue Stachel gibt (quid est, quod te efferarit, quod novos suffixe rit stimulos dolori ? „Was ist's, was dich aus der Fassung gebracht hat, was dem Schmerz neue Stachel gegeben?" 205 ff.); auch der Bote bittet, daß er den heftigen impetus doloris (348) aufgeben soll. M a n darf dabei allerdings nicht übersehen, daß der ungeheure Schmerz als eine Reaktion auf die sittliche U n t a t erscheint. Oedipus hat Taten gesetzt, die schwerste Verletzung der O r d n u n g darstellen, Vatermord u n d Inzest m i t der M u t t e r , u n d er ist nach antik-heidnischer Auffassung der M o r a l an diesen schuldig, er ist sachfällig, o b w o h l er die willentlich gesetzten A k t e der T ö t u n g eines M a n nes, der i h n beleidigt hatte, u n d die Ehe m i t einer verwitweten K ö n i g i n nicht als V a t e r m o r d u n d Inzest erkennen k o n n t e , da er die Familienbeziehung nicht wußte. Durch diese „Schuld", u m a n t i k zu sprechen, ist der dolor „sittlich" einigermaßen motiviert, w e i l er den Schmerz über ein echtes malum darstellt. W i r erinnern uns dabei jenes Suchens des Oedipus nach der Aufdeckung seiner Verbrechen, u n d wie peinlich genau er i n einer intellektuellen Überspitzung adäquate Wege zur Selbstbestrafung ausfindig machen w i l l (Oed. 944 ff.) ; nicht der T o d genügt ihm, sondern die schreckliche Blendung h ä l t er für die entsprechende Genugtuung. Auch i n den ,Phoenissenc w i l l er H i m m e l und Erde v o m Anblick seines verruchten Hauptes befreien (hoc nefandi capitis aspectu levet caelum atque terras , Phoen. 7 f.). Das alles macht den dolor wenigstens verständlicher. V i e l zentraler aber scheint v o r allem i m ,Oedipus' der timor , der metus zu sein, der seinerseits als Reaktion auf künftige mala i n Beziehung z u m dolor, der auf gegenwärtige und vergangene mala anspricht, steht. Es ist hier nicht der Platz, die Darstellung der Oedipus-Gestalt bei Seneca m i t jener bei Sophokles zu vergleichen. Dies geschieht i n einem eigenen A u f s a t z 1 8 .

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H i e r muß auch, was Sophokles angeht, der H i n w e i s auf einen Beitrag i n der Zeitschrift für Psychologie, Psychotherapie u n d medizinische A n t h r o p o l o gie 1 4 aus dem Jahre 1970 genügen. D o r t glaube i d i gezeigt zu haben, daß der Oedipus i m ersten Oedipusdrama des Sophokles Züge aufweist, die w i r heute an einem Menschen als Symptome einer Neurose bezeichnen würden. D a ß dabei die unbegründete, bzw. nicht auch nur einigermaßen entsprechend begründete Angst eine sehr wichtige Rolle spielt, liegt auf der H a n d . Angst, übergroße Angst hat aber auch der Oedipus des Seneca. D a die ratio z u m Menschen gehört, enthält das Bekenntnis des Oedipus, daß er alles fürchte u n d sich nicht sich selbst anvertraue, bereits eine Fehlhaltung: cuncta expavesco meque non credo mihi (Oed. 27); es ist ja die Angst, die i h n v o n K o r i n t h vertrieb (22). Dabei muß er allmählich erkennen, daß er getan hat, was er zu t u n gefürchtet hatte (quidquid timebam facere, fecisse arguor, 660, „was ich zu t u n befürchtete, das soll ich getan haben", sagt er noch unüberzeugt); wenn er das Königspaar v o n K o r i n t h gefürchtet hat, so sind dies vana, sinnlose Dinge (801), u n d der Chor k ü n det (909 f.), daß alles, was das M a ß überschreitet, auf schwankem Boden steht (quidquid excessit modum, pendet instabili loco, „was das M a ß überschreitet, steht auf schwankem Boden"). D a m i t hat Seneca das griechische μηδέν αγαν („nichts i m Übermaß") genau so wie den Standpunkt seiner stoischen Philosophie v o n der N o r m der ratio, aber auch ein diagnostisches I n d i z der Neurosenlehre ausgesprochen. Tiefe T r a g i k steckt i n dem W o r t des Chores, das kurz v o r Schluß der Tragödie erklingt: „Vielen schadet gerade ihr Fürchten, viele liefen i n ihr Schicksal, während sie ihr Schicksal fürchteten", multis ipsum metuisse nocet, multi ad fatum venere suum, dum fata timent, Oed. 992 ff. Zugleich aber zeigt sich auch die i m Fatum gegebene Ordnung, der der Mensch nach stoischer Auffassung nicht zu entgehen trachten soll; wenn es aber die U n o r d n u n g der Schuld ist, die er meidet, dann genügt die ratio, die durch pudor unterstützt w i r d . T r i f f t Oedipus eine persönliche Schuld am V a termor d und am Inzest an der M u t t e r , dann ist es der timor, freilich der timor v o r der Schuld, der allerdings verständlich erscheint. I m ,Oedipus' des Seneca schneiden sich gedankliche L i n i e n : D i e mythische Gegebenheit 15 , die D y n a m i k dessen, der diese Verbrechen nicht w i l l , das sto13 W. Pötscher, Der Oedipus des Seneca, wird im Rhein. Mus. (wahrscheinlich 1977) erscheinen. 14 W. Pötscher } Oidipus, in Jahrbuch f. Psychologie, Psychotherapie und medizin. Anthropologie, 18. Jahrg., 1970, 36 ff. — Zur mythisch-sagenhaften Gestalt des Oidipus in ihrer Genese vgl. W. Pötsdoer, Die Oidipus-Gestalt, Eranos, Bd. 71, 1973, 12 ff. 15 Vgl.: . . . . scelera, quae feci innocens (Phoen. 218).

4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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isdie Postulat der Affektlosigkeit u n d die Beobachtung überspitzter Angst, welche i n einem circulus vitiosus ihr Opfer zynisch gerade i n das gefürchtete Verderben treibt, was bereits Sophokles i n seiner A r t dargestellt hatte. Wenn der dolor viel weniger als i n anderen Dramen des Seneca zum T r a gen k o m m t , so ist es hier die Parallelerscheinung des timor , der die Entscheidungen des Oedipus beeinflußt, freilich — u n d das muß betont werden — nicht i n Erkenntnis des nef as u n d scelus, sondern i n einer tragischen Verkettung. Senecas Aussage i m Oedipus konvergiert m i t seiner Auffassung, daß ratio, Recht u n d rechte Seelenhaltung zusammengehören; trotz aller ziemlich praktischen Einstellung Senecas bleibt die intellektualistische G r u n d tendenz v o n der Pathologie des Unvernünftigen, zu dem auch die große Angst gehört, deutlich sichtbar. Der metus beeinflußt i m Oedipus den W i l len, wie so oft sonst der dolor es tut, wenn auch hier den W i l l e n n i c h t z u m e r k a n n t e n Verbrechen, so doch zu Taten, die sich n a c h h e r als Verbrechen herausstellen u n d für die sich Oedipus verantwortlich fühlt. D i e Grenze v o n Größe u n d Pathologie berührt Seneca auch i n der D a r stellung des Hercules furens. A u f seine grandiosen Leistungen i m Sinne des griechischen Mythos ist Hercules bedacht; er weiß u m seine Größe, u n d Theseus bestätigt diese (méritas Herculis laudes 829); aber jenes die Grenzen Überschreitende ist nahe dem, was zu viel ist. Fast nahtlos geht der R u h m des Hercules i n den Wahnsinn über, der die ΰβρις (Maßlosigkeit) z u m Gegenstand hat. D i e durch ihre mythische Position 1 6 festgelegte G ö t t i n Juno beschreibt die Voraussetzung, das Sujet, als ύβρις,, die sich i n der pathologischen Nicht-Bewältigung der Situation durch Hercules als Verfehlen der wirklichen O r d n u n g erweist. E r k ä m p f t gegen sich selbst, das w i l l Juno (bella iam secum gerat 85, „jetzt soll er gegen sich selbst K r i e g führ e n " ) ; denn er hat keinen i h m gleichen mehr (quaeris Alcidae paremi nemo est nisi ipse, 84 f., „ D u suchst einen dem A l k i d e n Gleichen? Es gibt keinen außer dich"). Was Hercules, solange er bei Sinnen war, tat, w a r nicht nur durch die mythische Auffassung vorgegeben, sondern auch nicht verbrecherisch. Wenn Clemens Z i n t z e n 1 7 schon da schuldhaften furor vermutet, so stellt sich uns doch die Frage, ob dieser Hercules, der so viele Gefahren und Übel für die Menschheit überwunden hat, ja, der lebendig die U n t e r w e l t verlassen konnte, m i t seinem R u h m weit über das hinausgegangen ist, was eben seinen gottbefohlenen Taten entsprach — daß es aber Seneca m i t dieser Entsprechung, m i t dieser Adäquatheit ernst ist, scheint u. a. doch auch 16 Zum Verhältnis von Hera und Herakles vgl. auch meinen Aufsatz in Emerita, Bd. 39 (1971), 169 ff. 17 Cl. Zintzen, Alte virtus animosa cadit. Gedanken zur Darstellung des Tragischen in Senecas Hercules Furens, Originalbeitrag in Senecas Tragödien, ed. E. Lefèvre, 149 ff., bes. 155.

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das Suchen des Oedipus nach der adäquaten Strafe, aber audi manches andere zu zeigen. Hercules ist eben kein Mensch wie Alexander, auf den Zintzen hinweist, Hercules ist der Sohn des Gottes und er ist der w i r k l i c h mächtige Heros, als der er sich i m D r a m a erweist. H i e r zeigt sich die subtile Problematik der Tragödien Senecas. Einerseits gelten die „Gesetze" des mythischen Geschehens, welche zugleich die des poetischen sind, u n d andererseits hat die stoische Auffassung des stoischen Dichters entsprechend i n Rechnung gestellt zu werden. A n einem P u n k t scheinen sich beide Aspekte zu treffen: es ist dies die Auflehnung des H e r cules gegen Juno (vgl. 605 f. non satis terrae patent lunonis odio , „nicht genug stehen die Länder dem H a ß Junos offen"). Diese Juno weist auch i n mythischer Sicht deutlich hybristische Züge auf, und i n stoischer Sicht bedeutet dies, inwieweit Juno Exponentin göttlicher O r d n u n g sein kann, welche i n den Sprüchen der Götter, i n den fata, z u m Ausdruck k o m m t , eine Verletzung jener vernünftigen Ordnung. Hercules aber verehrt Juppiter u n d die Götter (nunc sacra patri victor et superis fer am 898 „als Sieger w i l l ich nun meinem Vater u n d den Göttern Opfer bringen"). Was er aber i m Wahnsinn sagt, möge man i h m nicht zu sehr anrechnen. Nach m y t h i scher Anschauung ist der Täter zwar sachfällig für den Schaden, den er angerichtet hat, aber der v o n H e r a gesandte Wahnsinnsanfall macht die Götter selbst problematisch, wie w i r schon bei Euripides 1 8 lesen; nach stoischer Auffassung wiederum w i r d man das i n unverschuldetem Wahnsinn Gesagte u n d Getane ebenso zu beurteilen haben, wie den natürlichen impetus 19 des Affekts, den Seneca als sittlich indifferent, w e i l eben natürlich, ansieht; erst durch die Zustimmung des Willens w i r d der A f f e k t schuldhaft. W e n n Clemens Zintzen Hercules fehlende „praemeditatio seiner eigenen M a c h t " 2 0 v o r w i r f t , mag dies insofern nicht zutreffen, als Hercules eben ein Juppiter-Sohn u n d kein (gewöhnlicher) stoischer Mensch eines bestimmten Sittlichkeitsgrades ist; stoischen Idealen entspricht er allerdings nicht. Eines aber: Hercules ist nicht ein böser Mensch. D a m i t erfüllt er zumindest das B i l d des Menschen bei Seneca, welches den Ringenden m i t mittelmäßigem

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Euripides, Herakles 1307 ff., aber auch die Klärung, bes. 1341 ff. Vgl. Sen., De ira 2,3,4 numquam atitem impetus sine adsensu mentis est, neque enim fieri potest, ut de ultione et poena agatur animo nesciente. — De ira 2,4,1 Et ut scias quemadmodum incipiant adfectus aut crescant aut efferantur, est primus motus non voluntarius, quasi praeparatio adfectus et quaedam comminatio. De ira 2,2,1 Omnes enim motus , qui non voluntate nostra fiunt, invicti et inevitahiles sunt ... Quorum quia nihil in nostra potestate est, nulla quo minus fiant ratio persuadet. — Epist. 11,1 ff. 5,7,3 ff. 71,29. 99,18. Zu allem auch J. Hadot, Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969, 132 ff. 20 Cl. Zintzen, Alte virtus animosa cadit, 157. 19

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sittlichen Erfolg zeigt (hoc primum nobis persuadeamus neminem nostrum esse sine culpa, D e ira 2,28,1, „Seien w i r zuerst überzeugt, daß kein Mensch ohne Schuld ist"). Dies alles w i r d auch dadurch unterstrichen, daß die Feindin des Hercules, die G ö t t i n Juno selbst v o m dolor beherrscht w i r d (saevus dolor 28, „ w i l d e r Schmerz"; hoc, hoc ministro noster utatur dolor 99, „diesen, ja diesen Diener nehme sich unser Schmerz!"). I m ,Hercules Oetaeus c , über dessen Echtheit oder Unechtheit 2 1 hier nicht gesprochen werden soll, kann Hercules zu Juno sagen nunc tuus cessât dolor 1323, „weicht jetzt dein Schmerz?" Daß das starke Selbstbewußtsein, das nach antiker Auffassung durch die Kongruenz v o n άρετή (Leistung) u n d τιμή (Anerkennung) gerechtfertigt w i r d , an Hercules nicht als Mangel oder doch wenigstens nicht als nennenswerter angesehen werden kann, erkennen w i r an dem Hercules Oetaeus; dort stirbt der H e l d als stoischer „ H e i l i g e r " , u m so zu sagen, dort überwindet er heldenhaft sogar den schier unerträglichen Schmerz, aber sein Selbstbewußtsein, sein begründeter Stolz ist ungebrochen: merui par entern, contuli caelo decus mater que me concepii in laudes Iovis, „verdient habe ich m i r den Vater, dem H i m m e l R u h m gebracht, u n d die M u t t e r hat mich zur Ehre Juppiters empfangen" 1504 f. usw. D e r Gang der Dinge gibt i h m denn auch recht: Was sterblich an i h m war, haben die Flammen verzehrt, der göttliche A n t e i l v o m Vater aber w i r d i n den H i m m e l aufgenommen (quidquid in nobis tui mortale fuerat, ignis evictus tulit; paterna caelo pars data est, flammis tua, „alles was an m i r aus dir sterblich gewesen, hat das besiegte Feuer hinweggerafft. Der T e i l v o m Vater her ist dem H i m m e l gegeben, der deinige den Flammen" 1966 ff.). Seine virtus hat i h m den H i m m e l erobert, Furcht aber, die dem dolor nahesteht, pflegt z u m Tode zu führen (1971). Hercules hat Furcht und dolor überwunden (1710). Anders w a r es bei Deianira, welche z w a r das Ausmaß ihrer U n t a t nicht erkannte — denn sie w a r v o n Nessus betrogen — , die aber i n ihrer Eifersucht, einem dolor, doch etwas möglicherweise Gefährliches wagte. Auch wenn ihr H y l l u s attestiert, daß alles, was hier objektiv ein nef as wäre, nur I r r t u m sei, u n d wenn dieser hinzufügt, daß nur der schuldig ist, der w i l l e n t lich schuldig ist, f ü h l t sie sich i n durchaus unphilosophischer Weise schuldig (erroris est hic omne quodcumque est nefas. haut est nocens quicumque non s ponte est nocens, „einem I r r t u m entspringt hier alles was (objektiv) U n recht ist. N i c h t ist schuldig, wer nicht f r e i w i l l i g schuldig ist" 885 f . ) 2 2 . 21 Zur Frage vgl. z. B. Ettore Paratore, Lo Hercules Oetaeus è di Seneca ed è anteriore al Furens. Acta Classica Bd. I, 1958, 72 ff. 22 Vgl. mens impudicam facer e, non casus, solet (Phaedr. 735) und error a culpa vacat (Here. Oet. 983).

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I h r e Schuld muß allerdings auch unter dem Aspekt des dolor gesehen werden: D i e A m m e berichtet: in vultus dolor processit omnis 247 f., „ D e r ganze Schmerz steht i h r i m A n t l i t z . " Der Schmerz n i m m t alle Formen an (formas dolor errat per omnes 253), sie fordert auf: frena dolorem 277, „bezähme den Schmerz". Deianira selbst erkennt die K r ä n k u n g als K r ä n kung der erzürnten Frau (iratae dolor nuptae, 284 f.), sie weiß, daß der Schmerz m i t keiner Strafe genug hat (o nulla dolor contente poena, 295 f., „ o Schmerz, der du m i t keiner Strafe genug hast!"), was i n etwa dem Atreus i m ,Thyestes c oder der Medea i n der gleichnamigen Tragödie vergleichbar ist, u n d sie sieht m i t Bedauern den dolor erlahmen (quid miser langues dolori 308, „was erlahmst du, elender Schmerz?"), wieder den beiden Gestalten vergleichbar. D i e Stellung des Grams aber i m sittlichen Aspekt w i r d durch ihre Äußerung i m Vers 330 f. ( „ D a ß das größte Verbrechen geschieht, gestehe ich selbst", maximum fieri scelus et ipsa fateor) gezeigt; sie erkennt die Größe der U n t a t w i e Medea u n d w i e Phaedra, aber deutlicher als dort w i r d gesagt, daß der Schmerz eine K r a f t ist, welche nach Ausführung drängt: sed dolor fieri iubet, „aber der Schmerz befiehlt, daß es geschehe". Dieser magnus dolor, dieser große Schmerz, ist der iratus amor, die erzürnte Liebe (451 f.). D i e kurze Darstellung des Verhältnisses v o n nef as bzw. scelus u n d dolor, v o r allem i m ,Thyestes', i m ,Agamemno f , i n der ,Phaedra c u n d der ,Medea' sowie der ,Octavia' hat gezeigt, daß diese Verbrecher (Atreus, Clytaemnestra, Phaedra, Medea oder Nero) schreckliche Taten w o l l e n u n d begehen, daß sie diese aber nicht aus purer Schlechtigkeit, sondern v o m dolor beeinflußt, j a getrieben, anstreben. Diese Gegebenheit spricht den Täter, der es gewollt hat, nicht frei v o n Schuld, modifiziert aber doch den Willensakt u n d die daraus erfließende Schuld. Denn für Seneca k o m m t alles auf den W i l l e n an: pars magna bonitatis est velie fieri bonum, „ e i n großer T e i l des G u t seins besteht darin, gut werden zu w o l l e n " , sagt er i n Epist. 34,3; u n d in Epist. 15,1 hören w i r : per sever andum est et adsiduo studio addendum, donee bona mens sit, quod bona voluntas est, „ M a n muß dabei verharren u n d m i t ständigem Eifer sich bemühen, bis unser Sinn gut ist, was i m guten W i l l e n besteht". H i e r i n stimmt auch die Äußerung des H y l l u s i m Hercules Oetaeus überein, wenn er sagt: haut est nocens, quicumque non sponte est nocens (886). D e r A f f e k t k a n n ohne Zustimmung nur k u r z als impetus wirksam sein (vgl. D e ira 2,3), wenn sich aber der Mensch dem A f f e k t ergeben hat, dann reißt dieser dessen W i l l e n m i t . I n diesem Zusammenhang lesen w i r ubi semel adfectus induetus est iusque Uli aliquod voluntate nostra datum est, faciet de cetero, quantum volet, non quantum permiseris „sobald einmal der A f f e k t zugelassen u n d i h m durch unseren W i l l e n irgendein Recht gewährt worden ist, w i r d er dann tun, was i h m genehm ist, nicht

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nur so weit, wie man es i h m gestattet hat (De ira, 1,8,1); u n d Seneca fügt den Schluß an, daß man deshalb den Feind bereits an den Grenzen abwehren muß. Daraus w i r d klar, daß derjenige, der den A f f e k t u n d somit auch den dolor zugelassen hat, für dessen Folgen verantwortlich ist, daß er aber deshalb noch nicht diese Folgen direkt u n d u m ihretwillen anstrebt; gerade aber i n diesem Ausmaß w i r d audi seine Schuld gemildert. Der animus ist nicht streng getrennt i n W o l l e n u n d A f f e k t , so Seneca, sondern der animus w i r d durch den A f f e k t verändert (vgl. De ira, 1,8,1 f.): N o n enim, u t dixi, separatas ista sedes suas diductasque habent, sed äff e ctus et ratio in melius peiusque mutatio animi est, „denn diese [nämlich ratio, äff e ctus] haben, wie gesagt, nicht gesonderte u n d getrennte Plätze, sondern A f f e k t u n d R a t i o sind eine Veränderung der Seele zum Besseren bzw. z u m Schlechteren" ibid. 3). Daß unsere Schlüsse über die M i l d e r u n g der Schuld nicht bloße Spekulat i o n sind, zeigt eine Äußerung Senecas: qui dolorem regerit, tantum excusatius peccat, „ w e r den Schmerz vergilt, fehlt lediglich entschuldigterermaßen", D e ira 2,32,1). N i c h t schuldlos bleibt, wer unter dem Einfluß des dolor Verbrechen begeht, aber seine Schuld w i r d gemildert. Durch diese Äußerung ist die Auffassung Senecas, die w i r aus der oftmaligen Betonung des dolor i n den Tragödien erschließen zu können glaubten, auch durch sein theoretisches U r t e i l gedeckt. D a m i t w i r d die alte u n d fast klassisch gewordene A u f fassung U . Knoches, Seneca habe i n den Tragödien hyperbolische Exempla für extreme Gegenbilder des stoischen Weisen u n d i m Falle des Atreus ein Exemplum für einen grundschlechten Charakter geschaffen, was etwa K u l l mann für die Medea behauptet, zugunsten der Anschauung Senecas („Seien w i r davon einmal überzeugt, daß niemand v o n uns ohne Schuld ist", D e ira 2,28,1) hinfällig. Manches, wie etwa die Beziehung v o n Pathologie u n d Verbrechen, konnte hier bloß angedeutet u n d auf einen späteren Z e i t p u n k t verschoben werden. Soviel aber dürfte eindeutig k l a r geworden sein, daß die Tragödien des Seneca w e i t h i n i m Sinne v o n Ilona O p e l t das nefas z u m immer wiederkehrenden Gegenstand haben, aber daß die persönliche Schuld im Gewissen nach des Seneca Auffassung durchaus nicht i n vollem U m f a n g m i t den objektiven Taten kongruiert.

D I E A U F R E C H T E K Ö R P E R H A L T U N G ALS A U S D R U C K D E R G Ö T T L I C H E N H E R K U N F T DES M E N S C H E N V o n W a l d t r a u t Ingeborg Sauer-Geppert

Goethes West-östlicher D i v a n enthält i m ,Budi des Sängers' das Gedicht ,Freysinn' m i t folgenden Versen: Er hat euch die Gestirne gesetzt Als Leiter zu Land und See; Damit ihr euch daran ergetzt Stets blickend in die Höh. 1 Ernst Beutler weist i n seinem Kommentar darauf hin, daß hier die 98. Sure des K o r a n zugrundeliegt: „ E r hat euch die Gestirne gesetzt als Leiter i n der Finsternis zu L a n d u n d See." 2 U n d Hans A l b e r t Maier ergänzt, daß Goethe den T e x t als M o t t o v o n Hammers Aufsatz ,Uber die Sternbilder der Araber' i m 1. Band der ,Fundgruben des Orients' kennengelernt hat. 3 V o n diesem Quellennachweis sind nun nur die beiden ersten der vier zitierten Verse w i r k l i c h betroffen. Vers 3 u n d 4 stehen m i t ihnen i n keinem deutlichen logischen Zusammenhang, sie bringen vielmehr einen überraschenden Übergang i n einen v ö l l i g anderen Erfahrens- u n d Gefühlsbereich. Es geht nicht mehr u m die navigatorische Bedeutung der Gestirne, sondern u m ihre Schönheit, an der sich der aufblickende Mensch erfreut. D i e durch „ d a m i t " scheinbar hergestellte Verbindung überspielt für den ersten Eindruck den unvermittelten Übergang, läßt i h n aber dann u m so schärfer hervortreten. Auch ergibt sich die Frage, welchen Sinn es hat, wenn der Mensch „stets" i n die H ö h e schaut. Es entsteht der Eindruck, daß jene zweite Strophenhälfte, für die kein V o r b i l d nachgewiesen ist, eine typisch goethesche Wendung bringt u n d somit des Dichters ureigener E i n f a l l sein dürfte. 1 Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 6, Weimar 1886, S. 9. 2 Goethe, West-östlicher Divan, Unter Mitwirkung von Hans Heinrich Schaeder hrsg. und erläutert von Ernst Beutler, Leipzig o. J. (1943), Sammlung Dieterich Bd. 125, S. 328. 3 Goethe, West-östlicher Divan, Krit. Ausgabe der Gedichte mit textgeschichtlichem Kommentar von Hans Albert Maier, Kommentar Tübingen 1965, S. 85.

Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert

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E i n dreiviertel Jahrtausend zuvor hat der Verfasser der ,Wiener Genesis* die Erschaffung des Menschen beschrieben. D e r eigentlichen Bildung Adams, bei der alle Glieder u n d Organe zweckmäßig geformt werden, geht ein i n nergöttliches Gespräch voraus, das Gen. 1,26 entfaltet: „Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram; et praesit piscibus maris, et volatilibus caeli, et bestiis . . Λ A m Schluß des Abschnitts w i r d die Bestimmung des höchsten Geschöpfes zusammengefaßt: Er sol uns sin gelidi, aller gescepfe forhtlich. ufreth sol er gen, an zuein beinen sten, daz er ze himele warte, merche der Sternen geuerte, merch iegelich zit an deme himele wit. 4 N u r die beiden ersten Verse haben ihre Grundlage i m Schöpfungsbericht der Genesis: der Mensch ist zur Gottebenbildlichkeit erschaffen u n d soll sich die Erde Untertan machen. Was weiter ausgeführt w i r d , ist i n der biblischen Vorlage nicht angelegt. Dabei ist zu beachten, daß dieser Zusatz unmittelbar i n das göttliche Gespräch aufgenommen u n d nicht etwa der anschließenden Detailschilderung des Schöpfungsvorganges u n d der Bestimmung der einzelnen Glieder eingeordnet ist. Es ergibt sich daraus, daß die aufrechte H a l t u n g , die zur Beobachtung der Gestirne befähigt, als eine übergeordnete Bestimmung des menschlichen Wesens aufgefaßt u n d i n unmittelbaren Zusammenhang m i t der Gottebenbildlichkeit gebracht ist. D i e Anklänge an Goethes ,Freysinn' fallen auf u n d sind zu intensiv, um einen Z u f a l l annehmen zu lassen. Es entsteht vielmehr die Vermutung einer abendländischen T r a d i t i o n . U n d eine solche k a n n denn auch tatsächlich nachgewiesen werden. Ihrer näheren Darstellung sind drei Angaben v o r auszuschicken: 1. Vollständigkeit der Belege wurde nicht angestrebt u n d dürfte zudem unerreichbar sein. Vielmehr beschränkt sich die Sammlung auf Quellen der deutschen Literatur u n d des lateinischen Mittelalters, insofern es als Vermittler an die deutschsprachigen Werke i n Frage k o m m t , wobei es auch innerhalb dieser Bereiche noch ein aussichtsloses Vorhaben wäre, sämtliche Belege aufspüren z u wollen. Darüber hinaus w i r d die Spur nur insoweit verfolgt, als es nötig ist, u m die H e r k u n f t der Uberlieferung zu ermitteln. 4

Die altdeutsche Genesis nach der Wiener Handschrift, hrsg. von Viktor Dolimay τ, Halle 1932, Altdt. Textbibliothek 31, V. 207-14.

Die aufrechte Körperhaltung als Ausdruck «der göttlichen Herkunft

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Dabei w i r d nicht beansprucht, den Vorstellungsbereich unbedingt an seinem Ursprung aufgefunden zu haben. 2. Dieser Zielsetzung, eine T r a d i t i o n nachzuweisen, ohne i m Blick auf ihr V o r k o m m e n auf Vollständigkeit bedacht zu sein, entspricht der Verzicht auf den Versuch, direkte Abhängigkeiten unter den einzelnen Belegen festzustellen. Jeder, der sich i n der geistlichen Literatur des lateinischen, aber auch des deutschen Mittelalters einigermaßen auskennt, hat die Schwierigkeiten v o r Augen, die einem solchen Unternehmen entgegenstehen müßten. Angesichts der vielfältigen Entlehnungen u n d gegenseitigen Abhängigkeiten ist es zwar leicht, einen Traditionsstrang als solchen an den verschiedensten Stellen aufzufinden, aber überaus schwierig, nachzuweisen, welches Zeugnis unmittelbares V o r b i l d eines anderen gewesen sein könnte. U m i n dieser Hinsicht auch nur Vermutungen zu äußern, ist mehr nötig als eine m o t i v liche Übereinstimmung, es bedarf zumindest genauer wörtlicher Anklänge. I n dieser Hinsicht bietet das vorliegende Material nur sehr geringe A n satzpunkte, u n d es erschien demnach geraten, auf Folgerungen, die es überanstrengen mußten, v o n vornherein zu verzichten. 3. D a m i t erscheint eine nicht chronologische A n o r d n u n g der Belege berechtigt. A n ihre Stelle t r i t t eine Gruppierung, die den Sinn hat, die verschiedenen Ausformungen, die die Vorstellung i n ihrer jahrtausendelangen Verwendung gefunden hat, einander gegenüberzustellen u n d zumindest i m Ansatz eine geistes- u n d frömmigkeitsgeschichtliche Einordnung zu ermöglichen. I n einer Predigt z u m Tag des heiligen M a r t i n handelt Bernhard v o n C l a i r v a u x v o n den Wohltaten Gottes, speziell v o n der Erlösung: G o t t hat den Menschen u m seines Heils w i l l e n nach dem Sündenfall nicht unter die Erde verbannt, wie er es verdient hätte, sondern er hat i h n auf der Erde belassen u n d i h m die Möglichkeit des Aufblicks zu G o t t nicht genommen. Weiter heißt es: „ N a m et propterea rectum fecit hominem, etiam corpore ipso, et os h o m i n i sublime dedit, cum prona utique spectent animantia cetera terrain, u t attollens ad sidera vultus i l i o suspiret, u b i tarn beatam et perennem conspicit mansionem." 5 M i t der Darstellung der Wiener Genesis stimmt dieser Text darin überein, daß die aufrechte H a l t u n g ausdrücklich auf die Erschaffung des Menschen bezogen ist. Das w i r d hier unter V e r wendung eines Zitats aus dem Prediger Salomonis formuliert: „Solummodo hoc inveni, quod fecerit Deus hominem rectum . . . " β , übrigens der einzigen 5

S. Bernardi opera Vol. V, Sermones I I , hrsg. von L. Leclercq u. H . Rochais, Rom 1968, S. 402; entspr. PL 183, 492 B. β Eccles. 7,30.

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Bibelstelle, die sich — i m Zusammenhang m i t der Schöpfung — auf die aufrechte H a l t u n g beziehen läßt. M i t der ,Wiener Genesis* teilt der Beleg audi den Hinweis, daß dem Menschen die aufrechte H a l t u n g gegeben ist, damit er sein Gesicht zu den Sternen erheben soll. Darüber hinaus enthält die Predigtstelle Aussagen, zu denen sich i n der deutschen Dichtung keine Parallelen finden. N e u erscheint hier der Gedanke, daß die Gestalt, die den Menschen nach oben blicken läßt, i h n zugleich v o n den Tieren unterscheidet: „ c u m prona utique spect e n t aniimantia cetera ter ram." W ä h r e n d i m deutschen T e x t v o n der aufrechten H a l t u n g nur als v o n einer Tatsache die Rede ist, deren geistliche Bedeutung allerdings unmittelbar einleuchtet, enthält das Predigtstück an zwei Stellen Ansätze einer entsprechenden Deutung des äußeren Befundes. W e n n es zunächst heißt, G o t t habe den Menschen sogar an seinem Körper aufrecht geschaffen, setzt das einen Gegensatz v o n Außen u n d Innen v o r aus, wobei die sichtbare Gestalt die Ausrichtung des inneren Menschen darstellen soll. Entsprechend erscheinen die Gestirne nicht mehr ausschließlich als die Lichter am irdischen, geschaffenen H i m m e l . I n d e m der Mensch zu ihnen aufblickt, schaut er voller Sehnsucht seine selige u n d ewige Behausung. H i m m e l u n d Sterne sind hier nicht nur optisch wahrnehmbare W i r k lichkeit, sondern zugleich B i l d für die E w i g k e i t bei Gott. Für beide Züge gibt es Entsprechungen i n deutscher Dichtung. I n Paul Gerhardts ,Morgenlied' „ D i e güldne Sonne V o l l Freud' u n d Wonne" ist das M o t i v v o n der aufrechten H a l t u n g dahingehend abgewandelt, daß der Mensch sich am Morgen v o n seinem Lager erhebt und dann aufgerichtet nach oben blickt: Mein Häupt und Glieder, Die lagen darnieder, Aber nun steh ich, Bin munter und frölich, Schaue den Himmel mit meinem Gesicht. Mein Auge sdiauet, Was GOtt gebauet Zu seinen Ehren Und uns zu lehren, Wie sein Vermögen sey mächtig und groß Und wo die Frommen Dann sollen hinkommen, Wann sie mit Frieden Von hinnen geschieden Auß dieser Erden vergänglichen Schooß.7 Unmittelbar i n die bereits erkennbare T r a d i t i o n gehört, daß der Mensch, der aufgerichtet steht, den H i m m e l schaut. Der Schluß der folgenden Strophe m i t dem Ausblick auf die zukünftige H e i m a t der Frommen stimmt zu 7 Albert Fischer, Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, vollendet und hrsg. von W. Tümpel I I I , Gütersloh 1906, Reprografischer Nachdruck Hildesheim 1964, Nr. 478, Str. 1 - 2.

Die aufrechte Körperhaltung als Ausdruck der göttlichen H e r k u n f t 5 9 der i n der lateinischen Predigt ausgedrückten Sehnsucht nach der ewigen Behausung. Auch hier meint die Umschreibung den H i m m e l , der selbst wieder i n doppelter Weise betrachtet w i r d : als das, was sichtbar über uns ist, und zugleich als O r t Gottes u n d der Vollendeten. Demnach ist es w a h r scheinlich, daß auch die dazwischenstehenden Verse „ M e i n Auge schauet, Was G O t t gebauet . . . " v o n der Herrlichkeit des Himmels reden, die hier als ein Hinweis auf die Macht und Ehre des Schöpfers verstanden ist. Diese Deutung w i r d bestätigt durch die i m Text erkennbare Beziehung auf Jes. 40,26: „ H E b e t ewer äugen i n die Hohe, v n d sehet, Wer hat solche ding geschaffen, v n d furet j r Heer bey der zal er aus? . . . Sein vermugen v n d starcke K r a f f t ist so gros, das nicht an einem feilen k a n . " 8 D i e zweite Besonderheit i n dem besprochenen lateinischen Textstück bestand darin, daß die aufrechte Körperhaltung als das M e r k m a l galt, das den Menschen v o n den übrigen Lebewesen unterscheidet. I m 12. Jahrhundert w i r d i n der sogenannten ,summa theologiae' die Erschaffung des Menschen beschrieben. Nachdem der Verfasser zunächst ausgeführt hat, daß G o t t dem Menschen an allen vier Elementen A n t e i l gegeben hat, heißt es: er giscuf in ufreht, daz er uf sehi,

da midi sin wir gesceidin von deme vehi.9

D i e Übereinstimmung m i t den bisher gezeigten Beispielen reicht — m i t Ausnahme des Morgenliedes v o n Paul Gerhardt — bis i n die logische Gedankenverbindung hinein: der Blick nach oben w i r d i m Finalsatz ausgedrückt, erscheint als das Ziel der aufrechten Körperhaltung. D e m entspricht es, wenn auch hier das M o t i v auf die Schöpfung bezogen ist. Die breite Streuung der bisher betrachteten Belege macht wahrscheinlich, daß es sich nicht u m eine i m M i t t e l a l t e r entstandene Vorstellung handeln kann, sondern u m antikes Erbe. Tatsächlich enthält die lateinische Predigtstelle bei Bernhard v o n Clairvaux ein wörtliches Z i t a t aus Ovids Metamorphosen : pronaque cum spectent animalia cetera terram, os homini sublime dedit, caelumque videre iussit et erectos ad sidera tollere vultus.10 Die Verse stammen aus dem 1. Buch u n d stehen i m Bericht über die Erschaffung des Menschen. Voraus geht die Entstehung der Tiere, es folgt die 8 D. Martin Luthers Werke, krit. Gesamtausgabe, Die Deutsche Bibel, 11. Bd., Erste Hälfte, Weimar 1960, S. 123. 9 Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach ihren Formen besprochen und hrsg. von Friedrich Maurer, Bd. I, Tübingen 1964, S. 311, Str. 10. 10 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, herausgegeben und übersetzt (lat./ deutsch) von Erich Rösch, München. 5. Aufl. 1972, Vers 84 - 86.

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bekannte Darstellung der vier Zeitalter der Menschheitsgeschichte. Es w i r d also deutlich, daß nicht n u r die Einzelzüge bei O v i d vorgegeben sind: die Unterscheidung v o n den übrigen Lebewesen, der A u f t r a g , den Blick zu den Sternen zu erheben. A u d i die Einbeziehung i n den Schöpfungsvorgang kennt bereits der nichtchristliche Dichter. Es ist der opifex rerum 3n der dem Menschen die aufrechte Gestalt zusammen m i t dem A u f t r a g gibt, zu den Sternen aufzublicken. Demnach ist die religiöse Deutung des Motivs, soweit es auf den Ursprung des Menschen bezogen w i r d , bereits vorchristlich v o r handen. Anders verhält es sich m i t dem eschatologischen Ausblick, für den es nicht nur u m die H e r k u n f t , sondern zugleich u m die Z u k u n f t des M e n schen als eine H e i m k e h r i n den göttlichen Bereich geht. H i e r liegt — i n der lateinischen Predigt w i e bei Paul Gerhardt — eine ausgesprochen christliche Ausweitung der ererbten Vorstellung vor. Innerhalb der klassischen lateinischen Literatur steht das M o t i v bei O v i d nicht isoliert. Es taucht bereits bei Cicero, ,de legibus', auf. Der Mensch zeichnet sich nicht allein durch seine geistigen Fähigkeiten aus, die N a t u r hat i h m auch eine Körpergestalt verliehen, die diesen angemessen ist: „ . . . figuramque corporis habilem et aptam ingenio humano dedit. N a m quom ceteras animantes abiecisset ad pastum, solum hominem erexit et ad caeli quasi cognationis domiciliique pristini conspectum excita v i t . . . " 1 2 . I m Blick auf die christlichen Ausformungen ist die deutliche Zielsetzung zu beachten: der Mensch steht aufrecht, u m den H i m m e l u n d damit seine angestammte H e i m a t zu betrachten. Sallust läßt die Vorstellung verkürzt i m Eingang seiner ,Catilinae coniuratio' anklingen: „Omneis homines, qui sese student praestare ceteris animalibus, summa ope n i t i decet, ne v i t a m silentio transeant v e l u t i pecora, quae natura prona atque v e n t r i oboedientia f i n x i t . sed nostra omnis vis i n animo et corpore sita est . . . " 1 3 D e m Menschen k o m m t es zu, sich i m Gegensatz zu den niedergebeugten Tieren durch geistige Tätigkeit auszuzeichnen. Diesem A u f t r a g , so geht es weiter, w i l l der A u t o r m i t seiner Geschichtsschreibung nachkommen. Recht deutlich k l i n g t O v i d noch bei Augustin i n ,de diversis quaestionibus c durch. I m Context w i r d v o m äußeren Menschen gehandelt, der die f ü n f Sinne m i t den Tieren gemein hat. D a n n ist v o n der Gottebenbildlichkeit die Rede: der Mensch hat sie, „ n o n solum quia v i v i t , quod etiam i n bestiis apparet." Vielmehr zeigt sie sich darin, daß er sich nach dem Geist richtet, der i h n regiert, was die unvernünftigen Tiere nicht t u n können. Es n V. 79. 12 Cicero, Bibliotheca Teubneriana IV,1, Leipzig 1898, S. 390, de legibus 1,26. ι* Sallust, Bibliotheca Teubneriana, Leipzig 1972, S. 2, Catilinae coniuratio 1,1.

Die aufrechte Körperhaltung als Ausdruck der göttlichen H e r k u n f t 6 1 folgt der H i n w e i s auf die aufrechte H a l t u n g : „Corpus quoque hominis, quia solum inter animalium terrenorum corpora, non p r o n u m i n a l v u m prostratum est, cum sit visibile, sed ad intuendum coelum erectum, quod est p r i n c i p i u m v i s i b i l i u m . " 1 4 Anschließend w i r d ausgeführt, daß das schöpfungsmäßige Gutsein des Menschen darauf basiert, „ q u i a tale est, u t ad contemplandum coelum sit aptius"; i n dieser Fähigkeit vorzüglich besteht die „ i m a g o et similitudo D e i " , zu der er geschaffen ist. I m Vergleich zu den bisherigen Belegen erscheint die Abgrenzung gegenüber den anderen Lebewesen präzisiert. N a c h christlicher Vorstellung haben auch die Engel als himmlische Wesen eine aufrechte Gestalt, dementsprechend gilt die U n terscheidung i m Blick auf die „ a n i m a l i u m terrenorum corpora". Deutlicher noch als i n der Bernhard-Predigt erfolgt die Gleichsetzung des Himmels m i t der geistigen W e l t Gottes. W a r er für Bernhard der O r t der z u k ü n f t i gen Seligkeit, so bedeutet er hier gegenüber allem irdisch Sichtbaren den Ursprung des Sichtbaren. D i e Betrachtung w i r d also auf G o t t als den Schöpfer gelenkt u n d bedient sich einer philosophisch geprägten Ausdrucksweise platonischer Provenienz. Rupert v o n Deutz n i m m t die T r a d i t i o n v o n der aufrechten H a l t u n g i n seinem Genesiskommentar auf. Er führt aus, daß die menschliche N a t u r i n doppelter Weise „ a cunctis longe diuersa sit animantibus tarn formatura corporis quam uiuificatione D e i inspirantis." N u r das zweite der beiden Merkmale stammt aus dem ausgelegten Schriftzusammenhang: die Belebung durch den göttlichen Hauch. I m Blick auf den Körperbau w i r d ausgeführt: „ F o r m a corporis i n hoc solo animante sursum caput attollit, caelum intuetur terramque calcaiis pedibus recto pectore incedit et siidera uel caelestia regna superne | positis meditari commonetur oculis." 1 5 Gegenüber der augustinischen Formulierung f ä l l t die ausdrückliche Gleichsetzung der Sterne m i t den himmlischen Reichen auf. Inhaltlich neu ist gegenüber allem Bisherigen der Einzelzug, daß der aufrecht herschreitende Mensch die Erde m i t Füßen t r i t t . Namentlich zitiert w i r d O v i d i n Isidors Etymologien*. I n dem A b schnitt ,de homine et partibvs eivs c w i r d zunächst die lateinische Bezeich14

Augustin, de diversis quaestionibus I,LI,3, PL 40,33. 15 Rvperti Tvitiensis De sancta Trinitate et operibvs eivs, hrsg. von H . Haacke, Tvrnholti 1971, Corpus Christianorvm, continuano mediaeualis X X I , S. 210, In Gen. I I , 22; entspr. PL 167, 267 D - 268 A ; zitiert in Altdeutsche Predigten, hrsg. von Anton E. Schönbach I I I , Graz 1891, S. 337. Der Beleg ist auffällig gegenüber der Behauptung von Friedrich Ohly, Der Prolog des St. Trudperter Hohenliedes, ZfdA 84 (1952/53), S. 20, der darauf aufmerksam macht, daß „im 12. Jh. von "der Genesisexegese durchweg geleugnet wird, daß die Gottähnlichkeit des Menschen als sein inneres Eigentum auch in der körperlichen Erscheinung zum Ausdruck gelange. Man muß in frühere Jahrhunderte zurückgehen, um diese Ansicht wenigstens nicht ganz ausgeschlossen zu finden, und auch dort ist es (aufs Körperliche gesehen) nur die aufrechte Haltung des Menschen . . . " ; vgl. Anm. 27.

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nung abgeleitet: „ N a m proprie homo ab h u m o " . D a n n geht Isidor auf das griechische W o r t ein: „Graeci autem hominem ανθρωπον appellaverunt, eo quod sursum spectet sublevatus ab humo ad contemplationem artificis sui. Q u o d Ovidius poeta désignât, cum dicit: Pronaque c u m specüant animalia cetera terram, os hominii sublime dédit caelum que videre ius-sit, et erectos ad sidera tollere vultu-s. Q u i ideo erectus caelum aspicit, ut D e u m quaeret, non ut terram intendat veluti pecora, quae natura prona et ventri oboedientia finxit." 16 Die aufrechte H a l t u n g bestimmt — ähnlich wie bei Augustin — den Menschen dazu, indem er den H i m m e l schaut, G o t t zu suchen. D a ß hierin seine U n terscheidung v o m Tier deutlich w i r d , ist eine Aussage, die schon mehrfach begegnet ist und die, wie das Z i t a t zeigt, fest zur T r a d i t i o n gehört. H i e r w i r d die Überlegung weitergeführt: die gebeugte H a l t u n g der Tiere läßt sie zur Erde streben. D e m entspricht ihre Gebundenheit an die vitalen Bedürfnisse. Auch i n diesem Gedankengang ist Isidor nicht selbständig. Das abschließende Stück seiner Ausführung „ v e l u t i pecora, quae natura prona et ventri oboedientia f i n x i t " erweist sich als wörtliche Entlehnung aus der bereits besprochenen Sallust-Stelle, ohne daß hier allerdings der A u t o r genannt wäre. Es gehört zur Zielsetzung v o n Isidors Arbeit, wenn er das Traditionsstück zur Erläuterung einer Etymologie verwendet: die Griechen bezeichneten den Menschen als άνθρωπος, weil er nach oben blickt und v o n der Erde aufgerichtet ist. Dieser Ansatz f ü h r t auf die Vermutung, daß der ganze Vorstellungskomplex nicht ursprünglich i n der lateinischen L i t e r a t u r beheimatet sein kann, sondern i m griechischen Sprachraum entstanden sein muß. Tatsächlich verzeichnet das griechische etymologische Wörterbuch v o n F r i s k 1 7 als eine noch diskutable Möglichkeit die Auffassung, άνθρωπος gehöre als Verbalnomen zu ανατρέπω u n d hätte demnach die Bedeutung ,der Aufrechte*. Wenn Meister Eckhart i n seiner Predigt „ V o n dem edlen menschen" auf die Etymologie des Wortes ,mensche* k o m m t , k n ü p f t er ausdrücklich nur an die lateinischen Bezeichnungen an, indem er ,homo* i n Zusammenhang m i t , h u m u s * u n d ,humilitas* sieht: „Menschiein der eigensdiaft sînes na men i n dem latine meinet i n einer wîse den, der sich alzemâle under got neiget 10 Isidor, Etymologien, Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis, I I , Oxford 1911, Liber X I , de homine et portentis, 4 - 5 . 17 Hjalmar Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1956 f., S. 111.

Die aufrechte Körperhaltung als Ausdruck der göttlichen H e r k u n f t 6 3 u n d vüeget, allez, daz er ist u n d daz sîn ist, und ufwert got anesdiouwet, n i h t daz sîn, daz er hinder im, nider im, bî i m weiz. D a z ist v o l l i u u n d eigeniu demüeticheit; den namen hat er v o n der erden. D a r abe ich nû n i h t me sprechen w i l . Ouch meinet daz w o r t , so man spridiet mensche, etwaz, daz über nature ist, über zît ist u n d über allez daz, daz ze der zît geneiget oder nach zît smacket . . . " 1 8 Folgt man der Argumentation, so bemerkt man, daß sich genau genommen n u r die erste Aussage, daß sich der Mensch „under got neiget und vüeget" u n d die spätere über die jdemüticheit' aus den lateinischen etymologischen Anknüpfungen ergeben. D i e zweite Feststellung aber, daß er „ u f w e r t got aneschouwet" w i r d z w a r wie selbstverständlich angeschlossen, hat aber keine Stütze i n der sprachlichen Ableitung. Sollte sich i n diesem Gedanken, an den dann die Überlegungen anknüpfen, die i n den eigentümlich mystischen Bereich führen, die alte Überlieferung v o m άνθρωπος als dem Aufrechten fortsetzen, ohne daß es mehr deutlich gesagt oder auch nur durchschaut ist? D a ß dieser etymologische Ansatz fest i n die Überlieferung v o m aufrechten Menschen hineingehört, findet darin seine Bestätigung, daß noch Herder ihn i n entsprechendem Zusammenhang aufgreift. I m d r i t t e n Buch seiner ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit' erörtert er i m Z u sammenhang seiner anthropologischen Überlegungen den „organischen U n terschied der Thiere u n d Menschen." 1 9 D o r t heißt es: „ D i e Gestalt des Menschen ist aufrecht; er ist hierinn einzig auf der Erde. D e n n ob der Bär gleich einen breiten Fuß hat u n d sich i m K a m p f aufwärts richtet: obgleich der A f f e u n d Pygmäe zuweilen aufrecht gehen oder laufen; so ist doch seinem Geschlecht allein dieser Gang beständig u n d natürlich. Sein Fuß ist vester u n d breiter: er hat einen längern großen Zeh, da der A f f e nur einen Daumen hat: audi seine Ferse ist z u m Fußblatt gezogen. Z u dieser Stellung sind alle dahinwirkende Muskeln bequemt. D i e Wade ist vergrößert: das Becken zurück: die H ü f t e n aus einander gezogen: der Rücken ist weniger gekrümmt, die Brust erweitert: er hat Schlüsselbeine u n d Schultern, an den Händen fein fühlende Finger: der hinsinkende K o p f ist, auf den Muskeln des Halses zur Krone des Gebäudes erhoben: der Mensch ist άνθρωπος, ein über sich, ein weit u m sich schauendes Geschöpf." 2 0 Bereits an dieser Stelle lassen sich zwei Überlegungen anschließen. Z u nächst ergibt der letzte Satz, der die Etymologie der griechischen Bezeich18 Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, fünfter Bd., Meister Eckahrts Traktate, hrsg. und übersetzt von Josef Quint, Stuttgart 1963, S. 115. 19 Herders Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan X I I I , Berlin 1887, S. 109. Auszeichnungen im Text sind nicht wiedergegeben. 2 » Ebd. S. 110.

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nung verbis expressis enthält, den Nachweis dafür, daß Herder tatsächlich die ganze T r a d i t i o n v o m aufrechten Menschen gekannt u n d gemeint hat. D i e Ableitung v o n άνθρωπος führt allenfalls auf die aufgerichtete K ö r p e r haltung, v o n der zunächst denn auch allein die Rede w a r . D a ß sich aus ihr aber ergibt, daß der Mensch ein Geschöpf ist, dem das Schauen — über sich u n d w e i t u m sich — wesensmäßig z u k o m m t , folgt nicht aus der etymologischen A n k n ü p f u n g , sondern setzt — w i e bei Isidor — den ganzen Z u sammenhang, w i e er i n der gezeigten Überlieferung vorliegt, voraus. A u f der anderen Seite geht aus dem bisher zitierten Textstück beispielhaft hervor, w i e sich i n Herders Darstellung Einzelbeobachtungen i m Sinn neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Vergleichs m i t der ererbten symbolischen Naturauffassung begegnen u n d durchdringen. Nachdem der Verfasser Mitteilungen über menschliche Wesen, die, unter die Tiere geraten, deren Gang angenommen haben, angeschlossen hat, kehrt er z u m Grundsätzlichen zurück: „ D e r aufrechte Gang des Menschen ist i h m einzig natürlich: j a er ist die Organisation z u m ganzen Beruf seiner Gattung, u n d sein unterscheidender C h a r a k t e r . " 2 1 Diese Behauptung, die den alten Ansatz v o n der menschlichen Bestimmung u n d der i n ihr liegenden Unterscheidung v o m Tier i n voller Geltung läßt, w i r d erläutert: „ K e i n V o l k der Erde hat man vierfüßig gefunden; auch die wildesten haben aufrechten Gang, so sehr sich manche an B i l d u n g u n d Lebensart den Thieren nähern. Selbst die Unfühlbaren des Diodors, sammt andern Fabelgeschöpfen alter u n d mittlerer Schriftsteller gehen auf z w e i Beinen; u n d ich begreife nicht, wie das Menschengeschlecht, wenn es je diese niedrige Lebensweise als N a t u r gehabt hätte, sich zu einer andern so Z w a n g = so K u n s t v o l l e n jemals würde erhoben haben. Welche M ü h e kostete es, die Verwilderten, die man fand, zu unsrer Lebensart u n d N a h r u n g zu gewöhnen! . . . U n d das M e n schenthier sollte, wenn es Aeonen lang i n diesem niedrigen Zustande gewesen, ja i m Mutterleibe schon durch den vierfüßigen Gang zu demselben nach ganz andern Verhältnissen wäre gebildet worden, i h n f r e i w i l l i g verlassen u n d sich aufrecht erhoben haben? Aus der K r a f t des Thiers, die ihn ewig herabzog, sollte er sich z u m Menschen gemacht u n d menschliche Sprache erfunden haben, ehe er ein Mensch war? Wäre der Mensch ein vierfüßiges Thier, wäre ers Jahrtausende lang gewesen; er wäre es sicher noch u n d nur ein Wunder der neuen Schöpfung hätte ihn, z u dem was er jetzt ist u n d w i e w i r ihn, aller Geschichte u n d Erfahrung nach, allein kennen, umgebildet." 2 2 21 22

Ebd. S. 112 f. Ebd. S. 113.

Die a u f r e t e Körperhaltung als Ausdruck der göttlichen H e r k u n f t 6 5 I n der Wendung v o n der „ K r a f t des Thiers, die i h n ewig herabzog" läßt sich die N a c h w i r k u n g v o n Sallusts Formulierung erkennen. V o n der gesamten bisher gezeigten Überlieferung heben sich Herders Ausführungen durch ihr Pathos ab. Es genügt dem Anspruch eines Menschenbildes, das durch die A u f k l ä r u n g hindurchgegangen ist. Diesem neuen Selbstbewußtsein entspricht es auch, wenn i m abschließenden Abschnitt, der die höchste Steigerung bringt, nicht mehr die Betrachtung des Schöpfers als das entscheidende Kennzeichen menschlicher W ü r d e erscheint, sondern der A u f t r a g zur Herrschaft über die andere K r e a t u r : „ W a r u m w o l l e n w i r also unerwiesne, j a v ö l l i g widersprechende Paradoxa annehmen, da der Bau des Menschen, die Geschichte seines Geschlechts u n d endlich, wie mich d ü n k t , die ganze Analogie der Organisation unsrer Erde uns auf etwas anderes führet? K e i n Geschöpf, das w i r kennen, ist aus seiner ursprünglichen Organisation gegangen u n d hat sich i h r zuwider eine andre bereitet; da es j a nur m i t den K r ä f t e n w i r k t e , die i n seiner Organisation lagen u n d die N a t u r Wege gnug wußte, ein jedes der Lebendigen auf dem Standpunkt vestzuhalten den sie i h m anwies. Beim Menschen ist auf die Gestalt, die er jetzt hat, alles eingerichtet; aus ihr ist i n seiner Geschichte Alles, ohne sie nichts erklärlich u n d da auf diese, als auf die erhabne Göttergestalt u n d künstlichste Hauptschönheit der Erde a u d i alle Formen der Thierbildung zu convergiren scheinen, u n d ohne jene, so w i e ohne das Reich des Menschen, die Erde ihres Schmucks u n d ihrer herrschenden K r o n e beraubt bliebe; w a r u m w o l l t e n w i r dies D i a d e m unsrer Erwählung i n den Staub werfen u n d gerade den M i t t e l p u n k t des Kreises nicht sehen wollen, i m welchem alle Radien zusammen zu laufen scheinen. Als die bildende M u t t e r ihre Werke vollbracht u n d alle Formen erschöpft hatte, die auf dieser Erde möglich waren, stand sie still u n d übersann ihre Werke; u n d als sie sah, daß bei ihnen allen der Erde noch ihre vornehmste Zierde, i h r Regent u n d zweiter Schöpfer fehlte: siehe da ging sie m i t sich zu Rath, drängte die Gestalten zusammen u n d formte aus allen i h r Hauptgebilde, die menschliche Schönheit. Mütterlich bot sie ihrem letzten künstlichen Geschöpf die H a n d u n d sprach: ,steh auf v o n der Erde! D i r selbst überlassen, wärest d u Thier w i e andre Thiere; aber durch meine besondre H u l d u n d Liebe gehe aufrecht u n d werde der G o t t der T h i e r e / Lasset uns bei diesem heiligen Kunstwerk, der W o h l t h a t , durch die unser Geschlecht ein Menschengeschlecht w a r d , m i t dankbarem Blick verweilen; m i t V e r w u n d r u n g werden w i r sehen, welche neue Organisation v o n K r ä f t e n i n der aufrechten Gestalt der Menschheit anfange u n d w i e allein durch sie der Mensch ein Mensch w a r d . " 2 3

2

3 Ebd. S. 113 f.

5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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Es ist i n diesem Zusammenhang nicht möglich, das Textstück hinreichend z u interpretieren, insbesondere auf den Begriff der Schönheit einzugehen. D i e ganze Erörterung vertieft den bereits gewonnenen Eindruck v o n der doppelten A n k n ü p f u n g der herderschen Anthropologie. Ganz der gezeigten T r a d i t i o n entspricht es, wenn die aufrechte H a l t u n g unmittelbar durch den Schöpfungsakt — den freilich wieder die M u t t e r N a t u r übernommen hat — b e w i r k t w i r d u n d als Unterscheidungsmerkmal zwischen Tier u n d Mensch erscheint. Doch stehen die Überlegungen darüber, daß die aufrechte H a l t u n g ursprünglich z u m Menschen gehören muß u n d nicht i m L a u f einer Entwicklungsgeschichte erworben sein kann, i m Rahmen eines modernen Denkens u n d bauen insofern die herkömmliche Anschauung v o n der aufrechten H a l t u n g i n v ö l l i g neue Zusammenhänge ein. Sicher gilt besonders i m Blick auf den Schluß der zitierten Textstelle, was Herder i n seiner Vorrede durchaus i m Sinn abendländisch-christlicher Naturbetrachtung sagt: „ W ä r e ich so glücklich, n u r E i n e m meiner Leser etwas v o n dem süßen E i n druck m i t z u t h e i l e n , den ich über die ewige Weisheit u n d G ü t e des unerforschten Schöpfers i n seinen Werken m i t einem Zutrauen empfunden habe, dem ich keinen N a m e n weiß: so wäre dieser Eindruck v o n Zuversicht das sichere Band, m i t welchem w i r uns i m V e r f o l g des Werkes auch i n die L a b y r i n t h e der Menschengeschichte wagen k ö n n t e n . Ueberall hat mich die große Analogie der N a t u r auf Wahrheiten der Religion geführt, die ich nur m i t M ü h e unterdrücken mußte, w e i l ich sie m i r selbst nicht z u m voraus rauben, u n d Schritt v o r Schritt nur dem Licht treu bleiben wollte, das m i r v o n der verborgenen Gegenwart des Urhebers i n seinen Werken allenthalben z u s t r a h l e t . " 2 4 D o d i ist a u d i hier der veränderte T o n unüberhörbar. D i e entscheidende Konsequenz der aufrechten H a l t u n g ist, daß „durch sie der Mensch ein Mensch w a r d . " D a m i t ist nicht mehr — wie i m theozentrischen W e l t b i l d der mittelalterlichen Belege — die H i n w e n d u n g zu G o t t das, was den Menschen z u m Menschen macht. D i e aufrechte H a l t u n g w i r d nicht mehr als sichtbarer Ausdruck dieser H i n o r d n u n g verstanden, sondern v o r dringlich als natürliche Organisation, die i m Menschen selbst ihren Zweck hat. I n diesem Zusammenhang ist es nicht v o n ungefähr, daß das W o r t „ G o t t " auf den Menschen als den „ G o t t der Thiere" umbezogen erscheint. D i e etymologische A n k n ü p f u n g bei Isidor u n d bei Herder hatte nahegelegt, die Vorstellung v o n der aufrechten H a l t u n g des Menschen als dem Ausdruck seiner göttlichen H e r k u n f t i n der griechischen Überlieferung zu suchen. Tatsächlich findet sie sich — allerdings ohne die Etymologie — bei Plato. I m Timaios heißt es:

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Ebd. S. 9.

Die aufrechte Körperhaltung als Ausdruck der göttlichen Herkunft τοΰτο δ δή φαμεν οίκεΐν μέν ημών επ* ούρανψ συγγένειαν άπο γης ημάς αϊρειν ούράνιον, ορθότατα λέγοντες· εκείθεν γένεσις εφυ, τό θείον τήν κεφαλήν κ α ι παν τό σώμα 2 6 .

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ακρφ τ φ σώματι, προς δέ τήν έν ώς δντας φυτόν ουκ εγγειον άλλα γάρ, οθεν ή πρώτη της ψυχής φίζ αν ήμών άνακρεμαννύν όρθοΐ

Aus der bisher bekannten T r a d i t i o n begegnen folgende Elemente: die Seele soll sich zur Verwandtschaft m i t den Gestirnen erheben, w e i l sie ein Geschöpf himmlischen, nicht irdischen Ursprungs ist. Deshalb richtete die Gottheit das H a u p t auf den H i m m e l z u u n d gab dem K ö r p e r die aufrechte H a l t u n g . D i e Fortsetzung bei Plato geht über die bisher gehörten Folgerungen hinaus, könnte allerdings einen Anstoß für die spätere U n t e r scheidung v o n den Tieren gegeben haben. Plato rechnet damit, daß der Mensch sich den Begierden u n d dem Ehrgeiz überlassen k a n n u n d sich dam i t dem Sterblichen hingibt. D i e Folge ist, daß solche Menschen, die den obersten T e i l ihres Wesens vernachlässigt haben, als Tiere wiedergeboren werden. Sie verlieren also die aufrechte H a l t u n g u n d müssen n u n auch i n ihrem Körperbau z u m Ausdruck bringen, daß sie ganz der Erde zugehören. Dabei richtet sich die neue Gestalt nach dem G r a d der Unvernünftigkeit i m menschlichen Leben; es entstehen über die vier füßigen Tiere hinaus vielfüßige u n d i n äußerster Konsequenz der Niederbeugung zur Erde die kriechenden Tiere, die keine Füße mehr brauchen. Auch diese Gedanken haben i n die christliche Überlieferung hineingew i r k t . I n ,de T r i n i t a t e ' hat Augustin zunächst dargelegt, was der Mensch m i t den übrigen Lebewesen gemein hat. D a n n weist er — m i t deutlichem A n k l a n g an O v i d — auf die aufrechte H a l t u n g hin, die den Menschen v o m Tier unterscheidet: „ A t q u e i n his omnibus n o n distamus a pecore nisi quod figura corporis non p r o n i sed erecti sumus. Q u a i n re admonemur ab eo qui noe fecit ne meliore nostri parte, i d est animo, similes pecoribus simus a quibus corporis erectione distamus. N o n ut i n ea quae sublimia sunt i n corporibus animum proiciamus. N a m uel i n talibus quietem uoluntatis appetere prosternere est animum. Sed sicut corpus ad ea quae sunt excelsa corporum, i d est ad caelestia, naturaliter erectum est, sic animus quae substant i a spiritalis est ad ea quae sunt i n spiritalibus excelsa erigendus est non elatione superbiate sed pietate i u s t i t i a e . " 2 6 25 Plato, Timaios 90 A, Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis IV, Oxford 1902, Nachdruck 1968. 26 S aneti Avrelii Avgvstini De Trinitate libri X V (libri I - X I I ) , Cvra et studio W. J. Mountain, avxiliante Fr. Glorie, Tvrnholti 1968, Corpvs Christianorvm, Series latina L, Avrelii Avgvstini opera pars X V I , 1, X I I , I , entspr. PL 42,998 f.

5*

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Gegenüber Plato ist die Vorstellung charakteristisch verändert. D e n Gedanken an ein neues Leben i m Tierkörper hätte der Kirchenvater nicht übernehmen können. Statt dessen erscheint nun der Vorgang des TierisdiWerdens verinnerlicht: wenn der Mensch seiner Bestimmung, den Geist zu den geistigen Dingen zu erheben, nicht nachkommt, w i r d er i n seinem Geist den Tieren gleich. D i e gebeugte Gestalt w i r d nicht mehr am Körper sichtbar, sondern entstellt — i m Gegensatz zur aufrechten Gestalt des äußeren — den inneren Menschen. I n den gleichen Traditionsstrang gehört u m 1160 die Darstellung des ,St. Trudperter H o h e n Liedes*. Freilich läßt gerade sie eine erhebliche Selbständigkeit der Gestaltung erkennen: „ d o w u r d i n w i r geschafen. er gab uns bilde an deme tieuile de w i r gestuondin. dô giuielin w i r dar ubere, dô dâht er uns ze helfenne. got hâth uns geschafen anderen tieren ungelîch. w i r heten an deme lîbe zuêne uuoze, z w o hende rehte âne eia unde ane crvowel slete unde schöne, w i r heten ovgin v f gerihtiu, huobet v f gekêret. de allez was ein zeikin w i e hère da wäre unsir sêle. diu hete den uuoz der uorthe de ubel ze uirmìdenne. declina a malo, diu hete den uuoz der pietatis. fac b o n u m . der w i n s t e r i u h a n t scientia sairmet ire. der zeswihe harat f o r t i t u d o uâhet uur si. de winstere ovge consilium besach den nâhesten. de zeswehe ovge intellectus besach sich seibin. de houbet sapientia wartet allezane h i n ze gote, der tieuil nam unsere uuoze i n sine bant, unsere hende i n sînin gewalth, d i u ougin stach er uns uz. de hovbeth brâht er uns zuo der erde . . . " 2 7 . Auch hier k n ü p f t die Vorstellung an die Erschaffung des Menschen an. Auch hier begegnet der Gedanke, daß der Mensch, wenn er v o n seiner Bestimmung abweicht, zur Erde gebeugt w i r d . N e u erscheint die ausdrückliche Verbindung m i t dem Geschehen des Sündenfalls, neu die A k t i v i t ä t des Teufels, neu der anschließende Ausblick auf die Erlösung u n d Wiederherstellung des Menschen. Selbständig w i r k t auch die Einfügung des Hinweises auf die aufrechte H a l t u n g i n ein w e i t ausgeführtes B i l d v o n der ursprünglichen Schönheit u n d Brauchbarkeit des Menschen u n d seiner Glieder. D i e Deutung der einzelnen Körperteile führt, v o r allem m i t den sieben

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Das St. Trudperter Hohe Lied, Krit. Ausgabe von Hermann Menhardt, Rheinische Beiträge und Hülfisbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde Bd. 21 f., Halle 1934, Textbd. 2,23 - 3,7. Daß der Gedankengang in den Zusammenhang einer älteren Tradition gehört, sieht auch Friedrich Ohly, a.a.O., S. 20. Er weist auf die Ovid-Verse hin und führt die Parallele aus der Wiener Genesis an. Seine weiteren Belege stimmen nicht mit den hier vorgelegten überein und bestätigen somit die Einsicht, daß sich eine vollständige Ubersicht nicht erzielen läßt. Ohly weist, zum Teil mit wörtlichem Zitat, hin auf: Beda, Hexaemeron I, PL 91,29 C; Hrabanus, Comment, in Genesim I, PL 198,100 B; Adam Scotus, Sermones 1,7, PL 198,100 B.

Die aufrechte Körperhaltung als Ausdruck der göttlichen H e r k u n f t 6 9 Gaben des Heiligen Geistes, Begriffe ein, die i m ganzen ,St. Trudperter H o h e n Lied' eine tragende Rolle spielen. Auch deshalb ist damit zu rechnen, daß die Ausgestaltung des Vorgangs i n der vorliegenden Weise Eigent u m des Verfassers ist. V o r allem aber verdient Beachtung, w i e die alte Vorstellung hier nicht nur verinnerlicht auf die Seele bezogen ist, sondern darüber hinaus z u m Zeichen für ihren A d e l i m Sinne der M y s t i k w i r d : „de allez was ein zeikin w i e hère da wäre unsir sêle". D i e aufrechte H a l t u n g , d u r d i die G o t t den Menschen v o n den Tieren unterschieden hat, läßt Augen u n d H a u p t nach oben gerichtet sein, ganz i m Sinn all jener Belege, i n denen der Aufblick z u m H i m m e l der leiblichen Gestalt des Menschen ihren Sinn gibt. Der mystische Text verläßt an dieser Stelle das B i l d u n d spricht unverhüllt v o n der Gottesbegegnung: „de houbet sapientia wartet allezane h i n ze gote." Auch i n dem Johannes Veghe zugeschriebenen T r a k t a t , ,Wyngaerden der sele* ist die Vorstellung i n einen größeren Bildzusammenhang einbezogen. Dabei k n ü p f t der Gedanke nicht wie i m ,St. Trudperter H o h e n Lied' an Schöpfung u n d F a l l an, sondern es geht u m das Aufstehen, das sich aus der Aufforderung des H o h e n Liedes ergibt: „ M a n e surgamus ad vineas" (7,12): „ O oetmoedighe sele, n u hebstu een luttel ghesien, woe d y n gheestelik upstaen sal ghescheen v a n sunden. V o e r t hebstu ghemerket w a t d y hyndert i n d y n upstaen, alstu belastet bist m y t dyns selves swoerheit ghelijc als een water suchtich mensche m y t t e n «steen der hardsynmicheit, m y t t e n snoer dagheliker sunden. A l s t u dan alduis upstaiest m y t handen, m y t voeten, m y t al d y n l i j f , lede unde erachten over all aerbeydende unde nochtan nicht schickende b y dy selven, u m d a t t u b y dy selven a l t i j t weder neder glydest i n den selven quaet, mer aliene overmits godes gracien, de d y verwecket, ut den slape trecket, u t den drecke upboert, vander eerden staende holdet v a n d y n neder vallen unde voertleyden i n den wech der salicheit. Och i n d i t gheestelike upstaen unde voertgaen en is d y nicht ghenoch, dat d y n l i j f f recht upstaet, mer d y n oghe moet oick upsien unde upwaert werden ghekeert. D a t is, et is seer kleyne, quaet te latene unde guet te doene, ten sy dat d y n andacht recht sy. Unse here secht: is d y n oge sdiallick, so is a l l d y n licham duyster, mer is d y n oghe sympel unde eenvoldich, so is a l l d y n licham ciaer. A l l e vrucht smaket na der wortelen, so is alle werck guet o f quaet na der andacht. N a t u e r l i k e somyghe lüde kunnen w a l upstaen unde voertgaen, nochtan syn se krumme unde neder bughende ter eerden unde eer oghe is daelwart ghekeert ghelijck den beesten, de ter eerden neder strecken eer l i j f f . Mer rechte menschen keren eer l i j f f , hovet unde oghe i n t hoge ghelijc den voghelen, u p t w e voete gaende unde de eerde noulike rorende. Aldus ist gheestelike, de redelike mensche sal recht wesen, i n quaet mydende, guet verkesende, daermede aliene gode behaghende i n syn andacht unde

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m e n i n g h e n . " 2 8 M i t dem ,St. T r u d p e r t e r H o h e n Lied' t e i l t der Beleg die Verinoerlichung: Es geht u m die H a l t u n g des inneren Menschen. Was aber d o r t i n die mystische Erfahrung einmündete, f ü h r t hier schließlich auf das moralisch rechte Verhalten, das G o t t u n d den Menschen wohlgefällig ist. V o n der Möglichkeit des Aufstehens aus der dem Menschen unangemessenen horizontalen Lage handelt auch ein Passus aus Brentanos , G o d w i e . D o r t schildert Römer einen Menschen, „der i n der Trägheit lebte": „ E r legte sich zu Bette aus Wollust, wälzte sich d r i n herum aus Veränderung, blieb Eegen aus M a t t i g k e i t , u n d k a n n n u n nicht wieder aufstehen, — aber über dem Bette des bürgerlichen Lebens hängt der H i m m e l der Kunst, u n d i n jedem guten Himmelbette hängt ein Bettzopf herunter, an dem man sich i n die H ö h e ziehen k a n n — nun faßt er also diesen Bettzopf, diesen Z i p f e l des künstlichen Himmels, u m sich i n die H ö h e zu bringen, u n d f ä l l t wieder i n die Kissen hinein. W e n n er so ein wenig i n die H ö h e ist, regen sich alle erdrückte Möglichkeiten i n ihm, u n d er hat, solange er sich oben erhalten kann, einige gute Gedanken, Wünsche u n d eilfertige Taten, aber pumps f ä l l t er wieder nieder. D i e Menschen sind z u m Aufrechtstehen, zum H e r u m gehen gemacht, u n d so auch liegt ihnen das H e r z i m Leibe; wenn sie sich aber ins Bette legen, u m immer drinnen zu liegen, k a n n nichts i n ihnen handeln, sondern alles w i r d zur Verdauung, es werden keine Weltmenschen, sondern Bettmenschen draus. Sein Inneres ist auf vielfache Weise verschoben, u n d sein Äußeres gelinde aufgeschwemmt. K ö n n t e dieser M a n n nicht durch die Liebe geheilt werden? Ja, wenn er die Liebe nicht meistens m i t i n über dem Bette des bürgerlichen Lebens hängt der H i m m e l der K u n s t , u n d i n sein B e t t nähme; er m ü ß t e sich i n Bettzöpfen r u i n i e r t haben, so viele heruntergerissen haben, daß er sich keinen m e h r kaufen k ö n n t e ; dann m ü ß t e m a n i h m seine Liebe recht hoch v o n einem andern H i m m e l herabhängen, u n d w e i t v o n seinem Lager, weil, wäre sie i h m bei seiner Gewandtheit erreichlich niah, so w ü r d e er sich m i t G e w a l t herauslehnen, den B e t t z o p f ergreifen u n d durch sein Ubergewicht abreißen. Ist das Band, an dem er sich hinaufziehen k a n n , aber w e i t v o n i h m , u n d recht hoch, so w i r d er sich entschließen, herauszusteigen, w i r d sich wieder ans Gehen gewöhnen, u n d endlich, u m die Geliebte z u erreichen, sogar springen l e r n e n . " 2 9 D i e 28 Wyngaerden der sele, Eine aszetisch-mystische Schrift aus dem 15. Jahrhundert, Niederdeutsch von Johannes Veghe, Fraterherr in Münster, hrsg. von H . Rademacher, Hiltrup 1940, S. 79 f. Die Frage der Autorschaft kann in diesem Zusammenhang unerörtert bleiben. Unter einem anderen Gesichtspunkt erwähnt Hermann Kunisch Belege aus Veghes Predigten, die offensichtlich in die hier untersuchte Tradition gehören: Johannes Veghe und die oberdeutsche Mystik des 14. Jahrhunderts, in: H . K., Kleine Schriften, Berlin o. J. (1968), S. 156. 29 Clemens Brentano, Werke, hrsg. von F. Kemp , I I , Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1963, S. 206 f. Auf diesen Beleg wies mich Herr Prof. Dr. Heinz Rölleke, Wuppertal, hin.

Die aufrechte Körperhaltung als Ausdruck der göttlichen H e r k u n f t 7 1 T r a d i t i o n v o m aufrechten Menschen ist ebenso unverkennbar w i e säkularisiert u n d i m Blick 'auf das Versagen des „Bürgers" ironisiert. Aus der z u r Erde gebeugten Gestalt der Tiere ist die Bequemlichkeit der bürgerlichen Schlafstube geworden, u n d der H i m m e l ist nicht m e h r die W o h n s t a t t Gottes, sondern „ d e r H i m m e l der K u n s t " . A u c h die M ö g l i c h k e i t des A u f stehens ist ins Alltägliche gewendet, läßt aber, i n d e m die Liebe allein retten kann, die ursprünglichie I n t e n t i o n des M o t i v s durchschimmern. N u r n o d i ein A n k l a n g an die Überlieferung läßt sich i n Jean Pauls, , U n sichtbarer Loge* ausmachen: „ . . . ich bedenke, durch wieviel K o t unsere Lehrer unsern innern Menschen wie einen Missetäter schleifen, eh' er sich aufrichten d a r f ! " 3 0 Geblieben ist das B i l d des Menschen, der niedergeworfen ist, nun aber nicht mehr durch eigenes Verschulden, sondern durch eine falsche Erziehung, während jetzt umgekehrt das Aufrichten aus eigener K r a f t gelingt. Ganz am Rande gehört i n diese Ubersicht Christian Morgensterns Gedicht v o m ,kulturbefördernden Füll', i n dem das M o t i v halb erblindet erhalten ist: Ein wünschbar bürgerlich Idyll erschafft, wenn du ihn trägst, der Füll. Er kehrt, nach Vorschrift aufgehoben, die goldne Spitze stets nach oben. Wärst du ein Tier und sprängst auf vieren, er würde seinen Saft verlieren. Trag einen Füll drum! (Du verstehst: Damit du immer aufrecht gehst.)31 Der letzte Beleg, der hier gebracht werden soll, führt ins Mittelalter zurück. Bernhard schließt sich i n einer seiner Hoheliedpredigten vielleicht unmittelbar an Augustin an. Jedenfalls benutzt auch er das V e r b u m „ a d m o nere", u m auszudrücken, w i e sich die aufrechte Gestalt auf das Innere des Menschen auswirken soll. „ Q u a m q u a m et corporis staturam dedit h o m i n i Deus rectam, forsan u t ista corporea exterioris viliorisque rectitudo figmenti hominem interiorem i l i u m , q u i ad imaginem D e i factus est, spiritualis suae rectiudinis servandae admoneret, et decor l i m i deformitatem argueret animi. Q u i d enim indecentius, quam curvum recto corpore gerere animum? Perversa res est et foeda, luteum vas, quod est corpus de terra, oculos habere sursum, caelos libere suspicere caelorumque luminaribus oblectare aspectus, spiritualem vero caelestem creaturam suos e contrario oculos, i d est internos 30 Jean Paul, Werke, hrsg. von N . Miller , I, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1960, S. 61. Auch auf diese Stelle machte mich H . Rölleke aufmerksam. 31 Christian Morgenstern, Galgenlieder. Palmström/Palma Kunkel/Gingganz, Leipzig 1942, S. 291. Den Hinweis auf diesen Beleg verdanke ich Herrn Dr. Heribert A. Hilgers, Köln.

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sensus atque affectus, trabere i n t e r r a m deorsum . . . ,Eruibesce, anima mea c , aiit corpus, , i n mei consideratioiixe. Erubesce, anima mea, divina pecorinam commutasse similitudinem; erubesce v o l u t a r i i n caeno, quae de caelo es. Creata Creanti similis recta, me quoque accepisti adiutorium simili t i b i , utique secundum lineamenta corporeae recttudinis. Quocumque te vertas, sive ad D e u m sursum, sive ad me deorsum, . . . ubique occurrit t i b i species decoris tuii, u b i q u e p r o statu tuae dignitatis habes de magisterio sapientiae familiarem a d m o n i t i o n e m . " 3 2 Es entspricht der Gattung der Predigt wie der Eigenart Bernhards, wenn die Gegensätze temperamentvoll herausgearbeitet werden bis hinein i n das Streitgespräch zwischen K ö r p e r u n d Seele. Dabei w i r d die Gebrechlichkeit des aus Erde gemachten Körpers hervorgehoben. E i n m a l verstärkt sie dlie Ungeheuerlichkeit des W i derspruchs : der irdische Leib steht trotz seiner Schwäche aufrecht, der innere Mensch dagegen ist niedergebeugt. Zugleich macht sich mittelalterliche Stimmung geltend: die Vergänglichkeit w i r d stark empfunden. Das Z i t a t aus Bernhards Hoheliedpredigten ist geeignet, den Blick auf das Gedicht zurückzulenken, v o n dem die Darstell u n g i h r e n Ausgang nahm. I n Goethes ,Freysinn' erschien als die eigentlich goethesche Wendung das „Ergetzen" an den Gestirnen, das gegenüber dem durch die Koransure vorgegebenen Ansatz einen ganz neuen Gesichtspunkt einführte. Bei Bernhard zeichnet es den gebrechlichen Leib aus, daß er befähigt ist, „oculos habere sursum, caelos libere suscipere, caelorumque luminaribs oblectare aspectus." Das Eigentümliche ist, daß hier dem an sich niedrig bewerteten äußeren Menschen u n d seiner Erfahrung das Ergötzen, die Freude am A n b l i c k der Gestirne zugestanden ist; gewiß, u m die Analogie z u den inneren Augen zu gewinnen, die sich auf Göttliches richten sollen. Es wäre — gerade angesichts der Breite der Überlieferung — töricht, eine Abhängigkeit Goethes v o n Bernhard folgern zu wollen. Sicher aber scheint, daß Goethe sich m i t seiner Aussage, so persönlich er sie auch wendet, i m Rahmen einer deutlich erkennbaren abendländischen T r a d i t i o n bewegt, so daß dies Gedicht i m besonderen den west-östlichen Charakter des , D i v a n ' verwirklicht.

32 S. Bernardi opera vol. I, Sermones super Cantica Canticorum 1 - 35, hrsg. von J. Leclercq , C. H . Talbot, H . M. Rodiais, Rom 1957, S. 176 f., 24,6; entspr. PL 183,897 A - C. Bernhard knüpft an CC 1,3 an: Recti diligunt te.

DASS E R A L S K L E I N O D G E H Ü T E T W E R D E Stifters ,Nachsommer*. Eine Revision V o n Wolfgang W i t t k o w s k i Vorwort Die Fragestellung Abstufung und Antithetik Der Rückblick: Antithese zum richtigen Erziehen Das vollendete Erziehen Schlußwort: Spuren des Themas in Literatur und Leben Vorwort Revision — davon ist heute viel die Rede. Was sie i n der Literaturk r i t i k zumeist bedeutet, ist sattsam bekannt: Neudeutung u n d Neubewertung v o n einem Standort her, der auf unsere gegenwärtigen Bedürfnisse (oder was w i r dafür halten) antwortet, der als alleinseligmachend u n d allein wissenschaftlich ausgegeben w i r d , der gerade darum aber ideologischen, dogmatischen Charakter annimmt. A l b e r t Glasers Buch ,Die Restauration des Schönen' (1968) etwa beurteilt den ,Nachsommer' i m Lichte der K u l t u r philosophie Adornos, u n d z w a r negativ, während bekanntlich Nietzsche das W e r k dem engsten Kreis deutscher Meisterdichtung zuordnete. D e r Roman n i m m t sich auch, wie w i r sehen werden, positiv i m Licht einer anderen Richtung der Kultursoziologie aus — w o man nämlich mehr auf das W o h l des Menschen selbst bedacht ist. U m eine Revision dieser A r t geht es indessen i n erster L i n i e nicht. Auch nicht u m eine Revision des Stifterbildes, wie sie Friedrich Sengle i m literaturgeschichtlichen Rahmen für die Dichtung des 19. Jahrhunderts vorbereitet zu haben scheint. Allerdings geht es auch nicht u m eine Revision i n dem selbstverständlichen Sinn, i n welchem jede kritische Studie die geltenden Akzente ergänzen oder verschieben möchte. Vielmehr handelt es sich u m den Nachweis, daß man wesentliche Teile des Romans, insbesondere das K a p i t e l ,Der Rückblick', bisher gründlich mißverstand, ja auf den K o p f stellte. D e m gilt die Revision. Dennoch w i r f t sie das geläufige B i l d v o n Thema u n d Struktur des Werkes gerade nicht

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um. Vielmehr soll es durch ein zuverlässiges Textverständnis stimmiger gemacht u n d besser begründet werden. Gelingt das, so könnte man w o h l v o n einer „Restauration des Schönen" sprechen — falls man das spröde W e r k als „schön" bezeichnen w i l l . Gleichwohl w i r d hier kein lebensferner Schönheitskult getrieben. W i e immer man sich zu den Resultaten stellt — der Sache w i r d man zubilligen müssen: tua res agitur. Vorausgesetzt allerdings, man h ä l t das einzelne Menschenleben u n d dessen Sinnerfüllung noch für w e r t v o l l genug, daß es „als K l e i n o d gehütet werde".

Die

Fragestellung

„Cereus Peruvianus" heißt der Kaktus, dessen Sdiicksalsweg mehrfach den Werdegang Heinrich Drendorfs kreuzt u n d symbolisch kommentiert. Ziel ist hier w i e dort die E n t f a l t u n g des Wachstums bis h i n zur vollen Blüte. Allerdings f ä l l t ein wesentlicher Unterschied ins Auge: D i e Schicksale der exotischen Pflanze setzen i m Stadium der Vernachlässigung, des Verkümmerns ein, i n einem Stadium also, das Heinrich nie an sich erfährt u n d v o n dem man überhaupt bei diesem „Gesetzbuch des schönen" 1 , rechten, gültigen Lebens 2 wenig zu sprechen pflegt. O f f e n k u n d i g ist man überzeugt, schönes, gültiges Leben erfülle sich eben nur jenseits v o n Vernachlässigung u n d Verkümmern. U n d der Dichter verstand das Buch j a selbst als „ V o r b i l d " , als „eine große, einfache, sittliche K r a f t " , die er „ d e r V e r kommenheit gegenüberstellen" wollte, „der Schlechtigkeit, die i m allgemeinen, m i t einigen Ausnahmen, i n den Staatsverhältnissen der W e l t , i n dem sittlichen Leben derselben u n d i n der Dichtkunst herrscht." 3 U n d doch: Gerade wenn der A k z e n t so stark auf der Bekämpfung des Schlechten liegt — wäre es dann nicht höchst sinnvoll, ja eigentlich erforderlich, i m Kontrast vorzuführen, was das Schlechte, was Vernachlässigung, Verkümmern sind, woraus sie hervorgehen, wie man sie vermeiden u n d ihre Folgen überwinden kann? Eine solche Gestaltung i m Kontrast, i m Gegensatz, ist zudem ein künstlerisches M i t t e l , dem w i r i n Stifters Gesamtw e r k oft begegnen. E r benutzt es selbst als kunstkritische Kategorie i n einer Beschreibung, die er zwei zeitgenössischen Landschaftsgemälden w i d met. Nachdem er da Züge hervorhebt, die er bald auch für seinen N a c h sommer* i n Anspruch nehmen w i r d , 4 begründet er sein L o b m i t Worten, die 1 Emil Staiger, Stifters „Nachsommer", in: Meisterwerke deutscher Sprache, 1948, S. 190. 2 Hermann Kunisch, Adalbert Stifter. Mensch und Wirklichkeit. 1950, S. 135. 3 11.2.58 an Heckenast.

Daß er als K l e i o d gehütet werde

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stark an die ja gleichfalls ganz v o m Kontrastprinzip bestimmte ,Vorrede' zu den ,Bunten Steinen' erinnern (Sperrungen v o n m i r ) : Z u der „abgebrannten H ü t t e " v o n Steinfeld: „Dieser G e g e n s a t z menschlichen U n glückes u n d Verfalles als eines Kleinen g e g e n das ruhige Große einer Naturerscheinung, die sich täglich wiederholt u n d täglich wunderbar ist, bew i r k t das Dichterische, das i n diesem B i l d liegt." Z u einem Schmuggler-Bild v o n Fischbach: „Diese H a l t u n g der Naturfeierlichkeit g e g e n die Beschäftigung v o n Menschen, die hier i n der Einsamkeit ungesetzlichen H a n d lungen nachgehen, gibt dem Gemälde so großen Reiz dichterischen Ernstes u n d Wertes." D a ß Stifter i m ,Nachsommer' ebenfalls nach dem K o n t r a s t p r i n z i p verfährt, hat man immer gesehen. Aber erst kürzlich hat Christel Oertel Sjogren d a m i t unseren Aspekt verbunden. 6 Neben dem „Cereus Peruvianus" nennt sie den Kerberger A l t a r , das mittelalterliche M a r i e n b i l d u n d die M a r morstatue als Zeugen einer Fehlbehandlung, welche zu vermeiden, zu bekämpfen u n d deren Folgen wiedergutzumachen, das Ethos der Nachsommerwelt i m engeren Sinn ausmacht. Indessen, so treffend die Verweisungsbezüge zwischen Risach, Heinrich, dem Gärtner und dem K a k t u s da hervortreten: es ergibt sich dabei doch kein Zusammenhang m i t dem R ü c k blick', also m i t demjenigen T e i l des Romans, der als die Kontrastfolie z u m Hauptgeschehen gilt. „ D i e wenigen Seiten [ . . . ] , auf denen Risach das Zerfallen seines Bandes m i t M a t h i l d e erzählt, [ . . . ] tragen u n d rechtfertigen den ganzen [ . . . ] Bau des Werkes", sagt H e r m a n n Kunisch. 6 Erst v o n hier aus werden nach Walter Rehm „ d i e K o n f i g u r a t i o n u n d der Sinn der Dichtung ganz deutlich." 7 M e r k w ü r d i g nur, daß niemand genauere Verbindungslinien z u den zentralen Vorgängen u n d Themen des Romans herstellte. Selbst H e r m a n n Kunisch, der den Rückblick 4 am gründlichsten behandelt, 8 konzentriert sich auf die Schuldfrage u n d behandelt sie hauptsächlich unter Berufung auf Risachs Aussagen, die j a durchweg als kanonisch gelten. Ebenso gläubig h ä l t man sich an Stifters W o r t , daß Risach u n d 4 „ein wahrhaft einfacher, erhebender Ernst, der dicht an Erhabenheit streift;" „in das Ganze eine übersichtliche, menschlich großartige und erhebende Stimmung zu bringen"; „Ernst und Würde"; „groß und bedeutend". 21. 8. 47 an Buddeus. Im selben Brief steht der Preis Grillparzers gegen die Verwerfung Hebbels: Vorspiel zur „Vorrede" der „Bunten Steine". 5 The „Cereus Peruvianus" in Stifter's „Nachsommer", German Quarterly 1967, S. 664 - 672. β a.a.O. S. 159. 7 Walther Rehm, Nachsommer, 1951, S. 62. 8 Kunisà) a.a.O. S. 160 - 165. Unergiebig sind für unser Thema trotz mancher guten Beobachtungen die Spezialstudien von Gerhard Ρr ause: „Du aber hättest es vermeiden können:" Die Schuld bei Adalbert Stifter, in: Die Sammlung 1956, und von Susi Gröhle: Schuld und Sühne im Werk Adalbert Stifters. Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 28, 1965.

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M a t h i l d e „fehlten", daß „sie Schwäche hatten" und dafür „sühnen" mußten. 9 Demgemäß spricht man v o n ihrer leidenschaftlichen Ungeduld und eigensinnigen Verhärtung, v o n ihrer späteren „ U m k e h r u n d Sühnung", 1 0 v o n ihrem Bemühen, nun i m Kontrast das junge Paar v o r den eigenen Fehlern u n d Leiden zu bewahren. I n dieser Weise schließt man sich vertrauensvoll an Stifters u n d Risachs ausdrückliche Erklärungen an; u n d das eben nicht bloß, w e i l sie genug des Bedenkenswerten enthalten, sondern w i e gesagt, w e i l die Dinge auf der H a n d zu liegen, w e i l etwa audi die Symbolik u n d insbesondere die zahlreichen unverschlüsselten, geradezu programmatischen Aussagen dem N a c h sommer' eine „ungewöhnliche Deutlichkeit" zu geben scheinen. D i e „Gewohnheit Stifters, seine Spur zu verwischen", u n d das fundamentale P r i n z i p aller Interpretation, „daß einzelne Textstellen nur i n Verbindung, m i t anderen Beweiskraft haben u n d erst das Ganze Wahrheit verb ü r g t " 1 1 : sie stellen, so glaubt man offenbar, die Stifterinterpretation i m ,Nachsommer' nicht v o r die gewohnten Schwierigkeiten. Kontraste zu R i sachs nachsommerlicher W e l t erblickt m a n jedenfalls n o d i heute nur i n Opfern der Verwahrlosung, die draußen herrscht, u n d i n der selbstverschuldeten Zerstörung eines sommerlichen Lebensglücks: i m ,Rückblick'. Zwischen diesen zwei Komplexen sah oder suchte man indessen keinerlei Zusammenhang. Ist das W e r k jedoch aus einem Guß, ist das pflegliche Leiten u n d Bewahren so wichtig, wie man anzunehmen pflegt, so müßte eine derartige Beziehung eigentlich bestehen: I m ,Rückblick' müßte die Liebeserfüllung zerstört werden, weniger w e i l die jungen Leute der Leidenschaft zum Opfer fielen, sondern hauptsächlich, w e i l man ihnen gegenüber die Prinzipien der Nachsommerwelt i m engeren Sinn vernachlässigte. Prüfen w i r das einmal nach; u n d betrachten w i r zu diesem Zweck zunächst die A r t u n d Weise, wie die übrigen K a p i t e l unser Thema behandeln: das schöne, rechte Leben samt seinem Gegensatz, dem Vernachlässigen u n d V e r k ü m mern. Setzen w i r dort wieder ein, w o w i r das Thema eingangs aufgegriffen haben: beim „Cereus Peruvianus". Dabei werden uns b a l d die Kategorien deutlich werden, die für die Werkstruktur u n d für die Betrachtungsweise wichtig sind.

» 11.2.58 an Heckenast. 10 Paul Requadt, Das Sinnbild der Rosen in Stifters Dichtung, Zur Deutung seiner Farbensymbolik. Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Klasse Literatur, 1952, Nr. 2, S. 54. 11 Requadt 18, 20.

Daß er als K l e i o d gehütet werde Abstufung

und

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Antithetik

D i e exotische Pflanze stand lange einsam, ohne Kakteengesellschaft, i n einem Gewächshauswinkel, der „der vernachlässigteste" w a r ; „es lagen B l u menstäbe, Bastbänder, welke Blätter u n d dergleichen dort, u n d man hatte i h n m i t Gestellen, auf welchen andere Pflanzen standen, verstellt, daß sein Anblick den Augen entzogen werde" (I,7,255). 1 2 A u f wiederholtes D r ä n gen des Gärtners Simon h i n legt Heinrich seinem Gastfreund Risach nahe, den Peruvianus für seine Kakteensammlung zu erstehen. A n f a n g des I I . Buches, i m K a p i t e l ,Die Erweiterung', vernehmen w i r , daß K a u f u n d Überführung getätigt sind. „ D i e Pflanze w a r i n freien G r u n d gestellt" w i e an ihrem alten Platze. Darüber hinaus aber hatte man jetzt „ f ü r sie einen eigenen Aufbau, gleichsam ein Türmchen v o n doppeltem Glas, auf dem Kaktushaus errichtet u n d hatte durch Stützen oder durch Lenkung der Sonnenstrahlen auf gewisse Stellen des Gewächses Anstalten getroffen, daß der Cereus, der sich an der Decke des Gewächshauses i m Inghofe hatte k r ü m men müssen, wieder geradewachsen könne" (11,1,286). I m K a p i t e l ,Vertrauen' (111,2) k a n n der Gärtner melden, der Kaktus „wachse bereits steilrecht i n seinem Glasfache empor, was durch viele Mühe u n d Kunst b e w i r k t worden sei. D i e gelbliche Farbe v o m Inghofe sei i n die dunkelblau-grüne, gleichsam m i t einem D u f t übergegangen, welche die v ö l lige Gesundheit der Pflanze beweise. W e n n es so fortgehe, so könne auch noch die Freude der fabelhaften weißen Blumen der lebendigen Säule i n dieses Haus kommen" (545). A m Ende geschieht das tatsächlich. Bis dahin w i r d der prachtvoll herangewachsene Peruvianus sachgemäß gegen K ä l t e , Regen u n d Hagelsturm geschützt (111,3, ,Die M i t t e i l u n g ' 613). E r k r ä f t i g t sich derart, daß Simon es wagen kann, sein Blühen „durch K ä l t e zurückzuhalten, [ . . . ] selbst auf die Gefahr hin, daß er die Knospe abwerfe, damit er nicht eher blühe" als an dem Tag, an welchem Heinrich u n d N a t a l i e heiraten, an dem ihnen die erste volle Blüte ihres Glückes zuteil w i r d . „Freude" u n d zuletzt „ G l ü c k " sind die Leitworte dieses „Abschluß"»Kapitels. „Euch erwartet heute noch eine große Freude", verkündet Simon dem Bräutigam (743); u n d er fügt hinzu: „Es ist alles gut gegangen. So viele Menschen den Peruvianus haben, so selten bringen sie i h n z u r Blüte. Wenige Menschen i n Europa haben diese weiße Blume gesehen. Jetzt öffnet sie sich, morgen m i t Tagesanbruch ist sie hin. Sie ist kostbar m i t ihrer Ge12 Da die Prager Ausgabe nicht gerade handlich ist, zitiere ich unter Angabe von Buch, Kapitel, Seite den Nachsommerband der Gesammelten Werke in sechs Bänden, eingeleitet von Ernst von Heiseler, hrsg. von Michael Benedikt und Herbert Hornstein, Bertelsmann Verlag 1959.

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genwart. M i r ist es geglückt, sie blühen z u machen [ . . . ] Es ist ein Glück, das die wahrste Freude hervorbringen m u ß " (744). Der z u m Blühen gebrachte Kaktus fügt sich ganz i n das System der hier gebrauchten Pflanzenbilder; u n d er selbst ist ein Symbol für alle wichtigen Vorgänge des Werkes: für Heinrichs Werdegang, etwa für die »Erweiterung' seines Lebensraums, seiner Wanderungen, die selbst wieder symbolisch sind, genau w i e die Erweiterung seiner Wohnstätten i m Elternhaus u n d auf dem Asperhof. Ferner denke m a n an seine u n d Risadis innere Sammlung v o r der ,Mitteilung*, dem A u f t a k t z u m ,Rückblick', während draußen Sturm u n d Regen toben. Besonders i n die Augen f ä l l t aber, w i e angestrengtes, überlegtes menschliches Bemühen der N a t u r zu H i l f e k o m m t , u m das Gewächs ganz w i e Heinrichs Persönlichkeit u n d Glück zur Blüte zu bringen, u n d z w a r ebenfalls i m richtigen Augenblick, weder zu f r ü h noch zu spät, also i m Sommer u n d nicht erst i m Nachsommer des Lebens. „Nachsommer", das sind ja nur „ d ü r f t i g e Spätblüten". Sie „ k ö n n e n den Sommer, dessen kräftige L ü f t e u n d warme Sonne unbenutzt vorübergingen, nicht ersetzen" (111,3,633). So spricht Risach i n der ,Mitteilung' über den Beruf, der i h m bestimmt w a r u n d v o n dem i h n seine T ä t i g k e i t i m Staatsdienst abzog. Gleiches -gilt v o n seiner u n d Mathildes Liebe. M a t h i l d e sagt i m Pflanzengleichnis: „ W i e diese Rosen abgeblüht sind, so ist unser Glück abgeblüht." Risach antwortet: „Es ist nicht abgeblüht, es hat n u r eine andere Gestalt" (11,2,376). D a m i t w i r d M a t h i l d e keineswegs, w i e man behauptet h a t , 1 3 v ö l l i g widerlegt. Vielmehr n i m m t Risach lediglich eine jener 13 Vgl. etwa Rehm, der Risadis Worte nodi dazu als eine „klare, einfache Belehrung" nimmt (S. 65) und überhaupt „alle Trauer, alle Wehmut, alle Schwermut mit sanftem, aber sehr entschiedenem Nachdruck an den Rand des nachsommerlichen Daseins und Geschehens" gedrängt sieht (67). Er läßt sich vielleicht dadurch irreführen, daß er den „Nadisommer"-Begriff ausschließlich von Jean Paul herleitet. Neben diesem wäre indessen wohl ein m. W. bisher übersehener Brief William Lovels* (Nr. 25) im 10. Buch des gleichnamigen Romans von Ludwig Tieck (1796) zu nennen, wo es heißt: „Ja, Rosa, . . . ich komme zu Ihnen, aber nicht um von neuem ein wildes und unstetes Leben zu beginnen, sondern mich ganz einer dunkeln, träumevollen Einsamkeit zu überlassen. — Was ich an den Menschen verbrochen habe, will ich durch Sorgfalt an Blumen und Bäumen wieder abbüßen. Wie ein schwacher Regenbogen in Gewitterwolken, so steigt die Aussicht meines künftigen Lebens empor: ich glaube, ich könnte dort manches vergessen, und in einem tiefem Traume meine vorigen unruhigen Träume begraben. Es ist mir, als könnte ich mich freuen, als würde ich wieder wohl und gesund werden. [ . . . ] in der Erinnerung, in der Sühne, in der Vergangenheit will ich leben, und so geht vielleicht in meinem Herzen ein wehmütiger Nachsommer mit scheinender Freundlichkeit auf [ . . . ] und so werden meine Schmerzen selber einen Blumenkelch von Glück ausblühen." Möchte ich Rehm gegenüber mehr diesen schwermütigen Unterton des Nachsommer-Motivs betonen, wie es auch Kunisch und M usò g (Anm. 16) tun, so beziehe ich doch ähnlich wie er die Nachsommer- und Pflanzensymbolik auf Ent-

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feinen, gewöhnlich übersehenen Abstufungen vor, auf die w i r i m folgenden besonders achten müssen. M i t der anderen Gestalt der Glücksblüte meint er, wenn w i r jene vorher zitierte Stelle m i t zu H i l f e nehmen dürfen, die Spätblüte des Nachsommers. Auch das ist Blüte, aber es sind eben d o d i „dürftige Spätblüten"; sie sind kein voller Ersatz. U n d das meinte M a t hilde. Das Sdilußzitat dieser Untersuchung w i r d vollends bekräftigen, daß Risach i m Grunde jene Meinung teilt, daß er sie hier also nur beschönigt, u m sich u n d M a t h i l d e zu schonen u n d — u m die Spur des Dichters zu verwischen. Als die Liebe zwischen Heinrich u n d N a t a l i e zur Blüte k o m m t , geschieht das unbildlich-wirklich i m Nachsommer; u n d die Jahreszeit trägt da einen anderen A k z e n t : nicht den des ersatzweisen Nachholens, sondern den hochzeitlich hoch-zeitlichen des Zur-Erfüllung-Gelangens. Es ist die Zeit z w i schen Sommer u n d Herbst. I m Asperhof sind die Rosen „schon v e r b l ü h t " . I m höhergelegenen Sternenhof dagegen steht „noch manche Rose frisch"; ja, es gibt sogar „noch Knospen, die ihres Aufbrechens harrten" (11,5,486). A n den Bäumen wiederum hängen „schon" die Äpfel, „ d i e schon hie u n d da ihre eigentümliche Farbe zu erhalten begannen" (111,1,516). D e r Einsatz frühherbstlicher V o l l e n d u n g u n d das Fortdauern frühsommerlidien Knospens werden offenbar so aufwendig verknüpft, damit diese Spätblüte die kräftige Frische vollendeter Reife u n d unverwüstlicher Jugendlichkeit zugleich erhält. D e n n diese Liebe entspringt nicht einer überhitzten Atmosphäre, sondern reift allmählich heran, den beiden lange unbewußt, später i n verschwiegener Zurückhaltung u n d gesellschaftlicher Kühle, nachdem Risach u n d M a t hilde ein Zusammentreffen längere Zeit verhinderten, u m die verborgene G l u t v o r einem verfrühten Aufbrechen zu bewahren. N u n verbinden sie sich auf dem zuverlässigen „ G r u n d der Hochachtung" zweier Personen, die einander lange kennen u n d die jede i n der „Gesamtheit" ihres Wesens zur Reife, z u m Blühen gebracht wurden (ebenda). W e n n N a t a l i e „ b l ü h e n d wie eine Rose" genannt w i r d , dann nicht, oder nicht nur i m konventionell engen Sinn, sondern so, w i e an Heinrich „einiges [ . . . ] zur Blüte k a m " (11,3,439). Dies geschah sogar „ f r ü h e r " als gewöhnlich, aber durchaus auf förderliche Weise. Es geschah durch den „Umgang, der i h m zuteil geworden", den Umgang des Vaters (111,5,734) u n d des Freiherrn, dieses bedeutenden Mannes, der alles u m sich herum z u m Blühen b r i n g t : N u t z - u n d wicklungsvorgänge und nicht allein auf innere Zustände, wie das Requadt bei seinen geistvollen Beobachtungen zur Farbensymbolik tut. — Stark hervorgehoben und schön nachgezeichnet wird das Entwicklungsmoment von G. Joyce Hallamore: The Symbolism of the Marble Muse in Stifters »Nachsommer', PMLA 1959.

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Zierpflanzen, Lebewesen; Gegenstände der Kunst u n d des H a n d w e r k s (Es „ b l ü h t zuweilen [ . . . ] ein reines W e r k w i e ein vereinsamter Strahl h e r v o r " , heißt es 111,3,632); ferner Gebäude des Wohnens, Wirtschaftens u n d des Kultes; eigenes, nachbarliches u n d allgemeines Besitztum, endlich das Kostbarste: Menschen. Es ist w a h r , der H e l d des Romans w i r d weder v o n den Quellen des schöpferischen Ursprungs genährt noch v o n den Stürmen des vollen Lebens bewegt. Vielmehr gedeiht er, fast w i e der Kaktus i m Gewächshaus, i n einer wohlbehüteten, sorgfältig vorgeformten Welt. Er lebt, so scheint es, ein geplantes Dasein aus zweiter H a n d , ein Dasein des gelenkten Aneignens. 14 Bildungsgut w i r d i h m i n wohlbemessenen Dosen zugänglich gemacht; 1 5 u n d er fügt sich jener rituellen Feierlichkeit, m i t der die Eingeweihten u n d N o v i z e n dieses tempelhaften Bezirks sogar die alltäglichen Verrichtungen vollziehen. Es liegt K l o s t e r l u f t 1 6 oder auch Treibhausluft über dieser „ k o n f l i k t - u n d widerstandslosen Entwicklung, diesem pflanzenhaften Wachstum", 1 7 falls überhaupt Derartiges i m Zentrum steht. V i c t o r Lange hat es i n A b w e h r gegen den Begriff des psychologischen Entwicklungsromans bezweifelt. 1 8 W e i t stärker komme es auf das Z i e l jenes Wachstums an, eben auf die Grundformen des Wissens u n d Gestaltens, des pfleglichen Umgangs m i t Dingen u n d Menschen; es gehe u m solche Grundformen i n ihrem zuständlichen, gültigen Zusammenhang, erhoben über Gefühl, Bewegung, Z e i t . 1 9 Verwandtes hatte Clemens Heselhaus i m A u g e . 2 0 E r sprach v o n „Restauration": ehrfürchtiger Herstellung des Gewesenen: v o n „ R e s t i t u t i o " : asketischer Entindividualisierung des Menschen, u m dessen anfängliche Gottähnlichkeit, das verlorene Paradies zurückzugewinnen; endlich v o n „Regeneratio" : Erneuerung der Liebe zwischen Risach u n d M a t hilde nun bei Heinrich u n d N a t a l i e als Zeugnis dessen, was über die E i n zelwesen hinweg dauert. 14 Otto Friedrich Bollnow, Der ,Nachsommer' und der Bildungsgedanke des Biedermeier, in: Beiträge zur Einheit von Bildung und Sprache im geistigen Sein. Festschrift Ernst Otto 1957, S. 32. Zur Kritik an solchen, von Bollnow besonders einseitig vertretenen Ansichten vgl. Karl Gerhard Fischer, Die Pädagogik des Menschenmöglichen, 1962, S. 63, 71, 99 f., 375 f., 602, 606. 15 Victor Lange, Stifter: „Der Nachsommer", in: Der deutsche Roman, hrsg. Β. v. Wiese, 1963, Bd. 2, S. 70 f. 16 Walther Muschg, Das Farbenspiel von Stifters Melancholie, Studien zur tragischen Literaturgeschichte, 1965, S. 201. π Bollnow, S. 30. 18 Lange, S. 49, 62 f. Fischer, (a.a.O. 550 - 561) bestimmt die Gattung des Romans im Sinne der vorliegenden Untersuchung aus dem komplexen Dialog der Figuren, Generationen, Themen. 19 Lange, S. 58, 62 f., 67. 20 Clemens Heselhaus, Wiederherstellung. Restauratio—Restitutio—Regeneratio, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1951.

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D i e Bilderreihe v o m Kaktus bestätigt jene Konzeptionen. Indessen macht sie zugleich deutlich, daß da zwei Gesichtspunkte, die noch Rehm und v o r allem Kunisch stark betonten, etwas zu kurz kommen. Sie betreffen das Dynamisch-Vorgangshafte, das allerdings dank seiner Langsamkeit und Dauerhaftigkeit wenig i n den Blick fällt. Beim Schutzbefohlenen ist es der Wachstumsprozeß i n seiner Störbarkeit, seinem Angewiesensein auf Schutz u n d Pflege; beim Betreuer ist es die angestrengt tätige Leistung des unermüdlichen Betrachtens, Schützens, Pflegens. V o n alledem hat die an sich höchst förderliche Konzentration auf die zuständlichen Grundformen, auf die Ziele und Ergebnisse solchen Tuns ein wenig abgelenkt. Gewiß geht es beim „Peruvianus" darum, i h n i n seiner ursprünglich angelegten Gestalt ehrfürchtig zu erkennen, wiederherzustellen, zu bewahren. Durchweg heben die Textstellen aber hervor, daß dazu aufmerksames, liebevolles Verständnis, geschulte Fertigkeit, beharrliche Geduld u n d kostspielige Vorkehrungen unerläßlich nötig sind, u n d z w a r i n einem Maße, das sich nicht v o n selbst versteht. Es versteht sich für die W e l t des ,Nachsommers' i m ganzen nicht v o n selbst — die oben genannten Beispiele einer sträflichen Vernachlässigung besagen es unmißverständlich. Aber das erforderliche M a ß an Mühe versteht sich auch nicht v o n selbst i n Kreisen, die der nachsommerlichen W e l t i m engeren Sinne, der W e l t Risachs, nahestehen. Z u m Beispiel die Familie Ingheim läßt es da i n mancher Hinsicht fehlen, u n d nicht bloß i m F a l l des „Cereus", der i n ihrem Gewächshaus verkümmert. Bei Stifter k ü n den solche unscheinbaren Einzelmängel ja immer das Vorhandensein anderer u n d größerer an, was der Leser auf den ersten Blick leicht übersieht. D i e Ingheims sind v o r allen übrigen Familien i n der Nachbarschaft diejenige, m i t welcher Risach und M a t h i l d e freundschaftlichen Umgang pflegen, die sie „sehr lieben" und „achten" (1,7,233), die ihrerseits an dem Rosenkult „ A n t e i l " n i m m t (234), u n d jedenfalls eine, die „als unter die gebildeten gehörig" gelten muß (243) 2 1 . U n d doch: Beim Besuch auf Inghof bemerkt Heinrich, daß Türme u n d Mauern des alten Schlosses „oben zu verfallen" beginnen. Das Haus dahinter ist „scheinbar unversehrt; aber v o n den m i t Brettern verschlagenen Fenstern schaut die Unbewohntheit u n d U n gastlichkeit herab" (240). A u f dem Asper- oder Sternenhofe wäre dergleichen unvorstellbar. Ja, i m selben K a p i t e l hören w i r , daß M a t h i l d e veranlaßt, i h r altertümliches Haus nicht bloß zu restaurieren; sondern vor allem auch zu restituieren u n d die alte W o h n k u l t u r zu regenerieren. M a n entfernt dazu die helle Tünche, m i t welcher man es Ende des 18. Jahrhunderts „überzogen" hat, „wahrscheinlich, u m es freundlicher zu machen" — laut Risach sehr zu „ U n r e c h t " . Das ist asketisch-skeptischer Vorbehalt gegen Lie21

Die folgenden Beobachtungen ζ. T. auch bei C. Oertel Sjogren , S. 665 f.

6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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bens Würdigkeit u n d Charme; ferner ehrfürchtig-redliches Bemühen u m die ursprünglich angelegte Gestalt, hier die grauen Natursteine. Gleichzeitig gewann man dadurch einen „zusammenstimmenden Eindruck" m i t den Farben des Daches u n d der Bäume (270); u n d auf „Zusammenstimmung" k a m es auch bei der Einrichtung der Z i m m e r an. Offenbar unter dem Eindruck dessen, was i n , W i l h e l m Meisters Lehrjahren', Buch V I , die „Schöne Seele" über das Schloß des Oheims berichtet, führt Stifter aus: D i e neuen M ö b e l sollten untereinander, zu den altertümlichen Räumen u n d auch zu den gegenwärtigen Bedürfnissen passen. Solche Möbel waren aus den Städten nicht erhältlich. Risach ließ sie deshalb m i t unendlicher Gewissenhaftigkeit i n seiner Werkstatt herstellen, u n d z w a r so, erläutert er, „daß w i r das A l tertum nicht geradezu nachahmten, sondern selbständige Gegenstände für die jetzige Zeit verfertigten m i t Spuren des Lernens an vergangenen Zeiten." Das w a r eine Regeneratio, die „Stillstand" u n d „Rückschritt" ebenso vermied wie „Zerrissenheit". D i e „Freiheit des Menschen" suchte hier die „ A l l m ä h l i c h k e i t " der Naturvorgänge, die den „Sprung" nicht kennen, „rein und weise" nadizuvollziehen (262 - 264). I m Hause D r e n d o r f muß, genau w i e i m Asper- u n d Sternenhof, jedes Zimmer „aussprechen, zu was es besonders bestimmt sei", u n d darf nicht „mehreres zugleich sein" (1,1,10). A u f dem Sternenhof befindet sich nur i m Vorsaal ein K l a v i e r (266). A u f dem Inghof dagegen steht eins i m großen Empfangsraum, eins i m Empfangsraum der Frau, u n d i n dem Arbeitszimmer der Mädchen „ w i e d e r " eins. D e m entsprechen die „prachtvollen Polster, die hier überall ausgelegt" sind; die Möbel, die offenbar „aus der ersten Werkstätte der Stadt" kamen; die Zimmer, die „sehr schön nach neuer A r t eingerichtet" sind. A l l das ist vortrefflich u n d sticht dennoch ungünstig ab v o n der W o h n k u l t u r Risadis u n d der Seinen. A n deren Besuchskleidung f ä l l t — u n d z w a r erst i n solcher Umgebung — auf, daß sie, „so edel der Stoff war, [ . . . ] doch keine übermäßige Verzierung oder gar Überladung" zeigte (241 f.). Das neue Haus der Ingheims endlich ist m i t jener freundlichen weiß-grauen Farbe getüncht, die man auf dem Sternenhof beseitigte. Es hebt sich schroff ab v o n dem verfallenen großen Schloß dahinter. Keineswegs ist es, wie man zunächst glaubt, unmittelbar an dieses W e r k „des A l tertums" angeschlossen, sondern durch einen breiten „ G r a b e n " davon getrennt (240). Überladener Prunk, freundliche M o d e r n i t ä t — u n d gleichzeitig Verkümmern des Alten, das doch seinerseits auf Felsengrund errichtet w a r ; Verkümmern des „Peruvianus" i m Gewächshauswinkel, „Zerrissenheit" u n d „Rückschritt" stören überall die „ A l l m ä h l i c h k e i t " naturgemäßen Wachstums.

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Z w e i respektable, sympathische Familien demnach, zwei Menschengruppen, die verbunden sind i n wechselseitiger Achtung, Anteilnahme, Liebe, verbunden d u r d i Gemeinsamkeit der äußeren Lebenssphäre, durch Hochschätzung derselben Werte, u n d doch unterschieden durch den G r a d der Vortrefflichkeit — so sehr, daß ihre Gemeinsamkeit sich abstuft bis z u m Gegensatz. D i e Ingheim-Mädchen sind hinreißende Wesen — ein Superlativ, dessen Uberbietung w i r k a u m für möglich halten. U n d doch erscheint N a t a l i e neben ihnen „ w e i t höher, wahr, k l a r u n d schön, daß jeder Vergleich aufhörte" (233); „ D a ß jeder Vergleich aufhörte" ist ein starkes W o r t . Es m a h n t uns abermals, auf Vergleiche, auf Abstufungen achtzugeben, die sich z u m Gegensatz verschärfen, ohne deshalb aufzuhören, Vergleiche, Abstufungen zu sein. Gemessen an der Kleidung, gewinnt es für Heinrich fernerhin den Anschein, „als ob Mathilde, Natalie, sein Gastfreund u n d selbst Gustav bedeutende Menschen wären, indeß jene einige aus der großen Menge darstellten, wie sie sich überall befinden" (232). Wieder ein starkes W o r t , u n d diesmal eins der stärksten, m i t denen der R o m a n den Gegenpol zur vorbildlichen Sphäre belegt. D a ß es dennoch eine Abstufung bleibt, bezeugt Vater Drendorfs Ausspruch, die i h m noch unbekannte N a t a l i e besitze W e r t u n d Güte w a h r scheinlich „ i n einem höheren M a ß als die Menschen, w i e sie i n größerer Menge jetzt überall sind" (111,1,528). Endlich verhüllt auch das Schlußurteil, das Heinrich über die beiden Familien fällt, die A n t i t h e t i k dämpfend hinter der Abstufung: „So saßen diese z w e i Abteilungen v o n Menschen an demselben Tische u n d bewegten sich i n demselben Zimmer, w i r k l i c h zwei Abteilungen v o n Menschen" (234). Stifter h ä l t den Satz, w i e er es gerne tut, i n einer eigentümlichen Schwebe. Einerseits betont er, daß jene Menschen trotz ihrer Verschiedenheit zusammen sind; das ist das Verbindende, Umschließende, das z u aller Abstufung gehört. Zugleich w i r d jedoch hervorgehoben, daß eben jene Menschen trotz ihres Zusammenseins v ö l l i g verschieden sind; das ist das Antithetische, das gleichfalls zum Abstufen gehört. Es gehört auch i m »Nachsommer* dazu, wenngleich es v o n dem verbindenden komparativischen M o m e n t gedämpft u n d weitgehend verhüllt w i r d . Das mag dazu verführt haben, das W e l t b i l d des Romans m i t dem vollendeten Gradualismus eines harmoniedurchwalteten O r d o gleichzusetzen, das Gewinnen der H ö h e m i t einem widerstandslosen Wachstum, i h r Bewahren m i t unangefochtenem Besitz u n d das Z u rückbleiben hinter ihr m i t einer Abstufung, die eben bloß graduell, immer noch überwindbar ist, keinen unheilbaren Schaden stiftet u n d jedenfalls nie einen unüberbrückbaren, w a h r h a f t antithetischen Kontrast z u m V o l l k o m menen, Rechten, Guten bildet. V i c t o r Lange etwa hat das allmähliche, 6*

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schritt- u n d stufenweise Erfahren, Erkennen u n d Erfüllen der Grundpositionen so gesehen u n d daraus gefolgert, dem Prinzip der Abstufung sei hier das antithetische M o m e n t ganz fremd: „Wissen u n d Nichtwissen, Kennen u n d Nichtkennen, Vermögen u n d Unvermögen stehen sich deshbalb i m Handlungsgefüge nicht als Antithesen gegenüber, sondern werden als graduelle Stufen einer allmählichen E r f ü l l u n g der immanenten O r d n u n g gezeigt."22 Genaugenommen — u n d w i r können es offenbar gar nicht genau genug nehmen — t r i f f t Langes Konzeption indessen nicht einmal für einen musterhaft ablaufenden Reifeprozeß wie denjenigen Heinrichs zu. Vielmehr würde hier ähnlich w i e i n ,Brigitta' das Stehenbleiben auf einer der Vorstufen zur Vollendung, so respektabel das erreichte N i v e a u auch wäre, immer noch allzugroße U n v o l l k o m m e n h e i t bedeuten. C. Oertel Sjogren verdeutlicht das etwa an dem, was Heinrich i m H i n b l i c k auf den Kaktus u n d den Gärtner allmählich erst hinzulernt und v o r allem an den Ingheims. Sie rechnet die Familie einer Sphäre zu, die Risachs W e l t eindeutig entgegengesetzt ist. 2 3 D a m i t verschiebt auch sie das v o m Text dargebotene Gleichgewicht zwischen Abstufung u n d A n t i t h e t i k , nur verschiebt sie es zugunsten der letzteren. Prüfen w i r dieses strittige Verhältnis endlich noch an einem Kommentar des Dichters nach. Er schreibt 2 4 : „ I c h habe ein tieferes und reicheres Leben, als es gewöhnlich v o r k o m m t , i n dem Werke zeichnen w o l len, u n d zwar i n seiner Vollendung u n d z u m Uberblicke entfaltet daliegend i n Risach und Mathilden, z u m T e i l auch, u n d zwar i n einseitigeren Richtungen, i m Kaufmanne u n d seiner Frau, selbst etwas audi i n Eustadi u n d sogar dem Gärtner: i n seiner Entwicklung begriffen u n d an jenem v o l l endeten Leben reifend i n dem jungen Naturforscher, an Natalie, R o l a n d [ . . . ] Das gewöhnliche Leben, u n d zwar nicht gerade ein gemeines, ist i m Inghof, i n den Gesellschaften der Stadt u n d i m Besuch i m Sternhof angedeutet." Der gültige u n d der Gegenbereich heben sich hier voneinander so deutlich ab wie i m Roman. U n d doch bemüht sich Stifter sorgfältig darum, die A n t i t h e t i k abzudämpfen durch das komparativisch abstufende Moment. C. Oertel-Sjogren schießt demnach übers Ziel, wenn sie v o n der moralischen Läßlichkeit, der K o r r u p t i o n der Ingheims spricht u n d dieses an sich nicht unzutreffende U r t e i l durch das leicht mildernde A t t r i b u t „incipient ( = einsetzend) doch nicht genügend einschränkt. 2 5 Sogar Lange, der die A n t i t h e t i k grundsätzlich leugnet, f ä l l t trotzdem einmal allzu k r ä f t i g i n eben dies E x 22

a.a.O. S. 62. a.a.O. S. 665 - 669. Hinweise in dieser Richtung schon bei Konrad Steffen, Adalbert Stifter. Deutungen, 1955, S. 220. 24 11.2.58 an Heckenast. 25 a.a.O. S. 666. 23

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trem. A l l e i n i n der Figur Rolands erblickt er, v o n Risachs eigensinniger U n geduld i m Rückblick* abgesehen, „die Gefahr der Unruhe u n d der unzureichenden geistigen D i s z i p l i n angedeutet; nur hier scheint so etwas wie ein Zeichen des leidenschaftlichen Bösen tatsächlich i n Erscheinung zu tret e n . " 2 6 Stifters Brief läßt jedoch vermuten, daß Risachs Einfluß siegreich bleibt. Indessen ist es richtig, daß R o l a n d beträchtlichen Widerstand leistet. W i e die Inghofs ist er Beispiel dafür, daß generell die Abstufung sich hier bis zur A n t i t h e t i k verschärfen k a n n u n d doch Abstufung bleibt. Derartige Beobachtungen können lehren, w i e i n n i g A n t i t h e t i k u n d A b stufung sich ganz allgemein i m ,Nachsommer' durchdringen, u n d wie leicht der Interpret verführt w i r d , die eine der anderen preiszugeben oder die eine m i t der anderen zu vertauschen. Wer nur Abstufung oder A n t i t h e t i k gelten läßt, w i r d leicht verkennen, wie viele Stufen erstiegen und welche Widerstände überwunden werden müssen, bis endlich Vollkommenheit erreicht ist. U n d wie gefährlich nahe andererseits das Zulängliche immer an das Unzulängliche grenzt. Dieses mag man leicht erkennen, w o es unverh ü l l t zu Tage t r i t t , jedoch sehr leicht übersehen, w o es i m trügerischen Gew a n d einer Vortrefflichkeit erscheint, die noch nicht Vollendung ist, sondern nur Vorstufe — u n d daher womöglich Gegensatz dazu. Es k o m m t demnach alles darauf an, daß w i r differenzieren, daß w i r m i t feinsten Nuancen rechnen. Selbst das Vortreffliche mag hier noch längst nicht gut genug sein. Jedenfalls reicht es erst aus, wenn es v o l l k o m m e n ist. Bis dahin bleibt es unzulänglich. M a n soll „das, was nicht gerade mißlungen ist [ . . . ] nicht sogleich loben" (111,3,623) u n d nie sagen: „Es ist so auch recht" (1,4,89). N i c h t bloß zwischen Wissen u n d Nichtwissen, Können u n d Nichtkönnen gibt es hier Gradunterschiede, die auf eine Antithese hinauslaufen, sondern schon zwischen Wissen u n d Wissen, Können u n d Können, also innerhalb des Vortrefflichen selbst. Welch langen Weg muß sogar der v o n A n f a n g an so musterhafte Heinrich zurücklegen, bis man i h n am Ende w ü r d i g befindet, zu heiraten u n d eine Familie zu gründen. U n d sogar das bildet, wie auch Stifters brieflicher Kommentar andeutet, erst die Basis für die weitere Entwicklung zur Vollkommenheit, zur endgültigen „Gestalt". Je näher Heinrich innerhalb des Romans seinem Ziele rückt, u m so größere Schwierigkeiten muß er überwinden. Gleichnis dafür sind seine Wanderungen, die immer weiter ausgreifen. U n d die winterliche Gipfelbesteigung, welche die Eingesessenen für undurchführbar erklären, gelingt nur auf G r u n d jahrelanger Übung, vernünftig ausgewerteter Erfahrungen u n d sorgfältiger Vorbereitungen. 2

« Lange, S. 70.

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Das gilt, entsprechend abgewandelt, v o n jeder anderen Stufe audi, etwa v o n der Weltreise. Wenn w i r die Schwierigkeiten gewöhnlich übersehen, so deshalb, w e i l eben i m voraus auf jeder vorangegangenen Stufe das Nötige, u n d z w a r alles N ö t i g e getan ist, u m die Bewältigung zu gewährleisten. Geschieht das nicht, bleibt die Vorsorge nur u m einen oder wenige Grade hinter dem höchst möglichen M a ß zurück, so kann das Ergebnis k a u m v o l l kommen sein; ja, ein ganzes Leben k a n n u m seine Entfaltung, u m sein v o l les Erblühen kommen. Redet Stifter da einem pedantischen, geradezu fanatischen Perfektionismus das W o r t , so steht dahinter ein leidvolles Wissen u m die Gebrechlichkeit der Dinge. D i e unerbittliche Strenge des Postulates entspricht dem unversöhnlichen Hadern, m i t welchem Risach u n d insbesondere M a t h i l d e dem versäumten Sommer nachtrauern. Der K u l t des allsommerlichen Rosenfestes ist v o r allem eine feierliche Anklage, ist Klage über den Sommer, der nicht gewesen w a r . 2 7 „ W i r s t du doch immer aufs neue hervorgebracht, herrlich Ebenbild G o t tes! [ . . . ] u n d wirst sogleich wieder beschädigt, verletzt v o n innen oder v o n außen." Dieser Ausruf a m Ende v o n »Wilhelm Meisters Wander jähren* könnte dem ,Nachsommer' als M o t t o dienen. D e r Verwundbarkeit des Lebens entspricht der A u f w a n d an Schutzvorrichtungen; ein A u f w a n d , den Goethe treibt, ohne recht an den E r f o l g zu glauben, während Stifter sein erfolggekröntes Musterbeispiel skeptisch abgrenzt gegen Fälle des M i ß l i n gens, w o der A u f w a n d nicht ganz vollkommen, w o auch der verantwortliche Mensch nicht ganz vollkommen, u n d das heißt: w o beide allzu u n v o l l kommen sind. M e h r noch als bei Goethe nämlich verbindet sich bei Stifter die Vollendung des Menschen m i t der Vollendung, die er als Beschützer u n d 27 Risachs Kräfte „uniblühen den Herbst dieses Menschen und zeigen, welch ein Sommer hätte sein können, wenn einer gewesen wäre." 2.1.55 an Heckenast. Eine selten erwähnte Stelle im Roman vereint jenes Hadern mit einer Art masochistischen Genießens; ja, sie rechtfertigt den Nachsommer prinzipiell als freie Wahlmöglichkeit. Diese Zwiespältigkeit des Nadisommerbegriffs, die uns noch beschäftigen wird, hat wieder mit dem Doppelprinzip von Abstufung und Antithetik zu tun, wovon an jener Stelle ebenfalls die Rede ist: Wenn in der Kunst „der rechten Anlage der rechte Gegenstand" nicht zugeführt wird, so ist doch nicht „ihr Zweck ganz verfehlt"; „das Suchen und dae, was sie in diesem Suchen fördert, und in sich und anderen erzeugt, war ihr Zweck. Es müssen eben verschiedene, und zwar verschieden hohe und verschieden geartete Stufen erstiegen werden. Wenn jede Anlage mit völliger Blindheit ihrem Gegenstande zugeführt würde, und ihn ergreifen und erschöpfen müßte, so wäre eine viel schönere und reichere Blume dahin, die Freiheit der Seele, die ihre Anlage einem Gegenstande zuwenden kann oder sich von ihm fernhalten, die ihr Paradies sehen, sich von ihm abwenden und dann trauern kann, daß sie sich von ihm abgewendet hat, oder die endlich in das Paradies eingeht, und sich glücklich fühlt, daß sie eingegangen ist" (111,2,554). Aus den zahlreichen Belegen des Stufenbegriffs vgl. zwei zur Kulturgeschichte: hier gebe es „Maße und Abstufungen wie in allen Dingen des Lebens"; und: „Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen werden" (11,4, 468, 471).

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Betreuer erreicht. Das sieht man beispielhaft an Heinrich. Während des v o r bereitenden Umgangs m i t Steinen, Tieren, wirtschaftlichen Anlagen, Bauu n d Kunstwerken reift er zugleich z u m Leiter seiner geologischen Expedition, z u m Bergführer zuerst Gustavs, dann Klothildens, schließlich z u m Ehegatten Natalies u n d z u m Oberhaupt seiner Familie heran. D e r Erzogene w i r d z u m Erzieher. Er w i r d dazu erzogen. Der zentrale u n d alles tragende Vorgang des Romans, sein Thema ist: Erziehung. Erziehung hat hier freilich einen sehr v i e l weiteren Sinn als üblich. Sie konstituiert den Menschen u n d die Welt. I m Zeichen dieser Fundamentalkategorie erkennen w i r die verantwortliche Stellung des Menschen i n der W e l t ; den Zusammenhang, auf welchen h i n die W e l t angelegt ist, das V o r handensein v o n K r ä f t e n (das „sanfte Gesetz"), „die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen", die alles tun, „was z u m Bestehen u n d z u m Entwickeln desselben notwendig ist. Sie sichern den Bestand des Einen u n d dadurch den A l l e r . Wenn aber Jemand [ . . . ] die Bedingungen des Daseins eines Anderen zerstört", so helfen sie u n d „stellen den Stand wieder her", daß der Unterdrückte als „ e i n Mensch neben dem Anderen bestehe. Es ist das Gesetz dieser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das w i l l , daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem A n d e r n bestehe, daß er seine höhere, menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe u n d Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als K l e i n o d gehütet werde, w i e jeder Mensch ein K l e i n o d für alle anderen Menschen ist." M i t diesen zentralen Sätzen aus der ,Vorrede* zu den ,Bunten Steinen* stoßen w i r auf das W e l t b i l d Stifters u n d seines Romans. Es ist dasjenige, auf welchem das vormärzliche Österreich seine bürgerlich-aristokratische Lebenskultur des Biedermeier erwachsen ließ; es ist das W e l t b i l d des Josephinismus. Stifter hat es auf der Benediktinerschule zu Kremsmünster i n sich aufgenommen; u n d beschwörend h ä l t er es einer W e l t entgegen, die 1848 aus den Fugen zu gehen drohte. W i e jene historische Verbindung zwischen A u f k l ä r u n g u n d Katholizismus, v o n Aristoteles u n d Leibniz, Thomas und W o l f , sich i n Stifters Schaffen niederschlug, hat man bisher mehr an E i n zelzügen nachgewiesen. 28 U m r i ß u n d Geist der Konzeption spiegeln sich jedoch i m Ganzen des ,Nachsommer c -Romans. U n d nur v o n hier aus werden Sinn u n d Absicht des Werkes v o l l verständlich. Es handelt sich u m die altehrwürdige Vorstellung der W e l t als eines hierarchisch abgestuften O r d o , w o r i n jedem I n d i v i d u u m sein Platz u n d seine 28 Vgl. Curt Hohoff, Adalbert Stifter, 1949, S. 106-112; Rehm., S. 82 f., und besonders Kunisch wiederholt. Ferner Fischer, S. 603 f.

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Aufgabe zugewiesen sind. N u r auf diesem Platz u n d i m Erfüllen dieser Aufgabe gewinnt es sein wahres Sein, das es nämlich keineswegs v o n v o r n herein besitzt. Denn die ursprüngliche O r d n u n g ist gestört, seitdem die Schöpfung v o n G o t t abfiel. N i c h t alles ist am rechten Platz u n d strebt seinem wahren Z i e l zu. A m ehesten g i l t das noch i n der N a t u r , am wenigsten beim Menschen. U n d er hat sogar die Freiheit, sich seinem Telos zu entziehen, das allerdings auch nicht immer leicht erkennbar ist. U m es zu erkennen und u m seine W i r k k r a f t freizusetzen, bedarf es der O r d n u n g i m Menschen u n d u m i h n herum. Seine V e r n u n f t muß v o n den Trübungen der Leidenschaft befreit, u n d u m i h n herum müssen Mensch u n d D i n g i m Einvernehmen sein, das heißt, auf ihrem wahren Platz, i n ihrem wahren Sein, oder wenigstens auf dem Weg dorthin. Sie müssen, soweit sie dazu imstande sind, i h n i n seinem Eigenwert, der zugleich sein W e r t fürs Ganze ist, erkennen, achten u n d befördern. V o n hier aus w i r d sinnvoll, was Risadi u n d Vater D r e n d o r f so scharf betonen u n d was sich zunächst so stark m i t H u m boldts humanistischem Individualismus berührt, der Gedanke nämlich, daß „der Mensch seinen Lebensweg seiner selbst willen, zur vollständigen E r f ü l lung seiner K r ä f t e wählen soll. Dadurch dient er auch dem Ganzen am besten, wie er nur immer dienen kann. Es wäre die schwerste Sünde, seinen Weg nur ausschließlich dazu zu wählen [ . . . ] der Menschheit nützlich zu werden. M a n gäbe sich selber auf und müßte [ . . . ] i m eigentlichen Sinn sein P f u n d vergraben." So Risadi (111,3,633). I m gleichen Sinn erklärt Vater D r e n d o r f (1,1,17 f.), „ D e r Mensch sei nicht zuerst der menschlichen Gesellschaft wegen da, sondern seiner selbst willen. U n d wenn jeder seiner selbst w i l l e n auf die beste A r t da sei, so sei er es auch für die menschliche Gesellschaft. W e n G o t t z u m besten Maler auf dieser W e l t geschaffen hatte, der würde der Menschheit einen schlechten Dienst tun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte. [ . . . ] Dies zeige sich immer d u r d i einen inneren D r a n g an, [ . . . ] der es sagt und der zu den Dingen führt, i n denen man sein Glück u n d seine Befriedigung findet. G o t t lenkt es sdion so, daß die Gaben gehörig verteilt sind." Aber w i e der Mensch i n seiner individuellen Wesenheit befördert sein möchte, so muß er umgekehrt auch seinerseits die I n d i v i d u e n u m sich herum auf ihrem Platz, i n ihrem Sein respektieren, erkennen, schützen u n d befördern. N u r so h i l f t er jene O r d n u n g herstellen u n d erhalten, die er selber braucht, u m zu gedeihen. D e r Mensch vollendet sich hier erst, wenn und indem er auch den Menschen u n d den Dingen u m sich herum zur Vollendung oder, wie Stifter gerne sagt, zu ihrer „Wesenheit" u n d damit zu ihrem rechten Platz i m Weltzusammenhang verhilft. Aus dem Zögling muß der Pfleger u n d Erzieher werden. Andernfalls versündigt er sich an Dingen u n d Menschen, an der W e l t u n d an sich selbst. U n d umgekehrt ist es dann nicht

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erstaunlich, wenn der Dichter, dem die Bedingungen seines Daseins, nämlich seines Dichtens, zerstört zu werden drohen, die vorwurfsvolle Klage erhebt: „ I c h glaube, daß die Dinge sich an m i r versündigen." 2 9 Es liegt also tief i m W e l t b i l d des Romans begründet, wenn w i r v o n Erziehung u n d v o n Stufen sprechen: v o n Stufen des Wachsens, des V e r v o l l kommnens u n d — wenn letzteres zurückbleiben k a n n hinter dem Grade, den die erreichte Wachstumsphase an sich möglich macht u n d daher fordert: — v o n Stufen des Vortrefflichen. Dieser keineswegs perfekte, w o h l aber auf mögliche Perfektion h i n angelegte gradualistische O r d o samt seinem strengen universalen Erziehungspostulat bringt es unausweichlich m i t sich, daß schon die k a u m merklichen Abstufungen des Vortrefflichen „Sünde", unheilbringenden Mangel, Antithese z u m Rechten, Guten darstellen und hervorrufen. W e i l sie aber eben als graduelle Abstufungen des V o l l k o m menen erscheinen, k a n n es nur allzu leicht geschehen, daß man die A n t i these, die Sünde nicht bemerkt. Für die dichterische Figur wie für den Leser w i r d demnach die Feinheit der dennoch so schwerwiegenden Nuancen leicht z u m Fallstrick, nämlich zur Versuchung, sich zufriedenzugeben m i t einem Grade des Vortrefflichen, der hoch sein mag, sehr hoch sogar, der hinter dem Vollkommenen nur wenig zurückbleibt — vielleicht aber ist das schon so viel, daß man v o n Verfehlung sprechen muß. E i n kleiner Schritt v o m Wege, u n d der Schaden kann unabsehbar sein. Dergleichen vermeiden, heißt also „Sünde" vermeiden, u n d ist heilige Pflicht. Risach u n d die Seinen wissen das. Ja, dieses Wissen, diese Sorge, schafft die M o t i v - und Stimmungsgrundlage all ihres Tuns u n d der A r t , w i e sie ihr T u n verrichten: eben die feierliche, strenge u n d angestrengte Gewissenhaftigkeit, m i t der sie die Dinge immer wieder betrachten, benennen, i n ihrer „Wesenheit" ehren u n d erörtern. Rehm folgt m. E. einer Wunschvorstellung, wenn er von der „heiteren Gegenwart und gelassenen Entspanntheit" des Buches spricht. 3 0 Es gibt hier j a k a u m ein Lächeln, nie ein Lachen. D i e heilige Sorge-Pflicht verbietet es. Erst i m Schlußkapitel gibt es offene Heiterkeit u n d Scherz; hier herrschen Genugtuung, Glück u n d Freude, denn ein T e i l der Ernte ist glücklich i n die Scheuer gebracht: Heinrich u n d N a t a l i e sind ein Paar. Indessen sind die Aufgaben u n d Sorgen damit nicht zu Ende. Wachsamkeit bleibt weiterhin geboten. I n m i t t e n der festlichen Hochstimmung n i m m t Risach sich vor, demnächst zu bedenken, „was etwa not t u t " für die Z u k u n f t Gustavs u n d Rolands (733, 753). So front man i n diesem Bezirk einem strengen K u l t , einem ernsten, schwer lastenden Dienst. Sicher ist das Schutzwehr; Schutzwehr gegen das Chaos, das hinter der Nach2

» 13. 5. 54 an Heckenast. A.a.O. S. 117.

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sommerweit lauert. 3 1 Zuerst aber ist es eine Schutz wehr gegen den kleinen, verhängnisvollen Schritt v o m Wege, gegen das Nicht-Genug an Erkennen, Achten, Schützen u n d Befördern. Denn hier darf man audi nicht u m einen G r a d zurückbleiben hinter dem Vollkommenen. Das extreme Ausmaß dieses Perfektionismus hat man bisher verkannt, u n d ebenso die A r t u n d Weise, w i e die A n t i t h e t i k das P r i n z i p der Abstufung durchwebt u n d m i t schweren Akzenten besetzt. N u r deshalb w o h l vermögen viele Leser, denen der ,Nachsommer* eine A r t Evangelium bedeutet, sich m i t Risadi u n d den Seinen zu identifizieren, sich m i t ihnen auf der esoterisdien H ö h e des Richtigen u n d Guten zu wähnen, v o n w o sie, wie ja auch jene, nicht ohne selbstgefälliges Uberlegenheitsgefühl nachsichtig k ü h l auf das unzulängliche Treiben der gewöhnlichen Sterblichen herabblicken. Das eben können sie, w e i l sie, w i e die K r i t i k es fast durchgehend spiegelt, ohne Umstände alle Personen, die Risach liebt u n d achtet, m i t zu den Eingeweihten, Auserwählten rechnen — ohne zu gewahren, daß die Betreffenden, u n d vielleicht sie selbst, v o n Risach durch beträchtliche Stufen geschieden sind — womöglich v o n i h m mehr als v o n der Menge der gewöhnlichen Menschen. W i r fanden das z u m Beispiel an den Mitgliedern der Familie Ingheim. Sie u n d der Kreis u m Risach unterscheiden sich als „ z w e i Abteilungen v o n Menschen". D i e Trefflichkeit, die sie fraglos besitzen, bleibt trotzdem deutlich hinter derjenigen Risachs zurück. Es gibt Mißverhältnisse, Verfehlungen, die bei jenem nicht vorzustellen wären. M a n denke an den Kaktus. „Sie schätzen i h n nicht so hoch" (1,5,120). Sie „achten" i h n nicht u n d machen ihre Besucher nicht auf i h n aufmerksam. „Sie bringen i h n nie zur Blüte." So klagt, oder vielmehr, tadelt der Gärtner; u n d zuversichtlich fügt er hinzu: „ W e n n ich i h n hier hätte, so w ü r d e er b a l d so weiß wie meine Haare blühen, natürlich viel weißer" (1,7,248). Dann, v o r der entfalteten Blüte, sagt er: „ M i r ist es geglückt, sie blühen zu machen — u n d gerade heute" (111,5,744). M i t Recht ist er stolz: denn es w a r schwierig; u n d es glückte nur, w e i l Achtung, Kenntnis, Pflege, die der N a t u r z u H i l f e kamen, schlechthin v o l l k o m m e n waren: Beispiel u n d M o d e l l für das, was dem M e n schen hier aufgegeben ist. Heinrich u n d der alte Risach sind m i t diesem zeichenhaften Vorgang vielsagend verbunden: der eine lernt, das mißachtete Gewächs zu schätzen und 31 Müsch g, S. 201. Audi Max Rychrter betont den extremen Ernst des Romans, der ein einziges liturgisches Ritual sei. In ihm walte eine „mühsam bezwungene, gelegentlich nurmehr verstellt Leere; [ . . . ] ein verzweifeltes Festhalten von Dingen, die man entgleiten fühlt und im Innersten bereits entglitten weiß." (Stifters Nachsommer' in: Interpretationen. Deutsche Romane von Grimmelshausen bis Musil, hrsg. Jost Schillemeit, 1966, S. 193.

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sich für seine Wiederherstellung einzusetzen; der andere e r w i r b t es u n d gew ä h r t die nötigen M i t t e l , w o m i t er zugleich seinen Zögling darin unterstützt, sich tätig einzugliedern i n den allseitigen Erziehungs-, Schutz- u n d Pflegeprozeß der W e l t .

Der

Rückblick:

Antithese

zum

richtigen

Erziehen

Das Erziehungswerk, das Risach an Heinrich vollbringt, steht i m M i t t e l p u n k t des Romans. Es gehört indessen i n den größeren Umkreis v o n R i sadis Dasein als Pfleger und Erzieher überhaupt. N u r w e i l er den Dingen zu ihrer Wesenheit verhelfen kann, vermag er es auch bei Heinrich. U n d er lehrt Heinrich den genauen U m g a n g m i t den Dingen, w e i l nur i m Zusammenhang damit ein wahrhaft fördernder Umgang m i t Menschen möglich ist. Solche pedantische T o t a l i t ä t des Erziehungsprogramms mag einleuchten v o r dem H i n t e r g r u n d jenes Ordo, den w i r aus dem Roman abstrahiert haben. Sie müßte aber, soll der Bau des Werkes selber bündig sein, auch i m R ü c k blick* eine zentrale Rolle spielen. H i e r erhalten ja Risachs Intentionen ihre Kontrastfolie. H i e r entsteht die k a u m vernarbte u n d noch immer schmerzende Wunde, die das Nachsommermotiv m i t bezeichnet. Mathildes Eltern aber, die berufen waren, eine solche Wunde zu verhüten u n d das Lebensglück der jungen Leute zur Blüte zu entfalten, haben dies jedenfalls nicht vermocht. Warum? Darüber erwarten w i r etwas zu hören. D e n n wenn auch Risach u n d M a t h i l d e Fehler machten, so w a r es doch Aufgabe u n d Pflicht der Eltern, achtzugeben u n d dergleichen zu verhüten. Einer so kririschen Betrachtung hat man die Eltern bisher niemals unterworfen. U n d i n der T a t , sie sind vortrefflich, verantwortungsbewußt, liebenswürdig. Indessen, sind sie das alles i n Vollendung? U n d überhaupt Liebenswürdigkeit: beeinträchtigt sie nicht vielleicht den angestrengt genauen Ernst, der i n allen Dingen nottut? Gewiß, es geht i m Rückblick' auch u m das M o t i v , das man stets hervorzuheben pflegt, nämlich u m das schuldhafte Versagen der jungen Leute. M a t h i l d e bittet ja Risach später u m „Vergebung". Gleichzeitig aber ist sie selbst ein „ B i l d der Vergebung" — ein Paradox, das man indessen k a u m beachtet hat, o b w o h l v o n jenem „ B i l d " zweimal die Rede ist, Heinrich öfter daran d e n k t 3 2 u n d B i l d hier offenbar soviel besagt w i e : Ausdruck eines bleibend herausgebildeten Wesenskernes, i n d i v i d u e l l verkörpertes „ U r b i l d " , „ G e s t a l t " . 3 3 M a t h i l d e ist demnach, audi wenn sie bereut, trotzdem 32

Vgl. 1,7, 233, und 11,3, 415. Die Bedeutung von „Gestalt" ( = „Urbild") erörtern Konrad Steffen, 223, 237; und Ch. Oertel Sjogren , 665 -671. Über „Gestaltung" siehe Hohoff, S. 151. 33

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i m tiefsten Wesen nicht Bereuende, u m Vergebung bittende, sondern eine, die ihrerseits vergibt! Das verschiebt den A k z e n t entschieden über ihre Schuld hinaus u n d auch über diejenige Risachs, den sie selbst ja u m Vergebung bittet. D a m i t drängt sich uns die Frage auf: Was u n d w e m vergibt Mathilde? Schon die eben angestellte Vorüberlegung k a n n uns hier weiterhelfen. Risach u n d M a t h i l d e wollen doch, so heißt es, die beiden jungen Leute v o r ihrem eigenen Los bewahren: davor, daß sie den Sommer des Lebens, die Liebeserfüllung in der Ehe u n d die Familiengründung verfehlen. Gleiches w o l l t e n Mathildes Eltern: so erklärt die M u t t e r ausdrücklich, u n d so verlangt es das Gesetz, wonach „jeder Mensch ein K l e i n o d für alle andern Menschen ist" u n d diese sich erst vollenden, wenn sie das ihnen A n vertraute „als ein K l e i n o d " hüten, pflegen, fördern. Mathildes Eltern ist das nicht gelungen. U n d so liegt allerdings die oben berührte Frage nahe: Sollten am Ende sie es sein, denen etwas zu vergeben wäre, die schuldhaft versagt hätten . . . ? Betrachten w i r , was damals i n Heinbach vorging. Der junge Risach erhält das Angebot, dort Hauslehrer des kleinen A l f r e d zu werden. Er n i m m t an, vorzüglich, w e i l er hörte, daß H e r r M a k l o d e n „ e i n sehr guter M a n n sei, m i t dem sich jedermann vertrage, u n d daß er eine treffliche, sorgsame Frau habe" (649) — ein U r t e i l , das niemals i n Frage gestellt w i r d u n d m i t dem sich denn auch die K r i t i k zufrieden gab. Risachs Einzug vollzieht sich i n den zeremoniellen Formen, die der Leser an diesem P u n k t des Romans bereits gewöhnt ist u n d erwartet. Der junge M a n n stattet der Dame des Hauses seinen Antrittsbesuch ab, nach denselben umständlichen Präliminarien, die w i r v o m Asper- u n d Sternenhof her kennen. Indessen, gerade w e i l w i r vertraut sind m i t dem, was i n jenen Häusern Brauch ist, muß uns hier, i n Heinbach, doch manches aufhorchen u n d stutzen lassen. Risach, u n d w i r m i t ihm, erblicken erstmals Mathildes M u t t e r — u n d sogleich teilen w i r seinen Schrecken. Sie hat „sehr schöne braune Haare, aber tief dunkle große, schwarze Augen. Ich erschrak ein wenig", berichtet Risach, „ w u ß t e aber nicht w a r u m " (650). Auch w i r können es nur vermuten. Das „aber" rückt die Augen der Frau i n einen zunächst rätselhaften und deshalb etwas unheimlichen Kontrast zu den Haaren. Deren A t t r i b u t e — „sehr schöne braune H a a r e " — klingen wie „hell, frisch, k r ä f t i g " , verglichen m i t der gleichsam immer schwerer, immer dunkler werdenden u n d immer tiefer sinkenden Last der Reihe: „tiefdunkle, große, schwarze A u gen". Sind das die A t t r i b u t e der Melancholie, wie Muschg glaubt, 3 4 oder 34 Muschg, S. 186 f.

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die der Leidenschaft, die notwendig i n Melancholie endet? Das alles bleibt unbestimmt, irrational, könnte uns allerdings gerade deshalb tief beunruhigen. Befremden mag uns auch eine erste kleine Abweichung v o m Nachsommer-Kodex. Frau Makloden heißt den N e u a n k ö m m l i n g „beinahe herzlich w i l l k o m m e n " u n d erklärt, sie habe „sich schon sehr gesehnt", i h n „unter ihrem Dache zu sehen". Sie nennt ihn, den sie doch noch gar nicht kennt, trotzdem sogleich beim „ V o r - u n d Familiennamen" (650) — u n d man erinnere sich nur daran, w i e auffallend lange die erste Namensnennung z w i schen Risach u n d Heinrich hinausgezögert w i r d . D a ß man hier nichts Verdächtiges bemerkte, ist z w a r verständlich. Ja, diese stürmische Wärme wurde v o n den i n dieser Hinsicht nicht verwöhnten Lesern gewiß als wohltuend begrüßt; u n d vielleicht ist ja auch unser Mißtrauen ganz unberechtigt. T u t doch die Dame i m folgenden eine Ansicht v o n Erziehung kund, die über jedes L o b erhaben zu sein scheint u n d die man seit jeher direkt auf den alten Risach bezieht, den schlechthin vorbildlichen Pädagogen, 35 der selbst sich freilich niemals so schön vernehmen läßt. Sie sagt: „Erziehung ist w o h l nichts als Umgang [ . . . ] . Der Unterricht ist viel leichter als die Erziehung. Z u i h m darf man nur etwas wissen und mitteilen können, zur Erziehung muß man etwas sein. W e n n aber einmal jemand etwas ist, dann, glaube ich, erzieht er auch leicht" (650 f.). U n d sie fügt hinzu: „Meine Freundin hat m i r v o n Euch erzählt. W e n n I h r es für gut findet, den Knaben auch i n i r gend etwas zu unterrichten, so ist es Eurem Ermessen überlassen, wie u n d wie w e i t I h r es t u t " (650 f.). Das schließt ein: er, Risach, sei „etwas" u n d erziehe also auch „leicht". U n d es schließt ein Weiteres ein. W i r spüren es, wie v o r h i n bei Risachs Erschrecken, an der Reaktion des Angeredeten. Er errötet u n d ist sprachlos. U m i h m aus der Verlegenheit zu helfen, stellt Frau M a k l o d e n ihn u n d Mathilde einander v o r ; doch das h i l f t nur „ z u m großen Teile". Sie selbst erwartet auf ihre „Rede auch wahrscheinlich" keine A n t w o r t (651). D i e I m p l i k a t i o n w i r d damit deutlich: das vielberedete Pathos der D i s t a n z , 3 6 das Gebot, den Mitmenschen zu schonen, w i r d durch solche überstürzten liebenswürdigen Komplimente schwer verletzt, gemessen am Kodex des ,Nachsommer* u n d gewiß auch schon an unseren landläufigen Maßen. Einen Menschen, dem man z u m ersten M a l begegnet, nennt man nicht gleich bei V o r - u n d Familiennamen; man sagt einem jungen Mann, wenn man i h n z u verantwortlicher Aufgabe berief, weder, daß er eine bedeutende Persön35 Ζ. B. Adalbert Schmidt: Dichtung und Dichter Österreichs im 19. und 20. Jahrhundert, 2 Bde. 1964; 1. Bd., S. 132. 36 Rychner, S. 192.

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lichkeit sei, noch daß die Lösung seiner Aufgabe leicht sei u n d sich geradezu v o n selbst ergebe. Das Erste k a n n der so Ausgezeichnete, den w i r uns k a u m älter als Heinrich D r e n d o r f vorzustellen haben, schlechterdings nicht guten Gewissens akzeptieren; u n d er t u t es ja auch nicht. Das Zweite w i d e r streitet auf das schärfste dem Gewicht, das Risach u n d Vater D r e n d o r f der Aufgabe des Erziehens beimessen. Gewiß stellt i h r „ U m g a n g " , w i e w i r bereits hörten, das wichtigste Erziehungsmedium dar. Insofern sagt Mathildes M u t t e r etwas Richtiges. Aber jene beiden reifen Männer, die sicher — u n d hier eben setzen die U n t e r schiede ein — „etwas" sind, verlassen sich doch keineswegs darauf, daß sich n u n alles Erziehen v o n selber mache. D e r M ü h e des sorgfältigen Planens, Lenkens u n d Uberwachens glauben sie sich keineswegs enthoben. V i e l mehr bewährt sich, daß sie „etwas" sind, erst durch die unüberbietbare Gewissenhaftigkeit, m i t der sie sich diesem Geschäfte unterziehen, i m ernsten Bewußtsein der V e r a n t w o r t u n g u n d Schwere ihrer Aufgabe, Größte A u f merksamkeit schenken sie dabei dem Unterricht. Sie überlassen es niemandes „Ermessen", ob ihre Zöglinge i n „irgend etwas" unterrichtet werden, sondern setzen es nach eingehender Überlegung selber fest; u n d Risach unterrichtet seinen Ziehsohn Gustav sogar dessen ganze K i n d h e i t hindurch selbst. Das sind Tatbestände, die die Ansichten der H e r r i n v o n Heinbach un versöhnbar v o n Risachs Standort abrücken. U n d nicht bloß die Tatbestände besorgen das, sondern schon der T o n der Rede. „ . . . etwas . . . sein", Erziehung sei „ w o h l nichts als U m g a n g " , „glaube ich", „irgend etwas" — das sind Ausdrücke, die das Gemeinte ungenau bezeichnen, u n d zwar nicht, wie es sonst häufig v o r k o m m t , u m demütig-bescheiden u n d gewissenhaft-behutsam die Unzulänglichkeit der eigenen Einsicht hervorzuheben. D e r anmutig beschwingte, souverän entspannte T o n der ganzen Passage verrät vielmehr selbstgefällige Sicherheit. W i r müssen daher eher ein leichtfertiges U n t e r schätzen jener hier so schwerwiegenden Fragen annehmen — eine G r u n d einstellung, die i n Anbetracht des vorliegenden fundamentalen M i ß v e r ständnisses anmaßend u n d gefährlich, zugleich aber auch verständlich erscheint. D e n n es handelt sich ja offenbar u m jene Verbindung v o n Nachlässigkeit u n d Überheblichkeit, der man so leicht verfällt, wenn man sich — u n d nicht v ö l l i g unbegründet — einmal daran gewöhnt hat, sich u n d sein U r t e i l für vortrefflich zu halten. M a n rechnet d a n n zu wenig damit, daß man ebenso wie andere Leute stets u n d immer wieder sich u m v o l l kommene oder wenigstens u m größere Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit bemühen müßte. Das Ergebnis ist unausweichlich Fahrlässigkeit; u n d deren Folgen sind nicht abzusehen.

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Unsere Zuversicht, i n einen wohlbehüteten Hausstand einzutreten, ist also, was die Frau angeht, beträchtlich herabgestimmt. Angesichts des Gatten aber muß sie sich so gut w i e ganz verflüchtigen. Er, der den Neuank ö m m l i n g erst v o r ein, zwei Stunden auf sein Z i m m e r führte u n d z u m A n trittsbesuch bei seiner Frau ermunterte, er wartet seinerseits nicht ab, daß Risach auch i h m gegenüber seine Besuchspflichten erfüllt. Stattdessen geht er i n den W a l d u n d hinterläßt, der Hauslehrer möge sich „seinethalben keine Pflichten auferlegen, morgen könne das Weitere besprochen werden" (652). Das geheiligte Zeremoniell des Eintritts ist gebrochen. Ja, der H e r r verkehrt sogar die gehörige Reihenfolge u n d besucht Risach zuerst. W e m das noch harmlos erscheint, dem w i r d jedenfalls der Schrecken i n die Glieder fahren, wenn der Hausherr wünscht, daß Risach das Haus „einst nicht i n Reue u n d Schmerz verlasse". Gerade w e i l die Leute so charmant sind, k l i n g t das merkwürdige W o r t so mißtönend, so orakelhaft beklemmend — ähnlich w i e uns die Augen der Frau beunruhigten . . . A m nächsten Morgen ist der H e r r zu Hause u n d kann Risachs Besuch empfangen. Was er i h m sagt, ist, nur i n anderen Worten, die Philosophie seiner Frau: Erziehung sei Umgang. Demgemäß soll Risach sich u n d seinem künftigen Berufe leben, seine Zeit einteilen, w i e er w i l l . V o n seiner A u f gabe u n d davon, daß es eine Aufgabe sei, kein W o r t , hier sowenig w i e bei der Dame. Daß uns das alarmieren sollte, erhellt aus Risachs Reaktion: „Jetzt wußte ich [ . . . ] w i e schwer meine Aufgabe w a r " , heißt es nach dem Gespräch m i t Frau Makloden, u n d : „ I c h zagte. Das Benehmen der Frau hatte m i r sehr gefallen, darum zagte ich noch mehr" (651). D e m Gatten gegenüber äußert er sich i m gleichen Sinn: „ I c h b i n durch Eure Güte sehr beschämt [ . . . ] u n d sehe jetzt erst, w i e groß die Aufgabe ist, die ich i n Eurem Hause habe. Ich weiß nicht, ob ich i h r auch n u r i n einem geringen Maße werde genügen können" (653). Einer „ A u f g a b e " „genügen" u n d bedenken, wie schwer es ist, das bloß i n geringem Maße z u tun, geschweige denn i n hohem oder gar v o l l k o m m e n — d a s ist die Sprache Risachs; nur wer so denkt, k a n n u m Vollendung ringen; u n d nur wer darum ringt, k a n n sie erlangen u n d bewahren. Mathildes Eltern scheinen davon nichts zu ahnen. Vage u n d l ä ß l i d i wie die Frau bemerkt der Gatte: „Es w i r d vielleicht nicht schwer sein, zu genügen." I m übrigen schätzt auch er sich „glücklich", daß der Hauslehrer unter seinem Dache wohnen u n d dem Knaben — welchem er, der Vater, „eine glückliche Z u k u n f t " wünscht — gestatten w i l l , seine Gesellschaft zu genießen. I n der T a t : der Vater seinerseits gestattet dergleichen nicht! U n d mehr noch: der Hauslehrer w i r d aufgefordert, sich „ i n allen Stücken wie in Tseinem] eigenen H a u s " zu betrachten. Es w i r d i h m angekündigt, man

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werde „vielleicht i n einiger Z e i t " miteinander „Freundschaft" schließen. Falls i h m aber ein Gespräch über die wissenschaftlichen Liebhabereien des H e r r n „nicht unangenehm" sei, solle er diesen kurzerhand als älteren Bruder ansehen, „ u n d z w a r nicht bloß hierin, sondern audi i n allen anderen D i n g e n " . Eintreten soll er „ohne Anmeldung u n d ohne anzuklopfen" (653 f.). Was für Angebote u n d welch merkwürdige L o g i k ! Was haben wissenschaftliche Interessen m i t Brüderlichkeit zu schaffen, m i t Brüderlichkeit i n allen Dingen, noch v o r der für später vorgesehenen Freundschaft, und das zwischen H e r r n u n d Hauslehrer u n d kaum, daß man sich z u m ersten M a l gesehen hat! Aus alledem sprechen guter W i l l e , Gutmütigkeit, unanfechtbare Selbstsicherheit u n d darum unwiderstehlicher Charme — zugleich aber auch eine erschreckend verworrene H a n d h a b u n g der zwischenmenschlichen Verhältnisse. U n d wieder muß man sagen: Welch leichtfertige, unverantwortliche Übereilung! H i n t e r diesen bedenklichen A u f t r i t t e n nun steht ein künstlerisches M o dell häuslicher V e r w i r r u n g , nämlich die Tragödie des , K ö n i g Lear'. H e i n rich erlebt sie schon i m I . Buch. Nirgends sehen w i r i h n derart tief erschüttert, i h n u n d Natalie, der er — und das ist offenkundig hodibedeutsam — bei jener Vorstellung z u m ersten M a l begegnet. Beide erfahren sogleich das Einverständnis ihrer Empfindungen. Wenn sie später ihre H e i r a t abhängig machen v o n der elterlichen Zustimmung, w e i l sie das Familiengefüge unter keinen Umständen, auch nicht u m des eigenen Lebensglückes w i l l e n , beschädigen wollen (11,5,504), so erhält dieses M o t i v durch jene ,Lear'-Vorstellung zusätzlichen Nachdruck. D i e Tragödie gipfelt j a darin, daß der Vater „ k n i e n d u n d händefaltend sein eigenes K i n d stumm u m Vergebung" bittet. D a z u k o m m t es, w e i l er sein Verhältnis z u den Töchtern v o n G r u n d auf verkehrte. So königlich er ist, m i t seinem „heftigen, leichtsinnigen und doch liebenswürdigen Gemüte" muß er zugleich als „ein übereilender und bedaurungswürdiger T o r " fühlen und handeln. M a n sieht üblen Ereignissen entgegen; u n d sie treten ein. D i e „schwachen Maßnahmen" zeitigen „unnatürliche u n d unzweckmäßige D i n g e " , nämlich drinnen Empörung der eigenen K i n d e r u n d draußen Empörung des Sohnes gegen den Vater. D i e „treuherzige, fast blöde Zuversicht" des Königs, sein „blindes Vertrauen", seine „Übereilung i m U r t e i l e " , sein „Leichtsinn i n Vergebung der W ü r d e n " stürzen i h n endlich i n „Reue, Scham, W u t u n d Raserei" (1,6,174 f.). W u t , Raserei u n d Scham werden w i r bei Mathildes Eltern, diesen geschliffenen Gesellschaftsmenschen, nicht erwarten. Aber Reue könnte i h r T e i l werden; und die Tochter könnte ihnen etwas zu vergeben haben. Denn

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begehen sie nicht die gleichen Fehler wie der alte K ö n i g , u n d handeln nicht auch sie i m allzu sicheren Bewußtsein der eigenen Vortrefflichkeit, ja U n fehlbarkeit? D i e Versuchung dazu liegt bei ihnen freilich nahe. Sie überragen w e i t den Durchschnitt, u n d die zahllosen K r i t i k e r des Romans fanden an ihnen nicht das Geringste auszusetzen. 37 So ergeht es auch dem jungen Risach. E r ist sogar — u n d man k a n n das gerade i n der temperierten Atmosphäre dieses Buches gut verstehen — v o n ihrer stürmisch entgegenkommenden Liebenswürdigkeit einfach überwältigt. Das Haus u n d der Garten m i t dem Rosentempel sagen i h m bei seinem ersten Rundgang ebenfalls i n hohem Maße zu. W i r teilen seinen Beifall u n d stutzen höchstens bei zwei Kleinigkeiten. D i e Gemälde i n den breiten Hausgängen sind „durchaus nicht vorzüglich, aber auch bei weitem nicht so schlecht, als solche Gang- u n d Treppengemälde gewöhnlich zu sein pflegen" (655). K e h r t man den Satz um, so daß er endet: „ . . . aber auch durchaus nicht vorzüglich", so sieht man, w i e sorgfältig Stifter die verräterische A n deutung verhüllt. N o c h sorgfältiger verfährt er bei der zweiten Stelle. „ I c h darf allein nicht zu dem Teich gehen", erklärt der kleine Alfred, „ w e i l ich leicht hineinfallen könnte" (656). Der Vater hat also eine umsichtige Schutzmaßnahme getroffen. N i c h t übel, mag der Leser sagen . . . u n d hinzufügen: wenn auch „durchaus nicht vorzüglich". Vater D r e n d o r f u n d der alte R i sach machten es entschieden besser: ihre Schutzbefohlenen lernten schwimmen; sie lernten, sich selbst u n d notfalls anderen zu helfen. D i e Unterrichtsveranstaltungen beeindrucken uns auf ähnlich zwiespältige Weise. H e r r M a k l o d e n bezahlt neben dem Hauslehrer einen weiteren jungen M a n n , der den eigentlichen Unterricht erteilt. Der Vater rückt dam i t noch weiter ab v o n der Erziehung seines Sohnes. Er hält sich i n seiner Stube auf oder inspiziert seinen Besitz. Sonst läßt er sich nur bei den M a h l zeiten u n d anderen gemeinsamen Unternehmen blicken. Zuweilen führt er auch seine Meisterschaft auf der Geige v o r — ein Aufregen der Gefühle, das M a t h i l d e u n d N a t a l i e später streng vermeiden (659). Frau Makloden macht es nur scheinbar besser. Sie z w a r unterrichtet ihre Tochter größtenteils persönlich u n d ist m i t ihrem Sohne mehr zusammen als der dafür eigens angestellte Hauslehrer. So h ä l t sie es für ihre Pflicht. D a ß das indessen nur die täuschende Fassade eines fehlerhaften Verhaltens ist, erkennen w i r , wenn w i r Folgendes vernehmen: Sie sieht es gern, daß M a t h i l d e längere Zeit eine Freundin bei sich zu Besuch h a t ; sie läßt sie aber derartige Besuche nicht erwidern. „Sie könnte sich nie [ d a z u ] entschließen [ . . . ] . Sie w o l l t e nicht getrennt sein. Auch, meinte sie, würde sich M a t h i l d e fern 37 Steffen, S. 222, stellt denn auch Lears Maßlosigkeit in Analogie nicht zu den Eltern, sondern zu dem jungen Paar.

7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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v o n i h r nicht w o h l fühlen" (659 f.). D a ß sie soviel m i t ihren K i n d e r n umgeht, beruht also auf einer ebenso liebenswerten wie bedenklichen Ichbezogenheit. M a t h i l d e w i r d nicht genügend zur Selbständigkeit erzogen. Bildlich gesprochen lernt auch sie nicht schwimmen. Risach selber w i r d verwöhnt. M a n bereitet i h m freudige Überraschungen, indem man sein Zimmer m i t seinen Lieblingsblumen u n d -tapeten schmückt (660). M a n begegnet i h m liebe- u n d teilnahmsvoll (667). D i e überstürzt herzliche Aufnahme hat nichts zerstört. W i r atmen auf. D i e Entwicklung verläuft Schritt für Schritt. Der Hauslehrer w i r d „nach u n d nach zur Familie gerechnet" (662). U n d doch hat das auch Schattenseiten. A l f r e d schließt sich so eng an i h n an, daß er v o n seiner M u t t e r fortstrebt. „ [ . . . ] neben M ä n n e r n " w i l l er sein — doch v o m Vater ist die Rede nicht. Was sich da anbahnt, sollte jNachsommer'-Lesern den A t e m verschlagen. D i e Familie, die ohnehin locker gefügt ist, f o r m t sich u m ; ja, sie deformiert sich. Ihre Glieder treten noch mehr auseinander. Risach w i r d mehr u n d mehr z u m Zentrum, u m das sie sich neu gruppieren, er w i r d z u m Band, das sie zusammenhält. So ist es m i t dem Sohn, u n d so m i t der Tochter. D i e M u t t e r läßt M a t h i l d e fast nicht v o n ihrer Seite. Einzig der Hauslehrer darf m i t ihr u n d dem Bruder Spaziergänge machen (662). Dabei w i r d sie schöner und gesünder. Sie lernt, w o r a u f v o r allem es i m Leben ankommt, „die Herstellung v o n Verhältnissen zur W e l t u n d i n i h r " ( K u r t Gerhard Fischer) 8 8 ; sie lernt auf die Dinge zu achten, sie zu verstehen u n d beim N a men zu nennen (663). Sie lernt es v o n Risach . . . D e r so gütig behandelte Hauslehrer beschränkt sich bald nicht mehr darauf, „Vorschriften" zu befolgen (663). Er t r i f f t selber die „Veranstalt u n g " , daß die T ü r zwischen seinem u n d Alfreds Zimmer offen bleibt. Er lebt nun „gleichsam neben einem jüngeren Bruder" (664). 3 9 M a t h i l d e bringt er Blumen m i t u n d erhält als „ D a n k für solche Aufmerksamkeiten" zu seinem Geburtstag „ v o n ihrer H a n d gestickt ein rundes Deckchen" (665). U m i h n zu erfreuen, erzählt sie ihm, „ w e n n sie den Gesang eines Vogels gehört hatte, wenn Falter vorübergeflogen waren, wenn sich ein Becher i n einem Gebüsche geöffnet hatte", ja sie gibt i h m zuweilen Blumen, u m sie i n seiner „ W o h n u n g aufzubewahren". I h m w i r d das Leben i n Heinbach immer „angenehmer". I h m w i r d , als hätte er „wieder eine ungestörte H e i m a t " . Der H e r r sucht i h n auf seinem Zimmer auf u n d w o h n t nun sogar häufiger 38 A.a.O. S. 529. 39 Später (1,6,200) vermeidet er dergleichen gegenüber seinem Ziehsohn — aber schwerlich nur, wie er dort vor dem Besucher vorgibt, um Gustav später nicht so schmerzlich zu vermissen, sondern auch um das Verhältnis nicht allzu brüderlichkameradschaftlich werden zu lassen. Gustav unterwirft sich ja seiner Autorität vollkommen, und das soll ihm nicht unnötig erschwert werden.

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dem Unterricht bei. D i e Frau sorgt für i h n w i e für einen Sohn. A l l e „gewöhnen" sich „ i m m e r mehr aneinander" (665). W i e dieser Kreis ohne R i sach als M i t t e l p u n k t weiterbestehen könnte, vermag man sidi k a u m mehr vorzustellen; u n d die Entwicklung vollzieht sich zwangsläufig i n dieser Richtung, Stufe u m Stufe. Alfreds „ Z u t r a u e n w a r immer gewachsen u n d w a r d a n n " unbedingt geworden. W i e M a t h i l d e zu i h m steht, sagt Risach nicht. Er aber „liebte beide K i n d e r unsäglich". Das Mädchen n i m m t er „nicht nur sehr gerne, sondern v i e l lieber als früher" zu den Spaziergängen m i t . Ihre zeichnerischen „Bestrebungen" begleitet er m i t seinem „ R a t , den sie sehr gerne verlangte u n d befolgte. Sie freute sich sehr, w e n n das V e r änderte dann viel besser aussah" (666). Auch hierzu gibt es ein literarisches Modell. Es ist die Episode zwischen H i l a r i e u n d dem Maler i n , W i l h e l m Meisters Wanderjahre', Buch I I , K a p . 7. Zeichenunterricht, Gesang u n d Lautenspiel regen da die „Sehnsucht", die „ N e i g u n g " mächtig auf u n d verstärken damit das Verlangen nach „Schonung, Entsagung". Entsprechendes läßt Stifter geschehen. Risach hört M a t hildes Klavierspiel zu, „solange ihre Finger aus den Saiten die Töne hervorzulocken suchten". Ja, er „schrieb i h r i n H e f t e sehr zierlich ab, wenn sie irgendwo einen Gesang hörte u n d sich denselben aus dem Gedächtnis i n Musiknoten aufschrieb". O f t spielte sie i n Gegenwart der M u t t e r Zither. Risach u n d A l f r e d lauschten dann, ohne sich zu regen. Der Musiklehrer „las ihr u n d der M u t t e r aus ihren Büchern v o r u n d bezeichnete schöne Stellen durch eingelegte Zeichen. Auch Blumen, Waldfrüchte u n d dergleichen brachte" er ihr, u m ihr damit „Freude" zu machen. D i e Zeit vergeht ihnen i m Fluge. „ W i r waren uns auch genug, u m unsere Stunden zu erfüllen", erinnert sich Risach. „ W e n n fremde K i n d e r zugegen waren u n d alle auf dem heiteren Rasen hüpften u n d sprangen, stand M a t h i l d e seitwärts u n d sah teilnahmslos z u " (667). Goethes Figuren lassen die Dinge lange Zeit dahintreiben; dann kämpfen sie dagegen an, wenngleich erst ganz zuletzt m i t der nötigen Energie. I m m e r h i n sehen sie i m Unterschied zu Stifters Menschen, was zu sehen ist. U n d Goethe erwartet, daß w i r Leser sie schon früher „nach einiger Betrachtung [ . . . ] i n der anmutigsten, obgleich gefährlichsten Lage" erkennen. Unausgesprochen g i l t das auch i m Falle Risachs u n d Mathildes; es gilt v o m Leser u n d — v o n den Eltern. Sie insbesondere müßten j a auf derlei achten u n d hier jedenfalls gefaßt sein. Sie aber bemerken nichts. D i e Entwicklung i n Heinbach wurde so ausführlich wiedergegeben, u m zweierlei zu zeigen: erstens ihren stufenweisen Verlauf, über dessen Bedeutung noch mehr zu sagen sein w i r d ; zweitens die klare Sichtbarkeit für den Beobachter. D a ß die jungen Menschen nicht wissen, was v o r sich geht, *

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ist nur natürlich. D i e M u t t e r aber ist oft gegenwärtig, wenn Risadi seine Huldigungen unverhüllt darbringt u n d M a t h i l d e sie ebenso erwidert. Sie ist fast ausschließlich u n d T a g für Tag m i t den beiden zusammen, aus Sorge u m das W o h l der Tochter, aus Liebe u n d Anhänglichkeit. D i e tiefgreifende Verwandlung, die da vorgeht, sollte und dürfte ihr wie ihrem Gatten nicht entgehen. So verlangt es ihre Pflicht, über das W o h l der Tochter u n d der Familie zu wachen. D i e Situation drängt sich ihnen geradezu auf. Sie aber sind blind, b l i n d w i e K ö n i g Lear; u n d wie er, sind sie es aus leichtfertiger Vertrauensseligkeit, aus Mangel an gewissenhafter Aufmerksamkeit. D a r a n ändert sich auch nichts, als es, w i e zu erwarten, z u m Einverständnis zwischen den Liebenden k o m m t . Nach dieser bedeutungsvollen Stunde begleitet Risach das Mädchen nicht, wie sonst nach einem Spaziergang, zur M u t t e r (669). Als Frau M a k l o d e n ihn deswegen befragt, vermag er i n seiner erregten Befangenheit „ a u f diese Frage nicht ein W o r t zu antworten; es wurde aber nicht beachtet" (671). A m anderen Morgen t r i f f t die Familie sich z u m Frühstück. „ E i n Blick, ein leichtes Erröten sagte alles", freilich nur für die beiden Liebenden (672). I n Gegenwart der M u t t e r verhalten sie sich „stiller u n d wortkarger als gewöhnlich" (672). U m so beredter sprechen Mathildes kleine Gesten u n d besonders ihre Musik. A u f dem K l a v i e r ruft sie zunächst nur „einzelne Töne aus den Saiten". Abends spielt sie dann „sehr ernst, sehr schön u n d sehr ergreifend". Das Zitherspiel ergreift sie schließlich so stark, „ d a ß sie nicht aufhören konnte. Sie spielte immerfort, u n d die Töne wurden immer rührender u n d ihre Verbindung immer natürlicher." D e n Eltern bleibt das selbstverständlich nicht verborgen. Doch sie denken sich weiter nichts dabei. „ D i e M u t t e r lobte sie sehr. Der Vater [ . . . ] k a m endlich auch." Z u m Abendessen nahm er „ M a t h i l d e n an den A r m u n d führte sie zärtlich i n den Speisesaal" (672 f.). Gewiß, das Paar hält seine nun bewußt gewordenen Gefühle „geheim" u n d entwickelt ein System geheimer Verständigungssignale (673). Der V o r gang als solcher ist indessen durchaus sichtbar. D a z u kommen weitere A n zeichen. M a t h i l d e verhält sich bei den ohnehin seltener werdenden Spielen m i t anderen K i n d e r n „teilnahmsloser denn je. Auch i n ihrem körperlichen Wesen w a r i n dieser kurzen Zeit eine große Veränderung vorgegangen. Sie w a r stärker geworden, ihre Wangen waren purpurner, ihre Augen glänzender geworden." Das winterliche Stadtleben offenbart, daß ihr Wesen „begeisterter u n d getragener" ist (674). Ihre Freude über Risachs Liebe w i r d nur v o n diesem allein bemerkt — eine Feststellung, an die sich beziehungsreich eine weitere anschließt: „ D i e Eltern Mathildens fingen auch an, sie i n vorzüglichere Stoffe zu kleiden, als sie bisher getan hatten" (675). Sie bemerken also die unübersehbare äußere Veränderung, erblicken darin aber

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nur eine normale Entwicklung u n d nicht den Abglanz einer besonderen seelischen Erfahrung. I n gleiche Richtung weist folgende kleine Episode. Bei einer flüchtigen Begegnung auf der Treppe versichert Risach sich erneut der Liebe des vielumworbenen Mädchens. Tiefbewegt verläßt er das Haus. A u f der Straße wartet die M u t t e r i n einer Kutsche auf Mathilde. Sie weiß also, daß er eben ihre Tochter traf. Es läge nahe, daß sie seine tiefe Bewegung wahrnähme u n d m i t der Begegnung verbände. Statt dessen erscheint sie auch diesmal v o n der Wirklichkeit des Geschehens wie durch Glas geschieden. 4 0 Es heißt: „ H i n t e r den Fenstern" der Kutsche „saß freundlich die M u t t e r Mathildens u n d sah mich a n " (674). Sie sah Risach an; sie richtete den Blick auf i h n — sah aber nichts. Sie u n d ihr M a n n „ahnten nicht, was bestand" (676). Als Risach es endlich eröffnet, bekennt die M u t t e r selbst: „ I c h habe das [ . . . ] nicht geahnt." I m selben Satz erhebt sie z w a r den V o r w u r f : „ I c h habe das v o n Euch nicht erwartet." Aber ihre große A n t w o r t r e d e gipfelt nichtsdestoweniger i n den schwerwiegenden W o r t e n : „ [ . . . ] w i r machen uns Vorwürfe, daß w i r die entstandene Sachlage nicht zu verhindern gewußt haben" (681). Allerdings, das ist der P u n k t ! Es ist die Parallele zu Lears Reue u n d andererseits der Grund, weshalb die alternde M a t h i l d e ein „ B i l d der Vergebung" heißt. Daß die Betroffenen selber diesen V o r w u r f nicht erheben, bewahrt sie davor, die Kindespflicht zu verletzen, den Respekt v o r dem A l t e r u n d den Eltern. Zugegeben, indem die Eltern solche Ehrfurcht, i n diesem Falle: solche ehrfurchtsvolle Schonung beanspruchen dürfen, w i r d ihre Aufgabe nur u m so schwieriger. D e n n es ist ja dann k a u m möglich, sich für vielleicht nicht ganz vortrefflich, für nicht ganz unfehlbar zu halten u n d auch nicht u m einen G r a d nachzulassen i n der unermüdlichen, ernsthaftesten Anstrengung, zu „genügen", achtzugeben u n d das Richtige nicht zu verfehlen. Es ist jedenfalls zu schwer für Mathildes Eltern. W i r haben verfolgt, wie Stifter ihr Versagen schildert. Darüber hinaus hat er es auch ausgesprochen, freilich nicht scharf akzentuiert, sondern nur i n verschweigenden Andeutungen. 4 1 W i r wollen die betreffenden Textstellen zu verstehen 40 Das ist eine der vorzüglichen Bemerkungen, die Frau Herta Menders während zweier Stifter-Kmrse 1963 und 1966 an der Ohio State University in Columbus/Ohio, beisteuerte und von denen sich noch einige mehr in vorliegender Arbeit finden, ohne daß ich, wie ich es in diesem Fall vermag, Frau Menders' Anteil stets genau von dem meinen scheiden könnte. Auch Natalie Fleischer, Das Kind in der deutschen Literatur von 1832 - 1857, ungedruckte Diss. Columbus/Ohio 1968, Kap. I, bietet Belege dafür, daß die Eltern Makloden ihrer Tochter zu wenig Spielraum geben und es ihr gegenüber an Distanz wie an Wachsamkeit fehlen lassen. 41 Zu Stifters Technik des „verschweigenden Andeutens" vgl. Walter H ollerer: Zwischen Klassik -und Moderne, Stuttgart 1958, S. 362; Kunisch, der S. 124 von der „Kunst der leisen Gebärde" spricht, sowie die eingangs zitierten Beobachtungen Requadts, Stifter pflege seine Spuren zu verwischen.

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suchen, indem w i r sie i m Zusammenhang des Werkes lesen u n d dabei auf ihre Gleichnissprache achten. W i r werden näher einzugehen haben auf jene große Rede, i n der die M u t t e r die Auflösung des geschlossenen Bandes fordert u n d die Gründe dafür darlegt. Soviel ich sehe, wurden diese Ausführungen stets für ausgezeichnet gehalten u n d zumindest nie beanstandet; die einzige Ausnahme ist Fischer. Tatsächlich k l i n g t die Rede vernünftig, der T o n besorgt liebevoll. I h r Zweck ist, „das W o h l , das ruhige, feste u n d dauernde Glück" der Tochter sicherzustellen (680). Gemessen am Erfolg, muß man freilich sagen, daß die hier begründete Maßnahme ihren Zweck nicht bloß verfehlt, sondern genau dessen Gegenteil b e w i r k t . N i c h t ein Festhalten an dem verfrüht geschlossenen Bande w i r d dem Mädchen zur Zerstörung seines „Lebensglükkes" gereichen (679); dazu läßt man es j a gar nicht kommen. M a n besorgt jene Zerstörung vielmehr selbst, eben durch die Trennung. Das widerstreitet auf schärfste der herkömmlichen Ansicht, wonach es Mathildes u n d Risachs ungezügelt leidenschaftlicher Eigensinn ist, der den Bruch verschuldet. W i r k l i c h , M a t h i l d e weist den Geliebten als lieblos, treulos v o n sich. Viele Jahre später sucht sie i h n auf, u m zu erklären: „ I c h b i n gekommen, dich des schweren Unrechtes willen, das ich d i r zugefügt habe, u m Vergebung zu bitten" (696). „ I c h konnte das Unrecht nicht mehr tragen, das ich d i r angetan habe" (697). W i e eingangs, als es u m Beurteilung der jNachsommer'-Metapher ging, müssen w i r jedoch beachten, wie Risach antwortet u n d w i e wiederum M a t h i l d e darauf reagiert. A u f ihre erste Selbstbezichtigung geht er überhaupt nicht ein (696). Z u der zweiten erklärt er lakonisch: „Es ist kein Unrecht geschehen, M a t h i l d e " (697). Das dürfte nicht ganz stimmen. Heute „bist du zum ersten M a l e ungerecht", hat er i h r damals vorgehalten (687). Jetzt redet er anders — u n d ähnlich w i e bei dem eingangs erörterten D i a l o g müssen w i r w o h l annehmen, daß er die Vergangenheit ruhen lassen, daß er M a t h i l d e schonen w i l l . So scheint auch sie selbst i h n zu verstehen: „Ja, du bist immer gut gewesen", erwidert sie — u n d beharrt i m übrigen auf ihrer Sicht der Dinge: „ O h , ich bitte dich, G u stav, verzeihe m i r . " D a r a u f er: „ O teure Mathilde, ich habe dir nichts zu verzeihen, oder du hast es m i r auch [ . . . ] D i e E r k l ä r u n g liegt darin, daß d u nicht zu sehen vermochtest, was zu sehen w a r , u n d daß ich dann nicht näherzutreten vermochte, als ich hätte nähertreten sollen. I n der Liebe liegt alles. D e i n schmerzhaftes Zürnen w a r die Liebe, u n d mein schmerzhaftes Zurückhalten w a r auch die Liebe. I n i h r liegt unser Fehler, u n d i n ihr liegt unser L o h n . " (697) Jemand vermochte nicht zu sehen, was zu sehen w a r . Das Argument f ä l l t uns nun auf. I m übrigen f ü h r t das Gesagte abermals, irre. Es t r i f f t ja

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gar nicht zu, daß Risach sich seine Zurückhaltung vorzuwerfen u n d daß er v o n sich aus nicht vermocht hätte, i m richtigen Augenblick näherzutreten. Er sagt selbst unzweideutig: „ I c h konnte" nach Lage der Dinge „ u n m i t t e l bare Schritte zur Annäherung an sie nicht tun. Ich leitete also solche mittelbar ein, welche sie auf die gewisseste A r t v o n der Unwandelbarkeit meiner Neigung überzeugten. Ich erhielt die unzweideutigsten Beweise zurück, daß mich M a t h i l d e verachte" (693). Risach streitet also nicht nur ein erlittenes Unrecht ab, sondern n i m m t sogar eine Schuld auf sich, die er gar nicht beging. Das sind Stufen einer schonenden Noblesse, die selbst eine Verdrehung der Tatsachen nicht scheut. M a t h i l d e akzeptiert das denn auch keineswegs, sondern beharrt weiterhin auf ihrer Sicht. D a ß sie gerade zur Zeit der Rosenblüte k o m m t , betrachtet sie als „Strafgericht"; u n d daß er sie v o n diesem Gedanken abbringen möchte, übergeht sie m i t Stillschweigen (698). N u r eines räumt sie ein: „ J a , i n der Liebe" (698). Das bezieht sich auf sein W o r t : „ I n der Liebe liegt alles" usw. V o n dem „Fehler", u m den es uns hier geht, bleibt da n u r Mathildes „schmerzhaftes Z ü r n e n " übrig. Es entsprang der Liebe. Insofern hat man offenbar Mathildes verhängnisvolle Schroffheit zutreffend auf ihre Leidenschaft zurückgeführt u n d sie i h r als „Fehler", als Schuld angekreidet. Trotzdem muß doch auffallen, daß rückblickend wenig v o n Leidenschaft die Rede ist, daß ein Unrecht, wenn es geschah, entweder halbwegs geleugnet, auf keinen Fall aber gegenüber den Eltern zugegeben w i r d . Sieht man genauer zu, so dämpfen, entlasten auch Stifters briefliche Bemerkungen, daß Risach u n d M a t h i l d e „fehlten, Schwäche h a t t e n " ; 4 2 daß sie i h r Lebensglück „teilweise durch eigene Schuld (Verheimlichung des Liebesverhältnisses [ . . . ] , dann Mathildens ungerechter Z o r n ) " verscherzten — ' b e i d e u n d „teilweise durch eigene Schuld". 4 3 Vergegenwärtigen w i r uns, was M a t h i l d e damals tat. Sie w a r f Risach Treuebruch, Verrat, Lieblosigkeit vor. Das w a r zweifelsohne „ungerecht". Sie erhob ihre V o r w ü r f e indessen nicht aus heiterem H i m m e l . Vielmehr tat der Geliebte ihrer Meinung nach etwas, was er unter keinen Umständen hätte t u n dürfen. E r tat nicht, was er hätte t u n müssen; er t a t das Gegenteil davon; das heißt aber, er ist es, der „Unrecht" tat. U n d das w a r f sie i h m vor. Sie tat es gewiß leidenschaftlich bewegt. Aber sie hatte — wie Kunisch unterstreicht 4 4 — eine auffallend bestimmte, offenbar nicht an den Augenblick gebundene Vorstellung v o n dem, was nicht sein darf u n d „was sein m u ß " ; „ D u mußtest nicht hieher kommen u n d den A u f t r a g überneh42 43 44

11. 2. 58 an Heckenast. 1 7. 7. 58 an Louise v. Eichendorff. A.a.O. S. 161 ff.

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men, m i t m i r das Band der Liebe, das w i r geschlossen haben, aufzulösen. D u mußtest sagen: ,Frau, Eure Tochter w i r d Euch gehorsam sein, sagt ihr nur Euren W i l l e n ; aber ich bin nicht verbunden, Eure Vorschriften zu befolgen, ich werde Euer K i n d lieben, solange ein Blutstropfen i n m i r ist, i d i werde m i t aller K r a f t streben, einst i n ihren Besitz zu gelangen. U n d da sie Euch gehorsam ist, so w i r d sie m i t m i r nicht mehr sprechen, sie w i r d m i d i nicht mehr ansehen, ich werde w e i t v o n hier fortgehen; aber lieben werde ich sie dodi, solange dieses Leben w ä h r t u n d das künftige, ich werde nie einer anderen ein Teilchen v o n Neigung sdienken u n d werde nie v o n ihr lassen/ So hättest du sprechen sollen" (685). N u n hat Risach dieses Sollen i m großen u n d ganzen durchaus erfüllt. N i c h t so ausführlich u n d so stark hat er gesprochen. Aber daß er M a t h i l d e lieben werde, solange er lebe, hat er erklärt (683). U n d daß er ernstlich versuchen w i l l , sie zu gewinnen, beweist er später durch die Tat. N a t a l i e formuliert für sich u n d Heinrich, was zu t u n ist, wenn ihrer H e i r a t die elterliche Billigung versagt bleibt: » [ . . . ] w i r werden uns dann lieben, solange w i r leben, w i r werden einander treu sein i n dieser u n d jener W e l t ; aber w i r dürften uns dann nicht mehr sehen" (11,5,504). Risach u n d M a t h i l d e verfahren diesem P r i n z i p gemäß. Risach setzt sogar voraus, daß die Eltern es milder i m Sinn haben: „ N i c h t die Zerstörung unserer Gefühle verlangen sie, nur die Aufhebung des Äußerlichen unseres Bundes auf eine Zeit." M a t hilde läßt freilich solche Unterscheidungen nicht gelten. „ K a n n s t du eine Zeit nicht mehr du sein? [ . . . ] kannst du eine Zeit dein H e r z nicht schlagen lassen? Äußeres, Inneres, das ist alles eins, u n d alles ist die Liebe. D u hast nie geliebt, w e i l du es nicht weißt." » [ . . . ] alles ist die Liebe", heißt es hier schon. D a m i t hat M a t h i l d e recht. Sie hat z w a r unrecht, was Risachs M o t i v e angeht. D a darf er sich „ v e r k a n n t " u n d „ungerecht" behandelt fühlen (687). Andererseits hat er w i r k l i c h etwas nicht ernst genug genommen, was bei Stifter immer wichtig ist: die äußere Form, die dem Inneren Ausdruck, Schutz u n d Dauer gibt. H i e r ist es das offen-ausdrückliche Beharren auf dem einmal eingegangenen Liebesbund u n d die standhafte Weigerung, auch nur das Geringste zu t u n oder gar zu fördern, was diesem Bunde E i n trag brächte. Dagegen hat Risach zweifellos verstoßen. U n d statt sich einfach an sein gegebenes W o r t „ A u f immer, M a t h i l d e " (668) zu halten, macht er jetzt Unterscheidungen, kluge Worte, aber eben „ W o r t e " (687). I n ihnen findet die Geliebte sich nicht mehr zurecht, nachdem das W o r t , der „ V e r gleichspunkt" für alles (688), dahin ist. Risach macht sich, das hat Kunisch erkannt, 4 5 des Wortbruchs schuldig. Gewiß, das kann man w o h l nur v o m rigorosen Standpunkt eines Stifter45

Ebenda.

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sehen Perfektionismus her sagen. Ja, der Dichter läßt sogar Risachs subjektiv-innerlidien Rechtfertigungsversuch, die Erfüllung des elterlichen A u f trags sei unendlich schwerer, als was M a t h i l d e fordere, zuschanden werden v o r dem, was nach des Mädchens Überzeugung objektiv das Rechte ist, oder umgekehrt vor dem, was für sie fraglos eine Verletzung des objektiv G ü l tigen bedeutet: „Schwer oder nicht schwer, v o n dem ist hier nicht die Rede, [ . . . ] v o n dem, was sein muß, ist die Rede, v o n dem, dessen Gegenteil ich für unmöglich hielt. Gustav, Gustav, Gustav, wie konntest du das tun?"

(686) I n der T a t , wie konnte er, wenn sich alles so verhält, die „Schwäche" haben, das zu tun? Was? N u n , den A u f t r a g der Eltern zu erfüllen. „ D u hättest es nicht unternehmen müssen, mich zur Zerreißung unserer Liebe bewegen zu wollen, es soll, wenn hundertmal Pflicht, dir nicht möglich gewesen sein" (688). W i e also w a r es i h m möglich gewesen? E i n A u f t r a g ist Sache zweier Partner; einer empfängt ihn, einer gibt ihn. Das heißt, M a t hildes Eltern sind hier mitbetroffen. Daß w i r da auf der rechten Fährte sind, bekräftigt eine Nebenbemerkung Risachs. Als er erklärt, es sei letztlich „einerlei", wer das Gebot der Eltern überbringe, gehorchen müsse man auf jeden Fall — da unterlaufen i h m die W o r t e : „ich unterscheide nicht, wer d i r das Gebot der Eltern hätte sagen sollen" (687). E i n so ausdrücklicher Verzicht zu unterscheiden, zu urteilen, k a n n aber nur höflich unausgesprochene M i ß b i l l i g u n g des elterlichen Verfahrens sein. Prüfen w i r den umstrittenen A u f t r a g näher. Risach soll M a t h i l d e „beruhigen", u n d zwar „überzeugen", überzeugen nämlich v o n der Richtigkeit der Gründe, die für eine Trennung sprechen (682). D a z u soll er die „sehr große G e w a l t " anwenden, die er über M a t h i l d e besitzt u n d die die Eltern „ w o h l immer gesehen haben", nur nicht „ i n ihrer Größe". Eine Abstufung, die ebenso gewichtig ist wie ihre seitherige Verkennung! Doch die Eltern täuschen sich jetzt abermals. Denn sie treffen ihre Entscheidung zwar m i t der besten Absicht, versäumen es aber dabei, ihre Rechnung m i t den H a u p t betroffenen zu machen, m i t der Tochter und m i t dem Überbringer der verhängnisvollen Botschaft. Gleich nachdem die M u t t e r ihre Bitte vorgetragen hat, k o m m t es zu der herzbewegenden Steigerung, daß sie Risach m i t „ d u " und „Sohn" anredet. Sie t u t es z u m ersten M a l e ; u n d w e i l sie es jetzt tut, t u t sie es auch zum letzten M a l e u n d nennt auch er sie z u m ersten u n d zugleich letzten M a l e „ M u t t e r " . Z u einem anderen Z e i t p u n k t oder jetzt m i t einem zustimmenden Bescheid hätte sie diesen Sohn — u n d sie „ k a n n einen besseren nicht w ü n schen" — sich gewinnen u n d erhalten können. So aber, indem sie ihrer Gefühlsaufwallung i m falsch gewählten Augenblick nachgibt, besiegelt sie, w o -

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rauf ihr T u n freilich ohnehin unweigerlich hinausläuft: sie verliert diesen Sohn, der schon z u m M i t t e l p u n k t u n d H a l t ihrer Familie geworden ist. D a m i t — w i r werden gleich sehen, wieso — zerstört sie sein u n d ihrer Tochter Lebensglück, j a das ihrer Familie u n d die Familie selbst. Als M a t h i l d e später wieder Risach aufsucht, berichtet sie v o n den Eltern nur, daß sie „längst t o t " sind. A l f r e d „ist auch t o t [ . . . ] er hat kein Weib, kein K i n d hinterlassen, das Haus i n Heinbach u n d das i n der Stadt hat er noch bei seinen Lebzeiten verkauft. Ich b i n i m Besitz des Vermögens der Familie u n d lebe m i t meinen K i n d e r n einsam" (698). Sie selbst ist v e r w i t wet, Risach gleichfalls, beide ohne i n ihrer Ehe glücklich gewesen zu sein; hatten sie doch „ohne Liebe u n d Neigung" geheiratet. N u n stehen sie auf den Trümmern verfallener Familien, auf den Trümmern dessen, was „ n o t t u t " , w i e der alte Risach sagt (736). Ja, einmal erklärt er sogar, daß „alles, was i m Staate u n d i n der Menschlichkeit gut ist, v o n der Familie k o m m t " (121). V o n der Familie M a k l o d e n k o m m t das Gute w a h r h a f t i g nicht. Aber eigentlich w a r es eben auch keine richtige Familie; die M u t t e r gibt nur den Anstoß zur letzten Phase des Verfalls. Sie t u t es, indem sie die Trennung fordert, Risach z u m Mittelsmann erwählt u n d i h n m i t „Sohn" anredet. D a m i t nämlich macht sie es i h m vollends unmöglich, i h r Ansinnen zurückzuweisen. Er empfindet es geradezu als Sohnespflicht, sich z u m Wortführer einer Sache zu machen, die i m Endeffekt dieses angebahnte Mutter-SohnVerhältnis u n d d a m i t diese Familie zerstört. H i n z u k o m m t , daß er sich eine Sache übertragen läßt, die er gar nicht billigt. Deshalb erfüllt er seinen A u f t r a g auch notwendig nur halb. Er geht „ a u f die Gründe, welche die M u t t e r angegeben hatte, nicht ein u n d legt [ . . . ] M a t h i l d e n nur dar, daß sie zu gehorchen habe u n d daß unter Ungehorsam" i h r „ B u n d nicht bestehen könne" (685). A u f den Erfolg oder vielmehr M i ß erfolg seiner Mission hat das sicher keinen Einfluß. D i e Gründe, die er selbst nicht b i l l i g t , würden M a t h i l d e schwerlich überzeugen. D a f ü r f ä l l t u m so helleres Licht auf den Fehler, den die Eltern hier begehen: darauf, daß die M u t t e r dem Hauslehrer eine Botschaft überträgt, die dieser gar nicht i n ihrem Sinne, überzeugend u n d beruhigend vermitteln k a n n — u n d die schon deshalb sie oder der Vater überbringen müßten. Aber ganz abgesehen davon gilt hier, was Risach v o n seiner später ohne Liebe eingegangenen Ehe sagt: daß sie nämlich „ e i n V o r w u r f bis z u " seinem „Lebensende sein w i r d " , w e i l so etwas „nicht nach den reinen Gesetzen der N a t u r ist" (698). M a t h i l d e k l a g t ja i m Grunde nichts anderes an, als daß abgewichen w i r d v o n „ d e n reinen Gesetzen der N a t u r " . D e n n wenn Risach auch den A u f trag der M u t t e r nicht zurückweisen kann, so begeht er m i t der Übernahme doch ein Unrecht.

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D i e Verantwortung für Risachs Unrecht t r i f f t also hauptsächlich die E l tern. Aber noch etwas anderes w i r d hier vollends klar. Risadi vermag, wie gesagt, den Argumenten der Eltern nicht beizustimmen; u n d er bekennt das auch ganz offen. Er versteht nicht, w a r u m , was für i h n u n d M a t h i l d e „ e i n so hohes Glück w a r , für die Eltern ein U n g l ü c k " ist. Ihre Gründe k ö n nen i n sein „Wesen nicht eindringen". E r u n t e r w i r f t sich allein aus Gehorsamspflicht und w e i l ein B u n d ohne Zustimmung der Eltern für i h n so wen i g w i e für irgend jemand i m ,Nachsommer* ein glücklicher sein könnte. Das ändert aber nichts an seinem inneren Protest gegen die elterliche M a ß nahme. U n d wenn er seinen Widerspruch aus Kindesehrfurcht auch später niemals offen äußert, so n i m m t er i h n doch audi nie zurück. N i e stimmt er der damaligen Trennung v o n M a t h i l d e zu. Einzig seine H e i r a t ohne Liebe macht er sich z u m V o r w u r f , nicht aber sein Verhalten damals i n Heinbach. Als er das Haus verläßt u n d v o r sich Rechenschaft ablegt, da ist nicht einm a l davon die Rede, daß er u n d M a t h i l d e i h r Einverständnis geheimhielten, o b w o h l das doch „unrecht gehandelt" w a r u n d i h n seinerzeit sehr bedrückte (677 f, 687). Gemessen an dem, was die Eltern ihnen beiden jetzt zufügen, f ä l l t jenes Vergehen offenkundig gar nicht ins Gewicht. Statt dessen zieht Risach folgendes Fazit — u n d es ist aufs Gewissenhafteste abgewogen: „ D e r Besitzer dieses Hauses hatte m i r einmal gesagt: ,Vielleicht verlasset I h r einst unser Haus nicht m i t Reue u n d Schmerz/ Ich verließ es nicht m i t Reue, aber m i t Schmerz." (690) Das ergänzt u n d rechtfertigt unsere oben getroffene Feststellung, M a t h i l de sei i m tiefsten Inneren keine Bereuende, sondern eine Vergebende. U n d w o die zu vergebende Schuld liegt, das weiß Risach genauso w i e Mathilde, auch wenn er es nicht offen ausspricht, sondern nur verschweigend andeutet. D i e Schuld liegt bei den Eltern. Sie hätten selber m i t M a t h i l d e reden müssen. D i e M u t t e r hätte ferner Risach den A u f t r a g sofort erlassen müssen, als sie seine inneren Vorbehalte gewahr wurde. I n d e m sie das nicht tat u n d sich u m sein Inneres nicht weiter kümmerte, verging sie sich gegen i h n wie ihre Tochter u n d ließ sie beide ihrerseits i n Schuld, i n Halbschuld geraten: ihn, indem er aus Gehorsamspflicht sein gegebenes W o r t brach; sie, indem sie aus Schmerz über den Wortbruch der Seele Risachs unrecht tat. A n der Schwere des Vergehens ändern auch Frau Maklodens Tränen, ihre Rührung, ihre Wehmut nichts. I m Gegenteil, w i r sind genötigt, darin dieselbe Rührseligkeit zu finden, v o n der sie sich ausgerechnet i m Augenblick der Trennung zu der Anrede „ d u " u n d „ S o h n " hinreißen ließ. Sie „lächelte trübsinnig" z u seinen Abschiedsvorbereitungen; u n d ihr Gatte meint: „ K r ä n k e t Euch nicht zu sehr, es w i r d vielleicht noch alles gut." Beide sind noch immer hoffnungsvoller als Risach (689) u n d als der weitere Gang der Dinge es rechtfertigen w i r d .

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Es f ä l l t den beiden Eltern überhaupt nicht ein, daß der Weg, den ihre Grundsätze vorschreiben, unter Umständen nicht der beste aller Wege sein könnte. Sie benötigen nur eine Stunde, u m auf G r u n d jener Prinzipien zu ihrem folgenschweren Beschluß zu gelangen. Sich m i t ihrer Tochter u n d m i t Risach zu besprechen oder dessen Vorbehalte zu erwägen, f ä l l t ihnen nicht ein; u n d dabei haben sie aus Risachs Eröffnung eben erst entnommen, daß sie sich über den Seelenzustand ihres Kindes jahrelang aufs schwerste täuschten. Sie verfahren autoritär u n d d o k t r i n ä r ; unverantwortlich selbstsicher, selbstgefällig, überheblich, leichtfertig, fahrlässig. Als einziger erkannte Fischer, daß der E i n g r i f f sich deshalb verhängnisvoll auswirkt, w e i l er ohne Rücksicht auf die „Realsituation" der betroffenen I n d i v i d u e n erfolgt. 4 6 I m übrigen stimmte die K r i t i k den Eltern durchaus zu. W a r sie doch überzeugt, daß deren Prinzipien die wahren ,Nachsommer'prinzipien seien. Berechtigt k l i n g t ja z u m Beispiel der V o r w u r f , die jungen Leute hätten sich Gefühlen überlassen, die ihnen „angenehm" gewesen seien (679). E r t r i f f t auch auf die Geheimhaltung zu: „Es w a r zauberhaft, ein süßes Geheimnis miteinander zu haben, sich seiner bewußt zu sein u n d es als G l u t i m Herzen zu hegen." Risach „ t r u g es entzückt i n " seine „ W o h nung" (670). W i r werden das Bedenkliche dieses Schwelgens später noch eingehender betrachten. — D i e Eltern sind ferner besorgt, eine so geartete Neigung könne sich abnutzen, erschöpfen; sie könne quälend werden i n der langen Wartezeit, die bei Risachs Mittellosigkeit unweigerlich bevorstünde. Das läßt sich hören. Indessen ist selbst den Eltern klar, daß es sich da nur u m eine Hypothese handelt. Sie geben die Möglichkeit zu, daß alles auch ganz anders verlaufen kann, daß die Neigung also nicht aufhört. Ja, die M u t t e r sagt: „ I c h weiß, daß es bei euch vielleicht [ . . . ] nicht möglich ist" (679). Einem vorzeitigen Nachlassen der Neigung wäre sogar vorzubeugen, indem nämlich die Verbindung trotz aller Schwierigkeiten bald geschlosssen würde (680). Das erscheint der M u t t e r aber zu riskant. Sie hat zu „ o f t gesehen, daß Neigungen aufhörten u n d sich änderten" (679). V o r allem sei M a t h i l d e „wenigstens v o r sechs oder sieben Jahren" nicht reif zur G a t t i n und M u t t e r : „nach den Ansichten, die w i r über das körperliche W o h l unserer K i n d e r für unsere Pflicht halten" (680). Durchweg handelt es sich da u m Verallgemeinerungen. Sie klingen klug, vernünftig, vortrefflich. D a ß sie jedoch anzuwenden sind, ist damit noch lange nicht gewährleistet. Vielleicht wäre das durch sorgfältige Prüfung dieses Falles, seiner besonderen, einmaligen Beschaffenheit, durch eingehen46 A.a.O. S. 67. Fischer ist m. W. auch der Einzige, der Risachs gehorsame Auftragserfüllung kritisiert. Indem er sie als „unreifes Verhalten" abtut, wird er freilich den komplexen Schwierigkeiten der Situation nicht völlig gerecht (66).

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de, längere Beobachtung des versuchsweise fortzusetzenden Verhältnisses herauszufinden. Das aber beabsichtigen die Eltern keineswegs, o b w o h l sie doch etwas davon spüren, daß ihre Theorien keineswegs unbedingt übereinstimmen müssen m i t der Wirklichkeit. Das — u n d zumal die Wendung v o n den „Ansichten, die w i r [ . . . ] für unsere Pflicht halten" — bestätigt unseren Eindruck, daß sie zu selbstsicher u n d doktrinär verfahren. D a m i t aber verstoßen sie gegen ein fundamentales ^ a c h s o m m e r - T r i n z i p . Risach formuliert es einmal i m H i n b l i c k auf die Naturwissenschaft; u n d „ i n Sachen der N a t u r muß auf Wahrheit geachtet werden" (1,3,46). E r begrüßt es da, daß man „ j e t z t mehr die Wege des Beobachtens u n d der Versuche" einschlägt, während „ m a n früher mehr den Vermutungen, Lehrmeinungen, ja Einbildungen hingegeben" w a r (1,4,110). W i e kurzsichtig u n d lebensfern die Eltern i n pädagogischer Beziehung handeln, erhellt ferner daraus, daß sie ihre Prinzipien überhaupt mitteilen. Sie erklären, daß sie das eigentlich nicht zu t u n brauchten; die K i n d e r müßten den elterlichen Beschluß auch ohne das befolgen, aus Gehorsam u n d weil „sie der Liebe u n d der besseren Einsicht der Eltern vertrauen" (680). Die M u t t e r teilt Risach jedoch ihre Gründe m i t , „ w e i l " , wie sie sagt, „ich Euch hochachte u n d w e i l ich auch gesehen habe, daß I h r m i r zugetan seid" (680). Das k l i n g t wieder so warmherzig, so sympathisch; ja, es k l i n g t wie das Gegenteil eines dogmatisch-autoritären Vorgehens. Indessen, täuschen w i r uns nicht! D i e M u t t e r kümmert sich gar nicht darum, wie Risach diese ihre Argumente aufnimmt. Sie bemerkt, daß er sie nicht versteht, zieht daraus aber keinerlei Folgerung. Weder w ü r d i g t sie i h n einer Diskussion, noch n i m m t sie ihren Wunsch zurück, er möge M a t h i l d e v o n der Richtigkeit dieser Gründe „überzeugen" und dadurch beruhigen. Das ist weder wahre Hochachtung noch wahre Zuneigung. Was so aussieht u n d was sie selber dafür hält, ist vielmehr genau das, was sie den jungen Leuten v o r w i r f t ; es sind nur Gefühle, die ihr selber „angenehm" sind, die i n dieser Form aber der Situation u n d dem Mitmenschen gegenüber nicht angemessen sind, nicht ausreichen. Ja, der Umstand, daß sie ihre Gründe überhaupt eröffnet, bestätigt nur, wie wenig sie v o n den jungen Leuten weiß u n d v o n der pädagogischen „Pflicht, anderen nur dasjenige zu sagen, was sie aufnehmen können. Der Mensch versteht nichts, als was i h m gemäß i s t . " 4 7 Das gilt ganz unabhängig davon, ob die mitgeteilten Lebenslehren taugen oder nicht. Sie aber sind jetzt zu prüfen. Sie besagen: Eine verfrühte, leidenschaftliche Neigung führt zu nichts Gutem. U m eine spätere, glückliche Verbindung zu ermöglichen, muß das verfrüht geschlossene Band aufgelöst werden. Wenn „einst euer gereiftes Wesen dasselbe sagt, was jetzt das w a l 47 Wilhelm Meistens Wanderjahre, Buch I, Kap. 3.

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lende H e r z sagt, dann k o m m t beide, w i r werden euch segnen. Stört aber durch Fortspinnen, Steigern u n d vielleicht Abarten eurer jetzigen Gefühle nicht die euch so nötige letzte Entwicklung" (682). Das sind abermals kluge, gefühlsdurchwärmte Worte. Reife, Entwicklung sind außerdem zentrale ,Nachsommer c -Kategorien. Sie hängen jedoch m i t anderen zusammen, die hier außer acht gelassen werden. Z u m Beispiel g i l t i n dem Roman, daß v o r allem übrigen, sogar noch vor der Hochachtung, die freilich hinzukommen muß, die Liebe das Fundament der Ehe bildet. D i e Eltern rücken dagegen v ö l l i g andere Dinge, die gewiß auch wichtig sind, ins Z e n t r u m : die körperliche Reife der Tochter u n d R i sachs gesellschaftliche Stellung, die „nicht als die gesetzmäßige bezeichnet werden dürfe" (681). A n der Neigung sehen sie bloß das Bedenkliche, Gefährliche, w o m i t sie doch nur halb Recht haben. Z w a r klagen sie m i t Recht sich selber an, daß sie „ d i e entstandene Sachlage nicht zu verhindern gew u ß t haben" (681). Sind sie indessen auch i m Recht, wenn sie diese Sachlage, die so nicht hätte entstehen dürfen, die aber nun einmal entstanden ist, kurzerhand aus der W e l t schaffen, zerstören wollen? Haben sie es w i r k l i c h nur zu t u n m i t etwas Gefährlichem, das gar nicht schnell u n d gründlich genug durch einen herben Einschnitt ausgemerzt werden kann? Oder ist da vielleicht — durch ihre Unachtsamkeit — etwas herangewachsen, was w o h l unausgewogen, labil, gefährdet ist, aber schon zu w e i t gediehen, als daß beide Teile sich v o n einem so brüsken E i n g r i f f erholen könnten, rasch genug wenigstens für die Zeit der sommerlichen Lebensblüte? H a n d e l t es sich am Ende u m etwas, das man, anstatt es zu vernichten, lebendig erhalten, schützen u n d pflegen und leiten sollte? Das freilich könnte nur eine Prüfung klären. Dergleichen halten die Eltern für überflüssig. Sie verlassen sich auf ihre Grundsätze. Leider fehlen da eben die des Prüfens, des Beobachtens. D a m i t fehlt Entscheidendes; es fehlt zuviel. D a ß trotz überstürzten Beginnens manchmal ein Lebensgebilde heranreift, welches dann nicht mehr ohne katastrophale Folgen amputiert werden kann, sahen w i r an Risachs Eingliederung i n die Familie u n d an deren Zerfall nach seiner Ausstoßung. D a ß es sich auch i m vorliegenden F a l l so verhält, daß die junge Liebe bereits weit gereift ist u n d daß die Maßnahme der Eltern einen ebenso fahrlässigen w i e tödlichen Einschnitt darstellt, beleuchtet Stifter m i t H i l f e einer Pflanzen-Symbolik, die der Bildreihe v o m Kaktus zu vergleichen wäre. Immer wenn es i n diesem Roman zwischen Liebenden z u m Einverständnis k o m m t , geschieht es u m die Zeit zwischen Sommer u n d Herbst, i m Nachsommer. I m Fall Heinrichs und Nataliens gibt es, wie w i r sahen, w ä h rend die Rosen auf dem Asperhof bereits verblüht sind, auf dem Sternen-

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hof „noch Knospen, die ihres Aufbrechens harrten" (11,5,485 f.). Das scheint, analog z u m hinausgezögerten Blühen des Peruvianus, das langsame, zuverlässige Wachstum eines Liebesglückes zu bezeichnen, das darum seine herbstliche Vollreife nicht als Verfall, sondern als unvermindert jugendstarkes Weiterwachsen erleben w i r d . Als dagegen Risach, gleich nach dem wechselseitigen Liebesbekenntnis, allein v o r das Heinbacher Rosenhaus t r i t t , da ist es ihm, „als blühten u n d glühten alle Rosen u m das Haus, o b w o h l nur die grünen Blätter u n d Ranken u m dasselbe waren" (670): Sinnbild offenbar einer hodisommerlichen Glückserfüllung, die indessen v o n blicktrübender Leidenschaft, „heftig u n d ausschweifend, beinahe überstürzt" (649) herbeigezwungen u n d die durch das Mißverhältnis ihrer Innerlichkeit zur Außenwelt i n ihrem vollen Bestand gefährdet w i r d . Ähnliches besagt w o h l folgende Episode: D i e Liebenden begnügten sich nicht m i t der nützlichen M a ß nahme, welke Blätter abzunehmen, u m dadurch die Zweige zu reinigen; sondern Risach „knickte einen zarten Zweig, was eigentlich nicht erlaubt war, u n d gab ihr den Z w e i g " , i h n am weiteren Wachstum hindernd u n d zu baldigem Absterben verurteilend. Derartige Bilder scheinen die herkömmliche Ansicht zu bestätigen, daß Risach u n d M a t h i l d e ihr Glück überstürzen u n d dadurch zerstören. M e r k w ü r d i g ist freilich, daß es zu dem verfrühten Einverständnis eben i m Nachsommer k o m m t wie bei N a t a l i e u n d Heinrich. „ D e r Sommer w a r beinahe vergangen, u n d der Herbst stand bevor" (667). Danach könnte es m i t dem Zustandekommen dieses Liebesbundes z u m jetzigen Z e i t p u n k t dennoch seine tiefere Richtigkeit haben. Seine Überstürzung und Gefährdung ergäben sich dann womöglich nur aus der Isolierung v o n der U m w e l t , der Familie — ein Mißverhältnis, das jedoch nicht die jungen Leute, sondern die Eltern verschuldeten und das sich i n der Geheimhaltung des Bundes nicht dauerhaft fixieren w i r d . Das Paar sucht j a endlich v o n sich aus, der U m w e l t zuzuwachsen, die sich i h m gegenüber fremd verhielt. U n d m e r k w ü r d i g doch auch, daß „eben die Rosenblüte" ist, als sie i h r Einverständnis den Eltern gestehen u n d es auf deren Geheiß aufheben müssen (678). 4 8 M a t h i l d e weint auf die blühenden Rosen; Risach drückt sich die H ä n d e an den Dornen b l u t i g (688). V i e l später sitzen sie v o r den Rosen des Asperhofes, betrachten deren Abblühen als Gleichnis für das Abblühen ihres Glückssommers, die Rosenblüte selbst demnach als Sinnbild für erfülltes Lebens- u n d Liebesglück. Ja, Heinrich u n d N a t a l i e samt ihren „vereinigten Familien" werden nach ihrer Vermählung die „ Z e i t der Rosenblüte" „als ein Denkzeichen" 48 Rehm, S. 63, hat das übersehen. Statt dessen bezieht er die Stelle vom Vorjahr (674) „so war der tiefe Herbst gekommen", auf den Augenblick der Trennung und symbolisch auf die ganze herbstliche Verfassung dieser Liebe. Ein Irrtum, zu dem die herkömmliche Deutung auch Steffen, S. 222, verleitet haben mag.

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„ z u m ersten Male i n dieser Vereinigung u n d m i t besonderer Festlichkeit" begehen: zur Feier eben der Familien-Vereinigung durch die Vermählung. D a v o n w i r d noch zu sprechen sein. Für Risach u n d M a t h i l d e aber schlägt demnach die Trennungsstunde i n genau dem Augenblick, als — trotz aller leidenschaftlichen Überstürzung — ihr Leben u n d Lieben dennoch der E r füllung zugereift war, einer E r f ü l l u n g auch i m Zusammenhang m i t ihrer U m w e l t , zu der sie ja soeben den Zugang hergestellt hatten durch das Bekenntnis ihres Bundes. V o n hier w i r d erst v o l l verständlich, weshalb die Trennung so verhängnisvoll sein mußte. Sie schlug eine unheilbare Wunde, denn die Liebe w a r damals i m Verlaufe v o n zwei Jahren schrittweise, allmählich u n d schon zu w e i t herangereift, nicht mehr rückgängig zu machen und wegen ihres für Stifter immer noch überstürzten, v o r allem aber un·· behütet-isolierten Wachstums gerade auf sorgfältigste Pflege angewiesen. Tatsächlich deutet der Dichter dergleichen an, allerdings m i t der i h m eigenen Verschwiegenheit. Das Einverständnis zwischen Risach u n d M a t h i l d e stellt sich bei einem Spaziergang her, an dem auch A l f r e d teilnimmt. Während des entscheidenden Gesprächs entfernt er sich. V o r - u n d nachher aber evoziert sein T u n u n d Reden lauter beziehungsreiche Bilder v o m Reifen u n d v o n der Pflege frühreifer Früchte. E r „las abgefallenes halbreifes Obst zusammen, legte es i n Häufchen u n d sonderte das bessere v o n dem schlechteren ab" (667). Er berichtete v o n Äpfeln, „die v o r der Zeit abfielen, w e i l die Bäume heut m i t zu viel Obst beladen waren u n d ihre K r a f t nicht genug ist, alle zur Reife zu bringen. Sie werden w o h l zu gar nichts tauglich sein." V o n anderen dagegen meldet er, daß sie „durch einen Insektenstich zu einer früheren, beinahe vollkommenen Reife gediehen [ ! ] seien. Er habe sie am Stamme des Baumes zusammengelegt u n d werde den Vater bitten, sie zu untersuchen, ob man sie nicht doch brauchen könne" (669). W i r erfahren nicht, ob der Vater die fraglichen Ä p f e l für brauchbar erk l ä r t oder auch nur untersucht. Er u n d seine Frau erkennen jedenfalls nicht, daß die Liebe zwischen ihrer Tochter u n d dem Hauslehrer zu einer zwar „früheren", dabei aber „beinahe vollkommenen Reife gediehen" ist. Sie erklären sie für schädlich, insofern für „unbrauchbar" u n d suchen ihr weiteres Wachsen durch einen herben Einschnitt wenigstens für jetzt zu unterbrechen, — ohne allerdings w i e A l f r e d zu beobachten, zu unterscheiden, ohne zu „untersuchen," ob das, was sie da zerstören, w i r k l i c h so „unbrauchb a r " ist. D a m i t verstoßen sie aufs Schwerste gegen Grundsätze, die Risach gleich bei der ersten Begegnung m i t Heinrich darlegt. T r o t z der „ungünstigsten

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Bedingungen" bringt er seine Rosen m i t unendlich sorgfältiger Bemühung „nach u n d nach" z u m Gedeihen. K r a n k e Pflanzen werden nicht etwa vernichtet, sondern „sogleich ausgehoben" u n d „ i n den Garten, gleichsam i n das Rosenhospital, getan. Fehlgriffe", zu denen es hier k a m u n d aus denen man lernte (1,5,127- 130), werden n o d i ängstlicher vermieden, w o kompliziertere Gebilde auf dem Spiele stehen. U n d muß etwa ein Baum „ t r o t z aller Vorsicht" doch beschnitten werden, so w i r d der Schnitt sorgf ä l t i g „verstrichen, daß keine Nässe i n das H o l z dringen u n d i n dem noch gesunden T e i l eine K r a n k h e i t erzeugen kann." Solche Krankheiten für „ k e i n großes Ü b e l " , für „nicht erheblich" zu halten, ist „unrecht"; denn „einen Schaden" bringen sie immer. D a r u m muß man v o n vornherein die umständlichste „Vorsicht" walten lassen; man muß „ d e m Baume geben, was i h m nottut, u n d i h m nehmen, was i h m schadet" (1,5,133 - 135). U n d : „ W o h i n käme man denn, wenn man an vorhandenen [ K u n s t - ] Werken v o r schnell Veränderungen anbringen ließe. Es könnten j a da Dinge v o n der größten Wichtigkeit verunstaltet oder zerstört werden" (1,4,99). L ä ß t sich ein tiefer E i n g r i f f nicht umgehen, so muß man sich genau Rechenschaft darüber ablegen, „ w i e die Sache nach der Umarbeitung aussehen" w i r d . D a z u ist es nötig, daß man wiederholt „Beobachtungen" anstellt, „daraus Erfahrungen" sammelt u n d „Ergebnisse" folgert, „die eine Voraussage m i t fast völliger Gewißheit möglich machen." Die Wichtigkeit solcher Unternehmen erfordert aber, daß man sich größten „ Z w e i f e l n " darüber hingibt, ob man auch die „nötige Sachkenntnis" besitzt. W e r „minder zweifelsüchtig" oder wer „ i m Eifer" verfährt, w i r d die „Wesenheit der Sache zerstören." Mathildes Eltern hatten es m i t dem Kostbarsten zu tun, m i t Menschen, u n d gingen dennoch keineswegs m i t „großer Zweifelsucht u n d Gewissenhaftigkeit zu W e r k e " (1,4,96 - 107). Vielmehr g i l t das Gegenteil. Das bekräftigten die Klagen, m i t denen A l f r e d jedesmal seine Bemerkungen über das frühreife Obst einleitet. Stifter verhüllt diese Klagen allerdings so sehr, daß man die d a r i n liegende K r i t i k an den Eltern zunächst leicht übersehen mag. Wer sich bewußt hält, w i e wichtig i m Nachsommer' das Benennen der Dinge ist, w i e großzügig dagegen Mathildes Eltern i m Benennen R i sachs sind, der w i r d auch stutzen bei der folgenden Stelle: A l f r e d reinigt „einige Täfeichen, die an den Stämmen hingen u n d schmutzig geworden waren" (667). Er spricht dann noch einmal davon, daß die Täfelchen „ v o n den Leuten oft sehr verunreinigt w ü r d e n " , u n d fügt hinzu, „daß man sie alle putzen solle u n d daß der Vater den Befehl erlassen sollte, daß jeder, der einen Baum wäscht, p u t z t oder dergleichen oder der sonst eine Arbeit bei i h m verriditet, sich sehr i n acht zu nehmen habe, daß er das Täfelchen nicht bespritzt oder sonst eine Unreinigkeit darauf bringt." (669) 8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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Stifter häuft gern „ d a ß " - (oder Genitiv-) Konstruktionen, wie i n diesem Satz. Solch asketischer Verzicht auf Schmiegsamkeit der Sprache scheint die herbe Forderung zu unterstreichen, daß es eben nicht auf Charme ankommt, sondern auf genaues, klares, kühles Achtgeben. I n unserem Beispiel geht es überdies darum, die Dinge sorgfältig beim N a m e n zu nennen, offenbar, u m ihre „Wesenhaftigkeit" u n d damit ihre Gesetzlichkeit, das, was ihnen „ n o t t u t " oder „schadet", genauer zu erfassen. A u f dem Asperhof findet H e i n rich denn auch i n jenem P u n k t ganz andere Verhältnisse v o r : „ A n jedem Stämmchen hing der N a m e der Blume auf Papier geschrieben u n d i n einer gläsernen Hülse hernieder. Diese gläsernen Hülsen waren gegen den Regen geschützt, indem sie oben geschlossen, unten umgestülpt u n d m i t einer kleinen Abflußrinne versehen waren." Sie brauchen also gar nicht oder d o d i nur selten eigens gesäubert zu werden. Vorsicht hat dafür gesorgt, daß eine Beschmutzung, eine Trübung des Erkennens gar nicht erst unterläuft. Es ist die Vorrichtung, die Heinrich zuerst bemerkt, als Risach i h m erläutert, w o durch er seinen Besitz freihält v o n den „Zerstörungen" überall i m Lande (1,5,132 f.). I m Rahmen dieses Koordinatensystems nachsommerlicher M a x i m e n k a n n es w o h l keinen Zweifel mehr darüber geben: Es sind Mathildes Eltern, die die junge Liebe beschädigen u n d u m ihren Sommer bringen. Ihre G r u n d sätze sind vorzüglich, aber bei weitem nicht vollständig; u n d w e i l sie derart isoliert v o n den ihnen zugeordneten M a x i m e n gehandhabt werden, w i r ken sie sich nur verderblich aus. Ihre Trefflichkeit hat lediglich zur Folge, daß H e r r u n d Frau M a k l o d e n sich selber für • v o l l k o m m e n halten. Das — zusammen m i t ihrem Charme, ihrer Gefühlswärme — verführt sie dazu, jene Prinzipien dünkelhaft-selbstzufrieden, dogmatisch-autoritär anzuwenden, ohne längeres Beobachten, genaues Prüfen des Tatbestandes, erschöpfendes Abwägen der Folgen. Sie verfahren ähnlich fahrlässig w i e m i t ihren Blumen und wie die Ingheims m i t dem Kaktus. U n d w i e diese das A l t e u n d das Neue durch eine schroffe K l u f t trennen, so stören Mathildes Eltern die „ A l l m ä h l i c h k e i t " eines Lebensprozesses durch einen jähen, ungenügend überlegten, unheilbaren Einschnitt. Sie üben ihre elterliche A u t o r i t ä t am falschen Platz. D i e jungen Leute wurden v o n denen, die dazu berufen waren, nicht als Kleinode gehütet. Das

vollendete

Erziehen

W i e aber sieht nun das richtige, daß vollkommene Verfahren aus, u n d welches sind seine Voraussetzungen? Indem w i r die Frage beantworten, müssen w i r zwangsläufig viel Bekanntes wiederholen. Es geschieht hier v o r nehmlich, u m zusätzliches Licht auf die Vorgänge i m ,Rückblick' zu wer-

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fen, gewissermaßen als Gegenprobe. Zugleich sollte v o r jener Kontrastfolie zur richtigen Erziehung noch deutlicher werden, w o r i n diese letztere besteht, wie wichtig sie ist u n d wie die beiden Pole den Funktions- u n d Strukturzusammenhang des Werkes regulieren. W i r sahen, daß der „ U m g a n g " oder, w i e Goethes Jarno sagt, die „Gew o h n h e i t " 4 9 das eigentliche Element der Erziehung ist, ein Element, dessen fruchtbares W i r k e n so gut wie ganz v o n der erzieherischen U m w e l t abhängt. Dieser Zusammenhang u n d überhaupt Verfahren, Z i e l u n d Vorgang des Erziehens lassen sich auf allgemeine Lebensgesetze zurückführen; bei Goethe auf die Wechselwirkung zwischen „ D e n k e n u n d T u n , T u n u n d D e n k e n " 5 0 , bei Stifter entsprechend auf die polare Spannung zwischen „Ruhe und Bewegung". Ihre exemplarische Erörterung erfolgt i m H i n b l i c k auf die K u n s t : „Es ist diese Ruhe, jene allseitige Ubereinstimmung aller Teile zu einem Ganzen, erzeugt durch jene Besonnenheit, die i n höchster kunstliebender Begeisterung nie fehlen darf, durch jenes Schweben über dem Kunstwerke und das ordnende Uberschauen desselben, w i e stark auch Empfinden oder Taten i n demselben stürmen mögen, die das Kunstschaffen dem Schaffen Gottes ähnlich macht u n d M a ß u n d O r d n u n g blicken läßt, die uns so entzücken. Bewegung regt an, Ruhe erfüllt, u n d so entsteht jener Abschluß i n der Seele, den w i r Schönheit nennen" (11,2,350). Walther Rehm hat gezeigt, w i e Ruhe u n d Bewegung wiederkehren als Beherrschung und Gefühl u n d sich symbolisch spiegeln etwa i n Marmorsaal u n d Rosenduft oder i n Nataliens T r u n k aus der wassergefüllten M a r m o r schale. 51 A n a l o g könnte man beim Erzieher u n d beim Z ö g l i n g v o n anregendem bzw. angeregtem Bewegen auf die ruhenden Grundformen des Daseins h i n sprechen, wobei dem idealen Erzieher so etwas w i e gottähnliche begeisterte Besonnenheit zukäme, jenes schwebend ordnende Uberschauen der Stürme i m eigenen Inneren des Schutzbefohlenen. Freilich gilt, „daß die schaffende K r a f t i n der Regel nicht nach solchen aufgestellten Sätzen w i r k t , sondern das Rechte t r i f f t , w e i l sie die K r a f t ist, u n d es desto sicherer t r i f f t , je mehr sie sich auf ihrem eigentümlichen Wege naturgemäß ausbildet" (ebenda). Wendet man das auf das Problem der Erziehung an, so stellt sich die Frage: W a r u m fehlt Mathildes Eltern solche Kraft? Welches ist der eigentümliche, naturgemäße Weg, auf dem ihr pädagogisches Vermögen sich hätte ausbilden können u n d sollen? Es müßte der Weg sein, auf dem überhaupt i h r Menschsein sich naturgemäß hätte entfalten können. Risach umreißt i h n i m Sinne des nachsommerlichen Ordo-Weltbildes: „ W e n n du [ . . . ] 4

» Wilhelm Meisters Wanderjahre, Buch I, Kap. 4. Wilhelm Meisters Wander jähre, Buch I I , Kap. 10. si A.a.O. S. 50.

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auf dem Boden der Familie einmal stehest, so bist du nur Mensch, wenn d u ganz u n d rein auf i h m stehst." „ W e n n Ehen nicht beglücktes Familienleben werden", ist audi alles übrige Bemühen vergebens. „ D i e Familie ist es, die unseren Zeiten n o t t u t . " „ A u f der Familie ruht die Kunst, die Wissenschaft, der menschliche Fortschritt, der Staat" — nämlich, w e i l sie das Geschlecht hervorbringt, das i n jenen Bereichen segensreich oder verderblich schaltet (111,5,736 f.); w e i l also „alles, was i m Staate u n d i n der Menschlichkeit gut ist, v o n der Familie k o m m t " (1,5,121). Mathildes Eltern wären demnach sich selber, ihren K i n d e r n u n d der Menschheit gegenüber verpflichtet gewesen, „ein edles, reines grundgeordnetes Familienleben zu errichten" (111,5,736). Sie haben dieses Ziel u m ein Beträchtliches verfehlt. D i e K r i t i k hat z w a r gerade ihre M a x i m e n immer wieder als beispielhaft für die Botschaft des ,Nachsommers' hingestellt. Stifter selbst indessen nennt sie auffallenderweise i n jenem eingangs zitierten B r i e f 5 2 an keiner Stelle, weder unter den vorbildlichen Figuren noch neben den Repräsentanten des gewöhnlicheren Lebens, den Ingheims. V i e l leicht gehören sie weder zu jenen n o d i zu diesen. Daß aber Stifter sich so gänzlich über sie ausschweigt, bedeutet offenbar die Fortsetzung seiner dichterischen Methode des verschweigenden Andeutens über den Roman hinaus. Womöglich bestätigt es die verbreitete Ansicht, er verwebe i n die Jugendgeschichte Risachs u n d Mathildes seine gescheiterte Beziehung zu Fanny Greipl. Deren Eltern schöbe er dann i m B i l d der Heinbacher Eheleute die ausschlaggebende Schuld zu — wieder einmal also den Dingen oder Menschen, die sich an i h m versündigten — ; u n d er täte es indirekt, verschwiegen. Auch Risach übrigens erwähnt Mathildes Eltern nicht, als er Heinrich ein „ V o r b i l d " v o r Augen hält. Dabei waren sie doch i h m selbst w i e Eltern, u n d er hat ihre Erziehungstheorie u n d -praxis eingehend geschildert. W i r wissen jetzt, w a r u m er schweigt; und w i r verstehen, daß er statt ihrer Heinrichs Eltern nennt: „ [ . . . ] werde, w i e sie sind" (111,5,736). Heinrich w i r d das erfüllen. U n d wer „ e i n so guter Sohn ist, w i r d a u d i ein guter Gatte werden (111,5,734). Als G r u n d ihrer Liebe zu i h m gibt N a t a l i e an: „ [ . . . ] i c h sah, wie ihr meine M u t t e r verehrtet, unseren Freund hochachtetet, den Knaben Gustav beinahe liebtet, v o n Eurem Vater, Eurer M u t t e r u n d Eurer Schwester n u r m i t Ehrerbietung sprächet" (11,5,499). E r ist u n d w i r d immer mehr der M a n n , der bei Dingen wie Menschen Wesenheit u n d Zusammenhang w a h r n i m m t , ehrt u n d herstellt. Das ,Ahschluß'-Kapitel legt hierauf größtes Gewicht. Risach und M a t h i l d e würden der H e i r a t nicht zustimmen, wenn ihnen Heinrichs „Wesen nicht die Zuversicht eingeflößt 52

11. 2. 58 an Heckenast.

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hätte, daß da ein dauernd glückliches Familienband gepnüpft werden k ö n ne" (706). Tief beeindruckt hat i h n selbst Mathildes W o r t , ihr u n d N a t a l i e fehle — trotz Risach! — der „ H a l t v o n Verwandten". N u n gibt seine H e i rat ihnen „wieder einen H a l t " , daß „sich ein fester K e r n ihres Daseins wieder darstelle; ein neues Band w a r durch mich v o n ihnen zu den Meinigen geschlungen, u n d selbst das Verhältnis zu Risach hatte an Rundung u n d Festigkeit gewonnen. D e n Abschluß der Familienzusammengehörigkeit w i r d dann Gustav bringen" (753 f.). V o n der Familie zur Familienzusammengehörigkeit: die Familie als T e i l größerer Gebilde, als Baustein des Ganzen, wie sie andererseits der schützende R a u m ist für das Heranblühen des jungen Menschen u n d seines Lebensglückes. I h r festlicher Preis, i n welchen der Roman ausmündet, rundet gleichzeitig die K o n t r a s t f u n k t i o n des ,Rückblicks'. Mathildes Eltern lebten w o h l i n einer Ehe, die wie diejenigen Risachs u n d Mathildes als „musterhaft" gelten konnte, dabei aber „ b l o ß ohne Unglück" w a r (111,4,695) — bis sich herausstellte, daß kein „edles, reines grundgeordnetes Familienleben" errichtet worden w a r (111,5,736). Risach, dem Heinrich so sehr ähnelt, wäre als einziger imstande, der auseinandergleitenden Familie „wieder einen H a l t " zu bieten. Indem die Eltern sein Liebesband zerreißen, lösen sie auch vollends das „Familienband" auf. V o m naturgemäßen Gang der Dinge abgeschnitten, bleibt Risach u n d M a t h i l d e nichts anderes übrig, als k r a f t menschlicher „Freiheit" wenigstens ihr eigenes nachsommerliches Glück u n d das volle, sommerliche Glück der nächsten Generation zu gründen. Sie t u n es, indem sie einen Lebensraum errichten, der einem Familienkreis w i e dem der Drendorfs ähnelt. Welches aber sind i m einzelnen die Maßnahmen, m i t denen sie und Drendorfs — i m Unterschied zu Mathildes Eltern — die jungen Menschen i n ihrer Entwicklung u n d Reife unterstützen? Das Eingangskapitel schildert den häuslichen Lebensraum u n d die frühe Erziehung Heinrichs. Anders als i n Heinbach gibt es hier n u r kostbare alte Bilder (15). D i e Einrichtung ist gediegen, ähnlich w i e i m I n g h o f ; i m U n t e r schied dazu läßt aber jedes Zimmer seine besondere Bestimmung erkennen (10). D i e Eltern sind vorzüglich, aber ohne Überladung gekleidet: „so schöne Gestalten" die geschnittenen Edelsteine auch zeigen, die M u t t e r trägt immer nur ganz einfache (12). D e n Garten besorgen die Eltern gemeinschaftlich (15), während i n Heinbach allein der Vater den Besitz inspizierte, und auf seine Weise. Aufgeräumt w i r d unter der Aufsicht der M u t t e r . Der Vater überwacht jedoch die Reinigung seiner Kostbarkeiten selbst (15). Nach Stifter sollte das tiefere Leben „getragen sein durch die irdischen G r u n d lagen bürgerlicher Geschäfte, der Landwirtschaft, des Gemeinnutzens u n d

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der Wissenschaft." Dementsprechend haben Risach u n d Vater D r e n d o r f ihre geregelten Beschäftigungen, während Mathildes Vater gewisse Liebhabereien betrieb, u n d seine Pflichten dilettantisch ausübte. D e r K a u f m a n n speist m i t seinen Handelsdienern zusammen, die i h n „der Ordnung halber" beim Gang ins Geschäft begleiten (14). Streng w i r d die Distanz zwischen Eltern u n d K i n d e r n gewahrt. Diese bekommen einfachere Speisen, dürfen das elterliche Schlafzimmer nicht betreten u n d den Vater nicht i m Lesezimmer stören (10 f.). W i e i n Heinbach kommen Lehrer ins Haus. Statt eines Hauslehrers überwacht jedoch die M u t t e r den Tagesablauf. „ D e r Unterricht u n d die sogenannten Arbeitsstunden, i n denen v o n uns K i n d e r n das verrichtet werden mußte, was uns als Geschäft aufgetragen w a r , bildeten den regelmäßigen Verlauf der Zeit, v o n welchem nicht abgewichen werden durfte." D e r Satz ist charakteristisch. Wörter w i e „müssen", „ d ü r f e n " , „erlauben" tragen die ganze Schilderung. W i e Frau M a k l o d e n hätte die M u t t e r „ w e i t eher ein Abweichen v o n dem angegebenen Zeitablaufe zugunsten einer Lust gestattet", i m Unterschied zu jener w i r d sie aber durch die „Furcht v o r dem V a ter davon abgehalten." Sie läßt „aus der obengenannten Furcht keine Ausnahme zu u n d w a r uns" — also offenbar aus diesem Grunde! — „ e i n ebenso würdiges Bildnis des Guten w i e der Vater, v o n welchem Bildnisse gar nichts abgeändert werden konnte" (11 f.). D e r Gegensatz zu Heinbach springt ins Auge. D o r t Läßlichkeit der M u t t e r , Indifferenz des Vaters; Lear'sche Einebnung der hierarchischen Familienstruktur; Unbeständigkeit, flüchtige Beweglichkeit der elterlichen Bilder, beim Vater mehr noch als bei der M u t t e r . D i e Bilder der Drendorfs dagegen feststehend, zuverlässig; w a h re Vorbilder, der Vater insbesondere der „ H a l t " des Hauswesens, dem er das P r i n z i p „strenger Genauigkeit" aufprägt (10). Uns mag an dieser unbewegten Ruhe manches zu pedantisch und geradezu wie Unterdrückung vorkommen. H a l t e n w i r uns jedoch bewußt, was für zunächst unscheinbare Abweichungen v o m vollkommenen Familien- u n d Erziehungssystem den jungen Menschen i n Heinbach z u m Verhängnis werden. Danach k a n n — genau w i e i n Goethes ,Meister' — heranreifendes Leben gar nicht sorgfältig genug behütet werden. Haben w i r uns diesen Gesichtspunkt zu eigen gemacht, so gewahren w i r umgekehrt m i t Erleichterung, ja fast m i t ungläubigem Erschrecken, welche Risiken man hier i m Grunde eingeht, w i e viel Bewegungsfreiheit man hier vertrauensvoll der menschlichen N a t u r einräumt. D a ß der Vater darauf verzichtet, Heinrich i n eine bestimmte Berufslaufbahn zu drängen, u n d i h m statt dessen erlaubt, zunächst ein „Wissenschaftler i m allgemeinen" zu werden, erscheint ausdrücklich als „Ungeheuerlich-

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k e i t " , w i r d freilich, w i e w i r bereits hörten, auf dem Boden des josephinischen Weltbildes eingehend begründet. Es erinnert uns z w a r an die läßlich vertrauensselige Aus drucks weise i n Heinbach, wenn Heinrich erzählt, der Vater habe über i h n gesagt, „ m a n solle mich nur gehen lassen, es werde sich aus dem Unbewußten schon entwickeln, w o z u ich taugen werde u n d welche Rolle ich auf der W e l t einzunehmen hätte" (16 - 19). M i t Fahrlässigkeit hat das indessen nichts zu t u n ; vielmehr w i r d da lebensgläubig, vertrauensvoll der N a t u r überlassen, was erzieherische Sorgfalt nicht mehr gewährleisten kann. Diese w i r k t indessen i m Umkreis der verbleibenden Möglichkeiten durchaus weiter. W i r spüren es bis i n die pedantisch steife D i k t i o n hinein. U n d es geht weiter darum, die selbständige K r a f t des jungen Menschen systematisch fortzubilden, etwa auf körperlichem Gebiet. Begnügt H e r r M a k l o d e n sich damit, seinen Sohn dem Teiche fernzuhalten, so läßt Vater D r e n d o r f Sohn u n d Tochter „schon i n der K i n d h e i t " schwimmen lernen u n d es später den Sommer hindurch „fast täglich" üben. Nachdem er den R a t erfahrener Männer eingeholt u n d sich an O r t u n d Stelle informiert hat, schickt er Heinrich außerdem i n eine Anstalt, „ i n welcher nach einer gewissen O r d nung Leibesbewegungen vorgenommen werden". Ja, da es für Mädchen solche Anstalten noch nicht gibt, läßt er ein Zimmer m i t Turngeräten ausstatten, „ u n d die Schwester mußte sich den Übungen unterziehen", was sie übrigens „sehr gerne" t u t . Findet man i n Heinbach an planlosen Spazier gängen Vergnügen, so üben sich die Geschwister D r e n d o r f systematisch „ i m Zurücklegen bedeutender Wege oder i n Besteigung eines Berges" (19 f.). D a ß Heinrich auch i m übertragenen Sinn schwimmen lernt, beweist die A r t , w i e er sein Studium ausbaut. Bestimmte Fächer treibt er zunächst unter A n l e i t u n g v o n Lehrern weiter, dann auf seine Bitte h i n allein. Er fragt Männer v o n R u f u m ihren R a t u n d versucht m i t Erfolg, „eine gewisse O r d nung" i n seine Vorhaben zu bringen. D e r Vater unterstützt das jetzt nur noch, indem er die nötigen H i l f s m i t t e l z u r Verfügung stellt. Außerdem überträgt er i h m einen T e i l seines ererbten Eigentums zur selbstverantwortlichen Gebarung. E r bezeichnet ihm, was er davon bestreiten müsse. Nachdem Heinrich „ z u seiner Zufriedenheit eine Zeit hindurch gewirtschaft e t " hat (23), erweitert der Vater den Kreis der Vollmachten. D i e Zahlungen erfolgen „nicht mehr monatlich", aber auch noch nicht „halbjährlich oder gar nach ganzen Jahren, sondern vierteljährlich", u m Heinrich „ a n größere Zeitabschnitte zu gewöhnen" u n d damit er „doch nicht etwa i n U n o r d n u n g geriete" (1,2,24). Das Ergebnis dieser ebenso behutsam wie rechtzeitig eingeleiteten Entwicklung ist, daß Heinrich — noch v o r der gesetzlichen M ü n d i g k e i t ! — über die Zinsen seiner Erbschaft v o l l verfügen

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darf: eine Freiheit, die den dankbaren Sohn nur umso enger an den Vater bindet; stets w i l l er dessen R a t einholen u n d sein Vertrauen rechtfertigen (1,2,32 f.). So stellt Vater D r e n d o r f seinen Sohn auf eigene Füße. E r läßt sich v o n grundsätzlichen Überlegungen u n d konkreten Beobachtungen gleicherweise leiten, t r i f f t seine Maßnahmen i n wohlabgemessenen Schritten, nicht zu früh u n d nicht zu spät; peinlich bemüht u m eine Stetigkeit, „ Allmählichk e i t " , die das Gleichgewicht v o n „Ruhe u n d Bewegung" sichern soll. E i n unscheinbares, dabei entscheidend wichtiges, verantwortungsvolles T u n — das sich trotz seiner Perfektion immer angewiesen weiß auf die H i l f e der N a t u r . Heinrich k a n n nicht mehr vollständig unter direktem elterlichem Schutz u n d Einfluß stehen. ,Der Wanderer', w i e i h n das 2. K a p i t e l nennt, hat bereits damit zu schaffen, das gelegentlich gestörte Gleichgewicht seiner Bemühungen wiederherzustellen: der tote Hirsch mahnt i h n daran, daß er die lebendige Gestalt bisher vernachlässigte (35). Überhaupt muß er sich Einseitigkeit, Verkennung des wahrhaft Bedeutsamen, ja, Mangel an Gef ü h l vorwerfen lassen (38). Für unser Empfinden ist er z w a r ein Musterknabe. Unermüdlich ordnet er u n d teilt er ein — trotzdem ist er labil. So konsequent das System auf Perfektion u n d T o t a l i t ä t angelegt ist, die K o n trolle erstreckt sich doch nicht bis i n die letzten W i n k e l der Person. Erst v o r dem erschreckenden H i n t e r g r u n d dieses beträchtlichen irrationalen Restes versteht man das Bekenntnis, das uns sonst als sentimentaler Stoßseufzer eines Muttersöhnchens anmuten könnte u n d das i n ähnlicher F o r m so häufig wiederkehrt, wenn Heinrich sich des Einverständnisses der Eltern auf neuer Ebene vergewissert: „Jetzt ist alles gut, jetzt ist alles gut" (11,1,283). Jener bedenkliche H i n t e r g r u n d selbst aber, das bei noch getrübter Vernunft nahezu unberechenbare Gefühl, Sitz der Stifterschen T i gernatur des Menschen: es gleißt verführerisch i n folgenden Sätzen: „ O f t , wenn ich durch wildes Gestrüppe plötzlich auf einen freien A b r i ß k a m u n d m i r die Abendröte entgegenschlug, w e i t h i n das L a n d i n D u f t u n d roten Rauch legend, so setzte ich mich nieder, ließ das Feuerwerk v o r m i r verglimmen, u n d es kamen allerlei Gefühle i n mein H e r z . " (31) Eine vergleichbare Bezauberung, die die Dinge fremd macht, finden w i r erst i n der Jugendgeschichte Risachs, i m ,Rückblick' wieder. 5 3 Das „ G e f ü h l " , das bei der Liebeserklärung „ w i e ein S t u r m w i n d " über Risach kam, läßt i h n alles i n besonderem Licht sehen. Der Weinlaubengang ist i h m „ j e t z t ein fremdwichtiges D i n g , w i e ein Palast aus dem fernsten Morgenlande". D i e Rosen sind abgeblüht; doch i h m scheint es, „als blühten u n d 53

Vgl. die Interpretation bei Requadt, S. 23 f.

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glühten" sie alle. Beim schiefen „Hereinleuchten der Abendröte" glaubt er, am Fenster schimmerte das rosige Gesicht der Geliebten. Immer wieder t r i t t er v o n seiner Fliederbank auf den Rasen, u m zu sehen, w i e sie sich aus dem Fenster beugt. „Dies taten w i r ungezählte Male, bis der Flieder i n dem R o t der Abendröte schwamm u n d die Fenster wie Rubinen glänzten" (111,4,670). Heinrich w i r d es i m entsprechenden Augenblick ähnlich ergehen u n d doch anders: „ W i e hatte seit einigen Augenblicken sich alles u m mich verändert, u n d wie hatten die Dinge eine Gestalt gewonnen, die ihnen sonst nicht eigen war. Nataliens Augen, i n welche ich schauen konnte, standen i n einem Schimmer, wie ich sie nie, seit ich sie kenne, gesehen hatte. Das unermüdlich fließende Wasser, die Alabasterschale, der M a r m o r , waren verj ü n g t ; die weißen Flimmer auf der Gestalt u n d die wunderbar i m Schatten blühenden Lichter waren anders, die Flüssigkeit rann, plätscherte oder pippte oder tönte i m einzelnen Falle anders; das sonnenglänzende G r ü n von draußen sah als ein neues freundlich herein, u n d selbst das Hämmern, m i t welchem man die Tünche v o n den Mauern des Hauses herabschlug, tönte jetzt als ein ganz verschiedenes i n die Grotte v o n dem, das ich gehört hatte, als ich aus dem Hause gegangen w a r " (11,5,500). „ I c h wendete mich u m und hatte den Anblick des Schlosses v o r m i r , welches jetzt v o n solcher Bedeutung für m i d i geworden war. Die Fenster schimmerten i n dem Glänze der Sonne, das Grau der v o n der Tünche befreiten südlichen Mauer schaute sanft zu m i r herüber, das dunkle Dach hob sich v o n der Bläue der nördlichen L u f t ab, u n d ein leichter Rauch stieg v o n einigen seiner Schornsteine auf." „ I c h ging langsam auf dem Rücken des Feldes an den Obstbäumen vorüber meines Weges zurück, bis er sachte gegen das Schloß abwärts zu gehen begann." (111,1,516) Auch für Heinrich also nehmen die Dinge sich anders aus als sonst. Aber sie bleiben vertraute, ja werktägliche Gegenwart. N u r treten sie i n ihrer I n d i v i d u a l i t ä t klarer, reiner, freundlicher, verjüngt hervor, das heißt doch w o h l : mehr i n ihrer Wesenheit als sonst. Das ist das Gegenteil der Täuschung, die i n Risach stattfindet. Leidenschaft entfremdet dort alles, verw i r r t die Sinne, betört das H e r z , regt die Phantasie auf u n d t r ü b t die Vernunft. Der Unterschied der Erlebnisweise beruht bei der großen Ähnlichkeit der Personen aber nicht auf deren Eigenart, sondern auf der verschiedenartigen Erziehung u n d Leitung durch die hierzu Berufenen. Das gilt auch für die Mädchen. M a t h i l d e durfte sich der Musik, besonders dem Zitherspiel, unbegrenzt u n d bis zu tiefster Erschütterung hingeben. Sie durfte es v o r der ganzen Hausgemeinschaft u n d wurde dazu noch v o n

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ihren stolz gerührten Eltern ermuntert. N a t a l i e hingegen spielt die Zither nie v o r anderen, w i e sie auch niemandem ihre Bücher u n d Handarbeiten zeigt. Solche Verschlossenheit schont ihre Seele und die der anderen. Besonders, was die M u s i k angeht, „beobachtet" man i n Risachs Kreis „eine feste Enthaltsamkeit". Aber N a t a l i e spielt auch nicht etwa allein. Das t a t M a t hilde, deren Vater seine Geigenkunst überhaupt nur für sich ausübte. Jetzt, als M u t t e r , spielt sie gewöhnlich m i t ihrer Tochter zusammen. Sie spielen „abwechselnd gegeneinander u n d miteinander" (236) — offenbar u m das Gefühl auf eine objektive O r d n u n g einzuüben, es nicht sich selbst zu überlassen, wobei es ungehemmt sich steigern, übersteigern könnte. Ähnliches hat Heinrichs Vater i m Sinne bei der Theater-Erziehung seiner K i n d e r : „ D e r Vater hatte, solange w i r K i n d e r waren, nie erlaubt, daß w i r ein Schauspiel zu sehen bekamen. Er sagte, es würde dadurch die Einbildungsk r a f t der K i n d e r überreizt u n d überstürzt, sie behingen sich m i t allerlei willkürlichen Gefühlen u n d gerieten dann i n Begierden oder gar Leidenschaften." Als die Geschwister dann heranwachsen, begleitet der Vater sie i n Stücke, „ v o n denen er glaubte, daß sie uns angenehm wären u n d unser Wesen förderten. I n die Oper oder gar ins Ballett durften w i r nie gehen, ebensowenig durften w i r ein Vorstadttheater besuchen. W i r sahen auch die A u f führung eines Schauspiels nie anders als i n Gesellschaft unserer Eltern. Seit i d i selbständiger gestellt war, hatte ich auch die Freiheit, nach eigener W a h l die Schauspielhäuser zu besuchen." D a n k der i h m bisher auferlegten Enthaltsamkeit verspürt Heinrich zwar „nach dieser Richtung h i n keinen mächtigen Z u g " (1,6,171). Das hindert seine unverbrauchte Seele aber keineswegs — i m Gegenteil, es befähigt sie gerade — bei der ,Lear'-Vorstellung sogleich m i t N a t a l i e zusammenzustimmen i n der tiefen, an die Grenze des Erträglichen heranreichenden E r schütterung angesichts der Mächte, die man bei i h m zu Hause sorgfältig unter K o n t r o l l e hält, während sie hier und, w i e er hören w i r d , i n Mathildes Elternhaus ungehindert i h r Zerstörungswerk verrichteten. Diese Mächte zu beherrschen u n d das Dasein zu erfüllen, ist bei Stifter eine äußerst schwere Aufgabe. D a r u m weist er der Erziehung eine so zentrale Rolle zu. Sie besteht über die V e r m i t t l u n g v o n Wissensgut hinaus i n der Gewöhnung an die Grundformen des Daseins, u n d z w a r durchaus so, daß die Aneignung zu einer praktisch-existentiellen, zu einer habituellen w i r d , je mehr, je besser. D e n n immerwache Vernunft u n d Zweifelsucht, angestrengte Selbstkontrolle, Selbstzucht müssen dem Menschen i n Fleisch u n d B l u t übergehen. E r muß also dazu erzogen werden, daß er sich selbst erziehen, i n Zucht halten kann. M a n muß i h n „schwimmen" lehren, selbständig machen.

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I n der Tendenz, sämtliche Bedingungen u n d Einflüsse zu kontrollieren, denen heranwachsendes Leben ausgesetzt ist, äußert sich ein tiefes M i ß trauen gegen dessen Fähigkeit, sich aus eigenem Vermögen zu behaupten. Dagegen beruht das Erziehungsziel der Selbständigkeit erstens auf dem resignierenden Wissen u m die Grenzen der Erziehung, u m die N o t w e n d i g keit, den Zögling früher oder später sich selbst zu überlassen, u n d zweitens auf dem Wagnis, trotz allem der Tüchtigkeit des naturgemäß herangezogenen Lebens zu vertrauen, das sich i m Zusammenhang der Dinge w o h l bewähren sollte. D i e richtige Erziehung ist v o n A n f a n g an darauf angelegt, so zuverlässige Grundlagen zu schaffen, daß es nichts zu t u n hat m i t Leichtsinn, wenn zur angemessenen Zeit dieses weitgehend auf besorgte Determination abgestimmte System sich öffnet auf sein Gegenteil h i n : auf die Zustimmung z u m freien Spiel der I n d i v i d u a l i t ä t . E i n eindrucksvolles Beispiel dafür bietet Mathilde. Sie wurde v o n ihrer M u t t e r , w i e w i r uns erinnern, aus falsch angebrachter Anhänglichkeit, letztlich aus Eigenliebe, nicht i m Selbständigwerden gefördert. N u n hat sie selber eine Tochter. Natalie, m i t ihrer zart wachsenden Zuneigung beschäftigt, hat i m Spazierengehen die Zeit nicht beachtet. Sie kehrt erst i n der Mittagshitze zurück. D i e M u t t e r fordert sie vorsorglich auf, sie möge sich i n die Sonne setzen, u m nicht zu rasch abzukühlen. Sie macht i h r gelinde V o r h a l tungen darüber, daß sie sich derartig „ e r h i t z t " habe. Natalies Reaktion nun läuft allem zuwider, w o r a n der ,Nachsommer'-Leser gewöhnt ist u n d was er erwartet: die Tochter widerspricht der M u t t e r . Sie bestreitet, sich erh i t z t zu haben. Z w a r t u t sie trotzdem „folgsam", was die M u t t e r wünscht (11,3,441), — aber sie verlangt zugleich, man möge sie gehen lassen, wie sie selbst es wünsche; die M u t t e r habe v ö l l i g recht m i t ihrem W o r t : „ N a t a lie, du w i r s t kein Unrecht begehen, w i e du es ja nie tust, du wirst keine Maßregel außer acht lassen, die w i r dir gesagt haben, und du wirst dich i n deine Gedanken nicht so vertiefen, daß du deinen K ö r p e r vergäßest." M a t hilde stützt ihre Zuversicht auf allgemeine Grundsätze: „ D e r Jugend ist alles gut, der Jugend schlägt alles z u m Gedeihen aus, sie w i r d w o h l auch empfinden, was i h r not tut, wie das A l t e r empfindet, was es bedarf [ . . . ] , und unser Freund sagt ja auch, man soll der N a t u r ihr W o r t reden lassen; darum magst du gehen wie die fühlest, daß du es bedarfst, N a t a l i e . " (443 f.) W i l l man diese Sätze richtig verstehen, muß man zweierlei berücksichtigen: erstens hat N a t a l i e sich „doch" erhitzt, wie alle Anwesenden bemerken (440, 444); u n d zweitens streitet sie, wenn man genauer hinsieht, gar nicht ab, daß sie erhitzt ist, sondern erklärt nur, daß es ihr nichts ausmacht, daß es ihr „nicht so w e h " tut, w i e die M u t t e r glaubt (442). Ferner schiebt

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Heinrich eine längere Betrachtung ein, die i n dem Satz gipfelt: „ N a t a l i e stammte also gleichsam aus einem Geschlechte, das vergangen w a r u n d das anders und selbständiger w a r als das jetzige" (443). Es ist ihre Selbständigkeit, die i n der ganzen Szene h e r v o r t r i t t u n d offenbar auch v o n der M u t t e r anerkannt w i r d . Das mag der G r u n d sein dafür, daß M a t h i l d e ihre Ermahnungen zuletzt i n die F o r m v o n Bestätigungen kleidet. Sie ist geneigt, sich, auf die selbständige Vernunft der Tochter z u verlassen; u n d sie ermuntert sie auf ihrem Wege. Andererseits verzichtet sie nicht darauf, schützenden u n d förderlichen Einfluß auf sie auszuüben; doch sie hütet sich davor, die Tochter z u bevormunden. A l t e r und Jugend gehen verschiedene Wege, sie sind sich aber einig i m Grundsatz der Vernunft — und i m G r u n d satz der schonenden Rücksichtnahme. Abgesehen v o n der gebotenen u n d gewohnten Ehrfurcht der M u t t e r gegenüber, handelt N a t a l i e j a auch vernünftig, wenn sie die mütterliche Vorsichtsmaßregel befolgt — schaden k a n n es sicher nicht; u n d aus Rücksicht verspricht sie, auf ihren Wegen maßzuhalten, so gut sie k a n n : „ [ . . . ] ich tue es u m deinetwillen, M u t t e r , daß du dich nicht beunruhigest" (444). V e r n u n f t u n d Rücksicht kennzeichnen jedoch v o r allem Mathildes weise Mäßigung. Sie denkt nicht daran, ihren Autoritätsanspruch, ihre Gesundheitsansichten u m jeden Preis durchzusetzen. Sie verfährt weder autoritativ n o d i dogmatisch, sondern stimmt i h r Verhalten rücksichtsvoll-schonend ab auf das, was sich ihr i m Gespräch m i t N a t a l i e ergibt. Der Gegensatz zu ihrer eigenen M u t t e r ist vollkommen. Deren Fehler bestand nun nicht bloß darin, daß sie ihre Ansichten schonungslos-radikal durchsetzte, ohne die Verhältnisse zu prüfen oder auf die N a t u r , den M e n schen selber zu vertrauen. Darüber hinaus kümmerte sie sich beim V o r t r a g ihrer Argumente nicht darum, ob die jungen Leute dafür überhaupt empfänglich seien oder nicht. W i r setzten i h r Verhalten damals nur v o n der M a x i m e ab, die Goethe durch seinen Jarno formuliert. W i r haben jetzt ergänzend innerhalb des Romans drei Fälle heranzuziehen, w o der Erzieher schweigt, vertrauensvoll den richtigen Augenblick z u m Sprechen abwartet u n d damit sowohl die naturgemäße Entwicklung als auch das labile Selbstgefühl des Zöglings schont u n d fördert. 5 4 D i e Fälle treten sämtlich i n den ersten drei K a p i t e l n des I I . Buches auf, deren Überschriften ,Die Erweiterung', ,Die Annäherung', ,Der Einblick' schon das Erreichen einer höheren Selbständigkeitsstufe ausdrücken. 54 Kunisch, S. 127, würdigt dieses „Wartenkönnen, das zu den größten Anforderungen an den Vater gehört, und das stille Einwirken und unmerkliche Nachhelfen, die Feinhörigkeit, da zu sein, wenn er nötig ist, und sich zurückzuhalten, wenn der Wachsende den eigenen Raum sucht". Immer wieder betont Fischer die Dialektik zwischen Führen und Wachsenlassen (Th. Litt) als Generalthema der Stifterschen Pädagogik.

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Heinrich beginnt plötzlich v o n selber, i n seinen Landschaftsmalereien tiefer zu dringen, nämlich darin „ d i e Seele eines Ganzen", „das Unnennbare" zu ergreifen. Als er seine neuen Versuche m i t einiger Scheu vorlegt, sagt Risach: „ I h r braucht Euch deshalb nicht beinahe zu entschuldigen, es w a r zu erwarten, daß I h r nicht bloß bei Eurem Sammeln v o n Steinen u n d Versteinerungen bleiben werdet, es ist so i n der N a t u r , u n d es ist so g u t " (11,1,299 f.). Wenig mag so beglückend, beruhigend u n d ermutigend w i r k e n wie ein solcher Satz. D e r Zögling w i r d i n seinem Fortschreiten bestätigt; und i h n umgab bereits Vertrauen, solange man nur beobachtete, abwartete u n d schwieg. Heinrich, bei dem der Bann einmal gebrochen ist, wendet sich nun auch der Dichtung zu. Seine „ N a t u r selber" zieht i h n über seinen bisherigen Kreis hinaus. Diesen Augenblick ergreift Risach sofort, u m ihn aufzufordern, überhaupt seine vorzeitige Spezialisierung aufzugeben u n d seinem „Wesen eine breitere Grundlage" zu geben (307 f.). Endlich erkennt Heinrich, wie schön die Statue ist. Er fragt, w a r u m man i h m das nicht früher k l a r gemacht habe. Risach entgegnet, dergleichen wäre zwecklos oder beeinträchtige „demjenigen das Besitzen des Schönen, der ohnehin aus eigenem Antriebe darauf gekommen wäre. Dies setzte ich bei Euch voraus, u n d darum wartete ich sehr gerne auf Euch." Gewiß dachte er dabei nicht abfällig v o n Heinrich, sondern schätzte dessen Wahrhaftigkeit (11,2,335 f.) — aber geschont hatte er i h n doch, genau w i e man bei Betrachtung der altdeutschen Kirche „ f r ü h e r " auf seine „Unkenntnis Rücksicht genommen hatte" (395). Als er gewahrt, daß er achtlos vorüberging an den Kunstschätzen des Vaters, da erkennt er m i t einem eigentümlichen, tiefen Gefühl, „ w i e sehr" er „auch hier geschont worden w a r " (11,3,303 f.). Es w i r d i h m überhaupt deutlich, daß man i h n „geschont habe"; daß man i n seiner Gegenwart nicht v o n Kunstwerken sprach, u m i h n „nicht i n einen Kreis zu nötigen, der i n jenem Augenblicke noch beinahe außerhalb" seiner „Seelenkräfte l a g " ; daß auch der Vater über seine Bilder „ n u r insoweit" gesprochen habe, als Heinrich „selber darauf zu sprechen k a m " . E r schämt sich, er k o m m t sich „ungefüg u n d unbehilflich" vor, erkennt aber auch, daß man seine Anteilnahme „als sicher bevorstehend betrachtet" hat u n d i h r Eintreffen freudig begrüßt (11,2,374 f.). Entsprechend dem Prinzip, daß der Zögling selber z u m Erzieher heranzubilden sei, entwickelt Heinrich u m diese Zeit an sich selbst die Fähigkeit, zu fördern, ohne zu verletzen. Bei den Marmorarbeiten, die er anfertigen läßt, bemüht er sich, seine Anweisungen „ohne Verletzung des Mannes [ . . . ] darzulegen u n d sie eher i n das Gewand einer Beratung einzukleiden". Erfolg: man geht auf seine „Ansichten sehr gerne ein", macht sich „ m i t Eifer an die Fortsetzung" u n d gewinnt darüber hinaus überhaupt Anhalts-

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p u n k t u n d Aussicht, sich durch das v o n Heinrich vorgeschlagene Verfahren „ i n schönere u n d heiterere Kreise zu schwingen" (11,2,372). D e r Lehrling ist z u m Meister geworden, der Zögling zum Erzieher. D e m Zusammenhang des Ganzen wurde ein neues, haltgebendes u n d förderndes Glied gewonnen. Er w i r d das Kostbarste, die i h m anvertrauten Menschen, als K l e i n ode hüten. Bei der Hochzeit läßt Stifter i h n zu N a t a l i e sagen: „ D u bist mein K l e i n o d " (111,5,736).

Spuren

Schlußwort : des T h e m a s i n L i t e r a t u r

und

Leben

W i r sind am Ende. Wenn unsere Resultate stimmen, ist bei Stifter richtiges Leben u n d Erziehen schwerer, gibt es mehr Stufen des Vortrefflichen, als man anzunehmen pflegte. Diese Stufen bedeuten gewiß Gradunterschiede, aber keine solchen, die sich widerstandslos beheben lassen. Was h i n ter dem Vollkommenen nur gradweise zurückbleibt, k a n n damit doch v ö l l i g unzulänglich sein, i m antithetischen Kontrast z u m Rechten stehen u n d unabsehbaren Schaden anrichten. Ursache dafür ist dasselbe, was die Personen i m R o m a n u n d ebenso den Leser irreleitet: die fein nuancierte A b stufung, die das nicht ganz Vollkommene scheinbar m i t dem Vollkommenen zusammenfallen läßt. Sie f ü h r t dazu, daß man sich vorschnell zufrieden gibt, daß man vorschnell das angestrengte Bemühen aufgibt, Dinge u n d Wesen zu achten, z u beachten, z u schützen u n d zu fördern, beziehungsweise derartiges T u n zu vermissen u n d z u fordern. Mangel an Zweifelsucht, allzuhohe u n d allzusichere Selbsteinschätzung bringen Mathildes E l tern i m jRückblick'-Kapitel dazu, das rechte Leben, insbesondere das rechte Familienleben zu verfehlen, die ihnen anvertrauten jungen Menschen nicht so, w i e sie sollten, als Kleinode z u hüten, sie stattdessen zu vernachlässigen u n d dann durch autoritativ-gewalttätiges Eingreifen u m die sommerliche V o l l b l ü t e ihres Lebensglücks zu bringen. Das mögen abschließend drei Hinweise bekräftigen, die Stifter, abermals seine Spur verwischend, außerhalb des »Rückblick'-Kapitels u n d scheinbar ohne Bezug darauf anbringt. I m ,Abschluß'-Kapitel k o m m t Risach auf seinen Pflegesohn Gustav und auf den Jüngling überhaupt zu sprechen; er endet m i t dem Satz: „ [ . . . ] wenn ein solches Jünglingsauge zu rechter Zeit i n das rechte M ä d chenauge schaut, so f l a m m t die plötzlichste, heißeste, aber o f t auch unglücklichste Liebe empor, w e i l der junge, unverfälschte M a n n sie fast unausrottbar i n sein H e r z n i m m t . " (733)

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Es ist die „unglücklichste Liebe", wenn sie nicht zur E r f ü l l u n g gedeiht. — Unmittelbar v o r Beginn des Rückblicks', gewissermaßen dessen Thema präludierend, spricht Risach davon, daß es für den jungen M a n n schwierig ist, seinen Beruf, seine Stellung i n der W e l t zu wählen; denn er ist j u n g ; andererseits aber muß er „ i n der Jugend wählen", „ w e i l es sonst zu spät ist [ . . . ] . Es ist schwierig, u n d mögen, die beteiligt sind, darüber wachen, daß weniger leichtsinnig verfahren werde" (633 f.). V o n der ,Beherbergung* hat man gesagt, 55 die Nachsommerwelt w i r k e „nirgends so künstlich, gezwungen, pedantisch w i e i n diesem K a p i t e l . Das Leben scheint m i t so v i e l Sicherungen umstellt, daß es k a u m noch echt w i r ken kann." Derartige Einwände hat man oft erhoben. A l l e K o n t r o l l e dient hier aber nur dazu, die naturgemäße Entfaltung des höheren Lebendigen zu gewährleisten. Dessen Verwurzelung i m freien Naturboden w i r d sowenig angetastet wie beim „Peruvianus". Andererseits ist es hier eben äußerst wichtig, daß alles Lebendige, daß insbesondere der Mensch aufs sorgfältigste behandelt, „daß er als K l e i n o d gehütet werde". W i e wichtig das ist, erkennt man freilich erst, wenn man den R ü c k b l i c k ' richtig liest, wenn man beachtet, welcher Schaden dort u n d auch sonst angerichtet w i r d , w o es an Sicherungsvorkehrungen mangelt. U n d wiederum erschließt sich erst v o r dieser Kontrastfolie der ganze Sinn der Worte, m i t denen Risach den thematischen K e r n des ,Nachsommers' andeutet. Es handelt sich u m die oben zitierte Lehre v o m Eingreifen i n Wachstumsabläufe; u m die Forderung, dabei m i t größter Zweifelsucht u n d so gewissenhaft, vorsichtig u n d aufmerksam w i e irgend möglich vorzugehen. U n d w i r verstehen, w a r u m gerade R i sach das Gegenteil v o n alledem m i t einer Erbitterung verdammt, welche der getragene T o n dämpfend beherrscht u n d zugleich feierlich steigert. Er spricht v o n der Sünde gegen die Maximen, die er z u den NachsommerM a x i m e n machte. Es ist die „Sünde, welche i n arbeitenden Ständen und auch w o h l i n andern sehr häufig ist, die Sünde der Erfolggenügsamkeit oder der Fahrlässigkeit, die stets sagt: ,Es ist so auch recht', u n d die jede weitere Vorsicht für unnötig erachtet. Es ist die Sünde i n den unbedeutendsten u n d wichtigsten Dingen des Lebens vorhanden, u n d sie ist m i r i n meinen früheren Jahren o f t vorgekommen. Ich glaube, daß sie die größten Übel gestiftet hat. Manche Leben sind durch sie verlorengegangen, sehr viele andere, wenn sie auch nicht verloren waren, sind durch sie unglücklich oder unfruchtbar geworden" (89 f.). V o n dieser Übel stiftenden Sünde handelt das K a p i t e l ,Der Rückblick'. Es liefert die Kontrastfolie für die mustergültigen erzieherischen Leistungen Risachs, Mathildes, Vater Drendorfs u n d zunehmend auch Heinrichs. 55

Hoboff,

S. 105.

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D a ß dieser seinen Erziehern immer ähnlicher w i r d u n d auf weite Strecken hinter ihnen, wenigstens hinter Risach, zurücktritt, entspricht dem Sinn des Ganzen: der Zögling soll z u m Erzieher, der als K l e i n o d Behütete soll dazu erzogen werden, selber andere Menschen als K l e i n o d zu behüten. Das Problem ist inzwischen nicht veraltet. I m Gegenteil, es hat an A k tualität gewonnen. „ D e r Sohn bedarf des Vaters, u m Vater zu werden", schreiben Alexander u n d Margarete Mitscherlich. 5 6 W e n n die bestehenden Idealnormen gestört werden u n d i m Zusammenhang damit „ d i e Vorstellungen der Eltern v o n ihren elterlichen Aufgaben unsicher u n d i n dauernder Veränderung begriffen sind", können „katastrophale Folgen entstehen". Stifter hat daran gerührt, i m ,Nachsommer' u n d i n anderen Werken, i n ,Abdias', ,Brigitta', ,Bergkristall' 5 7 , ,Das alte Siegel', ,Turmalin', »Kalkstein'. I m V o r b i l d der zuletztgenannten Erzählung, i m ,armen Spielmann' (1848), verbindet Grillparzer dieses Thema des vernachlässigten K i n des ähnlich raffiniert w i e dann Stifter i m ,Rückblick' durch die K u n s t der versteckten Nuance m i t dem anderen, dazugehörigen Problem, daß man aus blinder Selbstzufriedenheit den Nächsten u n d seine N o t verkennen, vernachlässigen u n d unheilbar beschädigen kann. D i e beiden Österreicher stehen damit nicht allein. D o d i erst ein Menschenalter später w i r d Raabe den Zusammenhang der zwei Probleme ähnlich raffiniert entwickeln u n d zugleich verschleiern. W a r u m eigentlich spricht man davon so verblümt? Ist das eine Form des „Realismus"? Reizt die Virtuosität solcher Artistik? Oder gefällt man sich, gefällt sich Stifter zwanghaft i n der Ehrfurchtsattitüde? W i r können dem nicht nachgehen. Andere jedenfalls nannten die Dinge k l a r beim Namen, Keller etwa i n der Geschichte v o m ,Meretlein' aus dem ,Grünen H e i n rich' (1855) u n d bei dem Titelhelden selbst. Dessen M u t t e r w i r f t sich i n der 2. Fassung (1880) vor, sie habe ihr K i n d aus Unwissenheit u n d Hochm u t keiner „festen Erziehung", sondern „einer z u schrankenlosen Freiheit u n d W i l l k ü r " überlassen u n d i h n dadurch für immer „geschädigt" (111,15). I n C. F. Meyers N o v e l l e ,Das Leiden eines Knaben' (1883) hat M a r schall Bouffiers nur den „ N i m b u s seiner Ehre" i m K o p f , „statt an sein K i n d zu denken, das er vielleicht, so lange es lebte, noch keines eingehenden Blickes gewürdigt hatte". Zuletzt erkennt er sein Unrecht, „das K i n d vernachlässigt u n d zu dessen Tode geholfen zu haben": ein Schicksal, dessen Tiefe nicht erfaßt w i r d v o n L u d w i g X I V . , der sich selbstgefällig als M

Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1968, S. 231, 239. Vgl. auch A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963. ö7 (Siehe S. 105.)

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„Kenner der Menschenherzen" u n d „der W i r k l i c h k e i t " apostrophieren läßt, o b w o h l er i n Wahrheit der Begünstiger „des Vorurteils" u n d der angenehmen Selbsttäuschung ist, gemäß der M a x i m e : „Unselige Dinge verlangen einen Schleier!" Fontanes E f f i Briest (1895) hat i n ihrem Gatten keinen Liebhaber. „ E r hatte das Gefühl, E f f i zu lieben, u n d das gute Gewissen, daß es so sei, ließ i h n v o n besonderen Anstrengungen absehen" (13. Kap.). A n ihrem Verführer, dem M a j o r Crampas, findet die alte Frau v o n Padden „ m i t feinem I n s t i n k t " auszusetzen: „ E i n bißdien zu sicher. U n d Hochmut k o m m t vor dem Fall [ . . . ] " (20. Kap.). Manche Gefahren lassen sich nur erkennen, „ w e n n man nicht zu eitel ist u n d nicht zu viel Vertrauen zu sich selber h a t " (30. Kap.). A m Schluß, als E f f i t o d k r a n k darniederliegt, fragt die M u t t e r sich u n d den Vater: „ O b w i r nicht doch vielleicht schuld sind? [ . . . ] O b w i r sie nicht anders i n Zucht hätten nehmen müssen. Gerade w i r [ . . . ] " U n d : „ O b sie nicht doch vielleicht zu j u n g war?" D a m i t ist die H e i r a t m i t dem viel älteren M a n n gemeint, eine H e i r a t , die die Eltern ohne tiefergehende Überlegung Hals über K o p f beschlossen hatten. I m , H o r n v o n Wanza c (1880), 12. Kap., spottet Raabe über die „etwas zu hoch gespannte gute Meinung u n d Ansicht des das Beste über sich denkenden Erdensohnes", der „ i m unerschütterten Bewußtsein seines Wertes m i t zu den Sternen emporgerichteter Nase weiter w a n d e l t " . U n m i t t e l b a r vorher fordert uns der Dichter auf, m i t i h m zu überlegen, „ w i e viele unserer besten Bekannten w i r uns i n Wahrheit je ganz genau angesehen haben? Viele sind's sicherlich nicht. W i r leben auch i n dieser Beziehung meistens i n einer Selbsttäuschung, verlassen uns darauf, daß w i r ja ,Augen i m Kopfe' haben, u n d merken es selten, wie wenig w i r i m Grunde diese Augen gebrauchen oder gebrauchen können" — eine Unterlassung, deren sich die trefflichen Damen der Erzählung schuldig machen u n d die zur Katastrophe des Rittmeisters führt, ohne daß dies deutlich ausgesprochen w i r d . Baron v o n Schmidt (,Meister A u t o r ' , 1873) u n d Freiherr v o n Bielow (,Unruhige Gäste', 1886) endlich sind sympathische Weltleute m i t Geist, H e r z und T a k t . Doch gerade i h r keineswegs unbegründetes Superioritäts- u n d Sicherheitsgefühl verleitet sie, zuweilen doch nicht v o l l k o m m e n t a k t v o l l und besonnen zu verfahren. M i t einem solchen „Schritt v o m Wege" verspielen sie das eigene u n d fremdes Lebensglück, wiederum ohne daß ihre Schuld ausdrücklich beim N a m e n genannt w ü r d e . 5 8 58 Vgl. W. Wittkowski: Tun und Reden. Raabe s „Horn von Wanza* und Fontanes „Irrungen Wirkungen" im Zusammenhang der Dinge ethisch betrachtet. In: Wege der Worte, Festschrift Wolfgang Fleischhauer, hrsg. Donald F. Riechel, Köln 1977.

9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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Wolfgang Wittkowski

D i e Dramatiker der Epoche — oder vielmehr der vorangehenden Epoche — rücken das Thema i n den metaphysischen Zusammenhang, den die poetischen Realisten, wenn überhaupt, dann nur behutsam andeuten. I n , K ö n i g Ottokars Glück u n d Ende' (1824) erkennt der H e l d seine Verworfenheit daran, wie er m i t den i h m anvertrauten Menschen schaltete. „ D e n H e r r n der Welten frevelnd" nachspielend, hat er sie „schockweis", „ z u Tausenden" gleichsam „ w i e K e h r i d i t " v o r die T ü r geschüttet, dem Tode ausgesetzt — während doch G o t t den Menschen schuf „als ein W u n d e r w e r k " , „ i m W e l t all einer W e l t " , v o n Vater u n d M u t t e r „aufgezogen, jahrelang gehütet" ( V . A k t ) . W e n n i n Hebbels ,Maria Magdalene' (1843) Meister A n t o n sich damit brüstet, er trage zuweilen „einen Mühlstein u m den H a l s " , dann verweist seine Kraftprotzerei ungewollt auf das Gesetz, v o r dem er schuldig w i r d . Es ist das Evangelium Matthäus 18. D o r t heißt es: W e r einem K i n d e „Ärgernis" bereitet, „ d e m wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen H a l s gehängt u n d er ersäuft würde i m Meer, w o es am tiefsten ist". M a n weiß, w i e sehr Georg Büchner m i t dem daran anschließenden W o r t gerungen hat: „Es muß j a Ärgernis kommen; doch weh dem Menschen, durch welchen Ärgernis k o m m t ! " Keineswegs geht es dabei, w i e man gewöhnlich hört, nur u m das M u ß , u m die fatalistische Determination, sondern u m die Determination zur Schuld, die durch solches M u ß nicht aufgehoben w i r d . Das Wehe! t r i f f t den, der sich am Mitmenschen versündigt, u n d dieser w i r d hier offenbar als Gottesgeschöpf u n d K i n d gesehen. Das Problem bildet übrigens die unausgesprochene, geheime M i t t e des , W o y zeck'. Das b e r ü h m t e G r o ß m u t t e r - M ä r c h e n v o m verlassenen K i n d m e i n t nicht nur Woyzeck, der Christi W o r t „Lasset die Kleinen zu m i r kommen" zitiert, sondern es meint auch sein K i n d , das er durch seine M o r d t a t zur Waise macht. Es „ h a t t kein Vater u n d keine M u t t e r " , heißt es v o n dem K i n d i m Märchen. U n d Woyzecks Sohn Christian wendet sich v o n -dem Vater ab, als dieser z u m Mörder wurde. D a ß die U n t a t i m Zeichen des Evangeliums beurteilt werden soll, erhellt endlich aus einem H i n w e i s , den man bisher nicht erkannte u n d dem w i r eine noch über Stifter hinausgehende Raffiniertheit bescheinigen können. Es ist i n der sogenannten Testamentsszene das D a t u m des 20. Juli. Es stimmt nicht, w i e der Text vorspiegelt, m i t „ M a r i ä Verkündigung" überein; w o h l aber ist es der Tag, an dem die katholische Kirche des Heiligen Hieronymus Ämilianus gedenkt, des Schutzheiligen vernachlässigter u n d verwaister K i n d e r . I h m zu Ehren liest man i n der Messe aus Matthäus 18 u n d 19. 5 9

59 Vgl. W. Wittkowski, Georg Büchners Ärgernis. Jb. d. deutschen Sdiillergesellschaft 17, 1973, S. 362 - 383.

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Das Ethos dieses Evangeliums hat für die Dichter des 19. Jahrhunderts offenbar eine bedeutende Rolle gespielt. V o m Sturm u n d D r a n g (Lenz: ,Der Hofmeister', ,Die Soldaten') über die Spätromantik (Brentano: ,Geschichte v o m braven Kasperl u n d v o m schönen A n n e r l ' ) ins Biedermeier hinein verschafft sich das Thema des vernachlässigten Kindes immer mehr Raum. I m m e r mehr w i r d man sich offenbar bewußt, daß man sich auf die liebende Fürsorge eines himmlischen Vaters nicht verlassen kann. M a n muß selber für sich sorgen; oder vielmehr, da dies über die menschlichen K r ä f t e geht: einer muß für den andern sorgen, jeder für den Nächsten, der Erwachsene für das K i n d , dieses für seine K i n d e r usf. Das Gottesk i n d w i r d z u m Menschenkind. Doch seine Gotteskindschaft w i r d darüber nicht v ö l l i g vergessen. Z u m a l am A n f a n g des Zeitraums gilt, daß ein Mensch dem anderen, daß insbesondere das K i n d dem Erwachsenen v o n G o t t , i m Zeichen der Schöpfung u n d des Evangeliums, als zu hütendes K l e i n o d anvertraut wurde. *

,Der Nachsommer' erschien 1857. 1859 forderte das Leben selber den Verfasser i n die Schranken. H a t t e er seinen eigenen Prinzipien so rigoros nachgelebt, wie er sie verkündete u n d ihre Nichtbefolgung verurteilte? Seine Pflegetochter ließ sich m i t einem Hausbewohner ein, wurde schwanger u n d ging ins Wasser. O b das n u n z u t r i f f t oder nicht, Stifter hat offenbar an andere Ursachen geglaubt. Das ist aber nicht entscheidend. Entscheidend ist, daß er u n d seine Frau ihrer V e r a n t w o r t u n g nicht genügt hatten. D i e zweite Probe w a r : W ü r d e der Dichter sich wenigstens nachträglich zu seiner eigenen Botschaft bekennen u n d sein Versagen davor eingestehen? Es fiel i h m schwer; denn v o n seiner eigenen Vortrefflichkeit w a r auch er i n nicht geringem Maße überzeugt. T r o t z d e m k a n n man sagen: nach anfänglichem Unterliegen hat er diese zweite Probe, die der Redlichkeit bestanden. H i e r die Belege: 26. A p r i l 1859 (am Tage nach dem Eintreffen der amtlichen Todesnachricht) an Heckenast: „ [ . . . ] da die W e l t vielleicht w i r d Steine auf uns werfen [ . . . ] Sie werden es glauben, wenn ich Ihnen sage, daß weder meine gute, treffliche G a t t i n , noch ich i n entferntester Hinsicht an diesem Tode schuld sind." 6. M a i 1859 an Louise v o n Eichendorff: „ W i r ahnten nicht das geringste davon [ . . . ] u n d doch machen w i r uns jetzt die bittersten V o r w ü r f e , daß w i r das Unglück nicht zu verhüten gewußt haben." 9*

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Wolfgang Wittkowski

24. August 1859 an Heckenast: » [ . . . ] daß keine böse Leidenschaft, sondern körperlicher A n t r i e b [ . . . ] die Ursache sein mag [ . . . ] mildert die Sache einigermaßen; dieser Milderung, welche den T o d gerade so w i e eine K r a n k h e i t anschauen läßt, steht wieder die Frage entgegen: w a r u m haben w i r das nicht zu rechter Zeit erkannt? W a r u m haben w i r die seltsamen Handlungen, welche der T a t unmittelbar vorangingen u n d die uns jetzt so k l a r sind, nicht verstanden? Ist dies nicht doch Fahrlässigkeit u n d hätte nicht leicht geholfen werden können? Diese Gedanken nagen oft bitter [ . . . ] es dürfte w o h l durch den ganzen Rest unseres Lebens ein T o n bleiben, der dunkler ist, als er sonst gewesen wäre."

THOMAS M A N N , DER „DEUTSCHE' E i n Versuch

V o n H e r m a n n Kunisch"*

Es ist ein nicht ungefährliches Abenteuer, Betrachtungen darüber anzustellen, was es m i t Thomas Manns Verhältnis zu Deutschland, zu den Deutschen, oder zum „deutschen Wesen", auf sich hat. D i e Möglichkeit des M i ß verständnisses u n d des Ärgernisses ist i n vieler Hinsicht gegeben. D i e V o kabeln deutsch, das Deutsche, oder gar deutsches Wesen, die sämtlich bei Thomas M a n n begegnen, lassen sich nach dem Mißbrauch, dem sie ausgesetzt waren, u n d nach den Zusammenbrüchen der jüngsten Vergangenheit k a u m unbefangen hören. Was aber nicht besagen k a n n u n d darf, daß sie nicht für jeden dieser Sprache u n d damit der v o n ihr vertretenen Daseinsf o r m Eingeborenen immer wieder A n l a ß u n d Aufgabe zur Bestimmung des i h m Zugehörigen u n d Aufgegebenen sein müßten. Gerade Thomas M a n n hat dieses Recht für sich u n d damit für „sein V o l k " i n Anspruch genommen. Das Thema des Deutschen ist bei diesem „Dichter-Schriftsteller" unabweisbar. Es ist nicht v o n außen herangetragen aus irgendeinem nicht zur Sache gehörenden Bedürfnis; es ist m i t der Person Thomas Manns und, was für uns das Entscheidende ist, m i t der geistigen u n d sprachlichen Beschaffenheit seines Werkes gegeben.

* Eine vorläufige Fassung dieser Arbeit entstand 1964. Seitdem wurden die Probleme in mehreren Vorträgen dargestellt und erprobt. Die unmittelbare Vorstufe der hier vorgelegten Untersuchung wurde 1968 niedergeschrieben; sie ist in den folgenden Jahren mehrfach ergänzt und verändert worden. Mit dieser neuen Fassung mögen die Gedanken abgeschlossen werden, obwohl sich der Verfasser bewußt ist, daß vieles noch der Präzisierung, Vertiefung, vielleicht auch der Korrektur bedarf. Er nennt deshalb diesen Beitrag mit Bedacht einen „Versuch". Von der Literatur wird angeführt, was der Erwähnung bedurfte. Im übrigen wird auf die Bibliographien (Hans Bürgin, Klaus W. Jonas, Harry Matter) und die Forschungsberidite (Herbert Lehnert) verwiesen.

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Hermann Knisch I. Das

Deutsche

Das Problem, u m das es geht, ist am genauesten m i t der hier gewählten, zunächst befremdend anmutenden Formulierung Thomas Mann, der Deutsche umschrieben. Er fühlte sich dem Deutschen, deutscher Wesensart zugehörig, was sich i n dem Bewußtsein äußerte, Deutscher zu sein, auch noch u n d gerade, als er äußerlich v o n seiner H e r k u n f t getrennt war. W o r a u f unsere Absicht sich richtet, ist also nicht Thomas Manns Verhältnis z u den Deutschen. Anders gefaßt, unser Thema sind nicht seine i m engeren Sinne politischen Anschauungen u n d deren Wandlungen v o m ersten W e l t k r i e g bis z u m Ausgang des zweiten, u n d sein damit zusammenhängendes Verhalten zu Deutschland u n d den Deutschen, w i e w o h l auch dies i n unserer Betrachtung einbegriffen ist. 1 I m M i t t e l p u n k t unseres Interesses steht die alle anderen Aspekte seines menschlichen u n d künstlerischen Wesens übertreffende eigentümliche Verfassung des Schriftstellers Thomas M a n n , die er als unabdingbar deutsch empfand u n d bezeichnete. Eingelassen ist unsere Betrachtung i n einen weiteren Problemzusammenhang, der hier nur angedeutet werden kann. Es ist jener, den W a l t h e r Rehm i n seinen Studien z u m experimentum medietatis an einigen exemplarischen dichterischen Gestalten dargestellt h a t : Jean Paul, Jacobsen, Dostojewskij. 2 Das Bemühen des Menschen, sich i n Auflehnung u n d Selbstherrlichkeit als M i t t e l p u n k t zu setzen u n d damit v o n Abhängigkeiten u n d übergreifenden Bindungen zu lösen, ist eines der Merkmale neuzeitlicher philosophischer K r i t i k u n d künstlerischer Gestaltung, Zeichen für den Menschen i n der Gottferne. 3 Das Bewußtsein der „ B e d ü r f t i g k e i t " , wie es H ö l d e r l i n eigen w a r , der Abhängigkeit v o n „Mächten" oder waltendem Schicksal schwindet gegenüber dem Versuch, den Menschen als nur i n eigenem Recht u n d 1 Zu Thomas Manns politischem Denken vgl. vor allem: Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschien, München 1961; Hans Mayer, Zur politischen Entwicklung eines Unpolitischen in: Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen der Literatur, Frankfurt 1971 (edition Suhrkamp, Nr. 463); Herbert Wiesner, Thomas Mann und seine Zeit. Ein synchronoptischer Überblick und eine Lesehilfe zu dessen politischem Verständnis, in: Thomas Mann. 1875/1975, Heinz Moos Verlag, München 1975. 2 Walter Rehm, Experimentum medietatis. Studien zur Geistes- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1947. 8 Ob dafür der Begriff „Mystik" in Anspruch genommen werden darf, bleibe dahingestellt; vgl. Anna Hellersherg-Wendriner, Mystik der Gottesferne. Eine Interpretation Thomas Manns, Bern 1960. Daß es sich um eine im Widerspruch stehende „Gottesferne" handelt, scheint mir indessen sicher. Dazu noch Hans Egon Holthusen, Die Welt ohne Transzendenz. Eine Studie zu Thomas Mann's ,Doktor Faustus' u. seinen Nebenschriften, 2. Aufl. Hamburg 1954, und die Auseinandersetzung mit dessen Auffassung.

Thomas Mann, der „Deutsche"

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eigener Verantwortung stehend zu begreifen. D i e wenigen einsamen Einzelnen nach H ö l d e r l i n , zu denen i n unserer Zeit vielleicht R i l k e zu zählen ist, lassen den allgemeinen geistigen Prozeß nur u m so schicksalhafter erscheinen. I n w i e w e i t das Thema des deutschen Thomas M a n n ein T e i l dieser größeren Erscheinung ist, k a n n i n unserem Rahmen mehr als Frage gestellt denn als A n t w o r t formuliert werden. Es bedürfte dazu eigener, intensiver Anstrengung. I n vorläufiger u n d abgekürzter F o r m wage ich seinen Beitrag z u m experimentum medietatis dahingehend z u bestimmen, daß er i n seiner Verabsolutierung der Kunst als eines zweideutigen, ironischen u n d nihilistischen Spieles bestehe, i n der „Teufelsartistik" der „Göttlichen u n d Gesegneten", der „gesegneten K i n d e r der N a t u r " , der „großen V e r fluchten u n d Sünder", der „heiligen K r a n k e n " , i n der Gleichsetzung v o n Genie u n d Krankheit, was alles er gegenüber den Gesunden, Vernünftigen u n d Harmonischen — Erasmus, Goethe, Tolstoi — i n Luther, Schopenhauer, Schiller, Nietzsche u n d Wagner verkörpert sah. 4 I m Persönlichen u n d Privaten stellt sich das Problem der Deutschheit Thomas Manns dar als die lebenslange geistige u n d künstlerische Gegnerschaft — diese grundsätzlich u n d nicht persönlich verstanden — zu seinem Bruder Heinrich Mann. M a n darf m i t einer klärenden Überspitzung sagen, das Verhältnis z u dem älteren Bruder sei der sinnfälligste Ausdruck seiner, Thomas Manns, Schriftstellerexistenz. Es ist bei der H e r k u n f t beider aus Lübeckischem Patriziergeschlecht u n d den äußeren Umständen u n d inneren Erfahrungen der Emigration, die beide i n A m e r i k a zusammengeführt hat, selbstverständlich, daß nicht nur der nach außen sichtbare frühe Z w i s t beigelegt wurde, sondern daß sich auch i n vielen, v o r allem i n den politischen Fragen, also vornehmlich der Ablehnung des Nationalsozialismus, eine A n näherung, ja sogar Ubereinkunft ergab. Es gibt auf beiden Seiten, v o r allem auf der Heinrich Manns, überzeugende Beispiele gegenseitigen Verständnisses, des Für-einander-Eintretens, brüderlicher Bundesgenossenschaft. Vorbehalte, wenn auch vorsichtiger A r t , finden sich nur gelegentlich i n T h o mas Manns Äußerungen. I n der Tiefe aber bleiben die Brüder trotz aller Verbindlichkeit ihres späten Umgangs getrennt. Sie bilden aufs Ganze gesehen zwei gegensätzliche Formen künstlerischer Existenz aus, zwischen denen es auch bei persönlicher Achtung u n d vornehmem Geltenlassen keine Versöhnung geben kann. D i e frühe Unterscheidung des „Zivilisationsliteraten" u n d des „ A r t i s t e n " i n den Betrachtungen eines Unpolitischen' v o n 1918 t r i f f t auch noch für die späteren Jahre zu, w i e denn überhaupt dieses Buch mehr Gültigkeit für Thomas M a n n hat, als manche, v o r allem heutige 4

Dazu Näheres weiter unten. Vergleiche ferner meinen Beitrag zu den Vorträgen des Münchener Thomas Mann-Symposions 1975: ,Thomas Manns GoetheBild', Frankfurt, S. Fischer 1977, auf den hier ein für alle Male verwiesen sei.

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Hermann K n i s

Beurteiler, w a h r haben möchten. Der Bruderzwist im Hause Mann hat bis z u m Tode Heinrichs gedauert. Der T r a u m einer durch gleiche H e r k u n f t u n d gemeinsame Jugend bedingten künstlerischen Übereinstimmung hat sich, trotz vieler Bemühungen der Familie u n d der Brüder selbst, nicht v e r w i r k lichen lassen. Thomas Manns briefliche Feststellung (am 23. X I I . 1903 an Heinrich): „Uns beiden ist am wohlsten, wenn w i r Freunde sind", entsprang gewiß einem ehrlichen Bedürfnis, läßt aber darin, daß sie überhaupt getroffen werden mußte, erkennen, w i e schwer dieser Wunsch W i r k lichkeit werden konnte. 5 D i e greifbaren Auseinandersetzungen beginnen, v o n kleineren Schwierigkeiten abgesehen, 1903 m i t Thomas Manns Besprechung der Romantrilogie ,Die Göttinnen' seines Bruders. D i e Richtung des Angriffs ist hier z u m T e i l noch eine andere als i n den ,Betrachtungen'. I n dieser frühen Zeit f ü h l t sich Thomas v o n der kalten Renaissanceatmosphäre i n Heinrichs R o manen abgestoßen, v o n dem K u l t der „Schönheit", der „südlichen Schönheitsruhmredigkeit" u n d der überspitzten Sprachform. D e r E i n w a n d ist einer gegen die künstlerische Maßlosigkeit als Ausdruck einer Gesinnung u n d Weltanschauung: „pessimistischer Moralismus [ . . . ] gegen den üppigen Ästhetizismus", „ O p p o s i t i o n gegen eine Weltanschauung u n d Kunstübung, die m i r fremd, feindselig, gewissenlos oder, u m das dekorativere W o r t dafür einzusetzen, ruchlos erschien". So stellt es sich i n den ,Betrachtungen eines Unpolitischen' aus der Rückschau dar. Darüber hinaus aber werden i n diesem Buch, i n dem sich der A n g r i f f gegen Heinrich M a n n konzentriert, die Positionen differenzierter, v e r w i r render, u m n i d i t zu sagen, spielerischer bestimmt. Zunächst scheinen die Rollen vertauscht zu sein. Heinrich w i r d z u m Vertreter einer „politischen, politisierten K u n s t " , Thomas verteidigt dagegen die Berechtigung „ästhetizistischer K u n s t " . Das vorletzte K a p i t e l ,Ästhetizistische P o l i t i k ' ist ein ironisch verwirrender Versuch, einer eindeutigen Festlegung zu entgehen. Was feststeht, ist einzig die Ablehnung einer Literatur, deren Aufgabe die Begründung u n d Verteidigung demokratischer Weltauffassung u n d P o l i t i k ist. Das bedeutet aber nicht, daß ein solcher politischer Schriftsteller u n d A n t i Ästhet, w i e Heinrich M a n n u n d seine westlichen Vorbilder, nicht Ästhet, u n d umgekehrt der Ästhet nicht moralisch sein könne. „ A b e r daß der A n t i Ästhet, der Geistespolitiker u n d belles-lettres-Demokrzt auch ein Ästhet, daß sein Politizismus nur eine neue sensationelle Form der belleza ist, da5 Die wichtigste Grundlage zur Beurteilung des Verhältnisses der Brüder Mann ist der jetzt vollständig vorliegende Briefwechsel Heinrich Mann — Thomas Mann, 1909 -1949; hrsg. von Hans Wysling, Frankfurt 1969. Dazu kommen die von beiden gesprochenen oder geschriebenen Würdigungen zu öffentlichen Anlässen, Geburtstagen, Verleihung des Nobelpreises usw.

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v o n habe ich die anschaulichste Gewißheit." Wegen dieser belleza fehlt dem „politischen Ästhetizismus" das „Verantwortungsgefühl", das „Gewissen"; er ist die „gestenreich — hochbegabte Ohnmacht z u m Leben u n d zur Liebe". I h m mangelt eben jenes, das Thomas M a n n nach dem zweiten Weltkriege als die große, die Pole allen Künstlertums ausgleichende Leistung feiert: „ d i e G u t w i l l i g k e i t z u m Leben". Das ist w i e ein W i d e r r u f der eben behaupteten Verbindung v o n Demokratie und Ästhetizismus. Daher bezeichnet Thomas M a n n seine grundsätzliche Unterscheidung v o n P o l i t i k u n d Ästhetizismus als nur z u m Spiel vorgenommen, u m m i t dieser Übernahme der v o n Heinrich M a n n vertretenen Entgegensetzung diesen widerlegen zu können. Eine raffinierte, i n der Tiefe sich der Entscheidung — die doch feststand — entziehende Zweideutigkeit, oder — was er dem Bruder v o r w i r f t — „Spiegelfechterei des Geistes". W o endet das Spiel und beginnt der Ernst; w o endet dieser u n d beginnt das Spiel? „ I c h habe auf diesen Blättern den Gegensatz v o n politischer oder politisierter u n d ästhetizistischer Kunst scheinbar angenommen u n d m i r angeeignet. Aber das w a r ein Spiel; denn i m Ernste weiß ich es besser, w i e es m i t diesem Gegensatz steht, weiß, daß er auf einer gewollten generös gewollten u n d nachgerade nur allzu w o h l gelungenen Selbsttäuschung dessen beruht, der i h n statuiert, daß er falsch ist, nicht vorhanden ist, daß man kein Ästhet zu sein braucht, wenn man an die P o l i t i k nicht glaubt, daß man aber als >dienender< SozialMoralist u n d Verkünder entschlossener Menschenliebe ein Erz-Ästhet geblieben sein kann." W i r haben m i t diesem Verweis auf die ambivalente Behandlung der Grundpositionen i n den ,Betrachtungen' dem noch zu Klärenden vorgegriffen. D i e Folge dieses die Gegensätze auflösenden „Spiels" w a r nicht die Aufhebung nur vermeintlicher Meinungsverschiedenheiten, sondern deren Festigung. Was dennoch blieb u n d dem Buch der ,Betrachtungen' über der ironischen „Eindeutigkeit i n der Vieldeutigkeit" die Schärfe beließ, w a r die radikale Ablehnung des „Zivilisationsliteraten", den Thomas M a n n i n seinem Bruder Heinrich zu treffen sucht. D i e paradoxe Formel „ästhetizistische P o l i t i k " faßt den Gegensatz sowohl verletzend zusammen, wie sie i h n unverbindlich wieder auflöst. D i e Auflösung liegt i n der Anschauung, daß politisierende Literatur auch ästhetisch, das heißt Kunst sein könne; der A n g r i f f darin, daß politische Kunst „wirkungshungrig" u n d auf politische Folgen aus sei, w o m i t sie das Wesen der Kunst verrate. K u n s t w a r , wie T h o mas M a n n sagt, immer „ W i l l e z u m Geist", das heißt, sie besteht außerhalb politischer Absichten. D i e Betrachtungen' waren trotz unverbindlich scheinender F o r m eine Befestigung der gegnerischen Positionen, w i e sie v o n beiden Seiten schon v o r diesem Buch bezogen worden waren.

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D e n Betrachtungen eines Unpolitischen' — 1916/17 geschrieben, noch v o r dem Ende des ersten Krieges 1918 erschienen — vorausgegangen w a r Thomas Manns Stellungnahme zu der deutschen Kriegsführung i m Spiegel der Kriege Friedrichs des Großen: ,Friedrich u n d die große K o a l i t i o n ' , 1915. D i e Gestalt des Preußenkönigs hatte i h n schon seit 1905 beschäftigt. D a mals plante er eine historische Erzählung über i h n : „Einen Helden menschlich-allzumenschlich darzustellen, m i t Skepsis, m i t Gehässigkeit, m i t psychologischem Radicalismus u n d dennoch positiv, lyrisch, aus eigenem Erleben" (an Heinrich M a n n ; Br. S. 44). D i e historischen Essays u m 1915 riefen eine umfangreiche, heftige Gegenäußerung Heinrich Manns hervor, seinen bei aller Einseitigkeit u n d politischen Eindeutigkeit aufschlußreichen Essay ,Zola', i n dem er am F a l l Zolas die Rolle des Schriftstellers als eines gegen M i l i t ä r , Monarchie, für das V o l k , die Gerechtigkeit u n d Menschlichkeit k ä m p f enden beschrieb. E r erschien 1915 i n den v o n René Schickele herausgegebenen ,Weißen Blättern', einem kämpferischen Organ der jungen expressionistischen, europäisch-demokratischen Bewegung. Diese Zeitschrift stellte damals so etwas w i e einen Gegenpol zu der als konservativ angesehenen ,Neuen Rundschau' des S. Fischer-Verlages dar.® I n i h r erschienen zu dieser Z e i t u n d später wichtige dichterische u n d kritische Arbeiten Thomas Manns. 7 Publizistisch hieß also der Gegensatz der Brüder: ,Weiße Blätter' gegen ,Neue Rundschau'. Thomas Manns A n t w o r t darauf waren die Betrachtungen eines U n p o l i tischen', eine Selbstrechtfertigung innerhalb einer w e i t ausholenden Zeitu n d K u l t u r k r i t i k . Sie war, o b w o h l die beiden Positionen i n allgemeinere u n d grundsätzliche Erörterungen eingefügt waren, unmißverständlich auf den Bruder bezogen. Zahlreiche Zitate aus dem Zola-Essay weisen unmittelbar auf diesen als den A n l a ß der breit angelegten Bestimmung der Standorte u n d verschärften die wortreiche, schroffe Zurechtweisung des Bruders als des „Zivilisationsliteraten", des Vertreters der westlichen demokratischen Literatur. Dagegen w i r d seine eigene Schriftstellerei als unpolitisch-artistisch bestimmt, als deren Gleichnis i n einem , V o n der Tugend' überschriebenen K a p i t e l der „unzeitgemäße" ,Taugenichts' Eichendorffs dargestellt w i r d . D i e weiteren Eideshelfer dieser deutschen, taugenichtshaften, das heißt nicht engagierten Dichterei sind Goethe, Wagner, Pfitzner, i m Bereich des Politischen Bismarck, Treitschke, Lagarde u n d Houston Stuart Chamberlain, eine ebenso fatale w i e unzutreffende Brüderschaft. 6 Dazu vgl. eine demnächst erscheinende Münchner Dissertation über René Schickele von Julie Meyer. 7 Zur Kritik der damaligen ,Neuen Rundschau* vgl. die polemisch übertreibende, aber auch unerbittlich enthüllende Satire Theodor Haeckers in: Der Krieg und die Führer des Geistes, 1915; später in: Satire und Polemik, Brenner Verlag Innsbruck, 1922; wiederholt in: Werke/Band 3, München 1961.

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D i e ,Betrachtungen eines Unpolitischen' sind i n enger geistiger Nachbarschaft zu dem Nietzsche-Buch Ernst Bertrams entstanden. D i e beiden befreundeten Verfasser standen i n dauerndem, sehr genauen Gedankenaustausch über die sich nahe berührenden Gedanken ihrer Bücher. Es w a r ihnen wichtig, daß sie zeitlich nicht zu w e i t auseinander erscheinen sollten; was denn auch w i r k l i c h geschah, nachdem Thomas M a n n gegen Vorbehalte Stefan Georges u n d Friedrich Gundolfs beim Verleger B o n d i den Druck des »Nietzsche' durchgesetzt hatte. 8 D e r ,Nietzsche' wurde i m August, die ,Betrachtungen' i m Oktober 1918 ausgeliefert. „Beide", so schreibt Thomas M a n n an Bertram (18. I I I . 1918), „sind gleichmäßig an der Zeit, u n d es wäre ganz falsch, wenn das eine hinter dem anderen zeitlich zurückbliebe. Falsch u n d schädlich — für das, welches allein wäre, nämlich meines. Ich habe das Gefühl, daß es tatsächlich der Unterstützung durch das Ihre bedarf." Aus den Briefen Thomas Manns wissen w i r , i n w i e starkem Maße beide Bücher auf einander bezogen waren, bis i n sachliche Einzelheiten hinein. Sie lasen einander K a p i t e l ihrer A r b e i t vor, klärten dabei die Ubereinstimmungen u n d Abhängigkeiten. Bertram besorgte für Thomas M a n n Zitate aus Nietzsche u n d Luther, die nachträglich eingefügt wurden; u n d während des Druckes der ,Betrachtungen' las er K o r r e k t u r u n d hatte dabei Vollmacht zu Änderungen u n d Streichungen. So konnte Thomas M a n n nach der Lektüre des ,Nietzsche' m i t Recht sagen (21. I X . 1918), daß er i h m „nahe" sei u n d sein „ganzes Wesen beständig darin mitschwinge"; daß er das Buch des Freundes als „geschwisterlich" empfinde i n „seiner Besonnenheit, Bildung, historisierenden Würde, seiner Unantastbarkeit, Unbeschimpfbarkeit", sodaß es i h m zuweilen vorkomme, „als sei es ganz eigentlich mein Buch u n d m i r zugedacht". D i e „geistige Landschaft* des NietzscheBuches vermittle ihm, so gesteht er, „Ubersicht des eigenen Lebens, Einsicht i n seine N o t w e n d i g k e i t , ein Verständnis meiner selbst [ . . . ] , A n t r i e b u n d Auftrieb des Selbstbewußtseins". „ I c h habe mich gewöhnt, I h r Buch m i t meinem nur noch zusammen zu denken" (18. I I I . 1918). Eine deutlich erkennbare Bewegung geht v o n Nietzsche über Bertram zu Thomas M a n n . Bei Bertram findet dieser die aus Nietzsche gewonnene V o r stellung der Gleichsetzung v o n ,deutsch' u n d ,mephistophelisch'. Für N i e t z sche waren Friedrich II., der Staufer, u n d Friedrich der Große m e p h i stophelische Naturen. E r empfand den Mephistopheles Goethes als nicht groß genug; der eigentliche „deutsche" Mephistopheles sei größer. 9 V o n dieser auf einen deutschen Mythos sich zuspitzenden Interpretation Nietzsches 8 Zum Einzelnen vergleiche jetzt: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910 -1955. Hrsg. von Inge Jens, Pfullingen 1960. Dort auch die Anmerkungen der Herausgeberin. 9 Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, 1918, S. 51 f.

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durch Bertram gehen Wege zu Thomas Manns , D o k t o r Faustus' hinüber. Dieser sollte deutscher sein als der Goethesche, innerlicher, musikalischer, tiefer; so wurde er z u m Musiker, der sich dem Teufel ergibt. Jedenfalls, das K a p i t e l ,Ritter, T o d u n d Teufel' i n Bertrams Nietzsche-Buch, das i m A n schluß an den v o n Nietzsche „ m i t dauernder Liebe ausgezeichneten" Stich v o n Dürer die religiöse u n d kämpferische Position Nietzsches zu deuten unternimmt: als „tapfer, ritterlich, protestantisch, germanisch, pessimistisch" — w a r für Thomas M a n n noch nach dem Zusammenbruch des i n den B e trachtungen' verteidigten Reiches „ergreifend". Schon das bereits genannte, vorletzte K a p i t e l der »Betrachtungen': ,Ästhetizistische P o l i t i k ' beruft sich auf diesen „Wagnern u n d Schoppenhauern" nahen Nietzsche gegenüber dem v o n dem „Zivilisationsliteraten" u n d seinen Genossen beschworenen Renaissance-Nietzsche, dem Verkörperer des „Ruchlosigkeits-Ästhetizismus". Thomas Manns Nietzsche w a r damals wie der Bertrams „ S y m b o l " seiner Welt, der „nordisch-moralistisch-protestantischen i d est deutschen W e l t " . Es ist i n der T a t so, daß zwischen beiden Büchern, den Betrachtungen' Thomas Manns u n d dem ,Nietzsche' Ernst Bertrams eine Brüderschaft besteht, beide gefährlich, faszinierend. Schon i m methodischen Ansatz: Geschichtsschreibung als M y t h o l o g i e ; nicht erzählen, w i e es gewesen ist, sondern wie w i r zu unserer Stunde es lesen. So Bertram; die Einleitung zu seinem Buch ist ,Legende' überschrieben. Beide berühren sich auch i n der Begründung eines deutschen Werdemythos i m Zeichen Nietzsches. 10 M a n macht es sich zu leicht, wenn man die Betrachtungen' nur entschuldigen z u müssen glaubt. Sie sind t r o t z der i m engeren Sinne politischen Widerrufe nach 1918 eines der H a u p t w e r k e Thomas Manns, sie bilden m i t dem späten , D o k t o r Faustus' die beiden Eckpfeiler seiner schriftstellerischen Arbeit. Sie sind nicht K ü n s t l e r i r r t u m oder Jugendwerk. Thomas M a n n w a r damals immerhin über vierzig Jahre alt, u n d man weicht aus, trotz der Berufung auf M a n n selbst, wenn man ihn, den künstlerisch Frühgereiften für „politisch gänzlich unreif" erklärt, darin ein K i n d „seines deutschen bürgerlichen 19. Jahrhunderts", einer „politisch unreifen bürgerlichen Gesellschaft". 1 1 D i e Betrachtungen' sind nicht unreif u n d nicht einfach aus einer 10 Zu dem Problem Nietzsche, Bertram, Thomas Mann vgl. die Briefe Th. M's an Bertram (1910 - 1955), hrsg. von Inge Jens, Pfullingen 1960. Ferner Alfred v. Martin, Th. M. und Nietzsche. Zur Problematik des deutschen Menschen, Hochland 46 (1953/54), S. 135 - 152. S. auch dessen eine Gegenposition zu Bertram und neuerdings auch zu Edgar Salin, einnehmenden Bücher über Nietzsche und Jacob Burckhardt: Nietzsche und Burckhardt. Zwei geistige Welten im Dialog, 1940, 4. Aufl. 1947; Die Religion Jacob Burckhardt^. Eine Studie zum Thema Humanismus und Christentum, 1942, 1943 beschlagnahmt, 2. Aufl. 1947. Zu A. v. M. siehe noch unten Anm. 27. 11 Peter de Mendelssohn, Der Schriftsteller als politischer Bürger, in: Thomas Mann. 1875 - 1975, München 1975; s. oben Anm. 1.

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deutschbürgerlichen Verfassung zu erklären. Sie sind ein äußerst sensibles Buch, i m Stil spielerisch zweideutig u n d verwirrend, w e i l jeden Schritt durch den nächsten widerrufend; verteufelt, wie der späte , D o k t o r Faustus', auf den sie m i t vielen Zügen verweisen. M a n darf, u m die überlegene Geistreichigkeit, auch i m Politischen, zu sehen, nicht vergessen, wie der Verfasser den Stil dieses Buches i m Ganzen seiner Komposition, w i e i m einzelnen Sprachlichen als M u s i k i n ironischer Selbstbezogenheit genießt. Dies W e r k ist viel zu kompliziert, u m Ausdruck einer Unreife, wenn auch nur i n einer Hinsicht, zu sein. Es ist vielmehr i n einer Weise uneindeutig, wie Thomas Manns Essayistik überhaupt u n d ist darin ein Zeugnis für seine geistige H a l t u n g : trotz des immer wieder angenommenen präzeptoralen Ernstes Ambivalenz als Charakter, ist „ K ü n s t l e r w e r k " auch i n der Undiszipliniertheit des Abweichens, der Umwege, des Wandels der Positionen. D i e Grundvorstellungen v o m Gegensatz der „Zivilisationsliteraten" u n d des unpolitischen Künstlers bleiben trotz der H i n w e n d u n g zur Demokratie u n d der frühzeitigen Gegnerschaft zu der völkischen Bewegung, trotz aller Wandlungen i m engeren politischen Sinne, erhalten. Das bedeutet aber das Fortbestehen des schriftstellerischen Gegensatzes zu seinem Bruder, auch nach der menschlichen Annäherung unter dem gemeinsamen Erlebnis der Trennung v o n ihrem V o l k e u n d dessen politischem Weg. Es blieb audi später bei dem unüberbrückbaren Gegenüber zweier i n der Tiefe getrennter Auffassungen v o n Wesen u n d A u f t r a g des Schriftstellers. Heinrich M a n n ist nicht w i e der Bruder „zweideutig", weder als Schriftsteller, noch, als Politiker. I n der Geburtstagsrede Thomas Manns auf Heinrich M a n n feiert er den Ästheten, ähnlich wie G o t t f r i e d Benn, aber aus ganz anderen Beweggründen u n d i n verschiedener Betonung. Er lobt den Heinrich Mann, der auf seiner Seite steht; besser, v o n dem er möchte, daß er auf seiner Seite stände. D e n Sozialkritiker übergeht er fast ganz, aus dem Bedürfnis, nicht aburteilen zu müssen u n d i n dem deutlich erkennbaren Gefühl, daß Ästhetentum u n d Artistentum, damals w i e immer, seine, Thomas Manns, Position, mehr sei als sozialpolitische Leidenschaft. Heinrich bleibt für i h n der „ Z i v i lisationsliterat", eine bedenkliche schriftstellerische Existenz, so wie er der A r t i s t bleibt, leidenschaftlich eine stilistische H a l t u n g bejahend, die alles Spätere bis z u m ,Zauberberg', den Josephs-Romanen, dem ,Faustus c u n d dem , Κ π ι Ι Ι ' prägt. Sie ist als Ironie zugleich eine geistige u n d moralische Weise, die W e l t zu erfassen.

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Hermann Knisch II. Ironisches

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Dies also ist das Thema unserer Untersuchung: nicht Thomas Manns politische Anschauungen i n ihrem Wandel u n d ihrer Bedeutung, sondern seine v o n i h m selbst bis zuletzt als deutsch empfundene Sonderart als Schriftsteller. Thomas M a n n gebraucht das W o r t deutsch i n Bezug auf sich u n d sein W e r k überraschend oft u n d gerade nach dem ersten Weltkrieg. H ä u f i g in T i t e l n seiner Arbeiten, v o n der ,Deutschen Ansprache' v o n 1930 bis zu der Rede über ,Deutschland u n d die Deutschen' v o n 1945 u n d dem , D o k t o r Faustus', dessen U n t e r t i t e l ,Das Leben des deutschen Tonsetzers A d r i a n Leverkühn' nach der M i t t e i l u n g i n der ,Entstehung des D o k t o r Faustus' (1949) m i t Bewußtsein gefaßt wurde. I n der Frankfurter Goethe-Rede 1949 nennt er sein i n der Emigration geschriebenes W e r k „unverwechselbar u n d unübersetzbar deutsch"; es sei „niedergelegt zu den Füßen des Volkes, i n dessen Sprache es geschrieben w a r " . Deswegen hat er auch nie, wie er i n der gleichen Rede sagt, „als Schriftsteller", das heißt, der Sprache nach, „emigrieren können". Er sah keine Möglichkeit, ohne das deutsche Leserpublikum zu existieren u n d hielt deswegen fest an der „ a k t i v e n Treue zur deutschen Sprache, dieser wahren u n d unverlierbaren H e i m a t " . E r hat keines seiner Werke englisch geschrieben, w i e w o h l er, w i e Heinrich M a n n 1945 m i t t e i l t , i n A m e r i k a „täglich, auch öffentlich, das Englische gebrauchte". „ I c h hörte i h n " , so Heinrich M a n n , „aber das Deutsche seine ,sakrale' Sprache nenn e n " . 1 2 I n demselben Aufsatz heißt es i n merkwürdiger Ubertreibung — Anerkennung oder Ablehnung? — „der geachtetste Schriftsteller blieb deutsch u n d wurde sakral". Deutsch ist Thomas Manns Schicksalswort. E r liebt das Deutsche gegen alle nicht geringen Zweifel. I n der Rede ,Goethe und die Demokratie', 1949 mehrfach i m Ausland gehalten, bekennt er, daß seine Goethe-Studien „ V e r senkung eines Deutschen i n das Deutsche" seien; daß seine Bildung „ganz vornehmlich aus deutschem Erdreich ihre N a h r u n g gezogen", u n d daß er „auch als kritischer Schriftsteller u n d huldigender Interpret fast nie dem Fremden, sondern fast ausschließlich dem Heimischen gedient" habe. Auch wenn er „ i m Deutschen die Welt, immer Europa gesucht" habe. N o c h einmal, es geht hier nicht u m Thomas Manns politische Anschauungen u n d Verhaltensweisen — auch nicht u m seine anfängliche befrem12 ,Mein Bruder', zu Th. M's 70. Geburtstag. Neue Rundschau 1945; jetzt in Brw. 230 f.

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dende Unbestimmtheit gegenüber dem neuen Deutschland u n d den Emigranten, trotz der Warnungen seiner K i n d e r E r i k a u n d Klaus, nicht u m seine Leverkühnsche K ä l t e u n d sein Sichv er sagen, als man i h n u m Rückkehr nach Deutschland und M i t a r b e i t an den nun zu leistenden Aufgaben bat, nicht u m seine Verdammung der i n Deutschland v o n 1933 bis 1945 gedruckten Bücher, die nach seiner Meinung „eingestampft" werden m ü ß t e n 1 3 — sondern es geht u m Thomas M a n n als Schriftsteller, das heißt, u m den ganzen Thomas Mann, das heißt also auch, u m seine Schreibweise, u n d das wiederum heißt wesentlich, u m seine Ambivalenz u n d deren stilistischen Ausdruck, die Ironie. N u r v o n dort her ist sein eigentliches Deutschsein zu fassen: v o n seiner beunruhigenden, faszinierenden u n d so schwer zu verstehenden „ N i c h t - E i n d e u t i g k e i t " her. So mag das Besondere dieses Schriftstellertums vorläufig benannt sein. M u ß man betonen, daß Heinrich M a n n nie i n diesem Sinn der Ironie zweideutig war? Es gehört zu den merkwürdigsten Zügen des K r i t i k e r s Thomas M a n n , daß er Goethe als ironisch deutete, i n seinen Studien u n d i n der ,Lotte i n Weimar'. D o r t stellt er i h n als ironischen Menschen u n d Dichter dar. Wobei man allerdings die vielfältige Brechung u n d „Spiegelung" der Goetheschen Gestalt durch das M e d i u m i h m untergeordneter u n d — nach dem Roman — v o n i h m ausgenutzter Gestalten — „ O p f e r deiner Größe", sagt Lotte — bedenken muß, das heißt i m H i n b l i c k auf die Ironie, v o r allem durch Riemers das olympisch Unanrührbare zerstörende, mäkelnde D e u t u n g . 1 4 Es k a n n sich i n unserem Gedankenzusammenhang nicht darum handeln, zu untersuchen, w i e w e i t diese Deutung f ü r Goethe z u t r i f f t . W e n n damit gemeint ist, daß Goethe fähig w a r , „das Ganze" v o n seinem Standort aus zu überblicken, nicht „ P a r t e i zu nehmen", da er das Ganze u n d so „seine eigene Partei" ist; daß sein Wesen „Allumfassung" sei, was alles m i t „ u m fassender Ironie" gleichgesetzt w i r d , die das Wesen der „absoluten K u n s t " So in seiner Antwort an Walter von Molo, der ihn zur Rückkehr nach Deutschland bewegen wollte. Eine gerechte und vornehme Stellungnahme zu dem Verdikt Thomas Manns veröffentlichte Wilhelm Hausenstein am 24. X I I . 1945 in der Süddeutschen Zeitung. Wiederabgedruckt in: Wilhelm Hausenstem. Wege eines Europäers, Katalog einer Ausstellung. Deutsches Literaturarchiv im SchillerNationalmuseum Marbach a. N., 1967, S. 122 f. S. auch die Bemerkungen in: Wilhelm Hausenstein, Licht unter dem Horizont. Tagebücher von 1942 -1946, S. 422, 425, 435. — Vgl. auch den Katalog der Ausstellung Als der Krieg zu Ende war, literarisch-politische Publizistik 1945 - 1950, Marbach 1973, S. 258 - 288, ferner die hierher gehörigen Dokumente in: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit, hrsg. von Manfred Schröter, Hamburg 1969. 14 Zu den vielfältigen „Spiegelungen" des Romans vgl. Ernst Cassirer s schöne, nachgelassene Studie: Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über Lotte in Weimar, Germ. Rev. 20 (1945), S. 166-94. Zum Ganzen des Verhältnisses Thomas Manns zu Goethe s. meinen oben Anm. 4 genannten Aufsatz (insbesondere zur Ironie) und die materialreiche Darstellung von Bernhart Blume, Thomas Mann und Goethe, Bern 1949.

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ausmacht — wenn das gemeint ist, so mag man Goethe ironisch nennen. Wobei allerdings zu fragen ist, ob für einen solchen Tatbestand die Bezeichnung Ironie zutreffend sei; u n d ob nicht gerade das, was w i r — v o n seiner eigenen Aussage belehrt — bei Thomas M a n n als Ironie wahrnehmen, i m Grunde v o n dieser „Allumfassung" sich unterscheidet. D i e Ironie Thomas Manns ist eine sehr vieldeutige menschlich-moralische u n d stilistische Verfassung. Sie reicht v o n freier, geistiger, wissender, zarter, spielender Überlegenheit, die dem H u m o r benachbart ist, über das Neutrale u n d die Indifferenz, als einen allumfassenden, keine Festlegung zulassenden Standp u n k t , bis zur parodistischen, komischen Zweideutigkeit; v o n der mephistophelischen K ä l t e u n d dem „Scepticism u n d N i h i l i s m " , bis z u m „elementarisch Elbischen", das dem „Lieben u n d Loben" entgegengesetzt ist. Was uns hier entgegentritt, ist ein schwer auseinander zu faltender geistig-moralischer Habitus, i n dem H u m o r u n d Ironie v o n einem die Gestaltung bestimmenden Übergeordneten, der Ambivalenz, m i t einander verbunden werden. Diese ironische Ambivalenz, v o n der Thomas M a n n oft als v o n etwas sein Wesen Bestimmendem spricht, ist die Grundlage seines schwer zu enträtselnden Schreibens. Er charakterisiert sie selbst i m ,Zauberberg' als „Nichteindeutigkeit", „schwankender Sinn u n d Zweideutigkeit", „ v o l l k o m mene Eindeutigkeit i n der Zweideutigkeit". A n dieser Besonderheit Thomas Manns haben die meisten, u n d z w a r die bevorzugtesten Gestalten seines dichterischen Werkes A n t e i l . Sie ist nicht nur stilistische Form, sich i n der Gedankenführung, der Brechung seiner Meinung, der spielerischen Unverbindlichkeit äußernd, sondern sie bildet auch das Baugesetz seiner Figuren. U m nur die wichtigsten zu nennen: Senator Buddenbrook, H a n n o Buddenbrook, der Schriftsteller Spinell i m T r i stan', der den Reiz des so „morbiden u n d tief zweideutigen" Wagnerschen ,Tristan* gefühlig nachzubilden sucht, T o n i o Kröger, der „Bürger, der sich i n die Kunst verirrte", Aschenbach, dessen vergiftetes Glück die wenigen gelungenen Seiten sind, die er untergehend noch niederschreibt, der i n der K r a n k h e i t „genial" gewordene Hans Castorp, Lotte Kestner i n ihrer phantastischen Verkennung der Situation, die dann am Ende v o n Goethe auf das rechte M a ß zurückgeführt w i r d , der Goethe des Romans, i n dessen „ N a t u r " etwas „Unwirkliches u n d Lebensunzuverlässiges" ist, Joseph, Jaakobs geliebter Sohn, den Brüdern wegen seiner verspielten, dem M o n d verfallenen UnZuverlässigkeit, verhaßt, „eine A r t mythischer Hochstapler", A d r i a n Leverkühn, i n der I n t o x i k a t i o n schöpferisch werdend u n d so teilnehmend an dem Schicksal der „verruchten K r a n k e n " , der „ K r a n k h e i t als Größe" u n d der „Größe als K r a n k h e i t " , u n d endlich Felix K r u l l , dem des Dichters letzte Anstrengungen gegolten haben, „glückselig" i n seiner die

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Gewöhnlichen verachtenden Doppelexistenz. A m Hochstaplertum haben sie alle irgendeinen A n t e i l . D a r i n sind sie, v o r allem Joseph, Faustus u n d K r u l l Umschreibungen des v o n Thomas M a n n zeitlebens gemeinten Künstlertums u n d stellen sich neben die v o n i h m ebenso eindringlich umworbenen großen Zweideutigen: Schopenhauer, Nietzsche, Wagner, denen sich, nicht ebenso genau erfaßt, i m Lotte-Roman Goethe anschließt. Dieser entzieht sich dem an i h n gestellten Anspruch, Ausdruck seines, Thomas Manns, Künstlertums zu sein u n d erhebt sich dann zu einer Größe, die das Zweideutige überwindet und oberhalb der „verspielten W ü r d e der K u n s t " steht. I n Joseph, Faustus und K r u l l bildet er Vertreter der künstlerischen Ambivalenz, w i e er sie als seine eigene empfand; so w i e er i n dem großen Musterbeispiel seiner Kunstdeutung, der Rede v o n 1933: ,Leiden u n d Größe Richard Wagners', i n dessen „gesunder A r t k r a n k zu sein", seiner „romantischen Doppel- u n d Mehrdeut i g k e i t " , seiner Vereinigung v o n „ausgepicht u n d märchenhaft", „grotesk u n d w e i h e v o l l " , u n d wie immer die Entgegensetzungen heißen, seine eigene Wesenheit zu fassen sucht, ein ironisches, heiteres u n d verstimmtes Sichwiedererkennen i m Anderen. I m Schopenhauer-Essay (1938) deutet er i n Anlehnung an Piaton das Wesen des Künstlerischen als M i t t l e r t u m z w i schen Idee und Erscheinung, so der Ambivalenz seiner Existenz u n d der v o n i h r aus gebildeten Ansicht des Künstlertums einen Ausgleich schaffend u n d dennoch die Spannung, den Reiz des Unaufgelösten bestehen lassend: „ D i e vermittelnde Aufgabe des Künstlers, seine hermetisch-zauberhafte Rolle als M i t t l e r zwischen oberer u n d unterer W e l t , zwischen Idee u n d Erscheinung, Geist u n d Sinnlichkeit k o m m t hier z u m Vorschein; denn dies ist i n der T a t die sozusagen kosmische Stellung der K u n s t ; ihre seltsame Situation i n der Welt, die verspielte W ü r d e ihres Treibens darin sind gar nicht anders zu bestimmen u n d zu erklären. Das Mond-Symbol, dies kosmische Gleichnis allen Mittlertums, ist der Kunst zu eigen. [ . . . ] A n d r o g y n w i e der M o n d , weiblich i m Verhältnis z u m Geiste, aber männlich zeugend i m Leben [ . . . ] ist i h r Wesen das eines mondhaft-zauberischen Mittlertums zwischen den beiden Regionen. Dies M i t t l e r t u m ist die Quelle ihrer Ironie." Joseph, Faustus, K r u l l schließen sich i n Thomas Manns W e r k als die größten Ausprägungen des mondhaften Mittlertums, der zweideutigen Eindeutigkeit des Künstlertums zu einer ebenso bedenklichen w i e faszinierenden Brüderschaft zusammen. M a n muß das wahrnehmen, auch w e n n man die „fabulierende" Umdeutung des biblischen Joseph, deren „Seele der H u m o r " ist, als blasphemisch empfindet, trotz ihrer „ h a l b scherzhaften Traulichkeit". V o n diesen Gestalten — „zweideutigen Wesen", w i e es i n der ,Lotte' heißt — „ist k a u m angängig [ . . . ] anders als zweideutig zu reden." 10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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Das heißt, u n d das ist wichtiger als die ambivalente Grundfigur seiner dichterischen Gestalten, die Redeweise des Schriftstellers Thomas M a n n ist ironisdi-ambivalent. Selbt ein so leidenschaftliches, aus schweren Konflikten geborenes, v o n einer schmerzlichen Spaltung der brüderlichen Gemeinsamkeit kündendes Buch w i e die ,Betrachtungen eines Unpolitischen' bezeichnet er selbst i n der ,Vorrede* als „ K ü n s t l e r w e r k " , „Künstlerschrift": „ E i n Rest v o n Rolle, A d v o k a t e n t u m , Spiel, Artisterei, ein Rest v o n Überzeugungslosigkeit u n d jener dichterischen Sophistik, welchen den Recht haben läßt, der eben redet." K ö n n t e man Vergleichbares v o n Goethes ,Dichtung u n d Wahrheit', oder der ,Italienischen Reise' sagen? U n d dennoch gibt er als Ursprung dieses Buches an: „Gewissenhaftigkeit" als wesentlichen T e i l seines Künstlertums. I n einer Selbstdarstellung v o r amerikanischen Studenten spricht er 1940 v o n der „Doppelgleisigkeit meines dichterischen Denkens". U n d i n dem Buch, i n dem das Ironische m i t dem Mythischen sich verbindet, oder besser: die Geschichte der biblischen A l t v ä t e r i n einer „Vereinigung v o n Sympathie u n d V e r n u n f t zu einer Ironie, die nicht unheilig z u sein braucht", erzählt w i r d , steht der Satz, gesprochen v o n jemand, der Züge Thomas Manns t r ä g t : „ E i n Zweifler b i n ich, [ . . . ] nicht, w e i l ich nichts glaube, sondern alles f ü r möglich halte." Diese Ambivalenz des ironischen, zweideutigen Sehens u n d Schreibens, der sein Urheber die W ü r d e auch des Ernstes zuerkennen möchte, ist bis z u m Ende Thomas Manns auszeichnende Schriftstellerart geblieben. D a r u m — u n d damit umschreibe ich den Grundgedanken meiner Untersuchung — gibt es v o n A n f a n g an bis i n die letzten Werke hinein n u r einen Thomas M a n n , trotz der Widerrufe nach 1918 i m eigentlich politischen Sinn. Das ist der ambivalente, ironische A r t i s t , dessen Künstlertum zwischen Ästhetizismus u n d dem Sittlisch-Moralischen i n der Schwebe ist. Er hat diese Besonderheit i n den »Betrachtungen' als „sittlich-artistische Eigenart" bezeichnet; so w i e er i n verwandter Auslegung Tolstoi „moralistische Kunstgewalt" zuschreibt. Diese ironische Zusammenzwingung zweier Begriffe aus verschiedenen Sphären, der Kunst u n d der M o r a l , ist ein ungemein genauer Ausdruck seiner schriftstellerischen Existenz. D a z u k o m m t — das ist der zweite T e i l meiner These — : diese ein ganzes Leben währende Ambivalenz erfuhr er als ein Deutsch-sein. D a r i n beruht seine deutsche Apostasie, sein experimentum medietatis, der m i t Stolz u n d dem Bewußtsein der Fragwürdigkeit unternommene Versuch, sich i n seinem Schriftstellertum als M i t t e zu setzen, Kunst zu unternehmen als Selbstbehauptung u n d Selbstheiligung des i r o n i schen Menschen. Das Grundproblem Thomas Manns, u n d z w a r seiner ganzen Schriftftellerlaufbahn, ist der als deutsch empfundene K a m p f des Sittlichen m i t dem

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Künstlerischen, des Ernstes u n d der V e r a n t w o r t u n g m i t dem Spiel, oder, u m es m i t geläufigen Begriffen zu sagen, die hier nur i n eine neue Beleuchtung geraten, des Bürgers m i t dem Artisten. Es ist nicht so, w i e behauptet w o r den ist, daß Thomas M a n n v o r 1918 „Geist" u n d „ P o l i t i k " i n der Weise des „Taugenichts" getrennt u n d nach 1918 wie der „Zivilisationsliterat" verbunden habe u n d „eindeutig" w i e sein Bruder Heinrich geworden sei. Er t r u g diese „ A m b i v a l e n z " immer i n sich: ja, er war sie. Das heißt, auch der späte Thomas M a n n t r u g unvereint, i n spannungshafter Doppelseitigkeit i n sich Artistik, zweckloses, sich selbst setzendes Künstlertum, u n d Sittlichkeit, moralische Verpflichtung der schriftstellerischen Aufgabe gegenüber, W i l l e zu Einfluß u n d Erziehertum. „Mehrdeutigkeit, Zweideutigkeit, schriftstellerische D o p p e l n a t u r " als Selbstkennzeichnung Thomas Manns finden sich bis 1955. Sie stehen alle i n Wechselbeziehung zur Ironie.

III. Artistik T r o t z seines politischen Engagements hat Thomas M a n n auch nach 1918 u n d noch nach seiner Rückkehr aus A m e r i k a w i e i n den Betrachtungen eines Unpolitischen' die Kunst gefeiert als das „Nutzlos-Schöne", als der „Kategorie des Verbrecherischen zugehörig", als „verführendes Spiel", als „reines Spiel", als „elbisch-ironisch", als die „Unzeitgemäßheit" oder zusammenfassend schon i n den Betrachtungen' als die „politisch willenlose K u n s t " . Eine späte Äußerung i n der Selbstdarstellung , O n myself' v o n 1940 bringt das „ I n f a n t i l e " , das Spielerisch-Zwecklose, den „rein formalen Spieltrieb" i n eine überraschende Verbindung m i t „geistiger Reife" u n d „ W ü r d e " : „ I n anderen einzelnen Fällen bewahrt das reifende Leben das Infantile nicht i n der pathologischen Form, die eigentlicher Infantilismus wäre, als geistiges u n d moralisches Zurückbleiben auf einer p r i m i t i v e n Stufe — sondern das bewahrte Kindliche. Der Spieltrieb verbindet sich m i t geistiger Reife, j a m i t den höchsten Antrieben des Menschen, dem Streben zum W a h ren u n d Guten, dem D r a n g nach Vollkommenheit, u n d w i r d z u dem, was man m i t dem N a m e n der Kunst u n d des Künstlertums ehrt. K u r z , das I n fantile, das Spiel k o m m t zu W ü r d e n . " Entsprechend ist seine Bewertung des Künstlers; auch hier die Übereinstimmung u n d Gleichartigkeit i n allen Phasen seiner Laufbahn. Das gilt v o n den Künstlergestalten seiner Werke w i e den geschichtlichen Erscheinungen, denen seine kritischen Anstrengungen gegolten haben, vornehmlich N i e t z sche, Wagner u n d Goethe, i n diesem letzteren Falle allerdings i n wenig eindeutiger und sicherer Weise. Der Künstler ist eine bedenkliche Erscheinung, 1*

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ist „Abenteurer", aus dem Kreis der „Ordentlichen u n d Gewöhnlichen" ausgeschlossen, ist eine „problematische Existenz". I m ,Tonio Kröger* heißt es, „ d a ß ein rechtschaffener, gesunder u n d anständiger Mensch überhaupt nicht schreibt". U n d eben d o r t : „ I c h hege auf dem Grunde meiner Seele [ . . . ] gegen den Typus des Künstlers den ganzen Verdacht, den jeder meiner ehrenhaften Vorfahren droben i n der engen Stadt irgendeinem Gaukler u n d abenteuernden Artisten entgegengebracht hätte, der in sein Haus gekommen wäre." I n dem Essay über Theodor Storm (1930) w i r d „ D i c h t e r t u m " als „ d i e lebensmögliche Form der I n k o r r e k t h e i t " bezeichnet. D a z u stimmt die i m H i n b l i c k auf Wagner getroffene Abgrenzung: „Es ist ratsam einzusehen, daß der Künstler [ . . . ] kein absolut ernster Mensch ist." D i e Entrüstung, die die Rede v o n 1933, ,Leiden u n d Größe Richard Wagners', hervorgerufen hat, gründet weniger i n politischen Vorurteilen — dafür sprechen viele der Unterzeichner des öffentlichen Protestes — als i n der schockierenden Herausforderung durch eben diese Infragestellung des Künstlers Wagner als einer morbiden, zweideutigen, unernsten N a t u r , als der „Rauschgröße" des „Theaterdionysos", seiner Kunst als eines „ m i t höchster Willenskraft u n d Intelligenz [monumentalisierten u n d ins Geniehafte getriebenen D i l e t t a n tismus", i n dem „ K u n s t u n d K r a n k h e i t als ein u n d dieselbe Heimsuchung" erscheinen. Es geht eine ununterbrochene Linie v o n den frühen Erzählungen, v o r all e m dem ,Tonii Kröger', den ,Buddenbrooks' u n d dem , T o d i n Venedig' über die ,Betrachtungen' zu den späten Romanen, dem ,Zauberberg', der ,Lotte i n Weimar', dem Joseph', dem , D o k t o r Faustus' u n d dem gegen Ende wieder aufgenommenen ,Felix K r u l l ' . Der Künstler ist dem „ A b e n teurer" u n d dem „Hochstapler" verwandt. D e n , D o k t o r Faustus' schreibt er als die „Geschichte eines höchst prekären u n d sündigen Künstlerlebens". Auch wenn dieses „Schmerzensbuch" eine Analyse des deutschen Verhängnisses u n d eine Anklage deutscher Versuchung i m Bilde des musikalischen Faust darstellt, sein Verfasser ist immer noch v o m Mephistophelischen des Artistentums fasziniert; trotz aller Einsicht i n die Gefahr der M u s i k a l i t ä t als romantischer Versuchung eine geheime Neigung zur genialen K r a n k h e i t nicht verbergend. Thomas M a n n stellt i n diesem Roman nicht nur die Deutschen, sondern auch sich i n seinem Hingezogensein zur Schopenhauerischen, Nietzscheschen u n d Wagnerischen morbiden Musikalität i n Frage. Das gilt auch v o m Joseph', dessen „ H e l d " , eine „ A r t mythischer Hochstapler" 1 5 , i n seiner „ M o n d g r a m m a t i k " den bedenklichen Musikanten nahe steht, u n d der w o h l nicht ohne Bezug auf einen i n dieser Richtung des Verspielten, des „Natur-Elbischen" gesehenen Goethe der „Hätschelhans" heißt, w i e Frau 15 An Ernst Bertram, 28. X I I . 1926.

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Rat ihren Sohn nennt. D a h i n gehört endlich auch die Selbstauffassung K r u l l s , der seine Hochstapelei durch die geschmackvolle, t a k t v o l l überlegene, i h n v o n den Gewöhnlichen unterscheidende Bewußtheit seiner Lebensführung u n d ihrer schriftstellerischen Wiedergabe gerechtfertigt glaubt. U n d weiter: Thomas M a n n , der 1930 i n seiner politischen ,Deutschen Ansprache* die K u n s t als „das Nutzlos-Schöne" preist u n d noch 1949 i n seiner Frankfurter Goethe-Rede v o n den „verführenden Spielen [ . . . ] des Fabulierens" spricht, hat früh u n d spät den Stil, das ist das Wie, dem Was vorgezogen. I n einem Brief v o n 1905 an Heinrich M a n n heißt es: „ D e r Styl ist m i r , unmoralischer Weise noch wichtiger als die Psychologie." T h o mas M a n n behält die Lust an der Form, der artistischen Schreibweise ohne Absicht auf Werte u n d Zwecke außerhalb ihrer bis zuletzt. V o n dem Vielen hier zu Nennenden sei noch einiges Kennzeichnende vermerkt. I n der ,Lotte i n Weimar 4 w i r d durch Riemer die Poesie gekennzeichnet als „ m i t den verführerischen Zeichen ihrer H e r k u n f t aus einer fremden, unbürgerlichen Liebeswelt" ausgestattet; w i r d der Künstler als aus „göttlicher", „ironisch-elbischer" H e r k u n f t stammend gedeutet, gleichzeitig aber — u n d das ist immer das Gegenspiel — als unmoralisch u n d bedenklich abgewertet, i n welcher A b w e r t u n g sich geheimes Hingezogensein u n d brüderliches V e r stehen verbirgt. I n der Goethe-Ansprache v o n 1949 w i r d v o n der ,Iphigenie* Goethes bei aller Anerkennung ihrer H u m a n i t ä t gesprochen v o r allem i n Hinsicht auf die künstlerische Gestalt, was besonders auffällig u n d bedeutsam ist, wenn man den A n l a ß u n d die Stunde seines ersten öffentlichen A u f tretens i m Deutschland der Nachkriegszeit denkt. Er nennt dieses D r a m a reiner Menschlichkeit „ e i n Gedicht [ . . . ] v o n solcher Schönheit der Form [ . . . ] , daß jedem für Kunst Empfänglichen, der deutsch versteht, die T r ä nen dabei i n die Augen treten". Seit 1917, da Ernst Bertram i h n m i t Nachdruck auf den i h m damals noch unbekannten Adalbert Stifter verwies, hat sich Thomas M a n n m i t dem W e r k dieses Dichters befaßt. V o n den Betrachtungen eines Unpolitischen* (1918) angefangen bis zur ,Entstehung des D o k t o r Faustus* (1949), v o n frühen Briefen an Bertram bis zu späten aus dem letzten Jahrzehnt reichen seine bewundernden Äußerungen über den „unerhörten" Schriftsteller Stifter: „ W e r k a n n noch so erzählen." I m ersten Jahr der Emigration liest er neben ,Don Quichote* u n d ,Krieg u n d Frieden* v o n Tolstoi Stifters ,Witiko*. Er gehöre, sagt er 1945, zu denen, „ d i e selbst den ,Witiko* strikt zu Ende gelesen haben". Er „sehe seitdem i n dem merkwürdigen Schulrat einen der größten u n d ermutigendsten Ehrenretter der Langeweile". „Es ist doch mehr u n d anders als das bekannte noble ennui. Es ist ein stiller, blasser, pedantischer Zauber, der fester hält, als das meiste Interessante und

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einem demonstriert, was, welches M a ß v o n Langeweiligkeit unter Umständen möglich ist, möglich gemacht werden kann, — was für den Erzähler eine sehr wichtige, u n d i n sich selbst geradezu aufregende Erfahrung ist." 1 ® M i t dem H i n w e i s auf Stifters „Langeweile" steht Thomas M a n n nicht allein. Aber was uns hier w i d i t i g erscheint, ist dies, daß er d a m i t auf eine schriftstellerische Q u a l i t ä t zielt, die Langeweile als Gegensatz z u m Interessanten, u n d damit auf eine v o n i h m zugegebene Eigenart seines eigenen Schriftstellertums. I m Untergrunde vernehmen w i r noch unausgesprochen die E n t gegensetzung des Zivilisationsliteraten u n d des Dichters aus den ,Betrachtungen', das heißt ein Bekenntnis zu, wie er sie damals versteht, deutscher Schreibart. So lange w i r k t e die Problematik dieses Rechenschaftsberichtes nach, ein Zeichen dafür, w i e sehr seine Selbstbeurteilung als Schriftsteller v o n den zeitbedingten politischen Fragen unabhängig ist. Was sich hier zu erkennen gibt, ist auf eigentümliche, aber nicht überraschende Weise v e r w a n d t m i t dem, was seine Bemühungen u m Goethe kennzeichnet; Bestätigung dafür, daß seine literarkr irischen Versuche unverkennbar aus dem gleichen Grunde kommen, nämlich seiner eigenen schriftstellerischen A r t . Sie sind aus Beunruhigung über Recht oder Unrecht, Wert oder U n w e r t seines Schreibens entspringende Selbstrechtfertigung. Dabei k o m m t immer jene Spannung zu Tage, v o n der hier die Rede ist, die zwischen Gehalt u n d Form, u n d die Entscheidung eben für diese, für die Artistik. Das ist nun i m Falle Stifters besonders aufschlußreich, als dessen Auszeichnung ja gerade nicht, auch v o n ihm, Stifter selbst nicht, die formale V o l l endung angesehen w i r d , sondern die Verkörperung v o n Sitte u n d M a ß , v o n Menschlichkeit u n d N a t u r f r ö m m i g k e i t , des „sanften-Gesetzes" als G r u n d f o r m menschlichen Seins. Er habe, sagt Stifter, „nach gar keiner Kunst gestrebt", sondern nur sein „ H e r z ausgeredet", u m das „ H o h e der Menschheit, das Edle und, sagen w i r es, das Göttliche" i n anderen Menschen zu begründen. 1 7 Eben dies bemerkt Thomas M a n n schon zur Zeit seiner ersten Beschäftigung m i t Stifter, als i h m eine Brief stelle so wichtig erscheint, „ d a ß sie unbedingt i n meinem Buche [gemeint sind die ,Betrachtungen'] stehen müßte, wenn sie nicht m i t anderen W o r t e n ohnedies darin stünde". Diese Stelle spricht davon, daß Stifter seine Bücher „nicht als Dichtungen allein, sondern als sittliche Offenbarungen, als m i t strengem Ernste bewahrte menschliche W ü r d e " angesehen wissen w i l l . U n d dennoch sieht Thomas M a n n diese bei Stifter bewahrte „menschliche W ü r d e " verwirklicht i n der Sprache, i m Stil. Das geht aus einem Brief an Ernst Bertram (25. X I I . 1917) hervor, i n dem An Fritz Strich, 27. X I . 1945, in: Thomas Mann, Briefe 1937-1942, S. 458. Vgl. dazu das Kapitel ,Das Herz' in meinem Buch Adalbert Stifter. Mensch und Wirklichkeit, Berlin 1950, S. 103 ff. 17

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er diese Stiftersdie Schreibart der expressionistischen „ f r i v o l e n " entgegensetzt, die zur „Schiuderei" führe u n d die „Prosa v e r d i r b t " . Das verdeutlicht sich i n den weiteren Bekenntnissen zu Stifter z u m L o b der „erzählerischen Wunder u n d M e r k w ü r d i g k e i t e n " dieses Dichters. I n Ubereinstimmung m i t Nietzsche, dessen hohe Einschätzung des ,Nachsommers* er aus dem Nietzsche-Buch seines Freundes Bertram kannte, ist er fasziniert v o n der Schreibweise Stifters. Seine zahlreichen, v o n tiefer Betroffenheit zeugenden Umschreibungen, w i e „sanft-unheimlich, leise-großartig, stille, innige Genauigkeit, unvergeßlich" u n d vieles Andere meinen mehr die sprachliche Verwirklichung als den i n i h r vermittelten Gehalt. I n der Sprachform aber fesselt i h n die bei Stifter oft übersehene, v o n ihm, Thomas M a n n gerade m i t Betonung hervorgehobene „ N e i g u n g z u m Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen" —- so i n der ,Entstehung des D o k t o r Faustus* — , „die feuilletonistischen A b n o r m i t ä t e n " — so i n einem Brief v o m 27. X I . 1945. Z u m Erweis dessen nennt er solche Erzählungen w i e ,Heidedorf*, ,Bergkristall*, ,Abdias*, ,Hagestolz*, »Kalkstein*, die ,Geschichte v o m braunen Mädchen*, oder Schilderungen w i e den Schneefall i m bayerischen W a l d (,Aus dem bairischen Walde*, 1867). T r o t z der „ L a n g w e i l i g k e i t " , so ist seine Überzeugung, sei dieser Stifter „ e i n aufregender, außerordentlicher, alle Augenblicke ins Extreme, man k a n n schon sagen: Pathologische v o r stoßender Erzähler". So steht i n dem schon genannten Brief v o m 27. X I . 1945 an den Berner Literarhistoriker F r i t z Strich, der i h m seinen i m Kriege (1940) gehaltenen V o r t r a g über Stifter zugeschickt hatte. 1 8 Strich hatte darin, der Zeitsituation entsprechend, v o n den i m W e r k Stifters beschlossenen Tröstungen gesprochen als eine der damaligen Möglichkeiten, das U n h e i l zu überstehen. Thomas Manns A n t w o r t zeigt sich hingerissen v o n den erzählerischen Großartigkeiten dieses Dichters, m i t dessen „Wiederlesen" er eben, 1945, „jeden Abend v o r dem Einschlafen begriffen w a r " . U n d dann, wie eine M a h n u n g an den aus bedrohterer Lage Schreibenden: „Ach, ich wollte, Sie hätten über diese erzählerischen Wunder u n d Merkwürdigkeiten, v o n denen nur eine H a n d v o l l Liebhaber, u n d auch die nicht recht, etwas wissen, mehr gesprochen u n d nicht so viel v o n weltanschaulich-politisch-moralischen D i n gen." Das ist immerhin ungewöhnlich, wenn man sich den A n l a ß des V o r 18 Fritz Striò y Adalbert Stifter und unsere Zeit in: Der Dichter und die Zeit. Eine Sammlung von Reden und Vorträgen, Bern 1947, S. 291 - 326. Str. stellt seiner Rede ein Zitat aus einem Brief Stifters vom 22. X I I . 1860 voran: „Die Weltlage betrübt mich sehr, . . . und wenn es nicht doch noch einzelne gute und liebe Menschen gäbe, an denen man sich erlaben kann, so wäre im jetzigen Europa zu leben wahrlich nicht der Mühe wert, so viele Schwäche, Unverstand und Schlechtigkeit kommt zutage."

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träges u n d die Zeit dieses Briefes aus Californien, ein halbes Jahr nach der Katastrophe vergegenwärtigt. Es bestätigt die Auffassung, daß für Thomas M a n n , auch i n Augenblicken äußerster Ausgesetztheit, das „Gesetz der F o r m " das letztlich Entscheidende v o r der weltanschaulichen Aussage w a r . I n der ,Entstehung des D o k t o r Faustus* verzeichnet er, aus der Zeit n a d i dem Zusammenbruch, daß i h n „ A d a l b e r t Stifter [ . . . ] wieder einmal aufs angelegentlichste" beschäftigte. D a n n heißt es m i t Berufung auf „erstaunliche" u n d „gewagte Außerordentlichkeiten" der Erzählkunst Stifters u n d i n genauer Entsprechung der Briefstelle: „Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten u n d wunderlich packendsten E r zähler der Weltliteratur, kritisch viel zu wenig ergründet." Aber noch einmal anders, u m wieder Thomas Manns Ambivalenz sichtbar zu machen. Der den Prosaisten Stifter, seine „abnorme" Darstellungskunst Bewundernde, i n i h m so etwas w i e eine Bestätigung seines der A r tistik hingegebenen Schriftstellertums Sehende, weiß, daß er i n der Tiefe v o n Stifters M o r a l i t ä t u n d W ü r d e geschieden ist. So uneindeutig ist der deutsche Thomas M a n n . I n einem aus seinem letzten Lebensjahr an den Münchener Stifter-Forscher u n d -Herausgeber M a x Stefl als D a n k für die i h m übersandten, v o n Stefl herausgegebenen Urfassungen der ,Studien* Stifters geschriebenen Brief hebt er seine Weise, Kunst als „Spiel" zu betreiben v o n der Stifterschen Kunsthaltung, der „ F r ö m m i g k e i t " ab. 1 9 Das ist eine der überzeugendsten Bekundungen seiner die ganze Schriftstellerlaufbahn durchgehaltenen artistischen Auffassung v o n der Unverbindlichkeit und „ruchlosen" Zweideutigkeit seiner Schriftstellerei, seines Angesiedeltseins auf dem Felde der v o n i h m als maß-gebend angesehenen u n d darum v o n i h m umworbenen Genies w i e Nietzsche und Wagner. Aber auch, u n d das macht dieses Zeugnis so rührend u n d versöhnend, i m Gegensatz dazu das Angewiesensein auf Güte, Stille, Liebe. D i e i n den anderen Berufungen auf Stifter zugunsten der Kunst zurückgesetzte Menschlichkeit, Sittlichkeit, das „Ausreden des Herzens", gewinnt hier eine melancholische Bedeutsamkeit, k a u m zugestanden u n d scheu verborgen. Liebe ist i h m nur i n der Form der ironischen Liebe erreichbar, als welche nach i h m das „Pathos der M i t t e " ist; die „ f r o m m e " Liebe blieb seine Sehnsucht. A n seinem Verhalten w i r d seine Ambivalenz deutlich, die Spannung zwischen Unverbindlichkeit und Treue dessen, der i n die „ K ä l t e " A d r i a n Leverkühns „ v e r n a r r t " war. D i e diese Zwischenlage der „ M i t t e " bekennenden Sätze des Dankbriefes an M a x Stefl lauten: „Soviel habe ich bei der neuen Berührung m i t dieser Prosa gleich 19 Kilchberg, 16. Mai 1954. Veröffentlicht im Mitteilungsblatt der AdalbertStifter-Gesellschaft München, Dezember 1955, S. 213f.; danach in Mario Krammer-Hermann Kunisch, Deutsche Briefe aus einem Jahrtausend, Reclam Verlag, Stuttgart 1958, S. 607 f.

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wieder aufs stärkste bemerkt u n d empfunden, daß keine Lektüre einen deutschen Schriftsteller schöner lehrt u n d anhält, seine Sprache rein zu halten u n d i h r i n Treue zu dienen, als diese. Ich weiß keineswegs, ob ich der Liebe, die ich für diesen Dichter hege, recht w ü r d i g bin u n d vermute, daß er sich i n seiner Frömmigkeit v o n dem meisten, was ich gemacht, m i t Verdruß u n d Tadel abwenden würde. Es w a r nicht seine A r t , m i t der Kunst zu scherzen, wie ich es öfters getan habe." U n d dann — welche ergreifende Mischung v o n heiterer Selbstbezichtigung, Selbstbehauptung u n d bei i h m selten vernehmbarer Güte — Goethes Philine zitierend: „ W e n n ich dich liebe, was geht's dich an." Thomas M a n n hat sich, das mag aus den angeführten Zeugnissen — die leicht zu vermehren wären — hervorgehen, nie ganz u n d unverstellt zur Position des „Zivilisationsliteraten" bekannt, der wie Z o l a u n d Heinrich M a n n Zeitromane m i t politischer Tendenz schreibt. Der Bruderzwist i m Hause M a n n hat bis z u m T o d Heinrichs gedauert. Noch der späte Thomas M a n n traut der Kunst u n d der Dichtung keine politische u n d gesellschaftliche W i r k u n g zu; vielmehr, er hat dies als m i t dem Wesen der Kunst unvereinbar empfunden. I m Gegensatz dazu hat Heinrich M a n n an der gesellschaftsverändernden Aufgabe seiner Arbeiten festgehalten. I n dem selbstbiographischen Bericht ,Ein Zeitalter w i r d besichtigt' (1945) sagt er v o n sich: „ W a r ich ein Kämpfer? Ich gestaltete, was ich sah, u n d suchte mein Wissen überzeugend, wenn es hoch kam, auch anwendbar zu machen." 2 0 Thomas M a n n bekennt i n dem „ m i t tiefer Sympathie" geschriebenen späten ,Versuch über Tschechow' (1954), daß „ d i e Lebenswahrheit, auf die der Dichter v o r allem verpflichtet ist", „von Natur ironisch" sei, das heißt frei, geistig, spielend, unverbindlich. Was i h n zu diesem russischen N o v e l listen gezogen habe, sei dessen Überzeugung, daß der Künstler keine „Gesamtidee seines Lebens u n d Schreibens" habe, „keinen G o t t des lebendigen Menschen". Deswegen könne er, der Künstler, nicht raten, u n d i h m seien über das „Abschreiben des Lebens" hinaus keine Möglichkeiten gegeben. Thomas M a n n z i t i e r t : „ W i r zeichnen nur das Leben, wie es ist", u n d : „ W i e die Dinge liegen, hat das Leben eines Künstlers keinen Sinn, u n d je begabter er ist, desto seltsamer u n d unbegreiflicher w i r d seine Rolle." Tschechow habe seinen wachsenden R u h m „ m i t Skepsis, m i t schamhaftem Gewissen" betrachtet u n d bekannt: „Führe ich nicht den Leser hinters Licht, da ich ja doch die wichtigsten Fragen nicht zu beantworten weiß?" Dieses W o r t Tschechows habe ihn „ w i e kein anderes getroffen". Wiederholt f ü h r t er die A n t w o r t an, die ein alter Gelehrter bei Tschechow einer i n Lebensnot und 20 In dem Abschnitt: Mein Bruder. Wieder abgedruckt im Briefwechsel Th. M.H. M., S. 234.

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Ratlosigkeit befindlichen jungen Frau gibt. Diese fragt: „Was soll ich tun? N u r ein W o r t , N i c o l a i Stepanytsdi, ich flehe Sie an: Was soll ich tun?!" „ U n d er muß a n t w o r t e n " , so sagt Thomas M a n n : „ I c h weiß es nicht. A u f Ehre u n d Gewissen, K a t j a , ich weiß es nicht." Genau dem entsprechend äußert er sich 1949 i n der Rede ,Goethe u n d die Demokratie' über Goethe: „ U m seine persönliche K u l t u r u n d darum, ,die Pyramide seines Daseins so hoch wie möglich hinaufzuspitzen', w a r es ihm, wenigstens die längste Zeit seines Lebens zu tun, nicht u m die Verbesserung der W e l t . " I n gleicher Weise umschreibt er auch A n t r i e b u n d geistige Verfassung seiner eigenen Arbeit. So, wenn er 1925 (an Julius Bab) feststellt, daß das „Soziale" seine schwache Seite sei: „ U n d daß ich auf den 8 Stundentag hätte kommen müssen, mutet mich fast wie eine Parodie des sozialen Gesichtspunkts an." I m gleichen Jahr (30. I V . 1925) schreibt er an seinen Freund Ernst Bertram, zu einer Zeit also, da die W a n d l u n g zur Demokratie vollzogen ist: „ A b e r v o n gewissen Äußerungen zu schweigen, zu denen ich mich v o n praktischer Vernunft u n d erweiterter Verpflichtung angehalten fühle" — gemeint sind w o h l Stellungnahmen zu P o l i t i k u n d sozialer Verantwortung — „ b i n ich eben mehr ein Künstler, Melancholiker, Genießer der Gegensätze u n d Spieler damit, als Richter u n d K ü n d e r . " Später, unter dem Erlebnis der nationalsozialistischen Zerstörung des Menschen hat er das „Politische" i n die T o t a l i t ä t des Menschlichen einbezogen, verstand es aber doch wesentlich als Sittlichkeit, als H u m a n i t ä t , als Moralisch-Werden des Geistes, der sich z u m Guten entschließt. 21 I n seiner ,Ansprache i m Goethejahr' 1949 stellt er dann unmißverständlich fest: „ Z u m Bußprediger fehlt m i r alles, u n d alles z u m Propheten." Das ist immerhin i n einem Augenblick gesagt, da er bei seinem ersten Aufenthalt nach dem Kriege i n Deutschland sich der Verpflichtung, zu klären u n d Grenzen zu ziehen, die Stunde zu bedenken, bewußt war. I n eben dieser Rede zitiert er ein W o r t André Gides über die Möglichkeit des Schriftstellers, i n Fragen der Zeit u n d des Existierens i n ihr raten u n d helfen zu können, ein W o r t , das dieser zu Klaus M a n n gesagt hatte: „ W e n n immer junge Leute kommen, sich bei m i r Rats zu holen, fühle ich mich so beschämend inkompetent, so hilflos, so verlegen. I m m e r fragen sie mich, ob es einen Ausweg gibt . . . Aber wer b i n ich, ihnen zu antworten. Ich weiß es ja selbst nicht." Das greift gewiß über das i m engeren Sinne Zeitgemäße hinaus ins Allgemein-Menschliche, verrät aber doch, w i e die Berufung auf Tschechow, daß Thomas M a n n seine Möglichkeiten nicht i m „Ratwissen" sieht, sondern auch zur Zeit seiner intensiven Anteilnahme am öffentlichen i m künstlerischen Gestalten, das sich 21 Vgl. die Ansprache zum 70. Geburtstag Heinrich Manns, in: Briefw. Th. M.H. M., S. 206 ff., bes. S. 210.

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der ironischen Mehrdeutigkeit anheimgibt. Noch 1950 i n der Betrachtung ,Meine Zeit' nennt er seine „ H e r v o r b r i n g u n g e n " „spielerisch, skeptisch, artistisch u n d humoristisch" u n d seine Weise „ K u n s t zu üben" „ w e n i g v o r bildlich". Freilich wußte Thomas M a n n , wie er i n seiner ,Deutschen Ansprache 4 v o n 1930 sagte, die er einen „ A p p e l l an die V e r n u n f t " nannte, da er i n ihr v o r den Gefahren des heraufkommenden Nationalsozialismus eindringlich warnte, daß die künstlerische, nicht auf Weltverbesserung bedachte Arbeit i n Zeiten der N o t als Luxus erscheinen könne. Aber dennoch möchte er nicht, wie es der „ u n e r b i t t l i c h soziale Aktivismuis" t u t , „ i n der K u n s t , i m Nutzlos-Schönen einen individualistischen Müßiggang erblicken, dessen U n zeitgemäßheit i h n fast der Kategorie des Verbrecherischen zuordnet". Das alles zielt auf ein letztes Festhalten an der Zweckfreiheit künstlerischen Spiels als seiner eigentlichen Bestimmung u n d ist w e i t entfernt v o n dem Glauben u n d der Absicht des engagierten politischen Schriftstellers, dem es i n seinem W e r k auf Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen Bewußtseins oder gar auf eine Veränderung bestehender ökonomischer Verhältnisse ankommt. Diese Absicht w a r nicht sein Fall. So ist es folgerichtig, wenn er 1949 e r k l ä r t : 2 2 „ W e n n nicht die Zuflucht der Phantasie wäre, w e n n sie nicht wären, die immer wieder, nach jedem Fertigsein zu neuen Abenteuern u n d erregenden Versuchen weiter lockenden, z u steigerndem Weitermachen verführenden Spiele u n d Unterhaltungen des Fabulierens, der Gestaltung, der Kunst — ich wüßte nicht, w i e zu leben, v o n Rat und guter Lehre für andere ganz zu schweigen." U n d eben d o r t : „Tatsächlich schwebt alle Kunst i n der Doppeldeutigkeit dieses Wortes ,gut', i n dem das Ästhetische und Moralische sich treffen, vermischen, ununterscheidbar werden, dessen Sinn übers bloß Ästhetische hinausreicht ins überhaupt Zustimmungswürdige u n d hinauf bis zur höchsten, gebieterischen Idee der Vollendung." D i e letzte E r k l ä r u n g für dieses Ausweichen, für das Heinrich M a n n kein Verständnis haben konnte, liegt i n einem Pessimismus, der ihn v o m Menschen i m Letzten als fragwürdig denken ließ, u m den zu sorgen, oder dem gar helfen zu wollen, nicht z u verantworten sei: „ M a n muß w o h l einsehen, daß der Mensch ein verfehltes Wesen ist." So i n dem »Versuch über Tschechow'. U n d wieder dort, sein Artistenevangelium halb bekräftigend und, wie es die A r t des ambivalenten, ironischen Skeptikers ist, halb zurücknehmend: „ M a n hat auf die Frage der armen K a t j a : ,Was soll ich tun?' nur die A n t w o r t : , A u f Ehre u n d Gewissen, ich weiß es nicht.' U n d man 22 Ansprache im Goethejahr. Hervorhebungen von mir. Auch hier ist wieder wie oben, Anlaß und Zeitpunkt des Sprechens zu beachten.

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arbeitet dennoch, erzählt Geschichten u n d formt die Wahrheit i n der dunklen H o f f n u n g , fast i n der Zuversicht, daß Wahrheit u n d heitere Form w o h l seelisch befreiend w i r k e n u n d die W e l t auf ein besseres, schöneres, dem Geiste gerechteres Leben vorbereiten können." Wer w o l l t e das bezweifeln. Aber das ist doch Glaube an die Kunst u n d deren heitere Form, die ohne Absicht w i r k t , w i r k t nur dadurch, daß sie ist und für sich nichts w i l l . So ist der Künstler Thomas M a n n : fasziniert v o n den eigensinnigen Spielen der Phantasie, v o n der morbiden A n f ä l l i g k e i t des Künstlers, seiner V e r w a n d t schaft m i t der K r a n k h e i t , v o n der ironischen Zweideutigkeit und U n v e r bindlichkeit der Kunst, ihrem Gegensatz zu allem „Ratwissen, Glauben u n d Lehren". IV. Sittlichkeit Dennoch, dieser ganz unmoderne Verteidiger der zweckfreien Spiele der Kunst begriff als „ewigen Gegensatz" dazu eine auf E t h i k , Idee u n d Geist beruhende Literatur. So w a r er Künstler u n d Bürger i n einem; angezogen v o n dem A d e l des Geistes i n den großen K r a n k e n Nietzsche, Wagner u n d Dostojewskij u n d dagegen aufrufend den A d e l der N a t u r i n den „Plastik e r n " Goethe u n d T o l s t o i . 2 3 Sein früher „Tolstoismus" läßt ihn, w i e er am 25. X I . 1900 an den Bruder schreibt: „beinahe schon Reim u n d Rhythmus als ruchlos" empfinden. Solche beinahe kunstfeindliche Rigorosität bricht immer wieder durch, besonders i n den späten politischen Bekenntnissen, w i r d aber i n zunehmendem Maße widerrufen i n seiner eigenen künstlerischen Tätigkeit. So kann Thomas M a n n i n seinem autobiographischen Rückblick ,On myself' (1940) das „ G r u n d - M o t i v " seines Gesamtwerkes m i t einem langen Z i t a t aus dem Josephs-Roman umschreiben. D a r i n heißt es: „Es ist die Idee der Heimsuchung, des Einbruchs trunken zerstörender u n d vernichtender Mächte i n ein gefaßtes u n d m i t allen seinen Hoffnungen auf W ü r d e u n d ein bedingtes Glück der Fassung verschworenes Leben. Das Lied v o m errungenen, scheinbar gesicherten Frieden u n d des den treuen Kunstbau lachend hinwegfegenden Lebens, v o n Meisterschaft u n d Überwältigung, v o m K o m m e n des fremden Gottes w a r i m Anfang, w i e es i n der M i t t e w a r . " Thomas M a n n bezieht diese betrachtende Stelle aus seinem Roman, in der v o n der Parallelität der Geschichte der Menschheit u n d des einzelnen Menschen die Rede ist, auf sein eigenes Werk. Dessen A n f a n g u n d M i t t e , aber auch, wie er erläuternd hinzufügt, späte Phase, sei beherrscht v o m Ein23 Das ist das Thema des großen, den Gegensatz der beiden Kunstformen deutenden Essays ,Goethe und Tolstoi', 1922.

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bruch des „fremden Gottes" i n die W e l t der Würde und Fassung. Das gilt auch noch, so ergänzen w i r , v o n dem damals n o d i nicht vollendeten , D o k tor Faustus'. Sein Bürgertum, das heißt die Hinneigung zu Sittlichkeit u n d Tugend, zur „Idee der Menschlichkeit" als der „Idee der M i t t e " , leitet Thomas M a n n aus seiner Verbundenheit m i t dem „bürgerlichen" neunzehnten Jahrhundert ab. Er hat sich früh u n d spät zu diesem seinem Jahrhundert bekannt, als geprägt v o n „den geistigen Überlieferungen deutscher Bürgerlichkeit". Diese Seite seiner geistigen A r t nannte er seit den Betrachtungen' „bürgerliches Künstlertum" oder „ethisch-handwerkliches Meistertum", das sich i n bürgerlicher Lebensführung, bürgerlichem Beruf, verbunden „ m i t den harten K ä m p f e n der strengsten künstlerischen A r b e i t " verwirkliche, u n d dessen Wesen „des Handwerkers Tüchtigkeit" sei. D i e typischen Vertreter dieser Bürgerlichkeit waren für i h n Storm, Keller, Mörike. I n der frühen Zeit der Betrachtungen' beruft er sich für diese deutsch-bürgerliche Wertung der Kunst auf das Buch des jungen Georg v o n Lukacz ,Die Seele u n d die Form e n ' . 2 4 Damals stellt er dieses deutsch-bürgerliche Künstlertum i n Gegensatz z u m westlichen Ästhetizismus, der „ d i e undeutscheste Sache v o n der W e l t " sei. Anders aber als später rechnet er hier noch i n einer merkwürdigen, i n der Zuspitzung unsicheren Umdeutung der auf den ersten u n d noch auf den letzten Blick als unbürgerlich erscheinenden Grundzüge Wagners u n d Schopenhauers diese beiden Kronzeugen zu den deutschen und bürgerlichen Vertretern der K u n s t : „ M a n atmet ethisch-pessimistische L u f t dort, deutsch-bürgerliche L u f t : denn das Deutsche u n d Bürgerliche ist Eins." Es mag hier auf sich beruhen bleiben, welchen A n t e i l an dieser frühen Wagner-Deutung Nietzsche m i t seiner „doppelten O p t i k " — „die artistische u n d die bürgerliche nebeneinander u n d auf einmal" — gehabt hat, deren „ G r u n d und Ursprung" dieser nach Thomas Manns Ansicht i n Wagners „ W e l t - E r o t i k " gefunden habe. Uns beschäftigt hier, daß der frühe Thomas M a n n selbst Gestalten w i e Schopenhauer, Wagner u n d Nietzsche i n das Gewebe eingefügt hat, dem er seine H e r k u n f t verdanken zu müssen glaubte, einem auf Sittlichkeit, Tüchtigkeit u n d Weltfremdheit beruhenden bürgerlichen Künstlertum, das sich v o m Ästhetizismus u n d dem, was i n den Betrachtungen' das „Problematische" der Kunst genannt w i r d , i n der Tiefe unterscheidet. D i e Kompliziertheit der Darlegungen i n diesem so fragwürdigen wie faszinierenden Buch — es w a r schon davon die Rede — erweckt den Eindruck, daß sein Verfasser hier gegen eine uneingestandene tiefere Einsicht aus polemischer H a l t u n g heraus die Einheit v o n Bürgerlichkeit und 24

Vgl. zu dieser Phase seiner Kunstauffassung das Kapitel Bürgerlichkeit 4 in den Betrachtungen eines Unpolitischen*. Dort auch die Berufung auf Lukdcz.

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Kunst vertritt. Immer wieder bricht aber auch hier die Überzeugung durch, daß „ein Künstlerleben kein würdiges Leben" sei. I m Schlußkapitel der ,Betrachtungen' verweist er auf seinen ,Tod i n Venedig', w o r i n er „einen , w ü r d i g gewordenen' Künstler begreifen ließ, daß seinesgleichen notwendig liederlich uind Abenteuerer des Gefühls bleibe". Was diese Zwielichtigkeit hervorruft, ist die Einbeziehung der Ironie i n die Künstlerproblematik. Sie w a r auch damals m i t einem bürgerlichen Kunstverständnis k a u m i n E i n k l a n g zu bringen. I n dem K a p i t e l ,Bürgerlichkeit' ist auch v o n ihr nicht die Rede. Eindeutiger sind Thomas Manns spätere Bekenntnisse zu seiner deutschbürgerlichen Herkunftswelt, i n der i n Lübeck 1926 gehaltenen Festansprache ,Lübeck als geistige Lebensform', i n der ,Deutschen Ansprache' v o n 1930, i n der Goethe-Rede v o n 1932 u n d noch i n der Rede ,Deutschland u n d die Deutschen' v o n 1945. U n d wieder muß man den , D o k t o r Faustus', auch wenn er A b w e h r u n d Anklage ist, hier nennen. Gewiß ist der H e r kunftsort Leverkühns, Kaisersaschern, m i t gefährlichen Zügen u n d M e r k malen bedenklicher A r t ausgestattet, aber doch auch m i t unverhohlener Z u neigung. Dahinter steht deutlich das Lübeck der Familie M a n n , „ w o h i n ich doch schließlich gehöre", w i e es i n der Rede des „Amerikaners" Thomas M a n n v o n 1945 heißt. D i e nicht ohne Sympathie geschriebene Darstellung Lübecks i n diesem Bekenntnistext deckt sich w e i t h i n w ö r t l i c h m i t der Beschreibung der Heimatstadt Leverkühns. D i e ,Deutsche Ansprache', u n d das stimmt m i t den Bekenntnissen der Lübecker Rede v o n 1926 überein, sagt: „ I c h b i n ein K i n d des deutschen Bürgertums, u n d nie habe ich die seelischen Überlieferungen verleugnet, die m i t einer solchen H e r k u n f t gegeben sind; v o n der Sympathie breiter deutscher bürgerlicher Gesittung w a r meine A r b e i t getragen, v o n dem sittlichen Vertrauen jenes Deutschland also, das immer noch für die innere H a l t u n g , das Gesamtbild Deutschlands entscheidend ist." So lautet es 1930, zu einer Zeit des Infragegestelltseins aller Überlieferung u n d Sicherheit. Aus der gleichen Besorgtheit entspringt seine Jubiläumsrede zu Goethes hundertstem Todestag. E r überschreibt sie: ,Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters' u n d erklärt, daß so v o n Goethe zu reden die „nächstliegende u n d natürlichste" Möglichkeit sei, sodaß andere, engere oder höhere Gesichtspunkte außer Acht bleiben könnten. Goethe erscheint i n dieser huldigenden Rede als Vertreter des „ H a l b jahrtausends" v o m fünfzehnten bis zur Wende des neunzehnten Jahrhunderts, der „bürgerlichen Epoche". A m A n f a n g steht die Erinnerung der „ H e r k u n f t " Goethes aus dem Elternhause am Hirschgraben i n Frankfurt, deren patrizische Bürgerlichkeit und würdige Wohlanständigkeit den Redner zu „lächelnder Liebe" stimmt, aus der Empfindung heraus, daß er T e i l hat an der menschlichen u n d natürlichen Substanz des v o n i h m Gefeierten.

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„Das Würdig-Bürgerliche als H e i m a t des Allmenschlichen, Weltgröße als K i n d der Bürgerlichkeit — dies Schicksal v o n H e r k u n f t u n d kühnstem Wachstum ist nirgends zu Haus wie bei uns; u n d alles Deutsche, das aus Bürgerlichkeit ins Geistige wuchs, ist lächelnd zu Hause i m Frankfurter E l ternhaus." Das hier entworfene B i l d ist i m Gegensatz zu den späteren Goethe-Darstellungen, v o r allem zur ,Lotte i n Weimar', i n denen das U n zuverlässige, der ironische Nihilismus, die natur-elbische Dichtergesinnungslosigkeit stärker hervortreten, temperiert, hält sich an die „ m i t t l e r e Stimmlage", eben an jene Züge, die Thomas M a n n aus Sympathie die bürgerlichen nennt. Aber bereits am A n f a n g der Rede w i r d der Gegenpol angedeutet, der den deutlich vernehmbaren K o n t r a p u n k t des Schlusses bildet: der Genius, der das Bürgerliche ins Welthafte u n d i n Weltgröße steigert u n d so überwindet. Goethes Bürgerlichkeit, darin gipfelt Thomas Manns Analyse, ist die V o r aussetzung zur U b e r w i n d u n g des Bürgerlichen ins Überbürgerliche u n d Nachbürgerliche. Sie geschieht i n der Weise, daß die eigentliche M i t t e der Goetheschen Existenz u n d höchste Ausprägung seiner bürgerlichen H a l t u n g , die „Lebensfreundlichkeit", deren G r u n d „Liebe" ist, das Vertrauen zum Dasein, durch die aus seiner Sensibilität u n d zarten Organisation sich herleitende Sympathie m i t dem Tode v o n allem Reaktionären befreit w i r d , sich m i t Verstand u n d Licht verbindet und sich dem „höchst gefährlichen Abenteuer des versuchenden Gedankens" überläßt. D i e „Lebensfreundlichk e i t " ermöglicht die „Berufung zur höchsten Entbürgerlichung", indem sie die Versuchung z u m „Gemütlichen" u n d den gefährlichen „Seelentümern" in die Sorge für das Allgemeine, i n einen „technisch-rationalen Utopismus" zur jetzt gebotenen Verwirklichung des „utilitaristischen Traumes" hinüberleitet. D e r Goethe der ,Wanderjahre' und des zweiten ,Faust' als „nachbürgerlicher" Bürger, i n dessen Zeichen es gelingen könnte, die zur Z e i t dieser Rede, 1932, heraufziehenden Gefahren „lebenswidriger Ideologien" zu bannen. D i e deutsche Grundverfassung des Bürgers bietet die Gewähr, das Größere i m Überbürgerlichen zu erringen. Das, was den Bürger z u m Exempel des Gültigen macht, die Sittlichkeit, Zuverlässigkeit u n d Treue, bleibt auch die Bedingung der welthaften Uber- und Nachbürgerlichkeit. So auch die für Thomas M a n n kennzeichnendste Tugend bürgerlicher Gesittung: das Ethos der Arbeit. E r sah es v o r allem i n Goethe beispielhaft verwirklicht und sah i n der A r b e i t auch die Grundlage des eigenen Schaffens. W i r haben heute genauere Einblicke i n seine auf Genauigkeit, U m sicht, Sicherung der kleinsten Schritte, F a k t i z i t ä t bedachte Arbeitsweise. I n diesem Bereich gewinnt der Begriff „ S o l i d i t ä t " sittlichen Rang. A r b e i t ist für Thomas M a n n moralische H a l t u n g . Das gilt von der engeren W e l t bür-

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gerlicher „Akkuratesse" wie v o n der weltweiten Verpflichtung zum aufbauenden Geist. I n früher Zeit bedeutet i h m das „deutsch-handwerkliche Kunstmeistertum" der Storm, Keller, Meyer, höchste Auszeichnung, u n d noch i n dem problematischen Wagner-Essay v o n 1933 — ,Leiden und Größe Richard Wagners* — rühmt er dessen „Solidität u n d bürgerliche A r beitsakkuratesse". Was zunächst mehr Anerkennung des Arbeitstechnischen, der Feinheit u n d Sorgfalt des Machens ist, w i r d immer mehr z u m Lob der A r b e i t als sittlicher Erscheinung, des i m H u m a n e n begründeten Verantwortetseins alles Tuns; nicht nur des künstlerischen, sondern des menschlichen überhaupt, das sich einem Ganzen, öffentlichen verpflichtet weiß. Kennzeichnend für diese Bewertung der Arbeit ist die Erinnerung einer Szene i m Hause des neunundsiebzigjährigen Goethe, die Thomas M a n n m i t sichtlicher Anteilnahme vorträgt. Während i n den Wohnräumen eine Gesellschaft auf i h n wartet, steht Goethe i n seinem Arbeitszimmer schreibend an seinem P u l t u n d auf die Blätter zeigend sagt er dem jungen Mädchen, das i h n zu der Gesellschaft bitten soll: „ W e n n ich tot bin, macht's keiner. Sagen Sie das der Gesellschaft." D a n n fügt er weniger schroff hinzu: „ E i n Greis, der noch arbeiten w i l l , darf nicht jedem zu Gefallen seinen W i l l e n umstimmen." D a z u paßt der Stammbuchvers Goethes für seinen Enkel, auf den sich i n diesem Gedankenkreis wieder Thomas M a n n beruft, i n dem er, Goethe, v o n den Möglichkeiten spricht, die über tausend M i n u t e n des Tags zu nutzen: Söhnchen, werde dir die Kunde, Was man alles leisten mag. Das w a r die Entgegnung auf den davor stehenden Eintrag einer Sentenz Jean Pauls, daß der Mensch dritthalb M i n u t e n habe, „eine zu lächeln, eine zu seufzen u n d eine halbe zu lieben; denn mitten i n dieser M i n u t e stirbt er." W i e Goethe empfand Thomas M a n n solche Sentimentalität als ärgerlich u n d fahrlässig. I n dieser Hinsicht w a r sein Schriftstellertum so streng u n d geordnet, daß er selbst die Arbeitsweise seiner morbiden Künstlergestalten Aschenbach u n d Leverkühn noch daran teilhaben läßt. Diese als Überbürdete am Rande der Erschöpfung Arbeitenden, die aber „durchzuhalten" vermögen, feiern i m Gelingen eines Werkes „den Sieg ihrer M o r a l i t ä t " . Aber wiederum: die Nennung der N a m e n Aschenbachs u n d Leverkühns zeigt, diese bürgerliche Arbeitsmoral w i r d nur m i t Anstrengung über der anderen, geheimer u n d tiefer geliebten, morbiden, anrüchigen, zweideutigen A r t des Künstlertums festgehalten, das sich dem Rausch u n d der I n t o x i k a t i o n ergibt. W o er i n seiner persönlichen Lebensführung keine Z u geständnisse zu machen bereit war, überantwortete er seine Geschöpfe der Verdammung der Verfluchten, die er an der Künstlergefahr der „heiligen

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K r a n k e n " Wagner, Nietzsche, Dostojewskij teilnehmen ließ, deren Arbeit sow o h l Zucht wie Heimsuchung war. Thomas Manns Weise w a r bei aller Vorliebe für das Ungeordnete die Ordnung. Daher hat er den Fanatismus, den Radikalismus jeder A r t abgelehnt. Sie waren der verstandesmäßigen Einsicht i m Wege. D i e „Parteigängerei" des Jungen Deutschlands, die das Zeitalter Goethes zu erledigen glaubte, w a r i h m fremd wie der Zolaismus des Zivilisationsliteratentums. D e r humanitär-demokratischen, Macht durch Geist erstrebenden, den „ Z e i t geist" befördernden Literatur des Zivilisationsliteraten setzte er die Bestand sichernde Intelligenz der „Unzeitgemäßen" gegenüber. I n dem K a pitel , P o l i t i k ' der Betrachtungen' steht die noch immer gültige Charakteristik der zeitgebundenen Manifeste des Jungen Deutschlands. W i e Freiligrath, der doch selbst der Zeit verhaftet w a r , aber dennoch die Fesselung durch den Zeitgeist abwehrte, wendet er sich gegen die v o n Herwegh geforderte kämpferische Stellung „ a u f den Zinnen der Partei". „ D e n n ein Manifest, wenn es stark ist, vermag allenfalls zu fanatisieren, aber zu befreien vermag einzig das W e r k der K u n s t . " M a n wende nicht ein, das sei eben der „unzeitgemäße" Verfasser der Betrachtungen'. I n Sachen der Kunst hat er nie eine andere Meinung vertreten. Es w a r d a v o n schon die Rede, daß er sich dem „Gesellschaftsroman" i m Sinne der auf Veränderung bedachten Literatur immer versagt hat, auch wenn die westlich-politische Begründung der Betrachtungen' später aufgegeben wurde. I n der ,Deutschen Ansprache' v o n 1930, also nach der W a n d l u n g der politischen Anschauungen, weist er Parteigängerei zurück; er w i l l nur „ a u f jener geistigen Ebene" verstanden werden, „ a u f welcher selbst der Begriff deutscher Bürgerlichkeit angesiedelt ist und die deutsch-bürgerliche Denkungsart wenigstens bis gestern noch natürlich w a r " . Bürgerlich, das heißt hier „Besinnung, die m i r noch immer als etwas Deutscheres erscheint als die schrille Parole". Wichtig ist übrigens noch i n diesem Bekenntnis des sich damals als der Sozialdemokratie nahestehend Fühlenden — das sei am Rande vermerkt — die Ablehnung der Versuche, „das Politische als ein reines Produkt des Wirtschaftlichen hinzustellen". Statt des Fanatismus u n d der zeitgebundenen Parole fordert Thomas M a n n die Erörterung auf geistiger, metaphysischer Ebene — darin ist er wieder den bürgerlich-kulturellen Überlieferungen verbunden u n d dem v o n der „Persönlichkeit" geforderten u n d vertretenen M a ß verpflichtet. Schon daß i n solchen Darlegungen das W o r t „Persönlichkeit" auftaucht, verweist auf Goethes humanitäre Wertwelt. Auch wenn zur Zeit der Betrachtungen' noch die später m i t Recht aufgegebene „Antithese v o n Geist u n d Macht" i m Hintergrunde seiner Unzeitgemäßheit steht, der entscheidende Sinn w a r da11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 16. Bd.

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mais wie später der berechtigte der N o t w e n d i g k e i t „metaphysischer" Erörterung der Probleme des Tages, die nur als Probleme des Menschlichen, der „Persönlichkeit", gefaßt werden können. „ D e r Mensch ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein metaphysisches Wesen, m i t anderen Worten, er ist nicht nur I n d i v i d u u m , sondern auch Persönlichkeit." Fortschritt und Glück vollziehen sich nur i n der metaphysischen Sphäre der Persönlichkeit, nicht i n der sozialen. D a r u m w a r für i h n „Erziehung" mehr als staatsbürgerliche Unterweisung. „Erziehung ist Menschenbildung, u n d nie w i r d der deutsche Geist unter ,dem Menschen' ausschließlich oder nur vorwiegend den sozialen Menschen verstehen." M i t dieser Vorstellung der Persönlichkeit als dem Grunde der geistigen Auseinandersetzungen hängt die andere zusammen, daß die höchste an den Menschen zu richtende Forderung die der Menschwerdung ist. Ausbildung des Individuums zu dem Menschen, als der er v o n Anlage u n d Bestimmung ist, macht dieses zur Persönlichkeit. W i r würden heute, nach Kierkegaard, lieber sagen: zur Person. Aber es ist Goethesdies Erbe, wenn es bei Thomas M a n n Persönlichkeit heißt. D a m i t sind w i r wieder i n der Wertsphäre, die den einen Pol seiner Menschen- u n d Kunstauffassung prägt, die der humanistisch-bürgerlichen der Goethe-Zeit. Es w a r Goethes A u f fassung, daß der Mensch i n dem Maße für das Menschliche etwas bedeute, als er sich zu sich selbst bilde, als er sich vollende nach dem Gesetz, nach dem er, durch außermenschliche K r ä f t e bestimmt, „angetreten" ist. I n den »Betrachtungen' heißt es: „Werde besser d u selbst! u n d alles w i r d besser sein." Das ist Goethe; das ist aber auch Stifter, der i n diesem Punkte, neben anderen, wie er meinte, z u Goethes „Geschlecht" gehört. I m ,Nachsommer' u n d einigen Erzählungen begegnet dieser Gedanke: „ N u r daß er selber etwas werde, ist für jeden ein Glück." Das Selbstwerden aber ist die Voraussetzung für die Möglichkeit, i m Ganzen etwas zu bedeuten u n d zu bewirken: „Das Beste aber, was der Mensch für einen anderen tun kann, ist doch immer das, was er für i h n i s t " ; oder: „ W e n n jeder seiner selbst w i l l e n auf die beste A r t da ist, so ist er es auch für die menschliche Gesellschaft." 2 5 I n einer Unterhaltung über die Meinungen der Saint-Simonisten äußert Goethe (20. X . 1830) zu Eckermann: „ I c h dächte, erwiderte Goethe, jeder müsse bei sich selber anfangen u n d zunächst sein eigenes Glück machen, woraus denn zuletzt das Glück des Ganzen unfehlbar entstehen w i r d . [ . . . ] Ich habe i n meinem Beruf als Schriftsteller nie gefragt: was w i l l die große Masse u n d wie nütze ich dem Ganzen? Sondern ich habe immer nur dahin getrachtet mich selber einsichtiger u n d besser zu machen, den Ge25 Siehe dazu des Näheren mein Buch: Adalbert Stifter. Mensch und Wirklichkeit, Berlin 1950, S. 119 f. und 138.

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h a l t meiner eigenen Persönlichkeit zu steigern." Diese Seite der Menschenauffassung Thomas Manns ist also Erbe der deutschen Bürgerlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts, die zu der anderen, seiner Faszination durch die der K r a n k h e i t benachbarte Genialität der „elementaren" Künstler i n gehobener Spannung steht, einer Polarisation, deren stilistischer Ausdruck die Ironie ist. Persönlichkeit, das ist deutsch-bürgerlich, sittlich, ist Goethe u n d Tolstoi, nicht Schiller, Wagner u n d Dostojewskij; die Forderung des Geistes ist U n abhängigkeit v o n Tendenz u n d Radikalismus des Zivilisationsliteraten, ist bürgerliche Ordnungsgesinnung. Aber die Ambivalenz Thomas Manns bekundet sich darin, daß er das neunzehnte Jahrhundert, dem er seine bürgerliche Geistesverfassung verdankt, i n einem ironischen Austausch auch in Schopenhauer, Wagner u n d Nietzsche u m w i r b t , als den Vertretern des anderen neunzehnten Jahrhunderts, des Jahrhunderts des „Pessimismus", der musikalischen „ N a c h t - u n d Todes Verbundenheit", der „leidenden Seelenlage". Ja, es ist sogar so, daß er i n einer bestürzenden Weise die Persönlichkeit, die bei Goethe Ausdruck des geistigen Selbstbesitzes ist — „ V e r selbstung" gehört i n ihren Umkreis — als auch dem Bereich des N a t u r haften zugehörig ansieht. „ G e w i ß ist, daß w i r m i t diesem W o r t , diesem Phänomen Persönlichkeit* die Sphäre des bloß Geistigen, Vernünftigen, Analysierbaren verlassen u n d eintreten i n die Sphäre des Natürlichen, Elementaren, Dämonischen." 2 6 Thomas Manns Ambivalenz vermag den Bürger u n d den Künstler, den Moralisten und den Artisten nebeneinander bestehen zu lassen. Sein für das „deutsche Bürgertum charakteristisches W e r k " , die ,Buddenbrooks', erklärt er geradezu aus der „ E n t a r t u n g einer solchen alten u n d echten Bürgerlichkeit ins Subjektiv-Künstlerische". Das i n dieser „ E n t w i c k l u n g u n d Modernisierung des Bürgers" verborgene Problem bezeichnet er i n den Betrachtungen* als „ w o h l wiederum recht deutsch", w o m i t er sagen w i l l , daß es i h m dabei nicht u m etwas „Soziologisch-Politisches", sondern u m das „Seelisch-Menschliche" ging. V. Dämon D i e Ambivalenz v o n A r t i s t i k u n d Sittlichkeit w a r Thomas Manns Wesensgesetz, das sich i n seinen Werken seit den ,Buddenbrooks*, dem ,Tonio Kröger*, dem , T o d i n Venedig* bis zur ,Lotte i n Weimar*, den JosephsRomanen, dem , D o k t o r Faustus' u n d dem ,Felix K r u l l ' gestalthaft aus2 ® So in der Phantasie über Goethe, 1948. Zu beachten ist bei diesem Zitat, daß diese Deutung in einer Auslegung Goethescher Vorstellungen geschieht, wobei Goethe seiner, Thomas Manns, eigener Meinung dienstbar gemacht wird.

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prägte. Sie w a r i m Sinne der Goethesdien , U r w o r t e ' sein Dämon, das i h m zur Ausbildung verliehene Wesensgesetz: „ S o mußt du sein, dir kannst d u nicht entfliehen." Diese Ambivalenz w a r sein D ä m o n aber auch i m Sinne des Dämonischen, des Verfallenseins an i h n beherrschende widersprüchliche Mächte. I m , D o k t o r Faustus* bekommt die Ambivalenz einen durch die Zeitnot genaueren, bestimmteren Charakter als eines deutschen Schicksals, aus dem die Zwiespältigkeit seines Künstlertums, aber auch der deutschen Kunst überhaupt, w i e er sie versteht, sich erklärt. D i e Ambivalenz v o n Sittlichkeit u n d Artistik ist sein, Thomas Manns, Augenblick, sein „Selbstwiderspruch" als exemplarische Ausbildung eines aus dem deutschen neunzehnten Jahrhundert erwachsenen deutschen K o n f l i k t s . D i e bündigste u n d erschrekkendste Umschreibung dieses seines Dämons hat er i n den ,Betrachtungen' gegeben: „Dieses Ja-und-doch-Nein ist mein Fall." Schon hier deutet er diese Grundverfassung als m i t dem N a t i o n a l e n zusammenhängend, was dann i n den späteren Werken — v o r allem i m ,Faustus' — u n d den Bekenntnissen zwingender ausgedrückt w i r d . I n den ,Betrachtungen' sagt er v o n diesem „Selbstwiderspruch", daß er nicht i m „logischen", sondern nur „ i m nationalen Gefühl seine Versöhnung" finde. „ E r ist der Selbstwiderspruch dieses Buches [der Betrachtungen'] u n d höchstens i h n darzustellen, nicht i h n zu lösen, maßt er sich an." D i e Lösung ist nie geschehen; er hätte denn seine „Gesetze brechen" müssen, w i e O t t i l i e i n den W a h l v e r w a n d t schaften' Goethes. Diese „ironische Allumfassung", die er Goethe zuschreibt u n d für sich i n Anspruch n i m m t , bestimmte er i n imponierender oder, je nachdem man es nehmen w i l l , ärgerlicher Selbstbezogenheit als deutsches Verhängnis. Das bedeutet, daß das Deutsche für i h n neben der Grundhaltung der bürgerlichen K u l t u r u n d U r b a n i t ä t den Z u g des Dämonischen, Natur-Elbischen, des Elementaren trägt als ein tragisches Erbe, dem die „Lösung" u n d der Ausgleich nicht verliehen ist. Seine Versuchung zur A r t i s t i k , seine Familienähnlichkeit m i t Aschenbach, der v o n den i m Anblick der Schönheit geschriebenen Seiten glaubt, daß sie v o n der Nachwelt bewundert würden, und m i t Leverkühn, den i m schöpferischen Rausch der „ I n t o x i k a t i o n " U n tergehenden, w i r d als eine gefährliche u n d hinreißende Möglichkeit deutschen Wesens gedeutet. Kunst, die als H a n d w e r k Arbeit, Genauigkeit, A k kuratesse ist, weist dennoch hinüber i n die Geheimnisse des experimentum medietatis, die bedenklichen Wonnen des Rausches, der Vergiftung. Kunst ist — u n d Thomas Manns innerste Vorliebe geht t r o t z aller bürgerlichen, sittlichen K o r r e k t h e i t i n dieser Richtung — der deutsche B u n d m i t dem Teufel, der z u m ersten M a l i n den »Betrachtungen' begegnet, u n d der dann

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i n seinem „ Schmerz ensbuch" den eigentlichen K e r n ausmacht. „ D i e religiöse Größe der Verfluchten" w a r das geheim Anziehende; i n ihrem Zeichen vermag er die Verpflichtung zu humaner U r b a n i t ä t zu übersehen, zeitweise zu verdrängen. Immer wieder bricht aber die Gegenbewegung durch, die i h n dann die leidenschaftlich Geliebten abzulehnen, gegen sein Gefühl zu verkleinern drängt, wie eine unbewußte Rache wegen des Überwältigtseins durch sie. So erklären sich seine den Widerspruch herausfordernden E i n schränkungen der Größe Wagners oder Nietzsches. Negative Bewertungen Wagners sind bis zuletzt neben unbedingtester Zustimmung zu finden, u n d die Nietzsche-Rede v o n 1947 ist nicht frei v o n gereizten Verkleinerungen. Aber dennoch, seine Hinneigung z u m Dämonischen als einer deutschen Gemütsverfassung w i r d immer wieder spürbar. D i e Selbstbesinnung v o n 1945, ,Deutschland u n d die Deutschen', spricht i n aller Deutlichkeit davon. Nach der v o n Sympathie u n d leiser A b w e h r getragenen Vergegenwärtigung seiner H e r k u n f t aus der „unweltlichen u n d provinziellen Weltbürgerlichkeit", gemeint ist Lübeck, die i m , D o k t o r Faustus' wiederkehrt, heißt es: „ I c h weiß selbst nicht, w a r u m ich heute u n d hier diese früheren Erinnerungen beschwöre. Ist es, w e i l ich ,Deutschland' zuerst, visuell u n d seelisch, i n Gestalt dieses wunderlich-ehrwürdigen Stadtbildes erlebte u n d w e i l m i r daran liegt, eine geheime Verbindung des deutschen Gemütes m i t dem D ä monischen zu suggerieren, die allerdings eine Sache meiner inneren Erfahrung, aber nicht leicht zu vertreten ist?" Es ist nicht v o n ungefähr, daß i n diesem Zusammenhang Luther u n d Goethes ,Faust' berufen werden: „ W o der Hochmut des Intellektes sich m i t seelischer Altertümlichkeit u n d Gebundenheit gattet, da ist der Teufel. U n d der Teufel, Luthers Teufel, Faustens Teufel, w i l l m i r als eine sehr deutsche Figur erscheinen, das Bündnis m i t ihm, die Teufelsverschreibung [ . . . ] als etwas dem deutschen Wesen eigentümlich Naheliegendes." Diese Sympathie m i t dem Teufel ist bei T h o mas M a n n , das zeigt diese Rede, mehr noch der Faustus-Roman, m i t der Sympathie m i t dem Rausch u n d der K r a n k h e i t verbunden. I n der Rede lautet es geradezu: „ D e r Deutsche ist genial aus Sympathie m i t dem K r a n k haften." Seine Bilder v o n Wagner u n d Nietzsche sind v o n dieser Überzeugung bestimmt. Es w a r seine Überzeugung, daß das deutsche Wesen zum Dämonischen neige, u n d daß es deswegen folgerichtig sei, wenn Deutschland 1945 „buchstäblich" v o m Teufel geholt wurde. Gewiß ist, daß sein Leiden an Deutschland der H a u p t g r u n d dafür ist, daß die Verlautbarungen besonders nach dem Zusammenbruch diese „nicht leicht zu vertretende" — so ist seine eigene Aussage — Einseitigkeit u n d polemische Schärfe annahmen. I n den Betrachtungen' hat Thomas M a n n diese Verbindung des D e u t schen m i t M o r a l , Pessimismus u n d V e r f a l l — m i t dem also, was er später

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Hermann Knisch

gesteigert Verbindung m i t dem „Dämonischen" nennt — vorbereitet. Sie w i r d hier aus seiner Bildungswelt — Schopenhauer, Wagner, Nietzsche — abgeleitet u n d i n reichen Variationen umschrieben: „nordisch, deutsch, bürgerlich, protestantisch, dürerisch-faustisch, tragisch-elbisch, pessimistisch." Er bezeichnete sich selbst bei der Umschreibung dieser seiner Grundstimmung als „Verfallsanalytiker", der sich einem tragischen Nietzsche nahestehend glaubt u n d sich i n äußerstem Gegensatz weiß z u dem „RuchlosigkeitsÄsthetizismus" der „ D i o n y s i e r " — gemeint sind besonders d ' A n n u n z i o u n d H e i n r i c h M a n n — , den Jüngern eines „Renaissance-Nietzsche". Sein N i e t z sche ist derjenige, der i n der ,Geburt der Tragödie* Albrecht Dürers K u p ferstich ,Ritter, T o d u n d Teufel* als Symbol für seinen „Glauben an eine noch bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Altertums" erwählt, für eine H o f f n u n g auf „eine Erneuerung u n d Läuterung des deutschen Geistes"." 27

Zu diesem mit Dürer, Nietzsche, Schopenhauer, Wagner, Pfitzner zusammenhängenden Gedankenkreis vgl. die Betrachtungen an vielen Stellen. Dazu die Briefe an Bertram, S. 46 u. Anm. S. 223 und das Kapitel »Ritter, Tod und Teufel' in Ernst Bertrams Nietzsche, S. 42 - 63, bes. S. 44, 45, 59. Die Stelle in der Geburt der Tragödie' steht in Nr. 21. Im Wesentlichen mit den frühen Äußerungen übereinstimmend Th. M.s Aufsatz über Dürer (1928); in: Forderung des Tages, 1930. — Es ist übrigens nicht unwichtig, daß Dürer auch vom Teufel im ,Doktor Faustus* berufen wird. Zu der schwierigen Frage des Verhältnisses Thomas Manns zu Nietzsche siehe die unter dem Eindruck des Zusammenbruchs geschriebene „Gewissenserforschung" von Alfred von Martin: Thomas Mann und Nietzsche. Zur Problematik des deutschen Menschen. In: Hochland, Jahrgang 46, 1953/54, S. 135 bis 152. Das „deutsche Seelen tum" als Hang zu „stillem Satanismus", Hang zur Versponnenheit, Innerlichkeit, „Unweltlichkeit" (Th. M.); und die Gegenbewegung der Lebensphilosophie, der „Wille zur Macht" werden dort als Ursache unseres Verhängnisses gedeutet. Eine der Hauptzeugen ist für v. M. Nietzsche, mit dessen Geistigkeit er sich in seinen Büchern: Die Religion Jacob Burckhardts, 2. Aufl., München 1947 und Nietzsche u. Burckhardt, 4. Aufl., München 1947 schon früher auseinandergesetzt hatte. Th. M. wird, vor allem auf Grund später Zeugnisse (Deutschland und die Deutschen, 1945; Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, 1947; Doktor Faustus) — eher als Uberwinder Nietzsches gesehen, denn als in seiner Nachfolge stehend. Das gilt indessen nur für die späten Äußerungen; wie ich meine, weniger für den ,Doktor Faustus* als für die fast gereizte und nicht immer gerechte Nietzsche-Rede. Trotz der durch „unsere Erfahrungen" hervorgerufenen Widerrufe bleibt Th. M.s Haltung Nietzsche gegenüber zwiespältig zwischen Sympathie, Bewunderung und kritischer Distanz. A. v. M. betont denn auch am Schluß seiner Besinnung die „Zweideutigkeit" des „Zweiseelenmenschen", der sich zu den „verführerischen Reizen eines so zweideutigen Zaubers" (Wagner) hingezogen fühlt und „eindeutige Antworten" nicht liebt. Th. M.s Verhältnis zu Nietzsche u. Wagner bezeichnet er als „kritische Gebrochenheit". Das bestätigt meine im Folgenden vorgetragene Deutung. Zu Th. M.s Dürerbild und dessen Vermittlung durch Nietzsche s. Walther Rehm, Th. M. und Dürer (1963), jetzt in: Späte Studien, 1964, S. 344 - 358. Wichtig neben aufschlußreichen Einzelheiten ist darin vor allem der Hinweis, daß in Adrian Lever kühn, dem „dämonisch isolierten und verkehrten > Hieronymus im Gehäus