Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 27. Band (1986) [1 ed.] 9783428460762, 9783428060764

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 27. Band (1986) [1 ed.]
 9783428460762, 9783428060764

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT

H E R A U S G E G E B E N V O N PROF. DR. H E R M A N N

KUNISCH,

PROF. D R . T H E O D O R B E R C H E M , PROF. D R . E C K H A R T PROF. DR. F R A N Z L I N K

HEFTRICH

UND

PROF. DR. A L O I S W O L F

NEUE FOLGE / SIEBENUNDZWANZIGSTER

BAND

1986

Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch wird i m Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-

gegeben v o n Prof. Dr. Hermann Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 M ü n c h e n 19, Professor Dr. Theodor Berchem, Institut flir Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 8700 Würzburg, Prof. Dr. Eckhard Heftrich, Germanistisches Institut der U n i versität, Domplatz 2 0 - 2 2 , 4 4 Münster, Prof. Dr. Franz Link, Englisches Seminar der U n i versität, Löwenstraße 16, 7800 Freiburg i. Br., u n d Prof. Dr. Alois Wolf, Deutsches Seminar der Universität, Wertmannsplatz, 78 Freiburg i. Br. Redaktion: Dr. Kurt Müller, Englisches Seminar der Universität, Löwenstraße 16,78 Freiburg i. Br. Das LiteraturwissenschaftlicheJahrbuch

erscheint als Jahresband jeweils i m Umfang v o n etwa

20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig i n Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt flir die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare v o n Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr flir die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingegangener Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH SIEBENUNDZWANZIGSTER BAND

Karte der Insel Utopia. Holzschnitt von Ambrosius Holbein aus der Basler Ausgabe der Utopia von 1518 (vgl. S. 237 ff).

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN HERMANN

VON

KUNISCH

THEODOR BERCHEM, ECKHARD FRANZ LINK UND ALOIS

HEFTRICH WOLF

NEUE FOLGE/SIEBENUNDZWANZIGSTER

BAND

1986

D U N C K E R

& H U M B L O T

/

B E R L I N

Redaktion: Kurt Müller

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Gedruckt 1986 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06076-8

I N H A L T

AUFSÄTZE Walter Pötscher (Graz), Das Selbstverständnis des Dichters in der homerischen Poesie

9

Kathryn Smits (Auckland/Neuseeland), Die >Stimmen< des schweigenden Königs: E i n Erzählmotiv i m Beowulf, i m Nibelungenlied und i m Paryival

23

Georg Steer (Eichstätt), Der Prozeß Meister Eckharts und die Folgen

47

Wolfgang

65

G. Müller (Mainz), Liturgie und Lyrik: John Donnes »The Litanie«

Rolf Lessenich (Bonn), The Concept offelix culpa in the Novéis of Nathaniel Hawthorne

81

Roger Bauer (München), H u g o von Hofmannsthal und die venezianische Komödientradition 105 Meinhard Winkgens (Freiburg i. Br.), Zivilisationskritik und Lebensaffirmation bei D . H . Lawrence: Der paradigmatische Bildungsweg von Ursula Brangwen in The Rainbow 123 Eckhard Heftrich (Münster), Künstlerfreiheit und Gewissensnot: Das Beispiel Thomas Mann 141 Werner Frisen (Köln), »Dieses armselige Wort«: Z u r Erzählkunst von Thomas Manns Felix Krull 157 Christoph Strosetyki (Düsseldorf), »Magischer Realismus« oder Archäologie des Mythos: Z u Asturias' Mythenverständnis in den Leyendas de Guatemala und in theoretischen Schriften 175 Fausto Cercignani (Mailand), Zwischen irdischem Nichts und machtlosem Himmel. K a r l Krolows Gedichte 1948: Enttäuschung und Verwirrung 197 Annemarie Pieper (Basel), Der philosophische Begriff der Utopie und die klassischen Utopien 219 foseph furt

(Freiburg i.Br.), Das Bild der Stadt in den utopischen Entwürfen v o n

Filarete bis L.-S. Mercier

233

Hinrich Hudde (Erlangen), Fernández de Lizardi: Literarische Utopie an der Schwelle der Unabhängigkeit Mexikos (mit Bemerkungen zu modernen lateinamerikanischen Utopien) 253

6

Inhalt

Hein%-Joachim Müllenbrock (Göttingen), Die Entstehung der Antiutopie i m spätviktorianischen England und ihre genetischen Voraussetzungen 269 Hubertus Schulte Herbrüggen (Düsseldorf), Formen und Entwicklungslinien der Utopie bei Aldous Huxley 285

KLEINE BEITRÄGE Erika Timm (Trier), Zwischen Orient und Okzident: Z u r Vorgeschichte von »Beria und Simra« 297 Karl Hein^ Göller (Regensburg), »Child Roland and the K i n g o f Elfland« as the Source for Shakespeare's King Lear, I I I , 4, 186-188 308 Fran% Link (Freiburg i. Br.), Dickens's Moddle and Melville's Bartleby »Prefer not to« 310

BUCHBESPRECHUNGEN Alois M. Haas, Geistliches Mittelalter

(Von Peter Dinzelbacher)

Kurt Ruh, Meister Eckhart: Theologe, Prediger,

313

Mystiker (Von Maria Bindschedler) . . 314

Hermann Wiegand, Hodoeporica: Studien %ur neulateinischen Reisedichtung Kulturraums im 16. Jahrhundert (Von Wilhelm Kühlmann)

des deutschen 316

Ruprecht Wimmer, Jesuitentheater. Didaktik und Fest. Das Exemplum des ägyptischen Joseph auf den deutschen Bühnen der Gesellschaft Jesu (Von Fidel Rädle) 320 Jean-Marie Valentin, Le Théâtre des Jésuites dans les Pays de Langue Allemande : Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés ( 1555-1773) (Von Fidel Rädle) 327 Elida Maria S^arota, Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet: Eine Periochen-Edition (Von Fidel Rädle) 330 Pierre Rowçeaud, L'Utopie Hermaphrodite: (1676) (Von Volker Kapp)

La Terre Australe Connue de Gabriel de Foigny 334

Jean M. Woodsund Maria Fürstenwald, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen des deutschen Barock: Ein Lexikon. — Women of the Ger man-speaking Lands in Learning, Literature and the Arts during the 17th and Early 18th Centuries: A Lexikon (Von Ruprecht Wimmer) 336 Ulrich Schödlbauer, Kunsterfahrung als Weltverstehen: Meisters Lehrjahre« (Von Heinz Gockel) Unser Commercium: Goethes und Schillers Literaturpolitik, Lämmert und Norbert Oellers (Von Michael Neumann)

Die ästhetische Form von »Wilhelm 338 hg. Wilfried

Barner, Eberhard 342

Inhalt Wilhelm Heinrich Wackenroder, Neumann) Stifterbibliothek,

Werke

und Briefe,

hg. Gerda Heinrich (Von Michael 347

Neue Folge, Hg. Eugen Thurner (Von Hermann Kunisch)

355

James Joyce, Ulysses: A Critical and Synoptic Edition, Ed. Hans Walter Gabler, Wolfhard Steppe and Claus Melchior (Von W i l l i Erzgräber) 358 Zack Bowen and James F. Carens, A Companion to Joyce Studies (Von W i l l i Erzgräber) 360 Bertolt Brecht: Aspekte seines Werkes, Spuren seiner Wirkung, Theo Stammen (Von Peter Paul Schwarz)

hg. Helmut Koopmann und 364

Waltraud Ingeborg Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied: Vorüberlegungen einer Darstellung seiner Geschichte (Von Hermann Kunisch) . . . . Bernd Engler, Die amerikanische Ode: Gattungsgeschichtliche Oberholzner)

367

Untersuchungen (Von Werner 370

Das Gespräch, hg. Karlheinz Stierle und Rainer Warning (Von Meinhard Wingkens) . . 373 Augenblick und Zeitpunkt: Studien %ur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, hg. Christian W. Thomsen und Hans Holländer (Von Meinhard Winkgens) 378 Namen- und Werkregister (Von K u r t Müller)

383

NACHWEIS DER ABBILDUNGEN Titelbild: Karte der Insel Utopia. Holzschnitt von Ambrosius Holbein aus der Basler Ausgabe der Utopia von 1518. Nach S. 232: Eine Darstellung Jerusalems i m Mittelalter (Jerusalem-Plan einer Wegekarte des heiligen Landes aus dem 13. Jahrhundert). Nach S. 242: A b b i l d u n g Christianopolis aus dem gleichnamigen Werk v o n 1619. Nach S. 250: Claude-Nicolas Ledoux: Die Idealstadt v o n Chaux aus der Vogelperspektive. Aus Cl.-N. Ledoux, L'Architecture considérée sous le rapport de l'art, des mœurs et de la législation. Paris 1804, Tf. 15.

D A S S E L B S T V E R S T Ä N D N I S DES D I C H T E R S I N D E R H O M E R I S C H E N POESIE* Von Walter Pötscher

Für unsere Frage spielt die Problematik der Entstehung von Ilias und Odyssee, die wir einfach als homerische Epen bezeichnen wollen, obwohl die Odyssee doch von einem anderen Dichter stammen wird 1 , keine große Rolle, da die Dichter gerade i m grundsätzlichen Selbstverständnis ihrer Tätigkeit i m Rahmen ihrer eigenen Zunft fest verwurzelt waren. Bei aller Neuerungs m ö g l i c h k e i t sollte das konservative Element in der alten Epik nicht zu gering angesetzt werden. Daß man davon erzählte, Homer sei blind gewesen, u n d daß Demodokos als blinder Sänger dargestellt wird, mag vielleicht Zufall sein, aber für das Festhalten an der Tradition darf doch wohl die Tatsache sprechen, daß die homerische Dichtung, welche vermutlich auf ältere Kleinepen und letztlich auf mündliche Stegreifdichtung, ohne daß man sie mit dieser oder jenen gleichsetzen könnte, zurückweist, so viel Formelhaftes (in Inhalt und Form) übernommen, wenn auch immer wieder z. T. weiterentwickelt hat. Die Gestalten des Demodokos und des Phemios geben uns Hinweise auf den Sänger und auf seine angesehene soziale Stellung. Aber auch die Musenanrufungen gewähren einen Einblick i n das Selbst Verständnis des epischen Dichters. Eine Reihe von Arbeiten in den letzten Dezennien beschäftigen sich in Auseinandersetzung mit früheren Ansichten mit dieser Frage.

* Vortrag, gehalten vor der Österr. Humanistischen Gesellschaft d. Steiermark in Graz (im Sinne einer Antrittsvorlesung) am 13. Dez. 1982, und nach Auseinandersetzung mit dem 1983 erschienenen Beitrag v o n W. J. Verdenius gehalten bei der Jahrestagung der Görres-Gesellschaft in Regensburg am 8. Oktober 1984. 1 I n dieser Frage gehe ich mit Felix Jacoby, »Die geistige Physiognomie der Odyssee«, Die Antike 9, 1933, 159-194, Alfred Heubeck, Der Odyssee-Dichter und die Ilias, Erlangen 1954, bes. 100, Luigia A . Stella, »II poema d'Ulisse« Bibl. di cultura, 47, Firenze 1955 u.a. konform. Allerdings nehme ich an, daß die alte Form der Odyssee, wie sie unser OdysseeDichter verfaßte, mit 23,246 (mit der Wundernacht) endigte. Vor allem die 2. Nekyia würde den Aufbau der Odyssee stören; Odysseus war verschieden weit von seiner Heimat entfernt, am weitesten aber etwa in der Mitte des Epos (X), w o er i m Hades weilt. Sollte er i m 24. Gesang nochmals an den entferntesten Punkt gelangen? Freilich gibt es auch Brücken zum 24. Gesang, die man in Rechnung stellen muß; aber dies sollte hier nur ganz flüchtig angedeutet werden. Meine Schülerin Renate Oswald ist daran, sich um eine Beweisführung zu mühen.

Walter Pötscher

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Walther Kranz hatte die Anrufung am Beginn der Ilias (nfjviv asiÖe, 9ea 1,1) dahin gedeutet, daß die G ö t t i n singt. Er sagt: »Die Göttin, niemand anders, besingt den Groll des Peleussohnes Achilleus.« 2 Ganz ähnlich äußert sich O l o f Gigon: »Die Muse redet und nicht der Dichter.« 3 Auch Herwig Maehler sieht als die ursprüngliche Anschauung, die auch hinter den Eingangsversen der Ilias stehe, jene vom Dichter als »Mund der Gottheit« 4 an, ganz i m Sinne von Otto Falters Deutung, daß sich der Dichter als »ein Werkzeug seines Gottes, der durch ihn wirkt und sich seiner gleichsam als eines Instrumentes bedient« 5 , verstand. Freilich betont Herwig Maehler, daß diese Anschauung für die homerischen Epen nicht »absolut genommen werden« darf; denn der Vergleich mit dem Prooimion der Odyssee lehre, »daß wir es hier mit einem konventionellen Eingangsschema zu tun haben.«6 Ähnlich ist der Standpunkt von Athanasios Kambylis 7 , der davon spricht, daß der Dichter oder der Vortragende gleichsam Instrument in den Händen der Götter bzw. der Muse sei: »So scheint sie allein an der Entstehung des Werkes teilzuhaben und zugleich den Dichter als Mittel für ihre Aussage zu verwenden. Indessen ein aufmerksamer Blick in dieses M o t i v des Musenanrufes zeigt, daß der Anrufende sich dabei nicht völlig passiv verhält, sondern vielmehr nur sein individuelles Ich hinter der angerufenen Gottheit zurücktreten lassen will.« — Bei dieser Formulierung haben wir noch weniger in Händen. Was soll es heißen, daß die Götter den Dichter gleichsam als Instrument in ihren Händen gebrauchen, und andererseits, daß dieser nur sein individuelles Ich zurücktreten lassen will? Und was heißt es, daß er sich nicht völlig passiv verhält? Oder die Bemerkung von Walter F. Otto 8 : »Wo gesungen und gesagt wird, ist in Wahrheit die Muse selbst die Sprechende.« Ein wenig später meint er: »Der Dichter ist also der Hörende, und auf Grund davon erst der Redende.« W i r fragen also, was heißt hier »hören«? Ähnlich unscharf ist auch die D i k t i o n von 2 W. Kranz, »Das Verhältnis des Schöpfers zu seinem Werk in der althellenischen Literatur«, Neue Jahrbücher f. Paed. 53, 1924, 69 f. 3 O. Gigon, Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides, Stuttgart 1968, 15. 4

H. Maehler, Die Auffassung des Dichterberufs Hypomnemata 3, Göttingen 1963, 17. 5

im frühen Griechenland bis %ur Zeit Pindars,

O. Falter, Der Dichter und sein Gott bei den Griechen und Römern, Würzburg 1934, 5.

6

H. Maehler, Die Auffassung des Dichterberufs, 17.

7

A. Kambylis, Die Dichterweihe

8

Basel-

und ihre Symbolik, Heidelberg 1965, 13 f.

W. F. Otto, Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens, Düsseldorf-Köln 1955, 34. — Ähnlich Eike Barmeyer, Die Musen, München 1968, 100: »Solange die Inspiration w i r k t , ist der Dichter nur Empfangender und Erleidender, hilflos auch jetzt — denn er ist der Inspiration ausgeliefert — aber diese Hilflosigkeit eröffnet ihm gleichzeitig die einzige Hilfe, mit der er seine menschliche Befangenheit überwinden kann.« Solche weitreichende Behauptungen würden einer entsprechenden Beweisführung aus dem vorliegenden Material bedürfen. Zudem ist schwer einzusehen, warum der Dichter einem Objekt gegenüber befangen sein soll, das auch in epischer Sicht weit zurückliegt.

Das Selbstverständnis des Dichters in der homerischen Poesie

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Francesco Bertolini 9 , wenn er auf Seite 131 sagt: ». . . aedo omerico che si rivolge alia Musa perché lo assista, perché lo ispiri, perché parli per bocca sua. . .« Besehen wir die Stellen selbst! Wenn es in Horn., IL 1,1 heißt Mfjviv aei8e,3eá, so wird der Muse die Tätigkeit des Aoiden, in dessen Tradition dann der Rhapsode und der Dichter überhaupt steht, zugeschrieben; dies ist um so leichter möglich, als die Musen unter den Göttern die Stelle einnehmen, die unter den Menschen die áoiSoí innehaben. Die Aufforderung aeiSs kann nicht meinen, daß nun die Muse singen soll und der Dichter dabei ihr Instrument ist, da er bereits in Vers 8 eine Frage (xíejitStimmern scheint auf einer alten erzählerischen Tradition zu beruhen. N u r so läßt sich erklären, daß wir dieses Modell in zwei zeitlich und räumlich weit auseinanderliegenden germanischen Dichtungen vorfinden: i m altenglischen Beowulf und im Nibelungenlied. Auch Wolfram verwendet das Motiv. Anscheinend haben die Hörer sowohl des Beowulf als auch des Nibelungenliedes den Trick des jeweiligen Erzählers durchschaut, und er konnte von vornherein mit dem Verständnis des Publikums rechnen. Wenn das aber so ist und wenn Wolfram es sich sogar leisten konnte, das M o t i v kunstvoll zu variieren, so darf man vermuten, daß es in einer uns nicht mehr zugänglichen mündlichen Erzähltradition weit verbreitet war und daß es zum Grundstock des Motivbereichs Empfangsszenen gehört haben mag. 4 I m Beowulf sind es K ö n i g

4 Siehe Edward R. Haymes, »The Oral Theme of Arrival in the Nibelungenlied«, in: Coll Germ. 1975, S. 159-166; W. T. H . Jackson, »The Structural Use of the ArrivalChallenge M o t i f in the Nibelungenlied«, in: Germanic Studies in Honor of Otto Springer, ed. by Stephen J. Kaplowitt, Pittsburgh 1978, S. 159-176; W. T. H . Jackson, The Hero and the King. An Epic Theme, New York 1982; Carol J. Clover, »The Germanic Context o f the Unferf) Episode«, in: Speculum 55 (1980) S. 444-468. Clovers Aufsatz enthält viele Beispiele und Literaturangaben zur mündlichen Erzähltradition unter besonderer Berücksichtigung

Die >Stimmen des schweigenden Königs

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Hrothgar, Unferth und die K ö n i g i n Wealhtheow, welche diese Rollen übernehmen. I m Nibelungenlied fungiert beim Siegfried-Empfang O r t w i n als die männliche Stimme< des Königs Gunther, während der Dichter für die >weibliche Stimme< überraschenderweise die Gestalt der Kriemhilt verwendet. Für die Hypothese, daß O r t w i n ein »unbedachter Heißsporn« sei, gibt es i m Text nur zwei scheinbare Anhaltspunkte. Der erste wäre eben seine zornige Reaktion in den Strophen 116-119. Der zweite dürfte die Tatsache sein, daß O r t w i n der Schwestersohn der Brüder Hagen und Dancwart ist (119). Der Erzähler vermittelt durchaus den Eindruck, daß der weitgereiste und erfahrene Hagen (vgl. 81,1-82,2) älter ist als Ortwin. Das w i l l aber nicht heißen, daß O r t w i n ein sehr junger Mann ist. Entscheidend ist hier die Aussage über die Enge des Verwandtschaftsgrades und somit über Bindungen und Loyalität. O r t w i n wird auch von Gunther als lieben neven min bezeichnet (539,1), was natürlich nicht »Neffe« heißt, sondern »Blutsverwandter«. 5 Ansonsten zeigt uns der Text, daß O r t w i n ein reifer Mann ist. Er bekleidet das wichtige Hofamt des Truchseß (Strophen 9 und 11). V o m Erzähler wird er als rieh unde küene bezeichnet (81,2); er gehört von Beginn an dem engsten Kreis der Vertrauten und Berater um den K ö n i g an und ist demnach auch beteiligt, als die beide rieten den Sifrides tot (865 869). I n Aventiure 4 (Wie er mit den Sahsen streit) wird O r t w i n immer in einem Atem mit den erfahrensten und unerschrockensten Kriegern genannt (162 Hagen, Ortwin, Dancwart, Sindolt, Volker; 173 Sindolt, Hunolt, Dancwart, Hagen, Ortwin; 178 Dancwart, Ortwin; 201 Volker, Hagen, Ortwin, Dancwart; 211 Hagen, Gernot, Dancwart, Volker, Sindolt, Hunolt, Ortwin). I n dem Bericht, den der Bote nach Beendigung des Sachsenkrieges Kriemhilt erstattet (225-240), zielt natürlich alles darauf hin, Siegfried als den eigentlichen, überragenden Helden herauszustreichen. Auch K ö n i g Gernot wird deshalb ein der altnordischen flyting, »an exchange o f verbal provocations between hostile speakers in a predictable setting. The boasts and insults are traditional, and their arrangement and rhetorical form is highly stylized.« (S. 445 f.). »The contenders may or may not know each other. The latter case typically involves a travelling hero entering unfamiliar territory and hence subject to hostile interrogation. Emphasis is on a margin or threshold: a new shore, or a gate or door of the hall.« (S. 450). »To an audience familiar w i t h the literary conventions of the flyting, the Beowulf poet's intention is abundantly clear well before UnferjD opens his mouth.« (460). Uns geht es hier nicht um die flyting an und für sich (eine rhetorische Auseinandersetzung zwischen Männern), sondern um das, was eine Variante bzw. eine Erweiterung dieses Motivs gewesen sein mag: das Lautwerden der widersprüchlichen Emotionen eines Gastgebers mittels eines männlichen u n d eines weiblichen Sprechers. Daß Unferth als >männliche Stimme< des Königs fungiert, stellt auch Clover fest: »UnferJ) is stationed at Hro^gar's feet; however ambiguous that may be w i t h regard to his court status, it does presume a special association w i t h the king, and from this we can deduce the familiar delegate function.« (S. 460). 5 Bartsch / De Boor, vgl. Anm. 2, Anmerkungen zu Strophen 11,1 und 2300,4. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm G r i m m , Nachdruck München 1984, Bd. 13, Sp. 519 f.

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Kathryn Smits

wenig zurückgestellt, und die übrigen Burgunder stehen in dieser hierarchisch angelegten Schilderung wieder eine Stufe tiefer. Unter denen aber, die gleich nach Gernot genannt werden, ist auch diesmal wieder O r t w i n (231). Nirgends in diesen Kriegsszenen gibt es einen textlichen Anhaltspunkt für die Annahme, daß dieser O r t w i n etwas anderes sein sollte als einer der erfahrensten Recken an Gunthers Hof. Auch in Friedenszeiten ist das Bild, das der Erzähler von O r t w i n entwirft, das eines reifen Mannes. Bei Hofe trägt er eine große Verantwortung und wird in diesem Bereich mit Sindolt dem Schenken, mit Rumolt dem Küchenmeister und auch wiederholt mit Gere genannt. Solche Szenen, die wohl vor allem den Zweck haben, das beispielhafte Funktionieren des großen, prunkvollen Wormser Hofes zu veranschaulichen, enthalten fast beiläufig auch kleine Porträts jener Herren, die für das alles die Verantwortung tragen. Z u ihnen gehört O r t w i n (vgl. 306-307). Er ist, zusammen mit Gere, für die Benachrichtigung aller derer zuständig, die zu Gunthers Hochzeit geladen werden (564). Als man Gunther und Brunhilt feierlich entgegenreitet, sehen wir O r t w i n an der Seite der Königinmutter Uote (583). A n den praktischen Vorbereitungen zum großen Fest am Wormser H o f ist O r t w i n rege beteiligt (776); beim Empfang Siegfrieds und Kriemhilts sind er und Hagen für die Gesamtorganisation maßgebend verantwortlich (796). Als Rüediger im Auftrag Etzels nach Worms kommt, ist es Ortwin, der ihn liebenswürdig und ehrenvoll i m Namen des Königs begrüßt (1184). Für die scheidende Kriemhilt, die mit ihrem Gefolge zu Etzel reitet, schafft Ortwin, zusammen mit Gere und Rumolt, an der Donau das erste Nachtquartier (1288). Ein letztesmal sehen wir O r t w i n dann, wie er den Boten Swemmelin und Werbelin mit kostbaren Geschenken seine milte erweisen möchte (1488). Ob in Kriegs- oder Friedenszeiten, es findet sich in der Charakterisierung Ortwins keine Spur von jugendlichem Draufgängertum oder eines raschen, unbesonnenen Verhaltens. Das Ortwin-Bild der Strophen 116-120 ist demnach untypisch. I n einer Hinsicht allerdings ist dieser Ausbruch durchaus konsequent. Es ist, wie alles, was O r t w i n tut, ein A k t i m Dienste seines Königs. Hier liegt wohl der Schlüssel zu Ortwins Verhalten. Er spricht aus, was Gunther zwar äußern möchte, aber nicht äußern darf: den elementaren Wunsch nämlich, diesen furchtbaren, anmaßenden Siegfried an Ort und Stelle und ohne weiteres Palaver zu töten. Was der M e n s c h Gunther in dieser Krise empfindet und herausschreien möchte, darf der L a n d e s h e r r Gunther unter keinen Umständen über die Lippen lassen. Statt seiner spricht es ein anderer aus. O r t w i n fungiert in dieser Szene als >Stimme< des Königs, als einer, der die private Aggression des Königs frei aussprechen darf. Durch O r t w i n erfährt das Publikum des Nibelungendichters, wie Gunther in dieser Krisensituation als Mensch reagiert. M i t welcher allgemein menschlichen Situation haben wir es in dieser Szene zu tun? Ein wehrhafter Mann trifft, in der Fremde, in dem Haus eines Seßhaften ein.

Die > Stimmern des schweigenden Königs

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Dieser letztere mag vornehmer und einflußreicher sein als der Gast (dieser wird grundsätzlich immer zum rangältesten Manne jenes Kreises geführt, in den er eingetreten ist), die beiden aber begegnen sich als freie Männer auf der gleichen sozialen Ebene. Der Fremde ist aus freien Stücken hergekommen. Seine Absichten sind, trotz allem, was er darüber sagen mag, nicht ohne weiteres durchschaubar. Das wenige, was man von ihm zu wissen meint, ist eher alarmierend als beruhigend. Der Gastgeber hat nun die Aufgabe, diesen Unbekannten zu empfangen, dessen Person und Absichten besser kennenzulernen und seine Anwesenheit für die eigene Gemeinschaft möglichst positiv zu verwerten. 6 Diese Grundsituation finden w i r sowohl im Beowulf als auch i m Nibelungenlied, was an und für sich nicht weiter bemerkenswert ist. Was auffällt, ist die Verwendung derselben dichterischen Mittel. Der junge, energische Fremde tritt einem Hausherrn gegenüber, der sich aus irgendeinem Grunde (Alter, Schwäche, bei Wolfram ist es dann Krankheit) unterlegen fühlen muß. Außerdem verbietet ihm die Höflichkeit, aggressiv zu reagieren. I n seiner unmittelbaren Nähe befinden sich zwei Gestalten, eine männliche und eine weibliche. Die Frau ist die Gattin des Herrn oder auch seine Schwester, der Mann ist ein Gefolgsmann, dessen Stellung nicht immer durchsichtig ist. Diese beiden sprechen und handeln nun i m Namen ihres Herrn. Der Mann gebärdet sich aggressiv und herausfordernd, wodurch eine gespannte, ja gefährliche Situation entstehen mag. Danach aber stiftet die Frau Frieden und veranlaßt, daß der Fremde symbolisch in die Haus- und Sippengemeinschaft aufgenommen und somit von allen Anwesenden akzeptiert wird. Diese beiden Figuren, Mann und Frau, agieren hier also nicht als frei handelnde Personen (obwohl sie sonstwo i m Gedicht eine gelegentlich sehr wichtige, eigenständige Rolle spielen können), sondern sie sind sekundäre Gestalten, die symbolisch zwei sehr verschiedene Gefühlsbereiche des Gastgebers, zwei Aspekte seiner Reaktion auf den Gast vertreten. Überlegt man, welche ambivalenten Reaktionen das Eintreffen eines Fremden in einer geschlossenen, i m anthropologischen Sinne primitiven Gemeinschaft auszulösen pflegt, so drängt sich der Gedanke auf, daß in diesem literarischen Erzähltypus mittels der oben geschilderten Rollenverteilung ein elementar menschliches Verhaltensmuster symbolisiert und dramatisiert wurde. Z u m Eintreffen eines Fremden in einer geschlossenen Gemeinschaft schreibt O. Hiltbrunner: 7 6 W. T. H. Jackson, Hero and King, vgl. Anm. 4, befaßt sich unter anderen Voraussetzungen mit verwandten Erzählstrukturen. Der K o n f l i k t zwischen »weak king« und »herointruder« (S. 26) steht dabei i m Mittelpunkt und w i r d an antiken und mittelalterlichen Stoffen, darunter Beowulf und Nibelungenlied, vorgeführt. M i t Jacksons Versuch, das Geschehen des Nibelungenliedes fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt dieses Gegensatzes zu interpretieren, kann ich mich nicht anfreunden. 7 O. Hiltbrunner, »Gastfreundschaft«, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1972, Bd. V I I I , Sp. 1061-1123; Annie Dorsingfang-Smets, »Les étrangers dans la société primitive«, in: Ree. Soc. fean Bodin 9 (1958) S. 59-73.

Kathryn Smits

28

Rechtsnormen und sittliche Verhaltensregeln gelten grundsätzlich nur innerhalb der eigenen sozialen Gruppe. E i n Fremder ist rechtlos [ . . . ] . Zugleich aber gilt er gerade in primitiven Kulturen als potentieller Träger unbekannter und unheimlicher Kräfte. Seine Ankunft kann Befleckung, Tod oder Verseuchung, Unheil aller A r t bedeuten. Die erste in magisch-religiösem Denken sich ergebende Reaktion aus dieser Angst ist Abwehr und Feindseligkeit. — Ist man seiner eigenen Überlegenheit sicher [. . . ] , dann w i r d der Fremde getötet oder auf andere Weise eliminiert [ . . . ] . Meistens aber ist diese Sicherheit nicht gegeben: man kennt die Macht nicht genau, die der Fremde mitbringt. Sind seine Geister mächtiger, dann würde die T ö t u n g oder auch bloß unfreundliche Behandlung des Fremden die Rache und das Unheil erst recht auf die eigene Gemeinschaft herabziehen. Es ist deshalb besser, ihn günstig zu stimmen und auf solche Weise unschädlich zu machen. [ . . . ] Die Stellung des ankommenden Fremden

bleibt

ambivalent: er ist einerseits unheimlicher Feind, andererseits respektvoll zu behandelnder Gast. [. . . ] Vor der W i r k u n g eventuell vorhandener magischer Kräfte des Fremden schützt man sich am besten, indem man ihn zeitweilig in den eigenen sakralen Verband integriert [ . . . ] . Indem der Fremde die Gastfreundschaft

annimmt, verzichtet er

seinerseits darauf, seine Kräfte gegen das Wohl der ihn Aufnehmenden wirksam werden zu lassen; er ordnet sich dem Oberhaupt der Gruppe freiwillig unter. 8 E n t s c h e i d e n d ist d e m n a c h die A m b i v a l e n z , m i t

der m a n d e m

Fremden

begegnet. S o w o h l A b w e h r als auch F r e u n d l i c h k e i t e n t s p r i n g e n aus der A n g s t v o r d e n u n b e k a n n t e n K r ä f t e n , die er besitzt o d e r besitzen m a g . G e m i l d e r t w e r d e n solche R e a k t i o n e n d u r c h e i n w e n n auch n o c h so vages u n d i n d i r e k t e s W i s s e n u m seine H e r k u n f t u n d auch d u r c h die E i n s i c h t , daß dieser F r e m d e e i n e m n ü t z l i c h sein k ö n n t e . 9 I n unserem ältesten Beispiel, d e m Beowulf, ist z w a r der Gast selbst e i n U n b e k a n n t e r , d e m m a n n i c h t o h n e F u r c h t e n t g e g e n t r i t t , v o n seiner Sippe w e i ß aber der K ö n i g einiges, was f ü r i h n s p r i c h t . A u c h ü b e r Siegfried wissen die B u r g u n d e r z i e m l i c h v i e l , a l l e r d i n g s n i c h t s , was ihre F u r c h t v o r i h m v e r r i n g e r n k ö n n t e . P r i m i t i v s i n d diese b e i d e n Gesellschaften durchaus n i c h t m e h r : M a n ist i n f o r m i e r t u n d w e i ß , was d r a u ß e n i n der W e l t v o r sich geht. Andererseits ist gerade auch das e i n G r u n d , d e m F r e m d e n n i c h t o h n e weiteres z u trauen, d e n n einer, v o n d e m b e k a n n t ist, daß er die K r a f t v o n d r e i ß i g M ä n n e r n besitzt (.Beowulf 3 7 8 - 3 8 1 ) o d e r daß er solche Taten v o l l b r a c h t hat, w i e sie H a g e n v o n Siegfried b e r i c h t e t , ist beileibe n i c h t u n g e f ä h r l i c h . E n t s c h e i d e n d ist, daß e i n F r e m d e r , der a u f diese Weise i n einer G e m e i n s c h a f t erscheint, d e n status quo b e d r o h t : d e n H a u s f r i e d e n u n d n i c h t z u l e t z t die A u t o r i t ä t des H a u s h e r r n b z w . des K ö n i g s .

8 Die Ambivalenz liegt in der Bedeutung des Wortes >Gast< beschlossen. Dt. Wörterbuch, vgl. Anm. 5, Bd. 4, Sp. 1454: »gast, fremder, die grundbedeutung in der alle anderen als in ihrem ausgangspunkte sich einigen [. . .]«; Siehe auch Hiltbrunner, Sp. 1062. 9

Hiltbrunner, Sp. 1063.

Die >Stimmen des schweigenden Königs

29

1. Beowulfs Ankunft bei den Dänen K ö n i g Hrothgar von Dänemark hat eine schöne Festhalle bauen lassen, die das Symbol seiner Macht und der Harmonie seines Hofes sein sollte. Diese Halle jedoch wird von dem Ungeheuer Grendel unsicher gemacht. Grendel hat schon viele Gefolgsleute Hrothgars verschleppt und getötet, als unerwartet der Gaute Beowulf mit vierzehn Begleitern in Dänemark landet, um dem K ö n i g Hilfe zu leisten. Die Fremden werden v o m Strand wart befragt, und Beowulf wird nach allen Regeln des Protokolls und mit gebührender Vorsicht bei Hofe gemeldet und vorgelassen. K ö n i g Hrothgar hat Beowulf zwar als K i n d gesehen, kennt den Erwachsenen aber nur vom Hörensagen. Beowulf berichtet ihm von seinen Taten: Er habe fünf Riesen besiegt und eine Anzahl von Meeresungeheuern getötet. Den K a m p f gegen den Unhold Grendel, der mit dem Schwert nicht besiegbar ist, wolle er allein und ohne Waffen austragen. Hrothgar reagiert, indem er von Beowulfs Vater spricht und die Demütigungen schildert, die Grendel ihm selbst, dem K ö n i g der Dänen, und seinen Mannen zugefügt hat. Er lädt den Gast ein, mit den anderen an der Biertafel Platz zu nehmen. A u f Beowulfs Angebot, Grendel zu bekämpfen, geht er zunächst nicht ein. Die Männer sitzen nun an den Tischen, trinken und sind fröhlich. Dann heißt es unvermittelt: 1 0 Unferö majjelode, Ec3läfes bearn, E>e aet fötum säet frean Scyldin3a, onband beadurüne (499-501) (Unferth, der Sohn Ecglafs, der dem Herrn der Dänen zu Füßen saß, begann Streit).

Es folgt jetzt eine Szene, i n dem dieser Unferth dem Gast eine Reihe von beleidigenden Vorwürfen macht. Beowulf, meint Unferth, habe sich früher einmal leichtsinnig auf ein gefährliches Abenteuer eingelassen; er sei weit weniger besonnen und tapfer, als er angebe, und durchaus nicht der Mann, Grendel zu besiegen (506-528). Beowulf reagiert ebenfalls verbal, und zwar mit einer Rechtfertigung und einem Gegenangriff. Er beschuldigt nun seinerseits Unferth der Feigheit und sogar des Brudermordes (529-606). Aus diesem Wortkampf geht eindeutig Beowulf als der Sieger hervor. Seine Replik ist ein rhetorisches Glanzstück. 11 Die Gestalt des Unferth und seine Motivierung sind Gegenstand einer beträchtlichen Anzahl von Untersuchungen, in denen viele mögliche

10

Text und Übersetzung werden zitiert nach: Beowulf und die kleineren Denkmäler der altenglischen Heldensage Waldere und Finnsburg. M i t Text und Übersetzung [ . . . ] hg. von Gerhard Nickel, Heidelberg 1976. 1. Teil. 11 Dazu: Patricia Silber, »Rhetoric as Prowess in the Unferö Episode«, in: Texas Studies in Lit. and Lang. 23 (1981) S. 471-483; Clover, vgl. A n m . 4, S. 464.

30

Kathryn Smits

I n t e r p r e t a t i o n e n e r w o g e n w e r d e n . 1 2 D i e S c h w i e r i g k e i t ist, daß dieser A n g r i f f i r g e n d w i e n i c h t m i t der Gestalt des U n f e r t h , w i e sie sonst i m G e d i c h t geschildert w i r d , i m E i n k l a n g steht. D e r v o m E r z ä h l e r genannte B e w e g g r u n d w o l l e n i c h t z u g e b e n , daß i r g e n d e i n anderer m e h r R u h m e s t a t e n

(Unferth

vollbringen

k ö n n e als er selbst, 503 - 505), ü b e r z e u g t n i c h t so recht, d e n n als K r i e g e r ist dieser U n f e r t h gar n i c h t so p r o m i n e n t . E i n e L ö s u n g des Rätsels bietet sich an, w e n n w i r diese M o t i v i e r u n g a u f d e n K ö n i g H r o t h g a r ü b e r t r a g e n u n d d e n A g g r e s s o r l e d i g l i c h als dessen >Stimme< betrachten. D a s w e i b l i c h e G e g e n s t ü c k z u U n f e r t h ist K ö n i g i n W e a l h t h e o w , die F r i e d e n s s t i f t e r i n , die g l e i c h n a c h d e m Streitgespräch einen g r o ß e n A u f t r i t t

hat. Rosiers

schöne A n a l y s e dieser

Episode

v e r d e u t l i c h t , w i e sehr U n f e r t h u n d W e a l h t h e o w h i e r Gegenspieler i n e i n e m d r a m a t i s c h e n Geschehen sind, dessen M i t t e l p u n k t

der schweigende

König

b i l d e t . 1 3 A u c h C l o v e r m a c h t a u f die R o l l e der K ö n i g i n W e a l h t h e o w a u f m e r k s a m u n d v e r m u t e t einen Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n i h r u n d U n f e r t h . 1 4 R o s i e r u n d C l o v e r gehen aber m . E . gerade n o c h n i c h t w e i t g e n u g . D e r K ö n i g ist n i c h t n u r der passive M i t t e l p u n k t , u m d e n sich h i e r alles b e w e g t ; er ist der e i g e n t l i c h

12 James L. Rosier, »Design for Treachery: The Unferth Intrigue«, in: PMLA 77 (1962) S. 1 - 7 ; Norman E. Eliason, »The E>yle and Scop in Beowulf Stimmen des schweigenden Königs

Handelnde, die Hauptperson, für den sich die anderen stellvertretend auf dieser Bühne bewegen. Wie ist K ö n i g Hrothgar zumute? Er ist alt und nicht mehr kampffähig. Beowulfs Eintreffen an seinem H o f bringt ihm zwar die Hoffnung auf Rettung, aber ebensogut die endgültige Erkenntnis des eigenen Versagens vor Grendel und die Aussicht auf Ablösung durch diesen jungen Rivalen. Daß Beowulf dann n i c h t nach der Macht greift, steht auf einem anderen Blatt: Diese Entwicklung des Geschehens kann Hrothgar nicht voraussehen. 15 Bei der Ankunft Beowulfs hat Hrothgar Angst. Die Königswürde verbietet ihm, sie zu zeigen, er hat aber jeden Grund, auf Beowulf a u c h negativ zu reagieren. Wer würde in einer solchen Lage nicht nach einer Möglichkeit suchen, diesen Anderen doch noch klein zu kriegen, und sei es bloß mit Worten? Hrothgar, der K ö n i g der Dänen, darf diese Gedanken nicht äußern. Der Dichter aber schafft ihm trotzdem die Möglichkeit dazu. Er läßt diese aggressiven Gedanken von einer männlichen >Stimme< formulieren, und wir müssen annehmen, daß das Publikum des Beowulf — wie auch später das des Nibelungenliedes und des Par^ival — die dichterische Absicht verstanden hat. Interessanterweise ist Unferth, als er seine Rede hält, nicht ganz zurechnungsfähig. Er ist betrunken und wird dann später, als Beowulf seinen Heldenmut mit Taten unter Beweis gestellt hat, den Vorfall völlig vergessen haben (1465-1468). Unferth trägt demnach keine Verantwortung für das Gesagte, und es wird aus seinem Gedächtnis ausgelöscht. Schon auf Beowulfs Gegenangriff antwortet er nicht mehr. Wer auf diese Replik reagiert, ist bezeichnenderweise der K ö n i g selbst: f>ä waes on sälum

sinces brytta,

3amolfeax ond züöröf, brezo beorth Dena, folces hyrde

3eoce zelyfde zehyrde on Beowulfe

faestrjedne ze^oht. (607-610)

(Der grauhaarige und tapfere K ö n i g war guter Dinge, der mächtige Herr der Dänen durfte auf Hilfe hoffen; der Beschützer des Volkes hatte Beowulfs festentschlossene Absicht vernommen.)

Es ist also der K ö n i g selbst gewesen, welcher Beowulf — durch das Medium Unferth — mit aggressiven Worten geprüft hat. Da aber die Gefühle des Königs zutiefst ambivalent sind (selbstverständlich wünscht er, daß Grendel vernichtet wird!), folgt jetzt auf seine Aggression sofort auch die p o s i t i v e Reaktion auf Beowulf, diesmal durch die Gestalt und Stimme seiner Gattin Wealhtheow, 15 Jackson, Hero and King, vgl. A n m . 4: »There is a good deal of evidence that Hrothgar is afraid of the consequences of B e o w u l f s success [ . . . ] The greatness o f Beowulf lies in the fact that he acts in precisely the opposite fashion to that to be expected o f an intruder-hero who has demonstrated unmistakably the weakness o f a king and his failure as shepherd of his people.« (S. 31).

32

Kathryn Smits

deren stellvertretende F u n k t i o n sogar b e t o n t w i r d , d e n n es h e i ß t , sie handle aus dem Bewußtsein ihrer Pflichten: Dxr waes haele^a hleahtor, w o r d wseron wynsume. cwen HroÖ3äres,

cynna 3emyndi3,

3rette 3oldhroden

3uman on healle,

ond t>ä freollc w l f serest Eastdena

hlyn swynsode,

Eode Wealhjjeow forö,

ful 3esealde e^elwearde,

baed hine bllöne

aet jjjere beorjDe3e,

leodum leofne.

He on lust 3e]3eah

symbel ond seleful, Ymbeode J)ä

si3e-röf kynin3.

ides Helmin3a

du3uj)e ond 3e030^e sincfato sealde,

dsel ¿3hwylcne,

o 1p Ipat ssel älamp,

£>aet hlo Beowulfe, möde 3et>un3en,

bea3hroden cwen, medoful astbaer,

3rette Geata leod,

3ode Jjancode

wlsfisest wordum,

J)aes öe hire se willa 3elamp,

\>tet heo on ¿eni3ne fyrena fröfre.

eorl 3elyfde

He \>at ful 3eJ)eah,

waelreow wi3a,||

aet W e a l h ^ o n ,

ond J)ä 3yddode,

3Üt>e 3efysed.

(611-630)

(Da jubelten die Helden, Lärm erhob sich, es fielen fröhliche Worte.

Ihrer

Pflichten

bewußt, trat Wealhtheow, die

Gattin

Hrothgars, vor. Goldgeschmückt grüßte sie die Männer in der Halle. Dann reichte die edle Frau zunächst dem Herrn der Dänen den Becher und bat ihn, bei diesem Umtrunk fröhlich und den Leuten gewogen zu sein. Der tapfere K ö n i g genoß voll Freude Speis und Trank. Die Dänenkönigin ging zu beiden Gruppen, den Jungen und den Alten, und reichte ihnen die kostbaren Becher, bis der große Augenblick kam, da die ringgeschmückte K ö n i g i n

frohgemut

Beowulf den Metbecher brachte. Die Kluge grüßte den Gautenfürsten und dankte G o t t mit weisen Worten, daß sich ihr der Wunsch erfüllt hatte, daß sie von einem Krieger Befreiung aus ihrer mißlichen Lage erhoffen durfte. Der kühne Krieger nahm das Gefäß aus Wealhtheows Hand.) E r s t h i e r w i r d B e o w u l f d u r c h d e n v o n der F r a u g e r e i c h t e n s y m b o l i s c h e n U m t r u n k i n d e n K r e i s der K r i e g e r a u f g e n o m m e n . H r o t h g a r sagt n i c h t s z u alledem. D e n S c h w u r , daß er G r e n d e l besiegen o d e r sterben w e r d e , leistet B e o w u l f n i c h t i h m , s o n d e r n der K ö n i g i n , die sich d a r a u f h i n b e f r i e d i g t w i e d e r z u i h r e m M a n n setzt ( 6 3 1 - 6 4 1 ) . H r o t h g a r selbst w ü n s c h t B e o w u l f d a n n n u r n o c h G l ü c k u n d v e r t r a u t i h m b e i E i n b r u c h der D u n k e l h e i t die H a l l e an, w o dieser i n der N a c h t d e m U n h o l d G r e n d e l z u b e g e g n e n u n d i h n z u b e k ä m p f e n g e d e n k t .

Die >Stimmen des schweigenden Königs

33

Die Fortsetzung von Beowulfs Integrierung in die Gemeinschaft findet am nächsten Tag statt, nachdem er mit der tödlichen Verwundung Grendels im nächtlichen Kampf seinen Rang als Krieger und Freund endgültig unter Beweis gestellt hat. Wieder sitzt man in der Halle beim Bier. Unferth, die >männliche Stimme< des Königs, sitzt diesem schweigend zu Füßen: Die Aggression des Königs hat sich gelegt und braucht nicht mehr in Worte gefaßt zu werden. Unferths eigener Ruf als Mann und Krieger habe, so sagt der Erzähler, unter dem Vorfall des Vortages in keiner Weise gelitten, was erneut darauf hindeutet, daß das Geschehene mit seiner Person so gut wie nichts zu tun hat: Swylce t>jer UnferJ) |)yle aet fötum saet frean Scyldin3a.

Gehwylc hiora his fertige treowde,

\>xt he haefde mod micel, arfaest aet ec3a 3eläcum.

feah t>e his mä3um njere (1164-1168)

(Dort saß auch Unferth, der Sprecher des Königs, dem Herrn der Dänen zu Füßen, (und) ein jeder von ihnen vertraute seiner Gesinnung und seinem Großmut, obwohl er gegen seinen Blutsverwandten beim K a m p f mit dem Schwert schonungslos vorgegangen war.)

Die K ö n i g i n dagegen hat einen großen Auftritt. Wieder reicht sie den Becher. Sie mahnt den K ö n i g zur Freundschaft gegenüber Beowulfs Volksgenossen, den Gauten. Auch schenkt sie Beowulf einen Ring, dessen Vorgeschichte diesen Bund besiegelt, und mit symbolischen Gesten setzt sie die schon von Hrothgar erwähnte (947 ff.) Adoption Beowulfs als Sohn des Königspaares in die Tat um (1162-1232). Ihre Ansprache zum Thema Eintracht beschließt sie bezeichnenderweise mit den Worten Druncne dryht$uman döö, swä ic bidde (Betrunkene Gefolgsleute tun, was ich befehle 1231). Hier wird die Beziehung zwischen dem Handeln des Unferth und der Wealhtheow deutlich sichtbar. M i t einer persönlichen Rivalität hat es nichts zu tun, und es handelt sich nicht um eine Konfrontation zweier Gestalten. Die beiden, Mann und Frau, verkörpern in dieser Begrüßungsszene symbolisch die ambivalenten Gefühle des durch seinen Rang zur Passivität verurteilten Königs. Der Mann fordert heraus, die Frau wirkt beschwichtigend, versöhnend, gliedert den Gast in die Sippe ein. Die von Hiltbrunner geschilderte Ambivalenz der Empfangssituation 16 wird hier ins Dramatisch-Literarische umgestaltet. Die Gestalten, welche die hier beschriebenen Rollen übernehmen, führen in der betreffenden Erzählung oft ein »Eigenleben«, das mit ihrer Funktion als >Stimme des Königs< nicht weiter zu tun hat. Der Erzähler kann Charaktere zu diesem Zweck rekrutieren und sie dann wieder in die Geschichte entlassen. Besonders deutlich zeigt sich das i m Nibelungenlied, wo ausgerechnet Kriemhilt einmal zu diesem Zweck herangezogen wird. 16 Hiltbrunner, vgl. A n m . 7, Sp. 1061-1063. 3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

34

Kathryn Smits

2. Siegfrieds

Ankunft bei den Burgunden

Ist i m Beowulf die Aggression des Königs wohl vor allem aus dem Wissen um eigenes Alter und eigene Ohnmacht zu verstehen und aus einem nicht ausgesprochenen Neid auf die Jugend und Kraft des Gastes (psychologisch gesehen ein weiter Schritt von der primitiven Angst vor allem, was »von draußen« kommt!), so begegnen wir im Nibelungenlied einem klassischen Fall von Furcht vor einem, der strotzend vor Selbstvertrauen und geschützt von einem i m wahrsten Sinne un-heim-lichen Zauber in eine friedliche Gemeinschaft einbricht und diese zu sprengen droht. Der Gast Siegfried wird zunächst widerwillig aufgenommen und schließlich, nach langer Verzögerung, doch in die Sippe integriert, was eigentlich zur Folge haben sollte, daß er eingegliedert und verharmlost wird. Daß ausgerechnet diese Integrierung Siegfrieds sich dann später als Katastrophe erweist und daß gerade sie die tragische Handlung in Gang setzt, ist ein großartiger W u r f des Nibelungendichters. Er hat, wie sich noch zeigen wird, das hier besprochene M o t i v als Erzählmittel unter vielen verwendet und es in den Dienst eines großen epischen Gefüges gestellt. Er geht frei damit um, füllt es mit neuen Werten, und versteht es trotzdem, seine Grundstruktur unangetastet zu lassen, so daß auch das Publikum des Nibelungenliedes es erkennen und richtig rezipieren konnte. Siegfried begibt sich zwar auf Brautfahrt nach Worms, dieses M o t i v jedoch bleibt zunächst i m Hintergrund. 1 7 Seine aus einem überwältigenden Überlegenheitsgefühl entspringende Aggression ist dem Hörer/Leser von Anfang an bedrohlich bewußt (55,1-4). Er fährt mit kleinem Gefolge, ganz i m Stil des epischen Helden, der darauf aus ist, sich ein Machtgebiet zu erobern. 18 Der erste Eindruck, den die Burgunder von Siegfried bekommen, ist ein visueller, als er in prachtvoller Ausstattung Wörme% üf den sant (71,1) geritten kommt. Das Imponiergehabe verfehlt seinen Eindruck nicht: riter unde kneht kommen, zusammen mit viel Volk, den Fremden entgegengelaufen (74,4-75,4). Drinnen steht Gunther am Fenster und diskutiert mit seinen Gefolgsleuten über die ihm unbekannten und außergewöhnlich imposanten Fremden, die da draußen stehen. Wer sind sie? Was haben sie i m Sinn? Kommen sie als Freunde oder als Feinde? Wie soll der K ö n i g sie empfangen, d.h. wie trifft man in diesem Fall die protokollarisch richtige Entscheidung? Als erstes gilt es, die Identitätsfrage zu klären. Der Truchseß O r t w i n schlägt vor, man solle Hagen zu Rate ziehen (80,1 82,2). Dieser wiegt die Indizien gegeneinander ab und schließt: das kann nur Siegfried sein (83,1-86,4). Die Einzelheiten von Hagens Bericht (über den Hort, die Tarnkappe, das Schwert Balmung, das Bad i m Drachenblut, 86,1 -100,4) sind 17 Brautfahrtmotive, wie w i r sie z.B. in König Rother finden (Feindseligkeit des Brautvaters, Entführung der Braut durch List) fehlen ganz. 18

Dazu: Jackson, Hero and King, vgl. A n m . 4, S. 37 f.

Die >Stimmen< des schweigenden Königs

35

nicht nur für die weitere Handlung, sondern auch für das Hier und Jetzt von großer Wichtigkeit. Hagen entwirft das erschreckende Bild eines übermächtigen Fremden, mit dem K ö n i g Gunther es als unfreiwilliger Gastgeber aufzunehmen hat. Die Lage ist außergewöhnlich heikel. Beowulf hatte die Kraft von dreißig Männern besessen; seine Überlegenheit war noch meßbar gewesen. Dieser Siegfried dagegen verfügt über Mittel, die ihn über das Maß des menschlichen Könnens hinausheben und die den Gastgeber in einen Zustand der Hilflosigkeit versetzen. Und so wird Siegfried empfangen: mit einer ausgesuchten Höflichkeit, die durchweg der tiefverwurzelten Angst vor einem Wesen entspringt, über das man soeben Alarmierendes zu hören bekommen hat, gegen das man sich nicht schützen kann und das i m übrigen völlig »fremd« ist, d. h. eine unberechenbare Größe, die man in keiner Kategorie seines bisherigen Denkens unterzubringen vermag. Es folgt nun die Konfrontation, durch welche die Lage noch weiter verschärft wird. A u f seine höfliche Frage, was Siegfried hier suche, erhält Gunther eine erschreckende A n t w o r t (die von dem Fremden offensichtlich auch noch als Kompliment verstanden wird!): 107

M i r wart gesaget maere daz hie bi iu waeren

in mines vater lant,

(daz het ich gern' erkant)

die küenesten recken

(des han ich v i l vernomen)

die ie künec gewunne; 110

N u ir sit so küene,

dar umbe bin ich her bekomen.

als mir ist geseit,

sone ruoch' ich, ist daz iemen ich w i l an iu ertwingen lant unde bürge,

liep oder leit:

swaz ir muget hän:

daz sol mir werden undertan.

Ein wenig weiter heißt es dann noch: 114, 1 - 3

D i n erbe und ouch daz mine sweder unser einer

sulen geliche ligen.

am andern mac gesigen,

dem sol ez allez dienen,

die liute und ouch diu lant.

Die Bedrohlichkeit dieser Episode können wir heute nur nachempfinden, wenn wir diese in interplanetare Verhältnisse hineinprojizieren. Da landet irgendein Außerirdischer vor unserer Haustür (gutmütig zwar, aber unberechenbar und ohne jedes Verständnis dafür, daß wir unsere körperlichen oder auch intellektuellen Kräfte trotz bestem Willen mit den seinen nicht messen k ö n n e n ) und besteht fast spielerisch auf einem Wettbewerb mit verzweifelt hohem Einsatz, womit er uns überdies noch ein Kompliment zu erweisen meint. K ö n i g Gunther und sein Bruder Gernot reagieren auch jetzt notgedrungen noch höflich, mit passiver Abwehr und friedfertigen Argumenten, die dieser Gast überhaupt nicht zu verstehen scheint. Die Könige reden von Erbrecht, von der ere in ihrer Familientradition, von rechtmäßigem Landbesitz und ihrer Abneigung gegen aggressive Eroberungsmethoden: 3*

36

Kathryn Smits 112

»Wie het ich daz verdienet«, »des min vater lange

daz w i r daz solden vliesen w i r liezen übele schinen 115

sprach Gunther der degen,

mit eren hat gepflegen, von iemannes kraft? daz w i r ouch pflegen riterschaft.«

»Wir han des niht gedingen«,

sprach dö Gérnót,

»daz w i r iht lande ertwingen,

daz iemen drumbe tot

gelige vor heldes handen. diu dienent uns von rehte,

w i r haben richiu lant; ze niemen sint si baz bewant.«

Die Könige üben hier eine vorbildliche Zurückhaltung, durch die sie sich einerseits zum neuen Ethos des ausgehenden 12. Jahrhunderts bekennen. Andererseits aber haben sie ganz einfach Angst, und wer sollte es ihnen verübeln? Siegfried ist ihren Argumenten völlig unzugänglich und scheint diese Sprache nicht zu verstehen. Die Szene muß beim zeitgenössischen Publikum ambivalente Gefühle geweckt haben. Einerseits wird man die Bedrohlichkeit dieser Lage nur allzugut erfaßt und sie gerade auch deswegen als gruselig-komisch empfunden haben. Andererseits wird das um hövescheit bemühte, aber trotzdem in Kategorien der Macht denkende Publikum für diesen von Kraft und Selbstvertrauen strotzenden Siegfried eine Sympathie und Hochachtung empfunden haben, die den meisten von uns Heutigen wohl abgeht. Man wird auf ein Zeichen gewartet haben, daß dieser K ö n i g Gunther kein Schwächling war. Gunthers innere Empörung wird jeder Hörer nachempfunden haben, man wußte aber auch, daß die Königswürde es ihm verbot, diese zu zeigen. U m so erlösender w i r k t daher dieser Trick des Erzählers, durch den diese Wut sichtbar und hörbar gemacht wird. Sichtbar wird sie durch die Haltung der Gefolgsleute {mitgrimmigem muote da stuonden friwende sin 116,1), und i m nächsten Augenblick faßt O r t w i n sie in Worte. Scheinbar durchkreuzt er damit auf gefährliche Weise die diplomatischen Bemühungen, in Wirklichkeit aber tritt eine Entspannung ein. O r t w i n setzt die erste Phase eines vertrauten Rituals in Gang. Jetzt weiß jeder — sowohl Siegfried als auch das Publikum — woran er ist. O r t w i n spricht nur scheinbar für sich selbst, in Wirklichkeit läßt er die aggressive Gemütslage seines Königs laut werden: 116,2

dö was ouch dar under der sprach: »disiu suone iu hat der starke Sivrit

117

O b ir und iuwer bruoder und ob er danne fuorte ich trüte w o l erstriten, diz starkez übermüeten

von Metzen O r t w i n ; diu ist mir harte leit. unverdienet widerseit. hetet niht die wer, ein ganzez küneges her, daz der küene man von waren schulden müese lan.«

Bisher hat nichts, was die Könige sagten, die Selbstgenügsamkeit Siegfrieds erschüttern können. Daß er nun mit auffallender Schärfe auf Ortwins Ausbruch reagiert, läßt den besonderen Stachel dieser Worte erkennen. Hier geht es nicht

Die >Stimmen des schweigenden Königs

37

darum, daß ein »sozial und charakterlich Unterlegener« 19 seiner Überheblichkeit wegen zurechtgewiesen wird. Das wäre in dieser kunstvoll aufgebauten, sich beängstigend zuspitzenden Krise ein zu trivialer Grund. Hätte Siegfried sich bloß von einem Geringeren beleidigt gefühlt, so hätte er sich nicht mit Worten aufgeregt, sondern O r t w i n zu Boden geschlagen. 20 Siegfried aber erkennt sehr wohl, wer da aus dem M u n d des Gefolgsmannes spricht. Er ist jetzt — wie Beowulf — gezwungen, ein Scheingefecht mit dem zu liefern, der die Wut des Königs zum Ausdruck bringt. Z u m erstenmal befindet sich Siegfried strategisch i m Nachteil. Beowulf mußte Unferth mundtot machen, Siegfried muß auf ähnliche Weise seinen Zorn an O r t w i n abreagieren, wobei er es fertig bringt, zwischen den Zeilen das zu sagen, was er eigentlich aussprechen möchte: »Das hättest nicht du sagen sollen, du miserabler Gefolgsmann, sondern dein König!«: 118

Daz zurnde harte sere

der helt von Niderlant.

er sprach: »sich sol vermezzen ich bin ein künec riche,

niht wider mich din hant.

so bistu küneges man.

jane dörften mich din zwelve

mit strite nimmer bestan.«

Bezeichnenderweise ist es dieser Ausbruch Ortwins, der die Lage entschärft. Gerade weil jetzt gedroht und geschrieen wird, normalisieren sich die Verhältnisse: Siegfried hat gezeigt, daß auch er nur ein Mensch ist. O r t w i n wird von Gernot zurechtgewiesen. Was Hagen dann sagt, faßt eigentlich nur zusammen, was die Könige schon vorgebracht hatten, und Siegfried wiederholt lediglich die schon geäußerte Drohung (119,1 -122,4). 21 Daß Siegfried dann auf Gernots gemäßigte 19 Bartsch/De Boor, vgl. A n m . 2, Anmerkung zu Strophe 118, S. 25. Otfrid Ehrismann, »Siefrids Ankunft«, vgl. A n m . 3, folgt hier ganz De Boor: »Ortwien von Metz, heißspornig wie Wolfhart und hier dem jungen Siefrid verwandt [ . . . ] , zerstört Gernots Plan. [ . . . ] Ortwiens Beleidigungen, obwohl an die Könige gerichtet, verhärten die Lage. Siefrid, standesbewußt, erregt sich an dem Fauxpas und fährt dem Vasallen barsch über den Mund.« (S. 346). 20 So reagiert Rüediger auf die beleidigenden Worte eines Hunnen ( N L 2138-2142); so hätte beinahe auch Parzival, gerade weil er nur den »Literalsinn« von dessen Worten wahrnimmt, auf die Aggression des redespahen mannes zu Munsalvaesche reagiert (Pa. 229,4 -

22).

Es ist erstaunlich, wie verharmlosend manche Forscher diese Szene nacherzählen. Ehrismann, »Siefrids Ankunft«, vgl. Anm. 3, schreibt: »[Siefrid] besinnt sich also wieder auf sein eigentliches Vorhaben und möchte nun selbst Gast werden, zumal als er merkt, wie ungefährlich die Wormser sind und wie gering ihre Lust am Kämpfen ist; nur ein junger Heißsporn hatte es gleich mit ihm aufnehmen wollen.« (S. 349). Bei Konecny, vgl. A n m . 3, heißt es: »Doch da fordert Siegfried Gunther zum Zweikampf um ihre Reiche heraus. Ganz ernst w i r d dies w o h l nicht genommen, da Gunther antwortet, er besitze seine Länder zu recht und sähe keine Notwendigkeit, sie unter diesen Bedingungen zu verteidigen.« (S. 101). 21 Hagens kluge Zurückhaltung fällt auf; er, der hervorragende Politiker, greift nicht ein, so lange die Dinge ihren gesetzmäßigen Lauf nehmen. Z u Hagens Diplomatie in dieser Kommunikationskrise siehe auch Wahl Armstrong, vgl. Anm. 3, S. 199-201.

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Worte eingeht, dürfte nicht nur darauf zurückzuführen sein, daß er plötzlich an Kriemhilt denkt (123,4 — hier wird das diesem Begrüßungsritual fremde minneM o t i v eingeführt!). 22 Es ist, durch Ortwin, eine Kommunikation zustande gekommen, und Siegfried verhält sich wie einer, der mit der von ihm provozierten Reaktion gar nicht unzufrieden ist. Verständlich wird das nur, wenn wir verstehen, daß er den K ö n i g provoziert hat, daß w i r hinter Ortwins Vehemenz die Empörung Gunthers erkennen sollten. Es ist bemerkenswert, daß i m Nibelungenlied gerade der Truchseß O r t w i n die Funktion übernimmt, die i m Beowulf der Jjyle Unferth innehatte. Jürgen Haupt weist darauf hin, daß die Gestalt des Truchseß stets im Machtradius des Königs auftritt und weitgehend unselbständig ist. 2 3 Artus, heißt es hier, sei nicht zuletzt deswegen eine so strahlende Gestalt, weil sein Truchseß immer die undankbare Rolle übernehme. Immer sei es Keie, der sich anstelle seines Königs die Hände schmutzig machen müsse. Keie sei in gewissem Sinne die negative Äußerungsform des Königtums. 2 4 Während sich sein K ö n i g vornehm zurückhält, habe der Truchseß die politische Aufgabe, für ihn die Kastanien aus dem Feuer zu holen, wodurch er sich nicht selten unbeliebt macht. Diese Rolle hat sich i m Artusroman niedergeschlagen, wo sie u. a. dazu beiträgt, daß die ursprünglich nicht negative 25 Keie-Figur dort zu einer i m Doppelsinn des Wortes irritierenden Gestalt geworden ist, auf die die Ritter des Artushofes einerseits ärgerlich reagieren und die sie andererseits i m positiven Sinne reizt und zu Taten anspornt. Das M o t i v der >Stimmen des Königs^ scheint der höfischen Tradition fremd zu sein. Bei Chrestien ließen sich keine Szenen finden, wo ein Mann und eine Frau in der oben geschilderten Weise symbolisch den ambivalenten Gefühlen des Königs Ausdruck verleihen. Die Rolle des Truchseß Keie, die sich bei Chrestien zu entfalten beginnt und dann in der deutschen höfischen Dichtung neue Dimensionen annimmt, ist offensichtlich ein anderes, selbständiges Phänomen. Wohl aber treffen die beiden Traditionen in der mittelhochdeutschen Epik aufeinander, und das nicht nur i m Nibelungenlied. Auch Wolfram hat das M o t i v der >Stimmen des Königs< aufgegriffen. Den pjle des Beowulf finden wir i m redespcehen man zu Munsalvaesche wieder, die K ö n i g i n Wealhtheow in der Gralträgerin Repanse de Schoye. Es hat den Anschein, als habe Wolfram auch Keie und Artus' K ö n i g i n in einigen Szenen zu diesem Zweck verwendet, was die ohnehin schon interessante 22 »Was Siegfried letztlich einlenken läßt, ist die Minne«, meint Gernot Müller, vgl. A n m . 3, S. 100; ähnlich äußert sich auch Wahl Armstrong, vgl. A n m . 3, S. 197. Jan-Dirk Müller, vgl. A n m . 3, weist aber mit recht daraufhin, daß »in der parataktischen, nicht kausal verknüpfenden Darstellung [der Strophen 123-127] nicht einmal so klar [wird], wie die Interpreten wollen, was Sivrit schließlich zum Nachgeben veranlaßt.« (S. 90). 23

Jürgen Haupt, Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen %ur Gesellschafts struktur im höfischen Roman. Berlin 1971 [Phil. Stud. u. Quell. 57], S. 60. 24

Haupt, vgl. A n m . 23, S. 61.

25

Haupt, vgl. Anm. 23, S. 61.

Die > Stimmern des schweigenden Königs

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Beziehung zwischen diesen beiden noch weiter kompliziert. 2 6 Nirgends aber wird die Nahtstelle, wo sich Vorhöfisches und Höfisches begegnen, so deutlich sichtbar wie i m Nibelungenlied, wo die männliche >Stimme< des Königs in die Haut eines höfischen Truchseß geschlüpft ist 2 7 , und wo das weibliche Gegenstück zu dieser Gestalt, die tatkräftige Herrin des Hauses, sich in ein zartes höfisches Mädchen verwandelt hat, nach dem sich der Gast zunächst nur aus der Ferne sehnen darf. I m Beowulf waren auf den Angriff des Unferth sofort die friedlichen Begrüßungsgesten der K ö n i g i n Wealhtheow gefolgt. I m Nibelungenlied wird diese symbolische Begrüßung um ein ganzes Jahr verzögert. Dafür gibt es gute Gründe. Beowulf hatte den Gastgeber durch seine bloße Anwesenheit verunsichert, Siegfried dagegen hat Gunther bedroht. Nicht die männliche >Stimme< des Königs, sondern der Gast selbst hat die erste Drohung ausgesprochen. Der Verbrüderung und Eingliederung in die Sippe steht also eine ernste Vertrauenskrise i m Wege. Die Burgunder nehmen Siegfried zunächst zwar höflich auf, erweisen ihm Ehre und bieten ihm Unterhaltung (wozu neben Ritterspielen auch das Gehen zu den frouwen durch kur^ewtle gehört 128-131), die entscheidende weibliche Gestalt aber, Kriemhilt, die Schwester des Königs, bekommt Siegfried nicht zu Gesicht, und er wird auch sonst von keiner hochstehenden Frau begrüßt. Die Szene, die dem Auftritt der Wealhtheow entspricht, findet erst nach dem Sachsenkrieg statt. Strukturell gesehen ist diese Verzögerung außerordentlich wirkungsvoll. Siegfried hatte Gunther lant und bürge nehmen wollen (110,4). Diese Drohung muß er jetzt zunichte machen, indem er gegen einen anderen Aggressor Partei ergreift und die Sachsenkönige Liudegast und Liudeger im K a m p f schlägt. Auch diese beiden haben es auf Gunthers bürge und lant abgesehen (145). Man kann also sagen, daß Siegfried in diesem Sachsenkrieg sich selbst zu überwinden hat. Das paßt vorzüglich in das im Nibelungenlied stark ins Höfische sich entwickelnde Konzept des Geschehens. Die Wartefrist wird zur Bewährungsfrist, zu einer Zeit inneren Wachstums i m Zeichen der minne; die Frau, von der Siegfried dann begrüßt und geküßt werden soll, ist nicht die Herrin des Hauses (obwohl diese neben der Tochter hergeht!), sondern die von fern geliebte, ausnehmend schöne Frau. Trotzdem bleibt das alte Muster sichtbar. Erst nach dem Sachsenkrieg kann der letzten Endes schwer beleidigte Gunther seine versöhnliche Seite hervorkehren. Daß diese, in der Gestalt seiner Schwester, buchstäblich gezeigt wird, geschieht interessanterweise auf Anregung Ortwins. Er, der die Empörung des Königs verkörperte, räumt nun das Feld und macht ihr 26

So z. B. beim Eintreffen Parzivals am Artushof zu Nantes bzw. i m Artuslager in den Büchern I I I und V I . A u c h das Eintreffen Parzivals bei Gurnemanz sollte einmal aus dieser Sicht untersucht werden. 27 Haupt, vgl. A n m . 23, erwähnt in seiner Analyse des Truchseßamtes nur Rumolt den Küchenmeister, nicht dagegen den Truchseß O r t w i n des Nibelungenliedes. (S. 71).

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Platz, die dessen Versöhnlichkeit symbolisiert. Gunther verhält sich dabei, dem Modell getreu, völlig passiv (>Des wil ich gerne volgern, sprach der künec dd. 275,1). Motivierung und Handlung des nun folgenden prunkvollen Auftritts stehen dann ganz i m Zeichen des Höfischen. W i r haben es nicht mit einer energischen, reifen Frau zu tun, die auch betrunkene Gefolgsleute in Schach zu halten vermag, sondern mit einer strahlenden, idealisierten Mädchengestalt, die den Mann auf neue A r t zu einem besseren Menschen werden läßt. Die Begegnung Siegfrieds und Kriemhilts stellt auf dieser höfischen Ebene die Krönung des sittigenden Prozesses dar: die minne aus der Ferne hat Siegfried zu einem inneren Wandel verholfen, welcher in seiner entscheidenden Beteiligung am Sachsenkrieg den Niederschlag fand. Das höfische Protokoll wird in dieser Szene strikt eingehalten, gleichzeitig aber stehen die Ereignisse i m Zeichen dieses alten, vorhöfischen Motivs. 3. Par^ivals Ankunft auf Munsalvasche Aus dem Parzival soll in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel besprochen werden. Es gibt allerdings Anzeichen dafür, daß Wolfram das hier behandelte Erzählmuster auch an einigen anderen Stellen variierend verwendet hat. 2 8 Als Parzival — inzwischen ein kampferfahrener Ritter und eine eindrucksvolle Erscheinung — in die Gralsburg geritten kommt, hofft er dort lediglich ein Nachtquartier zu finden (225,14-17). Für seinen Gastgeber und dessen Gefolgsleute jedoch hat dieser Besuch eine völlig andere Bedeutung, über die sowohl Parzival selbst als auch die Hörer / Leser erst später aufgeklärt werden. 29 Die Qual des Anfortas erreicht an diesem Tag ihren bisherigen Höhepunkt (492,23 ff.). Die Erwartungen sind hochgespannt. N u r dieser eine Ritter wird imstande sein, den kranken K ö n i g von seinen Schmerzen zu erlösen. Gleichzeitig aber wird dieser Hergerittene auch Anfortas' Reich und Königswürde an sich nehmen: wirt sin frage an rehter zit getan, so sol erz künecriche hän, unt hat der kumber ende von der hohsten hende. da mit ist Anfortas genesen, ern sol ab niemer künec wesen.

(484,3-8)

Parzival spielt hier also, ohne es zu wissen, die uns schon vertraute Rolle des Gastes aus der Fremde, dessen besondere, geradezu magische Kräfte dem Gastgeber a u c h bedrohlich zu werden versprechen. W i r sind es gewohnt, 28

Siehe dazu A n m . 26. Zitiert w i r d nach: Wolfram K a r l Lachmann. Berlin und Leipzig 1926.

von Eschenbach. Sechste Ausgabe von

29 Z u r kunstvoll-stufenweisen Aufklärung sowohl Parzivals als auch des Publikums siehe D . H. Green, The Art of Recognition in Wolfram's Parzival, Cambridge 1982. Es sei hier auch auf Greens ausführliche Bibliographie verwiesen.

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Anfortas ganz als Leidenden zu interpretieren, als wirf jämers rieh (230,30), vil trürgen man (253,21), trüregen wirf (256,2), der durch Parzivals Versagen um die Chance der Heilung gebracht wird. Das M o t i v des schweigenden Königs und seiner >Stimmen< gibt uns nun Anlaß, Anfortas einmal aus ungewohnter Perspektive zu betrachten und die Frage zu stellen, ob nicht auch er für den traurigen Ausgang der Dinge einen Teil der Verantwortung trägt. Anfortas ist ein stolzer K ö n i g und ein eigenwilliger, leidenschaftlicher Mensch. Das bezeugen der Prunk seines Hofes, die reine Tatsache seines Ungehorsams und die A r t seines Vergehens. W i r d man von einem solchen Mann erwarten, daß er, auch unter den extremen Bedingungen eines göttlichen Gebotes und eines qualvollen Leidens, sein Reich, seinen Rang und seine Königswürde ohne jede innere Auflehnung preisgibt? Das würde ein außergewöhnliches Maß an humilitas voraussetzen. Ist Anfortas einer solchen Geste fähig? Anders gefragt: Hat er schon genug gelitten? Muß etwa auch er — wie Parzival — noch einen weiteren Reifungsprozeß durchmachen, ehe der Machtwechsel stattfinden kann? Der Text liefert uns Anhaltspunkte für eine solche Interpretation. Anfortas selbst, dem Fischer auf dem See, fällt die Aufgabe zu Parzival zur Gralsburg zu weisen. Von ihm wird also verlangt, daß er das bevorstehende Geschehen (Heilung u n d Ablösung) selbst und freiwillig 3 0 in die Wege leitet. Anfortas tut das anstandslos. So wie aber Parzivals Mangel an Reife durch das Narrenkleid symbolisiert wurde, so gibt auch die Kleidung des Anfortas in dieser Szene einen deutlichen Hinweis auf die Diskrepanz zwischen äußerem Handeln und innerer Einstellung: der het an i m alsolch gewant, ob i m dienden elliu lant, daz ez niht bezzer möhte sin. gefürriert sin huot was pfawin.

(225,9 ff.)

Ein mächtiger Herr, dessen H u t mit dem Sinnbild des Stolzes geschmückt und der aus irgendeinem Grunde trüric ist (225,18) — das ist der Eindruck, der dem Hörer/Leser bei dieser ersten Begegnung vermittelt wird und auf dessen Grundlage dieser dann i m folgenden sein Anfortas-Bild aufzubauen hat. Dem Dichter war offensichtlich nicht daran gelegen, den Gralskönig als ein Muster der humilitas darzustellen. Bei Parzivals Ankunft auf Munsalvaesche geschieht, von den üblichen Höflichkeiten abgesehen, zweierlei. Die Schwester des Königs schickt ihm als besonders ehrenvolle Leihgabe ihren Mantel, und ein zungenfertiger Mann lädt 30 Es stünde Anfortas sogar frei, Parzival den falschen Weg zu zeigen. Statt dessen gibt er sich besondere Mühe: hüet iueh: da gent unkunde mge:jir muget an der Ilten / wol misseriten, /deiswär des ich iu doch niht gan. (226,6-9).

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ihn mit überraschend aggressiven Worten zum eben eingetroffenen Hausherrn und erweckt den Eindruck, als zürne dieser Parzival: ze hove ein redespaeher man bat komn ze vrävelliche den gast ellens riche zem wirte, als ob i m waere zorn.

(229,4 ff.)

Parzival reagiert nicht verbal, sondern mit stummem Zorn und wird fast handgreiflich. Er selbst ist ja alles andere als redespcehe und ist es gewohnt, jeden Konflikt mit der Waffe zu lösen. 31 Die anwesenden Ritter besänftigen ihn und spielen den Vorfall als die triviale Taktlosigkeit eines Spaßvogels herunter: »nein, herre,« sprach diu ritterschaft, »ez ist ein man der schimpfes kraft hat, swie trürc w i r anders sin: tuot iwer zuht gein i m schin. ir sultz niht anders han vernomn, wan daz der vischaer si komn. dar get: ir sit i m werder gast: und schütet ab iu zornes last.«

(229,15 ff.)

Ganz so harmlos, wie es die Herren darstellen — und wie sie es verstanden haben wollen! — ist dieser Vorfall aber nicht. 3 2 Man darf das hier geschilderte und auch den Kommentar des Erzählers {da er sich schimpfes niht versan 229,3) nicht dahin interpretieren, daß Parzival keinen Spaß verstünde. Schimpf heißt Spaß, aber in einem weiten Sinne, und es schließt die Aggression nicht aus. Auch ein keineswegs so harmloser Zeitvertreib wie der Turnierkampf wird von Wolfram so bezeichnet (vgl. 227,9). Ein Wortgefecht wie das zwischen Unferth und Beowulf hätte, schon des Unterhaltungswertes wegen, gewiß als schimpf gegolten. 33 Hier tritt ein Mann auf und richtet sich mit unverkennbar aggressiven Worten i m Namen des Königs an den Gast. Wolframs Publikum, das noch nicht darüber informiert ist, welche Rolle Parzival auf dieser Burg zu spielen hat, wird die Ohren gespitzt und das Signal wahrgenommen haben: Hier spricht die 31 Siehe zu dieser Szene auch: Kathryn Smits, »Einige Beobachtungen zu gemeinsamen Motiven in Hartmanns Erec und Wolframs Parzival«, in: Festschriftfor E. W. Herd, ed. by August Obermayer, Dunedin 1980 [Otago German Studies 1] S. 251-262. Hier w i r d Parzivals Mangel an Reife und innerer Sicherheit betont, der sichtbar wird, sobald es ihm versagt ist, sich mit dem Schwert zu wehren. Auch diesen Aspekt des Geschehens halte ich nach wie vor für wichtig. 32 Für das Gefolge zu Munsalvassche und für die Verwandten des Gralskönigs hat Parzivals K o m m e n diesen bitteren Beigeschmack nicht. So können auch Sigune und die Botin Kundrie la Surziere Anfortas nur als Opfer, Parzival dagegen nur als frevelhaften Versager einstufen. Beide revidieren i m Laufe der Zeit ihr Urteil. 33 Dt. Wörterbuch, vgl. A n m . 5, Bd. 15, Sp. 167: »Wendungen wie [. . .] Par%. 263,25 [ . . .] vermitteln es, dasz schimpf auch geradezu v o m ernstkampf gebraucht wird.«

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männliche >Stimme< des Königs. Hier lehnt sich ein K ö n i g gegen einen potentiellen Eindringling auf. Hier bangt ein K ö n i g um seine Stellung. Die Mantelgabe der Repanse de Schoye (228,7-24) ist diesem Angriff zeitlich vorangegangen. Herzlichkeit, Schutz und Ehrung (und, wie wir später von Trevrizent erfahren, das symbolische Angebot herrschaftlicher Macht und Würde: si wând du soltst dâ hêrre sin 500,29) sind in der ersten Geste der Frau enthalten, die Aggression folgt erst danach. Das ist eine seltsame Umkehrung der Dinge, die den Hörern nicht entgangen sein wird. Die Ambivalenz ist unverkennbar, die Akzente aber sind verschoben. Schon hier muß das Publikum verstanden haben, daß es mit Parzivals Besuch auf dieser Burg eine besondere Bewandtnis hat. Verschärft wird die Lage dadurch, daß der Held selbst manche dieser Zeichen offensichtlich nicht interpretieren kann und daß man deshalb auch i m folgenden darauf gefaßt sein muß, daß er irgendwie falsch reagieren wird. Die dadurch entstehende Spannung ist schon an dieser Stelle groß und wird durch das folgende Zeremoniell bis ins kaum noch Erträgliche gesteigert. Der Hörer / Leser, der um Parzivals Mangel an Erfahrung weiß, ahnt von Anfang an: Das kann nicht gut gehen. Der Wunsch, geheilt zu werden und damit die Bereitschaft, sein K ö n i g t u m preiszugeben, muß in Anfortas schon sehr stark vorhanden sein. Dafür zeugt nicht nur die Mantelgabe der Repanse de Schoye, sondern auch das symbolische Schwertgeschenk. 34 Der Pfauenhut und das Auftreten des redespcehen mannes zeigen aber, daß Anfortas sich zu diesem Zeitpunkt trotz allem noch an Macht und Königswürde klammert. Die i n der Schrift auf dem Gral erwähnte rehte %it läßt sich entsprechend interpretieren. Dem Gast wird eindeutig eine Frist gesetzt (Fragt er niht bi der ersten naht / so \erget siner frage macht 484,1 -2), was dann folgt, bezieht sich nicht mehr so eindeutig auf dessen Person und kann durchaus so verstanden werden, daß auch für Anfortas die Zeit reif sein muß {wirf sin fr âge an rehter ^it getan, \ so soi er% künecriche hân 484,3-4). Das zwingendste Argument zugunsten dieser Interpretation ist, daß dadurch die Gestalt des Anfortas an Würde und Glaubwürdigkeit gewinnt und daß sie sich viel besser mit Wolframs Humanität in Einklang bringen läßt als das Bild eines passiv leidenden Gralkönigs. Anfortas w i r d jetzt zum Gegenspieler Parzivals. Wie dieser wird er viereinhalb Jahre lang in die Wüste der Gottesferne geschickt, damit auch er zu sich selbst und zu seinem Schöpfer findet. W i r brauchen ihn nicht mehr als das bemitleidenswerte Opfer von Entwicklungen zu betrachten, die sich außerhalb seiner Person vollziehen. Für das weitere Leiden dieser Jahre ist er mit

34 Werner Schröder, »Parzivals Schwerter«, in: ZfdA 100 (1971) S. 111-132; W. Mersmann, Der Besit^wechsel und seine Bedeutung in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach und Gottfrieds von Straßburg, München 1971 [Medium Aevum 22], S. 136; Marianne Wynne, Wolfram's Parrival. On the Genesis of its Poetry, Frankfurt / Bern / New York / Nancy 1984 [Mikrokosmos 9], S. 207f.

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verantwortlich. Erst als in ihm jeder Gedanke an sich selbst gestorben ist (wa^ toug ich iu herren nuo? 788,9), kommt Parzival wieder zu ihm und stellt die erlösende Frage, durch die Anfortas als Mensch wieder hergestellt, durch die aber sein K ö n i g t u m ausgelöscht w i r d . 3 5 Was bringt es uns nun, daß wir dieses M o t i v des schweigenden Königs und seiner >Stimmen< identifizieren können? Erstens gewährt es uns einen Einblick in die Reaktion der Zeitgenossen. Diese nämlich werden die Gesetzmäßigkeit dieses Begrüßungsritus noch erkannt und auf das Gehörte dementsprechend reagiert haben. Was Gunther, sein Bruder Gernot und die Gefolgsleute beim Eintreffen Siegfrieds tun, wird den Hörern in allen Einzelheiten begreiflich gewesen sein. V o n dem Moment an, da Siegfried %e Wörme^ üf den sant ritt (71,1), wußten die Hörer in großen Zügen, was jetzt zu geschehen hatte. Es würde nun unweigerlich eine gefährliche Krise folgen, in der sich durch eine männliche >Stimme< der K ö n i g gegen diesen eben eingetroffenen Übermächtigen auflehnen würde. Nachdem diese Krise überstanden war, mußte dann irgendwann die ihr entsprechende Versöhnung folgen. Siegfrieds maßlose Aggression mußte notwendigerweise durch einen ebenso gewaltigen A k t der Freundschaft aufgewogen werden. Dabei würde zwangsläufig eine Frau im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Diese Erwartung wird das Publikum gehegt haben. Die Leistung des Nibelungendichters erscheint in diesem Licht um so bemerkenswerter. Die obligatorische Frauenszene verzögert er nicht nur kunstvoll, er verflicht sie außerdem mit dem ihr fremden M o t i v der minne, wodurch die Verzögerung einen besonderen Sinn gewinnt, denn der Minnedienst ist ohne Beständigkeit und Ausdauer — d. h. ohne verstreichende Zeit — nicht denkbar. Außerdem gestaltet er das alte germanische Trinkfest in ein glanzvolles höfisches Zeremoniell um. Die Spannung und Neugier der Hörer wird ja in erster Linie auf das Wie dieser Szene ausgerichtet gewesen sein, weniger auf das in großen Zügen vorhersagbare Was. Auch bei Parzivals Ankunft auf Munsalvassche werden, wie wir sahen, dem Publikum mittels dieses Motivs entscheidende Vorkenntnisse vermittelt. Auch hier folgt, nach der aggressiven Herausforderungsgeste, ein Zeremoniell von beispielloser Großartigkeit, bei dem eine Frau i m Mittelpunkt steht. Wealhtheow hatte den versammelten Männern die Becher gereicht; Repanse de Schoye trägt den Gral, der den Versammelten Speis und Trank spendet. Alles geschieht nach einem vertrauten Muster und ist doch auf beunruhigende Weise ganz anders. Repanse de Schoye hält Distanz. Die Eingliederung des Gastes in die Sippe, diese öffentliche symbolische Geste der Frau, ist fällig, darf aber hier — dem Publikum 35

Ein gesalbter K ö n i g des 12.-13. Jahrhunderts muß das als totalen Identitätsverlust empfunden haben. Anfortas' Bereitschaft, als K ö n i g zu »sterben«, als ein sich jeder Würde entäußerter Mensch aber weiterzuleben, setzt ein für uns kaum noch faßbares Maß an humilitas voraus.

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ist das noch unbekannt! — nicht stattfinden, denn dieser Gast darf weder seine Identität erfahren 36 noch wissen, zu welchem Zweck er sich auf dieser Burg befindet. Trotzdem hat aber die Frau ihm schon ein Zeichen gegeben, indem sie ihm ihren Mantel schickte. Bei diesem Fest, dem jede Freude fehlt und wo er sich fehl am Platz fühlt, trägt er diesen Mantel um die Schultern. Das Publikum ahnt, daß es mit diesem Mantel etwas auf sich hat, weiß aber auch, daß Parzival diese Ahnung nicht teilt. Dem Hörer / Leser werden hier Bruchstücke eines bekannten Musters zugespielt, die sich noch nicht zusammenfügen lassen; es werden Erwartungen geweckt, die Spannung steigert sich. Möglich wird das dem Dichter durch die Verwendung dieses alten Erzählmotivs, das darüber hinaus noch eine weitere Funktion hat. Es erlaubt uns nämlich einen Einblick in das Innere des schweigenden Königs, einer literarischen Gestalt, deren Passivität vielleicht allzu oft den Eindruck einer gelegentlich tadelnswerten Schwäche vermittelt. Es kann hier nicht auf andere Könige — wie Artus, Etzel oder Marke — eingegangen werden. Doch wäre es denkbar, daß die mittelhochdeutschen Dichter ihrem Publikum auch über die Gefühlslage dieser hohen Herren mehr Informationen zugespielt haben, als wir zu wissen meinen.

36 Das heißt: seine Identität als Neffe und Erbe des Gralskönigs. O b man auf der Gralsburg zu diesem Zeitpunkt genau wußte, mit wem man es zu tun hatte, bleibt nach wie vor umstritten. Siehe dazu: Green, vgl. A n m . 29, S. 320-336.

D E R PROZESS M E I S T E R E C K H A R T S U N D D I E

FOLGEN

V o n Georg Steer

I n d e n g l e i c h e n Jahren, i n denen der P r i o r des P r e d i g e r o r d e n s i n E r f u r t , M e i s t e r E c k h a r t 1 , i n deutscher Sprache seine >Reden der U n t e r w e i s u n g < 2 h i e l t schrieb, z w i s c h e n

1294 u n d

1298 3 , verfaßte

Johannes

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D o m i n i k a n e r k o n v e n t i n F r e i b u r g , eine lateinische >Summa confessorum< 5 , die i n n e r h a l b kürzester Z e i t z u m S t a n d a r d w e r k der B e i c h t s u m m e n l i t e r a t u r avancierte. Sie v e r m o c h t e der >Summa< des R a i m u n d v o n P e n n a f o r t e 6 , d e m o f f i z i e l l e n L e h r b u c h des D o m i n i k a n e r o r d e n s 7 , w o h l deshalb d e n R a n g abzulaufen, w e i l sie

1 Grundlegend über Meister Eckharts Leben handelt: Josef K o c h »Kritische Studien zum Leben Meister Eckharts«, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 29 (1959), S. 5-51; 30 (1960), S. 5-52; auch in Josef Koch, Kleine Schriften, 2 Bde. [Storia e letteratura 127/128] Roma 1973, Bd. I, S. 247-347. 2

Meister Eckhart, Die deutschen Werke, hrsg. von Josef Quint [Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. i m Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft], Bd. I - I I I , V , Stuttgart 1958, 1971, 1976 und 1963; Die >Reden der Unterweisung : Quint, DW V , S. 137-376. 3 K u r t Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985, S. 31: »Die >Reden< sind so zwischen 1294 und 1298 entstanden«. 4 Marlies Hamm, »Johannes von Freiburg«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon 4, 2. Aufl., Berlin — N e w York 1983, Sp. 605-611. P. A. Walz »Hat Johann von Freiburg in Paris studiert?«, in: AngelicumW (1934), S. 245-249; A. Fries, »Johannes von Freiburg, Schüler Ulrichs von Straßburg«, in: Recherches de théologie ancienne e médiévale 18 (1951), S. 332-340; W. Trusen, »Forum internum und gelehrtes Recht i m Spätmittelalter. Summae confessorum und Traktate als Wegbereiter der Rezeption«, in: ZRG Kanon. Abt. 57 (1971), S. 83-126; L . E. Boyle, The >Summa Confcssorum< of John of Freiburg and the popularisation of the moral teaching of St. Thomas and of some of his contemporaries [Commemorative Studies I I ] , Toronto 1974, S. 245-268. 5

Das Werk ist bisher nicht ediert. Es ist in annähernd 200 Handschriften und in einem halben Dutzend Drucken bekannt: siehe M . Hamm (Anm. 4), Sp. 606; Th. Kaeppeli, Scriptores Ordinis Fratrum Praedicatorum Medii Aevi I I , Rom 1975, S. 428-436. 6 S. Kuttner, »Zur Entstehungsgeschichte der Summa de casibus poenitentiae des hl. Raymund von Penyafort«, in: ZRG Kanon. Abt. 70 (1953), S. 419-434; Raimundus de Pennaforte, Summa depaenitentia, hrsg. von X . O c h o a / A . Diez [Universa Bibliotheca Juris Vol. 1 Tom. B], Rom 1976. 7

Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Petrus de Tarantasia u.a. wählten 1259 die Summa Raymundi als Lehrbuch des Ordens: sieh Acta capitulorum generalium I, hrsg. von B. M . Reichert [Monumenta ordinis praedicatorum historica 3], Rom 1898, S. 99.

Georg Steer

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den ursprünglichen Gattungstyp >kanonistisches Handbuch für Beichtväter< enzyklopädisch zu einer theologischen Praxissumme weitete. Sie stützte sich dabei auf die Autorität der ganz großen Theologen, auf Thomas von Aquin, Albertus Magnus und auf Petrus von Tarantasia ( + 1270), dem späteren Papst Innozenz V. I n einer deutschen Bearbeitung des 14. Jahrhunderts durch den Dominikaner Berthold 8 , die der Adam Petri-Druck von 1518 >Summ alles rechtem 9 nennt, fand das kanonistisch-theologische Lehrgut des Johannes auch schnell weite Verbreitung i n Kreisen wißbegieriger Laien. Diese konnten unter dem Sachartikel mit der Überschrift >Was man gelauben soll< (G 55) lesen: »Gelauben an die heyligen driualtichait, daz die drey person sint in der gothait vnd doch ain got, ist ain yedsleich mensch schuldig. V n d an die zwelff artickel des heyligen gelauben, die von den heyligen zwelff poten gesaczt sind, sol auch ain yedsleich mensch gelauben. Awer ander pehendichait vnd vernüftige pechantnuzz des götleichen wesens vnd der dreyer personen vnd der artickel des gelaubens sint all läwt nit schuldig zewissen vnd zegelauben, sunder etleich läut mer, etleich mynner, nach dem als ir leben ist. Also ain pfaff ist mer schuldig zewissen dann ain lay, vnd auch ain lay mer dann der ander. Hec Thomas et Petrus super tercium sentenciarum.« Bebendechait übersetzt genau subtilitas™. Die Aussage ist klar: Die theologische Spekulation, die subtilia der Theologie, sind den Gelehrten vorbehalten. Die simplices, die einfältigen Leute, sollen damit nicht 8

Peter Johanek, »Bruder Berthold (von Freiburg)«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 1,2. Aufl. Berlin — N e w York 1978, Sp. 807-813; O. Geiger, »Studien über Bruder Berthold«, in: Freiburger Diö^esanarchiv 21 (1920), S. 1-54; R. Stanka, Die Summa des Berthold von Freiburg. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung [Theologische Studien der österreichischen Leo-Gesellschaft 36], Wien 1937; Marlies Hamm, »Die Entstehungsgeschichte der >Rechtssumme< des Dominikaners Berthold. Ihr Verhältnis zur >Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg und zu deren lateinischen Bearbeitungen«, in: Die >Rechtssumme< Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der >Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg. Untersuchungen I. Hrsg. von Marlies Hamm und Helgard Ulmschneider [Texte und Textgeschichte 1], Tübingen 1980, S. 35-114; Helmut Weck, Die >Rechtssumme< Bruder Bertholds. Die handschriftliche Überlieferung [ T T G 6], Tübingen 1982; Marlies H a m m / H e l g a r d Ulmschneider, »Übersetzungsintention und Gebrauchsfunktion. Die >Rechtssumme< Bruder Bertholds i m Kontext volkssprachlichkanonistischer Rechtsliteratur«, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Hrsg. von K u r t Ruh [ T T G 19], Tübingen 1985, S. 53-88. 9

Die >Rechtssumme< Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der >Summa Confessorum< des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen A, B, C mit textgeschichtlichen Lesarten, hrsg. von G. Steer und W. Klimanek, D . Kuhlmann, F. Löser, J. Mayer, K . H . Südekum, 5 Bde. [ T T G 11-15), Tübingen 1986. 10

Das Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis y hrsg. von L . Diefenbach, Frankfurt a. M . 1857, S. 562 bietet als volkssprachliche Äquivalente: behendekeit, t(u versten hohe ding, spießig fint, spit^fundikait. Die Textstelle bei Johannes von Freiburg und Bruder Berthold hat Bezug auf Thomas von Aquin, S. th. I I - I I , q. 2, a. 7: »alias autem subtiles considerationes circa incarnationis articulos tenentur aliqui magis vel minus explicite credere.«

Der Prozeß Meister Eckharts und die Folgen

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behelligt werden. Ganz anders Meister Eckhart, der die Position der Seelsorgskanonisten genau kennt: »Auch wird man sagen, daß man solche Lehren — die er i m >Trostbuch< dargelegt hat — nicht für Ungelehrte sprechen und schreiben solle. Dazu erkläre ich: Soll man nicht ungelehrte Leute lehren, so wird niemals wer mit Lehre bedacht, und so kann niemand lehren oder schreiben. Denn darum lehrt man die Ungelehrten, daß sie aus Ungelehrten zu Belehrten werden. Gäbe es nichts Neues, so würde nichts Altes. >Die gesund sindbedürfen der Arznei nicht< (Lk. 5,31). Dazu ist der Arzt da, daß er die Kranken gesund mache. Ist aber jemand, der diese Worte nicht richtig versteht, was kann der Mensch dafür, der dieses Wort, das recht ist, recht äußert? Sankt Johannes verkündet das heilige Evangelium allen Gläubigen und auch allen Ungläubigen, auf daß sie gläubig werden, und doch beginnt er das Evangelium mit dem Höchsten, was ein Mensch über Gott hier auszusagen vermag, und oft sind denn auch seine sowie unseres Herrn Worte unrecht aufgefaßt worden« 11 . Die dezidierte Meinung Eckharts in dieser zentralen Frage der Verkündigung ist: »Man soll von großen und hohen Dingen mit großen und hohen Sinnen sprechen und mit erhabener Seele«12: vor allen Menschen. Und Eckhart tat dies auch. I n der Predigt Quint 53 formuliert er die vier großen Themen, die res magnae seiner Predigt: »Wenn ich predige, so pflege ich zu sprechen von Abgeschiedenheit und daß der Mensch frei werden soll von sich selbst und allen Dingen. Z u m zweiten, daß man wieder eingebildet werden soll in das einfältige Gut, das Gott ist. Z u m dritten, daß man des großen Adels gedenken soll, den Gott in die Seele gelegt hat, auf daß der Mensch damit auf wunderbare Weise zu Gott komme. Z u m vierten von der Lauterkeit göttlicher Natur — welcher Glanz in der göttlichen Natur sei, das ist unaussprechlich« 13 . Theologische subtilia in der 11

>Buch von göttlicher Tröstungc »Ouch sol man sprechen, daz man sogetäne lere niht ensol sprechen noch schriben ungelerten. Dar zuo spriche ich: ensol man niht leren ungelerte liute, so enwirt niemer nieman geleret, so enmac nieman leren noch schriben. Wan dar umbe leret man die ungelerten, daz sie werden von ungeleret geleret. Enwaere niht niuwes, so enwürde niht altes. >Die gesunt sintdie enbedürfen der arzenie nihtBuch von göttlicher Tröstungc »Ein heidenischer meister, Senecä Misit dominus manum suamc »Swenne ich predige, so pflige ich ze sprechenne von abegescheidenheit und daz der mensche ledic werde sin selbes und aller 4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

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Georg Steer

Volkssprache für die simplices, die einfältigen Leute — so erschienen den Traditionalisten die Inhalte der Predigt Meister Eckharts. Und Eckhart scheut sich tatsächlich nicht, Philosophemen und Theologumena in der Volkssprache Ausdruck zu verleihen. N u r ein Beispiel. Aus neuplatonischer Denkform kann von Gott nur in der Negation beziehungsweise in hyperbolischer Aussage angemessen gesprochen werden. Wenn >Sein< das >Sein der geschaffenen Welt< ist — so versteht Eckhart >Sein< vor dem zweiten Pariser Magisterium — , dann kann er in der Predigt Quint 33 >Quasi Stella matutina< von Gott sagen, daß er >Nichtsein< = unwesen sei bzw. >über dem Seine »Gott wirkt über dem Sein. . . Er wirkt i m Nichtsein. Ehe es noch Sein gab, wirkte Gott; er wirkte Sein, als es noch gar kein Sein gab. Grobsinnige Meister sagen, Gott sei ein lauteres Sein. Er aber ist so hoch über dem Sein wie der oberste Engel über einer Mücke ist. Ich spräche durchaus Unrichtiges, wenn ich Gott ein Sein nennen würde, so etwa als bezeichnete ich die Sonne als blaß oder schwarz. . . Wenn ich aber gesprochen habe, Gott sei nicht ein Sein und über dem Sein, habe ich ihm damit nicht sein Sein abgesprochen, sondern ich habe es in ihm erhöht« 14 . Was vom >Sein< gesagt werden muß, gilt ebenso von der >GüteQuasi Stella matutinac »Got würket über wesene in der wîte. . . er würket in unwesene; ê denne wesen waere, dô worhte got; er worhte wesen, dô niht wesen enwas. Grobe meister sprechent, got si ein lûter wesen; er ist als hoch über wesene, als der oberste engel ist über einer mücken. Ich spraeche als unrehte, als ich got hieze ein wesen, als ob ich die sunnen hieze bleich oder swarz. . . Daz ich aber gesprochen hân, got ensi niht ein wesen und sî über wesene, hie mite enhân ich i m niht wesen abegesprochen, mêr: ich hân ez in i m gehoehet« (Quint, DW I , S. 145,5-146,6; Nhd. Übersetzung nach K u r t Ruh In agro dominico< v o m 27. März 1329 verurteilt ihn als häretisch 17 . Eckhart hat den Satz in seiner >Rechtfertigungsschrift< energisch verteidigt: Gott stehe »über allen Namen« und dies müsse den Menschen zur »Hervorhebung von Gottes Majestät« kundgetan werden 1 8 . I m Rahmen des Inquisitionsverfahrens gegen Eckhart wurden insgesamt 4, wenn nicht sogar 5 Listen mit anstößigen Sätzen erstellt. Bekannt sind nur Liste 1 und 2 durch die Handschrift 33 b des Soester Stadtarchivs, die auch Eckharts >Rechtfertigungsschrift< überliefert 19 . Die erste Liste vom September 1326 enthält 49 Sätze: 15 aus dem >Liber BenedictusMiroir des simples ämes< wurde ebenfalls den Flammen übergeben. Trotz dieser Ächtung war dem >Speculum< eine beispiellose Verbreitung beschieden. I n 4 Sprachen und 6 Fassungen kam es i m Spätmittelalter in Umlauf 4 8 . Die Jesuaten in Venedig gerieten in den Ruf, das >Speculum simplicium 44

>Buch von göttlicher Tröstungc »Mir genüeget, daz in mir und in gote war si, daz ich spriche und schribe« (Quint, DW V , S. 60, 13f.). 45 Thomas v o n A q u i n , S. th. I I I , q. 40, a. 1, ad. 2; vgl. dazu Humbertus de Romanis. De vita regulari. Ed. J. J. Berthier, V i l . I., Torino 1956, S. 48ff.; Alois M . Haas, »Die deutsche Mystik i m Spannungsbereich v o n Theologie und Spiritualität«, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformiert, Symposion Wolfenbüttel 1981, Hrsg. von L. Grenzmann und K . Stackmann, Stuttgart 1984, S. 604-639, hier S. 614.

« K u r t h Ruh {Anm. 3}, S. 60. 47

Über Marguerite Porete und den >Miroir des simples ämes< sich Romana Guarnieri, »II movimento del libero spirito. Testi e documenti«, in: Archivio Italianoper la Storia della Pietä 4 (1965), S. 353-708 (Text des >Miroir des simples amesLe miroir des simples ämes< der Marguerite Porete«, in: Verbum et Signum. Festschrift Friedrich Ohly, München 1975, Bd. I I , S. 365-387 = Kleine Schriften, Bd. I I : Scholastik und Mystik im Spätmittelalter, Berlin — N e w York 1984, S. 212-236; Ders. »Beginenmystik. Hadewijch, Mechthild von Magdeburg, Marguerite Porete«, in: ZfdA 106 (1977), S. 265-277, Ders. ( A n m . 3 ) , S. 95-114. 48

Z u r Wirkungsgeschichte des >MiroirBulle< n u r i n der Stadt K ö l n , i m K ö l n e r B i s t u m u n d i n der K ö l n e r K i r c h e n p r o v i n z (in tuis civitate, diocesi et provincia)

zu publizieren sei51.

E i n e B e k a n n t m a c h u n g i n der ganzen G e r m a n i a h i e l t er f ü r überflüssig.

Im

gesamten o b e r d e u t s c h e n R a u m v e r l i e f die T e x t t r a d i e r u n g , o h n e v o n der E x i s t e n z

49 Die Zahlenangabe Quints ist mißverständlich und erweckt den Eindruck, als hätten die Schriften Eckharts weiteste Verbreitung gefunden. Nach K u r t Flasch, Mittelalter [Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung 2], Stuttgart 1982 »zählen die Handschriften mit Eckharts deutschen Predigten nach Hunderten« (S. 433). Dies stimmt so nicht, worauf K u r t Ruh im Verfasserlexikon des Mittelalters I I , Berlin Buch der göttlichen Tröstungc 4; >Sermo v o m edlen Menschenc 3; >Rede der underscheidungec 44; >Von abegescheidenheitc 32; von den bisher von Quint edierten 86 Predigten haben N r . 2 und 45 die breiteste Überlieferung mit 22 und 21 Textzeugen, 33 Predigten weisen zwischen 10 und 20, alle übrigen weniger als 10 Textzeugen auf. A m Maßstab geistlicher Prosadenkmäler des Spätmittelalters gemessen, die nicht selten in über 100 Handschriften überliefert sind, haben so die Traktate >Rede der unterscheidunge< und >Von abegescheidenheit< eine mittelbreite, die Predigten generell eine schmale Überlieferung; sehr viel breiter ist z.B. Taulers Predigtwerk tradiert«. 50 J. Koch, < A n m . 1 > I I , S. 29. Der Brief Heinrichs von Virneburg an Johannes X X I I . ist nicht erhalten, w o h l aber die A n t w o r t des Papstes. Sie lautet: »Henrico archiepiscopo Coloniensi. Anxiari te, frater, non oportet ratione negocij quondam Aycardi de ordine predicatorum. Nam super illo pertinenter proceditur et etiam dante domino celeriter ad decisionem debitam procedetur. Datum Avenione ij kal. Maii anno duodecimo« (J. K o c h ( A n m . 1 ) I I , S. 29, A n m . 63). 51

M . H. Laurent O. P. Bulle< Kenntnis zu haben 52 . Der Franziskaner Marquard von Lindau konnte deshalb in Straßburg bedenkenlos den eckhartschen >Johanneskommentar< ausschreiben. Und ebenso bedenkenlos konnte in Erfurt (oder Köln) ein Dominikaner die Predigtsammlung >Paradisus anime intelligentis< nach 1330 arrangieren, ohne auf die Anweisungen der >Bulle< Rücksicht nehmen zu müssen. Sie ließ sogar Heinrich Seuse die Freiheit, fernab von K ö l n den Meister in seinem >Buch der Wahrheit< zu verteidigen. Entscheidend ist 4.: Die Ausstellung der >Bulle< sieht Papst Johannes X X I I . lediglich als »seelsorgliche Maßnahme« 53 an: Er verwirft die beanstandeten Lehren Eckharts in einer bestimmten Absicht: »damit derartige Artikel oder ihr Inhalt die Herzen der Einfaltigen, denen sie gepredigt worden sind, nicht weiter anstecken« 54 . Wer sich nicht zu den simplices zählen wollte oder mußte — die litterati, die docti, lectores und magistri — , konnte die Schriften Eckharts ohne Gewissensbedenken lesen: also Theologen allemal, aber auch Klosterleute. Nikolaus von Kues hatte keine Scheu, sich alles in einer Handschrift zusammenschreiben zu lassen, was er von Eckhart fand. Und schließlich 5.: Die Wirksamkeit der >Bulle< sieht Josef Koch vor allem darin beeinträchtigt, daß sie »nicht angibt, wo die inkriminierten Artikel in Eckharts Schriften und Predigten stehen« 55 . Wer sollte denn diesen ansehen können, wo sie etwas für den Glauben Gefährliches enthielten? Der Schlag, den der Kölner Erzbischof gegen die Ketzerei Eckharts zu führen gedachte, kam beinahe einem Schlag ins Wasser gleich. Die Konsequenz für die Eckhartphilologie ist aber auch: Das beklagte »Gewirr« 5 6 der Textüberlieferung und die partielle Anonymität müssen anders erklärt werden als mit dem Hinweis auf die kirchliche Verurteilung.

52 Wilhelm von Ockham, selbst in A v i g n o n in einen Prozeß verwickelt, wußte 1338 in München nicht einmal, daß Eckhart verurteilt wurde: V g l . >Dialogus Magistric »Pro quibus (scilicet absurditatibus) non fuit damnatus, nec assertiones suae praescriptae et aliae statim damnatae fuerunt, sed cardinalibus traditae sunt, ut deliberarent an inter haereses essent computandae. . . nec postea papa aliquis determinavit quaestiones seu conclusiones praedictas« (J. Koch, Bulle< selbst bestätigt, daß Eckhart seine Predigten auch in Schriften niedergelegt hat: que etiam redegit in scriptis 61. 4. Auch die >Rechtfertigungsschrift< bezeugt Eckhart als Verfasser seiner Predigten. Ihr ist sogar zu entnehmen, daß Eckhart bereits mit fehlerhaften und sinnentstellenden Redigierungen seiner Predigten konfrontiert wurde. Er verwahrt sich gegen sie; vor allem, daß sie ihm untergeschoben und aus ihnen Sätze zitiert wurden, wie aus eigenen Predigten mit korrektem Wortlaut. Zur Predigt >Intravit Jesus in quoddam castellum< stellt er richtig: »Ich habe zu bemerken, daß ich in dieser Predigt, die mir schon vor langem einmal vorgehalten wurde, sich vieles findet, was ich niemals gesagt habe. Auch ist viel Sinnloses, Dunkles, Wirres und gleichsam Schlaftrunkenes darin, weshalb ich es ganz und gar von mir wies« 62 . Eine sinnentstellende Version seiner >Bürgelinclayjeu de mots< que par le sentiment religieux.« (»Réflexions sur les sources et la structure de A Litanie de John Donne«, 334, A n m . 18). 20

The Poems of fohn Donney ed. Grierson, I, 353, V. 21-22.

Liturgie und Lyrik: John Donnes »The Litanie«

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seiner Beziehung zum Menschen (genauso wie der Mensch nur in seiner Beziehung zu Gott existiert), 21 und deshalb bildet Gottes Menschwerdung das Zentrum seiner Argumentation. Das Gedicht schließt mit einem Argument, das die Sünde betrifft. Donne erinnert Christus, der jetzt Lamm Gottes (Agnus Dei) genannt wird, daran, daß er die Sünde auf sich genommen habe (»O Lambe of God, which took'st our sinne/Which could not stick to thee«), und bittet ihn, diese nicht zum Menschen zurückkehren zu lassen. Er untermauert seine Bitte argumentativ durch einen Hinweis auf die Freiheit von Mensch und Gott (»Patient and Physition being free«, 251) und einen letzten Appell an die Vernunft: »As sinne is nothing, let it no where be.« (252). Dies ist ein philosophisches, theologisches und moralisches Argument. Donne fordert Gott auf, er solle die Sünde, da sie »nichts« sei, keine Substanz habe, nicht existieren lassen. Man ist fast versucht, Mitleid mit dem Lamm Gottes zu empfinden, das einer derartig subtilen und insistenten Argumentation ausgesetzt wird. 7 Der Vergleich zwischen der traditionellen Litaneiform und ihrer Adaption durch Donne hat es uns ermöglicht, die besonderen dichterischen Qualitäten des lyrischen Werks zu isolieren und zu beurteilen. Donne folgt i m großen und ganzen der Struktur der Litanei, und er behält das immer wiederkehrende Muster von Invokation und Bitte bei, aber er erweitert und kompliziert dieses in einer Weise, die über alles hinausführt, was wir in der Liturgie kennen. I n den Abweichungen von der vorgegebenen Form begegnen wir dem schöpferischen Dichter bei der Arbeit. Donne gestaltet den Text, der für den praktischen Zweck i m Gottesdienst gedacht war, zu einem individuellen Gespräch mit Gott und einer Darstellung der spirituellen Lage des Ichs um und — das ist nicht die geringste Leistung des Gedichts — zu einer persönlichen Erforschung und Klärung des Wesens des christlichen Glaubens. Das Urteil von Kritikern wie Helen Gardner 2 2 und Wilbur Sanders 23 , für die Donnes Gedicht als liturgische Äußerung nicht überzeugend ist und die von einer Unvereinbarkeit zwischen dem Gegenstand des Gedichts und der gewählten Form sprechen, ist der lyrischen Komposition nicht angemessen. Gleichermaßen gründet sich Robert Silhols Verdikt, Donnes »Litanie« sei kein religiöses Gedicht, weil es sich darin nicht um ein einfaches hingebungsvolles Gebet handele und weil sich darin 21

Auch in Donnes Liebesdichtung und in seinen Briefen findet das Ich seine Identität nur in der Beziehung zu einem D u . Vgl. Vf., »>My Seife, the Hardest Object of the Sightc The Problem o f Personal Identity in John Donne's Poetry«, in Poetry and Epistemology: Turning Points in the History of Poetic Knowledge: Papers from the International Poetry Symposium Eichstätt 1983. Ed. by Roland Hagenbüchle and Laura Skandera (Regensburg, 1986), 5771. 22

The Divine Poems of John Donne, xxviii.

23

Wilbur Sanders, John Donne's Poetry (Cambridge, 1971), 122.

Wolfgang G. Müller

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schlechter Glaube (»la mauvaise foie du poète«) 24 und latente Rebellion bezeugten (»une révolte latente«) 25 , auf einer zu engen Konzeption religiöser Dichtung. Religiöse Dichtung ist unbestritten ein gefährlicheres Medium als weltliche Dichtung. Als bloßer Glaubensausdruck ist sie dichterisch gewöhnlich wenig interessant und sinkt leicht ins Sentimentale und Klischeehafte ab. Murray Roston, ein hervorragender Kenner religiöser Dichtung, sagt: »Religious poetry is intrinsically a more treacherous vehicle than secular verse. It can too easily collapse into self-righteous sentimentality or theological cliché for reasons inherent in the religious impulse itself.« 26 Und wenn die religiöse Lyrik über das hinausgeht, was Dr. Johnson als »calm belief and humble adoration« bezeichnet, 2 7 dann läuft sie Gefahr, die Grenzen der theologischen Lehrmeinung zu überschreiten. Wenn wir aber gedankliche und sprachliche Originalität in der Dichtung erwarten, so sollten wir diese in religiöser Dichtung auch dulden. Wenn religiöse Lyrik das Erzeugnis eines kreativen Geists ist, kann sie nicht bloßer Ausdruck einer akzeptierten D o k t r i n sein. I n ihr manifestieren sich geradezu zwangsläufig individuelle Einsichten und Standpunkte, die sich nicht immer mit der orthodoxen Theologie vereinbaren lassen. Donnes Umgestaltung der offiziellen Form der Litanei und seine Abkehr von dem gemeinschaftlichen Charakter und der ungebrochenen Frömmigkeitshaltung des liturgischen Gebets ist ein eindrucksvolles Zeugnis für diesen Sachverhalt.

24

»Réflexions sur les sources et la structure de A Litanie de John Donne«, 335, 339.

25

Ibid., 345.

26 The Soul of Wit : A Study of fohn Donne (Oxford, 1974), 152. Vgl. Vf.s Rezension in English Studies , 59 (1975), 364-367. 27 »Life o f Milton«, Lives of the English Poets. Ed. by George Birkbeck H i l l (New York, 1967), I, 182.

T H E C O N C E P T OF FELIX CULPA I N T H E NOVELS OF NATHANIEL HAWTHORNE By Rolf Lessenich

The Bible has two concepts of death and rebirth, a physiological and a theological one. Even before New Testament times, the O l d Testament Jew did not understand death exclusively as a physical consequence of the Fall of man. To him, death could also mean the end of man's religious obedience to God and God's law in proud hybris, as, originally, Adam's and Eve's disobedience had been an act of sinful pride: »radix malorum est superbia«. God's repeated threat of death i f Adam and Eve tasted of the forbidden fruit, »thou shalt surely die«, still therefore remains ambiguous: Christians interpret it in the sense of a transition from bodily immortality to bodily mortality, Jews interpret it in the sense of a spiritual death in consequence of the first sin (denying the Christian belief in Original Sin and the Fall). 1 The concept offelix culpa, however, has its origin in the New Testament, in the third chapter of the Gospel according to St. John, where Jesus explains to Nicodemus the Pharisee the difference between bodily death and bodily rebirth on the one hand and spiritual death and spiritual rebirth on the other hand: Verily, verily, I say unto thee, Except a man be born again, he cannot see the kingdom o f G o d

-

(John 3. 3)

These famous words, which Jesus then comments upon himself, mean that man must die spiritually and be reborn spiritually in his life upon the earth; that man must sin and repent and be delivered, in order to be physically reborn and accepted by God after his physical death. Lord, then said I, On me one breath, And let me dye before my death I

so Henry Vaughan exclaims at the end of his poem »Regeneration«, the introductory poem of his collection of divine poems, Silex Scintillans (1650), in which he approves the sin of vain pride that produced his secular poems, because that sin of vain pride made his spiritual rebirth possible. The repentant sinner stands in expectation of deliverance. 1 v. The Pentateuch and Haftorahs, ed. J. H. Hertz, (London, 1929-1936), I. 21, for the Jewish refusal to believe in man's original physical immortality.

6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

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Rolf Lessenich

From this point of view of the history of salvation the Fall of man appears as a fortunate fall, because it admitted evil as prerequisite to the attainment o f a higher mode of existence. As heir to Adam and Eve, every man repeats the original Fall by breaking away from God in an act of sinful pride, »superbia«, the first of the Seven Deadly Sins. Born in natural wildness, the nature of Hawthorne's Pearl and Donatello, his o w n individual fall establishes the condition for his rise to a higher mode of existence than his original wildness. So Christians interpreted the classical and archetypal quest, for example in the circuitous journey of Ulysses, who leaves his native Ithaca, then is lost erring on the wild sea (a Christian symbol of guilt as in Coleridge's Ancient Mariner), and finally returns home to Ithaca a wiser and a better man. 2 O n this pattern Schelling and Coleridge based their romantic dialectic of thesis, antithesis, and synthesis. A n d this pattern contains the basic concept o f felix culpa or happy guilt, the core of the autobiographical self-understanding of Coleridge and Wordsworth and the main theme of three of Hawthorne's four major novels. 3 The fixation of American studies on Nathaniel Hawthorne's Puritan heritage and Puritan understanding of sin has led to a narrowed view of the importance of felix culpa to his whole thought and work. I t is exclusively understood in context w i t h New England's specifically Puritan concept of guilt and punishment — Hawthorne's and Poe's and Melville's »power of blackness« — , and largely believed to be limited to The Marble Faun. Austin Warren's classical introduction to Hawthorne in the American Writers Series and Agnes McNeill Donohue's recent study of Hawthorne's Puritanism, reading Calvin's writings into the Hawthorne canon, are as typical of that biassed approach as Henry G. Fairbanks's article, denying Hawthorne's principle of evil as the necessary root of good. 4 I 2

v. M . H. Abrams, Natural Supernaturalism: Tradition and Revolution in Romantic Literature, (New York and London, 1971), chapter I V . The source were the philosophical writings of Plotinus, the influential Greek neo-Platonist ( 3 r d century A D ) , often called >the father of romantic philosophyromances< (allied to general and symbolic truth) from >novels< (allied to incidental and plain fact); v. his >Preface< to The House of the Seven Gables, and H. H . Waggoner, Hawthorne: A Critical Study, (Cambridge, Mass., 1955), pp. 37-38. Fielding, for one, could easily have refuted Hawthorne's implicit attack against the eighteenth-century English novel. For Hawthorne's uncertain wavering between realism and symbolism v. Charles Feidelson, Symbolism and American Literature, (Chicago, 1953), pp. 6-16. 4

Austin Warren (ed.), Hawthorne: Representative Selections, (New York, 1934), and Agnes M c N e i l l Donohue, Hawthorne: Calvin's Ironic Stepchild, (Kent, Ohio, 1984). Jane Lundblad,

The Concept of Felix Culpa

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would rather maintain Hawthorne's conscious (though not his subconscious) and more radical break w i t h the Calvinistic tabu of sin and see him in the literary as well as philosophical tradition of English and European romanticism. It is only the acceptance and repentance of his necessary sinfulness that educates man, as only dung makes plants grow and only winter produces spring; man is free to repent, and God w i l l not fail to extend his gracious help to make him work out his o w n salvation. A close unprejudiced reading of Hawthorne w i l l reveal the omnipresence and centrality of the theme of indispensible sin as felix culpa throughout his narratives, both in the theological and in the secular symbolic implications derived from romantic dialectical philosophy. Hester Prynne in The Scarlet Letter (1850), Hepzibah and Clifford Pyncheon in The House of the Seven Gables (1851), and Hilda in The Marble Faun (1860) are all guilty of the sin of pride. I n the two former novels, it is hereditary pride, both in the theological sense of original sin and in the genealogical sense of aristocratic tradition. The Prynnes and the Pyncheons are proud aristocrats, and in spite of the two novels' wide difference in place and time of action their mansions appear in the same light of decay and death, symbolizing the sinful pride of their owners. Theologically, sin to Hawthorne is perverted virtue, and this is the reason why Hawthorne shapes the first half of The Scarlet Letter on the model of the perverted world. The novel's scene is mid 17 th -century Puritan Boston. The adulteress Hester Prynne, who refuses to disclose the name of her partner in sin, gives birth to an illegitimate daughter, Pearl, in prison. For this reason the strict judges do not pass the death-sentence provided for such a crime, but sentence Hester Prynne to the pillory and to a life-long wearing of the scarlet letter A for A D U L T E R Y . A t the beginning of the novel, when Hester, Pearl on her arm and the scarlet letter on her dress, is led from prison to the scaffold w i t h the pillory, Hawthorne makes it clear that not only Hester has perverted divine law by adultery, but that the Puritan community has also perverted divine law by turning the religion of love into a religion of hatred. The women round the scaffold who feast their eyes on Hester's shame, viragos of coarse constitution symbolic of their coarse morality, complain about the punishment o f the adulteress which in their eyes is not strict enough.

Hawthorne and the European Literary Tradition, (Uppsala, 1947), does not enter into opposition against the Calvinistic and Puritan interpretation o f Hawthorne because she examines only Hawthorne's literary, not his philosophical, debt to romanticism. Franz L i n k , Die Er^ahlkunst Nathaniel Hawthornes, (Heidelberg, 1962), p. 123, and Geschichte der amerikanischen Er^ählkunst im 19. Jahrhundert, (Stuttgart, 1980), p. 151, like most other American scholars, admits Hawthorne's break w i t h Calvinism, but credits him w i t h greater pessimism than I w o u l d (and consequently w i t h a lesser importance o f felix culpa in his thought and works). So does H. G. Fairbanks, »Sin, Free W i l l , and >Pessimism< in Hawthorne«, PMLA, vol. 71 (1956), pp. 975-989. 6*

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»Be n o t r i g h t e o u s o v e r m u c h « demands t h e B i b l e i n Ecclesiastes 7. 16, be n o t » m e r c i f u l o v e r m u c h « d e m a n d the v i r a g o s i n p e r v e r s i o n o f the b i b l i c a l verse. 5 T h e y are r e m i n i s c e n t o f the tricoteuses o f the F r e n c h R e v o l u t i o n , an association w h i c h H a w t h o r n e enforces b y c o m p a r i n g the p i l l o r y w i t h the » g u i l l o t i n e a m o n g the terrorists o f France«. U n c h r i s t i a n t e r r o r usurps the place o f C h r i s t i a n c h a r i t y . L i k e the g u i l l o t i n e , t h e p i l l o r y is a » c o n t r i v a n c e o f w o o d a n d i r o n « , and w o o d a n d i r o n s y m b o l i z e t h e u n c h r i s t i a n hardness o f the Puritans. T h e y h a d b u i l t t h e i r p r i s o n o f s o l i d oak a n d o f s o l i d i r o n , b u t fifteen t o t w e n t y years later t h e oak h a d b e g u n t o r o t a n d t h e i r o n t o rust, whereas t h e tender rose-bush i n f r o n t o f t h e prison, symbolizing compassion and charity, had survived. 6

Similarly,

the

c o r p u l e n c e o f the coarse m e n a n d w o m e n o f the 1 7 t h c e n t u r y , s y m b o l i z i n g t h e i r m o r a l coarseness, h a d i n the course o f t i m e y i e l d e d t o finer

constitutions,

s y m b o l i z i n g m o r a l delicacy, l o v e , a n d forgiveness. G o d ' s p l a n o f s a l v a t i o n h a d turned evil into good. T h e m o s t h a r d - h e a r t e d a m o n g the gapers r o u n d the p i l l o r y , w h o gloats m o s t o v e r Hester's p a i n , is a leech o r p h y s i c i a n just c o m e o u t o f the w o o d s a r o u n d B o s t o n , a n d the w o o d s s y m b o l i z e a m o r a l wilderness. T h i s p h y s i c i a n , R o g e r C h i l l i n g w o r t h , is Hester's betrayed h u s b a n d , w h o , h o w e v e r , does n o t reveal h i m s e l f as such t o t h e i n h a b i t a n t s o f B o s t o n . H i s t e l l i n g n a m e discloses his character: he h a d been >worthy< before he h a d b e c o m e >chillingleech< Simon Forman as the false friend and murderer of Sir Thomas Overbury in the tower of London, recalls Maturin's Melmoth the Wanderer obtruding his diabolical friendship upon men in distress (1820). Also v. Alfred S. Reid, »The Yellow Ruff« and »The Scarlet Letter«. A Source of Hawthorne's Novel, (Gainesville, Florida, 1955). For Hawthorne's very romantic distrust of the >experimenter's< head (reason) usurping his heart (emotions) v. Franz L i n k , Geschichte der amerihanischen Er^ahlkunst im 19. fahrhundert, p. 123. 8

The common nickname of such desecrators of graves, >resurrection mem, points in the direction in which Chillingworth w i l l unintentionally effect salvation, as a »diabolical agent« w i t h a temporarily limited »Divine permission«. 9 Pearl is the hypocritical Hester's alter ego or doppelganger, the incarnation (both literal and symbolic) of her lingering sinfulness as long as it lasts.

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T h i n g s are i n this hopeless state o f t o t a l p e r v e r s i o n , w h e n the n o v e l overleaps seven years. T h i s n u m b e r is stressed again a n d again. Seven is the s y m b o l o f c o m p l e t i o n : G o d c o m p l e t e d the w o r l d i n seven days; every seventh year o f the Jews was a Sabbath Year, a n d every seven times seventh year was a Year o f J u b i l e e , a n d h u m a n life is s u b d i v i d e d i n t o seven ages. 1 0 T h i s n u m b e r s y m b o l , l i k e the rose s y m b o l at the b e g i n n i n g o f the n o v e l , p o i n t s f o r w a r d t o the i m p e n d i n g c o m p l e t i o n o f a d i v i n e r e d e m p t i o n , m u c h l i k e the n u m b e r seven i n the t i t l e o f The House of the Seven Gables, m u c h l i k e the seven-branched m e n o r a h o f the Jews i n t h e d i a l o g u e b e t w e e n H i l d a a n d K e n y o n a n d l i k e the seven arms stretched o u t t o M i r i a m a n d D o n a t e l l o i n The Marble

Faun. n

I n those seven years w h i c h t h e n a r r a t i v e o f The Scarlet Letter

passes o v e r ,

D i m m e s d a l e has b e c o m e e v e n paler a n d sicker a n d C h i l l i n g w o r t h e v e n m o r e d e v i l i s h a n d creeping. A s yet, w e c a n n o t see h o w g o o d w i l l g r o w o u t o f e v i l . A s yet,

everything

is

falsehood

and

deceit.

As

Dimmesdale's

holiness

and

C h i l l i n g w o r t h ' s m e d i c a l profession are mere o u t w a r d s h o w , so is H e s t e r P r y n n e ' s asceticism. B e h i n d her mask o f ascetic a n d charitable s e l f - h u m i l i a t i o n H e s t e r hides a n e w s p i r i t o f s i n f u l p r i d e w h i c h has d e v e l o p e d t h r o u g h seven years, a s p i r i t o f anarchist f r e e - t h i n k i n g ,

a n d a c o n t i n u a l l y n o u r i s h e d passion f o r

Arthur

10 This number seven is frequently introduced even before chapter X I I I , indicating salvation to be completed. So is the number nine in the many references to »noon« or »nona hora«, the hour o f Christ's death preceding the hour o f Christ's resurrection (e. g. 1.153,154, 157). 11 The impending completion o f a divine redemption is already hinted at in the introductory chapter to The Scarlet Letter, >The Custom-HouseThe Canterbury Pilgrims< (1851), and Waggoner, Hawthorne, p. 262.

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vanquished. W i t h the dying man's prophetic eyes Arthur Dimmesdale sees the wisdom of divine Providence, which allows man to fall and to suffer so that he may redeem himself and reach a higher and nobler innocence: G o d knows; and He is merciful! He hath proved his mercy, most o f all, in my afflictions. By giving me this burning torture to bear upon my breast! By sending yonder dark and terrible old man, to keep the torture always at red heat! By bringing me hither, to die this death of triumphant ignominy before the people! Had either o f these agonies been wanting, I had been lost for ever! Praised be his name! His w i l l be done! Farewell! 16

Retrospectively, Dimmesdale's dying words show Hawthorne's answer to the problem of theodicy. Sin and suffering are necessary preconditions for spiritual rebirth and redemption. Had Dimmesdale not gone so far astray, he would not have fallen deeper and deeper into sin and suffering, and had he not suffered so extremely, he would not have found his way to salvation. This concept offelix culpa runs through the novels of Hawthorne. Chillingworth, the physician, gathers weeds on cemeteries, which he turns into medicine. Weeds are a symbol of sin in Hawthorne and in the whole Christian tradition of symbolism. E v i l is turned into good, and it is a significant inventive irony that Hawthorne has Chillingworth, the devil, turn evil into good. He, convinced that he is God's adversary, is really God's tool of salvation. He is, as Goethe says, »ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse w i l l und stets das Gute schafft« 17 . Out of all the evil in the novel good grows organically, according to God's plan of salvation. Hester Prynne, the whore of Babylon in the mask of the repentant sinner, nevertheless does much good in her charitable activity. Pearl, the child of sin, self-willed, stubborn, cruel as she is, nevertheless does much good in torturing her mother and thus paving her way from suffering to salvation, a »stumbling-block« in the biblical sense to make Hester fall and rise the wiser and higher. 1 8 Chillingworth is to Dimmesdale what Pearl is to Hester, pointing his finger to the brand of sin. Chillingworth, the conventional devil in the mask of a friend, the cruel experimenter steeped in dark hellish alchemy and heathen healing-magic, nevertheless does much good in prolonging Dimmesdale's life and keeping his sin

16

Ed. cit. I. 256-257.

17

Goethe, Faust I (1808), >StudierzimmerThe LeechDimmes-daledimmes-dale< (as the reality o f life) to >blithe-dale< (as a Utopian dream of pantisocratic romantics and Transcendentalists lost in experiments like Brook Farm 1841 -1847); cf. Hawthorne, The Blithedale Romance (1852), and M r . Smooth-it-away in >The Celestial Railroad< (1846). 22

Ed. cit. I. 225.

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unjustified. 23 When Dimmesdale's guilt weighs heaviest his suffering is strongest, and when his suffering is strongest his preaching is best. His best sermon follows his agonizing nightly vigil on the scaffold, where he seeks a wrong road to salvation in the flagellant manner of Roman Catholic penitents, and his very best sermon follows the second hour before his death and confession, when sin is deepest and suffering strongest: According to their united testimony, never had man spoken in so wise, so high, and so holy a spirit, as he that spake this day; nor had inspiration ever breathed through mortal lips more evidently than it did through his. 2 4

The end of the novel, that »darkening close of a tale of human frailty and sorrow«, is yet full of joy and hope, symbolized in light coming out of darkness as good comes out of evil. 2 5 Arthur Dimmesdale's triumphant death promises resurrection, as does his Christian name; Pearl is humanized by the pain she feels on seeing her father die; Chillingworth the devil is conquered but repents on his death-bed, giving the lie to his former Calvinistic belief in being predestined for devilry; Hester Prynne is redeemed from her pride; and the Puritans are, in the course of time, redeemed from their hard-heartedness, according to the prophetic symbol of the tender rose outliving oak and iron which illuminates the darkness of the novel's beginning. The Fall of man is repeated again and again, not by force of predestination, but by free w i l l and choice. As Hawthorne put it in The House of the Seven Gables, every successive inheritor committed »anew the great guilt of his ancestor« and incurred »all its original responsibilities«. 26 Man again and again decides to pervert good into evil and so makes it possible for himself to turn that evil into something better and nobler than the good which he had perverted. Hawthorne's next major novel, The House of the Seven Gables, teaches the same doctrine, though in a less sombre and much more humorous way. The psychically weak and unstable author wrote it in a far more genial mood, enabling him to view felix culpa both from a tragic and a comic angle and to leave out the sombre doubts that darkened his previous novel and that were further to darken and to mar his last novels. The curse of old Matthew Maule, whom the iron Puritan Colonel Pyncheon had sentenced to death for alleged sorcery in order to 23 The gobelin in Dimmesdale's apartment, »representing the Scriptural story of David and Bathsheba, and Nathan the Prophet, in colours still unfaded«, should have told Dimmesdale better: David was an adulterer and sinful, punished, suffering man, and yet a divine prophet and king according to God's heart. 24 Ed. cit. I. 248. Note, throughout chapters X X I I and X X I I I , the comparison of Dimmesdale's voice to an organ, a w i n d instrument like the Aeolian harp sounded by the »breath« or »inspiration« of God. 25

Cf. the first and last chapters, especially ed. cit. I. 48 et 264.

2

Ed. cit. I I .

.

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appropriate his ground for building his aristocratic house w i t h its seven proud gables, typifies the curse of original and hereditary sin. But Hawthorne's latitudinarianism had the curse only affect those Pyncheons who do not redeem themselves w i t h God's help from their criminal ancestor's pride. They die as Colonel Pyncheon once died, from a mysterious hereditary haemorrhage: God w i l l give them blood to drink. The other plot of land that the wicked Pyncheons would claim from those who had ploughed it, Waldo County in the State of Maine, symbolizes sinfulness in a double way: in Colonel Pyncheon's time, it was »an unbroken wilderness« bequeathed by a lost »Indian deed«, reminiscent of the dark Indian forest in The Scarled Letter; and it was like »a dukedom, or even a reigning prince's territory«, of which the wicked Pyncheons kept the Colonel's ancient map, planning »a princedom for themselves«. 27 A t the beginning of the novel, set in nineteenth-century Salem, almost three centuries have weakened the once proud house. The wood is rotting, moss is growing on the roof, — again the double symbolism of death and rebirth. The decay of the house corresponds to the decay of the family. Hepzibah Pyncheon is an old wrinkled virgin without offspring, death personified, but full of aristocratic pride in spite of material poverty. When she is presented to the reader coming out of her chamhre de toilette, she resembles a ghost who steps out of the open door of his tomb into the other rooms of the vault. 2 8 Hepzibah is spiritually dead, her house is a sombre, mouldering vault. I n the darkness of the novel's beginning, only a few symbols let us expect innocence and life to grow out of sin and death: the number seven of the proud gables and the moss and the telling name of Hepzibah. 29 The characteristics o f Hepzibah and the house are in complete unison. The house and its uncomfortable furniture are angular, square, dominated by straight lines almost without any curves, straight and stiff like Hepzibah. The wood of the house and of the furniture is dark and sombre like Hepzibah's silk dress. The once shining colours of the carpets and curtains have grown pale like Hepzibah's skin. Only »hereditary pride« has remained. To be able to survive Hepzibah, the proud aristocrat, is obliged to break open a door in her house and to run a poor cent-shop. The isolation in which she had lived separate from her proletarian neighbourhood and the physical short-sightedness which enables her not to realize her fellow-men both symbolize her perseverance 27 Ed. cit. I I . 18-19. For a systematic treatment of Hawthorne's and other American authors' literary presentation o f democracy and anti-democratic aberrations v. Harold Kaplan, Democratic Humanism and American Literature, (Chicago, 1972). 28 This comic resurrection scene is complemented by her brother Clifford's tragic resurrection scene, who is »summoned forth from his living tomb« after thirty years of imprisonment. Note the author's narrative stance, ironically respecting Hepzibah's aristocratic aloofness and prudery. 29 >kheftsi-bahmy delight is in herMy Kinsman, Major Molineux< and >The Custom-House< (Introductory to The Scarlet Letter).

Ed. cit. I .

2.

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prison and the breakfast, light dawning upon darkness, promise Clifford's regeneration. A n d Phoebe's revival of the dead kitchen and its household-fire introduces a number of metaphors and symbols which later occur again and again to denote resurrection from the darkness of spiritual death. 38 Clifford, the aristocrat in need of resurrection from the grave of his dungeon and his pride, is significantly introduced in the tantalizing fashion of a Gothic novel ghost. 3 9 A n aesthete and sybarite, he w i l l only be served, as formerly was the case w i t h his sister. He knows neither responsibility nor work. The fragrance of the coffee and the beauty of Phoebe revive him for a moment, but when the coffee and Phoebe are gone he falls back from his short deceptive >dark transfigura tionfortunate fall< had Clifford performed and survived it — , via his attempt to go to church, via his attempt to escape on the railway, up to his final removal »from thé dismal old House of the Seven Gables«. 42

38

Ed. cit. I I . 99.

39

Hepzibah is a step in advance of Clifford, who is a deserter still refusing »to fight a battle w i t h the world« (ed. cit. I I . 108). Her long-buried love has returned, like life coming out o f the seeds o f death and like music coming out of Alice's dead coffin-like harpsicord, and she can already act the part of redemptress to Clifford that Phoebe had previously acted to her. 40

Ed. cit. I I . 110. The scene, w i t h its intense symbolism of light and dark, is strikingly parallel to Hester's and Arthur's >dark transfiguration in the black forest. I n both cases, the real and lasting transfiguration, from the darkness o f the dungeon and o f the mind to light, has not yet occurred. 41 Cf. Tennyson's very similar doctrine in his dramatic monologues Tithon (1833) and Tithonus (1860). Uncle Venner, too, has had his resurrection, from weak-mindedness to wisdom and inexhaustible robustness, a resurrection also characterized by images o f moss and fallen leaves (ed. cit. I I . 61 et 66). Thus, Uncle Venner prefigures Clifford's impending resurrection, from the childishness o f the old man w h o m Hepzibah leads by the hand to the wisdom of an older man. 42

Ed. cit. I I . 166-167 et 314.

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I n the garden, 43 Phoebe and Holgrave (alias Maule) fall in love w i t h each other. But, unlike his ancestor Matthew Maule, whose revenge on Alice Pyncheon's pride he tells Phoebe, Holgrave w i l l have no revenge, although he has the same mesmeric power as his ancestor and so could take the same cruel revenge. But Holgrave-Maule is also guilty of the sin of pride and stands in need of redemption. As Hepzibah and Clifford must be redeemed from their proud fixation on the past, so Holgrave, the experimenter, must be redeemed from his proud fixation on the future. He is an anarchist like Hester Prynne before him, overbearing in his naive belief in progress and the possibility of completely extinguishing the past. 44 But his actions contradict his philosophy: he lives in an old house in order to study the effect of the past on the present, and he seeks to eternalize himself in the »canonized bead-roll« of literary saints. 45 The transfiguring charm of moonlight reclaims him after the exhausting heat of day, shows him the youth of the rotten house and the paradisiacal beauty of the rotten garden in the imaginative light of resurrection, corrects his rationalistic error of subject-object differentiation in his wrong attitude of mere observer, and reveals to him his involvement in the process of salvation in the sense of the »sympathy of magnetism« existing »among different classes o f organized life«. 46 When Phoebe leaves the house for a few days to prepare her return for good, a setback occurs in the process of salvation, represented by the image of an »eastern storm«, which seems to retard, but actually advances the victory of warmth over winter, of light over darkness, of rebirth over sin and death. As, in The Scarlet Letter, Arthur and Hester must fall even deeper before their spiritual resurrection, so must Clifford and Hepzibah. A n d the instruments of their salvation are the evil-intentioned but good-creating devils, Chillingworth and Judge Pyncheon: the deeper the fall these devils cause, the greater is the resurrection of their 43

The garden cultivated by the experimenter Holgrave, like the garden cultivated by the experimenter Rappaccini, is an enclosed garden, the hortus conclusus w i t h its traditional double meaning of paradise and garden of love; v. also Stanley Stewart, The Enclosed Garden, (Madison, Milwaukee, and London, 1966). Its »black, rich soil had fed itself w i t h the decay o f a long period of time«, and the present plants, growing out of vegetable decay, were »more useful after their death, than ever while flaunting in the sun« (ed. cit. I I . 86): felix culpa, the fall into death and hatred, w i l l lead to a resurrection to greater life and greater love than ever before. 44

Hawthorne's comment that Holgrave's reform is like putting a brand-new suit upon the traditional w o r l d instead o f gradually renewing it by patchwork (ed. cit. I I . 180) also explains the patched clothes of long-lived Uncle Venner. « Ed. cit. I I . 186. 46 Ed. cit. I I . 174. The underlying romantic vision of an integral natura naturans, forbidding the eighteenth-century distinction of classes o f organized life as well as the eighteenth-century distinction o f the observer man from his object nature, is Schelling's and Coleridge's; v. Meyer Howard Abrams, >Coleridge and the Romantic Vision o f the Worlddark transfigurations 48 For fear of being accused of murder, Clifford flies together w i t h Hepzibah, >The Flight of Two OwlsAriadne auf Naxos, spielen nach dem Bürger als Edelmann des Molière. < Entstehungsgeschichte und Metamorphosen, Diss. München 1966. Leonard M . Fiedler: Hugo von Hofmannsthals Molière- Bearbeitungen: Die Erneuerung der Comédie- Ballet auf Max Reinhardts Bühne, Darmstadt 1974. 2 Werner Volke: Hugo von Hofmannsthals Komödie >Cristinas HeimreiseStern< und Cristinas Heimreise) wirksam gewesen ist: Noch vor kurzem glaubte der Herausgeber neu entdeckter Texte aus dem Silvia-Komplex von einem zwischen 1909 und 1914 erfolgten »Wechsel von Goldoni zu Molière« sprechen zu können, einem Wechsel, der sich nach demselben Interpreten noch aus »anderen Werken und Plänen Hofmannsthals« erschließen läßt. 4 Zwei Fakten widersprechen dieser zu apodiktischen und undifferenzierten Einschätzung: Auch nach 1914 interessiert sich Hofmannsthal sehr für Goldoni (und für Gozzi), und läßt sich weiterhin von ihnen anregen. Außerdem hat er nie aufgehört, Molièreske Motive mit Goldonischen zu kombinieren und zu kontaminieren. Diese Konstanten sollen hier veranschaulicht und gedeutet werden. Hofmannsthals stete Beschäftigung mit Goldoni dokumentieren allein schon die in seiner Bibliothek bis heute erhaltenen Bände älterer und neuerer Sammelausgaben der »commedie« und die dort eigenhändig eingetragenen Marginalien. 5 Die Vermutung liegt somit nahe, daß er auch die anderen Bände

3 H u g o von Hofmannsthal: Silvia im >SternSternSternWas du nicht enden kannst, das macht dich groß. . . < Hofmannsthals Schwierigkeiten mit Dramenschlüssen«, Hofmannsthal-Forschungen, V I I (1983), 97-121, hier 103. 10

Hofmannsthal. Ges. W. Reden und Aufsätze I, 35-39, 40, 42, 45, 52.

H u g o von Hofmannsthal und die venezianische Komödientradition

109

nun aber, in der Komödie, neue Verhältnisse stiften zwischen den dort beheimateten traditionellen Figuren und Typen: zwischen den »Alten« und den »Jungen«, den »Herren« und den »Dienern«, den »inamorati« und den »maschere«, den »inamorati« und anderen »inamorati« und »inamorate«. Von Plautus und Terenz bis zur commedia dell'arte und zu deren Erben und Vollendern, Molière und Goldoni, sind nämlich die Konfigurationen, in denen diese Figuren stehen, für das Genre verbindlich geblieben. Das heißt aber: nur vor diesem Hintergrund erhalten auch die Neuerungen Hofmannsthals ihre Bedeutung und ihren Stellenwert, und eine, die wichtigste dieser Neuerungen ist die mit seiner Ganzheitsidee eng verknüpfte, paradoxe Rehabilitierung und Aufwertung der überkommenen komischen Figuren, insbesondere der »maschere« und der Diener. Die entscheidenden Anregungen gerade dazu kamen aber von Carlo Goldoni (und nebenbei von Carlo Gozzi und von Ferdinand Raimund). Die soeben gebrauchte Formulierung, paradoxe Rehabilitierung, bedarf einer Erläuterung. Paradox ist sie, insofern sie, wenigstens dem Anschein nach, einer Entwicklung widerspricht, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts i m gesamten europäischen Theater durchgesetzt hat: der von vielen Kritikern (z. B. von Diderot) geforderten und fast von allen Autoren durchgeführten Abschaffung des »Davus«, des listigen, skrupellosen Sklaven (und später Dieners), auf dessen Hilfe der junge verliebte Herr bisher angewiesen war, um den Widerstand der »Alten« — der Väter, Oheime, Vormünder — zu brechen und die Geliebte zu gewinnen. Z u m Geschlecht dieser Plautinischen und Terenzianischen »Davi« gehören noch Sganarelle, Covielle, Scapin bei Molière, und selbst noch Figaro, zumal i m ersten Stück von Beaumarchais' Trilogie, dem Barbier de Séville. I m zweiten freilich, dem Mariage de Figaro, intrigiert der Titelheld nur noch für sich selbst, gegen seinen Herrn und Nebenbuhler. (Bereits vorher aber — es wurde schon darauf hingewiesen — hat Diderot diesen Traditionsbruch gefordert und theoretisch begründet: »Pour les Daves, ils me déplaisent«, heißt es peremptorisch in dem Discours de la Poésie dramatique von 1756, und im Eloge de Térence, von 1769, wird sogar die Hekyra zum besten Stück des Terenz erklärt, unter anderem weil dieser »en avait banni le personnage plaisant«: die lustige Person!). 11 Die Rehabilitierung der lustigen Person bei Hofmannsthal bedeutet aber keinesfalls die bloße Wiederherstellung ihres ursprünglichen Status. Der »unbestechliche« Theodor — dies sei schon hier vorweggenommen — erinnert zwar noch an Molières Scapin und an Goldonis Brighella. Er ist aber zugleich ihr 11

137.

Cf. Verf.: »Diderot, lecteur de Térence . . . et de Donat«, in: Arcadia, I V (1969), 117-

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110

Antipode: ein Anti-Scapin und ein Anti-Brighella, das letztere freilich weniger eindeutig als das erste, denn schon bei Goldoni hat Brighella aufgehört, bloß einer der »Zanni« zu sein. (Allgemeiner gesprochen: bei Goldoni, dem Zeitgenossen seiner Schutzheiligen Maria Theresia und Canaletto, konnte Hofmannsthal Figuren, Situationen, Konfigurationen finden, die einerseits mit denen Molieres — des gemeinsamen Lehrers und Vorbilds — verwandt waren, sich aber zugleich durch den Reiz einer vertrauten Modernität auszeichneten).

Goldoni-Reminiszenzen im Werk Hofmannsthals Die von Martin Stern »auf Grund der Manuskripte« (unter Einschluß aller erreichbaren Varianten und Fragmenten) besorgte Edition von Silvia im >Stern< und der mitgelieferte Kommentar erlaubten zum ersten Male — wie erwähnt — das Verhältnis Hofmannsthals zu Goldoni genauer zu bestimmen. Z u m Beispiel: Die von Stern so bezeichnete »Variante 1« (des Textes des »Fragmentes«) verweist eindeutig auf die Komödie Goldonis, deren Lektüre die »Arbeit an >Silvia< in Gange« gebracht hat: II Ventaglio (>Der FächerDas ehrliche Mädchen11 Bugiardo
Cristinas

Wichtiger als alle Detailentsprechungen ist das Verhältnis von Hofmannsthals eigenem Komödienkonzept zum goldonischen. Wie sich das eine aus dem anderen ergab und sich zugleich davon absetzte, läßt sich an der Gestalt des Florindo in Cristinas Heimreise ablesen. Denn man weiß es seit langem: neben dem Namen gehen viele Züge dieser Figur auf die Komödie II Bugiardo zurück 2 5 (Bugiardo meint so viel wie Lügner, Aufschneider). Bei Goldoni heißt allerdings der stets für »una nuova avVentura« (I, 2) bereite, immerwährend in heftiger Liebe entbrennende, wortgewandte und charmante Verführer Lelio; Florindo heißt hingegen der schüchterne, ehrliche, recht farblose Nebenbuhler dieses Lelio! Durch eine A r t Rochade hat Hofmannsthal somit die Namen und die Charaktere vertauscht und auf neue, umgekehrte Weise miteinander verbunden. Ein geistreiches Verwirrspiel, das eine tiefere Einsicht

24 Vgl. Goldonis Selbstprotrait zu Beginn seiner Mémoires : »Ma mère me mit au monde presque sans souffrir; elle m'en aima davantage; je ne m'annonçai point par des cris en voyant le jour pour la première fois; cette douceur semblait, dès lors, manifester mon caractère pacifique, qui ne s'est jamais démenti depuis«. 2

5 S.o. A n m . 15.

8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

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geheimnisvoll und bildhaft ausdrückt: die für Hofmannsthal entscheidende Vorstellung der paradoxen, wechselseitigen Abhängigkeit von Oben und Unten, von Ethos und Eros, von Treue und Verrat, von Wahrheit und Lüge! 2 6 Wie in der Komödie Brauch, heiratet am Ende von II Bugiardo der schüchterne Liebhaber (der ursprüngliche Florindo also) Rosaura, die Tochter des Dottore aus Bologna, während der leichtsinnige und brillante Lelio (das Vorbild des späteren Florindo) ein von ihm früher eingegangenes Eheverlöbnis einlösen muß. Außerdem muß er versprechen, nie mehr zu lügen! Skeptisch kommentiert sein Diener Arlecchino diese neue, wie die früheren aus dem Augenblick geborene »bugia«: »Sta conzonetta, Pho imparada a memoria. Busie mai più, ma qualche volta qualche spiritosa invenzion« ( I I I , 14), vergleichbar mit jenen anderen Eingebungen, derer sich Lelio zu Beginn der Handlung rühmte! Nicht Lügen gebe er von sich, hieß es damals, sondern »spiritose invenzioni, prodotte délia fertilità del mio ingegno pronto e brillante« (1,4). Dieser Lelio, der ganz dem Augenblick lebt, kann sich nicht bessern! Auch dieses M o t i v hat Hofmannsthal übernommen und ausgebaut. Glaubhafter, überzeugender als Rosauras unverhoffte Verlobung mit dem von ihr bisher kaum beachteten Florindo ist Cristinas Entschluß, den Kapitän Tomaso zu heiraten (wie Goldonis Florindo leidet auch er an einer zu »schwere[n] Zunge«). Denn nun ist die Ehe kein bloßer, unproblematischer »frutto de' nostri sinceri affetti« mehr ( I I I , 14): Cristina und Tomaso beginnen eine neue ethische Existenz, von der Goldonis Silhouetten noch keine Ahnung hatten und haben konnten. Das heißt, selbst das von Casanova stammende — und bei ihm sehr frivole — M o t i v des Verführers, der eine glückliche Ehe stiftet, 27 hätte blind und unfruchtbar bleiben müssen ohne Hofmannsthals fast mystischen Glauben an die prinzipielle Interdependenz von Oben und Unten, von Ewigkeit und Augenblick. Dieser Glaube steht sogar noch hinter Hofmannsthals wiederholter K r i t i k an Goldoni wie an Molière. Ihrem zu einfachen, zu durchsichtigen Komödienmodell setzt er — implizit — sein neues, eigenes gegenüber, in dessen Zentrum die Vorstellung einer zugleich widersprüchlichen und doch ganzheitlichen Menschennatur steht! Die K r i t i k an Goldoni und an Molière wurde zuerst i m Kontext des AndreasRomans formuliert, in dem ja mehrere gespaltene oder wenigstens widersprüchliche Charaktere vorkommen: Maria-Mariquita, Sacramozo und Andreas selbst. Angesichts der »Veränderungen«, denen jeder Mensch bis zum Augenblick seines Todes ausgesetzt ist, erscheinen Sacramozo die von Goldoni und Molière ersonnenen »Individuen« allzu einschichtig und seicht. Ihm, Sacramozo, ist 26

Cf. Willy E. Rey: »Eros und Ethos in Hofmannsthals Lustspielen«, DVJS, 449ff.; Volke: Op.cit. 171, 229, 301; Pestalozzi; Op.cit. 105, 106, 108, 114. 27

Pestalozzi, ebd.

30 (1956)

Hugo von Hofmannsthal und die venezianische Komödientradition

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»Goldoni ( = d i e Welt Zustinas) das völlig Unmetaphysische [ . . .] furchtbar, Molière bedeutet ihm nicht viel, der Mimus ist ihm gleichgültig, auf die incantatio kommt es ihm an. Die wahre Poesie ist das arcanum, das uns mit dem Leben vereinigt, und v o m Leben absondert«. 28 Wie ein Echo hierauf lesen sich dann die bekannten Stellen aus dem Buch der Freunde (1921): »Goldoni: dichterische Hand, aber Eingeweide eines Philisters«, und: »kann uns die Komödie schmackhaft sein ohne einen Hauch von Mystizismus?« 29 Genau dieser Hauch von Mystizismus, das heißt die Ahnung von dem, was sich unter der Oberfläche der Dinge und der Seelen abspielt, hebt Hofmannsthals Komödien von denen seiner Lehrer und Meister ab. Die Wiederkunft

der komischen Diener in den sich an Go^i anlehnenden Libretti

und Raimund

I n Cristinas Heimreise (das Stück wurde 1907, zur gleichen Zeit wie der AndreasRoman begonnen) erörtert Hofmannsthal die Ambivalenz der menschlichen Natur, und um seine Gedanken zu veranschaulichen, erfindet er seinen Florindo: einen Florindo, der einmal Lelio hieß, und so Tomaso, die Reinkarnation des ersten Florindo, den Weg zur Ehe ebnen kann. Der aller Bindungen Unfähige schafft die endgültige Bindung! Neue und ungewohnte Verkettungen verlangten nach einer adäquaten dramatischen Darstellung, mit der Folge, daß das Spiel mit den überkommenen komischen Figuren komplexer und verworrener werden mußte. Aus demselben Grund verschwinden aus Hofmannsthals Komödie komischen Figuren kat'exochen, die Diener! Seine »inamorati« werden keinem Arlecchino oder Brighella mehr begleitet. Pasca, Cristinas »Magd« der »Mischling« Pedro, der Diener des Kapitäns, sind mehr als »maschere«, schon Charaktere.

die von und fast

Überhaupt fehlen in Hofmannsthals Komödien durchgehend die Diener und Vertrauten. Erstaunlicherweise kommt die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg ohne Zofe aus, und Graf Hans Karl Bühl entledigt sich sofort des »neuen Dieners« Vinzenz, da ihm, anders als dem »ersten Diener« Lukas, die Tugend der Diskretion fehlt. N u r Antoinettes Kammerjungfer Agathe erinnert noch an die Colombinen und Smeraldinen von einst. Komische Diener, verwandt mit den »Davi« und mit den Masken des italienischen Theaters, treten erst wieder auf in den Libretti, das heißt unter dem Zeichen Carlo Gozzis und . . . Ferdinand Raimunds. (Im Laufe des Monats März

28

Hofmannsthal: Ges. W. Erzählungen (Andreas= 198-319), 281-282.

29

Hofmannsthal: Ges. W. Reden und Aufsätze (Buch der Freunde=233-299),

8*

290, 297.

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Roger Bauer

1911 hat Hofmannsthal, wie schon erwähnt, wenigstens drei »fiabe« Gozzis gelesen oder wiedergelesen: La Donna Serpente, II Corvo und I Pitocchi fortunati. U m dieselbe Zeit — ab Februar 1911 — wurde aber Ariadne auf Naxos abgeschlossen und Die Frau ohne Schatten konzipiert. . . ) . Gozzis »fiabe« — i m Grunde literarisierte »phantastische Stegreifspiele« 30 — bestätigten zuerst einmal, daß es keine absoluten, undurchlässigen Grenzen gibt zwischen dem Maskenspiel und dem heroisch-poetischen Drama. I n den Pitocchi fortunati zum Beispiel werden Truffaldino und Brighella nach Samarkand, an den H o f von K ö n i g Usbec verschlagen. Bei Hofmannsthal gehören sie zum Hofstaat der »Prinzessin Ariadne«. . . Die erste Anregung zur Kontamination beider Gattungen i m neuen Stück ging gleichwohl von Molière aus. I n der »troisième entrée« des »Ballet des Nations«, das Monsieur Jourdain seinen Gästen vortanzen läßt, klagt eine »musicienne italienne« in einer Arie über die Tyrannei der Liebe, um anschließend das vom Gott A m o r verliehene Glück zu preisen. (Im Rosenkavalier w i r d dieselbe Arie — »Die rigori armato il seno« — vom Tenor während dem »lever« der Marschallin gesungen). Daraufhin treten zwei »Scaramouches«, zwei »Trivelins« und ein »Arlequin« auf. Ihren Tanz begleitet der Gesang zweier anderer Italiener (eines Mannes und einer Frau), die zum Genuß des Lebens, des Tages aufrufen: »Sù cantiamo, /Sù g o d i a m o / [ . . .]/Perduto ben non si racquista più«. Genau diese Weisheit verkünden und besingen dann bei Hofmannsthal Zerbinetta und ihre Begleiter. Es genügte also, beide Teile von Molières »entrée« auszubauen: den ersten zu einem Melodrama, beziehungsweise zu einem Mono- oder Duo-Drama in dem um 1760 in Weimar und anderswo geläufigen Stil, 3 1 den anderen i m Geiste Gozzis! Aus Gozzis Stücken (und aus Philippe Monniers Venise au X]VI Ile siècle ) wußte Hofmannsthal, daß die männlichen Masken Antonio Sacchis (des Prinzipals, für den Gozzi seine »fiabe« schrieb) Truffaldino, Brighella, Tartaglia und Pantalone hießen. 32 Aus leicht verständlichen Gründen konnte er i m neuen Kontext die 30 Cf. Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. fahr hunder ts und die italienische Komödie, Stuttgart 1965, 18 ff. Helmut Feldmann: Die Fiabe Carlo Gosgis. Die Entstehung einer Gattung und ihre Transposition in das System der deutschen Romantik, K ö l n 1971, 51 ff., 64ff., etc. 31

Von Hofmannsthals mutmaßlichen Modellen handeln: Manfred Hoppe: »Fromme Parodien, H u g o von Hofmannsthals Opernlibretti als Stilexperimente«, Hofmannsthal Forschungen, V I I (1983) 67-95, hier 81 ff. W i l l i Schuh: »Zu Hofmannsthals >AriadneAriadneDie Frau ohne SchattenDie verliebte DienerinSterne* 2 Wie Brighella (zum Beispiel in II Bugiardo) wacht auch er eifersüchtig über das Wohl und die Ehre seines jungen Herrn — R u d o l f — , der ihm ebenfalls v o m Vater auf dem Totenbett anvertraut wurde. Und wie Theodor nach ihm, genießt Johann das volle Vertrauen der Mutter seines Schützlings; diese sucht ihn sogar einmal auf seinem Dienerzimmer auf! Entsprechend w i l l er Rudolf vor Silvia schützen, in der er nur eine »zweideutige Person [. . .] eine gefährliche Person« sehen kann, »um so gefährlicher je schöner sie ist« (1,17) (vielleicht ein erstes Anklingen des MelanieMotivs?). Später freilich erkennt auch er in Silvia das »arme«, schutzbedürftige »Mädl« (Marie-Motiv?). 4 3 Aber noch auf andere Weise kündigt Johann Theodor an: Bei ihm fallen schon dieselben Soloezismen, Archaismen, Redundanzen auf, die dann auch die Sprache Theodors kennzeichnen: Das »Böhmakeln« des letzteren dürfte demnach eine spätere Zugabe sein. Für diese Hypothese spricht noch die Tatsache, daß in Silvia im >Stern< noch andere Personen sich derselben gespreizten, unnatürlichen Sprechweise bedienen: der hypochondrische und zum hohlen Pathos neigende »vazierende Hofmeister Theodor (!) Lauffer« sowie der unheimliche Phantast Sertos. Somit drängt sich aber die Vermutung auf, daß Theodor, der Unbestechliche, sowohl mit dem treu ergebenen, gutmütigen Johann, wie mit den »dämonischen« Lauffer und Sertos verwandt sein könnte. 4 4 Das heißt, auch von seiner rein »literarischen« Herkunft her ist Theodor ein »zusammengesetzter Charakter«. 45 42 Hofmannsthal: Ges. W. Dramen IV, Martin Stern (s.o. A n m . 3). 43 44

Hofmannsthal: Ges. W. Dramen IV,

19-114. Cf. Die Edition desselben Textes von 95 (in: »Notizen zur Fortsetzung«).

Da zur Zeit der Entstehung des Unbestechlichen Hofmannsthal immer noch an die Vollendung von Silvia im >Stern< dachte, wäre eventuellen Zusammenhängen nachzugehen: mit dem Hofmeister v o n J. M . R. Lenz und mit der dortigen Hauptgestalt, Lauffer. Auch die E i n w i r k u n g von Dostojewskijs Romanen und Erzählungen, insbesondere von Die Brüder Karamasow und Das Gut Stepantschikowo auf beide Stücke Hofmannsthals wäre genauer zu bestimmen. Z u dieser Frage siehe N . Altenhofer: Hofmannsthals Lustspiel >Der Unbestechliche< Bad H o m b u r g v.d. H. 1967, 172 und passim. Den engen Zusammenhang des Unbestechlichen mit dem zuletzt genannten Werk Dostojewskijs dokumentiert auch folgende

Hugo von Hofmannsthal und die venezianische Komödientradition

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Als einen solchen bestimmten ihn aber allein schon die i m Drama selbst wie in den dazu gehörenden Paralipomena verzeichneten Fakten: »Sein Vater war ein Lump« und seine Mutter »eine der gescheitesten Frauen der Welt«, stellt die Theodor sehr zugeneigte Baronin fest (I, 12). Ursprünglich war er sogar als Halbbruder Jaromirs gedacht 46 (daher der zuerst in Aussicht genommene Titel »Jaromir und Theodor«). 47 Gelegentlich nennt ihn Hofmannsthal aber auch eine »Art Smerdjakov«. 48 Und daß der Titel Der Unbestechliche wirklich auf Robespierre, »l'incorruptible«, anspielt, beweist eine später gestrichene Stelle aus dem 5. A k t : »Das ist ja ein Monstrum. A n diesem Kerl ist ein Robespierre verloren gegangen«. 49 Das Paradoxe und somit Komische, i m Sinne Hofmannsthals, ist aber, daß gerade dieses »Monstrum« — und es allein — die Ordnung des »Ganzen« zu erhalten vermag! Ein Monstrum ist Theodor freilich, hält man sich eng an den Text, vor allem für den eher einfältigen und harmlosen General, der keine andere Ordnung kennt als den Kodex einer ehrwürdigen Tradition. Dem Komödiendichter indes geht es nicht um diese A r t von Ordnung! Für ihn ist Theodor der Garant einer anderen: geheimen, höheren Ordnung, und dies, weil in ihm jene tiefere, prämoralische — monströse — Lebenskraft noch wirkt, ohne die die »Ordnung« nicht bestehen kann. Aber diese Idee stand schon i m Zentrum von Cristinas Heimreise und klang schon früher an, z.B. in Silvia im >SternHaben Sie bemerkt (lachend) Fomitsch!English< as a Discipline ofThought (London, 1975), S. 19-70. 3 Ansätze hierzu finden sich in der Studie v o n Aidan Burns, Nature and Culture in D. H. Lawrence (London, 1980). 4 Vgl. D . H . Lawrence, »Why the Novel Matters« und »Morality and the Novel«, Phoenix, S. 534ff. und S. 527 ff.

Zivilisationskritik und Lebensaffirmation bei H. D . Lawrence

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eines menschengerechten Ausgleichs zwischen dem Anspruch auf individuelle Selbsterfüllung und den Forderungen der Zivilisationsgesellschaft mitwirken und so als Gegengewicht zur dingorientierten Habenstruktur eines menschen verachtenden Materialismus und Rationalismus dienen. 5 I n seiner dienenden Funktion einem menschenwürdigen Leben gegenüber, die für Lawrence die eigentliche moralische Aufgabe des Romans bildet, ist der Roman zum schöpferischen Medium dessen prädestiniert, was man als das zentrale Thema des gesamten Lawrenceschen Œuvres bezeichnen kann. Es läßt sich als eine Philosophie des Ich, als eine Philosophie der individuellen Selbstverwirklichung definieren. Sie versucht, mit den Mitteln der Literatur die Voraussetzungen zu erforschen, unter denen in der Moderne jene freiheitlich zu verantwortende sinnhafte Selbstverwirklichung gelingen kann, die Lawrence als »spontaneous, creative fulness of being« bezeichnet. 6 Innerhalb des Spannungsverhältnisses von natürlicher Vorgabe und kultureller Aufgabe ist sie mit dem Versuch identisch, die auf religiöse Ursprünge zurückgehende Forderung an den einzelnen, »Werde, der du bist« zu erfüllen. Ähnlich wie Georg Simmel betont Lawrence die Notwendigkeit, die jeweils individuelle Bedeutungsbestimmtheit des eigenen Daseins zu erkennen und diese zum bewußten Ideal des eigenen Lebens zu machen: Nicht nur als schon Seiender ist der Mensch unvergleichbar, in einen nur von ihm erfüllten Rahmen gestellt, sondern, v o n anderer Seite gesehen, ist die Verwirklichung dieser Unvergleichbarkeit, das Ausfüllen dieses Rahmens, seine sittliche Aufgabe, jeder ist berufen, sein eigenes, nur ihm eigenes Urbild zu verwirklichen. 7

Vor dem Hintergrund der zentralen Thematik individueller Authentizität ist auch die für Lawrence grundlegende Opposition von life and civilisation, von Lebensaffirmation und Zivilisationskritik zu sehen. Die moderne industrielle Zivilisationsgesellschaft besitzt für ihn den Charakter eines zunehmend universelle Formen annehmenden Verhängnisses. I n ihrem auf die Ideen der Aufklärung und der Rationalität gestützten hybriden Versuch, den Menschen von der Herrschaft der Natur zu befreien, hat die industrielle Zivilisation die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört, das organisch-symbiotische Band des Menschens mit der Natur zerrissen und den Fortschrittsgedanken auf eine Philosophie der Naturausbeutung und des technologisch Machbaren verengt. Die versprochene Befreiung und Emanzipation von der Natur ist i m Sinne einer Dialektik der Aufklärung in eine neue Herrschaft eines abstrakten 5

Vgl. ebd.

6

Vgl. D . H. Lawrence, Psychoanalysis and the Unconscious, Fantasia of the Unconscious and Psychoanalysis and the Unconscious (Harmondsworth, 1977), S. 249. 7

Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie (Berlin, 1970), S. 94. Vgl. hierzu allgemein auch Simmeis Studie Lebensanschauung (München und Leipzig, 1918).

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Meinhard Winkgens

Idealismus umgeschlagen. Dessen Vergötzung der rationalisierten industriellen Maschinerie und einer funktionalistischen Produktionseffizienz bringt nicht nur einen kruden, inhumanen Materialismus hervor, sondern wird zugleich von einem pervertierten Wertesystem und einem falschen Menschenbild getragen. 8 Durch den >Geist der Zivilisation^ d.h. durch soziokulturelle Leitbilder und Wertbegriffe, die den Funktionsprinzipien kapitalistischer Ökonomie, moderner Technologie und wissenschaftlicher Rationalität angepaßt sind, 9 hat die industrielle Gesellschaft die Würde der Persönlichkeit zerstört und den einzelnen nach Lawrence zum austauschbaren Funktionsträger degradiert. Durch die damit einhergehende kulturelle Entwurzelung und die Entfremdung des Menschen von seiner eigentlichen Natur, seinem natural seif, ist der Mensch in der Moderne für Lawrence in der Regel zu einem social being degeneriert, d.h. zu einer Existenzweise, die weitgehend dem von Erich Fromm in Haben oder Sein diagnostizierten Habenmodus entspricht. 10 Angesichts dieses Zivilisationsverständnisses kann Zivilisationskritik bei Lawrence sich nicht primär in der K r i t i k an konkreten, durch gesellschaftliche Reformen und Korrekturen behebbaren Mißständen erschöpfen. Sie ist vielmehr radikal-fundamentalistisch gemeinte K r i t i k an den Grundlagen westlicher Zivilisation. 1 1 I n Lawrences dualistischem Argumentationssystem bezeichnet life als allgemeinster Oberbegriff den positiven Gegenpol. Als solcher legitimiert der Lebensbegriff nicht nur die Radikalität seiner Zivilisationskritik, sondern dient auch als normativer Orientierungsmaßstab für die Bestimmung geglückten, sinnhaften Lebens i m Sinne dessen, was Lawrence als human being bezeichnet. I m Gegensatz zur reduzierten Menschlichkeit des social being bedeutet human being die existentielle Potentialität des Ich, die Verwirklichung seines Selbstseins in der umfassend-organischen Ganzheitlichkeit seiner Seelenkräfte. 12 I n seinem inhaltli-

8 Z u Lawrences grundsätzlicher K r i t i k am utilitaristischen Menschenbild und an der Deformation der menschlichen Psyche durch die Herrschaft von mind, will und idea als Inbegriff eines gewaltsamen und sterilen Egoismus vgl. im einzelnen Psychoanalysis. 9 Vgl. hierzu v o m Vf., »Das Problem der >zwei Kulturen< und der >Geist der Zivilisationc F. R. Leavis' Auseinandersetzung mit C. P. Snow«, Literaturwiss. Jahrbuch, 24 (1983), S. 263-284. 10 Vgl. Erich Fromm, Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (Stuttgart, 1976), S. 37ff., 73ff. und 109ff. 11 Die ästhetischen und ideologischen Konsequenzen dieses Denkansatzes und vor allem die Gefahren eines solchen Verfahrens sind in der Sekundärliteratur wiederholt diskutiert worden. Vgl. z.B. Hans Ulrich Seeber, »D. H. Lawrence und der deutsche Expressionismus: Bemerkungen zu >The Rainbow< und >Women in LoveThe Rainbow< (Den Haag und Paris, 1974), S. 110 f. 12 Z u r Unterscheidung v o n human being und social being vgl. D . H . Lawrence, »John Galsworthy«, Phoenix, S. 540 ff.

Zivilisationskritik und Lebensaffirmation bei H. D . Lawrence

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chen Verständnis entspricht der Mensch als human being weitgehend dem, was Fromm als Seinsmodus, Heidegger als eigentliche Existenz und Blake als identity bezeichnen. 13 Als human being lebt der einzelne bei Lawrence in Übereinstimmung mit seiner individuellen Natur und aus der Spontaneität seines wahren Unbewußten, seiner unverwechselbaren Seele. Durch sein wahres Unbewußtes partizipiert er an dem mystisch-religiös verstandenen Lebensstrom des creative unknown, d. h. jenem evolutionären Lebensprinzip, das die menschliche Existenz mit der Evolution der Natur und des Universums verbindet. 1 4 Als fortgeschrittenste Ausprägung der Evolution des Lebens konkretisiert sich im Individuum die den Menschen auszeichende Differenzqualität verantwortlicher Freiheit. Sie versetzt den Mensch in die Lage, sowohl seine eigentliche Lebensstruktur zu verfehlen und zu verraten, als auch durch die Verwirklichung seines Selbstseins den Evolutionsprozeß voranzutreiben, die Naturhaftigkeit des Ich mit der Welt der K u l t u r und der Vernunft organisch zu versöhnen und somit dem göttlichen Heilsplan des evolutionären Prozesses durch die Affirmation des Lebens zu entsprechen. Wie ein Leitfaden zieht sich die philosophische Grundproblematik der Selbstverwirklichung i m Spannungsfeld von Zivilisationskritik und Lebensaffirmation durch das literarische Werk von D . H . Lawrence. Sie soll i m folgenden anhand des paradigmatischen Bildungsweges von Ursula Brangwen i m Schlußteil des 1915 erschienenen und lange Zeit verbotenen Romans The Rainbow untersucht und in ihren literarischen und philosophischen Implikationen reflektiert werden. Spätestens seit der wegweisenden Studie von F. R. Leavis D. H. Lawrence: Novelist gilt The Rainbow zusammen mit Women in Love weithin unbestritten als Meisterwerk des Autors. 1 5 Ursprünglich waren beide Romane unter dem Titel The Sisters als eine Einheit konzipiert worden. Sie bleiben jedoch auch nach ihrer separaten Veröffentlichung aufgrund der ihnen gemeinsamen Thematik und der gemeinsamen Protagonistin Ursula Brangwen eng aufeinander bezogen. The Rainbow und Women in Love stehen dabei zueinander in einem Verhältnis von geschichtlicher Genese und aktueller Bestandsaufnahme. The Rainbow erzählt über drei Generationen die Entwicklungsgeschichte der Brangwen-Familie. Der Roman stellt das private Ringen der drei Generationen um self-fulfilment vor den historischen Horizont des Übergangs von einer agrarisch-statischen und traditionalen Lebensordnung zur dynamischen Komplexität einer modernen städtischindustriellen Zivilisation mit den ihr eigenen Wert- und Sinnproblemen. Die 13 V g l . Fromm, Haben oder Sein, S. 8 9 f f , Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen, 1963), S. 260 ff. und William Blake, »Annotations on Swedenborg's Divine Love«, zit. nach S. F. Dämon, A Blake Dictionary: The Ideas and Symbols of William Blake (Thames und Hudson, 1979), S. 194ff. 14

Z u m Begriff des creative unknown vgl. Lawrence, »Life«, Phoenix, S. 695 ff.

15

Vgl. F. R. Leavis, D. H. Lawrence: Novelist (Harmondsworth, 1973).

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gesamte Richtung des geschichtlichen Entwicklungsprozesses von der als »blood-intimacy« bezeichneten naturhaft-instinktiven Lebensform zur Freiheit und Bewußtheit einer als »higher form of being« verstandenen modernen Lebensweise, 16 pointiert formuliert also des Übergangs von nature zu culture, liest sich wie eine implizite Widerlegung eines wiederholt von Kritikern Lawrence gegenüber geäußerten Vorwurfs. Dieser gipfelt in der Anklage, Lawrence sei der Prophet eines archaischen Primitivismus, der unkritische Verkünder einer Blutund-Boden-Romantik und der Apostel eines geistfeindlichen Kults unmittelbarer Sinnlichkeit. 17 Doch nicht am Plädoyer für eine Regression in dumpfe Nahrhaftigkeit ist Lawrence in diesem Roman gelegen. Wohl aber geht es ihm bei dem makrohistorisch unvermeidlichen Prozeß des Fortschreitens in die moderne Welt des Bewußtseins und einer unpersönlichen Rationalität um eine Bewahrung jener mit dem agrarischen Lebensrhythmus verbundenen, i m weitesten Sinne dem Prinzip des Organischen verpflichteten Tugenden. Die schwere Bürde, in ihrer individuellen Suche nach Selbstsein Natur und Kultur, das Prinzip des Organischen mit den Prinzipien modernen Geisteslebens und dem unpersönlichen Funktionsmechanismus der industriellen Zivilisation stellvertretend zu versöhnen, trägt in exemplarischer Weise Ursula Brangwen. Sie steht als Repräsentantin der dritten Brangwen-Generation i m Mittelpunkt der zweiten Hälfte dieses Romans. I n ihrer Suche nach Sinnerfüllung, in ihrem Ringen um Wertorientierung und in ihrem Bemühen, Tradition und Moderne zu vermitteln, wird ihr Lebensweg zur paradigmatischen Veranschaulichung der Lawrenceschen Grundthematik der Ichfindung i m Spannungsfeld von Zivilisationskritik und Lebensaffirmation. U m den Roman zu einem geeigneten Erkenntnisinstrument für diese philosophische Fragestellung zu machen, bricht Lawrence nicht mit der Formensprache dergreat tradition des englischen Romans seit dem 18. Jahrhundert. I m Gegensatz zum entschiedenen ästhetischen Experiment und zur radikalen formalen Innovation bei James Joyce, Virginia Woolf und anderen Repräsentanten des literarischen Modernismus lehnt sich Lawrence bewußt an dominierende Gattungstraditionen des realistischen Romans an. Allerdings wandelt er ihre Konventionen auf charakteristische Weise ab. Z u diesen zitierten und gleichzeitig modifizierten Gattungsmustern gehören zum einen die Familienchronik, die sich i m Anschluß an Galsworthys Forsytbe Saga und Arnold Bennetts Clayhanger-Romanen einer großen Beliebtheit erfreute, und zum anderen der Entwicklungs- bzw. Bildungsroman, der spätestens seit viktorianischer Zeit große Popularität besaß. Gemein-

16 Vgl. Lawrence, Tbe Rainbow (Harmondsworth, 1975). S. 8 ff. I m folgenden w i r d nach dieser Penguin-Ausgabe zitiert. Die Seitenzahlen erscheinen in Klammern i m Text. 17 So etwa und für Teile der Lawrence-Forschung wegweisend Bertrand Russell, Portraitsfrom Memory (London, 1958), l l O f f .

Zivilisationskritik und Lebensaffirmation bei H. D . Lawrence

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sam ist diesen Gattungsmustern die Konzentration auf das soziale Ich, d. h. auf ein Verständnis des individuellen Charakters, dessen Grundzüge sich aus der Auseinandersetzung mit dem Netz sozialer Rollenerwartungen, kultureller Normen und gesellschaftlich vorgeprägter Beziehungsverhältnisse ergeben, in die er gesellschaftlich eingeflochten ist. Lionel Trilling sagt hierzu: »The novel is a perpetual quest for reality the field of its research being always the social world, the material of its analysis being always manners as the indication of the direction of man's soul.« 18 Da für Lawrence die Orientierung am social self unter den Bedingungen der modernen Zivilisationsgesellschaft tendenziell auf eine Verleugnung des natural seif hinausläuft, kann er sich mit einem an »manners and morals« interessierten Begriff des Romans nicht zufriedengeben. Vielmehr muß er die Reduziertheit und den Entfremdungscharakter des sozialen Ich aufzeigen, um hinter der Schale des »old stable ego« 19 der traditionellen Charakterkonzeption i m Roman die eigentliche unentfremdete Existenz, den natürlichen Persönlichkeitskern transparent werden zu lassen. Ästhetisch führt dies bei der Darstellung des Bildungsweges von Ursula Brangwen in The Rainbow zu einem nicht immer widerspruchsfreien Fluktuieren zwischen sozialer Oberflächenstruktur und existentieller Tiefenstruktur. A u f der Oberflächenstruktur erscheint Ursulas Werdegang als ein aus ihrer Familienherkunft abgeleiteter, weitgehend realistisch geschilderter und sozialpsychologisch subtil motivierter Entwicklungsprozeß von der Kindheit bis zur Reife des Erwachsenen. I n der Tiefenstruktur wird dieser sozialpsychologische Realismus jedoch durch die unterschiedlichsten literarischen Techniken, wie eine exzessive Naturmetaphorik, rituelle Szenen, alptraumhafte Erfahrungen, existentialistisches Pathos und eine die archaischen Mächte des Unbewußten und der Natur beschwörende extrem rhythmisierte Prosa immer wieder durchbrochen. 20 Dies hat zur Folge, daß auf dieser Ebene der private Lebensweg Ursulas sich zu einem paradigmatischen Bildungsgang i m Sinne der Lawrenceschen Weltanschauungsphilosophie ausweitet und unter der Schale des rollenhaften sozialen Ich der existentielle Kern des true self zum Durchbruch gelangt: »She lived a dual life, one where the facts of daily live encompassed everything, being legion, and the other wherein the facts of daily life were superseded by the eternal truth.« (S. 276) U m dem exemplarischen Charakter ihres Bildungsprozesses gerecht werden zu können, muß Ursula als Lawrence-Protagonistin bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Als Axiome einer spezifischen Lebenseinstellung bilden sie sich in ihrer 18 Lionel Trilling, zit. nach R. George Thomas, Dickens: >Great Expectations< (London, 1964), S. 27. 19 Vgl. Lawrence, »Letter to Edward Garnett (5. 6. 1914)«, The Letters of D. Lawrence, hg. Aldous Huxley, Bd. 1, 1909-1915 (Leipzig und Paris, 1938), S. 295.

H.

20 Vgl. Julian Moynahan, The Deed of Life: The Novels and Tales of D. H. Lawrence (Princeton, 1972), S. 40 ff.

9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

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Adoleszenz heraus und bestimmen als orientierende Fixpunkte ihre späteren Lebenserfahrungen. Hierzu zählen 1. die Fähigkeit zur Introspektion und die Suche nach Selbstidentität, 2. ihr aristokratischer Anspruch und 3. ihre religiöse Sehnsucht. Da diese Merkmale auch für andere Protagonisten i m Lawrenceschen Erzählwerk gelten, können sie als Grundbausteine seines Menschenbildes angesehen werden. Fähigkeit zur Introspektion meint zunächst Ursulas ausgeprägtes Interesse für das Drama ihrer Seele, das Hineinhorchen und Sich-Auseinandersetzen mit den unterschiedlichsten, oft widersprüchlichen innerseelischen Regungen und Antriebskräften. Sie bezeichnet zugleich die beständige innerliche Verarbeitung ihrer Konflikte mit der realen Welt und ihr gewissenhaftes Bemühen, dem Chaos der Erfahrung organische Gestalt und Sinnkohärenz abzuringen. Introspektion und Innerlichkeit münden daher bei ihr in eine quest for self-fulfilment ein, die im existentialistischen Sinne unter dem Vorzeichen der Selbstverantwortung erfahren wird. I m Horizont der von ihr intensiv erlebten konkreten Dualität von mekday-mrld und Sunday-mrld, einer Alltagswelt der Menschen, der Eisenbahnen, Pflichten und Schulzeugnisse und einer Sonntagswelt der absoluten Wahrheit und des lebendigen Mysteriums, erwächst die »dräuende Wolke der Verantwortung für ihr eigenes Dasein«, wie es i m Roman heißt, aus dem Versuch, diese Dualität zu überwinden und Sonntagswelt und Alltagswelt in dem E n t w u r f eines sinnerfüllten Lebens zu vereinen: »One was not oneself, one was merely a half-stated question. H o w to become oneself, how to know the question and the answers of oneself, when one was merely an unfixed something-nothing, blowing about like the winds of heaven, undefined, unstated.« (S. 284) Ursulas aristokratischer Anspruch und damit das Prinzip des Aristokratischen überhaupt ist ein ebenso zentrales wie umstrittenes Moment der Lawrenceschen Weltanschauung. Bei Ursulas sich schon in der Kindheit herausbildendem aristokratischen Grundgefühl handelt es sich um den Anspruch, sich ohne Rücksicht auf einengende Konventionen, erstarrte moralische Normen und die kleinlich-neidischen Urteile anderer Leute i m eigenen Verhalten nur nach den eigenen Maßstäben richten zu können. Das aristokratische Bestehen auf individueller Autonomie ist mit einer teils hochmütig-stolzen Abgrenzung und Verachtung gegenüber sozialem Konformismus, den kleinlichen Gemeinheiten spießbürgerlicher Enge und der Aggressität des Mittelmäßigen verbunden. Generell darf das Prinzip des Aristokratischen bei Lawrence nicht als Ausdruck einer falschen Sehnsucht nach überholten feudalen Herrschaftsstrukturen mißverstanden werden. Es ist weniger eine soziale und politische als eine naturhaftexistentialistische Kategorie. I n deutlicher Anlehnung an den Übermenschen bei Nietzsche und Shaw feiert Lawrence mit dieser Kategorie den natürlichen Adel des großen, stolzen, selbstverantworteten Individuums. Er versucht, das Aristokratische von seinem ursprünglichen soziopolitischen Kontext abzulösen und in

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einen anthropologisch-existentialistischen Argumentationshorizont zu übertragen. Fragwürdig und problematisch wird das aristokratische Prinzip bei Lawrence immer dann, wenn er es als wohlfeiles Instrument zur Demokratiekritik mißbraucht. So wenn Ursula — hier ganz als Sprachrohr des Autors — Demokratie mit dem neuen Feudalismus eines falschen Geldadels gleichsetzt und sie als politischen Ausdruck der Herrschaft einer materialistischen Mittelmäßigkeit angreift (vgl. S. 461). Auch Ursulas religiöse Sehnsucht entwickelt sich schon relativ früh i m Stadium ihrer Adoleszenz. Angeregt durch die mystische Religiosität ihres Vaters, gestützt auf das Erlebnis der Würde des sonntäglichen Lebensrituals und des Zyklus der Schöpfung i m rhythmischen Ablauf des Kirchenjahres, und geprägt durch ihre in Phantasien, Träumen und Visionen sich vollziehende Aneignung der biblischen Geschichten und des Leben Jesu, erfährt sie Religion nicht als eine Liste von moralischen Vorschriften für das tägliche Leben. Religion ist für sie vielmehr ein Gefühl von Ewigem und Unvergänglichem, die Verheißung eines Unbedingten, aus dem die Kraft erwächst, »to create a new knowledge of Eternity in the flux of Time« (S. 493). Typisch für Lawrence generell ist zum einen der in Ursulas Religiosität sich deutlich abzeichnende Einspruch gegen eine Vergeistigung der christlichen Religion. Typisch ist zum anderen die Ablehnung eines neoplatonischen Dualismus, der die Wahrheit des Geistig-Seelischen gegen die Sündhaftigkeit des Körperlich-Kreatürlichen und damit gegen die Naturgebundenheit des Menschen ausspielt. Dies zeigt sich nicht nur in den eindeutig erotischen Konnotationen ihrer religiösen Phantasien und ihrer Skepsis gegenüber Tendenzen der Leibfeindlichkeit in ihrem Verständnis des Auferstehungsmythos. Dies wird auch in der religiösen Terminologie und Symbolik sichtbar, mit der sie die Augenblicke sexueller Ekstase erlebt. 21 Zugleich weisen Ursulas religious sense und ihre Sehnsucht nach einer Verwirklichung des Ewigen i m Fluß des Zeitlichen auf das allgemein für Lawrences Religionsverständnis charakteristische Bemühen hin, die Transzendenz des Göttlichen in der Immanenz des evolutionären Naturprozesses und des Mysteriums des Lebensstroms zu verankern. Diese moderne Variante eines auf die Romantik zurückgehenden »natural supranaturalism«, um die Worte des Romantikforschers M . H. Abrams zu gebrauchen, hat zur Folge, daß das Göttliche nur in der Evolution der Natur und des Lebens prozeßhaft Gestalt annimmt. A n ihm hat die individuelle Existenz immer dann teil, wenn sie aus der Spontaneität ihres wahren Unbewußten heraus lebt und ihr Selbstsein in Übereinstimmung mit dem Lebensmysterium entwirft. Vor diesem Hintergrund sind Ursulas Ehrfurcht vor

21 Zur Deutung des Religiösen in The Rainbow vgl. Leavis, Lawrence, S. 131 ff., Baibert, Lawrence, S. 88 f. und Andrew Kennedy, »After not so Strange Gods in The Rainbow «, English Studies, 63 (1982), S. 220-230.

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der Natur und allem Organischen, ihr intensives Erleben des natürlichen Lebensrhythmusses, der Gestirne, vor allem des Mondes, sowie ihre Hingabe an die mystische Erfahrung des dunklen Unbewußten und des Rausches sexueller Ekstase im Lawrenceschen Sinne immer auch religiös motiviert. Sie sind Ausdruck einer als lebensstärkend erfahrenen natürlichen Religiosität, einer Lebensfrömmigkeit und Lebensgläubigkeit. So sinnvoll es wäre, im einzelnen nachzuzeichnen, wie sich Ursulas paradigmatischer Reifeprozeß im Spannungsfeld von Lebensaffirmation und Zivilisationskritik vollzieht, so würde doch eine solche detaillierte Untersuchung den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. U m dennoch einen Eindruck von dem exemplarischen Charakter ihres Bildungsweges und seiner Zielrichtung zu vermitteln, empfiehlt es sich daher, von einer Textstelle auszugehen, die den gemeinsamen Weg Ursulas und ihres Geliebten Anton Skrebensky durch die Landschaft ihrer Heimat schildert. Denn diese Landschaft ist nicht nur natürlich-realistische Landschaft, sondern zugleich emblematische Landschaft. I m konkreten Detail des Spazierweges fängt Lawrence symbolisch die Alternativen von Ursulas horizontalem und die Zielrichtung ihres vertikalen Lebensweges ein, der am Ende des Romans in ihre Vision des Regenbogens einmündet. The blue way o f a canal wound softly between autumn hedges on towards the greenness of a small hill. O n the left was the whole black agitation of colliery and railway and the t o w n which rose on its hill, the church tower topping it all. . . That way Ursula felt, was the way to London, trough the grim, alluring seethe o f the town. O n the other hand was the evening, mellow over the green water-meadows and the winding alder-trees beside the river. There the evening glowed softly, and even a pewit was flapping in solitude and peace. Ursula and A n t o n Skrebensky walked along the ridge o f a canal between. The berries on the hedges were crimson and bright red, above the leaves. The glow o f evening and the wheeling of the solitary pewit and the faint cry o f the birds came to meet the shuffling noise of the pits, the dark fuming stress o f the t o w n opposite, and they two walked the blue strip o f water-way, the ribbon o f the sky between. (S. 309)

Der Weg am Kanal trennt zwei unterschiedliche Landschaften, rechts die Naturidylle ländlicher Region, links die moderne Industrie- und Geschäftswelt, als deren zivilisatorisches Zentrum die Metropole London fungiert. Die beiden Landschaften verweisen symbolisch auf die unterschiedlichen Lebenswelten, in denen sich Ursula in ihrem Bildungsprozeß bewegt. U m zu sich selbst zu finden, muß sie sich der Erfahrung ihrer unterschiedlichen Lebenswirklichkeit aussetzen, ohne sich dabei jedoch an eine der beiden Lebens weiten zu verlieren. Wie der Weg am Kanal andeutet, muß sie durch beide Welten hindurch, um am Horizont die Transzendenzerfahrung des >Himmels< und des >Regenbogens< zu machen, die zugleich eine Immanenzerfahrung des sinnerfüllten Selbstseins darstellt. Die ländlich-agrarische Region bezeichnet ihre Herkunftswelt, die Welt ihres Elternhauses und ihrer Jugend, von deren Lebensformen sie sich um ihrer selbst und der Entwicklung ihrer Persönlichkeit willen fortbewegen und emanzipieren

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muß. Zwar ist dies immer auch eine natürliche und idyllische Welt, deren im weitesten Sinne >organisch-naturhafte< Lebensrhythmen" nicht nur wiederholt eine Versuchung für Ursula bedeuten, sondern ihr auch immer wieder Lebenskraft verleihen. I n erster Linie ist es jedoch eine enge, den Erfährungshorizont und die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums begrenzende Welt; eine Welt der Vergangenheit, über die der Geschichtsprozeß hinwegschreitet, eine Welt, deren Lebensgefühl der blood-intimacy sich gegen die Ausweitung des Bewußtseinshorizonts und die Ausdehnung des geistig-kulturellen Vermögens des Menschen sperrt. Die Begrenztheit und das partielle Scheitern der Lebensentwürfe von Ursulas Eltern, Anna und W i l l Brangwen, dokumentieren eindringlich, daß die ländliche Naturidylle von Cossethay und später die kleinstädtische Welt von Beldover zwar den Ausgangspunkt, nicht aber den Zielpunkt von Ursulas Entwicklung markieren können. Der Grundtendenz der Distanzierung und Ablösung von ihrer ländlichen Herkunftswelt entspricht in Ursulas Konfrontation mit der modernen Welt der industriellen Zivilisation die Grundeinstellung der Negation. Unter dem Vorzeichen der Negation sagt sie sich als Ergebnis ihrer Erfahrungen von den Lebensmustern, Rollenbildern und Wertbegriffen der modernen Gesellschaft ebenfalls um der Authentizität und Integrität ihres Ichs willen los. 2 2 Denn zwar ist diese zivilisatorische Welt dem Prinzip nach eine Welt des Geistes, der Kultur und der Rationalität und verkörpert als solche das notwendige Fortschreiten von der bewußtseinslosen Naturwelt ihrer Herkunft. Sie ist jedoch zugleich eine gefallene, pervertierte und kranke Welt, in der das erforderliche Ausgreifen von Natur zur K u l t u r in das falsche Bewußtsein einer industriellen Zivilisationsgesellschaft umgeschlagen ist. Insofern muß Ursulas Auseinandersetzung mit dieser Welt unter dem Vorzeichen der Zivilisationskritik stehen, die sich in ihren zahlreichen Negationsakten konkret niederschlägt. Als typische Erfahrungsmuster, mit denen Ursula die moderne Welt erlebt, schälen sich vor allem die schockhafte Initiation und der Wechsel von gespannter, hoffnungsvoller Erwartung und tiefer Enttäuschung heraus. Das Spektrum der Zivilisationskritik, das sich in Ursulas Lebensweg zum Ausdruck bringt, reicht von der K r i t i k an einer zur Fertigungszentrale examinierter Fachspezialisten degradierten Universität über die K r i t i k an einem vornehmlich auf die dressurhafte Einübung sozialer Konformität bedachten Schulsystem bis zur K r i t i k an der menschenverachtenden und lebensfeindlichen Häßlichkeit industrieller Ballungsräume. Für sich genommen, erscheinen diese Vorwürfe übertrieben und wenig originell. Sie gewinnen ihre Intensität erst aus der Tatsache, daß Lawrence die durchaus konventionellen Kritikpunkte als

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Z u Ursulas NegationsprozeB als »a gradual process of birth by separation« vgl. Balbert, Lawrence, S. 81 ff.

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repräsentative Symptome einer grundsätzlichen geschichtlichen Fehlentwicklung deutet und ursächlich auf ein zugrundeliegendes Prinzip zurückführt. Diese geschichtliche Ursünde ergibt sich für Lawrence aus der für die zivilisatorische Rationalität typischen Substitution organisch-qualitativer Beziehungsverhältnisse durch mechanistisch-quantitative Organisationsverhältnisse. I n Women in Love definiert er das Grundübel der Moderne daher als »the substitution of the mechanical principle for the organic, the destruction of the organic purpose, the organic unity, and the subordination of every organic unit to the great mechanical purpose«. 23 Damit aber muß die konkrete Zivilisationskritik bei Lawrence immer vor dem Hintergrund einer fundamentalistisch gemeinten K r i t i k an dem mechanistisch-materialistischen Funktionalismus des industriellen Systems gesehen werden. Besonders eindrucksvoll wird in dem »The Man's World« überschriebenen Kapitel Ursulas Leiden unter ihrer Tätigkeit als Lehrerin geschildert. I n karikaturistischer Zuspitzung und mit expressionistischer Emphase attackiert Lawrence die Schule als ein System der Unterjochung, dem Lehrer wie Schüler gleichermaßen unterworfen sind, als ein System, das in exemplarischer Weise die Inhumanität der industriellen Zivilisation i m Ganzen und der sie leitenden Werthierarchie zur Anschauung bringt. Drastisch zeigen Ursulas Erfahrungen die v o m System produzierte Entfremdung des Menschen von seiner Natur und seinen Mitmenschen. Sie machen zudem das freigesetzte Aggressionspotential deutlich, dessen zerstörerische Kraft nur noch durch die blinde Herrschaftsmechanik einer Rohrstockpädagogik in Zaum gehalten werden kann. A u f leidvolltraumatische Weise muß Ursula in der Schule erleben, wie sie ihre pädagogischen Ideale, die auf der Würde der Einzelperson und dem Respekt vor dem lebendignatürlichen Organismus des Kindes aufbauen, angesichts eines entpersönlichten, aggressionsbereiten Kollektivs von Schülern und Lehrern opfern muß. U m ihrer Selbsterhaltung willen muß sie sich dem inhumanen System anpassen, w i l l sie Autorität und Anerkennung erreichen. Doch bedeutet Anpassung an das Schulsystem zugleich den schmerzvollen Verrat an ihrem wahren Selbst, das Opfer ihres organischen Menschenbildes zugunsten eines blinden mechanischen Systems der Entfremdung: »So her face grew more and more shut, and over her flayed, exposed soul of a young girl who had gone open and warm to give herself to the children, there set a hard, insentient thing, that worked mechanically according to a system imposed.« Wichtige Aspekte seiner Zivilisationskritik fängt Lawrence durch die persönlichen Beziehungen ein, die Ursula zu einer Reihe von Figuren aufnimmt. Sie alle sind auf die eine oder andere Weise dem Verblendungszusammenhang der Zivilisation erlegen und haben dabei ihre individuelle Integrität und ihre 23

Vgl. Lawrence, Women in Love (Harmondsworth, 1975), S. 260.

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eigentliche Lebensstruktur verfehlt. Ihre Neurosen und Persönlichkeitsdefizite bilden das individualspychologische Äquivalent zur Wertpervertierung der Zivilisation i m allgemeinen. Diese Figuren sind daher keine positiven Orientierungspunkte für Ursulas Entwicklung, sondern verkörpern im Gegenteil Lebensentwürfe, die Ursula in letzter Konsequenz um ihres authentischen Reifeprozesses willen ebenfalls negieren muß. Hierzu zählen etwa Maggie Schofield, eine befreundete Schulkollegin, die über ihrer Arbeit für die politische und soziale Gleichstellung der Frau ihre individuelle Selbstverwirklichung zurückstellt, und Winifred Inger, Lehrerin und aktive Frauenrechtlerin, mit der Ursula vorübergehend eine lesbische Freundschaft verbindet, von deren willensgeprägtem Intellektualismus und homoerotischen Neigungen Ursula sich i m Nachhinein jedoch voller Abscheu als einer Perversion des Natürlichen abwendet. 24 Hierzu gehört auch ihr Onkel Tom Brangwen, der als Bergwerksmanager das industrielle System repräsentiert. Das für seine Person charakteristische unintegrierte Nebeneinander von äußerer Härte und intelligenter Funktionseffizienz einerseits und innerer Leere und neurotischer Persönlichkeitsschwäche andererseits spricht i m Lawrenceschen Wertesystem das negative Urteil über ihn. Es weist ihn zugleich als Vorstufe zu den ausführlichen Charakterporträts der inauthentischen Industriemagnaten Gerald Crich in Woman in Love und Sir Clifford Chatterley in Lady Chatterley's Lover aus. Nicht zuletzt gehört zu diesem Figurentypus aber Ursulas Liebhaber A n t o n Skrebensky. Ursula genießt mit A n t o n die Ekstasen der Sexualität und den beglückenden Rausch elementarer, dunkler Sinnlichkeit. Beide erfahren dieses Erlebnis als eine Identitätsstärkung, aus der heraus sie als »sensuous aristocrats, warm, bright, glancing w i t h pure pride of the senses« (S. 454) verächtlich herabblicken auf den sozialen Konformismus und die Rollenhaftigkeit der »pale Citizens, whose primeval darkness was falsified to a social mechanism«. (S. 448) I n letzter Konsequenz erweist sich Anton jedoch nicht als ichstark genug, um i m Sinne der Lawrenceschen Liebesmetaphysik des star-equilibrium in einer auf Polarität und Komplementarität gestützten Geschlechterbeziehung der angemessene Partner für Ursula zu sein. Während eines in seinem archaischen Primitivis24 Die in Ursulas Negationen implizierte Ablehnung von Maggie Schofield und Winifred Inger und die Abwertung ihres Engagements für die gesellschaftliche Gleichstellung und Emanzipation der Frau können als signifikante Beispiele der Gefahren einer sich fundamentalistisch gebärdenden Zivilisationskritik bei Lawrence gedeutet werden. W i r d doch hier im Namen einer fragwürdigen Tiefendimension >eigentlicheruneigentlich< diskrediert. Zugleich w i r d damit ein künstlicher Widerspruch zwischen individuell-existentieller Erlösungssuche und sozialem Engagement aufgebaut, der letztlich dem gesellschaftlichen Quietismus Vorschub leistet.

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mus befremdlich wirkenden Geschlechterkampfes erfährt Ursula unter der Ägide des Mondes die Identitätsschwäche ihres Partners, dessen Persönlichkeitsgrenzen offen hervortreten: »She knew him all round not on any side did he lead into the unknown.« (S. 473f.) Seine fehlende existentielle Tiefendimension zeigt sich in den Ängsten, die das dunkle Unbewußte und die Welt der Nacht in ihm auslösen. Sie wird von Ursula und Lawrence in unmittelbare Verbindung mit seinem am social seif orientierten Lebensentwurf und seinem Menschenbild gebracht. I m Banne des falschen Bewußtseins der Zivilisation mißachtet A n t o n den unverwechselbaren existentiellen Eigenwert des Ich. Statt dessen betrachtet er es als höchste Aufgabe des Menschen, in seinen sozialen Rollen und Funktionspflichten i m Dienste von Nation und Gesellschaft aufzugehen. Wenn Ursula ähnlich wie Charlotte Brontes Jane Eyre gegenüber St. John Rivers sich weigert, als seine Ehefrau mit nach Indien zu gehen, um dort der Nation in ihren kolonialimperialen Zielen zu dienen, und sich, ungeachtet seiner sinnlich-sexuellen Ausstrahlung, von ihm lossagt, dann kommt diesem ihr schwerfallenden A k t der Negation grundsätzliche Bedeutung zu. Er besagt, daß A n t o n bereits zu sehr durch das reduzierte Menschenbild der Zivilisation verführt und in seiner personalen Identität zerstört worden ist. Ursula kann daher mit ihm jene religiösmetaphysische Dimension der geglückten Ehebeziehung nicht erleben, wie sie ansatzweise in der Ehe zwischen Tom Brangwen und Lydia Lensky sichtbar wird und wie sie generell ein grundlegendes Element der Lawrenceschen Weltanschauung bildet. Ursulas Beziehung zu Anton bleibt daher auf den sinnlichen Rausch der Leidenschaft beschränkt, ohne daß sich ihr i m Sinne der Lawrenceschen Liebesmetaphysik und der Metaphorik von arc und rainbow die Möglichkeit zu einer partnerbezogenen, quasi-religiösen Sinnerfüllung und Entgrenzung des Ich eröffnen würde: »And after all, what could either of them get from such a passion but a sense of his or her own maximum self, in contradistinction to all the rest of life? Wherein was something finite and sad, for the human soul at its maximum wants a sense of the infinite.« (S. 303) Parallel zu den zahlreichen Negationsakten, mit denen sich Ursula um der Authentizität ihres Selbstseins willen v o m Verblendungszusammenhang der Zivilisation distanziert, entwickelt sie in Gegenbewegung dazu ein geschärftes Bewußtsein für die naturhaft-organischen Erfahrungsbereiche menschlicher Existenz, die vom Erkenntnisideal zivilisatorischer Rationalität ausgegrenzt und verdrängt worden sind. Z u diesen Formen der Lebensaffirmation, die sich in Ursulas wachsender Sensibilität für diese Bereiche ausdrückt, gehört sicher in erster Linie das Erlebnis der Sexualität mit all den mystischen und existentiellen Erfahrungsmöglichkeiten, die Lawrence damit verbindet. Eng damit verknüpft ist Ursulas sich vertiefendes intuitives Wissen um den großen, sich der Helligkeit des rationalen Denkens entziehenden Bereich des Unbewußten. I n der Gestalt von Lebensenergie und evolutionärer Naturkraft wird dieses Unbewußte i m

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Roman durch eine umfassende darkness- Aletaphorik

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erfahrbar. N i c h t zuletzt

gehört zu diesen Formen der Lebensaffirmation Ursulas Vision des Lebensmysteriums während ihres Studiums der Botanik. Anders als die Wissenschaft versucht sie die lebendige Zelle unter dem M i k r o s k o p nicht als eine K o m b i n a t i o n v o n chemischen und physikalischen Kräften kausal zu erklären, sondern begegnet ihr i n einem für den modernen Roman so typischen »moment o f vision« voller Ehrfurcht und Staunen. 25 Suddenly she had passed away into an intensely-gleaming light of knowledge. She could not understand what it all was. She only knew that it was not limited mechanical energy, nor mere purpose of self-preservation and self-assertion. It was a consummation, a being infinite. Self was a oneness with the infinite. To be oneself was a supreme, gleaming triumph of infinity (vgl. S. 440 f.).

I m Sinne dieser Vision bewirkt die geschärfte Sensibilität für die Lebensprozesse der darkness bei ihr ein intensiviertes Bemühen u m jenes Selbstsein, das als Vorschein des Unendlichen i m Endlichen der individuellen Existenz

bei

Lawrence ihre sakrale Würde verleiht. Ursula erkennt, daß die Zielrichtung ihres Bildungsprozesses keinesfalls i n der Anpassung an das Normenrepertoire einer kranken Zivilisation bestehen kann, sondern zuallererst eine Verinnerlichung und ein Zu-Sich-Selbst-Finden bezeichnet. 26 I m Gegensatz zum klassischen deutschen Bildungsroman und dem viktorianischen Entwicklungsroman, die eine harmonisierende Versöhnung v o n Ich und Welt der Tendenz nach für möglich und erstrebenswert hielten, steht Lawrence der Möglichkeit eines Zu-Sich-Selbst-Kommens der Subjektivität i n der kulturellen Objektivität moderner gesellschaftlicher Wirklichkeit prinzipiell ablehnend gegenüber. 2 7 Seine A n t w o r t auf dieses grundlegende Sinndefizit der Moderne sind jedoch nicht Resignation und Pessimismus, sondern das Vertrauen auf die regenerative Kraft und die schöpferische Spontaneität des natural seif. Bildungsziel seiner Protagonisten ist es daher, zu einem Bewußtsein dieses authentischen Selbstseins und damit parallel zur Absage an die Zivilisation zu einer Affirmation des Lebens zu gelangen. V o r diesem Hintergrund bildet paradoxerweise bei Lawrence Regression, d.h. i m Sinne der Bildlichkeit v o n kernel und shell die 25 Vgl. hierzu auch W i l l i Erzgräber, »>The Moment of Vision< im modernen englischen Roman«, in: Augenblick und Zeitpunkt: Studien \ur Zeit struktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften hgg. C. W. Thomsen und H. Holländer (Darmstadt, 1984), S. 361-387. 26 Vgl. hierzu u. a. Edward Engelberg, »Escape from the Circles of Experience: D. H. Lawrence's The Rainbow as a Modern Bildungsroman% PMLA, 78 (1963), S. 103-113 und Stephen J. Miko, Toward >Women in Lovec The Emergence of a Lawrentian Aesthetic (New Haven und London, 1971), S. 156ff. 27 Z u m Bildungsroman vgl. Jürgen Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder: Untersuchungen %um deutschen Bildungsroman (München, 1972) und Jerome H. Buckley, Season of Youth — The Bildungsroman from Dickens to Golding (Cambridge, 1974).

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Freilegung des naturhaften Persönlichkeitskerns, sein Durchbrechen durch eine beengende, lebensfeindliche Schale des social seif, die Bedingung der Möglichkeit eigentlicher Emanzipation — sowohl im individuellen wie auch im gesellschaftlichen Sinne. N u r der durch Regression vermittelte wiedergefundene Anschluß an die vitalistisch-existentielle Quelle des true unconscious, verstanden als Durchscheinen des Unendlichen im Natürlichen, des Göttlichen i m Organisch-Lebendigen, setzt das Individuum frei zur authentischen Existenz. N u r eine so konzipierte authentische Existenz aber ist zur eigentlichen Ichverwirklichung befähigt und auf dieser Basis zu einer individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation imstande, die weder einer Dialektik der Aufklärung noch einer rationalistisch reduzierten Menschlichkeit in der modernen Zivilisation verfällt. Ursulas Entwicklungsprozeß am Ende des Romans liest sich wie eine exemplarische Veranschaulichung dieser Überlegungen. Vorbereitet durch die symbolische Konfrontation mit den Pferden, die innerseelischen Turbulenzen ihrer Trennung von A n t o n Skrebensky und durch eine Krankheit, die sie ähnlich wie Pip in Great Expectations in einen trancehaften Erlebniszustand versetzt, durchlebt Ursula i m Schlußkapitel von The Rainbow einen seelischen Reinigungsund Transformationsprozeß. Er mündet in die Wiedergeburt ihres neuen Ich und die Wiedererweckung ihres naturhaft-vitalen Persönlichkeitskerns ein und endet mit der Vision des Regenbogens. I n der visionären Symbolik des Regenbogens, zu deren Erkenntnis Ursula bezeichnenderweise erst im Anschluß an ihre Wiedergeburt als mit sich selbst identisches Ich vorzustoßen vermag, komprimiert Lawrence seine Utopie eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft, die zur Affirmation des Lebens zurückgefunden und sich von der Verblendung des Geistes der Zivilisation befreit haben. Der Regenbogen versinnbildlicht zugleich die Axiome der Lawrenceschen Weltanschauung, zu deren Erfahrung Ursula auf ihrem paradigmatischen Bildungsweg vorgedrungen ist: Steadily the colour gathered, mysteriously, from nowhere, it took presence upon itself, there was a faint, vast rainbow. The arc bended and strengthened itself till it arched indomitable . . . its pedestals luminous in the corruption of new houses on the low hill, its arch the top o f heaven. A n d the rainbow stood on the earth. She knew that the sordid people who crept hard-scaled and separate on the face of the world's corruption were living still, that the rainbow was arched in their blood and would quiver to life in their spirit, that they would cast off their horny covering of disintegration, that new, clean, naked bodies would issue to a new germination, to a new growth, rising to the light and the wind and the clean rain o f heaven. She saw in the rainbow the earth's new architecture, the old, brittle corruption o f houses and factories swept away, the world built up in a living fabric of Truth fitting to the over-arching heaven. (S. 495 f.)

Man hat wohl zu Recht die Vision des Regenbogens am Ende des Romans wiederholt als Flucht i n die Utopie und in eine abstrakt bleibende Symbolik kritisiert. Allerdings wäre es falsch, darin nur den unbefriedigenden Ausdruck einer künstlerischen und weltanschaulichen Verlegenheit zu sehen. 28 Dagegen

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spricht zum einen die Aussagekraft des Regenbogensymbols. Insbesondere in der Vorstellung, »that the rainbow was arched in their blood and would quiver to life in their spirit«, faßt das Symbol nicht nur den Entwicklungsprozeß Ursulas adäquat zusammen, sondern es ermöglicht auch einen am Prinzip Hoffnung orientierten Ausblick in eine offene Zukunft. Denn Ursula hat am Ende von The Rainbow zu ihrer vorübergehend bedrohten natürlichen Identität auf einer höheren Bewußtseinsebene zurückgefunden und damit ein Stadium der Selbstbildung erreicht, das sie in Women in Love zu der normativ gemeinten Beziehung zu Rupert Birkin befähigt. Dagegen spricht aber zum anderen auch die appellative Funktion des auf exemplarische Wirkung beim Leser hin angelegten offenen Schlusses von Ursulas Bildungsweg. Man kann daher die in der Vision des Regenbogens symbolisierte Utopie eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft als den Hoffnung suggerierenden Vorschein dessen interpretieren, was zwar von Lawrence literarisch imaginiert, jedoch erst in der geschichtlichen Lebenswelt des Lesers Wirklichkeit werden kann. Abschließend noch ein kurzes Wort der Bewertung. Wie gezeigt worden ist, gestaltet Lawrence sein Programm der Selbstfindung im Spannungsfeld von Zivilisationskritik und Lebensaffirmation mit fundamentalistischer Radikalität. Doch ist es, so scheint es, gerade der weltanschauliche Fundamentalismus, der in der literarischen Exploration dieser Thematik eine in vielerlei Hinsicht gefahrliche Gratwanderung zwischen Gelingen und Scheitern mit sich bringt. I m Falle des Gelingens — wie über weite Strecken von The Rainbow und Women in Love sowie in einigen anderen Erzählwerken — liefert Lawrence eine beeindruckende Diagnose der Krankheit der Moderne, ihrer Wurzeln und Symptome, sowie eine eindringliche, oft durchaus überzeugende Therapie für Möglichkeiten der Neuorientierung. Die Grundlinien seiner Argumentation gewinnen dabei vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion über die Wiedergewinnung eines ökologischen Bewußtseins und einer Sensibilität für organisch-naturhafte Lebensprozesse ebenso an Aktualität wie angesichts der Forderung nach einem neuen Paradigma des Denkens in ganzheitlichen Wertbegriffen, wie sie etwa Fritjof Capra in seiner Studie Wendest: Bausteine für ein neues Weltbild aufstellt. 29 I m Falle des Scheiterns jedoch — wie gelegentlich selbst in seinen Meisterwerken, vor allem aber in seinen Romanen The Kangaroo und The Plumed Serpent — läuft Lawrence in mehrfacher Hinsicht Gefahr abzustürzen. 30 Der Absturz 28 Zur kontroversen Diskussion über die Bewertung des Romanschlusses und die Schlüssigkeit der Regenbogen-Symbolik vgl. u. a. K e i t h Sagar, The Art of D. H. Lawrence (Cambridge, 1966), S. 62 ff. Leavis, Lawrence, S. 169 ff. und Frank Glover Smith, D. H. Lawrence >The Rainbow< (London, 1971), S. 53 f f 29 30

Vgl. Fritjof Capra, Wende^eit: Bausteinefür ein neues Weltbild (Bern und München, 1983).

Diese Gefahren werden, wenn auch insgesamt zu einseitig, vor allem in der Studie von Regina Wettern, D. H. Lawrence: Zur Funktion und Funktionsweise von literarischem Irrationalismus (Heidelberg, 1979), kohärent herausgearbeitet.

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droht 1. in eine Pseudoradikalität, die im Namen eines existentialistischen Pathos und eines >Jargons der Eigentlichkeit< die konkrete Arbeit für eine gerechtere und humanere Gesellschaft als Ichverlust diffamiert. Der Absturz droht 2. in einen K u l t des Instinktiven und Archaisch-Primitiven, der an die Stelle der notwendigen Versöhnung von Natur und K u l t u r mit ihren schwierigen und komplexen Formen der Vermittlung ein Ursprungsdenken und ein raunendes Beschwören von Leerformeln des Naturhaft-Organischen setzt. 31 Der Absturz droht 3. in einen verführerischen Irrationalismus, wobei die berechtigte K r i t i k am verengten Rationalitätsideal moderner Zivilisation in den Fetisch einer neuen Lebensmystik umschlägt. Dabei ist zu befürchten, daß das behauptete Mysterium des Lebens nicht nur dem engen Verstand, sondern auch der menschlichen Vernunft schlechthin verschlossen bleiben muß. Insgesamt zeigt damit das Werk von D. H. Lawrence in beispielhafter Weise die janusköpfige Gestalt, die Dialektik von Möglichkeit und Gefahr, nicht nur der modernen Zivilisationsgesellschaft, sondern auch einer gegen sie gerichteten, fundamental konzipierten Kultur- und Zivilisationskritik, wie sie seit der Romantik das Werk zahlreicher bedeutender Autoren der englischen Literatur geprägt hat.

31

Vgl. zu diesem Problem insbesondere Burns, Nature, passim.

K Ü N S T L E R F R E I H E I T U N D GEWISSENSNOT: DAS BEISPIEL T H O M A S M A N N Von Eckhard Heftrich A n politisierenden Schriftstellern herrscht kein Mangel. Und lange ist es her, daß ein Verfasser von Gedichten, Theaterstücken oder Romanen, sich gleichsam entschuldigend, um Verständnis dafür warb, daß er auf den Markt ging und in den Streit des Tages sich mischte. Vielmehr liegt der Legitimationsdruck längst auf jenen, die, obwohl sie schreiben, sich in politischer Enthaltsamkeit üben. Einige wenige sind vielleicht nicht nur deshalb so asketisch, weil sie sich in ihrer Jugend einmal die Finger verbrannt haben, sondern aus angeborener Bescheidenheit oder in skeptischer Einsicht, daß, wer das Talent hat zu sagen, was er leide, nicht deshalb schon zum politischen Gewissensrat der Nation berufen sei. Eine Vielzahl von jenen, die heute die Berufsbezeichnung Schriftsteller führen, schreiben also auch über Politik. Das sagt rein gar nichts aus über die Begabung der Schreibenden,wie andrerseits die Askese in politicis nicht auch schon ein Qualitätsausweis ist. Neueren Datums dürfte freilich sein, daß ein Intellektueller besonderen ästhetischen Kredit eingeräumt bekommt, nachdem er plötzlich anstatt wie bisher nur Aufsätze zu schreiben und Aufrufe zu unterschreiben, sich ins Erzähl- oder Bühnenfach begeben hat: paßt die Gesinnung, so wird eine Menge Dilettantismus in Kauf genommen. Umgekehrt ist aber heute auch die Toleranz größer geworden, die man einem wirklichen Künstler entgegenbringt, wenn der sich in die Politik mischt und man seine politischen Ansichten nicht teilt; wenigstens auf der vielgeschmähten bürgerlichen Seite ist diese Toleranz sehr groß — und nicht nur gegenüber Nobelpreisträgern. V o m Ersten Weltkrieg an bis in die Jahre des kalten Krieges hinein war dies offenbar anders, wie das Beispiel Thomas Mann lehrt. Sein Rang und Ruhm hat nie die Angriffe verhindert, und nicht nur i m Deutschland Hitlers war man geneigt, den ganzen Mann wenigstens geistig zu erledigen, weil einem dessen politische Ansichten nicht paßten. Gewiß kann man Heydrichs und Himmlers Entschlossenheit, den Nobelpreisträger nach Dachau zu bringen, wenn man seiner habhaft werden könnte, und zwar schon gleich nach der Machtergreifung, — gewiß kann man diese Mordabsicht nicht einfach mit den Beschimpfungen gleichsetzen, die Thomas Mann während der Weimarer Republik erfahren hat, und noch weniger mit den Verdächtigungen durch einige der sogenannten inneren Emigranten nach 1945. Und man wird auch zögern, in den Wutausbrü-

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chen, die sich noch 1975, beim hundertsten Geburtstag, etliche Mitläufer der Bewegung von 1968 gegen Thomas Mann geleistet haben, nur die anachronistische linke Wiederholung der rechten Ausfälle der Zeit vor 1933 zu erblicken — kurz, man tut gut daran, nicht einfach die ganze Fülle politisch begründeter Animosität, von Widerwillen, von Haß gegen Thomas Mann zu einer undifferenzierten Summe zusammenzuziehen. Und doch bleibt ein überraschtes, ja kopfschüttelndes Verwundern angesichts der Arten und Grade der Polemik, die dieser Schriftsteller über Jahrzehnte zu entfachen vermochte. Ein Verwundern, das sich noch verstärkt, sobald man hinzunimmt, wie Thomas Mann von 1933 an bis in die Kriegs- und Nachkriegszeit hinein von machen Zirkeln und Personen der Emigration selbst heftig angefeindet wurde, obwohl er doch einer der berühmtesten und also von den Nazis am unflätigsten beschimpften Emigranten war. M i t einer bündigen Erklärung ist wenig gewonnen. Es soll statt dessen versucht werden, Thomas Manns Verhältnis zur Politik und sein Verhalten gegenüber den politischen Ereignissen von seinen eigenen Klärungs- und Bemühungsversuchen her durchsichtiger zu machen: also eine Sicht von innen, anstatt von außen, soweit dergleichen möglich ist. Als Grundlage bieten sich vor allem die Tagebücher an. Thomas Mann hatte verfügt, daß die versiegelten Papiere erst zwanzig Jahre nach seinem Tod geöffnet werden dürften. Das war 1975, und ab 1977 begannen die Bände zu erscheinen. Alle Tagebücher vor 1933 hat Thomas Mann vernichtet. N u r durch einen Zufall blieben einige ältere Hefte erhalten. Gerade diese Aufzeichnungen v o m September 1918 bis Dezember 1921 gehören zu den aufschlußreichsten Dokumenten, sowohl i m Hinblick auf das Private wie das Politische. Da sich aber die Problematik, die i m Titel des Vortrages auf eine Formel gebracht wurde, ab 1933 verschärft, werden hier vor allem die späteren Aufzeichnungen 1 herangezogen. Paul Egon Hübinger hat in seinem 1974 erschienenen, mit einem umfangreichen Dokumententeil versehenen Buch Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte eben das, was man die Innenansicht der Konflikte nennen kann, vielfach berührt. 2 Da ihm aber die Tagebücher noch nicht zur Verfügung standen, 1 Also die Tagebücher 1933-1934, F r a n k f u r t / M . 1977. Tagebücher 1935-1936, ebd. 1978. Tagebücher 1937-1939, ebd. 1980. Alle hrsg. von Peter de Mendelssohn. — Eine ausführliche Analyse der Tagebücher 1918-1921 habe ich unter dem Titel »Eros und Politik« vorgelegt in: Vom Verfall zur Apokalypse — Über Thomas Mann, Band I I , F r a n k f u r t / M . 1982,103-156. — Thomas Mann w i r d zitiert nach: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, F r a n k f u r t / M . 1974. — Bei den Tagebüchern w i r d unterm Datum des Eintrags zitiert. 2

Paul Egon Hübinger: Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte. München, Wien 1974. Hierzu ergänzend der Aufsatz Hübingers mit neuen Dokumenten: »Thomas Mann und Reinhard Heydrich in den Akten des Reichsstatthalters v. Epp«. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 28, 1980, Heft 1.

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mußte er auf Materialien zurückgreifen, die noch mit vielen Unsicherheiten belastet waren. Das gilt auch für alle anderen Autoren, die sich vor Erscheinen der Tagebücher mit Thomas Manns Verhältnis zur Politik befaßt haben. 3 Wo man sich bislang häufig mit Vermutungen und Konstruktionen behelfen mußte, bieten nun die direkten Aufzeichnungen eindeutigere Grundlagen als etwa auch die früher bereits verfügbaren Korrespondenzen, zumindest was die Innenansicht betrifft, die sich nun als Thomas Manns unmittelbar fixierte Empfindung und Meinung von Tag zu Tag rekonstruieren läßt. Doch zwingen die Tagebücher ab 1933 nicht zu einer grundlegenden Revision des Gesamtbildes von Thomas Manns Haltung und Entwicklung ab 1933, auch nicht, was die etwas diffusen ersten Jahre angeht, die man als die Zeit seiner Interim-Emigration bezeichnen könnte. Über die Detailrevision hinaus ist jetzt eine objektivere Beurteilung von Thomas Manns nicht nur bei den mitleidenden Zeitgenossen umstrittenen, mühsam bewahrten Zurückhaltung gegenüber dem Hitlerregime möglich. M i t objektiver Einsicht ist gemeint: Wir überblicken nun deutlicher die unterschiedlichen Motive seiner Haltung, erkennen auch die Modifikationen dieser Motive und sehen deutlicher, wie stark Aktionen in Deutschland Thomas Manns Reaktionen bestimmt haben. Die objektive Sicht gewährt die tiefere Einsicht: unter den Wirren, Schwankungen, Zuspitzungen der Ereignisse, an deren Ende dann der auch in der Öffentlichkeit vollzogene radikale Bruch mit dem nationalsozialistischen Deutschland steht, unter diesen hochdramatischen Kämpfen wird ein Grundmuster erkennbar, das seit je Thomas Manns Verhältnis zur Politik bestimmt hat. Dabei stellt sich die Frage, ob die häufig geäußerte Ansicht, Thomas Mann sei im Grunde immer der Unpolitische geblieben, für den er sich zur Zeit der Abfassung der Betrachtungen hielt, hinreicht. Stimmt man dem zu, so sollte man sich um Differenzierung bemühen, und das bedeutet gerade in diesem Fall, daß man sich auf zweifellos quälende Fragen einläßt. Das Grundmuster von Thomas Manns Verhältnis zur Politik kann auf die Formel gebracht werden: Zwang zur Politik. Unter diesem Titel erschien am 22. Juli 1939 in der Pariser Emigranten-Zeitschrift Das Neue Tagebuch sein schon i m Januar auf englisch in einer New Yorker Zeitschrift publizierter Aufsatz, den auch die Basler National-Zeitung am 23. Juli 1939 abdruckte, hier mit der übersetzten Überschrift des amerikanischen Erstdrucks: »Kultur und Politik«. 4 Unter diesem Titel ist der kleine Essay denn auch in die Werk Sammlungen eingegangen. Der Pariser Titel forciert die Tendenz des Aufsatzes, das deutsche Verhängnis als Konsequenz des Hochmutes des deutschen Geistes zu erklären, 3

Stellvertretend sei genannt: K u r t München, 1961 bzw. 1965.

Sontheimer: Thomas Mann und die

Deutschen.

4 X I I , 853 ff. Zur komplizierten Entstehungs- bzw. Druckgeschichte vgl. Dichter über ihre Dichtungen, Thomas Mann, Teil I I , hrsg. von Hans Wysling, München / Frankfurt 1979, S. 688.

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der darin lag, sich um der Reinheit des Geistes willen der Politik zu enthalten. Es sei ein Irrtum deutscher Bürgerlichkeit gewesen zu glauben, man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein. Daß Thomas Mann damit auch und vor allem von sich selber spricht, ist unverkennbar, aber das Schuldbekenntnis wandelt sich stehenden Satzes in den Dank an »meinen guten Genius«, der ihn dazu gedrängt habe, die Erkenntnis, daß die K u l t u r in schwerste Gefahr gerate, wenn es ihr am politischen Instinkt und Willen mangle, zeitig genug in ein i?tfkenntnis zur Demokratie zu verwandeln: Denn wo wäre ich heute, auf welcher Seite fände ich mich, wenn mein Konservativismus bei einem Deutschtum verharrt wäre, das all sein Geist und all seine Musik nicht davor bewahren konnten, in die niedrigste Gewaltanbetung und in eine die Grundlagen der abendländischen Gesittung bedrohende Barbarei einzumünden! 5

Dieses Bekenntnis hat Thomas Mann zum ersten Mal 1922 öffentlich in jener Rede abgelegt, die zwar Gerhart Hauptmann zum 60. Geburtstag gewidmet, aber an eine Jugend adressiert war, von der er zu dieser Zeit, unterm Choc der Ermordung Rathenaus noch meinte — und hoffte — sie sollte »teils geistigunpolitischer, teils vernünftig-politischer sein und sich ein wenig unbefangenpositiv zu den Gegebenheiten verhalten«. 6 Aber genau dreißig Jahre später, 1952, sagt Thomas Mann, öffentlich über das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft räsonierend, das politische Moralisieren eines Künstlers habe unleugbar etwas Komisches, und die Propagierung humanitärer Ideale bringe den Künstler »fast unwiderruflich in die Nähe — und nicht nur in die Nähe — der Platitüde«. 7 Er habe das erfahren. Damit ist weniger auf die Rolle angespielt, die ihm zur Zeit der Weimarer Republik zugewachsen war, als vielmehr auf jene, die er in der Emigration auf sich genommen hatte und von der er nun, ohne die damit vertretenen Ideale verleugnen zu wollen, zu sagen sich nicht scheut: »eine Rolle, für deren K o m i k ich, selbst zur Zeit meines leidenschaftlichsten Verlangens nach Hitlers Untergang, nie ohne Blick war«. Es ist die Rolle eines »Wanderrednerfs] der Demokratie«. Was ihn dazu gebracht hat, kann man als den Zwang der Politik bezeichnen. Thomas Mann sagt nämlich, es sei der Faschismus gewesen, der ihn »durch seine Siege und seine nicht erwünschte Niederlage«, d. h. die zur Zeit der Appeasement-Politik vor allem von England betriebene Vogel-Strauß-Politik, »mehr und mehr auf die linke Seite der Gesellschaftsphilosophie« getrieben habe. M i t dieser linken Seite ist jene immer nur vage umschriebene A r t von sozialer Demokratie gemeint, die Thomas Mann am ehesten die Voraussetzungen zu bieten schien für das, was er in vielen 5

X I I , 854.

6

Brief an Ernst Bertram v o m 8. V I I . 1922. — Die Rede »Von Deutscher Republik«. X I , 809 ff. 7

X , 397.

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Variationen jahrzehntelang als »die Humanität« beschworen hat. Da er Verdächtigungen und Mißverständnisse zu fürchten lernte, sagt er hier, 1952, ausdrücklich, er sei sehr schlecht ausgestattet, den Kommunisten »abzugeben«. Zwei Jahre zuvor, 1950, beharrte der Fünfundsiebzig jährige im Rechenschaftsbericht Meine Zeit darauf, daß er i m Politisch-Moralischen »regelmäßig i m unvorteilhaftesten Augenblick« Stellung bezogen habe, also immer gegen die gerade siegreiche Zeittendenz, und daß diese Stellungnahmen, obwohl sie Wendungen wie jene von den Betrachtungen eines Unpolitischen zur Republik Verteidigung einschloß, vor sich gingen, »ohne daß ich irgendeines Bruches in meiner Existenz gewahr geworden wäre, ohne das leiseste Gefühl, daß ich irgend etwas abzuschwören gehabt hätte« 8 . Daß diese Behauptung ihm leicht den V o r w u r f der Selbstgerechtigkeit hätte eintragen können, muß Thomas Mann gespürt haben, denn er fügt etwas hinzu, was man als die Bitte umschreiben kann, nicht nach der Tat, sondern nach dem Wollen beurteilt zu werden: »Gerade der Antihumanismus der Zeit machte mir klar, daß ich nie etwas getan hatte — oder doch hatte tun wollen — , als die Humanität zu verteidigen. Ich werde nie etwas anderes tun.« U m auch noch seine spezifische, 1914-1921 vertretene Form eines aggressiven deutschen Kulturnationalismus unter den Generalnenner »Verteidigung der Humanität« zu bringen, muß Thomas Mann freilich zu einer sehr eigenwilligen Interpretation Zuflucht nehmen: »Ich war national, als der explosive Pazifismus der Expressionisten an der Tagesordnung war.« 9 W i l l man ihm hier wenigstens eine gegen alle Tatsachen aufrecht gehaltene subjektive Überzeugtheit zugestehen, so ist man auch für diese Jahre — 1914 bis 1918 — auf die Innenansicht verwiesen. Denn von den »Gedanken i m Kriege« (erschienen i m Novemberheft 1914 der Neuen Rundschau) an bleibt Thomas Mann für Jahre ein Teilhaber der in Deutschland gängigen öffentlichen Meinung, während der »explosive Pazifismus« bis 1918 durchaus nicht an der Tagesordnung war. Die Innenansicht verrät hingegen weniger einen Mitläufer als einen Verstörten, der die Freiheit, die ihm mit der Freiheit der Kunst identisch ist, bedroht sieht, und zwar durch eine Politik, die im Namen der Freiheit die Politisierung des gesamten Lebens und also auch die der Kunst fordert. Daß der Hauptvertreter des Postulats, mit dem Spottund Schimpfnamen »Zivilisationsliterat« versehen, der eigene Bruder war, trug nicht nur zur Verschärfung der Verstörung bei sondern war eine ihrer Ursachen. Weder in politischer noch privater Hinsicht ähnelt Thomas Manns Situation ab 1933 derjenigen, die i m Ersten Weltkrieg und zu Beginn der Republik einen ratlos zwischen den Extremen schwankenden Melancholiker zeigt. U m so auffälliger ist daher die offenkundige Wiederkehr der Verstörung. Über alle Unterschiede hinweg zeigt gerade diese in den Tagebüchern beobachtbare, verwandte s X I , 314. 9

Ebd.

10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

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Reaktion, daß. wir es noch immer mit demselben Mann zu tun haben, der dann noch und wieder als Fünfundsiebzig jähriger schreiben wird: Es ist kein Wunder, daß in unserer Welt eines an sich verzweifelnden oder doch an sich zweifelnden Liberalismus eine solche Gründung [wie sie der totalitäre Staatsmann nach der A r t eines Religionsstifters als inquisitives, auf Legenden beruhendes Dogmensystem durchsetzt, E. H.] Erfolg hatte, soviel Schauriges davon ausgeht für den durch die Kunst an Freiheit Gewöhnten, — durch sie, in welcher Freiheit vielleicht allein möglich und natürlich ist. 1 0

Darum reichen die trotz aller Härte doch eher äußeren Gründe zur Erklärung der Verstörtheit nach 1933 allein nicht aus. Gewiß hätte auch einem robusteren Gemüt an den Nerven gezerrt, was da schon bald nach der Machtübernahme mit der selbst zu dieser Zeit nicht nur gesetzlosen, sondern gesetzeswidrigen Beschlagnahmung und Verschleuderung von Thomas Manns Eigentum durch die Bayerische Politische Polizei seinen Anfang nahm. Aber die Sorgen waren schließlich nicht die eines verarmten, isolierten Flüchtlings, sondern blieben allemal die eines noch immer sehr wohlhabenden Prominenten, der — mit übrigens bewundernswerter Disziplin — in gemieteten Villen oder nobelsten Hotelsuiten an seiner schriftstellerischen Arbeit festhielt, und auf Vortragsreisen, i m Gespräch und in der Korrespondenz, den enormen internationalen Verpflichtungen standhielt. Nicht einmal die Weigerung der Münchner Behörden, den am 1. A p r i l 1933 ablaufenden Paß zu verlängern, hatte die erwünschten Folgen: ihn zwecks Erledigung der Paßformalitäten über die Grenze zu locken und ins Schutzhaftlager zu bringen, wie es nicht nur Himmler und Heydrich, sondern vor allem auch der einstige Bekannte aus München und jetzige hohe Kulturfunktionär Hanns Johst, erhofften. 11 Auch ohne gültigen Paß konnte Thomas Mann, bevor er die tschechische Staatsbürgerschaft annahm, die Ländergrenze passieren — ein nicht ganz selbstverständliches Privileg in den Jahren der zunehmenden Verängstigung und Anpassungswilligkeit in Europa. Himmler, Heydrich & Co. versuchten auch, erst von München und dann von Berlin aus, die Ausbürgerung zu bewerkstelligen. Das wurde bis Ende 1936 vor allem durch das Auswärtige A m t erfolgreich konterkariert, — was zwar die Lage Thomas Manns auf konfuse Weise vernebelt hat, aber zugleich ein von ihm nicht nur als Qual empfundenes, sondern auch als Möglichkeit ein halb und halb bejahtes zögerndes Abwarten erlaubte. Und er brauchte das zunächst einmal keineswegs als Verleugnung aller Überzeugungen zu betrachten. Auch wenn er schwieg, war kaum daran zu zweifeln, wie er den Nationalismus beurteilte, solange er nicht zurücknahm, was er vor dessen Sieg zur Verteidigung der Republik gesagt hatte, und solange er 10 11

X I , 318.

Vgl. außer den Schriften von Hübinger auch K u r t Pätzold: »Zur politischen Biographie Thomas Manns« (1933), in: Weimarer Beiträge 21, 1975, Heft 9, 178 ff.

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nicht nach Deutschland zurückkehrte. Angriffe und Verdächtigungen einiger Emigranten, die seine vernehmbare Stimme für den K a m p f gegen Hitler forderten, brauchten ihn i m Ernst nicht fundamental zu treffen. Wenn seine beiden ältesten Kinder, sich hier mit Heinrich Mann eins wissend, ihn ebenfalls zur offenen Entscheidung und Kriegserklärung drängten, mußte er Gründe für sein Schweigen keineswegs an den Haaren herbeiziehen, um seine vorläufige Haltung zu verteidigen. Gewiß, die Lage war schief, aber solange sie nicht ganz unhaltbar war, durfte er wenigstens daran glauben, er könne seine Integrität wahren, ohne alsbald seine Leser in Deutschland verlieren zu müssen und das drohende Ende des um sein Weiterbestehen kämpfenden S. Fischer-Verlages mit herbeizuführen. I m Oktober 1933 erscheint in Berlin ja der erste Band der Josephsromane, i m A p r i l 1934 der zweite. Die schiefe Lage also war zwar dazu angetan, beständig Gewissenszweifel zu erregen, aber sie erkärt allein nicht zureichend, was in den Tagebüchern festgehalten wird: diese immer wiederkehrenden Anfälle, in denen Zweifel in Verzweiflung umzuschlagen droht sowie die immer wieder aufgegebenen Versuche, einfach nur die Vorteile der Zurückhaltung i m Verein mit den Privilegien des Ruhmes zu nutzen und sich ins Reich der poetischen Freiheit zu retirieren, wo sich zu dieser Zeit mit Joseph von Taten träumen ließ. Die Tagebücher sind nicht mit dem Blick auf die Nachwelt geschrieben — auch nicht mit einem schielenden Blick. Bei dem Gedanken an mögliche Leser hätten viele jener Heimlichkeiten, die nun gedruckt vorliegen, die Selbstzensur niemals passiert; denn ein blinder Narziß war Thomas Mann nicht! Was da niedergeschrieben wurde, diente nicht der Bemäntelung und Interpretation. Der Schreibende notiert ohne Stilisierungen — jedenfalls ohne bewußte — was er gerade empfindet oder denkt. Vielleicht hat deshalb die rückhaltlos subjektive Sicht etwas von jener Stimmigkeit an sich, die ansonsten dem Erdichteten, wenn es ohne direkte Wirkungsabsicht entstanden ist, oft eine höhere Authentizität verleiht als dem vermeintlich Objektiven. So beginnt das Tagebuch, und zwar am 15. März 1933, wie eine glänzend erfundene Komposition. Mittwoch, den 15. März 33 Diese Nacht habe ich mit Hülfe des harmlosen Calcium-Mittels, das w i r durch Nikischs kennen lernten, überraschend gut und ausgiebig geschlafen. Ich habe, wie all diese Tage, i m Bett gefrühstückt und dann einige Zeilen, eilig, an Suhrkamp geschrieben, die Streichung betreffend einer censurwidrigen Phrase i m Wagner-Essay über den Nationalismus. Wozu in diesem Augenblick diese Tiere reizen? Heute Morgen bin ich, wie übrigens meistens am Morgen, frei von dem krankhaften Grauen, das mich seit zehn Tagen stundenweise, bei überreizten und ermüdeten Nerven beherrscht. Es ist eine A r t von angsthaft gesteigerter Wehmut, die mir in gelinderem Grade von vielen Abschiedserlebnissen her vertraut ist. Der Charakter dieser Erregung, die neulich nachts, als ich zu K . meine Zuflucht nahm, zu einer heftigen Krisis führte, beweist, daß es sich dabei um Schmerzen der Trennung von einem altgewohnten 10*

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Zustand handelt, um die Erkenntnis, daß eine Lebensepoche abgeschlossen ist, und daß es gilt, mein Dasein auf eine neue Basis zu stellen: eine Notwendigkeit, die ich, entgegen der Versteiftheit meiner 58 Jahre, geistig gut heiße und bejahe. Daher auch das eher lebendige als depressive Vorhaben, alle Amtlichkeiten und Repräsentativitäten bei dieser Gelegenheit von meinem Leben abzustreifen, die ich i m Lauf der Jahre aus sozialer Gutmütigkeit, »Pflicht«, »Eitelkeit« oder wie man es nennen will, daran hängen ließ, und mich »aus den Schlingen der Welt« mit einem Ruck zu befreien, fortan in voller Sammlung mir selbst zu leben, — dieser Vorsatz des Neubeginns, den ich gestern Nachmittag auszuführen begann, indem ich K . die Erklärung meines Rücktritts v o m Vorsitz des Schutzverbandes diktierte.

Auch ein uneingeweihter Leser könnte bereits ahnen, daß die Euphorie nicht lange anhalten wird. Schon der nächste Tag vermerkt so aufs neue den »schlechten, beängstigenden Zustand« der Nerven, ja sogar »Verzweiflung an meiner Lebensfähigkeit nach der Zerstörung der ohnedies knappen Angepaßtheitssituation«. Der 17. März bringt das retardierende Moment mit wieder besserem Morgen, vermeldet für den Nachmittag »Besprechungen über späteren Dauer-Wohnsitz in Locarno oder Zürich« und gibt in fünf Zeilen eine Summe von Thomas Manns Auffassung des Nationalsozialismus: Der widerlich modernistische Schmiß, das psychologisch Zeitgemäße darin, in Anbetracht der kulturellen, geistigen und moralischen Rückbildung. Das keß Moderne, Tempomäßige, Futuristische i m Dienste der zukunftsfeindlichen Ideenlosigkeit, Mammutreklame für Nichts. Schauderhaft und miserabel.

Merkwürdig mutet es an, daß Thomas Maan hier teilweise mit demselben Vokabular operiert, mit dem er schon früh die Bücher seines Bruders, und nicht etwa erst in der Zeit der politischen Kontroverse während und nach dem Ersten Weltkrieg, kritisiert hat. Zufall ist das gewiß nicht. Weniger merkwürdig hingegen, daß in dieser Auffassung des Hitlerismus vorweggenommen wird, was dann zehn Jahre später zum Doktor Faustus führt, der i m übrigen hier schon mehrfach als geplante Faust-Novelle auftaucht: . . . aber es wäre Zeit, daß ich mich aus der Bummelei [des] Umsturzes und der Aufregung zur Arbeit am Joseph zurückfände. Fruchtlos übrigens ist doch w o h l das schwere Ferien-Erlebnis nicht. Ich bringe es oft in Beziehung zu der Faust-Novelle, der Nachfolgerin des J o s e p h . . .

Das klingt, am 3. A p r i l 1933 notiert, wo nicht euphorisch, so doch wenigstens gelassen. Aber unterm 18. März war bereits wieder zu lesen: Nach dem Erwachen zunehmender Erregungs- und Verzagtheitszustand, krisenhaft, v o n 8 Uhr an unter K ' s Beistand. Schreckliche Excitation, Ratlosigkeit, Muskelzittern, fast Schüttelfrost u. Furcht, die vernünftige Besinnung zu verlieren.

So groß also ist der Ausschlag der Stimmungsschwankungen, wie er sich bereits an den ersten drei i m Journal faßbaren Tagen ablesen läßt. Und wenn auch i m Verlauf der Monate und Jahre die temperierten Phasen zunehmen, das heißt,

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die Euphorie in eine mit der wiedergefundenen Arbeit einhergehende Zuversicht sich wandelt, das Nevenversagen hingegen sich häufig, freilich nicht immer i m Vorfeld depressiver Melancholie verliert: wir begegnen auch fortan einem schwer Leidenden und nicht etwa einem neurotischen Narziß, der nur einfach mit der Störung seiner Goethe kopierenden großbürgerlichen Luxusexistenz nicht fertig würde. Und so sehr auch sein Leiden mit seiner unbestreitbar egozentrischen Sensibilität verbunden sein mag, es ist das Leiden an Deutschland. Leiden an Deutschland— unter diesem Titel veröffentlichte Thomas Mann 1946 in Amerika eine Zusammenstellung von Notizen aus den Tagebüchern von 1933 und 1934. Obwohl es sich um ein direktes autobiographisches Parallelzeugnis zum Doktor Faustus handelt, ist doch, i m Vergleich zu den Originalnotizen, auch in Leiden an Deutschland das Persönliche gefiltert. Es werden daher weder die extremen Stimmungsschwankungen ganz sichtbar noch auch, wie sehr diese Stimmungen jeweils die Urteile über die Ereignisse in Deutschland färben. Erst die Urfassung verrät die ganze, ins Privateste hineinwirkende Tiefe dieses Leidens, und nur wenn man das Ineinander von historischem Geschehen und subjektiver Reaktion berücksichtigt, wird man dem von der Politik zur Politik gezwungenen Schriftsteller auch in jener langen Epoche gerecht, die nicht etwa nur von 1933 bis 1945 reichte, sondern mit den noch verbleibenden zehn Lebensjahren gerade in politicis, trotz der weltgeschichtlichen Umwälzung nach Hitlers Untergang als die Spätepoche Thomas Manns eine Einheit von über zwanzig Jahren bildet. I n der Entstehung des Doktor Faustus hat Thomas Mann gesagt, die Jahre des Kampfes gegen Hitler seien eine moralisch gute Zeit gewesen. 12 Damit ist gemeint, daß Gut und Böse auf eine klare Weise geschieden und die Entscheidung als eine eindeutige gefordert war. Damit ist aber auch auf eine sehr zwiespältige Weise zugestanden, daß es mit dieser Eindeutigkeit nun, nach dem Untergang des Hitlerregimes, wieder vorbei wäre und die Nuancierung wieder in ihr Recht träte. Und damit eben das — die Nuance — , was freilich nicht nur den Nationalsozialisten ein rotes Tuch ist. 1 3 Aber während die Nuancierung für den Künstler das Glück bedeutet, bringt sie dem Geistigen, der sich von der Politik provoziert oder gar vergewaltigt fühlt, Zweifel und Qual. Humanität und Menschenwürde 12 13

X I , 254.

Die Wendung von der Nuance als dem roten Tuch findet sich mehrfach. — Bemerkenswert sind die Sätze, die dem Stoßseufzer über die moralisch gute Zeit vorausgehen. Es ist von einem Rede-Duell zwischen Stalin und Churchill die Rede anläßlich einer Krise im Schoß der >United Nations< Irans wegen: »Churchill sprach elegant und Stalin grob, ganz unrecht, fand ich, hatte keiner. Das findet man allermeist, und nur einmal i m Leben, zu meiner Erbauung, habe ich's nicht so gefunden. Hitler hatte den großen Vorzug, eine Vereinfachung der Gefühle zu bewirken, das keinen Augenblick zweifelnde Nein, den klaren und tödlichen Haß. Die Jahres des Kampfes gegen ihn waren moralisch gute Zeit.« X I , 253 f.

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bieten, w e n n sie n i c h t als M i t t e l z u e i n e m p o l i t i s c h e n Z w e c k m i ß b r a u c h t w e r d e n , n i c h t d e n Schutz eines i d e o l o g i s c h e n Panzers, s o n d e r n m a c h e n d e n j e n i g e n , der u m i h r e t w i l l e n i n G e w i s s e n s n o t gerät, p e r m a n e n t v e r w u n d b a r u n d a n f ä l l i g f ü r S k r u p e l , die z w a n g s l ä u f i g z u Selbstbezweifelungen w e r d e n . A u f der einen Seite sieht T h o m a s M a n n die D i n g e s c h o n ganz so, w i e er sie, d u r c h d e n V e r l a u f der G e s c h i c h t e bestätigt, z w ö l f Jahre später hätte beschreiben k ö n n e n ; e i n Z i t a t f ü r viele v o m 27. M ä r z 1933: Es war den Deutschen vorbehalten, eine Revolution nie gesehener A r t zu veranstalten: Ohne Idee, gegen die Idee, gegen alles Höhere, Bessere, Anständige, gegen die Freiheit, die Wahrheit, das Recht. Es ist menschlich nie etwas Ähnliches vorgekommen. Dabei ungeheuerer Jubel der Massen, die glauben, dies wirklich gewollt zu haben, während sie nur mit verrückter Schlauheit betrogen wurden, was sie sich noch nicht eingestehen können, — und das sichere Wissen der höher Stehenden, auch Konservativer, Nationaler (Kardorf), daß alles einem furchtbaren Verderben entgegensteuert. Andrerseits: . . .und es fragt sich, ob ich bei meiner singulären, mit anderen Schicksalen nicht zu verwechselnden Stellung das Recht habe, die Welt gegen eine deutsche Regierung aufzurufen, die bleiben muß und sich entwickeln kann, weil nichts da ist, was an ihre Stelle rücken könnte. So a m 1. M a i 1933! U n d w ä h r e n d der 2. M a i bereits w i e d e r v e r m e r k t : was jetzt geschähe, w ä r e n u r eine »neue F o r m der alten deutschen K u l t u r - Q u a t s c h e r e i « , eine »verlorene Sache«, e i n »großes A b l e n k u n g s m a n ö v e r , eine R i e s e n - U n g e z o g e n h e i t gegen d e n W i l l e n des Weltgeistes, e i n kindisches H i n t e r die Schule laufen« — was a m 28. M a i beinahe w ö r t l i c h u n d m i t B e r u f u n g a u f N i e t z s c h e , der den Deutschen ihre »Kultur-Quertreibereien«

v o r g e w o r f e n habe, w i e d e r h o l t

w i r d 1 4 — v e r f ü h r t i h n a m 12. M a i e i n B e r i c h t , daß das physikalische Seminar seines j ü d i s c h e n Schwagers P r i n g s h e i m i n B e r l i n ü b e r f ü l l t sei, z u der frappierenden Überlegung: Selbstverständlich ist auch für mich und meine geistige Natur immer noch ein bereitwilliges Deutschland vorhanden. Aber man muß sich klar darüber sein, daß, staatlich-historisch genommen, die deutschen Vorgänge positiv zu werten sind, obgleich sie mit deutscher Geistigkeit und K u l t u r so wenig zu tun haben wie Bismarcks Werk. Die Republik wollte — i m Tiefsten — Staat und K u l t u r in Deutschland versöhnen, Elemente und Sphären, einander fremd bei uns seit je. Es mißlang gänzlich. Geist und Macht, K u l t u r und Staat sind heute weiter auseinander als je; aber man muß erkennen, daß die Mächte der geistfeindlichen Roheit die historischen Aufgaben an sich genommen haben und mit einer Energie, an der es der Republik vollkommen gebrach, durchführen. Das w i r d n u r u m e i n weniges abgeschwächt d u r c h die anschließende R e l a t i v i e rung: 14

Tagebücher 1933-1934, S. 94. Das Hinter — die Schule — Laufen w i r d dann zu einem Topos im Doktor Faustus.

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Sie irren nur, wie ich vorläufig glauben muß, wenn sie sich für umfassend halten und auch i m Kulturellen für produktiv. Hier, scheint mir noch, sind sie hoffnungslos, und die Absonderung, ja Abwanderung des deutschen Geistes w i r d die Folge ihres Sieges sein.

Das kehrt noch am 30. Juni 1933 in der Kurzfassung wieder: Das eigentliche Problem ist das der »Totalität«, der Einheit von Staat und K u l t u r , wie sie jetzt durch »Gleichschaltung« erzwungen werden soll. Man trat für die Republik im Sinne einer Totalität ein, in der die K u l t u r dominierte, etwa wie das Civil über das Militär. I m Faschismus oder seiner deutsch-bolschewistischen Form ist es umgekehrt.

Zur Zeit der Betrachtungen galt der Kampf vor allem Heinrich Manns Traum einer Vereinigung von Macht und Geist qua demokratischer Politik. Ob die Brüder dann von 1922 bis 1933 unter der Versöhnung von K u l t u r und Staat immer dasselbe verstanden haben, darf trotz der Annäherung der Standpunkte bezweifelt werden. Doch hat der Kampf gegen den Faschismus nach 1933 die nie ganz verschwundenen Differenzen wenigstens zeitweise noch mehr verdeckt als die geteilte Repräsentation zu Ende der zwanziger und Beginn der dreißiger Jahre. Freilich bot dieser K a m p f nur einen negativen Generalnenner der Übereinstimmung. Was die positiven Bestimmungen der Politik angeht, gab es zwar ebenfalls zwischen den Brüdern gewisse Übereinstimmungen, aber sie lagen in jener utopischen Ferne, in der sich Begriffe wie Sozialismus und Humanität bei ihnen beiden verloren. Eine gewisse Übereinstimmung scheint zwischen den Brüdern auch in der nachträglichen Beurteilung der untergegangenen Republik sowie den aus diesem Untergang zu ziehenden Folgerungen zu herrschen. Daß i m Staat von Weimar die erhoffte Vereinigung von Macht und Geist nicht gelang, weckt Zweifel an der parlamentarischen Demokratie überhaupt! Anfang Juni 1933 besucht Heinrich, dessen Ausbürgerung am 23. August erfolgen w i r d 1 5 , von Nizza aus den Bruder im südfranzösischen Bandol. Das Tagebuch vermerkt unterm 2. V I . 33: Gestern Abend Gespräch mit Heinrich über den möglicherweise richtigen sozialen Kern der deutschen »Bewegung«: Das Ende der parlamentarischen Parteien, die Vereinigung der proletarisierten Kleinbürgermassen zur Verwirklichung des Sozialismus. Das teils gestohlene, teils lumpenhaft vorgestrige Gewand, worin das gehüllt ist.

Heinrich hatte nach seinem Wandel vom Dekadenzästheten zum schreibenden Aktivisten in der wilhelminischen Friedens- und Kriegsepoche das Heil noch in einem demokratischen Frankreich erblickt, das er sich nicht weniger subjektiv zu einem Wunschbild zurecht gemacht hatte wie Thomas die in den Betrachtungen als deutsch beschworene Monarchie. Bei Heinrich ersetzte später die Sowjetunion 15

Thomas Mann erfährt davon am 27. V I I I . 33 und notiert: »Erste Listen der Politiker und Schriftsteller, die der deutschen Staatsangehörigkeit verlustig erklärt sind, werden veröffentlicht. Einstein ist an der Spitze, auch Heinrich figuriert. U n d welche Menschen sind es, die diese Ausschließung v o m Deutschtum verfügen!«

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jenes imaginäre Frankreich. M i t noch größerer Verdrängungs- und Verweigerungskunst als die meisten intellektuellen Marxisten der dreißiger und vierziger Jahre hat Heinrich bis ans Lebensende, von enormer Informationsunwilligkeit geschützt, den Stalinismus ignoriert und ausgerechnet in Stalin den Traum echter Intellektualität, nämlich die Vereinigung von Geist und Macht, inkarniert gesehen. Von dieser A r t Geradlinigkeit, die auch Heinrichs Volksfrontpolitik bestimmte, ist Thomas weit entfernt, und zwar nicht nur, was die Moskauer Prozesse, den Hitler-Stalin-Pakt, ja selbst die Revolution von 1917 samt ihren Folgen bis in die Zeit nach 1945 angeht, sondern auch was Demokratie und reale Demokration, die amerikanische eingeschlossen, betrifft. Bei alledem stoßen wir in den Tagebüchern, Briefen und politischen Aufsätzen von Thomas Mann auf Schwankungen i m Urteil, die häufig in die Grenzzone der immanenten Widersprüchlichkeit reichen. Und das gilt sogar noch für die Zeit nach dem deutlichen Einschnitt, den Thomas Manns offene Stellungnahme gegen das Hitlerregime 1936 / 37 markiert. Dem berühmten Brief an den Bonner Dekan an Neujahr 1937 ging die durch Eduard Korrodi, den Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung^ provozierte Solidaritätserklärung mit der offiziell verfemten und verbotenen Emigrationsliteratur am 3. 2. 1936 voraus. Sie hatte wohl nur deshalb noch nicht die Folgen wie dann der Briefwechsel mit Bonn, weil das Regime die politische Propagandawirkung der Berliner Olympiade i m Sommer 1936 nicht durch den Eklat schwächen wollte, den die Ausbürgerung des Nobelpreisträgers bewirken mußte. 1 6 Die Schwankungen, die entlang der geraden Linie des Abscheus vor dem Hitler-Regime bei Thomas Mann zu beobachten sind, erklären sich aus jener seelisch-geistigen Disposition, die ihn zu einem der größten Romanciers hat werden lassen, ihn aber i m Bereich des Politischen zu einer so umstrittenen wie stets aufs neue als zwielichtig verdächtigten Gestalt gemacht hat. Nicht umstritten war er allein bei den Nationalsozialisten. Wenn einige von ihnen, möglicherweise zu Beginn der Hitler-Herrschaft sogar Göring und Goebbels, gegen die von Johst, Heydrich und Himmler angestrebte kürzeste Linie München-Dachau waren, dann nur aus Zweckmäßigkeitsgründen. Thomas Mann beschreibt seine Disposition einmal i m Herbst 1933, und da der Anlaß ein aktueller, also politischer ist, beschreibt er sie zwangsläufig als Leidenserfahrung; 7. I X . 33: Lektüre der »Europäischen Revue« des sehr widerwärtigen Prinzen Rohan, — eine hochgradig unzuträgliche, nervenvergiftende, zugleich empörende und niederschlagende Beschäftigung, geübt aus Selbstquälerei und dem vielleicht schwächlichen Willen, die andere Seite zu hören und ihre »Gedankengänge« zu kennen.

16

An Eduard Korrodi:

X I , 788-793. Briefwechsel

mit Bonn: X I I , 785-792.

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Der Anlaß kann ebensogut von der eigenen Seite kommen. So heißt es i m Zusammenhang einer durch Klaus Manns Zeitschrift Die Sammlung entstandenen Turbulenz am 12. I X . 33: Bedrücktes Gespräch über die Unmöglichkeit richtigen Verhaltens, dem notwendigen Versagen vor der Bestialität. Über das Bedürfnis nach geistiger Freiheit und Seelenruhe, Fernhalten von der Ressentiment- und Verzweiflungsliteratur. Man ist nicht dazu geschaffen, sich in Haß zu verzehren.

Daß er denn doch hassen und verachten konnte, was abwägender Betrachtung schließlich nicht wert war, trägt dazu bei, daß zwischen der ersten politischen Leidensepoche, derjenigen ab 1914, und der zweiten, die nach dem Interim seines Engagements für die Weimarer Republik 1933 begann, der Unterschied ebenso groß ist wie die Ähnlichkeit. Der Unterschied ergab sich aus der veränderten und verschärften historisch-politischen Situation. Die Ähnlichkeit liegt in der individuellen A r t der Reaktion begründet. Der Unterschied zeitigte Folgen für die Produktion. Beim Kriegsbeginn 1914 verfiel Thomas Mann für kurze Zeit der nationalen Begeisterung, für die die Mehrzahl der Intellektuellen nicht weniger anfällig war als die Masse des Volkes. Bis dahin war für Thomas Mann der Rausch eine unpolitische, wenn auch existentielle Erfahrung gewesen, die, zwischen Erotik und Ästhetik spielend, ganz in Nietzsches Schema des Widerstreits von Dionysischem und Apollinischem gesehen und künstlerisch bewältigt wurde; so zuletzt und gesteigert i m Tod in Venedig. Die Trunkenheit von 1914 ließ sich auf solche A r t nicht mehr sublimieren. Ehe er am begonnenen Zauberberg weiter arbeiten konnte, mußte sich der Ernüchterte dem gewaltigen Bewältigungs- wie Verdrängungsprozeß unterwerfen, dessen Protokoll die Betrachtungen eines Unpolitischen sind. Dieser verunglückte intellektuelle Roman ist ja — psychologisch betrachtet — auch, wenn auch nicht nur, der Versuch, den eigenen Sündenfall von 1914 zu rechtfertigen; die Legitimationsakrobatik führte zu mancherlei Verrenkungen. I n der kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen »Einführung in den Zauberberg« hat Thomas Mann die Betrachtungen eine Jahre verschlingende Vorbereitung genannt. Das Kunstwert konnte zum sehr ernsten Spiel nur werden durch die »materielle Entlastung« der »vorangegangene [n] analytischpolemischefn] Arbeit«. 1 7 Schon die Wortwahl verrät, daß das mühselige »Werk der Selbsterforschung« nicht nur die materielle, also thematische und intellektuelle Entlastung geleistet hat. Von 1933 an bringt Thomas Mann i m Tagebuch die Geschehnisse in Deutschland immer wieder in Beziehung zum Kriegsrausch von 1914, und er dankt es ausdrücklich seiner eigenen Erfahrung von damals, daß er, i m Gegensatz zur Mehrzahl des deutschen Volkes, nun gegen die schlimmere Wiederholung 17

X I , 608.

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immun sei. Aber die Bewältigung all dessen, was ihn trotz der endlich Klarheit schaffenden, öffentlichen Entscheidung weiterhin torturierte, konnte dort, wo das sehr ernste, Freiheit gewährende hohe Spiel gespielt wird, nicht schon mit dieser Entscheidung gelingen: Aus der herumspukenden Faust-Novelle konnte so rasch nicht der Faustus-Roman werden. Immerhin lag sogar schon zwischen den peinlichen und ihren Verfasser später gehörig peinigenden »Gedanken i m Kriege« von 1914 und dem Abschluß des Zauberberg ein rundes Jahrzehnt des Leidens an der Politik. Und das Leiden an Deutschland war nicht so einfach auf Figuren zu übertragen, wie das Ringen mit dem Zivilisationsliteraten sich schließlich in den Streit zweier Geistespolitiker ä la Settembrini und Naphta transferieren ließ. Zwar wird, wie erwähnt, der sehr alte Faust-Plan 1933 sehr virulent, und die Tagebuchnotizen der ersten Hitlerzeit werden nicht nur im Hinblick auf eine politische Streitschrift durchgesehen, sondern auch schon auf ihre Brauchbarkeit für den Faust-Stoff geprüft. Aber nicht die Hemmung, um eines aktuelleren Themas willen die Arbeit am Joseph zu unterbrechen, dürfte der Hinderungsgrund gewesen sein. Wenig später hatte Thomas Mann keine Bedenken, zugunsten von Lotte in Weimar den biblischen Roman zurückzustellen. Die Goethe-Erzählung war früher reif geworden als der damit konkurrierende Faust-Plan, und nicht zuletzt, weil hier das Leiden an Deutschland noch dosiert und filtriert ins Kunstwerk einzubringen war. Die produktive Verzögerung des Doktors Faustus durch Lotte in Weimar ließ das Alterswerk i m Verborgenen bis 1943 wachsen und verhinderte auch, daß Thomas Mann die Geduld verlor, deren es bedurfte, um den Joseph in jener Breite ausmünden zu lassen, die das Werk forderte. Gewiß war der Joseph »Stütze und Stab«, »Zuflucht, Trost, Heimat, Symbol der Beständigkeit«, wie Thomas Mann, im Rückblick auf die sechzehn, »Herz und H i r n mit wildesten Zumutungen« bestürmenden Jahre — 1926 bis 1942 — der Entstehung der Tetralogie gesagt hat. 1 8 Aber der Wechsel zwischen dem Reich der Freiheit und dem der immer böseren Notwendigkeiten, denen Paroli zu bieten eine Forderung des Tages, weil Forderung des Gewissens war, — dieser Wechsel schärfte nur das Gefühl, es müsse noch einmal — und diesmal in radikalerer Form als beim Zauberberg — auch in der Kunst geleistet werden, was weder in der Betrachtung noch i m Appell als einem Tatersatz ganz zu leisten war. Joseph als Anti-Siegfried, sein Ernährungswerk als anderer New Deal genügte da nicht. Aber konnte die Höllenfahrt des Dritten Reiches schon bewältigt werden, solange Hitler — erst ohne Krieg und dann i m Krieg — immerzu am Siegen war? Die Verstörtheit ab 1933 wird nach dem endgültigen Bruch von 1936/37 trotz der Erleichterung, die die Bereinigung mit sich brachte, doch nur abgelöst durch eine Phase der empörten Verzweiflung über das Lavieren und die trickreiche X I , 670.

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»Erpressung des pazifistischen Reifezustandes« der Demokraten durch das Regime. 19 Mehrfach kehrt der Aufschrei wieder: »Abwenden, abwenden! Beschränkung aufs Persönliche und Geistige. Ich brauche Heiterkeit und das Bewußtsein meiner Bevorzugung. Ohnmächtiger Haß darf nicht meine Sache sein.« 20 Doch war die N o t seines Gewissens längst zu groß, als daß er sich hätte abwenden können. Das ehrt ihn fürwahr, und wer immer ihn heute noch wegen bestimmter politischer Ansichten glaubt tadeln zu müssen oder ihn überhaupt als letztlich unpolitischen Dilettanten abtun möchte, sollte zumindest diese Gewissensnot respektieren und i m übrigen bedenken, was in der Welt von jenen angerichtet wurde und angerichtet wird, die für nichts als die Politik zuständig waren oder sind, die Theoretiker eingeschlossen.

19

Tagebücher 1937-1939, S. 293 (22. I X . 38).

20

Ebd. S. 291 (20. I X . 38).

»DIESES A R M S E L I G E WORT«: Z U R E R Z Ä H L K U N S T V O N T H O M A S M A N N S FELIX Von Werner

KRULL

Frisen

Stilprobe »Er empfing ein kirchliches Begräbnis«, sagte ich mit ringender Brust, und meine Erregung war zu groß, als daß ich die Dinge der Ordnung nach hätte vortragen können. »Dafür kann ich Beweis und Papiere beibringen, daß er kirchlich bestattet wurde, und Erkundigungen werden ergeben, daß mehrere Offiziere und Professor Schimmelpreester hinter dem Sarg schritten. Geistlicher Rat Chateau erwähnte selbst in seiner Gedächtnisrede«, fuhr ich immer heftiger fort, »daß das Schießzeug unversehens losgegangen sei, als mein Vater prüfungsweise damit hantiert habe, und wenn seine Hand gezittert hat und er nicht völlig Herr seiner selbst war, so geschah es, weil groß Ungemach uns heimgesucht hatte. . . « I c h sagte »groß Ungemach« und gebrauchte auch sonst einige ausschweifende und träumerische Ausdrücke. »Der Ruin hatte mit hartem Knöchel an unsere T ü r geklopft«, sagte ich außer mir, indem ich sogar zur Erläuterung mit dem gekrümmten Zeigefinger in die Luft pochte, »denn mein Vater war in die Netze böser Menschen gefallen, Blutsauger, die ihm den Hals abschnitten, und es wurde alles verkauft und verschleudert . . . die Glas . . . harfe«, stotterte ich unsinnig und verfärbte mich fühlbar, denn nun sollte das ganz und gar Abenteuerliche mit mir geschehen, »das Äols . . . rad . . .« (79f.) 1

Krulls Hochstapelei spielt i m Wort. Hier ist es das erzählte Ich »Felix Krull«, das hochstapelt, um vor der Oberersatzkommission epileptische Anfälle zu simulieren. Das erzählende Ich dagegen vollbringt seine letzte, seine glanzvollste Hochstapelei im Erzählen des Romans. Das erlebende Ich und das erzählende Ich erläutern sich in wiederholten Spiegelungen gegenseitig. Simuliert wird bis zuletzt, und zwar keineswegs i m Sinne der platten, der klassischen Ironie, durch das Nennen des bloßen Gegenteils des Gemeinten. Krulls Raffinesse sucht nicht den Gegensatz zur Wirklichkeit, sondern benutzt die Wirklichkeit als Spielmaterial; fragmentarisiert sie allerdings und setzt die Fragmente in ein neues Mosaik, in das Weltmosaik der Phantasie, zusammen: So münzt er das Unglück um in das Glück, von dem sein Name spricht. Des Vaters Konkurs, die »Liederlichkeit« der Familie, der Suizid werden keinesfalls dissimuliert, sondern in einem artistischen 1 Seitenangaben im Text verweisen auf die verbreiteste Ausgabe der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt 1967 (FTB).

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Sprachakt umgewertet. K r u l l zeigt die Wirklichkeitsausschnitte durchaus, wie sie sind, er bemäntelt nicht das Chaos seines Ursprungs, die Deformation seiner gesellschaftlichen Schicht, seine Ich- und Substanzlosigkeit, das Scheitern seiner Existenz. Der Leser erfährt von all dem nach und nach wie der inspizierende und auskultierende Soldatenarzt. Er ahnt von Anfang an, daß K n i l l s Schicksal umschattet ist, wenn der Erzähler zwar gesund, aber doch »müde, sehr müde« (5) den Seilakt des Erzählens beginnt, er erfährt von einer »ersten Verhaftung« (48), von einem Zuchthausaufenthalt (vgl. 9), von einer Existenzgefährdung, in die Schimmelpreester »auf entscheidende und rettende Weise« (20) eingreift, er hört von Diebstählen i m kleinen und i m großen Maßstab, von Betrug, von Hochstapeleien und Verstößen gegen die herrschende Sexualmoral. Aber nichts vermag die Sympathie des Lesers für K r u l l in Frage zu stellen. Krulls Wort läßt das >WasWarum< und das >Wozu< vergessen. Das Wort stiftet den Kosmos i m Gehudel einer Wirklichkeit, auf das der Erzähler als zweiter Schöpfer hinabblickt. I n der Sprache Schopenhauers ausgedrückt, dem K r u l l so viel verdankt: Er bemäntelt die Wirklichkeit und ihren Schrecken mit dem verführerischen Schleier der Maja, dem Schein des Schönen. Krulls Sprechen bemäntelt und rechtfertigt das Dasein zugleich, indem es i m Sprechakt die Werthaltungen, Vorstellungsmuster, Orientierungssysteme dieses Daseins unter der Hand umwertet. Aus dem Revolver, mit dem sich Vater K r u l l umgebracht hat, w i r d das »Schießzeug«, aus dem Suizid »groß Ungemach«, der Konkurs wird zum »Ruin«, der »mit hartem Knöchel an die Tür« klopft. Die Archaismen entrücken für die Oberersatzkommission und für den Leser das zeitgenössische Geschehen in ritterlich-heroische Vorzeiten, die Personifikation des Ruins verschiebt die Mißwirtschaft ins Unverschuldet-Unangreifbare, die Anspielung auf Beethovens Wort über das Kopfmotiv seiner Fünften Symphonie (»So pocht das Schicksal an die Pforten.«) eröffnet bildungsbürgerliche Assoziationen und unterstreicht den naturgewaltig-schicksalhaften Charakter des Vorgangs. Der gehäufte Gebrauch von Wortfeldern aus dem Bereich des gesellschaftlich Legitimierten (Titel, juristisch beglaubigte Dokumente) im Zusammenhang mit einem gesellschaftlich illegitimen, abweichlerischen Verhalten treibt die Tatsachen i m Verschweigen umso deutlicher hervor. Über Vater Krulls Tod wird aber niemand trauern, es kommt nicht einmal so recht zu Bewußtsein, daß hier vom Tod die Rede ist. Ein Immoralist verbirgt sich in einem plappernden parlando. Dieses hält er für hohen Stil. Er borgt sich von Goethe ein Stilgewand, unter dem das individuelle Gefühl, also auch die Trauer, verschwindet. Der Äquilibrist, der fähig ist, so über den tragischen Grundcharakter des Daseins hinwegzugaukeln, kann nicht fehltreten, weil der Fehltritt schon in das Gelingen mit eingeplant ist: K r u l l behauptet zwar, daß ihm die »Ordnung« seiner Worte durcheinandergerate, und endlich entgleiten ihm auch die Worte, mit denen er das Schicksal des Vaters als Zufall verschleiern will; die »ausschweifenden und träumerischen

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Ausdrücke« verlieren ihre Konsistenz und ihre syntaktische Form, die Metaphern müssen gestisch unterstrichen werden, und das Ganze mündet in eine schreckliche Katachrese: I n die Netze böser Menschen gefallen, wird dem Vater von Blutsaugern der Hals abgeschnitten. Poesie des Kommerz, vage biblische Assoziationen, »Goethe« und die »Gartenlaube« 2 vermischen sich, lassen den Anakoluth auslaufen in letzte Assoziationen und Aposiopesen (»das Äols. . . rad. . .«), verstreuen die Wirklichkeitspartikel, jene Mosaiksteine, die, zerstreut, eine »abenteuerliche«, zerstörte Wirklichkeit anzeigen. Der Sprechende täuscht aber stets die epileptische Bewußtlosigkeit nur vor, verfällt nie selbst darein und vermag in diesem überbewußten Zustand das Zerstreute zu sammeln und neu zu arrangieren. Der Künstler, der hier »träumerisch« den Kausalzusammenhang der Realität zerbricht, die Wirklichkeitsreste umkomponiert und in neuer Kausalität (der von ihm selbst gestifteten) zum gelingenden Schein umfunktioniert, behandelt Realität und Sprache als Traum. Er tut das in letzter Konsequenz, was Freud in »Der Dichter und das Phantasieren« beim kindlichen Spiel beobachtet: »Jedes spielende K i n d benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt.« 3. Die montierte Welt 26. 1. 1916: Thomas Mann w i l l seiner Mutter eine offensichtlich dringliche, versöhnliche Nachricht zukommen lassen.4 Er wählt dazu eine Reklamekarte für Fachinger Wasser: »Liebe Mama, keine Rede von erzürnt sein! W i r sind ja nicht so. Hoffentlich trifft es sich ein andermal besser. Der Abend war aber auch so ganz gemütlich.« Der Rest der Karte bleibt leer, weil Thomas Mann Interesse an dem Werbebild gewinnt, an dem sich räkelnden Aristokraten und an dem distinguierten Stil des Kellners. Beides veranlaßt ihn zu einer Reflexion und einem Kommentar, der in den thematischen Umkreis des Krull gehört: »HotelHalle. Moderne >AristokratieHerrschaft< sein und jemand von der Herrschaft Kellner. Es ist der reine Zufall, daß es umgekehrt ist.« Die Karte wird nicht abgeschickt, sondern wandert nun ins Notizenkonvolut zum Krull , weil das Thema momentan ad acta gelegt ist: Der »geistige Dienst 2

Klaus Hermsdorf, Thomas Manns Schelme , Berlin 1968, S. 61. S.a. Christian Grawe, »Die Sprache von Goethes >Dichtung und Wahrheit< gesehen durch Thomas Manns >Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix KrullFelix Krull< aus den Materialien des Zürcher Thomas-Mann-Archivs.« In: Blätter der Thomas-Mann-Gesellschaft 1, 1958, S. 2-9.

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mit der Waffe«, die Betrachtungen eines Unpolitischen, Tagesgeschäfts. 5

steht im Vordergrund des

Erst nach fast vierzig Jahren findet das Aperçu nach verschiedenen Umarbeitungen seine Verwendung i m Roman. Der Vergleich zwischen Kartennotiz und endgültiger Form (vgl. 174) zeigt, daß Thomas Mann nur den lässigen Gast, den Kellner und die Bestuhlung aus dem Bild in den Text übernimmt, den Kellner mit K r u l l identifiziert, diesen aber entsprechend der gewandelten Situation abseits in erlebter Rede sinnieren läßt, damit seinen eigenen Kommentar in die Gedankenwelt des erlebenden Ich projiziert und das Bild mit Begriffen interpretiert, die zur Problem weit des Krull gehören: der Zufall des Bildfundes erlaubt ihm, K r u l l Schopenhauers Gedanken über den Zufall der Identität der Person und die geheime Einheit, also Vertauschbarkeit, der Individuen denken zu lassen. — Wie K r u l l setzt Thomas Mann seine Spielwelt aus Fragmenten zusammen. Wie K r u l l übernimmt er das, was ihm zufällt, er sucht nicht systematisch. Er erkennt seine Werkprobleme in dem Zufallenden wieder, identifiziert seine Werkidee in einem vorher noch beliebigen Requisit der Realität. Das Zufällige wird so zum Fälligen: Immer wieder findet er i m rechten Augenblick das, was sich dem Werkentwurf einfügt. Er ordnet sodann dieses Requisit in seinen Gedankenkomplex durch Notizen ein: Z u jedem seiner Werke entsteht so eine scheinbar ungeordnete Fülle von Notizen und Materialien. I n der sprachlichen Transfiguration gehen figúrales Vorbild und Ideenkomplex eine enge Verbindung ein. V o m Vorbild übernimmt Thomas Mann nur das kennzeichnende, charakteristische, in seinen Zusammenhang gehörige Detail. Alles Weitere würde einen Realitätsüberschuß bewirken, der nicht gewünscht ist. Die Realität ist bloßes Stimulans, der Tagesrest, der das träumerische Spiel des Werkes nicht zu stark belasten darf. Der Anlaß der Montage verliert in der neuen Spielwelt völlig seine Eigenbedeutung und sein eigenes Recht. Deshalb kann er auch minderer Qualität sein. Die Quelle ist im Werk transsubstantiiert. I n unserem Fallbeispiel wurde ein Mosaikstein in eine Komposition eingefügt, die aus aberhundert Einzelinspirationen verdichtet ist. Oft hat die ThomasMann-Forschung diesen Prozeß beschrieben: 6 Montiert wird nicht immer so gradlinig und simpel wie in diesem Beispiel; der Montagevorgang ist ein globaler. 5

Direkt übernommen wurde die Reflexion über die Relativität des Aristokratischen in die Betrachtungen eines Unpolitischen (vgl. Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt 1974, X I I , 484). 6

Vgl. Herbert Lehnert, Thomas Mann. Fiktion, Mythos, Religion, Stuttgart etc. 1965; Walter Weiß, Thomas Manns Kunst der sprachlichen und thematischen Integration, Düsseldorf 1964; Hans Wysling, Dokumente und Untersuchungen. Beiträge zur Thomas-Mann-Forschung, Bern/München 1974; Bild und Text bei Thomas Mann, hg. v. Hans Wysling unter Mitarb. v. Yvonne Schmidlin, Bern /München 1975; Manfred Dierks, Studien Mythos und Psychologie bei Thomas Mann, Bern/München 1972; Hans Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform. Zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, Bern /München 1983.

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Die Methoden und Bereiche des Montierens umgreifen: selbstbeobachtete und notierte Motive, Bildvorlagen, Nachrichten und Berichte aus Zeitungen. Diese Elemente sollen dazu dienen, die Vordergrundsebene des Romans realistisch zu gestalten. Tagebücher, Erlebnisberichte, geographische Schilderungen sollen das Ambiente, in das die Figuren gestellt sind, plastisch werden lassen. Wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Abhandlungen staffieren die essayistischen Passagen aus. Autobiographische Elemente sind zunächst Hilfen, dem Werk Wirklichkeit zu geben, dienen dann aber auch dem ironischen Versteckspiel, das ein ständiges Vexierspiel zwischen dem Autor und der mit autobiographischen Zügen ausgestatteten Figur erlaubt. Fabelmuster und Formmuster anderer literarischer (und musikalischer) Dokumente helfen der Erfindungskraft auf, können aber ebenso gut auf parodistische Weise integriert werden. Philosophische Orientierungen organisieren (als System) alle genannten Momente auf ein inneres Zentrum hin, diktieren die Selektion aus dem Chaos des Vorgefundenen und lenken die Anverwandlung. Die »Montage« als Prinzip des Gestaltens steht hier also nicht i m Dienst einer Widerspiegelungspraxis, sondern schafft eine Scheinrealistik. Der schöpferische A k t bestimmt sich neu, nicht als Erfinden, sondern als Finden, als Selektieren, Einordnen, Zusammenfügen, Komponieren, Integrieren des Vorgefundenen: »Wenn ich aus einer Sache einen Satz gemacht habe — was hat die Sache noch mit dem Satz zu tun? [. . . ] Wie aber kann ich mein ganzes Selbst preisgeben, ohne zugleich die Welt preiszugeben, die meine Vorstellung ist? Meine Vorstellung, mein Erlebnis, mein Traum, mein Schmerz?« 7

Der hochstapelnde Erzähler Der Leser ist leicht versucht, die methodisch zu Recht gezogene Grenze zwischen Autor und Geschöpf des Autors, dem Erzähler, zu überschreiten. Wie der erzählende Autor geht der erzählte Erzähler mit der Wirklichkeit um: Er montiert. Er verfügt montierend nicht nur über seine verflossene Lebenswirklichkeit, sondern spielt auch sein Spiel mit dem Erzählakt selbst, der durch die Tradition des Erzählens v o m Selbst vorgegeben ist. Er vergleicht sich, ohne — das eben unterscheidet ihn von seinem Autor — zu erkennen, wer er ist. Das Verhältnis zwischen Erzähl- und Erlebnisebene erzeugte die besondere Spannung im konfessorischen Genre: Augustinus betet seine Confessiones nach dem tolle , / ^ - E r l e b n i s , Rousseau rechtfertigt sich vor dem »Ewigen Wesen« und dem Leser erst, als über ihm alles zusammenbricht, als seine Werke indiziert und verbrannt werden, als er fliehen muß, als ihn Voltaires Angriff unterhalb der Gürtellinie trifft. Goethe zwar suchte in Dichtung und Wahrheit das »Lamentable« 7

Thomas Mann, Werke: Autobiographisches , Frankfurt 1968, S. 18, 23.

11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

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seiner Vorbilder zu vermeiden, lenkt aber den Rousseauschen Verfolgungswahn von sich auf seine Wegbegleiter ab. Bei Goethe aber beginnt das Spiel, das der Titel der Autobiographie und die Fiktion der »Heiterkeit« im Rückblick unterstellen wollen: das Spiel der autobiographischen Gattung mit ihrer eigenen Voraussetzung, sich selbst und nichts als sich selbst darzustellen, die Wahrheit und nichts anderes zu sagen. — Wie bei Augustinus, wie bei Rousseau müßte bei K r u l l seit der ersten Seite der Bekenntnisse immer bewußt sein, daß ein Enttäuschter spricht. Nie dürfte nach der ersten Seite gefolgert werden, daß ein Erheiterter in Heiterkeit auf sich zurückblickt; denn der ist »müde, sehr müde« (7). A u f der zweiten Seite angelangt, hat der Leser aber schon vergessen, daß ein Desillusionierter wie Augustinus und Rousseau spricht, weil der Sprecher — Goethesche — Heiterkeit hochstapelt. Die Perspektive des sich selbst rechtfertigenden Autors à la Augustinus und Rousseau wird von der zweiten Seite an relativiert durch die reflektierenden, kommentierenden, selbstanpreiserischen Rodomontaden eines Erzählers, durch die das Sinngefüge, das die Funktion der Autobiographie definiert, systematisch gestört wird. Die >confessioneserzählte< Ich gänzlich umstellt. Knills »Denkschrift« (48) ist mehr als eine Parodie der autobiographischen Literatur von Augustinus über Rousseau bis hin zu Goethe. Sie führt verschwiegene und ausgesprochene Tendenzen der autobiographischen Literatur ins Absurde. Wenn das autobiographische Ich sein Werk als (eigentliche oder scheinbare) Selbstkritik und Selbstrechtfertigung betreibt, lebt sich der Narzißmus K n i l l s ohne Anflug der Selbstkritik i m Hinblick auf die fiktiven Moralvorstellungen der Leser aus. Wenn der Bekenner der Autobiographie die Bildungsund Entwicklungsgeschichte seiner Seele nachzeichnet, um sich und dem Leser

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die eigene Person i m Rahmen ihrer Lebensbedingungen zu erklären — und so die Tradition des Bildungsromans mitbegründen hilft — , zeigt K r u l l die Maske seiner Seele, deren Lebenssituation nur episodisch gezeigt wird, wo sie einen guten Effekt für die Karriere macht. Deshalb auch wirkt das erste Buch so gesellschaftsleer, wirft nur knappe Schlaglichter auf die Sozialisationsinstanzen Krulls und nutzt die immanenten Möglichkeiten zu satirischer Gesellschaftskritik kaum aus. Wo die Autobiographie bemüht ist, in der Rückbesinnung die Entwicklung als geschlossene Einheit zu verstehen oder zu rekonstruieren, um für das Ganze einen Sinn zu stiften, ist dem »Gunstkind« schon a priori sein Leben sinnvoll gefügt. K r u l l ist also i m Recht, wenn er gleich dem autobiographischen Ich den Anspruch auf Wahrheit erhebt (vgl. 6), weil er die Grenzphänomene der Gattung nur systematisch ausbaut und radikalisiert. Er nimmt also nicht, wie es die quintilianische Definition der Parodie beschreibt, den alten Schlauch der Form, um ihn mit neuem Wein zu füllen, sondern macht mit einem Mythos Schluß, der das Gesetz der Gattung seit ihrem Bestehen geprägt hatte: dem Anspruch, dokumentarisch zu sein. Eine Welt, die die Unwahrheit identifizieren konnte, konnte sich an parodistischen Umkehrungen simpler A r t vergnügen, weil sie i m Besitz eines Wahrheitsmaßstabes war. I m Krull dagegen wird der Wahrheitsanspruch von jemandem erhoben, dem die Differenz zwischen Wahrheit und Unwahrheit nichts gilt, weil sich die Träger dieser Gesinnung, zunächst das Christentum, dann die Wissenschaft, durch ihren absoluten Wahrheitsanspruch selbst widerlegt haben: I n Wahrheit, es giebt zu der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz als die christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein w i l l und mit ihren absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes, die Kunst, jede Kunst in's Reich der Lüge verweist [. . . ] 8

Wenn K r u l l pseudoautobiographisch verfährt und seine Artistenmetaphysik lebt, indem er sich zum Gunstkind irgendeiner nicht näher benannten »schaffenden Macht« (37) aufwirft, erledigt er die christlich-pietistische Form der literarisierten Gewissenserforschung. Deshalb präsentiert er sich nicht als der Unmoralische, sondern als der Immoralist, der sich jenseits von Gut und Böse befindet und ein Sensorium für den Wertgegensatz verloren hat. Ja ist für K r u l l zugleich Nein. Daraus erklären sich die zahlreichen (Schein-)Widersprüche des Erzählers. I m gleichen Atemzug lobt er den eigenen Stil wie die Fähigkeit, Spannung zu erzeugen, und beteuert, Proportionsgesetz und Spannungskurve nicht beachten zu wollen (vgl. 20, 25, 47f., 67); er beansprucht Wahrhaftigkeit (vgl. 6,227) und orientiert sich zugleich am Beifall des Publikums (vgl. 43,47); er 8

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke , hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, B e r l i n / N e w York 1967 ff. I I I , 12. ( = »Die Geburt der Tragödie. . .«) n:

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prätendiert moralische Dignität (vgl. 45) und tut eben alles, den ethischen Kanon des Lesers durcheinanderzuwirbeln (vgl. 37 ff., 92f.); er behauptet, zur eigenen »Unterhaltung« zu schreiben (vgl. 20, 25) — ein Topos, von dem die vorgeblich öffentlichkeitsscheuen Tagebuch- und Autobiographie-Autoren immer wieder Gebrauch machten — , doziert, glossiert und kommentiert aber drauflos, als besäße er die Allwissenheit und den allgemeingültigen Wertmaßstab wie je ein aufklärerischer Erzähler; er gibt vor, rhetorische Mittel und Mittel des fiktionalen Erzählens vermeiden zu wollen, formuliert diese Absichtserklärung aber sogleich als captatio benevolentiae (vgl. 47); er tut so, als wolle er verschweigen, nur um das Verschwiegene um so lauter zu verkünden (vgl. 217); und in allem Selbstlob, in aller Selbstliebe und Selbstgefälligkeit fehlt auch das Understatement nicht (vgl. 47, 104). Charakterologisch und pragmatisch ist das erzählende v o m erlebenden Ich nicht zu unterscheiden: Es treibt sein Vexierspiel mit dem Leser, indem es durch seine rhetorische Überredungskunst eine Umwertung der Werte vollzieht. A n der Sonderstellung eines Glückskindes entnerven sich die Gegensätze von Gut und Böse. Das gespaltene Erzähler-Ich I m autobiographisch geformten Roman hatte das dialektische Verhältnis zwischen Ich und Ich dem Erzählvorgang Dynamik verliehen. I m Erinnern des erinnernden Ichs wuchs dem erinnerten eine neue Dimension zu, die der echten oder vorgetäuschten Selbstanalyse. A u f der Suche nach der verlorenen Zeit rekonstituierte auch das erzählende Ich sein Ich von einst, indem es, nunmehr oft souverän, in moralischer Überlegenheit, sich dem einst dumpfen, wenn auch liebenswürdigen Ich zuwandte. Ich-Findung und Ich-Definition geschehen, besonders i m modernen Roman, oft im A k t des Erzählens selbst; das Problem der Identität wird zum Problem des Erzählens, an Tristram Shandys Urfrage nach dem »Wer bin ich?« anknüpfend. Thomas Manns Ich-Erzähler ist darüber hinaus, weil hier (wie bei seinem Nachfolger, Grass) nur noch ironisch »Ich« gesagt wird. Eigene Erfahrungen, Nietzsches K r i t i k am cogito, ergo sum (das ein Ich immer schon voraussetzt) und Schopenhauers Entlarvung des Individuationsprinzips prägen die Ich-Unsicherheit des jungen Thomas Mann wie die Souveränität des späten, die auf ein Ich schließlich verzichtet. Schön-dumm ziehen Knills Leben und Knills Erzählen am Leser vorüber, so daß sich nur paradoxerweise von einer Identität des erzählenden und des erzählten Ichs sprechen läßt: Sie sind beide gleicherweise gesichts- und charakterlos, »Typus«, wie Diane Houpfle sagt, Ensemble von Rollen. Das höchste Glück der Menschenkinder sei, nach dem Divan, die Persönlichkeit; das höchste Glück des Hermeskindes hingegen ist die Persönlichkeitsaufgabe, die Vereinigung aller denkbaren Persönlichkeiten, das Leben ä la . . ., das Leben im Experiment. M i t dem Verlust der Ich-Einheit droht die Werk-Einheit verloren zu gehen, wenn da nicht eine Erzählklammer bliebe, die

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Thomas Mann »Geist der Erzählung« genannt hat; zu fragen ist freilich, ob der nicht gleich »Thomas Mann« genannt werden kann. 9 Man könnte meinen, daß man des Autors habhaft würde, wenn der Erzähler ironisiert wird. Es kann dies aber nie durch eine neue Instanz i m Erzählen geschehen, sondern nur durch indirektes Arrangement der Erzählerrede. Dieser Arrangeur läßt K r u l l sich so gehaben, als schriebe er besonders geflissentlich eine Hausaufgabe, den klassischbürgerlichen Aufsatz und strebe ein vorgegebenes Stilniveau an, nur um es immer wieder zu verfehlen. Häufig erreicht er die vier klassischen Ziele der Stilübung nicht: Gegen die puritas (die Korrektheit i m Sinne des zeitgenössischen Sprachgebrauchs) verstößt er durch Archaismen und goethesprachlichen Gestus: »Der Rheingau hat mich hervorgebracht, jener begünstigte Landstrich, welcher, gelinde und ohne Schroffheit sowohl in Hinsicht auf die WitterungsVerhältnisse wie auf die Bodenbeschaffenheit, reich mit Städten und Ortschaften besetzt und fröhlich bevölkert, wohl zu den lieblichsten der bewohnten Erde gehört.« (6). Gegen die perspicuitas (die Verständlichkeit) durch Sprachmischung, syntaktische Verkomplizierung, Paronomasien und Polyptota (Wortspiele): »>Den Wunsch? Tat ich das? D u sagst >den Wunsch< und gibst vor, den Befehl zu meinen, [. . . ] meinst aber in deiner ungeheuren Keckheit, ja Unverschämtheit >das Verlängern, >das heiße, sehnsüchtige Begehrenden Wunschd Sag mir doch wenigstens, du Wunschbild, Traum meiner Sinne, Mignon in Livree, süßer Helot, ob du in deiner Frechheit denn diesen Wunsch ein wenig zu teilen wagtest!Bericht< vom Tode des Vaters kennengelernt haben: »Nicht wenig schlug mir das Herz, als ich [. . .] auf der schmalen Bank eines Abteils vierter Klasse i m Zuge nach Wiesbaden saß und mich auf Dampfesschwingen der Entscheidung entgengetragen fühlte.« (69) Das aptum (die Anpassung an den ästhetischen Wertcodex des Publikums) dagegen verletzt er nur indirekt oder nur dann, wenn er den lapsus durch Entschuldigungen wieder auffangen kann: Wer nicht weiß, was Heloten oder ein >mignon< — seit Heinrich I I I . Bezeichnung eines femininen Homosexuellen — sind, vermag auch den durch Mißachtung des aptum erzeugten erotischen Reiz der oben zitierten Szene mit Diane Houpfle nicht voll zu genießen. Wer könnte entscheiden, ob diese Stilrisiken auf das Konto Krulls oder das des Autors zu rechnen sind, wenn das Werk isoliert dastünde? Wenn Thomas Mann nicht den »parodistisch-überspitzte(n) Ton des Stils« 10 als seine Intention 9 Vgl. Martin Walser, »Über Verbindlichkeit, bzw. Tendenz des Romans.« In: Kontext 1, 1976, 199-215. 10

Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14: Thomas Mann, hg. v. Hans Wysling u. M i t w . v. Marianne Fischer, Bd. I, j./., S. 364, vgl. 317.

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ausgegeben hätte? Weil die relativierende Instanz des Autors werkimmanent nur erschlossen werden kann, ist i m Einzelfall kaum zu entscheiden, ob >eigentliches< oder >uneigentliches< Sprechen, ob Parodie oder Versagen zu diagnostizieren ist. Die universale Ironie salviert sich selbst, indem sie sich innerhalb des Werkes der K r i t i k entzieht. Das Werk ruht unangreifbar in seinem Immoralismus der Sprache. Aber wie K r u l l immer in den Abgrund des Versagens hinabblickt, so der Autor, der unter immer neuen Versagensängsten vor der Vollendung zurückschreckt. Aber auch dieser Abgrund ist nur ein Scheinabgrund: Da das stilistische Versagen zur Intention gehört, ist der Roman gegen Vorwürfe ästhetischer A r t hermetisch abgedichtet. So mußte es sein, so glückte es ihm wie selten: Die ästhetische Spielwelt kann die goethesche Sprachwelt »zugleich liebevoll und auflösend« 11 einbeziehen. Der Ring des Erzählens Der Schelmenroman gibt vor, Bildungsroman zu sein. Z u m Bildungsroman gehört die Bildungssprache. K r u l l bemüht sich, die Sprache der Klassik oder dessen, was er für Klassik hält, also epigonal, zu sprechen. Fortwährend stürzt K r u l l aus klassizistischer Höhe i n die Trivialität der Alltagssprache seiner Zeit hinab. Manolescus Stil reproduziert sich, nur subtiler, in höchster artistischer Gratwanderung. Das Gesetz der Gattung der Entwicklungsgeschichte verlangt ein final orientiertes Erzählen. Klassische Würde hat Diltheys Definition des Bildungsromans: V o n dem Wilhelm Meister ab stellen sie alle den Jüngling jener Tage dar; wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in K a m p f gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß w i r d . l l a

Potenziert wird diese Finaltendenz noch in der Memoirenliteratur, weil die Teleologie der Erzählebene in die Erzählerebene einmündet und dort in der Regel ihren Ruhepunkt findet. Auch das erste Buch des Krull täuscht zunächst eine finale Kompositionsabsicht vor, deren Ziel es ist, Grundlagen einer Charakterentwicklung und Sozialisation zu zeigen. Rundend und rahmend erscheinen dagegen die Kapitel, wenn vom Handlungsverlauf abstrahiert wird: Das letzte Kapitel (Vater Krulls Konkurs) sagt gegenüber dem ersten (Beschreibung der Liederlichkeit des feinbürgerlichen Elternhauses) nichts Neues, sagt es nur deutlicher, mit dem Ebenda, S. 317. l l a

Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen 151970, S. 272.

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Zeichen der Endgültigkeit. Abstieg und Ende der Familie K r u l l stehen schon aufgrund der i m ersten Kapitel geschilderten Sozialisation Knills in einer scheinbürgerlichen Bohème zu erwarten. Ausnahmsweise trügt der Erzähler nicht, wenn er zurückweist, sich chronologisch erinnern zu wollen (vgl. 20). Die zwischen dem Außenkreis der Eckkapitel angeordneten inneren leisten alle die Begründung für die familiäre Situation und ihre Wirkung auf Krull: K n i l l s träumerische Ich-Verwandlung, die Beschreibung seiner Schlafsehnsucht entsprechen der Liebesvereinigung mit Genovefa im achten Kapitel. Beide Szenen verfolgen dieselbe Absicht, den >infantilen< Regreß in einen embryonalen Zustand (vgl. 39,42). Beide Zustände, die Ichverwandlung und die Liebesbegegnung, kennzeichnet K r u l l als träumerisch, weil in ihnen das Ich aufgehoben und damit tendenziell die Verschmelzung der Individualitäten möglich ist. Die erotische Beziehung w i l l der Erzähler als Fortsetzung des Maskenspiels und als Möglichkeit verstanden wissen, das »Alltagsgewand« (40) der Individualität abzustreifen. I m nächsten Kreis des Erzählens entsprechen sich der Betrug des Publikums durch K n i l l s virtuoses Violinspiel (3. Kapitel) und die Diebstähle i m Feinkostgeschäft (Kapitel 7). K n i l l s Modellstehen (4. Kapitel) und seine Schulkrankheit (6. Kapitel) sind durch den A k t der Simulation miteinander verbunden. Die Kapitel gruppieren sich konzentrisch um die Mûller-Rosé-Episode als Variation des Immergleichen. 12 I m kreisenden Sich-Erinnern der Zentralkomposition entsteht ein gestalthaftes Korrelat der Entwicklungsunfähigkeit Knills. Als eine Kunstfigur, die »alle Möglichkeiten der Welt« (115) in sich zu bergen beansprucht, als Verkörperung eines ganzen »Genre« (173), ist er der Sozialisation enthoben. I m Unterschied zum pikarischen Roman hat nicht nur der Erzähler K r u l l sein »Adieu Welt« schon hinter sich, sondern schon der erlebende K r u l l ist in besonderer Weise der Welt entrückt. Die Kategorien und Anschauungsformen, die (im Sinne der Thomas Mann prägenden Transzendentalphilosophie) das Erscheinungsbild der Welt regulieren und die Kontingenz alles in der Welt Seienden ausmachen, gelten für K r u l l nicht: Das bunte Chaos Welt, dem sich der pikarische Held verschreibt, um doch heil daraus hervorzugehen, wird von K r u l l nach seinem Bilde geformt. Determination durch Naturkausalität ist seinem Weltverhältnis fremd: Ich hatte die Natur verbessert, einen Traum verwirklicht, — und wer je aus dem Nichts, aus der bloßen inneren Kenntnis und Anschauung der Dinge, kurz: aus der Phantasie, unter kühner Einsetzung seiner Person eine zwingende, wirksame Wirklichkeit zu schaffen vermochte, der kennt die wundersame und träumerische Zufriedenheit, mit der ich damals von meiner Schöpfung ausruhte. (32)

12 Vgl. das Schema in meinem Aufsatz. »Zwei Schelme i m Unterricht. Z u >Felix Krull< und >Die Blechtrommek« In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 30 (1983), S. 1-20.

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So wie (nach Schopenhauer) jeder der heimliche Theaterdirektor seiner Träume ist, die Traum Wirklichkeit jenseits von Raum, Zeit und Kausalität strukturiert und verdichtet, so ist K r u l l Regisseur seiner Wirklichkeit und die Gesellschaft nur Marionette seiner Freiheitsakte. Die Gesellschaft, ohne welche ihm das Betätigungsfeld fehlte, wird gleichsam von ihm selbst gesetzt als sein Gegensatz — zum Zweck eines »wechselseitigen Sich-Genüge-Tuns«, einer »hochzeitlichen Begegnung« (27): »Oder versichert mich nicht vielmehr ein untrügliches Gefühl, daß sie [Knills Vorzüge] bis zu einem bedeutenden Grade mein eigen Werk sind ( . . . ) ? Wer die Welt recht liebt, der bildet sich ihr gefällig.« (53) Da K r u l l »sein eigen Werk« ist, muß er das Zentrum seiner Theaterwelt sein. Alles, was geschieht, geschieht um ihn als Mittelpunkt herum und um seinetwillen. »Mit« ihm geschieht nichts. Er ist am Ende, der er am Anfang war. Wo keine Zeit, sondern Traum, da keine Entwicklung. Es ist nur eine der üblichen Vexationen, deren man sich bei einem HochstaplerErzähler zu gewärtigen hat, wenn in der Komposition des ersten Buches nicht K r u l l , sondern Müller-Rosé das Zentrum einnimmt. I m Schauspieler MüllerRosé spiegelt sich K r u l l — der eine Rollenspieler kann ohne weiteres für den anderen einstehen. Alles, was sich um Müller-Rosé herumgruppiert, sind Experimente, Vorübungen Krulls im Hinblick auf dieses Existenzziel. MüllerRosé ist die Ideensonne, um die als Magnet die Vorversuche auf allen Lebensstufen gleich gültig kreisen. Es muß ein anderer sein, der Mittelpunkt dieser zyklischen Bemühungen Krulls ist, weil an diesem alter ego durchexerziert werden kann, was der Erzähler aufgrund des Gesetzes der künstlerischen Ökonomie, das seinen permanenten Narzißmus vorschreibt, nicht durchexerzieren darf: die Illusionsschleier einer Theaterwelt zu zerreißen, einem anderen vorgeblichen Gunstkind der schaffenden Macht die Maske vom Gesicht zu ziehen, um seine »eigentliche« Personlosigkeit zu entlarven, das factum brutum der pickeligen, eitrigen, vulgären Wirklichkeit zu zeigen. Deutlicher kann die reine Negation des Bildungsromans nicht erscheinen: Wilhelm Meister hat am Ende das Theater überwunden, aber es ist doch ein wesentliches Stadium seines Weges; Krulls Existenzidee wird von vornherein in ihrer Negativität gezeigt. Weil ihm kein Objektives (eine Gesellschaft) entgegensteht, kann K r u l l auch nicht leiden. Der Eiter der Welt kommt in seiner Bühnenwelt nicht vor oder wird ästhetisiert (vgl. 94). »Weltfrömmigkeit« (12) nennt er, was Grund seines Scheiterns sein wird. Die hochzeitliche Begegnung mit der Frau Welt scheitert daran, daß Frau Welt in einer solchen Ehe zur »Metze« dienen soll. A u f MüllerRosé wird also Nietzsches Künstlerkritik abgeleitet, damit das Wunderkind selbst zunächst einmal entlastet ist. Diese Entlastung währt aber bis ans Ende der erzählten Zeit. Dann holt den Erzähler die Weltwirklichkeit ein: Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um

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überhaupt leben zu können, mußte er vor sich hin die glänzende Traumgeburt des Olympischen stellen. 13

O b w o h l sich K r u l l als olympischer Hermes gebärdet, vermittelt er nicht zwischen Oben und Unten, zwischen der Schönheitswelt des Olymp und dem Leidensgrund der Welt. Der Zauber seines Daseins wird am Ende entzaubert, weil K r u l l Teile des Lebensganzen ausgeschlossen hat. »Vexation« war das Stichwort: Die Irritation des Lesers betrifft das Totum der erzählten Welt. Deshalb muß K r u l l ausgerechnet i m Müller-Rose-Kapitel noch einmal das Gegenteil seines Tuns betonen: auf »Proportion« richte er gar kein Augenmerk und »überlasse diese Rücksicht solchen Verfassern, die aus der Phantasie schöpfen«, »während ich lediglich mein eigenes, eigentlichstes Leben vortrage und mit dieser Materie nach Gutdünken schalte.« (25) Erst am Ende des Satzes ist er bei der >Wahrheit< angelangt. Das Fragment der Wirklichkeit Auch die beiden anderen Bücher des Romans sind scheinbar linear geordnet. Vor allem das zweite Buch, das die häuslichen Szenen zum Abschluß bringt, die Übergangszeit in Frankfurt und die Konsolidierung in Paris schildert, ist räumlich und entwicklungsgeschichtlich final angelegt, weil es als entwicklungsgeschichtliches Bindeglied zwischen dem >Schauspielerbuch< I und dem >Rollenbuch< I I I fungiert. Das Strukturformular des dritten Buches entspricht am ehesten dem panoramatischen Prinzip des pikarischen Romans 14 , das den Helden in immer neuen, in sich abgeschlossenen Episoden und die Gesellschaft in einem Kaleidoskop zeigen will. Dem entspricht auch Thomas Manns eigene resignierte Feststellung, daß das Werk »nicht auf ein Je-damit-fertig-Werden« angelegt, sondern ein »epischer Raum zur Unterbringung von allem, was einem einfällt« 15 sei. Nur, der Raum, von dem Th. Mann hier spricht, ist nicht mehr der Weltraum des La^arillo oder des Gu^män, sondern der Raum des Geistes. Die Welt als Erscheinung zieht wieder am Leser vorbei — von Krulls Rollentausch in Paris bis hin zu seinem Rollenspiel in Lissabon. N u n enthält der Rahmen das, was i m ersten Buch im Zentrum stand: Die Selbstspiegelung Krulls in zwei Szenen aus der Welt des Scheins. Die Essayisierung, die Thomas Mann jetzt anstrebt, reflektiert die Welt der Erscheinung und befragt sie auf ihren intelligiblen Kern hin. Die Geschehensstruktur ist episodisch auf Ergänzung hin angelegt, die Reflexionsstruktur dagegen kreist um Wille und Zeit, Leben und Liebe. Achsensymmetrisch leicht verschobenes Zentrum ist der 13

Nietzsche, I I I , 27.

14

Vgl. Willy Schumann, »Wiederkehr der Schelme«. In: PMLA

15

Wie Anm. 10, S. 354.

81, 1966, 245-271.

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zweite Teil des fünften Kapitels: Kuckucks Weltdeutung und die Initiation Krulls in seine mythische Rolle. I m siebten Kapitel aber wird dieses Thema wieder aufgenommen, es rahmt also die Ankunft in Lissabon. Beides gehört komplementär zusammen: die Zentralkomposition und die Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit des Seins, die Schau der Idee hinter der Fülle der Erscheinungen; die Deutung der Welt als »Episode« »zwischen Nichts und Nichts« (212) und die episodische Struktur des Geschehens; die Deutung der Welt als Gespinst der Maja, der der Sinn erst durch den Menschen zu verleihen ist, und die illusionäre Welt Krulls; die Beschwörung von typischen Phänomenen jenseits der Zeit und die Erhöhung Krulls ins Stellvertretende, Repräsentative einer je schon existierenden mythischen Funktion; der Fragmentcharakter des Romans und die fragmentarische Wirklichkeitsauffassung Krulls. So wie im ersten Buch MüllerRose zur Selbstspiegelung des Romans verhalf, so verhilft Kuckucks Essay zur Selbstreflexion. Das eine Kapitel ist Theater auf dem Theater der Krull-Welt, das andere Grundlegung und Poetik einer Theaterwelt. »Zum >unendliche Sehnsucht erregenden Fragment geboren«, mußte der Roman ein Ende finden, nicht so sehr weil er »ein heikelstes Balance-Stück« des Stils war, sondern weil er als zyklischer keinen Gedankenfortschritt mehr hätte leisten können. Kuckuck hat die groß' und kleine Welt abgeschritten und theoretisch vorweggenommen. Wäre K r u l l diesem Mephisto noch weiter gefolgt, hätte er diese Theorie nur noch ratifiziert. Eine neue Reihe von Abenteuern hätte Spannungs- und Belustigungseffekte enthalten, aber an ideeller Substanz nicht gewonnen: Alles war gesagt.

Der betrogene Leser »Mundus vult decipi« — Diese Devise, mit der schon Manolescu seine Betrügereien legitimiert hatte, 16 bestimmt die Erzählsituation Krulls. Deshalb schafft Thomas Mann einen antiquierten Erzähler-Leser-Bezug, in der sich die Figurenbeziehung des Erzählten reflektiert. M i t diesem Erzählmodus kehrt Thomas Mann in die Frühzeiten des Erzählens zurück. Der Urtypus der Gattung, Heliodors Aithiopika, schon bekräftigte seinen Wahrheitsanspruch durch ein Erzähler-Ich, das alle Unwahrscheinlichkeiten, Inhumanitäten und schockierenden Situationen der erzählten Welt durch seine Person verbürgt: »Daher werden gerade die unglaubwürdigsten Erzählungen, phantastische Reisebeschreibungen und Utopien [. . . ] in die Ich-Form gekleidet.« 17 Thomas Mann unterläuft einerseits den Topos des »veresimile« treibt aber 16

Georges Manolescu (Fürst Lahovary), Ein Fürst der Diebe, Berlin-Groß-LichterfeldeOst, S. 55. 17

Franz K . Stanzel, Typische Formen des Romans, Göttingen 8 1976, S. 29.

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andererseits den Perspektivismus des Erzählers, der ein Strukturmoment der IchErzählung ist, auf die Spitze. Alles, was in K n i l l s Welt geschieht, geschieht um seinetwillen. K r u l l >setzt< vor den Augen des Lesers — wie vor den Ohren der Oberersatzkommission — ein fin de siecle-Szenario, das die Welt zum künstlichen Paradies stilisiert. Die voraufklärerische Subjekt-Objekt-Beziehung ist aufgehoben. Die Welt ist Krulls Vorstellung und nichts außerdem. Z u diesem Ergebnis gelangt Thomas Mann nicht durch eine Reflexion der Geschichte des Romans und der Kunst des Romans (eine Romantheorie ist bei ihm nur rudimentär entwickelt), sondern durch die Verinnerlichung der Philosophie Nietzsches, die die letzten Konsequenzen aus der Vernunftkritik der Aufklärung zieht. Noch einmal läßt Thomas Mann Nietzsches Konzept der Geburt der Tragödie Romangestalt annehmen und konstruiert jetzt den Gesamtplan des Werkes analog zu Nietzsches Satz, daß »nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist«. 18 Was hier Erzählvorgang wird, hatte Nietzsche als A k t der Geburt der Tragödie beschrieben: Apollo »zeigt uns mit erhabener Gebärde, wie die ganze Welt der Quaalen nöthig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision [in der Tragödie] gedrängt wird und dann, ins Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahn, inmitten des Meeres, sitzt.« 19 I n diesem Zustand der visionären Welterzeugung durch die Kunst sind Welt und Künstler, Künstler und Weltenschöpfer identisch: »Denn in jenem Zustand ist er, wunderbarerweise, dem unheimlichen Bild des Märchens gleich, das die Augen drehen und sich selber anschauen kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer«. 20 Der Erzähler K r u l l prätendiert, was sein Autor nur durch seinen M u n d zu formulieren wagt: Nicht nur (wie das Genie des Sturm'und Drang) an der Schöpferkraft der Natur teilzuhaben, sondern sogar als autonomer Schöpfer eine zweite, ästhetische Welt zu schaffen, durch die erst die moralische des ersten Schöpfers ertragbar, gerechtfertigt wird. Aus dem Roman wird eine »Kunstkomödie«. Die »Kunstkomödie« funktioniert, wenn der Zuschauer selbst einen Part in dieser »Kunstwelt« übernimmt. Für den »Genius i m Augenblick der künstlerischen Zeugung« sind die Zuschauer (Leser) schon »Bilder und künstlerische Projektionen«, die »in der Bedeutung von Kunstwerken« ihre »höchste Würde« haben. 21 K r u l l schafft sich nicht nur seine fiktionale Welt, sondern siedelt in ihr auch seinen fiktionalen Leser an. Der ist da als »geneigter«, »mitfühlender«, »feinfühlender«, »urteilender«, »ernsthafter« Leser (76, 92, 197, 217), er ist Adressat der Appelle und Apologien des Erzählers (vgl. 292, 297, 348), ihm wird der Erzählvorgang selbst scheinbar 18

Nietzsche, I I I , 11.

19

Nietzsche, I I I , 35 f.

20

Nietzsche, I I I , 44.

21

Nietzsche, I I I , 43 f.

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transparent gemacht (»Ich wähle hier die Gegenwartsform, weil das Ereignis mir so sehr gegenwärtig ist.« 292), der Leser >tritt auf< als Kritiker des Trivialen 2 2 , formuliert Einwände und Vorwürfe (»Schwärmer und Gaffer! höre ich den Leser mir zurufen. Wo bleiben deine Abenteuer?« 65), Erfahrungen, Mitfühlen, Miterleben, Wissen, Durchschauen des Lesers werden antizipiert und nach Sachlage entkräftet (vgl. 85,95,100,120). Vor allem aber konstruiert der Erzähler in seinen Parabasen eine ästhetisch-moralische Werthaltung (vgl. 37, 38f., 92f., 144 f.) des »unbekannten(r) Leser(s)« (38), die den Unbekannten auf eben jenes Bürgertum festlegen will, das auf der Ebene des Erzählten die Welt ausmacht, die betrogen werden soll. Die ästhetischen Normen dieses Lesers heißen: »Reinlichkeit des Stils«, »Schicklichkeit des Ausdrucks« (48), »Proportion« (25) - klassischrhetorische Normen des aptum — , und sein moralischer Kodex wird mit ähnlichen Etiketten (»Schicklichkeit« 38, »guter Ton« 93) versehen. Der Erzähler konstituiert einen derartigen Leser nur, um ihn zugleich und sogleich aus den Automatismen seiner Leseerwartung herauszureißen. Er durchbricht die schematisierten Ansichten, indem er den ästhetischen und moralischen V o r w u r f nur fingiert, um ihn zu entkräften. Die Apologie dient nicht bloß der Sympathiewerbung beim Leser, 23 sondern destruiert dessen Wertsystem. Unmerklich wird der »mitfühlende Leser« einbezogen in den universalen Ästhetizismus und Immoralismus von K n i l l s Welt. Diese Medialisierung führt die Freiheit des Lesers gegen Null, verführt ihn ins Experiment einer Gegenwirklichkeit zur Leserwirklichkeit. Die Selbstauflösung der Moral scheint der Leser nur in K r u l l zu erfahren, tatsächlich ratifiziert er eine epochale Entwicklung der nachaufgeklärten Zeit, die Entwertung der traditionellen Werte, die das Bürgertum, auf Erhaltung der bestehenden Ordnung bedacht, noch nicht ratifiziert hatte. Der Schlingel K r u l l leistet also Erstaunliches: Er bricht den Konservativismus seines Lesers auf, zwingt ihn, seine Moral als Scheinmoral — i m Spiel — hinter sich zu lassen. Letzte Raffinesse dieses Verführungsspiels ist es, daß K r u l l , wenn er falsch spielt, seine Karten immer aufdeckt. Seine Offenheit selbst ist das Mittel des Betrugs. Er gewährt dem Leser die seltene Möglichkeit, die Entlastung vom moralischen Zwang zu genießen. Z u m Beispiel durch diese fiktive Selbstapostrophe (man hört Wielands Agathon oder Fieldings Tom Jones ihre moralisch-ästhetische Dignität beteuern): »Weiß doch der Himmel, sprach ich mit mir selbst, welche Reizungen und Erschütterungen man sich von einem Schriftwerke gewärtigt, das sich durch seine Aufschrift den Kriminalromanen und Detektivgeschichten an die Seite zu stellen scheint, — während doch meine Lebensgeschichte zwar seltsam und öfters 22 Vgl. Karl-Martin Kühner, »Wer liest den Roman? Zur Interpretation der Leserfigur in Thomas Manns Hochstapler-Roman«. In: Hommage ä Maurice Marache 1916-1970, Nice 1972, S. 287-301. Dieser Leser hat sich gegenüber dem »günstigen Leser« des Simplicissimus gründlich gewandelt: Er w i r d durch die Erzähleransprache in die immoralistische Erzählerwelt integriert. 23

So Jürgen Jacobs, Der deutsche Schelmenroman, München / Zürich 1983, S. 105.

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traumähnlich sich anläßt, aber der Knalleffekte und aufregenden Entwicklungen gänzlich entbehrt!« (47) So extrapoliert er die fiktive Lesererwartung; dann aber: (...)

so kann ich mich der freudigen Hoffnung nicht verschließen, daß meine

Eröffnungen, sollten sie auch von den Fabeln der Romanschreiber in Hinsicht auf gröbere Aufregung und Befriedigung der gemeinen Neugier in den Schatten gestellt werden, ihnen dafür durch eine gewisse feine Eindringlichkeit und edle Wahrhaftigkeit desto sicherer den Rang ablaufen werden. (48)

Verschwörerisch wird der Leser einbezogen in eine fiktive Konspiration gegen ein Publikum, das »krasse Kunsterzeugnisse« goutiert, also »übersättigt« und »abgestumpft« ist (47). Indem der Leser so an der Konstruktion des Erzählens, am Erzählvorgang selbst scheinbar beteiligt wird, verschmilzt, nach unserem Nietzsche-Wort, nicht nur der Künstler mit dem »Urkünstler der Welt«, sondern verschmelzen »Dichter, Schauspieler und Zuschauer« 24 , oder hier: Erzähler, Leser und Figur in einer universalen Identität, der Verschwörungsgemeinschaft der neuen Welt des Immoralismus. Frecherdings verrät Thomas Mann im Medium K r u l l sein eigenes Erfolgsrezept: Sich den Leser selbst zu schaffen, um in den »besten Häusern« (48) wie auch in der Gunst eines Publikums, das »Knalleffekte« will, zu reüssieren. Scheinbar ohne alle aufklärerisch-didaktische Gebärde gebärdet sich dieser Anti-Bildungsroman doch noch einmal ironisch-didaktisch, indem er das »Fabeln« den »Romanschreibern« überläßt und den Roman der »Knalleffekte« ins »Faustische« überführt, ausweitet in ein Monstrum, das die groß' und kleine Welt zeigen soll, ein Monstrum, das gar nicht mehr Roman, sondern Weltendrama, »Weltgedicht« sein will, eine »Wanderung im Grenzenlosen« 25 von Himmel, Welt und Hölle. Diese Methode hat Thomas Mann im Tod in Venedig und i m Zauberberg zur Meisterschaft entwickelt. Lange mußte der Krull liegen bleiben, weil die Geschichte vom Schelm, das Leichtgeschürzt-Abenteuerliche der Fabel der Ausweitung ins Faustische widerstrebte. A m Ende gelingt aber auch das: den pikarischen Roman auszubauen zum Roman über das Weltall, durch einen erzähltechnischen Kniff, der freilich so alt ist wie der Roman selbst. Nicht erst der deutsche Romancier befindet sich im Legitimationsdruck, die Dignität der Gattung erweisen zu müssen: Schon Heliodor muß dem »Halbbruder« der Dichtung Respekt verschaffen, indem er dem Vorder-Sinn seiner an Effekten prallen Abenteuerwelt den Hinter-Sinn einer esoterischen Allegorie verleiht, die — wie in der alexandrinischen Homer-Exegese — nur der ins Mysterium Eingeweihte dechiffrieren kann. I m Roman der Charikleia könnte sich ein Roman der Seele verbergen: ihr mystischer Abstieg in die Welt der Formen und ihr 24

Nietzsche, I I I , 44.

25

Wie A n m . 10, S. 333.

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Aufstieg aus der Historie in den Mythos. Thomas Mann hat erst spät (vermittelt durch Karl Kerenyis Buch über den antiken Roman 2 6 ) Heliodor kennengelernt, aber er kannte solche Tricks schon früher durch seinen Stern der höchsten Höhe: von Goethe, dem die Empirie dann wert (»zart«) war, wenn sie »bedeutend« auf das Typisch-Symbolische verwies, dessen Lehrjahre denn auch dem Volk eine bunte Welt präsentiert, dem Wissenden aber eine typologisch überhöhte Wahrheit über die Entwicklung des Menschen entbirgt. 2 7 So trifft sich das Älteste mit dem Frühesten: Die Raffinesse Knills war schon die Raffinesse Heliodors und das Vergnügen des Lesers über die Jahrtausende dasselbe: hineingenommen zu sein in ein Spiel, bei dem sich »der Geist nichts vergibt«: »Spielender Geist ist die Poesie, und ich klatsche herzlich angetan in die Hände dazu, wenn sich der Geist nichts vergibt i m Spiele und bleibt Gottessor-

26

Karl Kerenyi, Die griechisch-orientalische tung. E i n Versuch, Tübingen 1927.

Romanliteratur

in religionsgeschichtlicher

Beleuch-

27 Vgl. Heinz Schlaffer, »Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen«. In: GJb 95,1978, S. 212-226. 28 Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt 1974, Bd. I V , S. 1281. (»Joseph und seine Brüder«).

» M A G I S C H E R R E A L I S M U S « O D E R A R C H Ä O L O G I E DES M Y T H O S Z u Asturias' Mythenverständnis in den Leyendas de Guatemala und in theoretischen Schriften Von Christoph Strosetyki

Asturias' literarisches Werk verbindet magische und realistische Elemente. I n der Literaturwissenschaft und von ihm selbst wurde es daher als »Magischer Realismus« bezeichnet. Den häufig wechselnden Bedeutungen dieses Ausdrucks ordnet R. Daus zwei Ebenen zu: Das magisch-realistische Denken sei entweder kennzeichnend für einen historisch fixierbaren intellektuellen Entwicklungsstand der Mayas, den Asturias dokumentarisch abbilde. Oder es handle sich um ein ahistorisches, bei den Guatemalteken latent immer vorhandenes Mythenpotential, dessen sich Asturias bediene, um zur Vermittlung der guatemaltekischen Tiefenpsychologie neue, eigene Mythen zu schaffen. 1 Tiefenpsychologische Elemente dominieren also i m magischen Denken bei Asturias — gleichgültig, ob es als dokumentarische Abbildung oder poetische Neuschaffung einzuordnen ist. Der Stellenwert dieser Elemente allerdings ist umstritten. So sieht R. Daus i m »Magischen Realismus« weniger ein geschlossenes Gedankensystem als eine bloße »literarische Kompositionshilfe«, die sich an Thesen der französischen Surrealisten über den Traum anlehne. 2 Damit versteht er das magische Element in erster Linie als surrealistisches Kompositionsprinzip, das sich der guatemaltekischen Magie als Material bedient. — Dagegen wird vorgebracht, daß diese Magie gerade in Asturias' schon 1930 erschienenen Leyendas stark in den Vordergrund tritt. Dies veranlaßte G. Bellini dazu, den Schwerpunkt anders zu setzen als später Daus und das Guatemala der Leyendas als »lugar de las maravillas, una suerte de paraíso terrestre«, »un mundo que vive en íntimo contacto con los dioses y con los demonios de las antiguas creencias sobre el cual se han insertado pinceladas cristianas.« 3 Bei ihm beziehen die Leyendas also ihren Wert in erster Linie aus jener magischen Weltsicht des indio, die über die 1 Ronald Daus, »Miguel Angel Asturias«, in: W. Eitel hg., Lateinamerikanische der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1978, S. 297-329, hier S. 301 f. 2 3

Literatur

Vgl. ebda., S. 303, 305.

Giuseppe Bellini, La narrativa de Miguel Angel Asturias, Buenos Aires 1969, (Übers, der Ausgabe Mailand 1966),S. 22 f.

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Realität hinausgehe, und von einem Animismus beseelt sei, der die Geheimnisse der Dinge und ihren Dialog mit dem ganzen Universum veranschauliche. 4 A m eindringlichsten wird diese magische Deutung der Welt von L. Schräder formuliert, der sie als »magische Korrespondenz« und »Identität alles Seienden«, als Verwischung z.B. der »Grenzen zwischen Mensch und Tier, Mensch und Pflanze, Mensch und Mensch, Belebtem und Unbelebtem, Leben und Tod« kennzeichnet. 5 Die schon von P. Valéry enthusiastisch gepriesene Fremdheit, die das so verstandene Magische für jenes europäische, nicht zuletzt durch die Aufklärung rational geprägte Denken habe und die eine besondere A r t der Vermittlung erfordere, hebt D . Janik hervor. 6 Da er jedoch neben dem spezifischen Grundverhältnis von Mensch- und Naturwirklichkeit auch Produktions-, Gesellschafts- und Kulturformen, ebenso wie Mittel der Technik einbezogen wissen will, gelangt er zu einer sehr umfassenden Definition der Kategorie des Magischen. 7 Z u Recht hebt er hervor, daß sich die magische Sicht auf die gesamte Welt beziehen kann. Komme es doch bei hispanoamerikanischen Erzählwerken auf die in ihnen enthaltene »gesamtkulturelle Interpretation der eigenen Daseinswirklichkeit« 8 an. Dieser Ansatz greift dann besonders gut, wenn — wie bei Asturias — sich auch der Autor des zu interpretierenden Erzählwerkes diese Sicht zu eigen macht. Asturias setzt in den Erläuterungen zu seinem Werk das Magische in Beziehung zum Künstlerischen. Dabei kann er auf die Mayas und die Nahuas zurückgreifen, die ihrerseits die Dichtung für die Magie der Götter hielten und als »arte de endiosar las cosas« verstanden, wie er in einem Kommentar zu »Claravigilia primaveral« hervorhebt, um Kunst und Magie zu identifizieren. Entsprechendes gelte für Bildhauer oder Maler: »Los pintores barren la realidad con escobas de plumajes (es decir, de colores) [. . . ] y barrida la realidad dan paso al enigma, es decir, a la obra en sí, a la obra oculta y revelada por ellos mágicamente.«9 Auch die Landschaftsbeschreibungen seiner Romane w i l l Astu4 Korrespondenz und Verschmelzung von Mensch und Welt w i r d auch betont in: Iber Verdugo, El carácter de la literatura hispanoamericana y la novelística de Miguel Angel Asturias , Guatemala 1968, S. 79. 5 L u d w i g Schräder, »Conejos amarillos en el cielo: Z u einigen Konstanten im Romanwerk von Miguel Angel Asturias« in: Iberoromania 2,3 (1970), S. 231-247, hier S. 236. 6

Vgl. »Carta de Paul Valéry« in: Miguel Angel Asturias, Legendas de Guatemala, Buenos Aires, Madrid 1981, S. 9 f.; Dieter Janik, Magische Wirklichkeitsauffassung im hispanoamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1976, S. 7 ff. 7

Vgl. ebda., S. 18.

s Ebda., S. 4. 9 M . A. Asturias, »Arte y magia«, in: Annales du VIF français, Rennes 1971, S. 43-46, hier S. 43.

congrès de la société des hispanistes

»Magischer Realismus« oder Archäologie des Mythos

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rias daher nicht als bloße Mittel zur Füllung von Leerstellen zwischen Dialogen verstehen, sondern gleichsam als literarische Gestalten, die ihrerseits wie andere Protagonisten für den Bewußtseinszustand des Autors stehen. 10 Dem Ort und seiner Beschreibung komme also i m hispanoamerikanischen Roman eine Wesenheit zu: »Actúa personificado, voluntarioso y humano, y puede ser la selva, la pampa, el llano, la montaña, el río, el mar, una isla, un pueblo, una ciudad.« 11 Das Magische, jene Identität zwischen Mensch und Welt, zwischen Subjekt und Objekt, ist also nach Asturias nicht nur Eigenart eines indigenen Weltbildes, sondern zugleich Kennzeichen des lateinamerikanischen Romans. 12 Wenn Asturias als Dichter diese magische Welt vermittelt, dann schafft er in jedem Fall etwas Neues, gleichgültig, ob er aus einem ahistorischen, mythischen Fundus schöpft oder ob er die bestimmte, zu einer Zeit gültige Mentalität widerspiegelt. 13 Nach Verdugo w i l l er den »ser americano« entdecken und offenlegen, wenn er von den ältesten Wurzeln ausgeht, »porque endende que se hallan de algún modo vigentes en la actualidad, en medio de las transformaciones operadas a lo largo de las circunstancias vitales en que se desenvolvieron.« 14 Seine Technik sei daher die einer Rekonstruktion des Kollektiven. Daher beziehe er auch das Material für die Leyendas aus einem »sentimiento colectivo«. Dieses mythisch geprägte Kollektivbewußtsein unterstreicht E. Léon H i l l und verweist es in eine Sphäre des Unbewußten, aus der heraus es ständig wirke. 1 5 So scheint es eine geistige Wirklichkeit zu sein, die Asturias zu erfassen und zu gestalten sucht. Dem schließt sich auch A . Dessau an, der die »geistige Wirklichkeit« als Überbau einer materiellen Basis versteht. 16

10

»En nuestra novela, el paisaje cumple funciones de personaje de múltiples ojos, de múltiples brazos, de múltiples voces, y los protagonistas no son sino estados de conciencia del autor.« M . A . Asturias, »Paisaje y lenguaje en la novela hispanoamericana«, in: Norte 13,3 (1972), S. 61-69, hier S. 62. 11

Ebda., S. 62.

12

Z u r Raumdarstellung in den Leyendas und ihren deiktischen Mitteln zur Unterscheidung der realen Handlungsschauplätze, wie Kloster, Stadt und offener Landschaft, v o n den mythischen, die neben ihnen und oft innerhalb von ihnen liegen, die feste räumliche Ordnungen auflösen oder schließlich visionäre Räume entwerfen, vgl. Priska-Monika Hottenroth, Die Ortsbestimmungen in den »Leyendas de Guatemala« von Miguel Angel Asturias: die lokale Deixis und Anaphorik im erzählenden Text, Frankfurt a. M . , Bern 1982, bes. S. 11 ff. 13 Vgl. dazu auch Ernesto M . Barrera, »La mitología maya en la narrativa de Miguel Angel Asturias (1899-1974)«, in: Anales de literatura hispanoamericana 4, (1975), S. 93-113, hier S. 112. 14

Iber Verdugo, El carácter de la literatura

15

hispanoamericana, S. 131.

Ebda., S. 126; E. Léon H i l l unterstreicht dieses mythisch geprägte Kollektivbewußtsein und verweist es in eine Sphäre des Unbewußten, aus der heraus es ständig wirke: Eliada Léon H i l l , Miguel Angel Asturias: Lo ancestral en su obra literaria, N e w York 1972, S. 12f. 12 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

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Auch Asturias selbst betont, die geistige Wirklichkeit des indio sei die Realität, die er in seinen Romanen zum Ausdruck bringen wolle. 1 7 Sie sei gekennzeichnet durch jene Sicht der Dinge, die beim indio durch eine einfache und ursprüngliche Mentalität geprägt sei. Der Anschein magischer Überrealität sei also nichts anderes als Resultat einer Weltsicht, einer Mentalität. Wenn Asturias in einem Interview 1 8 zwischen der realen Realität, der magischen Realität und jener dritten unterscheidet, die die Verschmelzung der ersten beiden und damit den »magischen Realismus« darstellt, dann scheint er unter der »magischen Realität« jene Denkschemata zu verstehen, die in einem Erkenntnisvorgang erst aktiviert werden müssen, um zur Kenntnis einer äußeren, als D i n g an sich vorgestellten Realität zu führen. Die magischen Denkschemata hätten dann einen ähnlichen Stellenwert für die irrationale Erkenntnis wie etwa die Kategorien für die rationale. Wenn dann das Ergebnis der rationalen Erkenntnis das Wissen ist, dann wäre das der irrationalen der »magische Realismus« als Literatur oder als jeweilige konkrete magische Einsicht eines indio. So liegen rationale und magische Erkenntnis prinzipiell nicht weit auseinander. Die Überwindung der Idee, daß Magie bloße Vorstufe der Wissenschaft sei, hat C. Lévi-Strauss als Ethnologe ausführlich in La pensée sauvage 19 formuliert: Magie und Wissenschaft seien »deux modes de connaissance, inégaux quant aux résultats théoriques et pratiques [ . . . ] mais non par le genre d'opérations mentales qu'elles supposent toutes deux, et qui diffèrent moins en nature qu'en fonction des types de phénomènes auxquelles elles s'appliquent.« 20 Wie Asturias sieht auch LéviStrauss die Übertragungsmöglichkeit auf die Moderne und deren politische Verhältnisse, wenn er die Ähnlichkeit zwischen mythischem Denken und politischer Ideologie betont. 2 1

16 Es gehe in den Leyendas »um die Stimmungs- und Gefühlswelt einiger alter Städte aus der Maya- und Kolonialzeit und vor allem um die Geistigkeit der alten Maya-Legenden.« Adalbert Dessau, »Mythus und Wirklichkeit in Miguel Angel Asturias' Bananentrilogie. Humanismus, Vaterlandsliebe und Realismus i m Romanwerk Miguel Angel Asturias«, in: Lateinamerikanischer Semesterbericht , Rostock 1966, S. 7-51, hier S. 9. 17 »El realismo, en una dimensión que unos llamanos mágica y otros de alucinación. Corresponde sobre todo a los países con gran densidad y pasado cultural indígena. En ellos la realidad, dentro de la mentalidad primitiva y casi infantil del indio, adquiere una dimensión de super realidad, y por eso a veces se califica muy a la ligera a nuestra literatura de imitadora del surrealismo francés o muy influenciado por él.« M . A . Asturias, Latinoamérica y otros ensayos, Madrid 1970 2 , S. 27. 18

G. W. Lorenz hg., Miguel Angel Asturias, Neuwied, Berlin 1967, S. 18 (ad lectores 6).

19

Claude Lévi-Strauss, La pensée sauvage, Paris 1962, S. 21.

20

Zit. nach D . Janik, Magische Wirklichkeitsauffassung,

21

Zit. nach Günter Schiwy, Der französische

S. 7.

Strukturalismus,

Hamburg 1969, S. 136.

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So kann sich Asturias als Autor der von ihm vertretenen »verpflichteten Literatur« fühlen, 22 gleichgültig ob es ihm in erster Linie um das mythische Element wie in den Leyendas oder um das politische, wie in El Señor Presidente oder um die sozioökonomische Realität wie in »Viento fuerte« geht. Aber auch in letzterem Fall erscheint seine Realität durch sein »Temperament«, durch seine »Art zu sehen« reflektiert. 23 Und diese wiederum ist den alten Mythen verpflichtet. Wenn nun Asturias gegen den »sozialistischen Realismus« polemisiert, dann deswegen, weil letzterer die von den alten Mythen geprägte magische Realitätsauffassung nicht einbezieht und damit die Realität des Landes nicht reflektiert. Indem er also zeigt, wie die indios dem mythischen Denken verhaftet sind, stellt er die Mentalität einer gesellschaftlich benachteiligten Gruppe dar, die dem technokratisch-kapitalistischen Denken unterlegen ist. Sein Anliegen ist damit jenem vergleichbar, das G. Lukacs bei Balzac gesehen hatte und das Balzac den Vertretern des »sozialistischen Realismus« gegenüber überlegen erscheinen ließ. Seine Quellen sieht das mythische Denken in den Mythen der mittelamerikanischen Vergangenheit. Diese werden so enthusiastisch wiederentdeckt, wie i m Europa der Renaissance die Antike. Diese Parallele hat L. Schräder überzeugend aufgezeigt: Jener Rückgriff führe unter Überspringung der unmittelbaren Vergangenheit (Mittelalter bzw. Kolonialzeit mit europäischer Orientierung) zur »Eröffnung von menschlichen Möglichkeiten, deren Realisierung für eine neuartige Zukunft erhofft wird.« 2 4 Die Wiederbesinnung auf die Anfänge ist es also, die gleichermaßen das politische wie das literarische Anliegen von Asturias prägt. Dies — so scheint uns — wird besonders deutlich in den Leyendas und in den späteren Aufsätzen. Der Rückgriff auf die Mythen, den er als Ethnologe vornimmt, ist daher jenem des europäischen Altertumswissenschaftlers zu vergleichen, der ausgehend von alten Textüberlieferungen, erhaltenen Bauwerken, K u l t - und Gebrauchsgegenständen und künstlerischen Darstellungen das Denken und Verhalten der alten Völker rekonstruiert. Er gleicht damit dem Archäologen, und sein Vorgehen der Rekonstruktion der mythischen Mentalität erscheint als Archäologie des Mythos. So wird bei Asturias die archäologische Expedition zum Paradigma für Entdeckung und Verstehen Amerikas: »La recuperación de nuestro pasado arqueológico, la conservación de nuestro folklore y la busca de aquellos elementos que permitan una mejor interpretación del pasado americano.« 25 22

Günter W. Lorenz hg., M. A. Asturias, S. 12.

23

E b d a , S. 10.

24

L u d w i g Schräder, »Die Kunst und die alten Götter bei Asturias. Z u r Deutung von >Claravigilia primaveral «, in: Interpretation und Vergleich: Festschrift für W. Pabst, Berlin 1972, S. 267-301, hier S. 273. 1*

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Z u den Mythen und Traditionen Guatemalas hat Asturias einen zweifachen Zugang. I n seiner Kindheit wurde er mit ihnen vertraut. Besonders intensiv wird er sie erlebt haben, als er sich bis zum Alter von acht Jahren bei der indianischen Verwandtschaft mütterlicherseits in der Stadt Salamá aufhielt, da seine Eltern v o m Diktator Estrada Cabrera verfolgt wurden. Jenen Kindheitserinnerungen war er auf der Spur, als er nach seinem Jurastudium in Guatemala ein Ethnologiestudium an der Sorbonne anschloß und Mitarbeiter des Altamerikanisten Raynaud wurde. Sein Ethnologiestudium fiel in die Zeit, als die Surrealisten in Paris die Dimension des Unbewußten und Irrationalen entdeckten und das »Mythische« zum literarischen Programm erhoben. Da sich Asturias als Ethnologe mit dem »Popol Vuh« beschäftigt hatte, dessen Übersetzung in Zusammenarbeit mit J. M . González de Mendoza in dem Zeitraum entstand, in dem auch die ersten Vorarbeiten zu den Leyendas konzipiert worden sind, wird verständlich, daß die Leyendas zahlreiche, zum Teil wörtlich übernommene Passagen aus dem »Popol Vuh« enthalten. 26 »Aus dem Geist der Mythen und Traditionen Guatemalas heraus« hat Asturias nach seiner eigenen Aussage die Leyendas geschrieben. 27 Die Beziehung zwischen dem »Popol Vuh« und den Leyendas ist oft und ausführlich belegt worden. Allerdings beschränkte sich die Forschung bisher meist auf den Aufweis von Parallelen und den literarischen Vergleich. Unberücksichtigt blieb dabei, daß Asturias einen spezifisch ethnologischen Ansatz, den er aus seinen Studien her kannte, auf seine literarische Perspektive überträgt. Auch macht er sich den Blickwinkel des Ethnologen zu eigen, der Fremdes zu verstehen hat, um das Eigene denen besser vermitteln zu können, für die es fremd ist. So nähert er sich dem Denken des Volkes, mit dem er sich beschäftigt, indem er archäologische Spuren, folkloristische Elemente und Traditionen, reale Gegebenheiten und Riten aufspürt, von denen er ausgehen und das mythische Denken extrapolieren kann. Leyendas de Guatemala Guatemala sei das Thema in Asturias' Werk von den Leyendas bis zu den späteren Romanen, hat A . Dessau zu recht konstatiert. 28 Asturias selbst 25

M . A. Asturias, Viajes, ensayos y fantasías, hg. R. J. Callan, Buenos Aires 1981, S. 206.

26

Die Übersetzung erschien 1927, die Leyendas wurden 1930 veröffentlicht.

27 G. W. Lorenz hg., M. A. Asturias, S. 10; der »Popol-Vuh«, dem das europäische Publikum zunächst mit Unverständnis gegenüberstand, erfreue sich auch in Europa immer größeren Interesses, das von den Fachleuten aus Wissenschaft und Kunst auf ein breites Publikum übergehe: V g l . M . A. Asturias, América, fábula de fábulas y otros ensayos, R. Callan hg., Caracas, Venezuela 1972, S. 282. 28

Adalbert Dessau, »Guatemala en las novelas de Miguel Angel Asturias«, in: Papeles de Son Armadans 16,62 (1971), Nr. 185/6, S. 291-316, hier S. 313.

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untergliedert dieses Thema in zwei Realitäten: »la una social, política, popular, con personajes que hablan como habla el pueblo guatemalteco; la otra imaginaria, que les encierra en una especie de ambiente y de paisaje de sueño.« 29 Daher kann Dessau schließen, daß gerade die Leyendas die Frage nach Geschichte und nationaler Identität Guatemalas in einem positiven E n t w u r f beantworten können, indem sie sich »hacia su ser auténtico o su >intrahistoria< considerada como dada a priori« orientieren. 30 Diese mentale Authentizität findet in Asturias' dichterischer Darstellung ein reales Substrat, an dem sie festgemacht wird. Nicht zuletzt deshalb wählt Asturias die Gattung der Legenden, die sich ja bekanntlich gern an einen realen Ort, eine Ruine, ein Gebäude oder eine Person knüpft. 3 1 V o n realen Gegebenheiten geht auch der Archäologe aus, wenn er Aufschlüsse über die Vergangenheit sucht. V o n in der Realität aufgefundenen Stadtanlagen, Gebäuderesten, K u l t - oder Gebrauchsgegenständen ausgehend, schließt er auf Institutionen und mentale Faktoren. Asturias arbeitet i m Einleitungskapitel »Guatemala« seiner Leyendas ganz ähnlich. Auch er geht von ganz realen Gegebenheiten aus, manchmal von geographischen Skizzen, häufig von archäologischen Spuren, Stadtanlagen, architektonischen Gegebenheiten, nicht selten aber auch von völkerkundlichen Requisiten, z.B. typischen Trachten oder Arbeitsinstrumenten. I m Anschluß also an derart reale Details, die sich durch geographische oder archäologische Exaktheit auszeichnen bzw. an Beschreibungen in Katalogen ethnologischer Museen erinnern, gelangt Asturias zum Allgemeinen, jenen typischen Denk- und Handlungsformen, die er dem europäischen Denken nahebringen will. Da sie magischen Charakter haben und mythisch geprägt sind, führt ihn die geographische, archäologische und ethnologische Ebene konsequent zur magisch-mythischen. Das Kapitel »Guatemala« besteht aus einer in den Tag situierten Rahmenhandlung, der Anreise und Ankunft des Ich-Erzählers i m heutigen Guatemala de la Asunción. Sie umrahmt einen in einer traumhaft nächtlichen Sphäre evozierten Gang durch die Geschichte. Besonders kunstvoll sind die Übergänge gestaltet, in denen zunächst von der taghellen topographisch genauen Realität zum Traumhaften und dann von der nächtlichen, traumähnlichen Evozierung der geschichtlichen Stufen hin zur Ankunft in der Realität der Gegenwart übergegangen wird. Zunächst wird ganz konkret die Fahrt des Wagens evoziert, mit dem sich der Erzähler von den Außenbezirken der Stadtmitte nähert. Sind hier noch Zeit und Raum eindeutig festgelegt, so wird bald eine Zeitlosigkeit hergestellt, wenn v o m Sommer die Rede ist, in dem die Bäume der Allee nur noch gelbe Blätter tragen,

29

E b d a , S. 314.

30

E b d a , S. 301.

31

Vgl. Luis de Arrigoitía, »Leyendas de Guatemala«, in: Asomante 3 (1968), S. 7-20, hier

S. 13.

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und dann v o m Winter, in dem der Fluß anschwillt und die Brücke mit sich fortreißt. Sommer und Winter beschreiben den Jahreskreis, der hier durch immer wiederkehrende Ereignisse seiner Konkretheit und Bestimmtheit enthoben ist. Auch der Raum wird entkonkretisiert: »Como se cuenta en las historias que ahora nadie cree — ni las abuelas ni los niños — , esta ciudad fue construida sobre ciudades enterradas en el centro de América.« 32 Die Stadt ist also nicht mehr der konkrete Ort des ankommenden Reisenden, sondern jener sichtbare Teil, unter dem zahlreiche Schichten verschütteter vergangener Städte liegen. Die Verbindung zwischen der gegenwärtigen Stadt und den vergangenen, zwischen hell sichtbarer Architektur und verschütteten dunklen Schichten, wird durch die Bäume hergestellt, die v o m Bereich unter der Erde in den Bereich über der Erde hinausragen und denen eine mythische Kraft zugeschrieben wird, die es in der Erzählung ermöglicht, die Verbindung zwischen der Rahmenhandlung und der traumhaft evozierten Sphäre der eingerahmten Erzählung herzustellen. »Existe la creencia de que los árboles respiran el aliento de las personas que habitan las ciudades enterradas.« 33 Daher holen sich bei ihnen Verliebte Rat und Dichter Inspiration. Diese Bäume, die die Verbindung zwischen Erdschichten verschütteter Städte und der gegenwärtig sichtbaren Stadt herstellen sollen, ermöglichen auch in der Erzählung den Übergang von der sichtbaren Stadt zur unsichtbaren Sphäre der Vergangenheit: Sie verzaubern die Stadt. Der äußeren Stille tritt nun Bewegung i m Inneren gegenüber: »despierta en el alma el Cuco de los Sueños. E l Cuco de los Sueños hace ver una ciudad muy grande — pensamiento que todos llevamos dentro — cien veces más grande que esta ciudad de casas pintaditas [ . . . ] . Es una ciudad formada de ciudades enterradas, superpuestas, como los pisos de una casa de altos. Piso sobre piso. Ciudad sobre ciudad.« 34 Die offensichtlich als Archetyp zu verstehende riesige Stadt, deren Vorstellung jeder in sich trage, bestehe aus unterschiedlichen Schichten, wie ein Hochhaus aus unterschiedlichen Stockwerken. Zwischen ihnen gebe es verbindende Treppen, auf denen Traumgestalten ohne Geräusch und Spur umher wandelten. Die Jahrhunderte wechselten von Tür zu Tür. Daß man in diesen unterschiedlichen Schichten lesen kann und wie der Archäologe Schlüsse auf Lebens- und Denkgewohnheiten der Bürger jener Städte, deren Reste sie sind, ziehen kann, veranschaulicht Asturias durch den Vergleich mit einem Buch. Hier spielt Asturias auf den alten Topos der Welt als Buch nur insofern an, als er dem lesbaren Text eine lesbare Realität gegenüberstellt. Für ihn ist es die Realität jener verschütteten Schichten, in denen der 32

Miguel Angel Asturias, Leyendas de Guatemala, S. 12.

33

Ebda.

34

Ebda.

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Archäologe Auskünfte über die Vergangenheit gewinnen kann. Dieses Buch gebe Auskunft über die indianischen, aber auch über die spanisch geprägten Etappen der Geschichte: »Libro de estampas viejas, empastado en piedra con páginas de oro de Indias, de pergaminos españoles y de papel republicano«. 35 Es erscheint so wertvoll, daß es mit einer Schatztruhe verglichen wird, die ähnlich wie alte Bücher durch ringförmige Beschläge zusammengehalten wird. Anders jedoch als bei der Arbeit des Archäologen finden sich in der traumhaften Vision alle alten Städte wohlerhalten vor. Wie man sie sich mit ihren gespenstisch anmutenden Bewohnern nun vorzustellen hat, davon handelt der Hauptteil des Kapitels, der durch das Bild der übereinanderliegenden Städte, das endgültig von der sichtbaren Wirklichkeit des Reisenden weggeführt hat, vorbereitet wurde. Alle Städte, die nun mit Namen angeführt werden, haben tatsächlich existiert, wenn auch nicht an einem einzigen Ort, wie es das evozierte Traumbild glauben macht. Ausführlich werden zunächst vier Städte der indianischen Vergangenheit vorgestellt: Palenque, Copán, Quiriguá und Tikal. Es folgen die drei Städte der Konquistadoren. I n jedem Fall wird eine typische Szene oder Verhaltens- und Denkgewohnheit an die Beschreibung architektonischer Gegebenheiten oder charakteristischer Gebrauchsgegenstände und Kleidungsstücke, an archäologische Elemente oder ethnologische Requisiten also, geknüpft. Dies soll i m einzelnen hier nicht vorgeführt werden. Asturias' archäologische Allegorie übereinanderliegender geschichtlicher Städte findet eine Fortsetzung in einem späteren, für die Ethnologie paradigmatischen, die Tätigkeit des Geologen veranschaulichenden Bild des Strukturalisten Lévi-Strauss: So könne man in einer Landschaft Felsen von großem Alter neben Sedimenten relativ jungen Ursprungs beobachten. Man bemerke, »daß im Felsen zwei Ammoniten eingeschlossen sind, von denen einer weniger komplizierte Windungen hat als der andere. Man blickt gewissermaßen auf einen Abstand von vielen Tausend Jahren; Zeit und Raum vermischen sich plötzlich; die lebendige Verschiedenheit des Augenblicks setzt das eine Zeitalter in Gegensatz zum anderen und perpetuiert es zugleich.« 36 Anders als der Historiker soll also der Geologe oder Psychoanalytiker bei seiner Geschichtsbetrachtung in derartigen lebenden Bildern Grundeigenschaften des physikalischen oder psychischen Universums in der Zeit verkörpert sehen. Ähnlich wie das geologische eignet sich auch das archäologische Bild für den Ethnologen, der wie der Archäologe vom noch vorhandenen bzw. leicht zugänglichen Realen auf das nicht mehr Vorhandene bzw. schlecht Zugängliche schließen muß. Daß das Mentale, wenn es sich um indianische Elemente oder die

35 E b d a , S. 12 f. 36

Zit. nach Edmund Leach, Claude Lévi-Strauss, München 1971, S. 18 f.

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Mischung indianischer und christlicher Elemente handelt, einen irrealen, magischen bzw. surrealen Charakter erhält, hat man, wie gezeigt, bereits ausführlich erörtert. Daß das reale Element in den Leyendas oft aus archäologischen Spuren, wie Beschreibungen von Gebäuden und Stadtanlagen, und ethnologischen Requisiten, wie Kleidung, wichtigen Gebrauchs- und Kultgegenständen besteht, wirft ein neues Licht auf die Konzeption des »Magischen Realismus«, der eben nicht selten von der Realität des Ethnologen bzw. des Archäologen ausgeht. I n den späteren Werken von Asturias ändert sich die Auswahl des Realen, je nachdem, ob sie ethnologisch-archäologisch, politisch oder sozioökonomisch erfolgt. Aber auch hier wählt Asturias immer jene Realität aus, die besonders geeignet zur Selbstidentifizierung oder zur Fetischisierung erscheint, also einer Überhöhung dient, die es erlaubt, Mythen an sie zu knüpfen. Auch in den einzelnen Leyendas wird die ethnologisch-archäologische Perspektive deutlich. Als Beispiel sei die »Leyenda del Sombrerón« vorgeführt. Ähnlich wie die Abschnitte zu den Städten i m Kapitel »Guatemala« besteht diese »Leyenda« aus einem ersten Teil, der den Hintergrund skizziert, vor dem sich dann im zweiten Teil eine Handlung abspielt. Sie beginnt mit Beschreibungen, die signifikant für die ihnen folgenden Szenen sind. Als Schauplatz wird ein entlegener Ort der Welt gewählt. Hier hatte die geistliche Gewalt eine katholische Kirche errichtet, zu der — wie man später erfährt — ein Kloster gehört. Die Kirche befindet sich direkt neben indianischen Heiligtümern, die bis vor kurzem heidnischen Riten dienten. Sie waren »testigos de la idolatría del hombre«, 37 einer im christlichen Verständnis großen Sünde. Bereits architektonisch stehen hier also Indianisches und Christliches ohne Berührungspunkt nebeneinander. Das Indianische liegt außerhalb des christlichen Gebäudekomplexes, von dem es auch ausgeschlossen scheint. V o m Gebäude geht der Blick zu den in ihm lebenden Mönchen, die, bemüht um die Pflege der überlieferten Künste und Wissenschaften, sogar ihre seelsorgerischen Pflichten vernachlässigten. Einen aber habe es unter ihnen gegeben, der sich ausschließlich religiösen Übungen widmete, bis eines Tages plötzlich ein kleines Bällchen durch das Fenster seiner Zelle hineinfiel, zwischen Decke und Wänden abprallte, hin- und hersprang und ihm vor die Füße rollte. Er berührte es, drückte es zärtlich und ließ es wieder fallen. Flink kehrte es von selbst in seine Hand zurück, hüpfte wieder, bis den heiligen Mann das närrische Verlangen überkam, seinerseits zu springen wie das Bällchen. Er führte es zu seinen Lippen: »En el cielo de la boca le palpitaba un millar de estrellas.« 38 So meint er, müsse auch die Erde in den Händen des Schöpfers sein: »tan liviana, tan 37

M . A. Asturias, Leyendas de Guatemala, S. 43.

38

Ebda., S. 45.

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185

ágil, tan blanca.« 39 So spielte in jenem Kloster dieser Mönch mit seinem Bällchen, das er um keinen Preis verlieren wollte, in seiner Zelle und auf den Gängen, während die anderen sich den Künsten und Wissenschaften widmeten. Als er einmal vor der Kirche stand, sprach ihn eine Frau an, deren Sohn schon seit Tagen weinte, weil er einen Ball an der Klosterwand verloren hatte. Dieser Ball sei nämlich das Bild des Teufels. Der Mönch geriet in Panik, flüchtete in seine Zelle, ergriff das Bällchen und schleuderte es aus dem Fenster. Noch im Flug entfaltete es sich über dem K o p f des Kindes wie durch einen Zauber in der Form eines schwarzen Hutes. Die »Leyenda« schließt mit den Sätzen: »Era el sombrero del demonio. Y así nace al mundo el Sombrerón.« 40 Dieser Schluß, der bewußt auf Legenden anspielt, die sich um die Entstehung irgendeines bedeutsamen Gegenstandes ranken, überrascht den Leser und läßt ihn allein bei seiner Deutung der »Leyenda« und vor allem des Bällchens, von dem der Mönch so fasziniert war. O b w o h l die erotischen Elemente der Erzählung auffallen 41 , wird man dennoch über eine Deutung des Bällchens als Gegenstand der Liebe hinausgehen müssen. Bedenkt man, daß der Ball von außen ins Kloster gerät, also aus dem Bereich, der dem indianischen K u l t zugeordnet ist, dann könnte er, wie die indianischen Heiligtümer selbst, Zeuge der Abgötterei des Menschen sein. Dafür spräche die anfängliche Skepsis des Mönchs, der nicht weiß, ob er es mit einer Verführung und Versuchung des Teufels zu tun hat, und sein Eindruck, mit dem weißen Bällchen wie der Schöpfer die Erde in den Händen zu halten. Aus weißem wie aus gelbem Mais ist nämlich auch nach dem »Popol Vuh« der Mensch geschaffen. Und ein Ball war es, mit dem die indianischen Götter des Seins i m »Popol-Vuh« ihre Kriege gegen die Götter des Nichts austrugen, wie Asturias selbst in einem Aufsatz erklärt. 4 2 Für den Künstler Asturias bedeutet das Spiel mit einem Ball jedoch mehr als eine kultische Handlung: »El juego de pelota más de una vez se convierte en juego de palabras, de adivinaciones. (Toda palabra, en el fondo, es una adivinación, una adivinación poética).« 43 Das Spiel mit dem Ball erscheint ihm also auch als Spiel mit dem Wort, als spielerische Auseinandersetzung, als eine A r t Dialog mit einem zu verstehenden Text, dessen Sinn zu erschließen ist, und der sich offenbar auch selbst aktiv im Sinne eines hermeneutischen Zirkels beteiligt, wenn er — wie der Ball in der »Leyenda« — selbst auf den, der sich mit ihm beschäftigt, immer wieder zuspringt. — Auch i m modernen »perpetuum mobile« und seinem bewegten Raum w i l l Asturias einen rituellen Charakter 39

E b d a , S. 46.

«> E b d a , S. 47. 41 Vgl. dazu Francis Bezler, »Un aspect de l'invention et de la création poétiques dans les >Leyendas de Guatemalac La sensualité«, in: Travaux de l'Institut d'Etudes Latinoamericaines, 9 (Straßburg 1969), S. 487-98. 42

M . A . Asturias, América, fabula de fabulas, S. 285.

43

Ebda.; zum Ballspiel als Kulthandlung in der Maya-Stadt Copân vgl. ebda, S. 264.

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erkennen, ein Faszinosum, das in die Kindheit zurückversetzt und eine moderne Mythifizierung des Lebensprinzips gegenüber dem Stillstand bedeutet. 44 Ball und Ballspiel stehen also in Zusammenhang mit Erotik, mit Fehlverhalten, mit kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den indianischen Göttern des Seins und des Verschwindens, mit Dichtung und ihrem Verständnis, mit indianischem K u l t und Ritus für Eingeweihte und dem archetypischen Mythos der Bewegung, die im modernen »perpetuum mobile« den Stillstand besiegt. I n unserer »Leyenda« können diese Elemente zusammengeführt werden, wenn man das Bällchen, dessen Spiel i m »Popol-Vuh« ja eine so bedeutende Rolle hat, als Symbol der indianischen Überlieferung sieht, die aus jenem benachbarten Tempel den Weg ins Kloster gefunden hat und mit der sich verstehend auseinanderzusetzen und ihr sich mit Hingabe zu widmen in den Augen des Mönchs durchaus als Versuchung des Teufels gesehen werden kann, zumal da die Konpatres nur mit der christlichen Überlieferung beschäftigt sind. Schwung, Leichtigkeit und Launenhaftigkeit des Balls unterstreichen den erotisch verführerischen Charakter des Sich-Einlassens auf das Faszinosum des Indianischen. Wer kann nun mit dem Mönch gemeint sein, der sich auf indianische Literatur einläßt? W i r d auf eine bestimmte Person angespielt? — Man kann zunächst an den Dominikanermönch Francisco Ximenes denken, der Anfang des 18. Jahrhunderts die i m 16. Jahrhundert erstmalig schriftlich festgehaltenen Texte des »Popol-Vuh« aus der Quiché-Sprache in die spanische übertrug. I n einem Aufsatz aus dem Jahr 1954 charakterisiert Asturias diesen Mönch so, daß man in ihm tatsächlich jenen der »Leyenda« wiedererkennen kann. Mehr als ein Schauer muß ihn in den großen klösterlichen Hallen überkommen haben, als er von früh bis spät mit seinem Text beschäftigt war, dessen Poesie er ganz auf sich und seine Übersetzung wirken ließ. Dabei hatte er weitgehend von seinem Status als Mönch abzusehen: »Cedía a la belleza literaria del Popol-Vuh, y al ceder que era conceder, dejaba en suspenso por momentos su condición religiosa.« 45 M i t dem Mönch der »Leyenda« könnte also auf diesen christlichen Mönch des 18. Jahrhunderts angespielt werden, der sich trotz seiner religiösen Pflichten hingebungsvoll indianischen, und für ihn heidnischen Überlieferungen widmete. Der Schluß der »Leyenda« wäre dann nichts anderes als ein Hinweis auf die damit wohl verbundenen seelischen Konflikte, die wie in einem Traum aufgelöst werden. Man könnte die Tatsache, daß in der »Leyenda« an einer Stelle wie in einer Parenthese auf B. Díaz del Castillo verwiesen wird, als Hinweis dafür werten, daß der Mönch als Metapher für einen Geschichtsschreiber stehen kann, der sich als Christ — auch ohne Mönch zu sein — mit den indianischen Sitten, Gebräuchen und Überlieferungen beschäftigt, seinen eigenen Standort »en suspenso« läßt wie Vgl. ebda., S. 31. « Ebda., S. 283.

»Magischer Realismus« oder Archäologie des Mythos

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Ximenez und von daher ein Werk schreiben kann, das Asturias als »primera novela latinoamericana« 46 bezeichnen kann. O b w o h l als »verdadera historia« konzipiert, habe das Werk den Charakter eines phantastischen Romans. O b w o h l sein Autor spanischen Ursprungs war, sei das Werk gleichzeitig spanisch und indianisch. Denn sein Autor habe es erst mit achzig Jahren verfaßt, nachdem er lange Zeit in Guatemala gelebt hatte und dort sogar zweimal Bürgermeister war. Nicht nur einer der ersten lateinamerikanischen Romanciers war er daher, sondern auch einer der ersten, die für die lateinamerikanische Sache eintraten, so z.B. wenn er als alter Soldat protestierend Gerechtigkeit für sich forderte. I n diesem Protest sieht Asturias bereits das verkörpert, was er auch für sich selbst in Anspruch nimmt: »una literatura de testimonio y de protesta.« 47 Dies würde übertragen auf die »Leyenda« bedeuten, daß die fortdauernde Beschäftigung mit dem Indianischen zu einer neuen Parteilichkeit führt und für die indianische gegen jede fremde Seite Partei ergriffen wird. I n diesem Sinn kann Castillo auch als Modell für den europäischen Leser stehen, um dessen Verständnis für die indianische Welt Asturias mit seinen Leyendas bekanntlich werben will. Dem Leser wird hier ein Modell nicht nur der Toleranz, sondern auch des beharrlichen Aneignens des Fremden vorgeführt, das nicht beim bloßen Verständnis stehenbleibt. Castillo würde für Asturias also nicht nur den ersten vorbildlichen Vertreter des lateinamerikanischen Romans verkörpern, sondern auch seine Idealvorstellung vom eigenen europäischen Publikum. I n diesem Zusammenhang erscheint das Verhalten des Mönchs in der »Leyenda«, der das Bällchen schon bald aus der Hand gibt und von sich stößt, als Scheitern und zeugt vom Bewußtsein der Schwierigkeit der Aufgabe, die sich Asturias stellt. Das Bällchen stünde dann für die Leyendas und der Mönch, der es unbedacht von sich stößt, diente dem europäischen Leser der Leyendas als Warnung. Es wäre dann Apell an den Leser und die »Leyenda« Selbstaussage Asturias' über sein literarisches Programm. Wenn nun der Mönch Castillo verkörpern kann und Castillo dasselbe literarische Programm wie Asturias vertritt, dann muß der Mönch auch für Asturias selbst stehen können, für Asturias, der sich mit seiner europäisch geprägten wissenschaftlichen Ausbildung und als Christ der indianischen Überlieferung des »Popol-Vuh« nähert, den er übersetzt, und in dem er als Mestize seine eigenen Ursprünge wiedererkennt. Für die Schwierigkeit, von dieser Überlieferung ein wahres Zeugnis in den Leyendas und in den Romanen zu geben und für sie einzustehen, und für die Möglichkeit des Scheiterns ist auch hier der Mönch der »Leyenda« ein Bild. Daß er die Welt außerhalb des Klosters und jene im Kloster auch mit Hilfe des Bällchens nicht miteinander vereinbaren kann, 46

E b d a , S. 143.

47

E b d a , S. 144.

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die eine also der anderen opfern muß, dokumentiert die Schwierigkeit einer Vermittlung, eines »mesticismo«. Dessen Verwirklichung aber in politischer und literarischer Hinsicht gehört zu den wesentlichen Anliegen von Asturias. Man würde zu weit gehen, wollte man diese »Leyenda« als wissenschaftstheoretische Reflexion über die Schwierigkeit eines Zugangs zu den indianischen Mythen verstehen. Jedoch scheint es darauf anzukommen, den Zugang zu diesen Mythen zu problematisieren und zu zeigen, welche Funktionen der Vermittler Asturias, sein Werk und seine Vorläufer haben, und schließlich welche Aufgaben den europäischen Lesern zukommen. Anders also als in der »Leyenda« über Guatemala geht es hier um die Methodologie und Hermeneutik jener Archäologie des Mythos und nicht um den Aufweis der Bedeutung dieser Archäologie, wie er i m Kapitel »Guatemala« betrieben wurde, als es um die Funktion archäologischer Realität zur Erschließung des Mythischen ging. Selbstinterpretation

in theoretischen Schriften

I n zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen spielt die Archäologie und ihr Zugang zu alten Denkformen für Asturias eine große Rolle. Dazu gehören Beschreibungen archäologischer Ausgrabungen, Erörterungen der spezifischen Perspektive des Archäologen und ihrer Bedeutung für die Arbeit des Schriftstellers. So finden sich in Asturias' Berichten von seinen Reisen nach Indien (1957) und nach Tibet (1957/58) häufig Beschreibungen archäologischer Funde, an die sich Reflexionen über Denken und Verhalten der alten Völker knüpfen. Ähnlich geht er auch dort vor, wo er (1959/60) die archäologischen Ausgrabungen des Mayareichs kommentiert. Die Betrachtung bildnerischer Darstellungen in den Ausgrabungen von Bonampak führt ihn z. B. zum Schluß, daß die Mayas nicht nur Experten der Landwirtschaft, Architektur und Astronomie, sondern auch der Kriegsführung waren. Die Entdeckung hunderter menschlicher Darstellungen »aparte de lo que toca a la arqueología, permite a la etnografía ampliar sus conocimientos sobre aquella admirable civilisación y cultura.« 48 Die Archäologie sei es, die versucht, jene Techniken, Verfahrens- und Denkweisen der Indios zu erschließen, an die Asturias in seinem Unbehagen gegenüber der heutigen Wissenschaft zurückdenkt: »A través de los hallazgos de los arqueólogos adivinamos el grado de adelanto de aquellos sabios indígenas, sin siquiera poder imaginar las técniquas empleadas.«49 Die Archäologie vermittelt also in Asturias' Sicht nicht nur einen Einblick i n Denk- und Verhaltensgewohnheiten, sondern auch in ein komplexes Wissenschaftssystem, das zur Verfügung gestanden haben muß. Die Stadt Copán, in der man nicht ständig lebte, sondern 48

Ebda., S. 254.

49

Ebda., S. 319.

»Magischer Realismus« oder Archäologie des Mythos

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nur zu besonderen Anlässen zusammenkam, und die den Reisenden mit ihrer gewaltigen Plaza de Ceremonias, die 50000 Zuschauern Platz bot, in Erstaunen versetzt, gibt Asturias die Gelegenheit, die Erklärungen eines ihn führenden Archäologen wiederzugeben. I n dieser Stadt sei zum ersten Mal die exakte Dauer des Sonnenjahres berechnet worden. Es handelt sich um eine »ciudad de astrónomos y de astrólogos, con una academia de ciencias, y reuniones igual a nuestros congresos, a las que llegaban sabios de otras ciudades mayas.« 50 Gerade Copán gibt Asturias den Anlaß, Arbeiten und Erfolge der Archäologie zu erörtern. 51 Die Archäologie als Wissensdisziplin, die von erhaltenen Gebäuden oder Kunstgegenständen ausgeht, findet für Asturias ihre Ergänzung in den einheimischen Wochenmärkten, in denen noch wie eh und je nützliche und wertvolle Gebrauchs-, Schmuck- und Kultgegenstände angeboten werden: »Lecturas y visitas a mecas arqueológicas se completan en estos mercados indígenas.« 52 Die noch immer angebotenen Nahualmasken lassen Asturias die Frage nach der »supervivencia de la gran cultura maya en estos mercados« stellen. 53 Diese guatemaltekischen Märkte stehen als lebende Museen der Archäologie der Bauwerke und der alten Stadtkonstruktionen gegenüber. Man könnte vielleicht meinen, daß Asturias »Archäologie« nur als Metapher für die interessierte, künstlerische Beschäftigung mit den erhaltenen Spuren der Vergangenheit benutzt. Dies aber ist nicht der Fall. Wenn er z. B. 1959 die Stadt Tikal als die Akropolis der Mayas vorstellt, lassen ihn kleine dort in der Grabstätte gefundene Statuen die Frage stellen, ob die Mayas ihre hochentwickelte Kunst um ihrer selbst willen geschaffen, oder ihnen eine religiöse, magische oder esoterische Bestimmung gegeben haben. Das bereits gefundene Material sei geeignet, zur Lösung derartiger Fragen »no sólo desde el punto de vista artístico, sino arqueológico« 54 beizutragen. Damit läßt Asturias die archäologische Betrachtungsweise über die künstlerische hinausgehen. Dies hindert ihn aber nicht, in einem Artikel über den in Guatemalas Bergen gelegenen »Lago de A t i t l i n « von einer »imaginación de poeta un poco arqueólogo« 55 zu sprechen. Diese archäologisch geprägte dichterische Phantasie, die die Stimmen der ehemals am See lebenden Stämme erwecken soll, ist es, die seinen eigenen 50

E b d a , S. 263.

51

Vgl. ebda, S. 259; Archäologie w i l l Asturias nicht falsch verstanden wissen. Daher kritisiert er in einem Artikel über die amerikanische Archäologie den Raub der einheimischen Kunstschätze und ihren Abtransport in fremde Museen: vgl. ebda, S. 279 ff. 52 E b d a , S. 255. 53

E b d a , S. 256; »Allí están, pero no sólo en forma arqueológica, muerta, sino viva, vivísima, en estos mercados que son una gloria de color, de riquezas, de existencia.« Ebda. 54 E b d a , S. 247. 55 E b d a , S. 242.

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literarischen Ansatz nicht nur in diesen späteren Artikeln, sondern auch — wie sich gezeigt hat — in den Leyendas kennzeichnet. Der Archäologe geht von Spuren alter Städte, von Gebäuden oder Kunstgegenständen aus. Aus ihnen zieht er seine Schlüsse und erweckt Denken und Handeln vergangener Völker zu neuem Leben. Ort und Zeit sind also konstitutiv für seine Arbeit. Asturias, dem dies ständig gegenwärtig ist, erlaubt sich als Schriftsteller, mit diesen archäologischen Koordinaten in Artikeln über »scienciaficción« und »política-ficción« zu spielen. Gerade bei letzterer seien Ort und Zeit konstitutiv. Denn die Projektion des Schauplatzes in meist nicht vorhandene und schwer zugängliche Örtlichkeiten gestatte eine »ficción para anunciar lo que será en un cercano futuro el devenir del mundo, la suerte del hombre«. 56 Während die Utopie von Augustinus und Morus religiös und ethisch geprägt gewesen seien, gingen die heute von der »ciencia-ficción« vorgestellten Städte und künftigen Gesellschaften von »los inventos actuales y del desarrollo previsible de la ciencia y las invenciones« 57 aus. Utopien erscheinen als technisch realisierbar, gerade weil sie nicht mehr in einer unbekannten Gegend des Amazonas, sondern in einem Ort unserer oder fremder Galaxien angesiedelt werden. 58 Wenn sogar der zukünftige Mensch an seinem entfernten Ort mit mythischen und traumhaften Ideen ausgestattet ist, wie der indio, bei dem Asturias sie aus archäologischen Spuren extrapoliert, dann liegt es nahe, auch für den gegenwärtig lebenden Menschen mythische und traumhafte Vorstellungen anzunehmen. Asturias selbst geht davon aus, wenn er in verschiedenen Artikeln gegenwärtige Mythen vorstellt. 5 9 Auch bei deren Analyse geht er gern von Örtlichkeiten, von Städten und Stadtlandschaften aus, so z. B. wenn er berichtet, wie er von einem Freund auf den Gedanken gebracht wird, die Beliebtheit moderner Geschäftszentren in unterirdischen Passagenkonstruktionen sei nichts anderes als »la vuelta del hombre a la caverna« 60 . Dieser fühle sich nämlich hier aus einem Urinstinkt heraus besonders wohl und sicher. Unwohl sei es dagegen dem Bewohner von Satellitenstädten, in denen architektonische und urbanistische Probleme gelöst, aber dafür menschliche geschaffen worden seien. 61 Was für Satellitenstädte gilt, läßt sich auch auf die

56

Ebda., S. 98.

57 Ebda., S. 101. 58 »Ahora hay más lugares donde situar al >homo novisgrünen Welt< verliert. Alles ist »Stoff des Schweigens« und der schöpferische Impuls, der Dichter selbst, verirrt sich: Wie i m Gras sich gattet Geist mit zartem Hauch, Sinke ich ermattet, Schwind' zu feuchtem Rauch.

Die Ohnmacht des Dichters rührt von der Erkenntnis her, daß die Harmonie zwischen Mensch und Natur ein rein illusorischer Zustand ist. Die anhaltende Existenzangst, die den Menschen peinigt, kann nicht überwunden werden, indem man zu einer Welt greift, nämlich der Tier- und Pflanzenwelt, die vom selben Geheimnis des Lebens wie auch des Todes verschleiert bleibt. Dieses Thema, die geheimnisvolle Anwesenheit des Todes in der Natur, das schon in den allerersten Texten auftaucht 41 , kehrt in dem etwa 1945 geschriebenen Gedicht »Sonnenblumen« mit gedämpfter Gewalt wieder. Die prächtigen Blumen, »vom Sommer übervoll«, werden vom blinden Schnabel des Sperlings unerbittlich zerfleischt. Ihr Tod hat etwas Spielerisches an sich, ist zugleich aber düster, wie der Schrei des Hähers: Sie sterben sanft und ohne Hast. Der Häher ihren Tod bekreischt. 40 41

Paul, Lyrik

und Poetik, S. 264, A n m . 347.

Z u m Beispiel i m Gedicht »Der Wald« (1940/41). Siehe Cercignani, »Dunkel, Grün und Paradies«.

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I n dieser Darstellung, die Jeziorkowski in gewisser Hinsicht für »unüberbietbar« hält 4 2 , hat Daemmrich »die Beständigkeit des Organischen« gesehen 43 . Dies scheint aber etwas übertrieben, ja der offenbaren Absicht des Dichters entgegengesetzt, denn abgesehen von jeder möglichen materiellen Verknüpfung mit Brittings Gedicht »Die Sonnenblume« 44 , w i l l K r o l o w hier sicherlich unterstreichen, daß die Vergänglichkeit auch das »grüne Leben« durchdringt und beherrscht. I n diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu bemerken, daß in den vor 1945 geschriebenen Strophen von »Der Stein« nur das, was anorganisch ist, fortzubestehen scheint. Hier ist die Taube kein Sinnbild der befreienden Ekstase mehr, sondern ein Element einer Welt, wo das Tier- und Pflanzenleben vom Tode bedroht wird: nur der Stein überlebt alles, auch den, der — gleichsam den Himmel herausfordernd — das blinde D i n g »in die Wolken« warf 4 5 . Und der Tod kann das »grüne Leben« auch durch den Menschen schlagen: wie der Sperling die Sonnenblume zerfetzt, so durchsticht der Räuber die Geschöpfe der Tierwelt. Dies geschieht i m Gedicht »Fische«, das schon 1944 i m Hannoverschen Kurier veröffentlicht und später in zwei wichtige Sammelausgaben aufgenommen wurde 4 6 . I n diesem bemerkenswerten Naturstück, das Jeziorkowski auf die gleiche Stufe stellt wie »Sonnenblumen« 47 , lauert der Tod auch auf die Fische, im Haken des Anglers, im Zucken des Messers, vor den Augen eines Wassergottes, der machtlos zuschaut: Räuber, der im Boote lauert: Messer zuckt schon in den Händen! Kühler Gott i m Schlamme kauert, Hilflos sieht er's an und trauert, Wie die Graugeschuppten enden.

Die Bedrohung durch den Tod findet ein Pendant in der hinterlistigen Anwesenheit des Nichts, die in dem Oda Schaefer gewidmeten, 1943 geschriebenen und erstmals in der Wochenzeitschrift Das Reich gedruckten Gedicht »Abgesang« wieder auftaucht. Hier handelt es sich um Strophen, die den Text von 42

Jeziorkowski, »Krolow«, S. 397.

43

Daemmrich, Messer und Himmelsleiter, S. 39, w o es weiter heißt: »Die Sonnenblume w i r d zerstört, während sie nährt. Indem einige Samen zur Erde fallen, kehrt sie zum keimenden Urgrund zurück und lebt«. Doch deutet der Text weder auf Ernährung noch auf Samen hin. Was dem Dichter am Herzen liegt, ist der Tod. 44

Siehe dazu Rümmler, Metaphorik, S. 115-116.

45

Vgl. auch die Aufzeichnungen im Prosastück »Steine«, in: K r o l o w , Von nahen und fernen Dingen, S. 85. 46 Karl K r o l o w , Ausgewählte Gedichte, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1962, S. 8; drs.: Gesammelte Gedichte [I], Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1965, S. 28. 47

Jeziorkowski, »Krolow«, S. 397. Einige Bemerkungen über diesen Text findet man auch bei Edgar Neis, Deutsche Tiergedichte, Hollfeld (Bange) 1976, S. 90-92.

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»Im Leben« ins Gedächtnis zurückrufen, und das nicht nur wegen einiger Einzelheiten, sondern auch aufgrund einer gewissen Neigung, die Elemente des eigenen Zustands aufzuführen. Doch betrifft diese spätere Inventur vornehmlich das, was die alltägliche Vertrautheit mit dem »grünen Leben« während des schon zu Ende gehenden Sommers ausgemacht hat. M i t dem nahenden Herbst kommt der Zweifel wieder auf, daß die Tier- und Pflanzenwelt nur eine andere Erscheinungsform des Nichts darstelle und daß der menschliche Umgang mit der Natur unheilvolle Wirkungen haben könne: Setze mein Leben ich dran, Wenn mit dem Nichts ich verkehre, Schweigend das Schweigende ehre, Luftgeist und Wassermann?

Hans Dieter Schäfer hat in diesen Versen eine Lehmannsche Reminiszenz festgestellt, welche die Auseinandersetzung Krolows mit Antwort des Schweigens, der ersten, 1935 in Berlin erschienenen Sammlung des Hamburger Dichters, konkret beweist 48 . Die Formulierung Lehmanns i m Gedicht »Tauwind« ist jedoch verschieden (»Das Schweigen läßt| Das Schweigende ein«) 49 , und es ist jedenfalls unmöglich, weitere Ähnlichkeiten zwischen den beiden Texten aufzufinden. Ganz i m Gegenteil: in »Abgesang« herrscht eine Angst, die in »Tauwind« nicht einmal hervorschaut, so daß der Vergleich abermals poetische Positionen zeigt, die i m wesentlichen ganz differenziert sind. Andererseits wäre es sicher gewagt, mit Dieter Schlenstedt zu behaupten, Krolows lyrisches Subjekt sei »aufgefordert, seine Freude, sein Licht und sein Gutsein zu empfinden, indem es dem Nichts sich aussetzt«50. Der Dichter muß vielmehr wiederum voller Bitternis erkennen, daß das »grüne Paradies« nicht einmal Trost bieten kann: Ist nicht schon da zu sein g u t ? . . . — Wie mich die Schatten umwittern, Schmerzen die Augen v o m bittern Salz einer Tränenflut.

Und wenn man in der ersten dieser Zeilen mit Paulus und Kolter eine »Modifikation« 5 1 der Rilkeschen Aussage »Hiersein ist herrlich« 52 lesen will, so 48

Siehe Schäfer, Lehmann, S. 254. Vgl. auch Rümmler, Metaphorik, S. 126.

49

Lehmann, Werke III,

S. 456.

50

Dieter Schlenstedt, Emotion und Bild. Theoretische Aspekte ihrer Grundbe^iehungen im bürgerlichen Gedicht nach 1945, Dissertation Humboldt-Universität, Berlin ( D D R ) 1967, S. 99. 51 Paulus/Kolter, Krolow, S. 102-103, A n m . 15. Über das andere Rilke-Zitat (Paul u s / K o l t e r , S. 18) siehe Cercignani, »Dunkel, G r ü n und Paradies«. 52

Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke I, hrsg. von Ernst Zinn, Frankfurt a. M . (Insel) 1955, S. 710 (»Die siebente [Duineser] Elegie«, S. 709-713). 14 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

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wird man doch zugeben müssen, daß es sich nicht um eine bloße Variation zum Thema handelt. Eine Inventur, die auch die Tätigkeiten des Alltagslebens wieder betrifft, diejenigen, die man ausführt, ohne daß sich irgend etwas ändert, bildet das Gerüst eines anderen Gedichts, das in gewissem Maße mit dem vorhergehenden verknüpft ist. I n »Oktoberlied«, das zum ersten Mal im neunten Band der Zeitschrift Das innere Reich (1942/43) veröffentlicht wurde, äußert sich der Zweifel, den Sommer vertan zu haben, durch die Besorgnis, sich des Nichts erfreut zu haben, den »geheimen Sinn| I m Geleucht der Hundstagsrose« vergebens erforscht zu haben, durch die Gewißheit, die Angst nicht überwunden zu haben, den unerbittlichen Tod noch zu spüren, der immer wieder bedrängt: Keiner kann den Tod verlocken, Wie ich mich vor ihm auch flüchte. Greif ich fröstelnd falbe Früchte, Fühl ich ihn im Nacken hocken.

I n den 1943 geschriebenen, Herbert Grünhagen gewidmeten Strophen von »Die Kammer« wird die Inventur des Alltagslebens noch minuziöser, nahezu quälend, während das Wort der »dunklen Bücher« ganz »ohne Sinn« bleibt. Und der jetzt verderbliche M o n d verfolgt das lyrische Subjekt wie ein Fluch bis ins Innerste seines Hauses: Den M o n d sah ich genau, Der böse an den Scheiben hing. Er war mir nicht geneigt. Der groß durch meine Kammer ging, Hat Kummer mir gereicht. Er brannte meine Augen leer, Hat Bett und Stuhl bedroht, Ließ auf dem trocknen Tisch nichts mehr als harte Krumen Brot.

Auch die Landschaft und ihre verschiedenen Elemente werden jetzt oft feindlich, oder wenigstens sehr finster, wie in den Versen von »Gesicht«, die wahrscheinlich in derselben Zeitspanne und jedenfalls vor 1945 verfaßt wurden. I n der umgebenden Natur, die hier für den Menschen ziemlich ungastlich ist, nistet sich, unergreifbar, ein lastendes, gespenstisches Gesicht ein, gleichsam eine Ankündigung von seelischem und materiellem Tod: Immer muß ich es so sehen, Wenn das Dunkel stiebt Und die starken Schauer wehen, Nebel um die Hecken drehen,

Zwischen irdischem Nichts und machtlosem H i m m e l

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Wie es träumelos und leer Schwebt durch trübes Ungefähr, Das nur Spatz und Distel liebt, Bis es sich ans Sterben gibt, Ohne Wiederkehr. . .

Und das alte, verfallende Gebäude des vor 1945 geschriebenen Gedicht »Die Mühle« erwirbt eine geheimnisvolle und düstere Atmosphäre, mit seinen verwilderten Schläfern, Die ohne Zeit Wie todbereit Hart durch die Zähne schnaufen, Gekrümmt ins Licht, M i t dem Gesicht I m faulen Häckselhaufen.

Die Existenzangst, die nunmehr alles zu durchdringen scheint, bedingt sogar die Stimmung der Geliebten. I n einem vor 1945 verfaßten Text wacht »Das Paar« in einem Grün auf, das keinen Trost spenden kann: Das Bündel Schmerzen, die vergrab'ne Trauer, W i r d nun genauer I m kalten Wehn.

Und es ist eben durch die Natur — das ehemalige »grüne Paradies« der Vision — , daß ein ruheloser Geist, »Der Tote«, die noch Lebenden verfolgt und erschreckt: Wie er uns vorangereist, Unterirdisch uns umkreist, Zieht's uns heimlich nach, Faßt er uns i m Ellernstrauch, Narrt i m dunklen Ruf des Gauch, Macht die K n i e 5 3 schwach.

Obwohl zwischen 1945 und 1946 geschrieben, scheint sich dieses Gedicht nicht auf einen Gefallenen, wie Lyon meint 5 4 , zu beziehen. Wie dem auch sei, bleibt der soeben angeführte Text sicher weit von der Beschaffenheit jener »Trümmerlyrik« entfernt, die eine so große Rolle in Heimsuchung spielt, und zwar in einer Sammlung, die K r o l o w im selben Jahr wie Gedichte, also 1948, beim Verlag Volk und Welt in Ost-Berlin veröffentlichte. Gewiß: die besondere Situation Deutschlands in der Kriegs- und Nachkriegszeit spiegelt sich indirekt auch in den Versen des hier erörterten Bandes wider, doch überschreitet die Existenzqual, die sie beherrscht, den historischen Moment. 53

I m Original steht Kniee.

54

Lyon, Nature, S. 256.

14*

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I n den 1946 geschriebenen Strophen von »Der Zauberer«, die erstmals in der Anthologie Das Gedicht in unserer Zeit veröffentlicht wurden 5 5 , scheint die Tierund Pflanzenwelt wieder jene übermenschliche Dimension darzustellen, nach welcher der Dichter noch immer auf der Suche ist. Dank seiner Vertrautheit mit einer schönen Natur, durch die Beschwörung des Windes, der Blumen, der Gewässer, der Bäume, bildet er sich für einen Augenblick ein, er habe eine gänzlich harmonische Beziehung zu dem »grünen Leben« erreicht, ja, er könne dieses wie ein Zauberer sogar beherrschen. Der Wunsch, weder »mit Leichtsinn noch mit Schwermut« zu sparen, das Leben und der Tod zugleich zu sein, muß jedoch unerfüllt bleiben. U m Zauberer zu werden, um das Gedeihen und Verderben der Früchte zu bestimmen, muß sich der Dichter in der umgebenden Welt auflösen, in ihren unveränderlichen Erscheinungen, sowie in jenen, die sich immer wieder erneuern. Aber dies bedeutet, sich an den Tod, nicht an das Leben zu verschenken. Sich mit der Tier- und Pflanzenwelt zu identifizieren heißt also, sich auf einen durch dieses Wissen verlängerten Sterbeprozeß einzustellen, also auf die Natur selbst, auf die Stimme, die so sehr bezaubert hat, zu verzichten: Feuchtes Knollenfleisch und Gurke w i r d verderben. Prangen muß die Quitte, wenn ichs will. M o n d und Vogel sollen mich beerben, Schicke ich mich an zum langen Sterben. Und der Erde lauter M u n d geht still.

Die poetische Haltung unterscheidet sich hier abermals von jener, die in der Lehmannschen Figur des »grünen Zauberers« verkörpert ist. Es scheint also ziemlich gewagt, von einem »poeta magus«, so Lyon, zu sprechen 56 , und diesen Begriff auch in Zusammenhang mit Gedichten wie »Der Trinkende« und »An meinen Sohn« anzuwenden 57 . Die Überzeugung, daß die Natur keineswegs ein rettendes Ziel darstellt, geht aus dem etwa 1945 geschriebenen Gedicht »Hinblick« noch deutlicher hervor. Jenseits der Fensterscheibe offenbart sich die »bange Welt«, ja das Wesen selbst der Welt: ein Nichts, das sich ständig in der Natur erneuert und alles durchdringt, das Leben wie auch den Tod. Wer Zuflucht und Trost sucht, dem bietet diese schreckliche Präsenz nur hoffnungslose Bilder, wie »das stumme Fischgesicht«, das dem lyrischen Subjekt eben wie der Tod aus der Pfanne entgegensieht. Ganz unmöglich ist es auch, auf ein Entrinnen zu hoffen, denn die Angst vor dem Nichts läßt nicht nach und zwingt das lyrische Ich dazu, sich in Todesbereitschaft umzuwenden:

55

Siehe oben A n m . 32.

56

Lyon, Nature, S. 234.

57 Ebd., S. 233. Für das erste dieser Gedichte siehe Cercignani, »Dunkel, Grün und Paradies«.

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Den Flugsand hör ich, der sich mischt, Das feine Zeitgesumm. Bin wie Gemurmel fortgewischt, Kehr mich zum Sterben um.

Offensichtlich dachte Siegfried Lang nicht an »Hinblick«, als er in seiner Besprechung von Krolows Gedichten schrieb, daß die Texte dieses Bandes »durch die Intensität der Naturanschauung den Leser in eine A r t von potenzierter Wirklichkeit« versetzen, »was man, in einem guten Sinn, Surrealismus zu heißen versucht wird« 5 8 . Der Surrealismus des frühen K r o l o w ist nicht nur derjenige, den man von der Naturlyrik erwarten darf: neben einer gewissen »grünen Gewagtheit« in Gedichten wie »Traum von einem Wald« oder »Sommerwald« 59 , gibt es auch den »dunklen« Surrealismus von »Hinblick«, zum Beispiel in Zeilen wie diesen: Die bange Welt, vom Licht gemalt, Schwebt hinterm Glas heran.

So schaut der Tod. Ich glaub' ihm nicht, Wohnt er i m K r u g von Zinn, Klebt er als Schaum am Kannenrand U n d schmeckt nach braunem Bier.

Das Thema des Todes ist auch in einem anderen Gedicht aus dieser Zeit vorherrschend, nämlich in »Selbstbildnis 1945«. Der Wunsch, die Natur und daher auch sich selbst von der Bedrängung des Nichts zu befreien, treibt den Dichter noch einmal dazu, die Geschöpfe und Erscheinungen der Tier- und Pflanzenwelt zu besingen. Aus der Kehle steigt aber nur das Schweigen, und der Atem, die Quelle des Lebens, verliert sich i m Nichts, während die Sinne in einer düsteren und unheimlichen Natur allmählich »vergehen«. »Am Hexenzwirn hängend, vom Tollkraut berückt,| Z u Larven und kalten Gallerten gebückt«, wird der Dichter vom Schweigen erfaßt. Die aus der Schläfe kommenden Geister — »Niemals inniger vom Traum behangen| Als i m Barschensprung, beim Blessenschrei« — fliegen am geschlossenen M u n d vorbei, der doch singen möchte. Und der Dichter schickt sich ohnmächtig darein, daß das Entsetzen ihm die Stirn »umgarnft]«. Die Selbstaufgabe ist nunmehr vollzogen: I m rauschenden Schauer Verlier ich die Dauer U n d gebe mich auf, schau im schwärzlichen Blut Des Beerenleibs Hinsturz der magischen Flut.

58

Siegfried Lang, »Karl K r o l o w . Gedichte«, in: Die Tat 94 (5. 4. 1952), S. 19.

59

Siehe den obengenannten kurzen Zyklus »Waldgedichte«.

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Der Prozeß der Selbstabbildung wird jedoch weitergeführt. Was sind denn K i n n und Wange oder der Brauenbogen? Namen, die man bald vergißt, ebenso wie das Auge, das »mit zartem Hamen« aus dem Nichts, in dem er sich verloren hat, gefischt werden kann, das Auge, das »vom nie begriffnen Wort« doch »beglänzt« ist. Und auf den Lippen stockt sogar die Resignation: der Tod, ein mit faulendem Grün geschmückter Tod, verspottet nun den Dichter mit seinem verhängnisvollen Grinsen. Ganz unmöglich ist es auch, ihn zu vertreiben. Vielleicht bleibt nichts anderes übrig, als ihm nachzugeben, in der (wohl trügerischen) Hoffnung, eine überirdische Dimension gefunden zu haben: M i t Sandglas und Hippe, Dem Faulkranz der Binsen, W i l l Tod mich begrinsen. Er tritt aus den Ecken. Ich kann ihn nicht schrecken U n d strecke mich hin, hab i m Mörtelgesicht Den himmlischen Anhauch, das ewige Licht.

Auch wenn K r o l o w hier, wie er selbst geschrieben hat, noch »im Banne damaliger Naturlyrik stand« 60 , so wäre es nicht gerechtfertigt, diese Strophen und die von »Fische« oder »Salamander« 61, wie von Schäfer vorgeschlagen, nebeneinanderzustellen, und sei es auch nur unter dem Zeichen der Elisabeth Langgässer. Denn im Unterschied zu »Selbstbildnis 1945« bieten diese beiden Texte lyrische Darstellungen einer lebendigen und wohlwollenden Natur. Und wenn K r o l o w in »Selbstbildnis 1945« zu jener »Dreh- und Kreiselbewegung« greift, die er der Langgässer v o r w i r f t 6 2 , so ist das durch die Notwendigkeit bedingt, das Gefühl der lähmenden Betäubung zu beschwören, dem das lyrische Subjekt zum Opfer gefallen ist. Was noch wichtiger scheint, ist aber, darauf hinzuweisen, wie sich die beiden wesentlichen Pole der poetischen Haltung des frühesten K r o l o w — »grünes Paradies« und »himmlisches Paradies« — in einer Selbstporträtierung dramatisch gegenübergestellt noch einmal finden, die etwas mehr widerspiegelt als das, was K r o l o w einen »Orientierungsversuch« nennt, und zwar den Versuch, »sich mühsam zurechtzufinden in einer gespenstischen, abgerissenen Umwelt« 6 3 . Die geringe Hoffnung, das Dunkel der Existenzangst zu überwinden, das »grüne Paradies« der Vision zu erreichen, ist hier jedoch nunmehr gescheitert, während der Gedanke an das »himmlische Paradies« nur bei der Verzweiflung und dem 60 K a r l K r o l o w , »Lyrische Selbstporträts aus verschiedenen Zeiten« in: Ein Gedicht entsteht, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1973, S. 12. 61

Schäfer, Lehmann, S. 256.

62

K a r l K r o l o w , »Die Rolle des Autors i m experimentellen Gedicht« (1962), in: Schattengefecht, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1964, S. 45. 63

K r o l o w , »Lyrische Selbstporträts«, S. 12.

Zwischen irdischem Nichts und machtlosem H i m m e l

215

Entsetzen wiederkehrt, als rettende Illusion gegen den Tod, der sich i m Nichts einnistet. Der Unterschied zwischen der poetischen Position Krolows und Lehmanns könnte nicht ausgeprägter sein: die Hoffnung kommt hier nur aus der Verzweiflung 6 4 — nicht aus der »Gleichgültigkeit« 65 — und die »Magie« der Fluten, die »Magie« der Natur, verwandelt sich in das Entsetzen des Nichts. Lediglich von einer »Identifikation mit der lebendigen Natur« 6 6 zu sprechen mag also noch einmal ziemlich irreführend sein — ebensowenig beleuchtend wie die Bemerkung, daß hier »die Erde lockt« 6 7 . Denn der Dichter ergibt sich einer düsteren und unheimlichen Natur; und das nicht etwa, um eine unmögliche Zuflucht bei ihr zu finden, sondern weil das Gefühl des Nichts, das auch von ihr ausstrahlt, ihn überwältigt, ihn unfähig macht, mit seinem Gesang zu reagieren. Weit entfernt davon, »die Schreckensgeister der Zeit um das Kriegsende« darzustellen 68 , symbolisieren also die aus der Schläfe des Dichters gekommenen Geister den unerfüllten Wunsch, eine traumhafte Natur zu besingen, und zwar i m hoffnungslosen Versuch, ihrem Wesen wundertätige Fähigkeiten zuzuschreiben. Der Band Gedichte endet mit »Lobgesang«, einer Friedrich Rasche gewidmeten Hymne auf das Dasein, die nicht später als 1945 verfaßt wurde. Wenn sich das »grüne Paradies«, wie auch das »himmlische«, als rein illusorisch erwiesen hat, dann kann der Mensch vielleicht die Existenzangst überwinden, indem er lernt, das Dasein als ewige Verflechtung von Leben und Tod zu betrachten. Der Tod soll daher als ein Aspekt des Lebens selbst angenommen werden, ebenso wie man die ständige Erneuerung der Natur, die Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen, das Alltagsleben annimmt. Sich wieder mit dem Tode zu versöhnen bedeutet also, sich wieder mit dem Leben zu versöhnen. Einen Lobgesang auf das Leben anzustimmen heißt, auch ein Lied auf den Tod zu singen: Denke den irdischen Tod und lob' ihn, lobe ihn immer, Wie er i m Schwarzdorne wächst, wie ihn die Goldammer pfeift, Wie er i m Fleische uns wütet, als süßes Geflimmer Uns aus dem Auge der Frau ohne Rettung ergreift. Lobe das Ende, das Schweigen, das lautlose Nicken Heller Skabiosen aus unsren gestorbenen Blicken.

Doch scheint dieser Text die Behauptung Lyons nicht zu rechtfertigen, daß »die letzte Zeile zu einer vorsichtig optimistischen Synthese zwischen den 64

Siehe auch Gustav Zürcher: >Trümmerlyrik< (Scriptor-Verlag) 1977, S. 72. 65

. Politische Lyrik 1945-1950, Kronberg i. T.

Massoud, Aspekte, S. 59-60.

66

Paulus, Lyrik

67

Daemmrich, Messer und Himmelsleiter,

68

Schlenstedt, Emotion und Bild, S. 68.

und Poetik, S. 101 u. Anm. 33. S. 40.

216

Fausto Cercignani

antithetischen Seiten der Natur gelangt« 69 . Das Gedicht i n seiner Gesamtheit stellt vielmehr einen verzweifelten Versuch dar, den Tod als unumgängliche Ergänzung des Lebens zu sehen. Ernst Kreuder hat in bezug auf einige Gedichte Krolows aus dem Jahr 1952 70 wohl mit Recht bemerkt, daß »für K r o l o w der Tod nicht nur eine poetische Farbe« ist, »sondern auch das Wissen um die ständige Anwesenheit der verborgenen Gegenseite des Lebens« 71 . Und die letzte Strophe von »Lobgesang« ist mit Heideggers Position in Sein und Zeit verglichen worden 7 2 . Es ist dennoch nötig, darauf hinzuweisen, daß Krolows Hymne weit entfernt ist von der ruhigen, heiteren Annahme einer Existenz, die als Realisierung des Ich in einer desillusionierten, selbstbewußten und ängstlichen »Freiheit zum Tode« aufgefaßt wird. I m Drängen der Verse von »Lobgesang« verbirgt sich die Bitterkeit jemandes, dem es nicht gelungen ist, eine Zuflucht vor der Angst zu finden, vor eben jener »chronische[n] Bereitschaft«, welche die autobiographische Figur Henris in der Erzählung Das andere Leben veranlaßt, Heideggers Bangen als »zu philosophisch« zu betrachten 73 . Und die Enttäuschung ist vielleicht größer gegenüber dem »himmlischen Paradies« als gegenüber dem »grünen«. Die romantische Vision des Firmaments — man denke nur an »der Sterne himmlisches Konzert« i m Gedicht »Der Trinkende« — ist nunmehr vor einem kalten »Geknister der Sterne« zurückgetreten, das gegen ein schreckliches »Traumnetz der Nächte« nichts vermag. Während also das »grüne Paradies«, obschon gelobt, zum ewigen Schauplatz eines unverständlichen Lebens- und Todesvorgangs gemacht wird, wo es dem Menschen schwerfällt, angemessenen Trost zu finden, erweist sich das ebenso gelobte »himmlische Paradies« wiederum als völlig machtlos gegenüber der quälenden Hölle, der schauerlichen Projektion einer Existenzangst, die den Dichter unaufhörlich peinigt: Traumnetz der Nächte lob', das man uns übergeworfen, Das uns i m Schlafe mit jeglichem Wesen verstrickt, Quälenden Alp, der uns aufsitzt, mit Schrammen und Schorfen, Algenumwunden, und dumpfe Verhängnisse schickt. L o b das Geknister der Sterne, uns ruhlos zu Häupten, Ziehenden Äther, von Labkraut und Ampfer betäubten.

69 Lyon, Nature, S. 241: »And yet the final line achieves a cautiously optimistic synthesis between nature's antithetical sides«. 70 »Elegien auf den Tod eines jungen Dichters I - II« und »Gedichte gegen den Tod I VI«, in: Wind und Zeit, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1954, S. 25-30, 31-36. 71 Ernst Kreuder, »Dichtung als existentielles Experiment« (1956), in: Über Karl Krolow, hrsg. von Walter Helmut Fritz, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1972, S. 64. 72

Siehe Paulus, Lyrik

73

Karl K r o l o w , Das andere Leben. Eine Erzählung, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1979,

S. 36.

und Poetik, S. 60 u. A n m . 128.

Zwischen irdischem Nichts und machtlosem H i m m e l

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Es ist bestimmt kein Zufall, wenn in diesem letzten Gedicht des Bandes der ziehende Äther von irdischen Stoffen, von i m Boden verwurzelten Kräutern betäubt wird, ebenso wie das lyrische Subjekt in »Selbstbildnis 1945«, verwirrt in einem Geflecht pflanzlicher Fäden hängend, von deprimierenden, lähmenden Säften angegriffen und überwältigt wird.

DER PHILOSOPHISCHE BEGRIFF DER UTOPIE U N D D I E KLASSISCHEN UTOPISTEN Von Annemarie Pieper

Das Wort Utopie, abgeleitet von griech. oi> TÖnoq, bedeutet kein Ort, nirgendwo. 1 Das in den Utopien Geschilderte hat somit streng genommen keine Raum-Zeit-Stelle, obwohl die entlegenen Inseln, auf denen sich das utopische Geschehen abspielt, durchaus einen Namen und einen, wenn auch unbestimmt gelassenen, geographischen Ort haben. 2 Worauf bezieht sich dann aber die Negation, das ou i m Wort Utopie? Zwei Möglichkeiten bieten sich auf den ersten Blick an. Es könnte erstens gemeint sein, daß der Ort bzw. die dargestellte Gesellschaftsform nicht empirisch antreffbar ist, und zwar i m Sinne von >noch nicht antreffbarnoch nicht, aber dereinst empirisch antreffbar< verstanden. Die zweite Möglichkeit, die Negation i m Wort Utopie zu deuten, ist die, daß man meint, der utopische Staat sei prinzipiell nicht in der Empirie antreffbar, weder hier und jetzt noch irgendwann. Das Wort Utopie bezieht sich in dem Fall nicht auf eine realisierte oder doch wenigstens als realisierbar vorgestellte empirische Wirklichkeit, sondern ist ein Begriff mit heuristischer Funktion, durch den Wirklichkeit interpretiert, erklärt, verstehbar gemacht wird, ohne daß er selber auf etwas bezogen ist, das ein Teil dieser Wirklichkeit ist. U m dies durch ein Beispiel zu erläutern: Wenn die Physiker die Struktur eines Atoms im Atommodell abbilden, so wollen sie damit das an sich selber völlig unanschauliche Verhältnis von Atomkern und ihn umgebenden Elektronen anschaulich machen, ohne dabei zu unterstellen, daß Atome tatsächlich in Gestalt des Atommodells vorkommen. Analog könnte auch der Begriff Utopie den Status eines Modells haben, durch den ein Stück Wirklichkeit wissenschaftlich aufgeschlüsselt wird, ohne daß diese Wirklichkeit tatsächlich die Gestalt des utopischen Modells aufweist. M i r scheint trotz einer gewissen Plausibilität beider Möglichkeiten einer Deutung des oi> in Utopie weder die des >noch nicht< noch die des prinzipiell

1 2

Ähnlich lautet auch der Titel einer Erzählung von Christa Wolf: »Kein Ort. Nirgends«.

V g l . Thomas Morus: Utopia, S. 15, 19, 48-52; Tommaso Campanella: Sonnenstaat, S. 117; Francis Bacon: Neu-Atlantis, S. 175f. Die drei Werke werden zitiert nach Klaus J. Heinisch, Hrsg. u. Ü., Der utopische Staat (Reinbek bei Hamburg, 1960).

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Annemarie Pieper

nicht< die Intention des Utopischen voll und ganz zu treffen. Denn eine Utopie - und ich meine hier vor allem die von den klassischen Utopisten entwickelte Utopie — hat in erster Linie keine deskriptive, sondern normative Funktion, d. h. sie w i l l weder eine als realisierbar vorgestellte Lebensform bloß beschreiben, noch vorhandene Lebensformen in ihrem Sosein interpretieren oder erklären. Vielmehr geht es ihr darum, eine bestimmte soziale Lebensform als die für vernünftige Wesen einzig richtige und angemessene einsichtig zu machen. Der Begriff der Utopie ist demnach ein normativer Begriff in ethisch-praktischer Absicht. Entsprechend bedeutet dann das ou in Utopie jenes >nicht empirisch antreffbar seinim Zentrum der Welt< gelegene Jerusalem als Vorbild, das als kreisförmige Stadt mit rechtwinkligen Straßenkreuzen dargestellt wurde (siehe Abbildung nach S. 232). Zahlreiche mittelalterliche Stadtpläne weisen i n der Tat eine ähnliche Grundstruktur auf. Ernst Egli betont indes die Unterschiede zwischen den geomantischen Stadtbauvorstellungen der vorchristlichen Kulturen und der Idee des als heilig empfundenen Bildes 1 2

W i r folgen hier Ernst Egli, »Die gute Stadt«, Atlantis,

N r . 3 (März 1962), p. 128.

Werner Müller, Die Heilige Stadt. Roma quadrata, himmlisches Jerusalem und die Mythen vom Weltnabel (Stuttgart, 1961).

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Jerusalems. »Was andere Zeiten in ihrer Stadt fühlten, die Einordnung in den Gang der Sonne, des Mondes, der Sterne, [. . . ] die Sicherheit über einem von Katastrophen verschonten Fleck Erde, das fühlten die Menschen des christlichen Mittelalters in ihren Kirchen und Domen« 3 . Die Gedankenfigur der Verbundenheit von makrokosmischer und mikrokosmischer Ordnung bezog sich wohl nicht mehr auf die Stadt als ganzes, sondern konzentrierte sich auf das, was Mircea Eliade die Symbolik des >Mittelpunktes< nennt: »Die uralte Vorstellung vom Tempel als imago mundi, der Gedanke, das Heiligtum reproduziere das Universum in seinem Wesentlichen, ist auf die kirchliche Architektur des christlichen Europa übergegangen: die Basilika der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung stellt das himmlische Jerusalem nicht anders dar als die Kathedrale des Mittelalters« 4 . I n intensiverer Weise hatten jedoch geomantische Vorstellungen den Stadtbau in Indien bestimmt, wo die architekturalen Regeln in heiligen Büchern niedergelegt waren. Die streng quadratisch konzipierten Grundrisse verstanden sich ebenfalls als Abbild des Universums. Analoges läßt sich für die Stadtplaner Persiens, Hinterindiens und Chinas nachweisen. Von China bis Vorderindien planten, so schreibt Werner Müller, »alle Epochen und Kulturen i m Rechteck, Straßenkreuz, winklige Gassenraster und Betonung der Mitte durch Tempel, Tempelberg und Palast kehren überall wieder. Dieser Architektur entspricht eine Staatsgliederung i m Viertakt und eine ebenso allgegenwärtige viergefächerte Kosmologie«. Für die frühgeschichtlichen Kulturen, so betont Mircea Eliade, erhält ein A k t Sinn und Wirklichkeit ausschließlich in dem Maße, als er eine urtümliche Handlung wiederholt; für den archaischen Menschen ist die Wirklichkeit eine Funktion der Nachahmung eines himmlischen Urbildes. Die babylonischen Städte fanden ihr Urbild i n den Konstellationen der Gestirne; das himmlische Jerusalem strahlt auf seine irdische Entsprechung ab: »Diese Teilhabe der Stadtkulturen an einem urbildlichen Modell verleiht ihnen ihre Wirklichkeit und Gültigkeit« 5 . II Eine kohärente Konzeption der Stadt, eine eigentliche urbanistische Theorie findet sich erst wieder in der Utopie seit der Renaissance. Denn die Utopien, die das Bild eines idealen Gemeinwesens mit optimalen Institutionen entwerfen — das Werk, das gattungsprägend wirkt, Thomas Morus' Utopia (1516), heißt bezeichnenderweise mit dem genauen Titel De optimo rei publicae statu — , diese Utopien sind fast immer städtisch organisiert. Ausführungen über die ideale 3

Ernst Egli, art. cit., p. 132.

4

Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr 1984), p. 29. 5

Ibidem, p. 22, 17, 20.

(Frankfurt,

Stadt in den utopischen Entwürfen von Filarete bis L.-S. Mercier

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städtebaulich-architektonische Form sind darum für die Gattung geradezu konstitutiv. »L'urbaniste et l'utopiste sont liés par une affinité psychologique«, schreibt so nicht zu Unrecht Robert Klein. »Ces grands imaginatifs ont en commun le postulat qu'on peut changer les hommes en organisant l'espace où ils se meuvent«. 6 Der Begriff Topos erscheint nicht zufälligerweise in der Gattungsbezeichnung. Soll doch hier eine Reform des Gemeinwesens auch durch die Organisation des Raumes, hier des städtischen Raumes, bewerkstelligt werden. I m utopischen Projekt vereint sich das alte Element einer jeden Gesellschaftsorganisation — die Ordnung — mit jenem neuen der Planung 7 . Während die mittelalterliche Stadt in einer langen Zeitdauer entstand und ihre Mäander von den sich übereinander schichtenden Jahrhunderten zeugen, erscheint der Stadtplan, die Stadtorganisation der Utopie seit der Renaissance in einem Wurf, als Ganzes8. Der enge Zusammenhang von Städtebau und Utopie wird auch dadurch belegt, daß am Übergang von Mittelalter und Neuzeit die ersten Idealstädte nicht der Humanistenfeder entsprangen, sondern von Architekten entworfen wurden, noch vor dem Erscheinen des epochemachenden Werkes von Morus. W i r denken hier an Leone Battista Alberti und sein um 1450 entstandenes Werk De re aedificatoria libri decem, der in seinem architektonischen Programm die optimale Gestalt der Stadt ermitteln will, wobei — wie das für die späteren Utopien grundlegend sein wird — die urbanistische Gestalt durch den Gesellschaftsentwurf bestimmt wird 9 . W i r denken vor allem auch an Filaretes Trattato di architettura aus dem Jahre 1464, in dem der Mailänder Architekt innerhalb des narrativen Rahmens eines Gesprächs mit seinem fürstlichen Bauherrn Francesco Sforza die Geschichte einer idealen Planstadt entwickelt, die er bezeichnenderweise Sforzinda nennt. Die Idealstadt beruht hier auf einem zentralsymmetrischen Plan: die streng geometrische Grundrißfigur ist aus einem Kreis ent6

Robert Klein, »L'urbanisme politique de Filarete à Valentin Andreae«, in: Les Utopies à la Renaissance (Bruxelles / Paris, 1963), p. 211. Siehe dazu auch Gilles Lapouge: »De l'inventeur de Babel à Le Corbusier tous les utopistes sont des architectes. Persuadés que Thomme est modelé par son environnement, ils ne disjoignent pas la forme d'une ville, celle d'une société et celle des consciences. Platon, More, Fourier, tous leurs congénères ont laissé des instructions d'une précision minutieuse sur la taille des appartements, la disposition des rues, la géométrie des monuments ou celle des places publiques.« (Gilles Lapouge, Utopie et civilisation Paris, 1978, p. 182). So betont auch Ferdinand Seibt, daß »alle utopische Lebensweise von einem Ordnungsgedanken ausgeht, der sich zuvor i m klösterlichstädtischen Bereich entfaltete. Selbst die Agrarutopien bauen, genau betrachtet, auf Grundelementen städtischer Lebensweise, nicht eigentlich auf der bäuerlichen Arbeits- und Planungswelt« (F. Seibt, »Utopie als Funktion des abendländischen Denkens«, p. 267, in: Utopieforschung. Bd. 1 (Stuttgart, 1982). 7

Siehe dazu F. Seibt, art. cit., p. 256-257.

8

Siehe Claude G. Dubois, Problèmes de l'utopie (Paris, 1968), p. 28.

9

Siehe dazu Hermann Bauer, Kunst und Utopie. Studien über das Kunst- und Staatsdenken in der Renaissance (Berlin, 1965).

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wickelt, in den zwei Quadrate so eingeschrieben sind, daß ein regelmäßiger achtspitziger Stern entsteht. Von einer zentralen Platzanlage aus strahlen sechzehn Hauptstraßen, die von einer inneren Ringstraße gekreuzt werden, zu den acht Stadttoren und acht Ecktürmen aus 10 . Der alte Gedanke des Kreises als einer idealen Siedlungsform, die man schon in Piatons Atlantis-Phantasie fand, wird hier systematisch für das urbanistische Projekt fruchtbar gemacht 11 . Der Zusammenhang zwischen makrokosmischer Ordnung und dem Mikrokosmos der Stadt scheint in Filaretes Kastellturm auf, der sich aus vier verschiedenen Baukörpern — den >vier Jahreszeiten< — zusammensetzt und dessen 365 Fenster die Tage des Jahres versinnbilden. Wie sehr Sforzinda durch allegorische Funktionen und nicht durch einen zweckrationalen Plan bestimmt wird, belegt das zylinderförmige Hochhaus der Tugenden und Laster, das einen zentralen Platz in der Idealstadt einnimmt. Während die sieben unteren Geschosse Bordelle und Gefängnisse enthalten, sind die sieben oberen für die artes bestimmt. Sie bilden einen siebenfachen Loggienkranz, über die nur gelangt, wer über die Brücken der sieben Tugenden gegangen ist. Für Gerhard Goebel gewinnt hier die Allegorie des Erziehungshauses aus dem Roman der Sieben Weisen architektonische Gestalt 12 . Wichtig ist die vielfache Verwendung der symbolträchtigen Zahl sieben sowie die pädagogische Funktion, die architektonischen Formen zugeschrieben werden. Hermann Bauer hat indes zu Recht betont, daß Filaretes Traktat nicht nur auf eine »Idealität i m ästhetischen Bereich, sondern auch auf die Idealität im zivilen Organismus« 13 gerichtet sei; es geht Filarete in seinem E n t w u r f der Idealstadt auch um deren Funktionieren als politische und soziale Einheit; insofern spiegelt der Stadtplan auch eine soziale Ordnung und soziale Hierarchien. Mechthild Schumpp weist dabei auf die Diskrepanz zwischen dem streng gebundenen Umriß der Gesamtstadt und dem sehr lebendigen und vielfältigen Platzgefüge der Innenstadt hin, in der räumliche Verhältnisse nahe mit menschlichen Verhaltensweisen vermittelt werden 14 . Die Anordnung von drei Rechteckplätzen im Mittelpunkt scheint in

10 W i r verdanken hier wertvolle Informationen folgenden beiden Werken: Gerhard Goebel, Poet a Faber. Erdichtete Architektur in der italienischen, spanischen und französischen Literatur der Renaissance und des Barock (Heidelberg, 1971), p. 35-37, und Mechthild Schumpp, Städtebau und Utopie. Soziologische Überlegungen %um Verhältnis von städtebaulichen Utopien und Gesellschaften (Diss. Göttingen, 1970), p. 47-53. 11

Für S. Giedion verweist diese Form auf die menschliche Figur von Vitruvius, die in ein von einem Kreis eingeschlossenes Quadrat gezeichnet ist und in der Renaissance bedeutsam war. Sie symbolisiere die zentrale Stellung des Menschen in der Auffassung jener Zeit. Siehe S. Giedion, Raum, Zeit, Architektur (Ravensburg, 1965). 12

Nach Gerhard Goebel, op. cit.., p. 37.

13

H. Bauer, op. cit., p. 77.

14

M . Schumpp, op. cit., p. 51.

Stadt in den utopischen Entwürfen von Filarete bis L.-S. Mercier

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der Tat dem Zentralbaugedanken zu widersprechen. Eine soziale Wertehierarchie der Renaissance spiegelt sich auch in der Tatsache, daß nun der Palast des Fürsten unmittelbar der Kathedrale gegenüber steht, das religiöse und das politische Zentrum auf derselben Ebene situiert werden — was einen Bruch mit der mittelalterlichen Stadtkonzeption darstellt. Dürer wird in seinem Idealstadtentwurf noch weitergehen, wenn er nach seinem Plan, der den städtischen Raum in vierzig rechteckige schachbrettartige Einheiten gliedert, das Feudalschloß ins Zentrum, die Kirche aber an den Rand der Anlage rückt 1 5 . Eine Werthierarchie läßt sich nicht nur an der Position innerhalb der Peripherie-Zentrum-Achse ablesen; die soziale Ordnung spiegelt sich auch in der Zuordnung städtischen Raums an bestimmte soziale Klassen. So sieht Filarete eine eigene Siedlung für die Bauern und Arbeiter vor und stellt auch differenzierte Überlegungen zur Arbeits- und Lebensweise der Werktätigen sowie ihrer Wohnstätten an. Alberti hatte sich indes in seinem E n t w u r f von den »minderen, unreinen Tätigkeiten« distanziert und diese an den Rand der Stadt verwiesen, was konkret eine soziale Absonderung des vierten Standes bedeutete. Wenn Leonardo da Vinci seine ideale Stadt in zwei Ebenen konzipierte, dann geschah dies ebenfalls nicht nur aus städtetechnischen Erwägungen; es war dies der architektonische Reflex einer sozialen Ségrégation: »durch die oberen Straßen dürfen weder Wagen noch andre ähnliche Fahrzeuge fahren, sondern sie sollen nur für die Vornehmen da sein. Durch die unteren Straßen sollen die Wagen und andere Lasten für den Bedarf und die Versorgung des einfachen Volkes verkehren« 16 . I n den Idealstadtentwürfen der italienischen Frührenaissance finden sich zweifellos utopische Züge. Utopien i m Sinn der Gattungsdefinition sind sie noch nicht, nicht nur weil das narrative Gerüst relativ dürftig ist, sondern weil etwa Sforzinda, wie Gerhard Goebel betont, nur als Idealstaat in statu nascendi, nicht als bestehend und funktionierend gezeigt wird; zudem führt der E n t w u r f über die Sozialstruktur des Mailänder Frühabsolutismus nicht hinaus 17 ; diese frühen Planstädte charakterisieren sich vielmehr durch die bauliche Verfestigung machtpolitischer und wirtschaftlicher Gegebenheiten. III Thomas Morus' Utopia jedoch ist bewußt als Gegenbild zur Staats- und Rechtsverfassung, aber auch zu den Besitzverhältnissen des damaligen England konzipiert; auch hier findet das Projekt eines idealen Gemeinwesens seine 15 Siehe dazu Michel Ragon, »Une ville idéale pour un homme qui n'existe pas«, Magasine littéraire , n° 139 (Juli-August 1978), p. 31. 16 Zitiert nach Gerhard Strauss, »Siedlungs- und Architekturkonzeptionen der Utopisten«, Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität, Gesellschaftliche und Sprachwissenschaftliche Reihe, Bd. 11 / 4 (1962), p. 556. 17

Siehe G. Goebel, op. cit., p. 100.

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räumliche Ausfaltung, selbst wenn dieser Aspekt nicht intensiv entwickelt wird. Der Grundriß von Amaurotum ist fast quadratisch; eine hohe und breite Mauer mit zahlreichen Türmen und Vorwerken umgibt die Stadt; die Straßen folgen einer zweckmäßigen Anordnung in bezug auf den Verkehr und den Schutz vor Winden 1 8 ; die ganze Stadt ist in vier gleich große Bezirke eingeteilt; in der Mitte jeden Bezirks liegt der M a r k t 1 9 . Der quadratische Grundriß erinnert an die römische Castrum-Form; die Vierteilung der Stadt entspricht alter urbanistischer Tradition; wenn auch in bezug auf die religiösen Vorstellungen davon die Rede ist, daß die einen die Sonne, die anderen den Mond, wieder andere einen anderen Planeten als Gottheit verehren und daß sich die Festtage nach dem Umlauf des Mondes und der Sonne richten 2 0 , so wird doch die Grundstruktur der Stadt in einem wertverleihenden Sinn mit dem Makrokosmos in Verbindung gebracht. Die städtebauliche Gestaltung scheint hier vor allem durch die sozial-ökonomische Konzeption von Morus bestimmt zu sein, die auf »der Gleichheit des Besitzes«21 beruht. Die Siedlungsform entspricht darum streng diesem Gleichheitspostulat. Die Häuser bilden eine lange und blockweise zusammenhängende Reihe, die dem Z u g einer zwanzig Fuß breiten Straße folgt, während sich hinter den Wohnbauten duchlaufende Gärten erstrecken; jedes Haus bildet ein ansehnliches Gebäude von drei Stockwerken (siehe Titelbild). Nicht nur die einzelnen Bauten sind identisch; alle vierundfünfzig Städte der Insel haben dieselbe Anlage: »Wer eine von ihren Städten kennt, kennt alle: so völlig gleichen sie einander, soweit es das Gelände erlaubt« 22 . Da das Privateigentum, das mehr aus moralischer denn ökonomischer Perspektive kritisiert wird, aus der Idealstadt von Morus verbannt ist, gibt es keine Polarität Privatheit / Offenheit; die Türen stehen jedem offen: »So gibt es keinerlei Privatbereich. Denn sogar die Häuser wechseln sie alle zehn Jahre durch Auslosung« 23 ; demselben Ziel der totalen Transparenz dienen wohl auch die Glasfenster, von denen die Rede ist. Die radikale Gleichheitsforderung zeigt sich schließlich auch darin, daß der quadratische Grundriß nicht in ein Zentrum als räumliche Übersetzung politischer oder. religiöser Macht mündet 2 4 . Der Verzicht auf ein umfassend geltendes Zentrum, 18 Schon der römische Architekt Vitruvius berücksichtigte i m Plan seiner Idealstadt die Windrichtungen. E r geht davon aus, »daß es acht Winde gebe, die in ihren Richtungen den Winkel eines Rechtecks entsprechen. E r möchte das Straßennetz so legen, daß keiner der acht Winde sich für die Stadt schädlich auswirken könne« (zitiert nach M . Schumpp, op. cit., p. 61). Z u Morus siehe W. Erzgräber, Utopie und Anti-Utopie in der englischen Literatur (München, 1985 2 ). 19

Thomas Morus, Utopia. Hrsg. von K . J. Heinisch (Reinbek, 1978), p. 51, 59.

20

Ibidem, p. 96, 103.

21

Ibidem, p. 44.

22

Ibidem, p. 50.

23

Ibidem, p. 52.

24

G. Strauss, art. cit., p. 559.

Stadt in den utopischen Entwürfen von Filarete bis L.-S. Mercier

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für das es i m antiken und i m mittelalterlichen Städtebau kaum Parallelen gibt, ist für Gerhard Strauß Ausdruck eines entschiedenen Demokratismus 25 ; in den Augen von Mechthild Schumpp macht die Diskriminierung des Krieges eine zentralistisch ausgerichtete Militärgeometrie unnötig 2 6 . Sie scheint sich hier an Habermas zu erinnern, der die Entstehung der sozialen Utopie gerade in England von der strategischen Lage des Landes her erklärt, die es erlaubte, die Organisation des Gemeinwesens vor allem als rechtstechnische und nicht bloß als militärtechnische Aufgabe zu denken: »Auf der strategisch günstigen Basis eines Inselstaates mochte er [Morus] die Technik der Selbstbehauptung gegen äußere Feinde vernachlässigen und ein v o m Kriegszustand abgeleitetes Wesen des Politischen gerade leugnen« 27 . Ob Morus aber, wie Ernst Bloch meint, eine Verbindung von Kollektivwirtschaft und humaner Demokratie gelungen ist, bleibt eine offene Frage. Denn Demokratie kann sich ja nicht in der Gleichheit des Besitzes erschöpfen, deren städtebauliche Konkretisation eindrücklich vorgeführt wird. Demokratie besteht vor allem auch in der Ausbildung eines politischen Instrumentariums der Konsensbildung der Bürger — ein Aspekt, der von Morus — so scheint mir — etwas vernachlässigt wird. IV Wenn die italienische Renaissance trotz der erwähnten architekturtheoretischen Vorstufen nicht einen Morus ebenbürtigen utopischen E n t w u r f hervorbrachte, dann weil — wie Gerhard Goebel gut herausarbeitete 28 — die Renaissance ihre Utopie in der Antike fand. Erst mit dem Sacco di Roma von 1527 erloschen die Hoffnungen auf eine Renovatio des alten Roms; damit löste sich das utopische Denken von der Fixierung auf die Antichitä und konkretisierte sich in eigenständigen utopischen Entwürfen, die man in der Tat erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts finden konnte und die ihre konsequenteste Ausprägung in Campanellas Cittä del Sole (1602) fanden, in der städtebauliche Fragen eine noch zentralere Rolle spielen als bei Morus. Campanella beginnt seinen Bericht mit einer ausführlichen Schilderung der Sonnenstadt, deren Form eine kosmologische und eine soziale Ordnung spiegelt und gleichzeitig auch eine pädagogische Funktion übernimmt. Die kosmologische Ausrichtung ist hier zentral, weil das Gemeinwesen wesentlich durch eine Astralreligion inspiriert wird, wobei gerade das Funktionieren des Staates auf der Erkenntnis der makrokosmischen Einflüsse beruht. Die vierundzwanzig Priester des Tempels haben die Aufgabe, »die Gestirne zu beobachten, mit Hilfe von Astrolabien ihre 25

Ibidem , p. 559.

26

M . Schumpp, op. cit., p. 65.

27

J. Habermas. Theorie und Praxis (Neuwied, 1963), p. 21.

28

Siehe dazu G. Goebel, op. cit., p. 100-103.

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Bewegungen und Wirkungen auf die menschlichen Angelegenheiten zu vermerken und ihre Eigenschaften kennenzulernen« 29 . Es geschieht bei ihnen darum nichts ohne den vorherigen Rat der Astrologen; diese »bestimmen die Stunde der Zeugung, den Tag der Aussaat, der Ernte und der Weinlese« 30 ; es geht indes mehr als um die Erkenntnis der kosmologischen Kräfte; den Gestirnen wird ein eigentlicher K u l t gewidmet: »Sonne und Sterne verehren sie wie lebende Wesen, wie Standbilder oder Tempel Gottes und lebendige Altäre des Himmels, beten sie aber nicht an« 31 ; »vor allem aber verehren sie die Sonne« 32 , weil diese i m Sonnensystem die wichtigste Stelle einnimmt; so bildet der architektonische Grundriß in einem gewissen Sinne dieses System ab; ist doch die Sonnenstadt eine vollkommen zentralsymmetrische Anlage, in konzentrischen Ringen einen Hügel hinangebaut; »sie ist in sieben riesige Kreise oder Ringe eingeteilt, die nach den sieben Planeten benannt sind« 33 ; von der astroreligiösen Ausrichtung her wird der Siebenzahl eine magische Kraft zugeschrieben — Campanella beruft sich auf Pythagoras' »Alles ist Zahl« sowie auf die Bibel: »Du hast alles geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht« [AT, Weish. 11, 22] 3 4 — , so daß diese immer wieder als ideale Maßzahl in der Sonnenstadt auftaucht: der Umfang der Stadt mißt sieben Meilen; zwischen dem ersten und dem zweiten Ring erstreckt sich ein Zwischenraum von siebzig Schritten; i m Tempel brennen »sieben goldene Lampen mit ewigen Lichtern« 3 5 ; ferner erblickt man in der »Wölbung der Kuppel die Sonne des Himmels, von der ersten bis zur siebten Größe dargestellt« 36 ; die Versammlung der höchsten Würdenträger geschieht nach jeweils sieben Tagen; schließlich »kennen sie auch ein geheimes Mittel zur Erneuerung der Lebenskraft nach jeweils sieben Jahren« 37 . Jeder der Kreise ist aber auch ein Abbild des Tierkreises und somit der Zahl zwölf. Die 24 Prister entsprechen der Zeiteinteilung in 24 Stunden und damit dem doppelten Zodiak; die Zahl der Winde, von denen sie 36 kennen 38 , geht ebenfalls 29 Campanella, Der Sonnenstaat, in: Der utopische Staat. Hrsg. v. K . J. Heinisch (Reinbek, 1978), p. 154. 30

Ibidem, p. 156.

31

Ibidem, p. 157.

32

Ibidem, p. 157.

33

Ibidem, p. 117.

34

Der Großmeister bemerkt bei Campanella zur Zahlenmagie, in Rom sei entschieden worden, »daß es nicht Aberglaube sei, solange man den Zahlen allein und nicht den gezählten Dingen die Kraft zuschreibe, die man Gott schuldet, ohne den sie weder Nutzen noch Gewalt haben« (165-166). 35

Ibidem, p. 119.

36

Ibidem, p. 119.

37

Ibidem, p. 149.

38

Ibidem, p. 119.

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auf die verdreifachte Zahl der Astrologie zurück; die obersten Behörden Sol und mit ihm Pon, Sin und M o r (>MachtWeisheitLiebeAntichitä< 47 . Campanellas Sonnentempel ist aber nicht nur Kultbau und kosmisches Symbol; er hat auch eine wissenschaftlich-didaktische Funktion: das Obergeschoß unter der cupoletta dient als Sternwarte. Die Stadt als ganzes ist nicht nur Wohn- und Wehrraum, sondern zugleich Lehrgebäude, Träger eines orbis pictus; auf den Mauern der sieben Ringe sind auf beiden Seiten alle Wissengebiete dargestellt, wobei die Zuordnung zu den Kreisen wiederum eine hierarchische Ordnung abzubilden scheint; so sind an den Tempelwänden die Sterne gemalt; es folgen mathematische Figuren, Bilder der Erde, Mineralien, Flüssigkeiten, Bäume, Fische, Vögel, Reptilien, dann die Werke der Kultur: die mechanischen Künste, die Werke der Entdecker, Erfinder, Gesetzgeber. Durch den orbis pictus soll den Einwohnern ermöglicht werden, ab frühester Kindheit gleichsam spielend das Wissen über die Welt durch Anschauung zu erwerben. Das Prinzip des pädagogischen Turmes, so bemerkt wiederum Gerhard Goebel, das wir vom Roman der Sieben Weisen, von Dantes Purgatorium und von Filaretes Tugendtempel her kennen, ist hier auf die ganze Stadt ausgedehnt 48 . Schließlich — darauf soll nur ganz kurz eingegangen werden — spiegelt die städtebauliche Organisation der cittä del sole auch eine gesellschaftliche Ordnung; diese wird bestimmt durch die Prinzipien Gleichheit und Hierarchie; prinzipiell 45

Ibidem, p. 119.

46

Ibidem, p. 119.

47

G. Goebel, op. cit., p. 105-106.

48

Ibidem, p. 106. Das didaktische Programm der Ringmauern der Sonnenstadt w i r d Comenius fünfzig Jahre später in seinem Lehrwerk Orbis sensualiumpictus (Nürnberg, 1658) übersetzen.

Abbildung Christianopolis von Andreae aus dem gleichnamigen Werk von 1619.

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sind alle Sonnenstaatler gleich; doch stehen über ihnen die Priester und über diesen die obersten Würdenträger, über den Triumvirn wiederum steht der Soi; die Komplementarität von Gleichheit und Hierarchie wird auch räumlich übersetzt; denn innerhalb der Ringe bewegt man sich »immerfort auf ebenem Boden« (118). Wenn man jedoch die Tore durchschreitet, steigt man über Treppen, die so angelegt sind, daß man den Anstieg kaum bemerkt. Das Durchwandern der Ringe bedingt ein Aufsteigen und in übertragener Bedeutung eine geistige Entwicklung. Aber auch die Rangfolge menschlicher Tätigkeiten wird durch eine räumliche Hierarchie sichtbar gemacht: »Die Handwerke werden sämtlich unter den Gewölben ausgeführt, die wissenschaftlichen Arbeiten aber oben in den Wandel- und Kreuzgängen verrichtet, wo die besseren Gemälde sind; i m Tempel aber werden die göttlichen Schriften ausgelegt« (130). Diese Hierarchie wird indes nicht als willkürlich, sondern als natürliche Ordnung dargestellt, als ein ordo, der den »Stufenfolgen des Seienden« (126) entspricht. Die Gleichheitsidee wird so bei Campanella nicht so sehr auf der Ebene der Funktionen, sondern auf derjenigen des Besitzes durchgeführt; die Eigentumsidee ist aber für Campanella nicht nur mit dem individuellen Wohnen verbunden, sondern auch mit der Existenz von eigenen Kindern und Gattinnen; er gibt darum die Familienbindung auf; das Haus verliert den Charakter des Familienhauses. Der Wegfall der Familie als Sozialisierungsraum macht aber, wie Mechthild Schumpp zu Recht bemerkt, einen erheblichen obrigkeitlichen Koordinations- und Planungsapparat zur Regelung der menschlichen Beziehungen notwendig 4 9 . V M i t Campanellas Sonnenstadt und Thomas Morus' Amaurotum sind wir zwei Prototypen der utopischen Stadt begegnet; die hier vorgezeichneten regelmäßig geometrischen Grundrisse finden sich auch in späteren Utopien wieder: als Rechteck ist die Christianopolis des schwäbischen Theologen Andreae (1619) konzipiert (siehe Abbildung nach S. 242) und auch die imaginäre Stadt in Tissot de Patots Utopie Voyages de Jacques Massé (1710). Eine kreisförmige Anlage weisen hingegen die imaginären Städte der französischen Utopisten Veirasse (1677) und Morelly (1755) auf. Doch wäre es verfehlt zu behaupten, daß die späteren Utopien bloß mehr prototypische Vorgaben abwandelten. Besondere Beachtung verdient hier insbesondere die Utopienproduktion des 18. Jahrhunderts — das goldene Zeitalter der Utopie nach Raymond Trous son 5 0 ; denn i m Jahrhundert der 49 50

M . Schumpp, op. cit., p. 68.

Raymond Trousson, Voyages aux pays de nulle part (Bruxelles, 1975), p. 121. Siehe dazu auch Th. Nipperdey: »Die Aufklärung, so kann man sagen, ist utopienahe Zeit. Der durch den Absolutismus entmachtete, in die Privatheit von Gesinnungen zurückgedrängte, aber da auch freigelassene Bürger beginnt i m Namen der Tugend und i m Namen der Vernunft den Prozeß, ja den A n g r i f f gegen das absolutistische System, gegen den moralfreien Raum 16*

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Aufklärung läßt sich einerseits eine immer größer werdende Konvergenz zwischen den Architekturtraktaten und den Stadtprojekten feststellen; andererseits verringert sich jetzt der Abstand zwischen der utopischen Idee und dem Gedanken ihrer Realisierbarkeit 51 , was sich i m Auftauchen der Zeitutopie äußert. Eine realistischere Note eignet schon Denis Vairasse Histoire des Sévêrambes (1677 1679), die Hans-Günter Funke zu Recht als Prototyp der Reiseutopie bezeichnet, die i m übrigen zahlreiche spätere Utopien beeinflußte und i m 18. Jahrundert neben den utopischen Projekten der Renaissance als eines der Modelle der Gattung genannt wurde 5 2 . Vairasse setzt sich hier explizit ab von den »imaginations ingénieuses« seiner Vorgänger Piaton, Morus, Bacon und situiert seine Utopie nicht mehr in das räumlich unbestimmte Anderswo, sondern in die damals oft beschworene Terra australis incognita; in seiner Rahmenhandlung geht er vom verbürgten Ereignis des Scheiterns eines Schiffes der Niederländischen Ost-Indien-Gesellschaft aus, um so dem E n t w u r f seines Idealstaates, den er als »modèle de gouvernement« bezeichnete, Authentizitätscharakter zu verleihen; der E n t w u r f arbeitete überdies Informationen über außereuropäische politische Organisationsformen — namentlich der Incas — ein, wie sie echte Reiseberichte vermittelten, die seit der Frühaufklärung nicht mehr bloß als Kuriosum, sondern als Herausforderung oder gar als Alternative zu der als krisenhaft empfundenen Situation der eigenen Gesellschaft rezipiert wurden 5 3 . Das politische System der Idealstadt von Vairasse ist das einer absoluten Monarchie mit konstitutionellen Zügen: der Herrscher versteht sich bloß als Vize-König, als »lieutenant et interprète« der obersten Gottheit, der Sonne; die Macht und strenge Reglementierung des ganzen Lebens werden auch hier kosmologisch begründet; der Herrscher, dessen Macht durch Grundgesetze beschränkt wird, bedarf aber auch der Zustimmung des Volkes. Die Sonnenreligion ist letztlich ein rationaler Deismus, der auch große religiöse Toleranz impliziert. »Les Sévérambes s'appuient si fort sur la raison humaine, qu'ils se moquent de tout ce que la foi nous enseigne, si elle n'est soutenue par la raison« 54 . seiner absoluten Staatsräson und seiner vorrationalen gesellschaftlichen Grundlagen.« (Th. Nipperdey, »Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit«, Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 44, 1962, p. 366). 51 F. Seibt spricht von einer Epochenscheide innerhalb des utopischen Denkens i m 18. Jahrhundert: Alexander Gottlieb Baumgarten habe noch 1735 »unter dem Einfluß von Leibnitz die utopischen Objekte für unmöglich in allen möglichen Welten« erklärt, »während 50 Jahre später schon in der vorsichtigen Formulierung Kants die Selbsterlösung des Menschen zumindest in unendlichen kleinen Annäherungen möglich erschien« (F. Seibt, op. cit., p. 265). 52 Siehe Hans-Günter Funke, Studien %ur Reiseutopie der Frühaufklärung: >Histoire des AjoiensWilden< und die >.Zivilisiertem. (München, 1976), p. 208210 sowie K . - H . K o h l (Hrsg.), Mythen der Neuen Welt. (Berlin, 1982), p. 347-349.

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A u f der Ratio beruht auch die völlig regelmäßige Stadtarchitektur, deren Uniformität die skandalöse Zufälligkeit der auf Privatbesitz gegründeten Städte aufheben soll. Die Hauptstadt Sévariade liegt in der Mitte einer Insel mit 30000 Meilen Umfang, die von einem großen Fluß umspült wird; die Insel ist von einer hohen Mauer umgeben als Schutz vor dem Feind. Der Grundriß der Stadt ist quadratisch, konzipiert nach einem rationalen, klaren und einfachen Plan, der streng respektiert wird: Vairasse spricht von der »regelmäßigsten Stadt der Welt«. Diese setzt sich zusammen aus 260 lauter gleich großen quadratischen Wohneinheiten, die alle aus vierstöckigen Wohnblöcken bestehen, die Osmasien genannt werden; in jeder Osmasie, deren vier Tore sowohl auf die Stadt als auch auf einen Innenhof gerichtet sind, wohnen jeweils 1000 Menschen. Die Osmasie ist aber nicht nur Wohnort, sondern auch sozioökonomische Einheit; da es kein Privateigentum gibt, arbeitet man in jeder Einheit gemeinsam, wobei die Früchte der Arbeit im öffentlichen Speicher aufbewahrt werden, so daß eine gleichmäßige Verteilung garantiert ist; die Stadt ist zentriert auf den viereckigen Sonnenpalast mit je zwölf Eingängen, in dem der Herrscher residiert; der Palast befindet sich in der Mitte des Hauptplatzes, auf den die schnurgeraden Straßen einmünden. Ziel der städtebaulichen Konstruktion ist das Wohlbefinden der Bewohner; darum finden sich überall Brunnen und schattenspendende Bäume und Pflanzen nicht nur entlang der Straßen, sondern auch in den Innenhöfen; ein geniales Wasserkanalsystem soll sowohl für Sauberkeit als auch für die Bewässerung der Pflanzen dienen — die Idee der Gartenstadt wird so hier angesprochen. Die Hauptstadt steht aber nicht allein da; nach ihrem Modell sind — ähnlich wie bei Thomas Morus — alle anderen Städte des Reiches konzipiert. W i r können hier nicht eingehend auf das Städtebild der zahlreichen anderen Utopien der Aufklärung eingehen, die sehr schön in Bronislaw Baczkos Werk Lumières de l'utopie 55 dargestellt werden. N u r hinweisen können wir auf die Relation du royaume de Félicie (1727) des Marquis de Lassay, wo die Hauptstadt Leliopolis dem zeitgenössischen Paris gleicht, die Häuser aber gleichmäßiger, die Straßen »wie mit dem Lineal gezogen« erscheinen; die Regelmäßigkeit ist aber hier keineswegs total; hinter den geraden Fronten gibt es privilegierte Paläste, was auch der Gesellschaftsordnung entspricht, innerhalb derer der Adel seine Privilegien beibehält, wo die Luxusproduktion zum Wohlstand aller beitragen soll; die Stadt ist zum Land hin offen und nicht mehr durch eine Mauer abgeschlossen; dies ist nicht der Fall in de Listonais Utopie Le Voyageur philosophe (1761), der in seiner Mondstadt Selenopolis die Regelmäßigkeit des quadratischen Grundrisses durch Plätze, Springbrunnen, Obelisken und den berechneten Wechsel von Wohnhäusern und öffentlichen Bauten vor der Gefahr der 54

Zitiert bei R. Trousson, op. cit., p. 110.

55

Bonislaw Baczko, Lumières de l'utopie. (Paris, 1978), p. 283-304.

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Eintönigkeit zu retten versucht; selbst beim Observatorium ist jede runde oder ovale Linienführung vermieden. Rechteck, Quadrat und Kubus — und nicht Kreis und Kugel — entsprechen nach diesem Plan dem Zustand des Friedens, der Sicherheit und der Ruhe. Die Hygiene — mittels Wasserleitung und Kanalisation, aber auch durch die Auslagerung von Schlachthäusern und Friedhöfen — spielt wie bei Vairasse eine wichtige Rolle; ein Beleg dafür, wie die utopischen Städte als Gegenbilder zu den wirklichen Metropolen des Zeitalters erdacht waren. Besondere Beachtung verdient indes Morellys Code de la Nature (1754), nach Hans Günter Funke »das vielleicht radikalste Werk der utopischen Literatur« 56 . Für Morelly muß sich eine rationale soziale Ordnung nach den unveränderlichen Gesetzen der Natur richten: er konzipiert die Gesellschaft als eine A r t Maschine 57 ; die Welt der Moral und die Gesellschaft gehorchen denselben Gesetzen wie der Makrokosmos — Gesetzmäßigkeiten, die gerade von Newton offengelegt wurden und die die Denker des 18. Jahrhunderts in Bann schlugen. Die gesellschaftliche Entwicklung ist für Morelly ähnlich wie für Rousseau ein Niedergang als Abweichung von einem positiven Naturzustand. I m Unterschied zu Rousseau betont aber Morelly die konstitutiv soziale Natur des Menschen, dessen Bedürfnisse immer die Realisierungsmöglichkeiten überstiegen und der darum der Hilfe der anderen bedürfe. I m Gegensatz zum Verfasser des Discours sur l'inégalité sieht Morelly auch nicht in Kunst und Wissenschaft Gründe für die Pervertierung des Naturzustandes, sondern allein in der Instaurierung des Privateigentums, die notwendigerweise Gewaltausübung mit sich bringe. N u r durch eine Gesetzgebung, die wieder den Gesetzen der Natur entspreche, könne die Menschheit zu ihrer Bestimmung zurückfinden. Morelly entwirft darum i m vierten Teil seines Code de la Nature ein sehr detailliertes Gesetzprojekt, das das ideale Gemeinwesen konstituieren sollte — »un Modèle de législation conforme aux intentions de la Nature«; wenn er sich auch bewußt ist, daß dieses Projekt nicht sogleich realisierbar ist — » [ • • • ] i l n'est malheureusement que trop vrai qu'il serait comme impossible, de nos jours, de former une pareille République« 58 — , so glaubt er doch, daß die Gesellschaft sich unaufhaltsam in Richtung eines optimaleren Zustandes — eines »point fixe ¿¿intégrité «59 — entwickelt. Über

56 H.-G. Funke, op. cit., p. 575. Z u Morelly siehe R. Trousson, op., cit., p. 148-150, Denise Leduc-Fayette, »Morelly métaphysicien du communisme«, p. 227-233, in: Le discours utopique. Colloque de Cerisy (Paris, 1978); N. Wagner, »Morelly — Deschamps: divergences, convergences«, R.H.L.F., Bd. 78 (Julliet-Août 1978), n° 4, p. 566-579; Charles Rihs, Les Philosophes utopistes. (Paris, 1970), p. 147-205. 57 »Tout est compassé, tout est pesé, tout est prévu dans le merveilleux automate de la société.« Morelly, Code de la Nature ou le véritable esprit des lois. Ed. G. Chinard, 1950, p. 169. 58 59

Ibidem, p. 285.

Ibidem, p. 252; siehe dazu auch Ch. Rihs, op. cit., p. 178: »Morelly était convaincu de l'exellence des lois exposées dans le Code de la Nature et de leur application possible. I l est de

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Morellys Idealstaat wölben sich als unverrückbares Ganzes drei Grundgesetze, die nicht modifiziert werden dürfen und von denen alle anderen abgeleitet werden; zunächst einmal wird der Gemeinbesitz aller Güter statuiert; das zweite Grundgesetz garantiert die Deckung der Bedürfnisse des Menschen mittels sozialstaatlicher Maßnahmen. I m Gegenzug dazu ist der Bürger von Morellys Idealstaat verpflichtet, nach Maßgabe seiner Kräfte zum Gesamtwohl beizutragen. V o n diesen Grundgesetzen werden auch präzise Vorschriften (des »lois édiles«) abgeleitet, die den Städtebau regeln. Grundzelle der Gesellschaft für Morelly ist die Familie; jedes Familienoberhaupt erhält so auch politische Funktionen übertragen; eine festgelegte Anzahl von Familien bildet einen Stamm (tribu) , mehrere Stämme eine Stadt (cité), mehrere Städte eine Provinz; die Größenzahlen sind festgelegt; Maßzahl sind immer Gruppen von zehn oder hundert — was an die Organisation des Incareiches erinnert, so wie sie von Garcilaso de la Vega überliefert wurde. Den Mittelpunkt der Stadt Morellys bildet ein großer öffentlicher Platz, an dem Läden und öffentliche Versammlungsräume liegen; in einer zweiten Zone befinden sich Wohnquartiere, die von gleicher Größe sind und durch Straßen leicht zugänglich gemacht werden sollen; jeder Stamm besitzt ein eigenes Viertel, jede Familie eine geräumige und bequeme Wohnung. Bei Erweiterungen darf die regelmäßige Anlage nicht gestört werden. I n einiger Entfernung von der Wohnzone befinden sich in Galerien die Werkstätten der Arbeiter. A m Rande dieser Zone weist Morelly den Wohn- und Wirtschaftsbauten der Landwirtschaft ihren Platz zu, wobei alle Bürger eine gewisse Zeit in der Landwirtschaft tätig sein müssen; an einem angenehmen Ort außerhalb der Stadt situiert der Autor Altersheim und Krankenhaus; am verlassensten Ort ist das Gefängnis vorgesehen. Morelly hat, so bemerkt Gerhard Strauß zu Recht, »als erster Baugesetze i m Rahmen einer Utopie entwickelt. Seine Stadtvorstellung basiert, nicht minder erstmalig, auf der Vorstellung v o m ewigen Frieden. Mauern und andere Kriegseinrichtungen bleiben deshalb außerhalb der Erörterung« 6 0 . Morelly hat aber auch nicht wie Morus Gartenanlagen für die Bürger seiner Stadt vorgesehen, aber auch ebenso wenig ein zentrales Bauwerk wie etwa Campanella, was wiederum der politischen Struktur seines Staates entspricht, in dem alle Macht beim Volk liegt und der oberste Herrscher bloß Befugnisse eines Beamten besitzt, wobei die Grundgesetze auch v o m Volk nicht modifiziert werden dürfen. Der Grad der Realisierbarkeit scheint in dieser Utopie, die vor allem von einer ökonomischen Ordnung bestimmt wird, viel größer als in früheren Entwürfen.

tous les utopistes du X V I I I e siècle celui qui a développé le plus complètement et avec le plus de clarté les principes d'une cité communautaire«. 60

G. Strauß, art. cit., p. 562.

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Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts werden auch — das ist das Erstaunliche — die Projekte der Architekten — etwa Laugier in seinem Essai sur l'architecture (1753) oder Blondels Cours d' architecture (1771) — durch die utopischen Entwürfe beeinflußt, die realisierbarer werden; die Architekten betrachten nun ebenfalls die Stadt als ein Ganzes und konzipieren den urbanistischen E n t w u r f in Funktion adäquater sozialer Strukturen. Dieses Bedürfnis nach einer neuen urbanistischen Konzeption drückte etwa P. Patte aus, wenn er bemerkte: »l'on a vu sans cesse les objets en maçon, tandis qu'il eût fallu les envisager en Philosophe« 61 . Die Architekten intendieren jedoch eine Reform der bestehenden Stadt und entwerfen nicht — wie die Utopisten — eine neue Stadt. Diese beiden Gedankenstränge — der Reformgedanke der Architekten und das Projekt der idealen Stadt der Utopisten — konvergieren in Louis Sébastien Merciers Werk L'an 2440 (1771), der als erster die ideale Stadt nicht mehr auf einer ferner Insel, sondern i m Paris des 25. Jahrhunderts situiert. Merciers Werk bildet so — wie Raymond Trousson schreibt — innerhalb der Geschichte der Utopie eine kopernikanische Wende, »da i n diesem Werk erstmals das Imaginäre nicht mehr neben das Reale gestellt wird, um so die Zukunft aus der Gegenwart heraus zu formen, und da erstmals auf das freie Spiel der magischen Substitution verzichtet wird, um so die Zukunft den Gesetzen entsprechend zu gestalten« 62 . Die Energie der eschatologischen Idee wandelte sich hier i m Zeichen des Fortschrittsmythos der Aufklärung in eine »säkularisierte Teleologie« 63 ; die Utopie gab dabei auch ihren Inselcharakter auf, da bei Mercier die ganze Menschheit von der Veränderung erfaßt wird. Welches Bild wird nun hier v o m Paris des 25. Jahrhunderts entworfen? Zunächst einmal scheinen die konkreten Vorschläge der Städtebauer und Utopisten des 18. Jahrhundert verwirklicht zu sein: bessere Hygiene, bessere Verkehrsverhältnisse, gesicherte Wasserzufuhr, Verlagerung von Spitälern und Friedhöfen an den Stadtrand. Besonderes Augenmerk widmet Mercier dem Bereich am rechten Seineufer, wo er einen großen Platz für öffentliche Feste zwischen Tuilerien und Louvre-Palast vorsieht sowie einen Tempel der Gerechtigkeit. Der andere konkrete Punkt von Paris, der erwähnt wird, ist Montmatre, der denjenigen vorbehalten ist, die sich der Kunst oder der Wissenschaft widmen und die dort unter dem Schatten der Bäume die Stimme der Natur und der Wahrheit vernehmen sollen. Das kulturelle und das politisch-religiöse Zentrum sind so herausgehoben und auch innerhalb der Pariser Stadtgeographie lokalisierbar; dies ist aber für das restliche Stadtgebiet keineswegs der Fall; hier handelt es sich um einen abstrakten Raum mit fiktionaler Architektur, die nicht so sehr urbanistische Gegebenheiten reformieren als vielmehr Baukörper entwerfen will, 61

Zitiert nach B. Baczko, op. cit., p. 308.

62

Raymond Trousson, »Utopie, Geschichte, Fortschritt. Das fahr 2440«, Utopieforschung, , Bd. 3 (Stuttgart, 1982), p. 21. 63

Ibidem, p. 21.

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die »un livre de morale« bilden; so wird etwa der Reihe der Königsstatuen auf dem Pont neuf moralischer Vorbildcharakter zugeschrieben; als struktuierendes Element dienen vor allem die großen Plätze, die vor wichtigen öffentlichen Gebäuden situiert werden, um dadurch zu manifestieren, daß das Volk Herr der Institutionen ist — dies auch eine kritische Note gegenüber der Verlagerung des Königspalastes nach Versailles 64 ; den städtebaulichen Strukturen kommt so immer wieder Zeichencharakter zu, so daß die Architektur als Ganzes zu einer lesbaren Botschaft w i r d 6 5 . Die Fusion von Utopie und Reformgedanke gelingt jedoch, wie Baczko schreibt, Mercier nicht 6 6 , denn sein Paris des 25. Jahrhunderts ist eher eine Rekonstruktion denn eine Weiterführung der bestehenden Stadt. Gerade weil er sich nur punktuell am realen Paris orientiert, muß er auf das traditionelle Arsenal der urbanistischen Formen der Utopien zurückgreifen, wie das von Ouellet und Vachon sehr schön herausgearbeitet wurde 6 7 . So evozieren die häufig erwähnten Straßenkreuzungen das Bild des geometrisch geordneten Raumes. Symmetrie wird auch durch die vielmalige Vierergliederung geschaffen; es ist von den vier Vierteln der Stadt die Rede, von vier Theatersälen in den vier Stadtvierteln, von den vier Portalen des Tempels, von den vier Rädern, die den Schatzkasten des Königs tragen, von den vier immensen Säulen der Bibliothek; das Bild des Kreises und der Sphäre kommt sehr oft vor (Gewölbe, Kronen, Amphitheater); der Kreis impliziert die Zentrierung auf einen Mittelpunkt: Denkmäler und Paläste befinden sich stets in der Mitte der Plätze; sowohl Kreis als auch Quadrat sind, wie wir gesehen haben, symbolisch gebräuchliche Formen. Doch geht

64 Siehe dazu S. Giedion: »Der Gedanke, die Natur zu meistern, forcer la nature , faszinierte den K ö n i g ganz besonders. L u d w i g X I V . haßte die engen Straßen von Paris. Das Mißfallen an großen Städten war tatsächlich überall eines der Merkmale des Absolutismus im Barock [. . . ] Jedenfalls aber beschäftigten Versailles und die Idee, eine neuartige, von der Stadt unbehinderte Lebensform zu schaffen, L u d w i g X I V . leidenschaftlich über mehr als dreißig Jahre — und dies trotz der Tatsache, daß es für einen regierenden Monarchen ein beispielloses Verhalten war, seine Residenzstadt zu verlassen.« S. Giedion, Raum, Zeit, Architektur (Ravensburg, 1965), p. 108. 65 Siehe dazu G. Confurius: »Die besondere Sprache der Architektur wurde in der Aufklärung identifiziert als eine, die unmittelbar zu den Augen spricht. Die Bedeutung dieser optischen Sprache wurde deshalb so hoch eingeschätzt, weil man [. . . ] vermutete, daß alle fehlende soziale Übereinstimmung letztlich eine Frage der Rezeption sei und daß die Menschen vernünftigen Vorschlägen und Entscheidungen unweigerlich zustimmen müßten, wenn sie nur sähen, wie die Dinge wirklich liegen. Die Architektur sollte ein hervorragendes Mittel zur Herstellung v o n Konsens darstellen und zur vernünftigen Ordnung der Dinge i m Raum.« G. Confurius, »Bücher und Bauten«, Aspekte (1981), p. 471. 66 67

B. Baczko, op. cit., p. 324.

René Ouellet/Hélène Vachon, »La présentation de Paris dans L'an 2440 de J.-S. Mercier ou les métamorphoses du cercle radieux«, p. 83-90, in: La ville au XVIII e siècle (Aix-en-Provence, 1975).

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diesen nun i m Zeitalter der Aufklärung jeder transzendentale Symbolwert ab; sie sind bloß mehr geometrische Figuren, die das Bedürfnis nach einer rationalen Strukturierung des städtischen Raumes übersetzen 68 . Neben dem Bild des Kreises findet sich aber in L'an 2440 auch dasjenige der Stufenleiter: »nous ne sommes guère qu'à la moitié de l'échelle« (232); das Bild eines aufsteigenden Weges mit Anfang und Ende scheint i m Widerspruch zur Kreisform zu sein, die weder Anfang noch Ende kennt. Ouellet und Vachon sprechen von einer kosmischen Totalisation der zyklischen Zeit (durch die Figur des Kreises) und der progressiven Zeit (durch das Bild der Stufenleiter) 69 . Ich würde aber meinen, daß Mercier darum immer wieder auf die Kreisform zurückgreift, weil bei ihm ein lineares Zeitbewußtsein i m Vollsinn des Wortes noch nicht ausgebildet ist; seine Zeitvorstellung besteht nur aus zwei Zeitpunkten: 18. Jahrhundert — 2440/jetzt — früher; zwei zeitliche Schnitte werden gegenübergestellt; der Prozeß der Entwicklung vom einen zum anderen Zustand kommt nicht ins Bild 7 0 . Nach dieser Darstellung eines partialen Aspektes der Utopienproduktion von der Renaissance bis zur Aufklärung seien hier einige thesenartige Schlußfolgerungen formuliert, die bewußt nicht auf eine persönliche Wertung verzichten: 1. Utopisches Denken zeugt v o m menschlichen Bemühen, einen als mangelhaft oder skandalös empfundenen gesellschaftlichen Ist-Zustand — der vor allem durch Ungleichheit bestimmt wird — i m Hinblick auf das Modell eines besseren oder des besten Gemeinwesens zu transzendieren. 2. Die regelmäßige gesamtstädtische Anlage trachtet zumeist, eine kosmologische oder soziale Ordnung in den Raum zu übersetzen; sie übernimmt dabei bisweilen auch eine pädagogische Funktion. Die regelmäßige Anlage scheint dem Bedürfnis nach einer Ordnung des Ganzen zu entsprechen, der sich der einzelne unterwerfen soll. Die utopische Stadt ist so die räumliche Entsprechung der Grundbewegung des Gemeinwesens, in dem das Gemeinwohl Priorität vor dem 68 So J. Décobert: »Comment mieux dire que la figure se dépouille de toute valeur transcendentale, pour devenir simple géométrie, et que la forme importe peu, dès lors qu'elle assure dans la réflexion urbanistique, le triomphe de la mesure et de la rationalité.« (J. Décobert, »Pour une lecture de la ville en société utopique. Urbanisme et pédagogie«, in: Modèles et moyens de la réflexion politique au XVIII e siècle, t. 2. Villeneuve-d'Ascq, 1978, p. 326). 69 70

Art.

cit., p. 90.

Siehe dazu H. Jaumann, Nachwort zu L.-S. Mercier Das fahr 2440 (Frankfurt, 1982): »Mercier zeigt sich nicht in der Lage, den erzählerischen Erfordernissen der Fortschrittsutopie v o l l gerecht zu werden. Der Entwicklungsprozeß bleibt weitgehend ausgespart; er w i r d aus der Rückschau durch die Nennung einiger weniger Ereignisse [. . .] lediglich angedeutet. Das dynamische Moment des Fortschrittsprinzips w i r d zwar begrifflich ins Spiel gebracht, literarisch jedoch nur in Ansätzen bewältigt«.

Claude-Nicolas Ledoux: Die Idealstadt von Chaux aus der Vogelperspektive. Aus Cl.-N. Ledoux, L'Architecture considérée sous le rapport de l'art, des moeurs et de la législation. Pans 1804, Tf. 15.

Stadt in den utopischen Entwürfen von Filarete bis L.-S. Mercier

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Einzelwohl beansprucht. Es fragt sich hier allerdings, ob hier noch ein Gleichgewicht zwischen Gemeinwohl und Einzelwohl existiert. 3. Die perfekte geometrische Form ist eine Abstraktion des Kosmos; sie isoliert Gesetzmäßigkeiten und vernachlässigt Abweichungen; sie impliziert nur das Richtmaß und nicht die Unregelmäßigkeiten, nur die Symmetrie und nicht die Variationen. Die perfekte geometrische Form trägt weder den natürlichen Gegebenheiten des Geländes noch den Bedürfnissen der Menschen Rechnung, erfüllt aber zweifellos eine ästhetische Funktion (vgl. Abbildung nach S. 250)71. Die Übertragung mathematischer Gesetzmäßigkeiten vom physikalischen auf den sozialen Bereich zeugt schließlich von einem mechanistisch-reduktionistischen Denken, das die Komplexität des Menschen und der menschlichen Gesellschaft zu wenig beachtet72. 71 Liegt hier schon eine Ästhetisierung des Politischen vor, die später den Faschismus kennzeichnen wird? Die Frage läßt sich vielleicht beantworten mit dem Hinweis auf die beiden Revolutionsarchitekten Ledoux und Boullée, die an die utopische Tradition des 18. Jahrhunderts anknüpfen. »Boullée und Ledoux geben auf eine grundlegende Frage entgegengesetzte Antworten. E i n Bild ist gemacht, um gesehen zu werden, ist aber Architektur in erster Linie zum Sehen oder zum Wohnen bestimmt? Die Frage bleibt offen. Ledoux begreift die Architektur in >ihrem Zusammenhang mit der Kunstmit den Sitten und der Gesetzgebung^ Boullée entwirft Archetypen [. . .] Die Architektur Ledoux' entspricht dem menschlichen Maß, diejenige Boullées dem Maßstab des Universums. Ledoux nimmt häufig auf örtliche Besonderheiten Rücksicht, auf die Lage und sogar die Verkehrsverhältnisse [ . . . ] Wie die Erbauer der gotischen Kathedralen, strebt [ Boullée] kosmische Architektur an. Aber er sucht keine göttliche Ordnung darzustellen; er w i l l den Raum vor Augen führen, der >weder Anfang noch Ende< hat. Die Wölbung des Kenotaphs für Newton wetteifert mit dem gestirnten Himmel [ . . . ] « (Jean Claude Lemagny, p. 17-18, in: Revolutionsarchitektur. Boullée , Ledoux , Lequeu. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 1970). Boullée scheint hier den utopischen Projekten näher zu stehen, andererseits berief sich gerade der Nazi-Architekt Albert Speer auf Boullées megalomane Projekte. Gibt es eine direkte Linie von den Utopien über die Revolutionsarchitektur zum Nazi-Klassizismus? »Eine eigentümliche Kahlheit, Kargheit, eine Vorliebe für Schmucklosigkeit lassen spüren«, so schreibt A d o l f Max Vogt, »daß bei Boullées >Größe< andere Motive mit i m Spiel sein müssen als bei dem, was w i r hier als Nazi-Klassizismus bezeichnen [ . . . ] Die GrößenBesessenheit oder Megalomanie ist für das 18. Jahrhundert einzig und allein legitimiert durch das naturwissenschaftliche Argument. Boullée ist [. . . ] genauso sehr wie seine Zeitgenossen entscheidend beeindruckt von der Unermeßlichkeit des Weltalls. Gerade weil die Naturforscher der Generation von Descartes bis Leibnitz und Newton das Weltall zu messen begannen, wurde seine Unermeßlichkeit das Problem, das nun verarbeitet und bewältigt werden mußte [. . . ] Der Größenanspruch bei Boullée ist eindeutig kosmologisch oder genauer: astronomisch-naturwissenschaftlich begründet. Er ist eine Spiegelung der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften, und er hat mit politischer >Größe< gar nichts zu tun . . .« {Ibidem, p. 19-20). 72 Siehe dazu schon Mably i m 18. Jahrhundert: »II est bizarre de vouloir comparer l'équilibre physique à l'équilibre moral, ou de penser que leur effet est le même. Les forces et les contre-forces qui agissent dans le monde de l'homme n'ont pas cette simplicité que l'on constate dans l'univers. A u lieu du système de Newton, il vaudrait mieux les comparer aux

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Joseph Jurt

4. Endlich fragt sich, ob nicht die Idee der Perfektion als solche unmenschlich sei, ob nicht, um mit Ferdinand Seibt zu sprechen, in der Utopie wie in der AntiUtopie »das historische, das erfahrbare Maß menschlicher Unvollkommenheiten geopfert [werde], die jahrtausende alte Grundlage christlicher Anthropologie« 73.

tourbillons de Descartes« (zitiert aus G. Chinards Einleitung zu Morellys Code de la Nature, p. 143). 73 F. Seibt, art. cit., p. 272. Erst nach der Fertigstellung unserer Arbeit bekamen w i r Kenntnis von folgenden zwei Aufsätzen, die ebenfalls für das behandelte Thema relevant sind: Inken Nowald, »Stadt und Utopie — Beispiele aus der Vergangenheit«, p. 15-48 in Stadt und Utopie. Modelle idealer Gemeinschaften. Berlin, Fröhlich & Kaufmann, 1982 sowie Christian W. Thomsen, »Städtephantasien«, du, N r . 2,1985. p. 12-67. Für die Beschaffung der Bilder bin ich Herrn Professor J. Langner und Herrn Professor H. Wischermann sehr zu Dank verpflichtet.

FERNÄNDEZ DE LIZARDI Literarische Utopie an der Schwelle der Unabhängigkeit Mexikos (mit Bemerkungen zu modernen lateinamerikanischen Utopien) Von Hinrich Hudde

Crearj gobernar una ciudad que no figure en los mapas, que se sustraiga a los horrores de la Epoca Alejo Carpentier x

Lateinamerika ist, in mancher Hinsicht, ein bevorzugter Bereich für Utopien.2 Man kann sogar so weit gehen, Südamerika den Kontinent der Utopie zu nennen, denn irgendwo vor der Küste »jener Neuen Welt« liegt die Insel Utopia. So deutet Thomas Morus an, fasziniert von den großen Entdeckungsreisen seiner Zeit.3 Zwar verrät der Name Utopia, den man am genauesten wohl mit >Nichtortien< wiedergibt, daß man das Land vergeblich suchen wird; aber das subtile Spiel mit Geographie und Phantasie hat manche Utopiesucher nicht davon abhalten können, in jener Neuen Welt einen Idealstaat zu finden oder errichten zu wollen. Spielerisch-ironisch leistet Morus selbst diesen Tendenzen Vorschub, indem er vom Aufbruchswunsch eines eifrigen, dabei allerdings gleich die Bischofswürde anstrebenden Missionars nach Utopia fabuliert. 4 1

»Eine Stadt schaffen und lenken, die nicht auf den Karten verzeichnet ist, die sich den Schrecken der Gegenwart entzieht.« Alejo Carpentier, Lospasosperdidos, in Obras completas, Bd. 2, Mexico, 1983, S. 322 (Kap. 25). 2 Überarbeitete Fassung eines Vortrags in der Utopiesektion der Regensburger Generalversammlung der Görres-Gesellschaft (1984), 1985 i m Erlanger LateinamerikaK o l l o q u i u m gehalten, in anderer Form 1979 in der Freien Universität Berlin vorgetragen. Ich danke allen Diskussionsteilnehmern, vor allem, für wesentliche Anregungen, meinen (z.T. ehemaligen) Erlanger Kollegen Volker Glab, K u r t Grötsch, Prof. Dr. Titus Heydenreich, Ingeborg Nickel, Prof. D r . Jürgen Schneider und Prof. D r . Harald WentzlaffEggebert. 3 Thomas More, Utopia, hg. v. E. Surtz und J. H . Hexter, New Häven und London 1965, S. 40 und 42; Morus schreibt an Petrus Aegidius: »Nam neque nobis in mentem uenit quaerere, neque illi (d. h. Raphael Hythlodaeus, der von Utopia erzählt) dicere, qua in parte noui illius orbis Vtopia sita sit.« 4

Ebenda S. 42 (unmittelbar anschließend).

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Hinrich Hudde

Die Missionsutopie wird denn auch zu einem Grundtyp der in Lateinamerika situierten Utopie. Gerade in Mexiko, das im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht, gab es bereits im 16. Jahrhundert Versuche, das Zusammenleben bekehrter Indianer nach dem Vorbild der Utopia zu gestalten: der Bischof und Renaissancegelehrte Vasco de Quiroga (1470-1565) wirkte jahrzehntelang in Indianersiedlungen; er bezieht sich explizit auf Piaton und Morus. Manche der von ihm geschaffenen Einrichtungen haben bis ins 19. Jahrhundert hinein bestanden.5 Ihren Höhepunkt erreicht diese Missionsutopie mit dem sogenannten Jesuitenstaat im Paraguay des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese Ansiedlungen bekehrter, vorher nomadisierender Indianer wurden und werden in Europa intensiv diskutiert. Die erstaunlichen Leistungen der Gesellschaft Jesu wurden zwar heftig kritisiert, aber auch bewundert und gelobt, sogar von manchen der (natürlich keineswegs jesuitenfreundlichen) Aufklärer des 18. Jahrhunderts. 6 Von damals bis heute wird der >Jesuitenstaat< immer wieder zur realisierten Utopie verklärt (oder auch: als verwirklichte Zwangsutopie skeptisch beurteilt). 7 Neben diesem Typus der Missionsutopie gibt es den der Indianer Utopie: die Suche nach utopienahen Verhältnissen unter den Ureinwohnern der Neuen Welt. Das märchenhaft reiche Traumland Eldorado wird mitunter auch mit utopischen Zügen ausgestattet — so vor allem von Voltaire, der seinem von der Vorsehung bös umhergetriebenen Candide immerhin einmal ein Land der Zufriedenheit vor Augen führt — in Südamerika (Candide ou l'Optimisme, 1759, Kap. 17 f.). Voltaire stellt übrigens sein aufgeklärt wirkendes Indianerreich polemisch neben und gegen den scharf attackierten >JesuitenstaatUtopia< de Tomás Moro en la Nueva España y otros estudios, Mexiko 1937 (und andere Arbeiten von Zavala). 6 S. dazu v o m Verfasser, »>Les plus heureux des hommes?< Z u m Urteil französischer Autoren des 18. Jahrhunderts über den >Jesuitenstaat< in Paraguay«, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, Bd. 8 (1984), S. 223-235; dort auch Bemerkungen und Literaturangaben zu Voltaires Eldorado. 7 S. dazu v o m Verfasser, »Der >Jesuitenstaat< — eine verwirklichte Utopie? Über eine alte Vorstellung und ihr Fortwirken bis in die Gegenwart«, Lateinamerika-Studien, Bd. 14 (1984), S. 43-64 (der Band enthält mehrere weitere Beiträge zum >JesuitenstaatZukunftsmensch< besitzt eine frühe Ausgabe der Utopia; das Latein der Humanisten ist zur Weltsprache geworden; ein Zitat aus Quevedos Einleitung zur spanischen Utopia- Ausgibt steht als M o t t o über der Erzählung u. v.a. m.

Fernndez de Lizardi

267

So stellen denn lateinamerikanische Utopien doch wohl eher Ausnahmen dar, oft schmerzhaft-skeptische Zeugnisse einer Suche nach Wegen und Auswegen, ohne Zukunftsgewißheit, ohne ausgeprägte Hoffnung. Titel wie Die verlorenen Spuren und »Utopie eines müden Mannes« sind dafür charakteristisch. Die Gestaltungen literarischer Utopien im frühen 19. Jahrhundert und in den letzten Jahrzehnten — die hier zusammengestellte Liste kann gewiß und sollte erweitert werden 30 — zeigen aber letztlich doch, daß der Geist der Utopie, zumindest gelegentlich, auch in Lateinamerika weht. Utopie ist ein weltweites Phänomen.

30

Z u denken wäre beispielsweise an lateinamerikanische Gestaltungen des EldoradoMythos.

DIE ENTSTEHUNG DER ANTIUTOPIE I M SPÄTVIKTORIANISCHEN ENGLAND UND IHRE GENETISCHEN VORAUSSETZUNGEN Von Hein^j Joachim Müllenbrock

Die negative Utopie oder Antiutopie beziehungsweise Gegenutopie — es erscheint mir müßig, mich an dem Streit über die Angemessenheit der Terminologie zu beteiligen1, und wenn ich meistens den Begriff Antiutopie wähle, dann, weil er eingebürgert und handlich ist — ist wohl diejenige literarische Gattung, die unser Unbehagen über moderne gesellschaftliche Entwicklungen am eindrucksvollsten artikuliert hat. Huxley und Orwell sind der ganzen Welt geläufige Namen. Diese Spielart der Utopie entstand im spätviktorianischen England. Das Faktum ist natürlich bestens bekannt. Weniger gut steht es um unsere genauere Kenntnis dieses Vorgangs, denn eine halbwegs systematische Untersuchung des faszinierenden und zukunftsträchtigen literarischen Phänomens wurde bislang nicht unternommen. Im allgemeinen begnügt man sich mit vagen Angaben zum Auftreten der Antiutopie 2 , erwähnt Bulwer-Lyttons The Coming Race als frühes Beispiel und geht gleich zu Wells' antiutopischen Werken am Ende des 19. Jahrhunderts über3. Bis auf die teilweise Ausnahme I. F. Clarkes4 fragt man nicht nach der zeitlichen Struktur des Entstehungsvorganges5 und nach seinen genetischen Bedingungen6. Es soll im folgenden versucht werden, das Aufkommen der Antiutopie in Klärung dieser Fragen zu beleuchten.

1

Verwiesen sei trotzdem auf Hans Ulrich Seeber, »Bemerkungen zum Begriff >GegenutopieA. H.SomaMokshagratia gratis data et superdeditaBrave New World< and >The TempestBrave New WorldKontrast, Parallelismus und Ambivalenz< bereits in Huxleys Namengebung der Figuren zu beobachten sind.

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Hubertus Schulte Herbrüggen

und häßlich gewordene Frau und — das ist für die neue Welt das kurioseste — deren leiblichen Sohn John, der sich zum Gelächter aller später als der Sohn des Anstaltsdirektors herausstellt. Hieran schließt sich die Handlungsgruppe der für ihre Vertreter konfliktreichen Begegnungen der »alten« Neuen Welt mit der »neuen« Alten Welt an, die sich in die Einzelfäden ihrer jeweils unterschiedlichen Reaktionen aufdröseln lässt. Linda stirbt sehr bald an einem Dauerrausch infolge zu häufigen Konsums der als tranquilli^er überall zur Verfügung stehenden Droge Sorna. Ihr Sohn John steht in einem inneren Konflikt. Geistig fühlt er sich in der Welt der Werke Shakespeares zu Hause, die er daheim in Amerika kennengelernt hatte. In London wird er als »Mr Savage« (hier ergibt sich ein Ausblick auf Rousseaus bon sauvage) zu einer gesellschaftlichen Attraktion. Von den seelenlosen Segnungen der ihm neuen Welt, ihrem nackten Uilitarismus, ihrer hemmungslosen Genußsucht, vor allem aber von ihrer Sinnleere fühlt er sich so abgestoßen, daß er einen Aufstand auslöst, der jedoch schnell von der Weltpolizei niedergeworfen wird. Der dialektische Versuch des »Residierenden Weltkontrolleurs« (falls man da engl. Controller so übersetzen darf), »den Wilden« zum Konformismus zu bewegen, mißlingt. John zieht sich zu Selbstkasteiungen als Einsiedler zurück und greift, als er vor zudringlichen Gaffern und Reportern auch dort keine Ruhe findet, zum Strick. So wenig, wie diese heterogenen Teilhandlungen Sinnträger des Romanganzen sein können, so wenig vermögen es die diese Handlung tragenden Figuren, unter denen es bezeichnenderweise keine auf die gesamte Handlung bezogene Zentralfigur gibt. Der Außenseiter, Mr Savage, ist noch der »rundeste« Charakter, wohingegen seine Mitfiguren allesamt nur auf ihre jeweiligen Funktionen in der neuen Welt hin konditioniert sind und somit flach bleiben. Stellt man sich die Frage, was diesen Roman denn zum utopischen Roman, allgemeiner, was denn eigentlich die Utopie zur Utopie mache, so erkennt man, warum der wahre Kristallisationskern literarischer Gestaltung hier weder im Bereich der Handlungsfolge, noch auf dem Gebiet der Figurendarstellung und -entwicklung zu suchen ist, sondern in jenem Bezirk, den Wolfgang Kayser als »Raum«, englische Kritiker als setting bezeichnen, also in der Darstellung jener Umwelt, in der Handlung und Figuren spielen. Das sind in der Utopie jene selektiv auf wenige Dimensionen zugeschnittenen politisch-sozialen Bedingungen, in die der Autor seine Figuren dann stellt. So wird auch verständlich, weshalb Huxley der Ausbreitung der hier zu äußerster Perfektion getriebenen öffentlichen Umwelt rund ein Viertel des Gesamtumfangs seines Romans gleich zu Anfang einräumt und sie dem Leser durch die Mentorfigur des Direktors beim Gang durch sein Institut so eingehend erläutern läßt. Was ist das für eine Umwelt in der Brave New World? Wissenschaftliche Forschung und industrielle Anwendung haben ein Höchstmaß an Perfektion erreicht, das auf der Selektion physiologisch-eugenischer Prokreationsverfahren

Formen und Entwicklungslinien der Utopie bei Aldous Huxley

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und ihrer medizintechnischen Massenproduktion beruht. In der staatlichen >Brutund Zuchtanstalt< wird aus extrahierten menschlichem Semen und Ova der gesamte Nachwuchsbedarf des Weltstaates in vitro gezeugt und, unter exakt berechneter Zugabe förderlicher Nährlösungen oder — für die niedrigen Kasten — hemmender Toxine auf dem Fließband so ausgebrütet, daß keineswegs eine uniforme Einheitsserie, sondern eine eugenisch von Alpha-Plus bis EpsilonMinus reich gestaffelte Angebotspalette ausgestoßen (»entkorkt«) wird, die den unterschiedlichsten Anforderungen des späteren Berufs wie der weltstaatlichen Sozialfunktion gerecht wird. Die berufliche oder sozialfunktionale »Konditionierung« beginnt bereits in foetalem Zustand, so daß die geforderten Fähigkeiten gleichsam »angeboren« sind. Durch die willkürliche, hormonell induzierte Eiteilung im sog. »Bokanowsky-Verfahren« können dabei als eineiige Vie/linge gleich ganze, sich homogen verhaltende industrielle Arbeitsteams vom Band laufen, und dank des »Podnapschen-Prozesses« der beschleunigten Eireifung lassen sich innerhalb zweier Jahre mindestens 150 reife Ova produzieren. Nach der »Entkorkung«, die hier ausnahmslos an die Stelle der natürlichen Geburt getreten ist, beginnt nach den Methoden des »Neo-Pawlowismus«, der Hypnopädie und des zu ungehemmter Promiskuität anhaltenden koedukativen Drills die staatliche Erziehung des Nachwuchses zu Kastenstolz, hohem Konsum und automatischer Wunschbefriedigung. In Anlehnung an die Trias der französischen Revolution hat sich der Weltstaat das Motto gegeben: Community, Identity, Stability. Die utopisch-prästabilierte Harmonie der Community wird durch den einen Weltstaat, die Identity durch die rationelle Fließbandprokreation und biochemische Manipulation des Embryos, die Stability durch Konditionierung und Pädagogik gewährleistet. Jegliches Gewissen, jede ethische Lebenshaltung, jede individuelle Kreativität ist ausgemerzt. Bei Bedarf steht die Droge Sorna jederzeit zur Verfügung, und im seltenen Falle der »Deviation« verschafft die Weltpolizei dem Motto Geltung. Huxley siedelt seine Utopie im Jahre »632 nach Ford« an, wobei sein Jahr »0« 1908, das Jahr der ersten Fließbandproduktion von Henry Fords Tin Li%%y ist. Das ergäbe nach christlicher Zeitrechnung das Jahr 2540. Huxley rückt seine Utopie damit, wie in der Moderne üblich, 12 als »Zukunftsroman« in eine zeitliche Isolation; dennoch handelt es sich um die in einem Zerrspiegel grotesk entstellte und perspektivisch verlängerte Gegenwart. 13 Versucht man, die utopische 12 Louis Sébastien Mercier gilt als Erster, der seine Utopie, L'An 2440 (1770), in die zeitliche Ferner der Zukunft verlegte. Vgl. Reinhard Kosellek, »Die Verzeitlichung der Utopie« i m Wilhelm Vosskamp (ed.), Utopieforschung: Interdisziplinäre Untersuchungen %ur Neuheit, Stuttgart, 1982, I I I , l f f . 13 Siehe hierzu Huxleys Bemerkungen in seinem Brief v o m 13. Oktober 1965 an Anita Loos, Letters (ed. G. Smith), 534, N r . 508. Vgl. auch P. Firchow, a.a.O., 125 und W. Erzgräber, (1980) a.a.O., 134.

19 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 27. Bd.

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Botschaft der Brave New World auf die knappest mögliche Formel zu bringen, dann wäre es vielleicht diese: trotz —oder wegen— eines Maximums an wissenschaftlichtechnischem und politischem Fortschritt scheitert das wertbewußte Individuum zwangsläufig an einer Gesellschaftsordnung, deren Bürger ausschließlich noch Funktionäre dieses Systems sind. Huxley zählt damit zu den frühen Warnern vor der Entwicklung bestimmter, in der damaligen Gegenwart bereits angelegter Zeittendenzen. Ape and Essence 14

Auch dieser Titel ist Shakespeare entnommen.15 Die Handlung ist dürftig, aber verschlungen. Das Werk beginnt mit einer ungewöhnlich lang ausgesponnenen zweigliedrigen Rahmengeschichte, deren erster Teil in Form einer Ich-Erzählung in das Hollywood von 1948 führt, »am Tage des Attentats auf Gandhi«. Dort lesen zwei Impresarios das Drehbuch eines Ape and Essence betitelten Films auf, das ein Lastwagen von seiner übervollen Ladung auf dem Wege zur Müllverbrennung verloren hat. Der zweite Teil des Rahmens berichtet vom vergeblichen Versuch der beiden, den — inzwischen verstorbenen — Drehbuch-Autor aufzusuchen. Das vorgeblich »gefundene« Drehbuch, das er, wie er schreibt, »so abdruckt, wie er es gefunden hat, ohne Änderung und ohne Kommentar« (S. 23), bildet die eigentliche Binnenerzählung seines Romans. Von »Erzählung« kann man hier freilich nur eingeschränkt reden, da weite Teile des Drehbuchs gattungsgemäß die Form des dramatischen Dialogs aufweisen, wozu man auch die immer wieder eingeschobenen Kommentare eine Narrators rechnen muß, weil auch sie in der direkten (allerdings publikumsbezogenen) Rede einer der »Rollen« des Stückes stehen.16 In ihrer Ausweisung als Narrator-Text wird indes bereits das Bedürfnis des Autors nach epischer Hilfestellung und Abstützung des offenbar auch selbst als nicht hinlänglich befundenen Dialogs der Figuren des Filmdramas deutlich. Unübersehbar wird diese Zuflucht zur — vom Drehbuch her gesehen — gattungsfremden Epik in den zahllosen berichtend-erzählenden Phasen. So, als könne der Autor sich nicht entschließen, zur Sache zu kommen, beginnt auch das Drehbuch seinerseits mit weiteren Rahmenhandlungen, die man fast digressions nennen möchte. Nach einem filmisch effektvollen Sonnenaufgang über dem Meer spielt das erste Bild in einem Affenkino, auf dessen Leinwand eine 14 Erstausgabe: London, 1949; Collected Edition, London, 1951 (nach dieser Ausgabe w i r d zitiert). 15 16

Measure For Measure (ed. P. Alexander), I I , ii, 120.

A. H. war sich der Gattungsproblematik sehr w o h l bewußt, wie sein zeitgenössischer Brief an Philip Wylie v o m 9. Juni 1949 zeigt, Letters, 600, Nr. 568.

Formen und Entwicklungslinien der Utopie bei Aldous Huxley

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tiefdekolletierte Paviansängerin mit Michael Faraday als ihrem Kettenhund zum Applaus eines elegaten Affenpublikums einen obszönen Detumenszenz-Schlager singt. Seit Mores Utopia mit ihren menschen verschlingenden Schafen ist die satirische Tierfabel und ihr Rollentausch zwischen Mensch und Tier auch in der Utopie geläufig. 17 Durch Huxley erhält sie einen zusätzlich pikanten Aspekt dadurch, daß er die Evolutionstheorie Darwins, die sein Großvater Thomas Henry so vehement verteidigt hatte, durch seine »Herrenaffen« und »Menschensklaven« hier auf den Köpft stellt. Die von Huxley satirisierte Kapitulation des Geistes vor dem Physischen, bei der — nach dem hl. Augustinus — der Mensch das Bessere zwar erkennt, aber dennoch das Schlechtere tut, schafft geradezu eine Art Yeats-artiger Situation, in der »The best lack of conviction, while the worst / Are füll of passionate intensity«. Dies treibt ihn zu der hier unüberhörbaren Mahnung, daß physische (militärische) Gewalt keine politischen Probleme löse.18 Das zweite Rahmenbild zeigt, wie von Neuseeland aus, das, als zu unbedeutend, von den weltweiten Atomverwüstungen des Dritten Weltkriegs verschont blieb, eine Expedition von Naturwissenschaftlern per Segelschiff zur Wiederentdeckung des nach 150 Jahren nun allmählich wieder strahlenfrei werdenden Kalifornien unterwegs ist. Im dritten Rahmenbild blendet die Kamera zurück in die Affenwelt, in der Pavianmarschälle zweier rivalisierender Affennationen ihre Kettenhunde Einstein, Pasteur und Faraday im Namen der »nationalen Ehre« und »für eine bessere Zukunft« mit Peitschenhieben dazu zwingen, ihre jeweilige Kriegstechnik in Betrieb zu setzen, bis: »ein erstickter Schrei den Tod, durch Selbstmord, der Wissenschaften des 20. Jahrhunderts ankündigt« (S. 39). Erst nach diesem gewaltigen Arrangement an Vorspannen erhalten wir Zutritt zum Eigentlichen, der Welt Kaliforniens im Jahre 2108. Die eigentliche Binnenhandlung ist wiederum sehr dürftig: der Chefbotaniker der Expedition, Dr Poole, wird in den Ruinen von Los Angeles von dort hausenden Halbwilden gefangengenommen. Da er verspricht, seine botanischen Kenntnisse zur Verbesserung ihrer Ernteergebnisse einzusetzen, wird er nicht lebendig begraben. Unter den Einwohnern lernt er das erblich nur weniger deformierte Mädchen Loola kennen. Die beiden verlieben sich und fliehen in eine ungewisse Zukunft zu den hots über die Berge, wobei das Rahmenmotiv noch einmal kurz aufleuchtet, als sie ihre hartgekochten Eier am Grabstein des Drehbuchautors aufschlagen. Huxley bedient sich hier im Grunde des typischen Western Setting , einschließlich des dort üblichen /^»/¿¿r-Konflikts zwischen weißen und »wilden« Amerikanern. 17 18

Vgl. hierzu W. Erzgräber, (1980), 31 f.

Vgl. George Woodcock in James Vinsons Novelists and Prose Writers the English Language, 2), London, 1979, 619 f. 19*

(Great Writers of

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Wie für den utopischen Roman allgemein charakteristisch, treten auch hier die schwache Handlung und die über bloße Statistenrollen nicht hinauskommenden Figuren (einschließlich Poole und Loola) als Träger des eigentlichen Sinns des Ganzen hinter den utopischen Raum der politisch-sozialen Umwelt zurück. Dessen wesentliche Konturen lassen sich etwa wie folgt umreißen: »After the Thing has happened«, dem Atomkrieg, ist Kalifornien auch 2108 immer noch durch Kernwaffen, hierdurch ausgelöste Erdbeben und langanhaltende Radioaktivität verwüstet. In Los Angeles, »einer Stadt von zweieinhalb Millionen Skeletten«, fristen die durch Strahlenschäden deformierten Einwohner ein notdürftiges Hordenleben. Sie ernähren sich von primitiv gezogenem Reis und bekleiden sich aus Leichenfledderei. Von einer Priesterkaste tyrannisiert, huldigen sie dem Satanskult. Zum Auftakt der alljährlichen »Satanalien« in Form kollektiver Promiskuität werden alle über einen bestimmten Grad hinaus deformierten Babies von den Priestern Belial als Blutopfer dargebracht. Während des ganzen übrigen Jahres gilt das auf Stoffetzen aufgemalte strikte »NO«, mit dem sie ihre Scham bedecken. »NO« ist das einzige Wort, das sie lesen können. Auf die strukturellen Schwächen des episch-dramatischen Zwitters Ape and Essence haben wir bereits hingewiesen. Der schwachen Struktur entsprechen auch gehaltliche Mängel, sowohl auf der Ebene der literarisch-fiktiven Integration wie der philosophischen Logik. Auf der strukturellen Ebene bedarf es für die Vermittlung der Botschaft des Autors, der homo sapiens folge, von »Nationalismus« und »Fortschritt« getrieben, anstelle seiner Vernunft lieber den »äffischen«, niederen Trieben in den Abgrund, keines derart umfangreichen und heterogenen Rahmens. Zum anderen verrät der ständige Rekurs auf fiktional nur mühsam oder kaum integrierte und fast direkt zu nennende Autor-Einschübe (Narratorfigur, epische Dialogpassagen, lange Zentralmonologe u.a. des Arch-Vicars, einer an den World Controller erinnernden Figur) deutlich die kreative Schwäche des Autors, seine Ideen auch gattungsgerecht in einen dramatischen Dialog handelnder Figuren umzusetzen. Auf philosophischer Ebene bringt Huxley mit seiner im Satanskult und im Worte »NO« sich symbolisierenden Verabsolutierung des Negativen als Strukturprinzip sich um die Glaubwürdigkeit. Seine utopische Weltordnung fußt auf einem in seinen Werken schon früh begegnenden dualistischen Weltbild, das in seinem Extremismus den religiösen Dualismus des Mazdaismus und des Manichäismus (in denen das gute Prinzip letztlich doch obsiegt) noch übertrifft. Sie ist unglaubwürdig, weil sich nun einmal vom absoluten Nein aus keine Welt aufbauen läßt. Der Gegensatz zur positiven Ordnung ist nicht eine negative Ordnung, sondern das Chaos. Dann aber ist nicht einzusehen, warum die Menschen sich dort bemühen sollten, die Ernte zu verbessern, zu kochen, sich zu bekleiden, ja überhaupt zu leben. Die absolute Negation wird von Huxley auch nur verbal behauptet, er kann sie aber nicht konsequent durchführen. Dies ist

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ablesbar etwa an den vorgeführten Formen des Satanskultes, die formal photographischen Negativabzügen der christichen Liturgie (»Glory to Belial in the Lowest«) und Kathechetik gleichen (»Wozu ist der Mensch auf Erden? . . .«). Auf die hier siedelnden religionsgeschichtlichen, anthropologischen und philosophischen Probleme kann ich nur andeutend hinweisen. Die Quintessenz von Ape and Essence scheint zu sein: die damals jüngste wissenschaftlich-technische Errungenschaft der Menschheit, der Atomkrieg, einmal in Gang gesetzt, löscht mit der Zivilisation auch alle Kultur aus. Er ist so teuflisch, daß die übriggebliebenen Reste der Gesellschaft folgerichtig den Teufel anbeten. Nur dem Einzelnen, der sich die Liebe bewahrt, mag noch eine Flucht möglich sein — ins Ungewisse. Island 19

In der Bedeutung des In-sich-Abgeschlossenen, ringsum abgetrennten Ortes innerhalb einer andersgearteten Umgebung, stellt bereits der Titel »Insel« geradezu den Inbegriff räumlicher Isolation dar. Huxley greift damit die alte, schon von More 20 und Bacon21 her bekannte und auf antiken Vorbildern beruhende Insel-Tradition der Utopie wieder auf. Pala, den Namen seiner Insel, läßt er im Titel ebenso unerwähnt, wie er darin bewußt auch den Artikel vermeidet. 22 Er folgt damit den allgemein zur Generalisation und Abstraktion hinneigenden, allein die Prinzipien des »besten Staates« herausstellenden Gestaltunstraditionen der literarischen Utopie. 23 Im gesamten Roman spielt die Handlung auf zwei Ebenen, die nicht, wie etwa die Herren- und Dienerhandlung im Drama Shakespeares durch unterschiedliche soziale Klassen, sondern vielmehr durch ihre Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur »Insel« bestimmt werden. Beide Ebenen sind natürlich fiktiv, spielen jedoch in der Gegenwart. Der Einfachheit halber seien sie hier als »Weltebene« und »Inselebene« bezeichnet. Beide Ebenen begegnen bereits gleich zu Anfang im doppelt gefügten Rahmen des Romans. Das aus Märchen bekannte Motiv sprechender Vögel bildet den äußeren Rahmen, in dem indische Mynah Birds mit ihrem immer wiederkehren19 1956, also noch vor Brave New World Revisited begonnen. Inzwischen brannte sein Haus ab. H. konnte nur sein Manuskript Island retten. Erstausgabe: London, 1962; zitiert w i r d nach der Ausgabe der Granada Press, London, 1976, repr. 1982. Z u Island vgl. Lothar Fietz, Menschenbild und Romanstruktur in A. H.s Ideenromanen, Tübingen, 1969, 170 ff.

20 Utopia (1516). 21

New Atlantis

22

Letters of A. H962f,

23

(um 1624). Nr. 941.

Vgl. B. Krishnan, Aspects of Structure: Uppsala, 1977.

Techniques and Quest in A. H.'s Major Novels,

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den Ruf attention und caruna (hindi: »Mitleid«) das erste und letzte Wort haben und darin gleichsam mottohaft das auf »Verstehen« und »Mitleid« begründete Wesen dieser glücklichen Insel ausdrücken. Den inneren Rahmen bildet das traditionelle Schiffbruchmotiv. Er verschafft auch hier den Zutritt zu der im Indischen Ozean gelegenen Insel: Will Farnaby, ein in seinem Privatleben gescheiterter zynischer Londoner Journalist, wird an die Gestade dieser Insel gespült und dort von Kindern aufgefunden und errettet. Welt- und Inselebene schieben sich hier ein erstes Mal übereinander. In klassisch-utopischer Weise ist die eigentliche Binnenhandlung auf Wills Kennenlernen der utopischen Inselwelt reduziert. Huxley bedient sich hierzu des üblichen Mentormotivs, doch teilt er »den Mentor« hier auf eine ganze Reihe von Inselfiguren auf, die den verletzten Neuankömmling am Krankenbett durch ihre vorbildliche Hilfe, durch Schilderungen ihrer Einrichtungen oder durch Kontrastierung von schlechter Welt und mustergültiger Insel informieren oder ihm, als er soeben humpeln kann, durch Mitnehmen vor Ort oder in ihre Familien die segensreichen Errungenschaften ihrer Welt vorführen. Dies ist im Grunde schon die ganze Inselhandlung. Dem Eindringling haftet jedoch nach Herkunft wie Vorgeschichte die (Außen-)Welt wie ein Nessushemd an. Sein Chef daheim ist Lord Aldehyde, für den Huxley in ungemein kunstvoller Weise einen sprechenden Namen gewählt hat: Aldehyd ist »eine sehr reaktionsfähige Verbindung«, »Zwischenprodukt zahlreicher Synthesen«; häufigste Darstellungsart: durch Dehydrierung primärer Alkohole. Lord Aldehyde, einer der ganz großen britischen Industriemagnaten, hatte ihn beauftragt, unter dem Deckmantel journalistischer Tätigkeit die reichen Ölvorkommen Palas für eine Erschließung durch seine Gesellschaft zu gewinnen. Hierzu solle er jene Kontakte nutzen, die der Chef bereits zuvor mit der Inselfürstin angeknüpft hatte. Die schlichte, typisch utopische »Inselhandlung« des Nur-Kennenlernens wird jedoch an weiteren vier Stellen überlagert von der »Welthandlung« jener Aufträge Wills. Gleich zu Beginn stellt sich heraus, daß einer der Krankenträger, die ihn zur Rettungsstation gebracht hatten, in Wahrheit kein Geringerer ist, als der junge Radscha selbst, der in wenigen Tagen die Regierungsgewalt auf der Insel übernehmen soll. Mit seiner Mutter, der derzeitigen Regentin, besucht er Will am Krankenbett, wo sie ihm ihre ehrgeizigen, von der Inselbevölkerung abgelehnten politischen und wirtschaftlichen Pläne eröffnen. Sie bringen Will dazu, seinen Chef brieflich zu einem überhöhten Angebot für die Ölausbeute auf der Insel zu bewegen. Hier deutet sich bereits ein doppelter Konflikt an: einmal zwischen »Welt« und »Insel«, zum anderen als innerer Bruch der utopischen Harmonie. Ein weiteres Mal stoßen Welt- und Inselhandlung gegeneinander, als die Fürstin Will auffordert, seinem Brief telegraphisch Nachdruck zu verleihen. Auch diesmal fügt sich Will noch ihren Wünschen, doch nimmt ihn Schritt für

Formen und Entwicklungslinien der Utopie bei Aldous Huxley

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Schritt das Wesen der glücklichen Insel immer mehr gefangen. Beim nächsten Einbruch der Welthandlung widersetzt er sich ihrem Ansinnen und ergreift die Partei der freundlichen Inselbewohner. Mit dem letzten störenden Einbruch ist bereits der abschließende Rahmen wieder erreicht: durch eine Invasion des Militärdiktators des Nachbarstaates in Absprache mit der Fürstin geht die Eigenständigkeit Palas unter. Dem wiederholten Sich-Überlagern beider Handlungsebenen (»Welt« und »Insel«) entsprechen die Figuren, von denen neben Will auch der junge Radscha und seine Mutter durch ihre Außenkontakte teilhaben an beiden Ebenen. Alle anderen Figuren der Weltebene lernt der Leser nur indirekt, aus den Erinnerungen oder Erzählungen Wills, kennen; sie bleiben blaß wie vergilbte Photos in einem Album. Vergleichsweise lebendiger dagegen ist eine Reihe der Inselfiguren gezeichnet, obwohl die meisten von ihnen wiederum reduziert sind auf ihre Mentorenrolle: sobald sie ihr Informationssprüchlein aufgesagt haben, verschwinden sie für immer. Auftretend als Mann, Frau oder Kind, als Jugendlicher, Vollblütiger oder Greis, als Vertreter verschiedener Berufe, verkörpern sie zugleich Musterexemplare der körperlich wie seelisch unserer dekadenten und korrupten Welt überlegenen Spezies der dortigen Menschheit. Für die Utopie gattungstypisch hebt Huxley bei ihrer Zeichnung dabei nicht auf individuelle Charaktergestaltung, sondern auf das Allgemein-Abstrakte und auf ihre Funktion für die Darstellung ihrer idealen Inselwelt ab. Was ist nun das Eigentümliche dieses utopischen Eilandes, in das der Schiffbrüchige hier eingeführt wird und das ihn mehr und mehr in seinen Bann zieht? Wir hatten bereits von der durch die Insellage gegebenen utopischen Isolation gesprochen. Sie wird politisch abgesichert durch eine Selektion förderliche Kräfte, so der konstitutionellen Monarchie auf der Grundlag einer auf Vernunft und Aufgeschlossenheit beruhenden Politik und einer Wirtschaft, die im Inneren nahezu autark ist, im Außenhandel auf leichtem Exportüberschuß beruht und alle nicht lebensnotwendigen Importe unterläßt, insgesamt also von weiser Bescheidenheit und zurückhaltendem Zufriedensein getragen wird. Die Selektion staatstragender Kräfte bestimmt auch alle anderen Gebiete des öffentlichen und privaten Lebens, in dem Huxley, wie er mehrfach ausführt, »das Beste aus beiden Welten«, den »Geist« des Abendlandes und die »Seele« des Orients, fiktional zu idealer Harmonie verschmilzt. Unter den vorgetragenen Ideen begegnen dabei viele alte Bekannte aus seinen anderen Werken: völlige Freiheit der Liebesbeziehungen von Jugend an, Aufhebung strikter Familienbande zugunsten freiwilliger Zusammenschlüsse, Wahrung eugenischer Prinzipien bei der Partnerwahl, freie Verhütungsmittel, Tiefkühl-Sammenbanken und künstliche Befruchtung, Wahrung eines nur leicht anwachsenden Bevölkerungsstandes, sorgsame Kindererziehung an Leib und Seele im Einklang mit der buddhistischen Landesreligion, fortschrittliche Forschung und Technik unter

296

Hubertus Schulte Herbrüggen

strikter Selbstbeschränkung, freier Zugang aller zu einer bewußtseinsverändernden Droge, Moksha genannt.24 Mit einem Wort, die Idealität seiner Welt beruht auf dem kunstvoll erzielten Gleichgewicht aus awareness, dem vollen Verstehen und Sich-Hingeben an das Hier und Jetzt, und aus detachment, einer auf Mitfühlen beruhenden Selbstlosigkeit, also auf attention und caruna, das die Vögel immerzu von den Bäumen rufen. Der Panoramabogen des utopischen Lebens schließt sich, als Will, nachdem er eingeführt wurde in die natürliche und künstliche Zeugung neuen Lebens, schließlich auch Zeuge wird bei der palanesischen Kunst des Sterbens und der es begleitenden zuwendenden Hilfe durch die Angehörigen. Faßt man zusammen, so ist es viel Intellektualismus und wenig Staat oder, anders ausgedrückt, und das kann bei Huxley nicht wundern, die Reduktion des utopischen »besten Staates« auf die Bereicherung der Intellektualität des Individuums. Wie in der Utopie überhaupt, so war auch in Huxleys Island die Einführung der Kontaktfigur (und, in ihr, des Lesers) in die Idealwelt eigentlicher Kern seiner literarischen Darstellung. Das aus der einführenden Mentorsituation gegebene pädagogisch-didaktische Moment in der Präsentation der Idealwelt ist gattungsgegeben und nicht zu vermeiden. Bei Huxley allerdings dominieren (hierin seinem Zeitgenossen H. G. Wells nicht unähnlich), die nicht enden-wollenden langatmigen Belehrungen des moralisierenden Essayisten über die Erzählkunst des Romanciers. Über weite Strecken hinweg trägt dieses Werk Traktatcharakter, wobei die Schwarz-Weiß-Zeichnung in der Verteilung der Noten zwischen gutem Orient und schlechtem Westen wiederholt die Grenzen zur Penetranz überschreitet und das erneute Auswälzen alter, teils von ihm vielfach vorgetragener Ideen die Faszination des Lesers ebenfalls nicht zu beflügeln vermag. Den Schluß der Inselhandlung bildet die detaillierte Schilderung der zeitlichen, akustischen und visuellen Eindrücke Wills nach dem Genuß der auf Pala üblichen Moksha-Droge. Als er von seinem psychedelischen trip wieder erwacht, ist die schöne Inselidealität unter einer militärischen Invasion von außen zerbrochen. Huxleys Island erschien 1962. Ein Jahr später verabreichte seine zweite Frau Laura ihm auf seinen Wunsch hin 100 Einheiten LSD. Von dieser Tour ist Aldous Huxley nicht mehr erwacht. 25 Es war der Tag des Attentats auf John F. Kennedy.

24

Vgl. Moksha: Writings and Psychedelics and the Visionary

Michael Horowitz and Cynthia Palmer, 1976). 2 s Sybille Beford, a.a.O., I I , 358.

Experience (1953-1963)

(edd.

KLEINE BEITRÄGE ZWISCHEN ORIENT UND OKZIDENT: ZUR VORGESCHICHTE VON »BERIA UND SIMRA«.* Von Erika Timm

Vor etwa zehn Jahren habe ich in dieser Zeitschrift »Beria und Simra«, eine jiddische Erzählung des 16. Jahrhunderts, herausgegeben und kommentiert. 1 Da ich inzwischen über den Ursprung der Erzählung zu neuen Erkenntnissen gekommen bin, möchte ich diese gern wiederum hier vorstellen. Das Problem ist schnell skizziert. In ihrer Kleinstruktur ist die Erzählung so voll von jüdischen Motiven, wie man das von einer >Maißeunsere Weisen sagenjüdischen Spielmann< ausdrücklich die Verquickung ganz heterogener Elemente zu. Lehrreich ist demgegenüber ein Zugeständnis von Erik. Kurz nachdem er 1926 seine Monographie über die altjiddische Roman- und Novellenliteratur veröf j fentlicht hatte, teilte ihm Moses Gaster brieflich mit, er glaube einen hebräischen Druck unserer Erzählung aus Konstantinopel vom Anfang des 16. Jahrhunderts zu besitzen; doch könne er ihn nicht finden und wolle sich in dieser Sache nicht gern auf sein Gedächtnis verlassen. Daraufhin konzedierte Erik 1928 in seiner Geschichte der altjiddischen Literatur, eine solche Vorstufe der Erzählung sei durchaus möglich. Implizit kennzeichnete er damit die europäischen Bezüge als vielleicht illusorisch. Ich habe 1975 dieselbe Auffassung im einzelnen zu begründen versucht.4 Nun hat sich allerdings Gasters Exemplar nicht wieder angefunden. Auch Ya'aris Spezialbibliographie von 1967 zum hebräischen Buchdruck in Konstantinopel verzeichnet unsere Erzählung nicht.5 Das ist zwar bei der hohen Verlustquote solcher Drucke nicht erstaunlich; doch wird man unter diesen Umständen nicht unbedingt auf Gasters Datumsangabe bauen dürfen, zumal er gelegentlich auch sonst zu Frühdatierungen neigte. Aber selbst wenn er sich hinsichtlich der bloßen Existenz des Konstantinopolitaner Drucks geirrt haben sollte, bliebe von Interesse, daß ein so eminenter Kenner orientalisch-okzidentalischer Literaturbeziehungen intuitiv die Entstehung unserer Erzählung in ein islamisches statt in ein christliches Land setzte. In der Tat zeigt nun schon der flüchtigste Überblick über den islamischen Bereich, daß dort der Nährboden für unsere Erzählung weit günstiger war als im Westen. Die arabische Literatur kultivierte neben anderen Formen der Liebesdichtung seit dem 8. Jahrhundert in zahlreichen Varianten das Thema der durch ein äußeres Hindernis unerfüllt bleibenden Liebe, die schließlich im psychisch 3 Ich urteile nach einer Photokopie der einzigen (und unvollständigen) Handschrift Trinity College F. 12. 45 (nach 1513); vgl. dazu Sara Zfatman, [Yiddish Narrative Prose from Its Beginnings to >Shivhei ha-Besht< (1504 -1814). An Annotated Bibliography ] (Jerusalem, 1985, hebräisch), S. 12 f. 4

Die bibliographischen Angaben zur Quellenforschung bei T i m m (wie Anm. 1), Anm. 4 - 6 , 1 5 , 23, 25, 83,129; Diskussion ebd. S. 56 ff., 66 ff.,69 (Anm. 83), 71 f. (mit Anm. 90), 76 (Anm. 110), 81 f., 89 (Anm. 148); zu Gaster und Erik ebd. S. 83 f. 5

Avraham Ya'ari, »Ha-defus ha-'ivri be-Kusta«, Supplement zu Kirjat (Jerusalem, 1967).

Sefer

42

Zwischen Orient und Okzident

299

bedingten Tod gipfelt. Anfangs waren die Träger der Handlung häufig Südaraber aus dem Stamm 'Udhra; Heinrich Heine hat sie bei uns bekannt gemacht als »jene Asra, welche sterben, wenn sie lieben«. Doch im 9. und 10. Jahrhundert überflügelte der Nordaraber Madschnun mit seiner Geliebten Leila alle anderen Gestalten an Beliebtheit, und von da an bis heute sind diese beiden nach einhelliger Meinung der Orientalisten das berühmteste Liebespaar der islamischen Welt geblieben.6 Ich habe das Paar schon vor zehn Jahren in einer Anmerkung erwähnt, hatte mich aber damals mit dem Stoff noch nicht genügend auseinandergesetzt.7 Inzwischen bin ich überzeugt, daß die Beria-und-Simra-Handlung als jüdischer Gegenentwurf zur Leila-und-Madschnun-Handlung konzipiert worden ist. In diesem Sinne möchte ich zuerst auf die räumlich-zeitliche Verbreitung des orientalischen Stoffes etwas genauer eingehen, dann das Bestehen eines genetischen Zusammenhangs aufweisen und abschließend die jüdische Erzählung kurz als Gegenentwurf zu der orientalischen würdigen.

• Im arabischen Sprachgebiet kursiert der Stoff seit rund einem Jahrtausend in unterschiedlichen Formen, meist als Sammlung von Liedern, die Madschnun zugeschrieben werden und durch eine Prosabiographie verbunden sind. Die beliebteste derartige Version geht unter dem Namen eines Abü Bakr al-Wälibl, scheint spätestens im 12. Jahrhundert entstanden zu sein, hat eine Länge von etwa 70 Druckseiten und liegt in mindestens 18 Handschriften und 15 orientalischen Drucken vor. 8 Seinen dichterischen Höhepunkt erreichte der Stoff aber in persischer Sprache, nämlich 1188 in Nizamis Epos Leila und Madschnun. Dessen ungeheurer Erfolg läßt sich daraus ablesen, daß in unserem Jahrhundert persische Gelehrte dreißig Handschriften des 14. bis 17. Jahrhunderts für die erste kritische Ausgabe des Werkes heranzogen und zugleich vierzig persische Nachdichtungen — ebenfalls von etwa 1300 an — aufzählen konnten.9 6

I. J. Krackovskij, »Die Frühgeschichte der Erzählung von Macnün und Leilä in der arabischen Literatur« (deutsche Übersetzung von Helmut Ritter), Oriens 8 (1955), S. 1-50; Alessio Bombaci, »The History of Leylä and Mejnün«, in Leylä and Mejnün by Fu%üli, translated from the Turkish by Sofi H u r i (London, 1970), S. 9-111, hier 47-63; Rudolf Gelpke i m Nachwort zu seiner deutschen Übersetzung von Nizami, Leila und Madschnun. Der berühmteste Liebesroman des Morgenlandes (Zürich, 1963), S. 315. 7 T i m m (wie Anm. 1), A n m . 144. Mein damals eher negatives Urteil über einen möglichen Zusammenhang zwischen der Leila-und-Madschnun-Handlung und unserer Erzählung war hauptsächlich durch die Übersetzung von Rudolf Gelpke (wie A n m . 6) geprägt, in der unter anderem zwei entscheidende Szenen des Nizamischen Epos ausgelassen sind, weil der persische Herausgeber Dastgerdi sie für interpoliert hielt; vgl. unten Anm. 18. 8

Krackovskij (wie A n m . 6), passim, speziell S. 6 f.; Bombaci (wie A n m . 6).

300

Erika T i m m

Im türkischen Sprachgebiet war und ist der Stoff nicht minder bekannt als im persischen. Im frühen 14. Jahrhundert rezipierten ihn zwei der ältesten anatolischen Dichter noch in der bei den Arabern üblichen Form. 10 Dann geriet die türkische Literatur ganz unter den Einfluß der persischen Klassiker, und spätestens seit dem frühen 15. Jahrhundert galten Nizamis Dichtungen auf Jahrhunderte hinaus als unerreichte Muster des romantisch-epischen Stils.11 Das erste türkische Leila-und-Madschnun-Epos stammt aus dem Jahre 1479; das klassisch gewordene von Fuzuli (1535) ist bereits das achte.12 Die osmanischen Sultane, an der Spitze einer noch jungen Militärmacht stehend, aber bestrebt, vom ganzen Islam auch als geistige Führungsmacht anerkannt zu werden, förderten diese Bildungsliteratur in ostentativer Weise. Die meisten Sultane des 15. und 16. Jahrhunderts glaubten selbst wenigstens als Lyriker hervortreten zu sollen; Selim I. (gestorben 1520) dichtete seinen Diwan sogar auf persisch. Unter diesen Umständen sah bald auch die Beamtenschaft des Reiches ein Interesse für Versdichtung im persischen Stil als Voraussetzung für den Aufstieg an.13 Insgesamt dürfte Leila und Madschnun im frühen 16. Jahrhundert in Konstantinopel zu den berühmtesten literarischen Stoffen gehört haben, galt vielleicht schon als eine Art Allgemeingut, an dem sich zu versuchen jedem Ehrgeizigen freistand. 14 Darf man nun auch bei den Juden des Orients Bekanntschaft mit dem Stoff voraussetzen? Für das arabische Sprachgebiet — oder doch für größere Teile davon — darf man das wohl schon auf Grund der allgemeinen kulterellen Verhältnisse. Konkretere Indizien haben wir für das persische Sprachgebiet. Dort nennt im frühen 14. Jahrhundert bereits der erste Klassiker der jüdisch-persischen Literatur, Schahin von Schiras, ausdrücklich Nizami als sein stilistisches Vorbild. Zudem ist ein Schwesterwerk von Leila und Madschnun, Nizamis Chosrau und

9 10 11

Gelpke (wie Anm. 6), S. 315-320. Bombaci (wie A n m . 6), S. 62.

Franz Taeschner, »Die osmanische Literatur«, in Handbuch der Orientalistik Turkologie, hg. Berthold Spuler (Leiden-Köln, 1963), S. 270, 274, 277.

I 5.1

12 Gezählt sind dabei nur Werke aus dem osmanischen Machtbereich; Bombaci (wie A n m . 6) S. 84. 13

Taeschner (wie A n m . 11), S. 274, 279, 286 ff., 293 ff., 300. — Symptomatisch ist, daß z. B. Fuzuli außer dem Sultan etwa ein Dutzend seiner hohen Beamten andichtete; vgl. The Encyclopedia of Islam (New Edition, I I , Leiden, 1965), s. v. »Fudüll«. 14 Daß der Stoff allmählich auch beim einfachen V o l k beliebt wurde, erweist im Rückblick die Tatsache, daß er etwa seit dem 17. Jahrhundert zu den Standardthemen der türkischen Volksbücher, bis in die Gegenwart zu denen des Schattentheaters zählt; vgl. O t t o Spies, »Die türkische Volksliteratur«, in Handbuch der Orientalistik (wie A n m . 11), S. 406-10, 415.

Zwischen Orient und Okzident

301

Scbirin , auch in hebräischer Schrift, also in einer Transkription für die jüdischpersische Leserschaft, erhalten. So darf man angesichts der relativ ungünstigen Überlieferungsverhältnisse das Fehlen einer Transkription von Leila und Madschnun dem Zufall zuschreiben.15 Die Juden des türkischen Sprachgebiets schließlich könnten den Stoff — oder sogar schon ein judaisiertes Gegenstück zu dem Stoff — von ihren Glaubensgenossen im arabischen oder persischen Sprachgebiet kennengelernt haben. Wenn z. B. 1547 in Konstantinopel die Thora mit jüdisch-arabischer und jüdischpersischer Übersetzung gedruckt wurde, so darf man daraus schließen, daß eine Abnehmerschaft in Reichweite war und damit Information auch in Gegenrichtung fließen konnte.16 Doch hatte in Konstantinopel zumindest eine jüdische Oberschicht zu dem Stoff noch einfacheren Zugang durch ihre Kontakte mit dem Hof. Die Sultane hatten seit vor 1450 neben islamischen auch jüdische Leibärzte; später übertrugen sie sefardischen Vertrauten die Kontrolle über große Teile des Münz- und Steuerwesens sowie des Außenhandels; auch die Versorgung des Harems mit Gütern des gehobenen Bedarfs vertrauten sie meist einer Jüdin an; zweimal schließlich belehnten sie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts jüdische Freunde sogar mit einem Herzogtum. Offensichtlich kann diese jüdische Oberschicht nicht auf die Dauer in Unkenntnis der elementarsten literarischen Interessen des Hofes geblieben sein. Und charakteristischerweise sind uns eine ganze Reihe ihrer Mitglieder zugleich durch hebräisch-literarische Interessen bekannt: als Handschriftensammler oder Autoren, vor allem aber als Patrone von Autoren und Druckern. 17 15 Z u m ganzen Komplex vgl. Encyclopaedia Judaica, 16 Bde. (Jerusalem 1971 - 72), Artikel »Judeo-Persian Literature«; Jens P. Asmussen, »Classical N e w Persian Literature in JewishPersian Versions«, in Studies in Bibliography and Booklore (Cincinnati) 8 (1966), S. 44-53; Walter J. Fischel, »The Beginnings of Judeo-Persian Literature«, in Mélanges d'orientalisme offerts à Henri Massé (Teheran, 1963), S. 141-150; Wilhelm Bacher, Zwei jüdisch-persische Dichter (Straßburg, 1907), S. 26 und 73. 16 17

Ya'ari (wie A n m . 5), Nr. 143.

Z u m ganzen Komplex vgl. jetzt Salo W. Baron, A Social and Religious History of the Jews, Bd. 18 (2. Aufl., N e w York, 1983), passim (speziell S. 32, 35, 75 ff., 130 f., 470 zu den Ärzten; S. 96 ff., 142 zu den Herzögen; S. 132 ff. zur Haremsfaktorin; S. 75 f., 104 ff., 132, 145, 477 f. zu den hebräisch-literarischen Interessen dieser Schicht). Vgl. ferner in der Encyclopaedia Judaica (wie A n m . 15) vor allem die Artikel »Abenaes«, »Akrish«, »Almosnino (Moses)«, »Ashkenazi (Solomon)«, »Constantinople«, «Hamon«, »Istanbul«, »Kiera«, »Nasi (Gracia, Joseph)« und »Ottoman Empire« (16,1529 ff.). Daß das Konstantinopolitaner jüdische Kulturleben des 16. Jahrhunderts dann seinerseits in vielfältiger Weise — vor allem über Venedig — bis ins aschkenasische Gebiet ausstrahlte, ist unbestritten; zur Erzählliteratur sei hier nur exemplarisch daran erinnert, daß schon alle drei Texte des ältesten erhaltenen jiddischen Maißedrucks (Venedig, 1552) aus einer hebräischen Sammlung übersetzt sind, die in Venedig 1544 und vorher in Konstantinopel 1519 erschienen war

302

Erika T i m m

Insgesamt dürfte unsere These also in räumlich-zeitlicher Hinsicht ganz unbedenklich sein.

• Vergleichen wir nun die Handlungsabläufe einerseits des Nizamischen Epos18 — als der verbreitetsten und einflußreichsten Darstellung der Leila-undMadschnun-Handlung — und anderseits unserer Erzählung: 19 Nizami: Leila und Madschnun Der Titel lautet »Leila und Madschnun«; der weibliche Name steht also voran.

Beria und Simra Der Titel lautet in den Drucken »Maeße Beria ve-Simri« bzw. »-Simra«, in der Handschrift liest man statt eines Titels: »Maeße is geschehen! Aine his Beria, un' ainer his Simra.« Der weibliche Name stand also schon i m Archetyp voran.

I n die Handlung treten die beiden Haupt-

I n die Handlung treten die beiden Haupt-

personen aber in umgekehrter Reihenfolge

personen aber in umgekehrter Reihenfolge

ein. Qeis, einziger Sohn eines hochgeachte-

ein. Simra, einziger Sohn eines hochgeach-

ten arabischen Stammesfürsten, ist unge-

teten jüdischen Fürsten am Jerusalemer

wohnlich schön und zugleich intelligent. Er

Königshof, ist schön, klug und ein guter

w i r d von heftiger Liebe ergriffen zu der

>LernerBrief aus Safed< von 1579 oder kurz danach mit Erzählungen persischer Juden (Zfatman, ebd., S. 20 und 49); vgl. in diesem Zusammenhang ferner die Lebensgeschichte des Autors und Korrektors Jakob b. Isaak Luzzatto, der seine Kindheit in Safed verbrachte und 1580 in Basel seine aggadischapologetische Sammlung Kaftor-wa-Ferach veröffentlichte, die für das jiddische Maißebuch wichtig wurde (Encyclopaedia Judaica, Artikel »Luzzatto, Jacob«). 18 Kritische Ausgaben: Nizami Gandzavi, Lajli i Mad^nun, Kriticeskij tekst A . A. Alesker-zade i F. Babaeva, Moskva (Akad. Nauk Azerbajdzanskoj SSR), 1965; Gängjine-ye Häkim-e Ne^ami-e Gängjäwi, hg. Wahid Dastgerdi, Bd. 3: Leili o Mäjnun, 2. Aufl., Teheran 1333 H. ~ 1954. — Deutsch von Rudolf Gelpke (wie A n m . 6; folgt Dastgerdi); englisch von James Atkinson: Nazämi, LailiandMajnün, London, 1836. — Dastgerdi hatte, eine Aussage des Dichters über den Umfang seines Werkes sehr eigenwillig interpretierend, nach subjektiv-ästhetischen Kriterien etwa 1000 der 4650 Verse — darunter das letzte Treffen zwischen Leila und Madschnun und die Paradiesesvision — einem Interpolator des späten 14. Jahrhunderts zugeschrieben. Doch sind diese Verse in der Moskauer Ausgabe wieder enthalten und von Bombaci (wie Anm. 6), S. 64 f. und 337 f. mit durchschlagenden Gründen verteidigt worden. Für uns ist die Frage insofern zweitrangig, als auch laut Dastgerdi die handschriftliche Überlieferung seit etwa 1400 diese Verse enthält. 19 20

Ausgabe T i m m (wie A n m . 1).

Kursiv erscheinen narrative Zusammenhänge, die aus der jüdischen Tradition ableitbar sind.

Zwischen Orient und Okzident duinen aus einem Nachbarstamm.

303

Leila

von heftiger Liebe ergriffen zu der ebenfalls

erwidert seine Liebe. Doch die Umgebung

schönen und frommen Beria, der einzigen

w i r d aufmerksam; so können beide einan-

Tochter des Hohepriesters. Beria erwidert

der nur noch wenige Male sehen, bis Leilas

seine Liebe. Die Umgebung beginnt sich

Vater weitere Treffen unmöglich macht.

über Simra zu amüsieren; doch beide können sich unbemerkt Treue geloben und auch in der Folge gelegentlich treffen, wenn Berias Vater außer Haus ist.

Der junge Mann, von Schwermut und Schlaflosigkeit

erfaßt,

wird

zum

Dich-

Der junge Mann w i r d von Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit und Schwermut erfaßt.

ter und in dem Augen seiner Mitwelt zu

Sein Vater versucht zunächst, ihm seine

Madschnun, zum >Wahnsinnigem. Sein Va-

Leidenschaft auszureden, schickt dann aber

ter versucht zunächst, i h m seine Leiden-

vier angesehene Männer als Brautwerber zu

schaft auszureden, übernimmt dann aber

Berias Vater. Dieser verweigert in harter

mit ansehnlichem Gefolge die Rolle des

Form aus Familienstolz seine Zustimmung.

Brautwerbers. Leilas Vater, >ein harter und

Simras Vater fühlt sich gedemütigt und rät

stolzer MannGeschichte von Leila und MadschnunEuripusrealistisch< gestaltete, als authentischer Reisebericht ausgegebene Reiseutopie«1 nennt. Er arbeitet überzeugend Foignys Beziehung zu großen Autoren der Zeit wie Spinoza (S. 198, 252ff.) und Cyrano de Bergerac (S. 221 ff., 275ff.) und zu den Reiseberichten von Gonneville (S. 95) und Queiroz (S. 103) heraus. Er sieht jedoch nicht nur Foignys Abhängigkeit, sondern auch seine Originalität: . . . avec Foigny le voyage symbolique, disposant à la fois le voyage imaginaire par sa richesse philosophique et la description utopique par sa richesse narrative devient la projection de l'espace mental originel de l'auteur dans le vide romanesque [ . . . ] (S. 163).

Dieser utopische Roman ist ein typisches Beispiel dafür, wie neue Entdeckungen von Reisenden durch die dichterische Phantasie zu einer imaginären Welt verarbeitet werden, die Elemente des Realen mit Elementen des Phantastischen so verquickt, daß die Kritik am Weltbild und an der Gesellschaft des eigenen Landes zum Entwerfen denkbarer Gegenwelten beflügelt. Ronzeauds Deutung des Hermaphrodismus belegt, daß Foigny durch eine anfängliche Verfremdung zu einer symbolischen Stimmigkeit gelangt, die in sich völlig logisch und gerade dadurch utopisch ist. Foigny historisiert den philosophischen Mythos vom Hermaphroditen und projiziert ihn nach Australien, wo Sadeur, der wegen seiner Veranlagung in Europa ein >Monstrum< ist, wegen eben dieser Abnormität als einziger Europäer in die geschlossene Welt jenes Urvolkes eindringen kann. Sadeur macht dort einen Initiationsprozeß durch, an dessen Ende er einsehen muß, daß er durch seine Herkunft aus dem christlichen Europa geprägt und deshalb unfähig ist, in die Welt der ursprünglichen Naturvölker einzugehen. Dieser Pessimismus charakterisiert Foignys Utopie: 1

Studien %ur Reiseutopie der Frühaufklärung: 1982, S. 112.

Fontenelles >Histoire des AjoiensSymphilosophie< im Sinne Friedrich Schlegels» vorliege. (479) Tatsächlich läßt sich im Briefwechsel beobachten, wie Tieck, teils bewußt, teils unbewußt, Wackenrodersches Gedankengut übernimmt (ein kurioses Beispiel für letzteres geben die Überlegungen zum Erhabenen: S. 371, 372, 420); umgekehrt ist für Wackenroders Anteile eine Überarbeitung durch Tieck nicht auszuschließen. Dieser Sachlage entspricht die von G. Heinrich gewählte Textanordnung m. E. wesentlich besser als die neuerdings wieder von Martin Bollacher 19 vorgeschlagene Alternative, nach dem Vorbild von der Leyens die Anteile Tiecks als Anhang auszusondern. Bedauerlicherweise wurden allerdings Tiecks Äußerungen zur Entstehung der beiden Werke nicht aufgenommen, ja nicht einmal im Apparat erwähnt: die Vorrede zur Sammelausgabe von 1814, die Nachschrift zum 1. Teil des Sternbald und die Nachrede zur Sternbald-Ausgabe von 1843.

Für die Her^ensergießungen folgt der Text der von Oskar Walzel betreuten Einzelausgabe von 1921 mit der Begründung, Walzel hätten noch die Handschriften vorgelegen (480). Ich weiß nicht, woher Frau Heinrich das weiß — Walzels Vorwort läßt eher das Gegenteil vermuten. 20 Jedenfalls wurden in der Ausgabe von 1921 zwar weder Druck vorläge noch Editionsprinzipien nachgewiesen, aber offensichtlich Orthographie und Interpunktion überarbeitet. Ist somit schon die Entscheidung für die Walzel-Ausgabe als fragwürdig zu bezeichnen, so muß die Umsetzung unvertretbar genannt werden. Heinrich löst neun Absätze in fortlaufenden Text auf (Hanser 144,6; 144,12; 163,4; 184,8; 191,21; 202,8; 219,1; 219,33; 223,5). Statt die häufigen Hervorhebungen — eine Stileigenheit Wackenroders, die in den späteren Ausgaben stark reduziert worden ist — nach den Erstausgaben wieder herzustellen, sind sogar etliche bei Walzel noch vorhandene Sperrungen aufgehoben worden. Dazu treten Änderungen in Orthographie und Interpunktion sowie in der Stellung von Überschriften, Zitaten, Briefanreden und -Unterschriften. Für die Phantasien greift Heinrich abermals auf die fatalen Werke und Briefe von 1967 zurück, obwohl J. Minor schon 1886 eine zuverlässigere, am Erstdruck orientierte Ausgabe erstellt hat. Der Briefwechsel mit Tieck ist auf etwa seinen halben Umfang gekürzt: etliche Briefe wurden ausgelassen, die übrigen — mit Ausnahme der einen vollständigen 19 Wackenroder und die Kunstanschauung Darmstadt 1983, S. 23. 20

der Romantik,

Erträge der Forschung 202,

S. Walzel, S. 29: »Selbst wenn sich einwandfrei nachweisen ließe [!], daß diese Stelle aufgezeichnet worden sei durch Wackenroder und jene niedergeschrieben von Tieck, bliebe immer noch denkbar, daß Tieck die eine dem bewundernden Freunde eingeredet oder Wackenroder die andere dem anschmiegsamen Genossen vorgedacht habe.«

Buchbesprechungen

Nr. 7 — auf unterschiedlich umfangreiche Auszüge beschränkt. Über die Kriterien solcher Auswahl läßt sich allemal streiten; Heinrich selbst hält eine übergangene Passage für wichtig genug, um sie in ihrem Nachwort (491) als das entscheidende Zeugnis für Wackenroders verzweifelte Lage im väterlichen Haus zu zitieren. Fragwürdiger ist, warum dieser Briefwechsel — der laut Heinrich (484) doch »zu den bedeutendsten in der hohen Briefkultur des 18. Jahrhunderts zählt« — überhaupt gekürzt wurde, zumal er das einzige größere Textcorpus Wackenroders ist, von dem bisher keine kommentierte Einzelausgabe vorliegt. Die Hanser-Ausgabe hätte also gerade hier besondere Bedeutung gewinnen müssen. Dies wurde versäumt. Als Textvorlage ist wieder die L. Schneider-Ausgabe angegeben. Tatsächlich werden jedoch die bei Schneider durchgehend aufgehobenen Hervorhebungen korrekterweise wieder eingeführt — und zur größeren Verwirrung gleich um sämtliche Werktitel vermehrt, wiewohl diese bei Wackenroder nicht unterstrichen sind. Für die Datierungen wurden die Korrekturen von O. Fambach berücksichtigt, die von R. Littlejohns übersehen.21 Holtei trennte gelegentlich Absätze durch einen Querstrich, so etwa im Brief vom 5.5.92 (s. Anm. 14, IV 174 u.ö.); L. Schneider ließ die Querstriche weg, behielt aber den weiteren Abstand bei; G. Heinrich reduziert auf normale Absätze, d. h. die ursprüngliche Trennung ist nicht mehr zu erkennen! Kommentar. Der Kommentar ist zweigeteilt: >Anmerkungen und Worterklärungen< geben überwiegend Sacherläuterungen; die »Erläuterungen zu Personen und ihren Werken sind im kommentierten Personenregister enthalten« (437). Der Leser ist damit zu ständigem Blättern verurteilt: nicht nur findet er Sach- und Personenkommentare an zwei verschiedenen Stellen; er muß für jede personenbezogene Information neu suchen, da das Personenregister nicht dem Textverlauf folgt, sondern naturgemäß alphabetisch eingerichtet ist. Überdies finden sich manche Personenkommentare doch im Anmerkungsteil (zu Anfang des Personenregisters, S. 450, wird stattdessen auf eine nicht existente »Einleitung« verwiesen), so daß man dann für einen Namen an zwei Stellen nachschlagen muß, so etwa für Chr. G. Stephanie auf S. 440 u. S. 472) und für sämtliche im Anmerkungsteil, S. 439 f, zur Text-Seite 82 aufgeführten Titel. Außerdem führt das Personenregister zwar alle im Nachwort von Frau Heinrich zitierten Autoren von Karl Marx bis Thomas Mann auf, nicht aber jene, die im Text ohne Namensnennung erscheinen und in den Anmerkungen identifiziert werden; z. B.: Wilhelmine von Bayreuth (12 u. 437), Friedrich Eugen von Württemberg (16 u. 437). Die Qualität der beiden Kommentarteile ist unterschiedlich. Das Personenregister erschließt eine große Fülle prosopographischen Materials. Hier hat die Ausgabe ihr größtes Verdienst. Allerdings weist das Register nicht wenige 21 S. A n m . 15. Übrigens ist Gerda Heinrich auch Littlejohns' Identifikation des von Wackenroder übersetzten Romans (s. A n m . 13) verborgen geblieben: von den drei diskutierten Alternativen nennt sie nur die beiden falschen (481).

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Lücken und einige schwere Schnitzer auf (s. unten). Problematisch sind dagegen die > Anmerkungen und WorterklärungenUlyssesspezialisierterpun< und dem >portmanteau word< eine zentrale Funktion zuwies, um spielerisch neue Sinnzusammenhänge aus der ingeniösen Kombination sprachlicher Elemente hervorzulocken. Die Forschung der nächsten Jahre, die auf eine philologische und linguistische Fundierung nicht verzichten möchte (und sie ist gerade bei diesem Buch vom Gegenstand her gefordert), wird zu weiteren nützlichen Ergebnissen kommen, wenn sie sich in den von Michael H. Begnal gewiesenen Bahnen bewegt. Sie wird auch auf Arbeiten zur Struktur und Technik nicht verzichten können, wie sie für den vorliegenden Band von Patrick A. McCarthy und Barbara DiBernard verfaßt wurden. Patrick A. McCarthy liefert in seinem Aufsatz »The Structures and Meanings of Finnegans Wake « (S. 559-632) einen Umriß der Struktur dieses Werkes, wobei er sich ständig der Vorläufigkeit seiner Ausführungen bewußt bleibt, die sich aus der Tatsache erklärt, daß bislang noch keine kritische Ausgabe des Werkes vorliegt. Angebracht ist McCarthys Warnung vor den Auswüchsen des »deconstructionist criticism«, der für seine Zwecke in Finnegans Wake zwar einige vorzüglich geeignete Passagen zu entdecken vermochte; es bleibt jedoch die Frage, ob damit das gan%e Werk angemessen erschlossen werden kann. McCarthys eigene These: »the book was written about ordinary life and for ordinary people, not for a cult or an elitist audience« (S. 626) ist überraschend angesichts der spontanen Reaktionen durchschnittlicher Leser auf die Sprache, deren sich Joyce in seinem letzten Roman bediente. Es wird sicherlich noch einiger umsichtiger interpretatorischer Arbeit und einiger Schulung des Auges und des Ohres bedürfen, bis sich eine größere Anzahl von Lesern in der Lage fühlt, auch die Sprachspiele in Finnegans Wake mühelos zu genießen. Hilfreich ist in dieser Hinsicht der Beitrag von Barbara DiBernard über »Technique in Finnegans Wake« (S. 647-688), in dem sie das Prinzip der Korrespondenz und das der Repetition behandelt und zeigt, wie problematisch herkömmliche Vorstellungen von Identität und Realität in diesem letzten Roman geworden sind. Die übrigen Beiträge runden das Gesamtbild ab, das sich der Leser von James Joyces Leben und Werk aufgrund der überlieferten Dokumente und künstlerischen Werke erarbeiten kann. Eine biographische Skizze liefert Edmund L. Epstein in »James Augustine Aloysius Joyce« (S. 3-38), und den Briefschreiber James Joyce charakterisiert Mary T. Reynolds in »Joyce as a Letter Writer« (S. 39-70). Sie liefert dabei ein anschauliches Bild von der konzentrierten Auseinandersetzung des Künstlers und des Privatmannes James Joyce mit den Realitäten des alltäglichen Lebens. Die Briefe zeugen aber auch von der Distanz, die Joyce zu seiner Zeit und seiner Epoche hatte. Michael Groden führt in Probleme der Textgestaltung und der Publikation Joycescher Texte ein (»A Textual and Publishing History», S. 71-128), wobei anzumerken bleibt, daß dieser Beitrag geschrieben wurde, ehe Hans Walter Gablers kritische Edition des Ulysses erschien. Zum Gesamtwerk und seinem Verständnis tragen weiterhin folgende Abhandlungen bei: Chester G. Anderson,

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»Joyce's Verses«, S. 129-156; Thomas E. Connolly, »Stephen Hero«, S. 229-254; Bernard Benstock,»Exiles«, S. 361-386; Vicki Mahaffey,»Giacomo Joyce«(= eine Sammlung von Prosaskizzen), S. 387-420; Robert Scholes und Marlena G. Corcoran, »The Aesthetic Theory and the Critical Writings«, S. 689-706 und Morris Beja, »Epiphany and the Epiphanies«, S. 707 - 726. Auch wenn die Texte in diesen Abhandlungen (meist) knapp charakterisiert werden, sind die Beiträge so verfaßt, daß sie auf die Problemstellungen hingeordnet sind, die gegenwärtig die Joyce-Forschung im Bereich der Hauptwerke interessieren. Kompetent und gedrängt ist der Überblick über die Joyce-Forschung, den Sidney Feshbach und William Herman in dem abschließenden Beitrag »The History of Joyce Criticism and Scholarship« (S. 727-780) liefern. Dieser Forschungsüberblick ist für jeden nützlich, der nach Orientierung in der englischsprachigen Literatur sucht. Seine Grenze besteht darin, daß beispielsweise die deutschsprachige Forschung völlig ausgespart bleibt: der Leser wird weder eine knappe Charakterisierung des Beitrages finden, den Ernst Robert Curtius 1929 lieferte, als er seinen grundlegenden Aufsatz »James Joyce und sein Ulysses« in: Neue Schweiber Rundschau, 22, S. 47-68, veröffentlichte 1, noch wird er darüber informiert, wie aus der Sicht der englischen und amerikanischen Kritik ein Buch wie das von Eckhard Lobsien, Der Alltag des Ulysses: Die Vermittlung von ästhetischer und lehensweltlicher Erfahrung, Stuttgart 1978, beurteilt wird. — In zwei Appendices handeln Edmund L. Epstein über »Joyce's Names« (S. 781 - 82) und Michael Groden über »Library Collection of Joyce Manuscripts« (S. 783-786). Irrtümer und Druckfehler sind kaum zu entdecken; nur ein Beispiel sei erwähnt: S. 664 erscheint das Wort »leitmotiv« als »letimotiv«; in einem Aufsatz über Finnegans Wake fällt ein solcher Fehler jedoch kaum auf. Das gründlich gearbeitete Buch, das eine Fülle von Informationen, aber auch neuere Interpretationen in einer weithin angenehm lesbaren Weise vermittelt, wird in den nächsten Jahren zum Grundbestand der Bibliothek all derer gehören, die Joyce nicht nur erforschen, sondern auch mit Vergnügen lesen möchten. — Willi Er^gräber,

Freiburg i. Br.

Bertolt Brecht: Aspekte seines Werkes, Spuren seiner Wirkung, hg. Helmut Koopmann und Theo Stammen [Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg, Nr. 25]. München: Vögel, 1983, 280 S. Das Buch enthält zehn Vorträge, die 1981 im Rahmen einer Ringvorlesung der Universität Augsburg gehalten wurden. Die Absicht der Teilnehmer war es, Leben und Werk Bertolt Brechts aus der Perspektive verschiedener Disziplinen zu betrachten. Ein sehr sinnvolles Unternehmen, wie mir scheint, nicht nur deshalb, weil Brecht seine Jugend in Augsburg verbrachte, sondern weil sein Werk nicht nur aus dem Blickwinkel der Germanisten betrachtet wird, sondern 1

Eine englische Übersetzung dieses Aufsatzes legte Eugene Jolas vor: »Technique and Thematic Development o f James Joyce«, Transition, 16-17 (1929), S. 310-325.

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auf sehr erhellende Weise auch von Vertretern der Theologie, der Politischen Wissenschaft, der Soziologie, der Psychologie, der Klassischen Philologie, der Anglistik und der Romanistik. Ich kann leider nicht alle der informativen und qualitätvollen Beiträge hier besprechen und möchte stattdessen auf drei Aufsätze etwas intensiver eingehen, die mich von ihrer Thematik her angesprochen haben. Der den Band eröffnende Aufsatz von Helmut Koopmann , des bekannten Germanisten, heißt »Brecht — Schreiben in Gegensätzen«. Er behandelt das Thema des Gegensatzes, sicher ein zentrales Thema bei Brecht, hauptsächlich an den Dramen des Dichters. Dabei gelingen dem Verfasser sowohl für die Lehrstücke der 20er Jahre als auch für Brechts Dramen aus den 40er Jahren umsichtige und differenzierte Analysen. Einleuchtend erscheint auch die Feststellung, daß die späteren Dramen wie Herr Puntila und sein Knecht Matti, Mutter Courage und ihre Kinder , Der gute Mensch von Se%uan etc. an Vielschichtigkeit

gewinnen, wo sie den Schwarz-Weiß-Gegensatz der Lehrstücke überwinden. Nicht ganz so ergiebig erscheint mir das Thema des Widerspruchs für die frühe Phase Brechts: Denn Baal, das erste Drama Brechts, hat ja noch keine Gegenspieler wie Puntila , und bleibt anders als dieser mit sich selbst identisch. Am fragwürdigsten bleibt Koopmanns Aufsatz hinsichtlich seiner Besprechung der Exillyrik Brechts, da sie zu wenig Texte aus diesem Zeitraum berücksichtigt, und aus diesen nur ein unzulängliches Bild über Brechts Exilsituation entwickeln kann. Es ist zwar richtig, daß »Die Auswanderung der Dichter« keinen historischen Grund für die besondere Exilsituation Brechts benennt, da Brecht in diesem Gedicht das eigene Exil in den Traditionszusammenhang mit Dichtern der Weltliteratur stellt, die vor ihm das Exil erlitten. Das heißt aber nicht, daß Brecht den Anlaß zu seiner Flucht, sein Selbstverständnis des Exils und die konkreten Bedingungen seiner wechselnden Zufluchtsstätten nicht in einer Fülle exemplarischer Gedichte herausgestellt hätte: »Als ich ins Exil gejagt wurde«, »Über die Bezeichnung Emigranten«, »Frühling 1938«, »Schlechte Zeit für Lyrik« u.a. — Auch für das Denken in Gegensätzen hätte das zuletzt genannte Gedicht ein gutes Beispiel geboten, da hier die naturhafte Wahrnehmung des Exils und die drohenden Ereignisse des Zeitgeschehens in den bekannten Widerstreit treten: I n mir streiten sich Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum U n d das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. Aber nur das zweite Drängt mich zum Schreibtisch.

Die Studie von Hans A. Hartmanm »Von der Freundlichkeit der Weiten oder Auf der Suche nach der verlorenen Mutter: Der junge Brecht«, behandelt die frühe Lyrik Brechts nach der psychologischen Methode. — Dieser Beitrag scheint mir der originellste zu sein, obwohl ich der psychologischen Literaturbe-

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trachtung nach Freud sonst eher skeptisch gegenüberstehe, da dort immer wieder die gleichen Triebe die gleichen Konflikte erzeugen. — Ganz löst sich Hartmann von diesem Raster natürlich auch nicht; aber er geht von einem konkreten Anlaß aus, dem von Brecht in seiner Jugendphase selbst erwähnten »Herzschock«, den Hartmann als »Herzneurose« definiert. Die Symptome einer Herzneurose äußern sich nach Hartmann in »Herzklopfen, Herzkrampf, innerer Unruhe und diffuser Ängstlichkeit«. Die Ursache für eine solche Herzneurose sieht Hartmann nach Freud in einer »starken Mutterbindung«, die durch »Trennungsproblematik« ausgelöst wird. — Diese Trennungsproblematik verifiziert Hartmann einleuchtend an einem Gedicht des 13/14 jährigen Brecht, in dem die Mutter den Sexualtrieb des pubertierenden Jungen mit rigiden Mitteln zu unterdrücken versuchte, und so Schuldgefühle und Trennungsängste bei ihm auslöste. Daß die Kriegsgedichte des frühen Brecht, die in dieser Arbeit nur gestreift werden, mit »seinen Erfahrungen von Angst und Todesnähe aufgrund seines Herzleidens zusammenhängen«, möchte ich nicht bestreiten. — Wenn der Verfasser den Brecht dieses Zeitraums als »völlig apolitischen« jungen Dichter mißversteht, so übersieht er den Wandel im politischen Bewußtsein Brechts, der von Befangenheit in nationalen Klischees (»Moderne Legende« 1914) bis zur satirischen Darstellung der Wilhelminischen Kriegsführung führt (»Legende vom toten Soldaten« 1918). Der abschließende Beitrag von Albrecht Weber. »Brecht — Der Augsburger« untersucht Brechts Verhältnis zu Augsburg. Die Gefahr, die im Thema liegt, Brecht für Augsburg zu vereinnahmen, ist Weber dadurch entgangen, daß er das sich wandelnde Verhältnis Brechts zu seiner Vaterstadt Augsburg aufzeigt. Für den jungen Brecht wird Augsburg als »geistige Lebensform« verstanden, die ihn prägte, ähnlich wie Thomas Mann von Lübeck geprägt wurde. Das Aufwachsen in Augsburg hat aber auch seine Sprache geprägt, die für ihn die Umgangssprache des Volkes war. Brechts Verhältnis zu seinen Eltern, seine Augsburger Freundschaften und die ersten dichterischen Produktionen werden vom Verfasser richtig, aber etwas zu ausführlich behandelt, da dies ja längst aus den Brecht-Biogaphien von Reinhold Grimm, Marianne Kesting u. a. bekannt ist.

Interessanter erscheinen mir die Widersprüche, die der Verfasser während der Exilzeit Brechts im Verhältnis zu seiner Heimatstadt Augsburg herausstellen kann. Vor einem Sonett aus den »Studien« bezeichnet sich Brecht als »Der Augsburger geht mit Dante durch die Hölle der Abgeschiedenen . . .« Diese Aussage wird von Weber einleuchtend als »Akt historischen Bewußtwerdens« interpretiert, in dem sich Brecht mit Augsburg identifiziert. Sie kontrastiert aber mit einer von Benjamin notierten Aussage Brechts, in dem die historische Entwicklung Augsburgs im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gesehen wird, und Augsburg von hier aus als »Scheißstadt« bezeichnet Peter Paul SchwarFreiburg

i. Br.

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Waltraut Ingeborg Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied: Vorüberlegungen zu einer Darstellung seiner Geschichte. Kassel: Johannes Stauda, 1980, V I I I u. 266 S. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit — auch wenn sie im Fortgang die ursprünglichen Grenzen weit überschreitet — ist ein germanistischer, das heißt, die Untersuchung der Sprache des evangelischen (reformatorischen) Kirchenliedes und ihrer Herkunft aus der mittelalterlichen religiösen, vor allem mystischen Literatur. Die Verfasserin war darauf vorbereitet durch ihre früheren Arbeiten zu dem St. Trudperter Hohenlied — worüber am Schluß noch ein Wort zu sagen sein wird — und Einzelstudien zum evangelischen Kirchenlied, von denen hier genannt sein mögen der Artikel »Kirchenlied« im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte (Merker-Stammler) (2. Aufl. Band I, 1958, S. 819-852), ferner: »Jerusalem, die hochgebaute Stadt . . . Ein quellenkritischer Vergleich«, Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung (Festschrift

Fritz

Tschirch),

Böhlau Verlag

Köln, Wien (1972) S. 249-63. Vgl. noch: »Mittelalterliche und reformationszeitliche Bibelübersetzungen 111,1«, Theologische Realenzyklopädie, Band VI, S. 228-246, De Gruyter, Berlin 1980. »Motivationen textlicher Varianten im Kirchenlied«, Jahrbuch für Liturgik

und Hymnologie 21 (1977), S. 68-82.

Aus dieser Herkunft erklärt sich die sichere Kenntnis der Überlieferungsgeschichte, der geübte Blick für sprachlichen Bedeutungswandel, für begriffliche Nuancen. Persönliche Vorliebe hat sie früh in Verbindung mit der theologischen Forschung gebracht. So war die Gewähr gegeben nicht nur für intensive und genaue Darstellung der sprachlichen Situation, sondern auch für die Breite des Beobachtungsfeldes. Die intime Vertrautheit mit der biblischen und lutherischen Theologie gibt der Verfasserin die Grundlage für eine Präzisierung der aus der sprachlichen Betrachtung gewonnenen Ergebnisse. Das zeigt sich besonders schön in der Darstellung der »Verinnerlichung« des überkommenen Wortschatzes durch die kirchliche Frömmigkeit, vorgeführt an den Begriffen »Herz« und »Seele« (S. 67 ff.), deren innere Wandlungen sie seit dem St. Trudperter Hohenlied verfolgt. Es mag hier gleich angemerkt werden, daß die vorliegende Arbeit sich auszeichnet durch eine Fülle von ausgebreiteter Primär- und Sekundär-Literatur. Siehe dazu auch die Anmerkungen, etwa S. 148 f. Daß S.-G. auf eine eingehende Darstellung der musikalischen Seite des Kirchenliedes verzichtet mußte, ist verständlich, wenn auch zu bedauern. Wem aber steht neben den theologischen und germanistischen Kenntnissen eine gleichrangige theoretische und praktische Vertrautheit mit der Musikgeschichte zur Verfügung. Die Verfasserin ist sich dieser Lage bewußt und behält, soweit irgend möglich, die „ Einheit des »Kirchenliedes« aus Wort und Musik im Blick. Das hängt schon damit zusammen, daß das Kirchenlied immer auch in seiner »Funktion« als Darstellung der Gemeindefrömmigkeit betrachtet wird. Die Gattung ist an ihre Funktion innerhalb der »christlichen Gemeinde« gebunden. Das Kirchenlied (S.-G. hält gegenüber der Bezeichnung »Kirchliches Lied« bei Gerhard Hahn an der überlieferten Form »Kirchenlied« fest) lebt nur davon und

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dafür; es besteht in der Verbindung »geistlichen Inhalts und kirchlicher Funktion«. S. G. betrachtet ihre Untersuchung als »vorbereitend« für eine notwendige Geschichte der Gattung »Kirchenlied«, in der die »Gesichtspunkte« und »methodischen Ansätze« für eine solche geprüft werden sollen. Darüber hinaus werden für eine immer noch ausstehende Geschichte der »Frömmigkeit« wichtige Vorarbeiten für den Zeitraum der Reformation geleistet; gerade auch im Hinblick auf die mittelalterlichen Gründe reformatorischer Gesinnung. Das von dort Übernommene wird ebenso beachtet wie die aus reformatorischem Antrieb sich entwickelnden Umbildungen alten Frömmigkeitgutes. Diesem Teil der Untersuchung kommt zu Gute, daß S.-G. an den heutigen Bemühungen um ein neues evangelisches Gesangbuch beteiligt war. Aus dem Gesagten geht hervor, daß in dieser Arbeit zwei Gesichtspunkte im Vordergrund stehen: die Sprache des Kirchenliedes in ihrer Herkunft und Neugestaltung und die Frömmigkeit der Reformation, die sich der Sprache als ihres Ausdrucks bedient und sie diesem Zweck entsprechend um- und neubildet. Dabei ergibt sich, daß die »Kontinuität« seit dem Mittelalter beherrschend ist: »Traditionsbildung« ist die »tragende Eigengesetzlichkeit« des Kirchenliedes in Sprache und Frömmigkeit. Beide Gesichtspunkte werden nicht in aufeinander folgenden Kapiteln abgehandelt, sondern der Sachlage entsprechend ineinander gesehen: aus der genauen und sensiblen Interpretation des sprachlichen Ausdrucks ergibt sich die Einwirkung der Frömmigkeit, — die Wandlung dieser wird aus der sprachlichen Vergegenwärtigung begriffen. Die Untersuchung der Sprache beginnt mit Einzelbeobachtungen zum Wortgebrauch. Nach der Aufzählung der heute veralteten oder ausgestorbenen Wörter folgt der Nachweis des Bedeutungswandels der Grundwörter gegenüber dem Mittelalter. Hervorgehoben seien: milde, Trost (in seinen verschiedenen weltlichen und geistlichen Anwendungsbereichen), süß (in seinen Bezügen zu den Sinnen, dem Wort, zu Sakrament, Tod, Gott, Christus). In allen Fällen zeigt sich, wie oft in bedeutungsgeschichtlichen Arbeiten, eine leichte Unsicherheit in der Abgrenzung von Wortbedeutung und Sachbereich. Gemeinsam ist in allen Beispielen das Fortleben der mittelalterlichen Bedeutung, entweder unverändert oder modifiziert, gelegentlich aus der reformatorischen Auseinandersetzung eine Vertiefung des Gehalts. — Darauf folgen Beobachtungen zu Syntax und Stilistik (Verneinung, Artikel, Zwillingsformeln, Alliteration u.a.), ferner zum Aufbau und der Strophengliederung durch etymologisch verwandte Wörter; aufschlußreich die Nachweise zu »Befiehl du deine Wege«. Wie schon erwähnt, ist bemerkenswert die Darstellung der Sprache der Innerlichkeit: »Herz« und »Seele«, entweder als Doppelformel oder einzeln, zur Bezeichnung der Gesamtperson (wie mhd min sei, min lip — Ich), des Ortes der Einwohnung Gottes, der Gottebenbildlichkeit, des Verhältnisses zum Menschen. Der Reichtum der gehaltlichen Bereiche kann hier nur angedeutet werden. Alles faßt sich zusammen in dem Nachweis, daß »Seele« das ist, was den Menschen als Person ausgezeichnet und sein Verhältnis zu Gott bestimmt; daß »Herz«

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(übrigens doppelt so häufig gebraucht wie »Seele«!) stärker gefühlsmäßig und anschaulich bestimmt ist als »Seele«: »Herz« als Empfindungszentrum und Ort geistlichen Lebens, in zahllosen Abschattierungen. Immer gilt für beide Wörter die größere Nähe zum Mittelalter als zur zeitgenössischen Dichtung und die Verinnerlichung nicht aus der Theologie, sondern der Frömmigkeit des Verfassers und seiner Gemeinde. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden dann erprobt an der Geschichte dreier älterer Lieder bis in unsere Zeit hinein. »Gelobet seystu Jesu Christ« (Luther), »Wie schön leuchtet der Morgenstern« (Ph. Nicolai), »O Haupt voll Blut und Wunden« (P. Gerhardt). Dabei lassen sich verschiedene Grundzüge erkennen: in den seitesten Fällen Treue zur Überlieferung (Achtung vor dem Verfasser oder dem Adel des Kunstwerkes); häufiger Änderung zugunsten einer von der Gemeinde vollziehbaren Aussage (bis in die heutigen Gesangsbücher), Beseitigung von Unverständlichem und Anstößigem; Neudichtung (etwa wie bei Klopstock; die alte Form nur noch Gerüst für neuen, der Zeit angepaßten Ausdruck); Verinnerlichung (P. Gerhardt); Betonung des Menschlichen (Bedrücktheit, Geborgenheit, Seligkeit). Bestimmend war im Wesentlichen die Rücksichtnahme auf die Gemeinde und deren Anspruch an das Kirchenlied, ihrem Gottverhältnis und Gottverständnis zu dienen. Also ein Verständnis, das der mittelalterlichen Auffassung von der Namenlosigkeit eines Dichtwerkes nahe steht. — Versucht man das Ganze zu charakterisieren, so wäre hervorzuheben, daß es trotz der Herkunft aus der literarischen und sprachgeschichtlichen Forschung, der Neigung der Verfasserin entsprechend, den engeren Beobachtungsraum in einen interdisziplinären Bereich überschreitet. Ihre Vertrautheit mit der reformatischen Theologie, ihr Gedankenaustausch mit der internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie (JAH), von Konrad Amlen begründet, der auch an der Wiederlebung der Barock-Musik und ihrer Instrumente theoretisch und praktisch beteiligt war, und ihre Mitarbeit an den Reformbemühungen um das evangelische Gesangsbuch, ermöglichen ihr eine Erweiterung der Problemstellung über das Literarische hinaus. Das führt zu einer die Benützung beeinträchtigenden Häufung von Einzelheiten, die gelegentlich doch den Gesamtzusammenhang schwer erkennen läßt. Das Gleiche gilt von dem Wuchern von »methodischen« Bemerkungen, das ja ein nicht immer glückliches Signum heutiger wissenschaftlicher Arbeit geworden ist. Vieles Grundsätzliche wird, statt einleitend im Zusammenhang dargestellt, an verstreuten Stellen in den Einzelinterpretationen abgehandelt. Das ist verwirrend und erschwert das Gesamtverständnis. Gegenüber solchen Einwendungen muß aber betont werden, daß die gehaltliche und sprachliche Deutung des umfangreichen Materials von großer Zuverlässigkeit getragen ist. Es läßt sich kaum etwas finden, das übersehen wäre. — außer etwa der Tatsache, daß bei den Verweisen auf die mystische Tradition der Verfasserin die grundlegende Arbeit über die mystische Bildsprache der Mechthild von Magdeburg von Grete Lüers entgangen ist. Manches Einzelne hätte sich von dort präzisieren lassen. Mit äußerster Vorsicht werden eindeutige

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Festlegungen vermieden. Vorbildlich ist die subtile Darstellung des Ineinanders von traditioneller Aussage und der Nuancierung des Überlieferten durch die geistes- und frömmigkeitsgeschichtliche jeweilige Situation. Die sachliche Darbietung vermeidet alles geistreiche Spekulieren. Die Verpflichtung dem Gegenstand gegenüber beherrscht das Ganze dieser wichtigen und ertragreichen Arbeit. Die hier angezeigte Untersuchung von W. I. Sauer-Geppert ist ihre letzte Arbeit. Unmittelbar vor ihrem Tode (18. VII. 1984) hat sie die ersten Exemplare noch in der Hand gehalten. So wird der Hinweis auf dieses Buch zu einem Nachruf auf eine treue, strenge, nur dem Dienst an ihrer Aufgabe verpflichtete Gelehrtenpersönlichkeit. Sie gehörte zu den ersten Schülern des Rezensenten. Ihre von ihm angeregte Dissertation behandelte die mystische Sprache des St. Trudperter Hohenliedes (FU Berlin 1952). Ihr folgte neben und nach den Untersuchungen zum evangelischen Kirchenliede ein ausführliches, vorzüglich gearbeitetes Wörterbuch zum

Trudperter

Hohenlied (Quellen u. Forschungen %ur Sprach-

u. Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 50, Berlin 1972). Inzwischen hatte sich Frau Sauer-Geppert nach Assistentenjahren in Köln (seit 1969) mit der vorliegenden Arbeit habilitiert. Jos. Rathofer hat sie 1971 angenommen. Seitdem hat sich S.-G. eingehend mit dem ganzen Problemkreis beschäftigt; nach langem Ringen, behindert durch äußere und innere Schwierigkeiten, hat sie sich entschlossen, die Arbeit nach dem Stand von 1971 zu drucken. Wichtige Neuerscheinungen zum Thema (vor allem Gerhard Hahns Untersuchungen zu Luthers Kirchenliedern) konnten noch eingearbeitet werden. Was nun vorliegt ist trotz möglicher Einwände im Einzelnen ein eindruckvolles Zeugnis einer heute selten gewordenen Sachtreue und Gewissenhaftigkeit, eines vorbildlichen Wissenschaftsstils. Hermann Kunisch, München

Bernd Engler, Die amerikanische Ode: Gattungsgeschichtliche Untersuchungen. [Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, Band 4] Paderborn: Schöningh, 1985, 235 S. Mit seiner Freiburger Dissertation schließt der Verfasser insofern eine Lücke, als dieses Buch die erste ausführliche Untersuchung darstellt, die zur amerikanischen Ode jemals geschrieben wurde. Engler erwähnt diese Forschungslücke auch selbst, macht aber aus der Not eine Tugend, indem er vor allem in seinem Forschungsbericht (Kap. 2) ausführlich auch auf Werke zur englischen Ode eingeht und damit auch die reiche Odentradition Englands und die Kritik dazu zumindest zum Teil berücksichtigt. Dabei wird die Literatur bis etwa 1981 verarbeitet. Engler stellt sich vor allem zwei Aufgaben. Zum einen möchte er die Traditionsentwicklung der amerikanischen und der englischen Ode vergleichen und die Frage beantworten, ob die amerikanische Ode »etwa schlechthin als ästhetisch defizitäres literarisches Randphänomen abgetan werden« könne (S. 11); er versucht aber auch, ausgehend von diesem Vergleich eine besondere

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Typologie der amerikanischen Ode zu erstellen, und geht dabei besonders ausführlich auf die Abhängigkeit der Odentradition von gesellschaftlichen Entwicklungen ein. Zuerst jedoch stellt sich gerade bei einer gattungsgeschichtlichen Untersuchung wie dieser die Frage nach der gattungstheoretischen Festlegung des Forschungsgegenstandes, und eben damit befaßt sich das dritte Kapitel. Engler will die Ode stärker inhaltlich als formal erklärt wissen. Anstelle der klassischen Trennung in horazische und pindarische Ode wird hier ein formalistisches Modell in der Nachfolge Juri Striedters bevorzugt, das eine ständige Prozessualität der Form zuläßt und somit die Subsumption der verschiedenartigsten Gedichte unter den Odenbegriff im Laufe der Jahrhunderte in recht überzeugender Weise erklärt. Auf die nahe Verwandschaft von Ode und Hymne wird eingegangen, vor allem berücksichtigt Engler hierbei Paul Frys Monographie The Poet's Calling in the English Ode- 1 Frys These, die Ode sei »a Satanic ans wer to a hymn, a radically Dissenting and Nonconforming poem even where the poet wishes it to be otherwise«,2 wird später, vor allem im sechsten Kapitel, einer mehrfachen Überprüfung unterzogen. Den zweiten Teil des dritten Kapitels bilden Überlegungen zur Methode der Textkorpusbildung. Dabei zeigt sich Engler vor allem an solchen Werken interessiert, die für die Entwicklung der amerikanischen Ode »als paradigmatisch gelten« können und »in deutlicher Weise Traditionsbezüge mitkonstituieren« (S. 40). Die Entscheidung, dabei die vor der amerikanischen Unabhängigkeit entstandenen Gedichte zu vernachlässigen, ist bei einem Werk, das sich zum Ziel gesetzt hat, die spezifisch amerikanischen Traditionen der Ode herauszuarbeiten, wohl durchaus zu rechtfertigen. Als die beiden wesentlichsten Traditionsstränge sieht Engler die politischen Oden und die »Oden an Abstrakta«. Den politischen Oden ist das fünfte und auch bereits ein großer Teil des vierten Kapitels gewidmet, welches sich mit der amerikanischen Ode bis zum Bürgerkrieg befaßt. Auch bei einem relativ schmalen Korpus läßt sich natürlich über die Auswahl der diskutierten Texte immer streiten; so hätte man sich beispielsweise eine genauere Betrachtung von Henry Timrods »Ode Sung on the Occasion of Decorating the Graves of the Confederate Dead«, gerade im Vergleich mit seiner hier ausführlich besprochenen »Ethnogenesis« wünschen können. Insgesamt jedoch erscheint das ausgewählte Textkorpus als durchaus repräsentativ und für die Zwecke des Verfassers ausreichend. Die Funktion der Ode als Preisformel und als Mittel zum Aufbau eines nationalen Selbstbewußtseins wird überzeugend herausgearbeitet, auch Grenzformen, wie Gedichte Emersons und Whitmans, werden hier im vierten Kapitel besprochen und zur Ode hin abgegrenzt. Entsprechend des im gattungstheoretischen Teil erarbeiteten Entwicklungsschemas zeigt das fünfte Kapitel die allmähliche Modifikation der politischen Ode auf, 1

Paul H. Fry, The Poet's Calling in the English Ode, New Haven und London: Yale University Press, 1980. 2 A . a . O . , S.7.

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deren Funktion sich von der Kommemorationsode bis hin zum Mittel moderner Zivilisationskritik wandelt. Ausführlich geht Engler dabei auch auf Fragen der Werkrezeption ein und versucht, die sich ändernden Inhalte im Rahmen eines sich wandelnden gesellschaftlichen Bewußtseins zu erklären. Ezra Pounds »E. P. Ode Pour L'Election de son Sepulchre«, dessen Diskussion das fünfte Kapitel abschließt, ist allerdings kein Werk mehr, das noch als zu der Tradition der amerikanischen politischen Ode gehörig betrachtet werden kann. Engler erklärt dies auch selbst. Hier wird nun ein Problem dieses Buches deutlich. Bewußt trennt der Verfasser — und diese Erläuterung folgt vielleicht etwas spät in dem Werk — die Gattungsentwicklung in je einen Traditionsstrang von politischen Oden und Oden an Abstrakta, »da beide Ausformungen der Gattung auf ihnen spezifische Herausforderungen antworten« (S. 221) und die gesellschaftlichen Entwicklungen besonders deutlich widerspiegeln. So gesehen, ist die weitgehende Beschränkung auf diese beiden Traditionsstränge, wie wir sie im Grunde hier finden, durchaus legitim — und doch wird Engler manchmal ein Opfer seiner eigenen Typologie, wenn er sich, dem umfassenden und ehrgeizigen Titel seines Buches folgend, auch einmal genötigt sieht, nicht so recht in dieses Zweierschema passende Oden in sein Modell einzuordnen. Auch im sechsten Kapitel, das sich mit Oden an Abstrakta befaßt, steht wieder die diachrone Entwicklung einer Tradition im Vordergrund. Der Ansatz ist hier stärker gattungstheoretisch, die Oden und ihr Weltbild werden in ihrer Spannung zur Affirmation des Hymnenschemas untersucht. Der Verfasser geht den Wandlungen nach, die sich vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzogen haben, und diskutiert die Frage, wie in den verschiedenen Oden die Sinnstiftung des Lebens gesehen wird. Ein gewisses transzendentes Element zeigt sich dabei auch in den modernsten Werken als vorhanden, auch wenn die moderne Relativierung aller Werte zunehmend zu verzweifelter Resignation und Orientierungslosigkeit führt. Frys These der satanischen Destruktion hymnischer Grundannahmen wird widersprochen; Oden werden im Gegenteil als Affirmation dieser Annahmen gesehen, »selbst wenn diese nur ex negativo aus der Klage zu schließen ist« (S. 211). Der Anteil antihymnischer Skepsis nimmt zwar im Laufe der Geschichte der Ode stark zu, doch bleibt, wie Engler in seinem Abschlußkapitel (Kap. 7) darlegt, ein Rest an Affirmation immer erhalten. Insgesamt wendet sich Engler in diesem letzten Kapitel gegen die Annahme, die amerikanische Ode sei als Gattung eine literarisch minderwertige Erscheinung; auch wenn die englische Ode sicher zu Recht mehr Aufmerksamkeit erfahren habe, habe doch die amerikanische Ode ihre eigene Geschichte und sei ein beachtungswerter Teil der amerikanischen Literatur mit eigenen, spezifischen Merkmalen. Diese Merkmale zumindest an zwei Traditionssträngen herausgearbeitet und ihre Zusammenhänge mit der gesellschaftlichen Entwicklung überzeugend erklärt zu haben ist ein großes Verdienst dieses Buches. Ein rein technischer Mangel bleibt noch anzumerken: Die besprochenen Oden werden stets nur in kurzen Ausschnitten geboten, die dann jeweils interpretiert werden. Der Leser hat niemals die Chance, die Oden in ihrer Ganzheit zu lesen

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und die Gedanken des Verfassers für sich zu überprüfen. Man wird so das Gefühl nicht los, daß einem etwas vorenthalten wird. Wie Engler selbst schreibt (S. 9), sind amerikanische Oden nur sehr unzureichend anthologisiert; gerade in einem solchen Fall wäre es vielleicht erwägenswert, ob sich der Verlag nicht entschließen sollte, etwa einige der wichtigsten hier besprochenen Oden in ungekürzter Form in einem Appendix abzudrucken. Dies nimmt dem Buch aber nichts von seinem Wert. Die Einzelinterpretationen sind durchweg sorgfältig und überzeugend, und die Einzelbeobachtunngen des Verfassers ergeben zusammen klare Thesen zur Entwicklung der beiden behandelten Oden-Traditionsstränge. Das Werk ist kein Handbuch (der Obertitel ist in dieser Hinsicht etwas irreführend), sondern es wählt aus und vertritt eine Meinung. Englers weitgehende Beschränkung auf politische Oden und Oden an Abstrakta ist vertretbar, und seine Thesen erhalten sowohl durch seine theoretischen Ausführungen als auch durch seine Interpretationen ein beachtliches Gewicht. Trotzdem ist damit sicher noch nicht alles zum Thema gesagt. Die amerikanische Ode ist ein kluges und sehr begrüßenswertes Buch zu diesem Themenkomplex, das für die weitere Forschung unentbehrlich sein wird. Werner

Oberhöger, Eichstätt

Das Gespräch, hg. Karlheinz Stierle und Rainer Warning [Poetik und Hermeneutik, Bd. XI]. München: Fink, 1984, 537 S. Bei den unter dem eher unprätentiösen Titel Das Gespräch von Stierle und Warning herausgegebenen Arbeitsergebnissen des XI. Kolloquiums der Forschungsgruppe >Poetik und Hermeneutik< aus dem Jahr 1981 handelt es sich um ein im Grunde höchst ambitiöses Projekt; um nichts weniger als den Versuch nämlich, von einem interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Ansatz aus facettenartig sowohl eine Phänomenologie des Gesprächs im weitesten Sinne zu erstellen als auch die geistesgeschichtlichen Bedingungen zu reflektieren, die zu dem gewachsenen Interesse am Dialogparadigma in der Moderne geführt haben. Die insgesamt 29 Beiträge sind je nach Schwerpunkt der Fragestellung nach systematischen Aspekten und historischen Paradigmen untergliedert. Wichtiger als diese letztlich nur geringe Aussagekraft besitzende Unterteilung ist jedoch das Nebeneinander von längeren >schriftlichen< Ausarbeitungen und kürzeren >mündlichenKonstanzer SchuleÜber-

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Ich< durch ein >Über-Wir< und eine Cartesianisierung der Ethik sowie eine fatale Verleugnung geschichtlich-lebensweltlicher Wirklichkeit mit ihren letztlich positiv zu verstehenden Traditionskonventionen und Üblichkeiten. Da ist zum anderen die implizite Kontroverse zwischen R. Lachmann und Stierle über die Validität und Tragfähigkeit moderner Intertextualitätskonzeptionen, die man auch als metaphorische Übertragung der Kommunikationsbedingungen des realen Gesprächs auf die offene Dialogizität der Texte untereinander interpretieren kann. In zwei kürzeren Diskussionsbeiträgen und vor allem in »Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mytho-Poetik als Paradigma dialogisierter Lyrik« tritt Lachmann für eine konsequente Anwendung des Bachtinschen Dialogizitätsprinzips zur Beschreibung des dialogischen Verhältnisses der Texte zueinander ein und will, darin über Bachtin hinausgehend, den Intertextualitätsbegriff auch auf die dialogisierte Lyrik der Akmeisten angewendet sehen. Stierle dagegen gibt in »Werk und Intertextualität« seine Skepsis gegenüber einer modisch gewordenen Intertextualitätsvorstellung einschließlich ihrer weitreichenden philosophischen Implikationen unverhohlen zu erkennen. Er wendet sich sowohl gegen die mit dem Intertextualitätsbegriff vorgezeichnete Tendenz zur Dezentrierung der Texte und zur Annahme der Subjektlosigkeit der literarischen Produktion als auch gegen die angebliche Entlarvung der Vorstellung von der Identität des Werks, seiner Zurückführbarkeit auf die personale Identität des Autors und von der referentiellen Determiniertheit des Werks als literarischen Mythen des bürgerlichen Bewußtseins. Demgegenüber beharrt Stierle im Horizont der Iserschen Wirkungsästhetik auf der ästhetischen Identität des Textes, wobei die von ihm gesetzte intertextuelle Relation als Moment der Textidentität selbst begriffen werden muß und erst im Hinblick auf diese im Sinne einer Repertoirebildung des Textes ihre spezifische Bedeutung gewinnt. Abschließend bleibt darauf hinzuweisen- daß angesichts der Fülle der Anregungen, der Vielzahl der Frageperspektiven und der Differenziertheit der Argumentation in den einzelnen Beiträgen es nahezu unmöglich erscheint, in der gebotenen Kürze einer Rezension dem Band in seiner Gesamtheit auch nur annäherungsweise gerecht zu werden. Wenn bei dem hohen Reflexionsniveau der einzelnen Beiträge überhaupt kritische Anmerkungen anzubringen sind, dann zum einen vielleicht die Frage, weshalb bei einer Thematisierung des Gesprächs nicht die Unterschiede von mündlicher und schriftlicher Kommunikation ausdrücklicher behandelt und die kulturphänomenologische Differenz von orality und literacy etwa im Sinne der Studie von Walter Ong, Orality and Literacy: The Technologi^ing of the Word explizit reflektiert worden sind. Daneben ist auf eine eigentümlich paradoxe Erfahrung bei der Lektüre dieser Studie hinzuweisen, die man auch als Widerspruch von Form und Inhalt beschreiben kann. Denn zwar wird durchgehend, oft sogar emphatisch der Wert des Gesprächs beschworen, jedoch sind die einzelnen Beiträge in Stil, Diktion und der Sättigung mit Fachterminologie eher monologisch als dialogisch, eher diskursiv als gesprächshaft-mündlich, und sie können in der Mehrzahl ihre >schriftlichen< Entstehungsbedingungen nicht verleugnen. Gelegentlich würde man sich daher eine stärkere Befolgung der Lessingschen Stilmaxime »Schreibe

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wie du redest« durchaus wünschen, ohne daß dies notwendigerweise zu einem theoretisch-wissenschaftlichen Qualitäts- und Präzisionsverlust führen müßte. Meinhard Winkgens, Freiburg i. Br.

Augenblick und Zeitpunkt: Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, hg. Christian W. Thomsen und Hans Holländer, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1984, 519 S., 30 Abb. Der von C. W. Thomsen und H. Holländer herausgegebene Band Augenblick und Zeitpunkt ist eine interdisziplinär angelegte Sammlung von Aufsätzen. Sie setzt es sich vor dem Hintergrund einer großen Tradition philosophischer Zeitreflexion zum Ziel, aus der Perspektive verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen wie auch im Lichte der ästhetischen Bewältigung des Augenblicks in Kunst und Literatur die vielfältigen Facetten einer gerade in der Moderne auf zunehmendes Interesse stoßenden Augenblicksthematik zu beleuchten. Die interdisziplinäre Bandbreite der Beiträge ist groß und macht sicher in erster Linie den Reiz dieser Studie aus; erlaubt sie doch immer wieder überraschende Einblicke in die zahlreichen Ausprägungen des Augenblicksproblems, ermöglicht dem Leser, Parallelen und Kontraste zu erkennen und teilweise sicher fasziniert, gelegentlich auch skeptisch fragend den immer neuen Variationen über ein zentrales Thema moderner Geistesgeschichte zu folgen. Das interdisziplinäre Spektrum reicht von Theologie und Philosophie, über Psychologie und Geschichtswissenschaft, Ballett, Instrumentalmusik und Architektur bis zu Kunst bzw. Kunstwissenschaft und Literatur bzw. Literaturgeschichte, wobei die beiden letzten Bereiche den eigentlichen Schwerpunkt bilden. Für die Lektüre durchaus förderlich ist dabei die Tatsache, daß vorwiegend abstrakt-theoretische Aufsätze und konkret-interpretierende, an literarischen und künstlerischen Beispielen orientierte Arbeiten ständig abwechseln, so daß Monotonie und inhaltliche Doubletten fast völlig vermieden werden. An sich ist es auch zu begrüßen, daß dieser Band das Problem des Augenblicks und der Zeitmetaphorik nicht in erster Linie auf den geisteswissenschaftlichen Trampelpfaden einer >Philosophie der Zeit< mit den einschlägig bekannten Repräsentanten der Philosophiegeschichte von Zenon und Augustinus bis zu Husserl und Heidegger angeht. Vielmehr setzt er innovative Impulse vor allem dadurch, daß er die >philosophischen< Implikationen ästhetischer Gestaltungen des Augenblicks in den Mittelpunkt rückt und sie auf ihre geistesgeschichtliche Relevanz für die Modernitätserfahrung befragt. Die grundsätzliche Zustimmung zur Anlage des Bandes und der Mehrzahl der Beiträge schließt jedoch nicht aus, daß man sich gelegentlich dann doch bei einzelnen Beiträgen eine stärkere Arbeit am philosophischen Begriff und eine intensivere Auseinandersetzung mit den bedeutenden Vordenkern einer Philosophie der Zeit und des Augenblicks wünschen würde. So wäre etwa bei M. Geiers vielleicht zu ambitiösen Versuch, Dashiell Hammetts Darstellung der Augenblicke des Sterbens mit der Zeitskepsis innerhalb einer sprachlogischen Axiomatik zu korrelieren, eine ernsthafte

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Konfrontation mit Heideggers existentialontologischer Analyse der Zeitlichkeit durchaus angebracht; und sei es nur, um den Eindruck einer unkritischen Identifikation mit den einseitigen Zeitprämissen sowohl des behandelten Autors als auch der Sprachkritik generell zu vermeiden. Wenn man sich fragt, ob über die Konzentration auf das Thema des Augenblicks hinaus ein einheitsstiftendes Band sichtbar wird, das die zahlreichen Aufsätze mit ihren unterschiedlichen Frageansätzen und teilweise sehr speziellen Untersuchungszielen untereinander verbindet, so ist bei aller Vorsicht der Titel »Augenblick und Zeitpunkt« bereits als implizites Programm zu betrachten. Denn wie insbesondere die einleitenden Aufsätze von H. Holländer, »Augenblick und Zeitpunkt«, G. Pochat, »Erlebniszeit und bildende Kunst«, und P. Gendolla, »Die Einrichtung der Zeit«, deutlich machen, bilden Zeitpunkt und Augenblick eine thematische Opposition. Sie verweist auf das zugrundeliegende, in der Moderne immer deutlicher ins Bewußtsein tretende Spannungsverhältnis von objektiver und subjektiver Zeit, von quantitativer Zeitmessung und qualitativem Zeiterleben. Gegen den Schematismus des objektiven Zeitbegriffs, gegen die von den Zeitmaßen der Uhrwerke abgedichteten Zeitmauern, gegen die leere Zeit der Uhr und den neutralen Zeitpunkt ohne Dauer wird der Augenblick als eine Metapher für Bewußtsein und Wahrnehmung, für Erkenntnis und bewußtes Begreifen, als »Verteidigung der Imagination gegen die Verwaltung von Daten« (S. 21) ins Feld geführt. Der Augenblick wird somit als schöpferisch-symbolische Hervorbringung qualitativen Zeiterlebens begriffen, der gerade in den zahlreichen Varianten einer >Ästhetisierung des Augenblicks< in der modernen Kunst und Literatur auf das Bedürfnis des Menschen nach erfüllter, intensivierter und erlebbarer Zeit antwortet. Es ist dieser Grundgedanke eines geschärften Augenblicksbewußtseins und einer intensivierten ästhetischen Gestaltung des Augenblickserlebens als kultureller Reaktionsbildung auf die entleerte Räumlichkeit der Uhren und wissenschaftlichen Meßeinheiten mit ihren zivilisatorischen Folgeerscheinungen, der in diesem Aufsatzband als theoretische Klammer fungiert. Erst dadurch wird gewährleistet, daß bei dem gewählten interdisziplinären Forschungsansatz die notwendige sachliche und fachliche Heterogenität nicht — wie so oft bei Sammelbänden dieser Art — auf Kosten gedanklicher Homogenität und Stringenz geht. Vor allem dadurch wird es auch möglich, daß sich für den Leser die einzelnen Beiträge gegenseitig kommentieren und sich so für ihn übergreifende Strukturen herausbilden und Schlüsselbegriffe wie Kairos, Epiphanie, mystischer Augenblick und >moment of vision< in unterschiedlichen Manifestationen konkrete Gestalt annehmen. So werden beispielsweise für den Leser die Arbeiten von T. Krusche zum mystischen Augenblick bei Emerson, von D. Schulz zur Epiphanie als Abgrund bei E. A. Poe und von W. Erzgräber zum >moment of vision< im modernen englischen Roman wechselseitig zu Folien. Dadurch entsteht ein dichtes, über den Einzelbeitrag hinausweisendes Bedeutungsgeflecht, das typische Deutungsmuster für die ästhetische Suche nach dem sinnhaft-erfüllten Augenblick in einer säkularisierten Moderne sichtbar werden läßt.

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Im Rahmen dieses Bandes von der Prämisse auszugehen, das geschärfte Interesse für den Augenblick, ja gewissermaßen eine ästhetische Augenblicksobsession, sei als impliziter Einspruch gegen die Übermacht einer quantifizierten objektiven Zeit in der Moderne zu begreifen, erscheint sicherlich sinnvoll. Jedoch kommt darüber, abgesehen von einigen Bemerkungen bei G. Pochat und I. Schneider, m.E. die weitergehende Reflexion auf die Frage zu kurz, wie innerhalb der subjektiven Dimension qualitativen Zeiterlebens der Zusammenhang zwischen einem Kult des Augenblicks einerseits und dem Verlust des Bewußtseins zeitlicher Kontinuität und geschichtlich-evolutionärer Prozessualität andererseits zu deuten ist. Ist, so wäre in einem kulturkritischen Kontext zu fragen, die Konzentration auf die Augenblicksdimension nicht zugleich als der Versuch einer Kompensation zu verstehen; als Kompensation für ein verlorengegangenes Vertrauen sowohl in die Kontinuität eines vom Menschen als Subjekt der Geschichte zu verantwortenden und zu gestaltenden geschichtlichen Prozesses als auch in die existentielle Sinnhaftigkeit menschlicher Zeitlichkeit, die ja nicht nur als Entfremdung von göttlicher Ewigkeit, sondern in einem lebensphilosophisch-evolutionären Sinne auch als Horizont von Möglichkeit, Freiheit und Selbstverwirklichung verstanden werden kann? Müßte man in diesem Sinne dann den Kult des Augenblicks in der Moderne nicht auch als signifikante Ausprägung eines geschichtlichen Sinndefizits, als spezifische Manifestation einer >Dialektik der Aufklärung< interpretieren? Dies hätte dann zur Konsequenz, daß die Ästhetisierung des Augenblicks nicht nur als originäre schöpferische Antwort auf die Übermacht des >Zeitpunkts< zu werten, sondern zugleich ambivalent als ihrerseits regressiver Ausdruck eines Verlustes des vollen Zeitbegriffs zu beurteilen wäre. Aufschlußreich ist dabei zum einen, daß in diesem Band eine naheliegende Auseinandersetzung mit Heideggers existentialontologischer Interpretation der Zeitlichkeit in Sein und Zeit und seinem Versuch, gegenüber einem >uneigentlichen< Augenblickspräsentismus den im existentiellen >Sein zum Tode< ursprünglich erschlossenen vollen Begriff menschlicher Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit wiederzugewinnen, unterbleibt. Aufschlußreich ist, um ein Beispiel aus der englischen Literatur zu wählen, zum anderen, daß zwar wiederholt von den Joyceschen Epiphanien die Rede ist, dagegen die Versuche eines D. H. Lawrence etwa in The Rainhow, die mystische Erfahrung des erfüllten Augenblicks mit dem lebensphilosophisch-evolutionären Prozeßgedanken sinnhafter menschlicher Existenz zu versöhnen, keinerlei Erwähnung finden. Diese Kritik gilt wohlgemerkt nicht der Tatsache, daß ein solcher Band unweigerlich Lücken haben muß. Sie richtet sich aber gegen symptomatische Auslassungen, die, wie mir scheint, auf die bewußte oder unbewußte Ausklammerung einer wichtigen, wohl nur kulturkritisch zu bewältigenden Facette der Augenblicksthematik verweisen. Ungeachtet dieses Einwands, ist jedoch hervorzuheben, daß so gut wie alle Beiträge von niveauvoller Argumentation, von einer klaren Präsentation des zu erörternden Problemfeldes und unter Vermeidung stilistischer Idiosynkrasien und einer Überfrachtung mit Fachterminologie von einer meist gut lesbaren Darstellung zeugen. Sie werden damit den besonderen Anforderungen und den

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spezifischen Kommunikationsbedingungen einer interdisziplinären Untersuchung gerecht. Denn diese sollte, da sie sich ja nicht an einen fachspezifisch eingegrenzten Leserkreis wendet, den gemeinhin begrenzten Kenntnissen des fachfremden Lesers Rechnung tragen. In dieser und in manch anderer Hinsicht mag der Band Augenblick und Zeitpunkt durchaus als vorbildlich gelten. Meinhard Winkgens , Freiburg i. Br.

NAMEN- U N D WERKREGISTER V o n Kurt Müller (Die Zahlen bedeuten die Seiten, kursive Zahlen die Hauptstellen, A = Anmerkung. Das Register wählt aus.) Abaelard, Peter 51 Albert von Mailand 51 Alberti, Leone Battista 235 — De re aedificatoria libri decern 235 Annolied 313 Aquin, Thomas von 48, 52, 57, 59 Apel, Karl-Otto 374 Aristoteles 260, 262 Asturias, Miguel Angel 175-196 — Leyendas de Guatemala 175-196 — El Senor Presidente 179, 192 Augustinus 161, 162, 261, 313 — Confessiones 161 Avancini, Nicolaus 321, 325, 326 Bachtin, Michail M . 374 Bacon, Sir Francis 220, 223, 244, 293 — Nova Atlantis 223, 226 A. 24, 226 A . 25 Balzac, Honoré de 179 Barthes, Roland 193 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de 109 — Barbier de Séville 109 — Mariage de Figaro 109 Bennett, A r n o l d 128 — Clay hanger 128 Beowulf 23-45 passim, 29-33 Bergerac, Cyrano de 335 »Beria und Simra« 297-307 Bertold von Regensburg 58 Bidermann, Jakob 321, 324, 325, 331 Birck, Sixt 323 Blair, Andrew 279, 280 — Annals of the Twenty-Ninth Century 279 Blake, William 123, 127 Blondel, François 248 — Cours d'architecture 248 Borges, Jorge Luis 265, 266

— »Utopía de un hombre que está cansado« 266 Brecht, Bertolt 346, 364-366 Brechtus, Livinus 323 Brittiftg, Georg 206 — »Feuerwoge jeder Hügel« 206 — »Die Sonnenblume« 208 Bürger, Gottfried August 343 Bulwer-Lytton, Edward 269, 275-278, 282, 283 — The Coming Race 269, 275-279, 282 Butler, Samuel 274, 275 — Erewhon 274, 275 Cabet, Etienne 263, 264 A. 24 — Voyage en Icarie 264 A . 24 Cagnoli, Barnabas 57 Calvin, Johann 82 Campanella, Tommaso 247, 220, 222, 223, 224, 226, 239-243 — Città del Sole 239-243 Carpentier, Alejo 253, 265 — Los pasos perdidos 265 Casanova, Giacomo Girolamo 111 — Mémoires 111 Caussin, Nicolas 260-262 — La Cour sainte 261 Cervantes, Miguel de 194, 196 — Don Quichote 194 Chesney, Sir G. T. 270 — The Battle of Dorking 270 Coleridge, Samuel Taylor 82, 83 — The Ancient Mariner 82 — Common Prayer Book 68 Capistrano, Johannes von 60 Cranmer, Thomas 67-78 passim Crocus, Cornelius 323 Cruselius, Salomon 318

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Namen- und Werkregister

Darwin, Charles 272, 273, 291 — On the Origin of the Species by Means of Natural Selection 272 — The Descent of Man 273 David von Augsburg 58 Derrida, Jacques 374 Descartes, René 375 — Discours de la méthode 375 Dickens, Charles 138, 310-311 — Great Expectations 138 — Martin Chusglewit 310-311 Diderot, Denis 109, 376 — Discours de la Poésie dramatique 109 — Eloge de Térence 109 — Neveu de Rameau 376 Dietrich von Freiburg 315 Donne, John 65-80 — La Corona 65 — »Holy Sonnet, X I V « 65 — »Holy Sonnet, V« 65 — Holy Sonnets 65 — »The Litanie« 65-80 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 120 A. 44 — Die Brüder Karamasow 120 A. 44 — Das Gut Stepantschikowo 120 A . 44 Emerson, Ralph Waldo 371, 379 Euripides 322 Fénelon [Francois de la Salignac de la Mothe-Fénelon] 260-262 — Les Aventures de Télémaque 260 Fielding, Henry 172 Filarete [Antonio di Pietro Averlino] 235-237 Trat tato di architettura 235-237 Foigny, Gabriel de 334-336 — La Terre Australe Connue 334-336 Foucault, Michel 374 Frisco, Reinerius 51 Fromm, Erich 126-127 — Haben oder Sein 126 Fuentes, Carlos 265 — Terra nostra 265 Fuzuli, Mehmet 300 Gadamer, Hans-Georg 374 Galsworthy, John 128 — For sy the Saga 128 George, Stefan 346

Gnapheus, Guilelmus 323 Goethe, Johann Wolfgang von 88 A. 17, 161, 162, 338-346, 257 — »Bekenntnisse einer schönen Seele« 341 — Champagne in Frankreich 346 — Dichtung und Wahrheit 161 — Faust I 88 A . 17 — Faust II 340, 341 — Hermann und Dorothea 345, 346 — Iphigenie aufTauris 344 — »Maximen und Reflexionen« 342 — Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten 345 — Wilhelm Meisters Lehrjahre 174, 338342, 345 — Wilhelm Meisters Wanderjahre 339 Goldoni, Carlo 105 -107,109,110 -115,119,

120 — Gli Amori di Zelinda e Lindoro 107 — La Bottega dell' Caffé 107, 110, 111 — Le Bourgeois Gentilhomme 111, 112 — II Bugiardo 107, 111, 113, 115, 119, 120 — II Campiello 111 — La Cassa nova 107 — La famiglia dell' Antiquario 107 — L' Impresario de lie Smirne 107, 110, 111 — La Locandiera 107, 110, 112, 119 — La Moglie saggia 119 — Pamela nubile 107 — La Putta onorata 111 — I Rusteghi 107 — La Serva amorosa 107, 119 — II Ventaglio 107, 110 Gozzi, Carlo 105-118 — II Corvo 107, 116 — La Donna Serpente 107, 115-118 — I Pitocchi fortunati 107, 116 — Turandot 117 Grass, Günter 164 Greff, Joachim 323 Greg, Percy 275-280, 282, 283 — Across the Zodiac: The Story of a Wrecked Record 275, 277, 278, 282 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoph von 256 — Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch 256 Grotius, H u g o 326 Habermas, Jürgen 374 Heckeborn, Mechthild von 313

Namen- und Werkregister Hammett, Dashiell 378 Hay, William Delisle 280 — Three Hundred Years Hence; or, A Voice from Posterity 280 Hawthorne, Nathaniel 81-103 — The Blithedale Romance 82 A. 3, 89 A . 21,

— Island 286, 293-296 — Music at Night 287 A . 9 Huxley, Thomas Henry 273

Jaspers, K a r l 124 Johannes X I I 60 Johannes X X I I 51, 53 102 — The House of the Seven Gables 82 A. 3, 83, Johannes von Freiburg 57 Johnson, D r , Samuel 80 86, 90-97 Joyce, James 128, 280, 358-364 — »My Kinsman, Mayor Molineux« 93 A. — Dubliners 360 36 — The Marble Faun 82, 83, 86, 97-103 — Finnegans Wake 360, 362-364 — A Portrait of the Artist as a Young Man — The Scarlet Letter 83-90, 91, 95 360, 361 Heidegger, Martin 124, 127, 216, 379, 380 — Ulysses 358-360, 361-363 — Sein und Zeit 216, 380 Heine, Heinrich 299 Kant, Immanuel 339, 374 Heinrich von Genf 57 Kierkegaard, Sören 124 Heliodor 170, 174 Kleist, Heinrich von 346 — Aithiopika 170 Klopstock, Friedrich Gottlieb 343 Henerus, Renatus 319 K r o l o w , K a r l 197-217 Herodot 21 Hesiod 17 — »Abgesang« 208, 209 — Das andere Leben 216 — Theogonie 17 — »An meinen Sohn« 202, 212 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 346 Hofmannsthal, Hugo von 105-122,, 200 — Auf Erden 197 — Andreas 114, 115 — »Auffliegende Taube« 207 — Ariadne auf Naxos 112, 116 — »Frische« 208, 214 — »Ballade des äußeren Lebens« 200 — »Für mein Kind« 202 — Buch der Freunde 115 — Gedichte 197-217 — Bürger als Edelmann 107, 111, 112 — »Gesicht« 210 — Christinas Heimreise 105, 106, 111, 113, — Heimsuchung 211 115, 121 — »Hinblick« 212, 213 — Diener veier Herren 106 — Hochgelobtes gutes Leben — Die Frau ohne Schatten 116, 117 199-201, 205, 206 — »Die Kammer« 210 — König Oedipus 108 — »Der Kranke« 202 — Oedipus und die Sphinx 108 — » K o m m t die Nacht« 207 — Rosenkavalier 116 — Shakespeares Könige und große Herren 108— »Im Leben« 199-201, 203, 209 — »Lobgesang« 215, 216 — Silvia im >Stern< 106, 107, 110, 120, 121 — »Mond des Waldes« 206 — Der Turm 122 — »Die Mühle« 211 — Der Unbestechliche 118, 119, 121 — »Oktoberlied« 210 Homer 9-22, 173 — »Das Paar« 211 — Was 9-22 — »Regnerischer Tag« 203-205 — Odyssee 9-22 — »Salamander« 203, 214 Horaz 316 — »Die Schäferinnen« 207 — Iter Brundisium 316 — »Selbstbildnis 1965« 213, 214, 217 Huxley, Aldous 228-231,269,282,285-296 — »Sommer eines Knaben« 205 — Ape and Essence 286, 290-293 — Brave New World 228 - 231,282,286- 290 — »Sommerwald« 206, 213 — »Sonnenblumen« 207, 208 — Crome Yellow 287 A. 9 — »Der Stein« 208 — The Doors of Perception 286 A . 4

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Namen- und Werkregister

»Traum v o n einem Wald« 206, 213 »Waldmusik« 206 Wind und Zeit 197 »Der Zauberer« 212 Die Zeichen der Welt 197

Langgässer, Elisabeth 214 Lassay, Marquis de 245 — Relation du royaume de Félicie 245 Lawrence, David Herbert 123-140, 380 — The Kangaroo 139 — Lady Chatterley's Lover 135 — The Rainbow 123-140, 380 — Women in Love 127, 135, 139 Lehmann, Wilhelm 197, 204, 205, 209, 215 — Antwort des Schweigens 209 — »Die Elster« 204 — »Der Dichter spricht« 205 — »Tauwind« 209 Lenz, Jakob Michael Reinhold 120 A . 44 — Der Hofmeister 120 A . 44 Lévi-Strauss, Claude 178 Lindau, Marquard v o n 61 Lizardi, Fernández de 253-267 — El Periquillo Sarniento 256ff., 262 Llosa, Mario Vargas 265 — La guerra del fin del mundo 265 Loerke, Oskar 197, 201 Lotichius, Petrus Secundus 318 Luckmann, Thomas 375 Luther, Martin 323 Lyell, Sir Charles 273 — The Antiquity of Man 273

— Der Zauberberg 153, 154, 173 Major, Georg 323 Meister Eckhart 47-64, 313-316 — Buch von göttlicher Tröstung 49 A. 11, 315 — Paradisus animae intelligentis 315 — Rechtfertigungsschrift 63 Melville, Herman 82, 310-311 — »Bartleby, the Scrivener« 310-311 Mercier, Louis Sébastian 248-250, 289 A .

12 — L'An

2440 248-250, 289 A . 12

Molière, Jean Baptiste 105-117 passim — Monsieur de Pourceaugnac 112 Montaigne, Michel Eyquem 375 — Essais 375 Montesquieu, Charles de Secondât, Baron de la Brède et de 257 Morelly 243, 246-247, 263, 264 A. 24 — Code de la Nature 246-247, 264 A. 24 — Naufrage des Isles flottantes ou Basiliade 264 A. 24 Morley, John Viscount 271, 272 — On Compromise 271 Morus, Thomas 220, 223, 225, 226, 234, 237-239, 243-245, 247, 258, 260, 266, 291, 293 — Utopia 223,234,237-239,254,256,266, 291 Nazareth, Beatrijs von 313 Newton, Isaac 246 Das Nibelungenlied 23-45 passim, 34-40 Nietzsche, Friedrich 124,162,163,164,171, 173 — Ecce Homo 162 — Geburt der Tragödie 171 Nikolaus v o n Flüe 313 Nikolaus v o n Kues 61 Nizami, Gandzavi 299-307 — Chosrau und Schirin 200 f. — Leila und Madschnun 299-307

Macropedius, Georgius 323, 325 Magnus, Albertus 48 Maitland, Edward 280 — By and By 280 Mallock, W. H. 272, 277 — The New Republic 272, 277 Mann, Heinrich 151, 152 Mann, Klaus 153 Mann, Thomas 141-155, 157-174 — Betrachtungen eines Unpolitischen 143,145, 151, 160 — Doktor Faustus 148, 149, 154 Ockham, Wilhelm v o n 61 A . 52 — Felix Krull 157-174 Orwell, George 269, 282 — Leiden an Deutschland 149 — Nineteen Eighty-Four 282 — Lotte in Weimar 154 — Meine Zeit 145 Pascal, Blaise 375 — Tod in Venedig 153, 173 — Pensées 375

Namen- und Werkregister Patots, Tissot de 243 — Voyage de Jacque Massé 243 Petrus de Este 51 Petrus von Tarantasia 48 Pindar 346 Platon 16,123, 220-222,224,236, 244, 254,

260 — Politeia 220-222, 224, 260 Plautus 109, 322, 323 Plutarch 16 Poe, Edgar Allan 82, 379 Porète, Marguerete 59, 313-315 — Miroir des simples âmes 315 Potanus, Jacobus 324 Pound, Ezra 372 Queiroz, Raquel de 335 Quevedo y Villegas, Francisco Gômez de 256 Quiroga, Vasco de 254 Rabelais, Francois 257 Raimond von Pennaforte 47, 57 — Summa de paenitentia 47 Raimund, Ferdinand 109, 115 Reinhardt, Max 106 Rilke, Rainer Maria 201-203, 209 — »Oft fühl ich in scheuen Schauern« 201 Ripensis, Johannes Franciscus 318 Rousseau, Jean-Jacques 162, 246, 257 — Discours sur L'inégalité 246 Ruef, Jakob 323 Rüte, Hans v o n 323 Rumsik, Johannes 47 — Summa confessorum Al Rutilius Namatianus 316 — De Reditu suo 316 Schahin von Schiras 300 Schiller, Friedrich von 342-346 — Die Braut von Messina 345 — Don Carlos 344 — Maria Stuart 344 — Wallenstein 345, 346 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 375 Selim I 300 Seneca 322, 323, 325 Shakespeare, William 257, 286, 290, 308-309, 376 — As You Like It 376 — King Lear 308-309

— The Tempest 286 Shaw, George Bernard 266 Shelley, Percy Bysshe 87, 87 A . 13 — »Ode to the West Wind« 87, 87 A . 13 Simmel, Georg 124, 125 Song of Roland 308-309 Spencer, Herbert 274 — The Man versus the State 274 Spinoza, Baruch de 335 Stifter, Adalbert 355-358 Swift, Jonathan 266 Tennyson, Alfred, L o r d 94 A. 41 — Tithon 94 A . 41 — Tithonus 94 A . 41 Terenz 109, 322, 323 — Hekyra 109 Tieck, L u d w i g 117 — Prinz Zerbino 117 St. Trudperter Hohenlied 367, 370 Tyndall, John 273 Valéry, Paul 176 Vaughan, Henry 81 — »Regeneration« 81 — Silex Seint illans 81 Veirasse, Denis 243-245 — Histoire des Sévérambes 244-245 Vergil 17 Vinci, Leonardo da 237 Virneburg, Heinrich v o n 60 Voltaire, François 254, 256 — Candide ou l'Optimisme 254 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 347-355 Watson, H . C. M . 275-280, 282, 283 — Erchomenon; or, The Republic of Materialism 275, 277, 278, 282 Weiss, Peter 346 Whitman, Walt 371 Wieland, Christoph Martin 172, 344 Wells, Herbert George 266, 279, 283, 287 A . 8 — A Modern Utopia 287 A . 8 — When the Sleeper Wakes 283 Werfel, Franz 121 A . 44 Wolfram v o n Eschenbach 23-45 passim, 313 — P a r s a l 23-45 passim, 40-44, 313 Wordsworth, William 82 Woolf, Virginia 128