Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 46. Band (2005) [1 ed.] 9783428518814, 9783428118816

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 46. Band (2005) [1 ed.]
 9783428518814, 9783428118816

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES

JAHRBUCH

N e u e Folge, b e g r ü n d e t v o n H e r m a n n K u n i s c h

IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. T H E O D O R B E R C H E M , PROF. D R . V O L K E R KAPP, PROF. DR. K U R T M Ü L L E R , PROF. DR. R U P R E C H T W I M M E R , PROF. D R . A L O I S W O L F

SECHSUNDVIERZIGSTER

BAND

2005

Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch w i r d im Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-

gegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Volker Kapp, Klausdorfer Str. 77, 24161 Altenholz, Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-SchillerUniversität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Ruprecht W i m mer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt und Prof. Dr. Alois Wolf, Lorettostraße 60, 79100 Freiburg. Redaktionsanschrift:

Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik,

Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena. Redaktion: Dr. Jutta Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von

etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es w i r d dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES

JAHRBUCH

SECHSUNDVIERZIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N K U N I S C H

I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N T H E O D O R B E R C H E M , V O L K E R KAPP, K U R T M Ü L L E R RUPRECHT WIMMER, ALOIS WOLF

SECHSUNDVIERZIGSTER B A N D

2005

D U N C K E R

&

H U M B L O T

- B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-11881-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

VORBEMERKUNG M i t diesem Band beenden Theodor Berchem, verantwortlich für den Bereich der Romanischen Literaturen, und Alois Wolf, verantwortlich für den Bereich der Alteren Deutschen Literatur, ihre Tätigkeit als Mitherausgeber des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. Die Görres-Gesellschaft dankt ihnen für ihre langjährige verdienstvolle Mitarbeit. A b dem nächsten Band tritt Klaus Ridder, Tübingen, die Nachfolge von Alois Wolf an. Die Herausgeber i m Namen der Görres-Gesellschaft

INHALT AUFSÄTZE Werner Hoffmann (Frankfurt a. M.), Treubrüchige und Verräter i n der mittelhochdeutschen Heldendichtung

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Bernd Schirok (Freiburg i. Br.), Die Inszenierung von Munsalvaesche: Parzivals erster Besuch auf der Gralburg

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Tobias Leuker (Augsburg), Tempus recreationis: Das Erholungsbedürfnis des Menschen als Argument zur Rechtfertigung unterhaltsamer Texte und Gespräche der italienischen und französischen Literatur (1300-1550)

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Thomas Haye (Göttingen), Einmal R o m und zurück - Über antikuriale Dialoge und die Renaissance der Komödie i m 15. Jahrhundert

105

Jürgen von Stackelberg (Göttingen), Voltaire und D'Alembert. Zur Geschichte einer Aufklärerfreundschaft 135 Winfried Herget (Mainz), >A11 words are created equalRosengarten zu Worms< } hg. Georg H o l z (Halle a. S. 1893, Nachdruck Hildesheim 1982)]. U m Witege zum Zweikampf mit dem Riesen Asprian zu bewegen, ist Dietrich bereit, Witege das Pferd Schemminc zurückzugeben (316), das er früher von ihm erhalten hat. Witege macht dies geradezu zur Bedingung, daß er kämpft (318). A u f der Rückreise der Sieger w i r d in Bechelaren ein Buhurt veranstaltet. Wolfhart ist verärgert darüber, daß Witege dabei Schemminc reitet (620), und Witege eröffnet darauf Dietrich, daß er ihm nicht mehr dienen könne (621) - wegen des mit Haß verbundenen übermuotes der Wülfinge (622,2). Der Berner, der sofort weiß, daß Witege seine Dienste Ermenrich anbieten wird, ermahnt ihn, an die ihm, Dietrich, geleisteten Eide zu denken (623,3/4), woraufhin Witege erklärt, wenn er eidbrüchig werde, solle er verflucht sein (624,2). Hinter der Auseinandersetzung zwischen den beiden Mannen Dietrichs steht offenbar der Gegensatz zwischen einem Vertreter des Geschlechts der Wülfinge (Wolfhart), das von Anfang an dem König zugehörig ist, und einem von >außen< gekommenen Recken (Witege). I m Rosengarten A nennt sich Witege bezeichnenderweise ausdrücklich hie eilende (228,2). 33 Allerdings ist der Plot von Alpharts Tod inhaltlich nicht mit der Erzählung in den beiden großen Epen koordiniert. So w i r d in Dietrichs Flucht berichtet, daß Alphart in der dritten großen Schlacht sein Leben verloren hat, und zwar - ein oft angeführtes Beispiel für die Unaufmerksamkeit des Erzählers - sogar zweimal von der H a n d verschiedener Gegner: durch Pitrunch (9507-9510) und durch Reicher (9681). Dietrich beklagt den jungen Helden exzessiv (9901 ff.).

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Alpharts Tod ersieht Ermenrich, dem in dieser Dichtung der Kaisertitel beigelegt ist, Heime dazu aus, den Bernern die Fehde anzusagen, eine Aufgabe, die er nur ungerne übernimmt (2,4). Er tut es i n Unkenntnis des Grundes, warum Ermenrich seinen Neffen aus dem Land vertreiben will. Dietrich erinnert Heime daran, wie er nach einer Niederlage gegen ihn sein man geworden i s t 3 4 (10), und hält ihm vor, wenn er zu Ermenrich zurückreite - und das heißt in der Konsequenz zugleich: wenn er auf dessen Seite kämpfe - , werde er ihm gegenüber seine triuwe und seine ère brechen (8,3), was für ihn, Heime, mit immerwährender Schande verbunden sei (8,4; 9,4). Heime beruft sich darauf, daß Ermenrich ihn mit gewalte zur Übernahme der Botschaft gezwungen habe (18,3; vgl. 22), und er fügt hinzu, der Kaiser wolle ihn bei sich behalten (18,4). Diese Äußerung scheint darauf hinzuweisen, daß Heime noch nicht definitiv aus den Diensten Dietrichs in die Ermenrichs übergetreten ist. Der Berner versucht ihn auf seine Seite zu ziehen bzw. zum Bleiben zu bewegen und erwähnt dabei, daß er ihm Silber und Gold hat zukommen lassen (19,3) - die Heime aber auch in Fülle von Ermenrich erhalten hat (32). Ganz offensichtlich spielen materielle Anreize bei der Aufnahme in die Dienste eines Herrn und bei dem Wechsel eines Herrn eine große Rolle. Hier erzählt der A u t o r durchaus wirklichkeitsnah. 3 5 Als Heime aus einem nicht genannten Grund Dietrich verlassen hat, hat er ihm gelobt, ihm niemals Schaden zuzufügen (27,2-4). D o c h gerade dazu ist er jetzt entschlossen, was er auf Dietrichs direkte Frage ausdrücklich zugibt (31,4). Auch ohne daß in der Dichtung selbst die rechtlichen Implikationen ganz deutlich werden, liegt gewiß Felonie vor. So ist Heimes Kennzeichnung durch Dietrich als ërelôser man (27,3) wie als ungetriuwer man (34,3) auch >objektiv< berechtigt. Es ist nur folgerichtig, daß Heime für seinen Rückritt eigens um Geleit bittet, das Dietrich ihm zunächst nur eingeschränkt (36), auf Heimes eindringliche Bitte aber umfassend gewährt (37). Für eine künftige Begegnung droht ihm Dietrich jedoch den Tod an (40). Heime versichert indes Dietrich - wenngleich, wie der Erzähler bezeichnenderweise hinzufügt, mit listen (41,1) - , daß er und Witege geschworen haben, gegen Dietrich niemandem zu Hilfe zu kommen (42). Der Berner ist angesichts dieser Versicherung bereit, Heime zu verzeihen, was er ihm angetan hat (43,2) - wenn er sich denn auf Heimes Worte verlassen kann, woran er nicht unberechtigte Zweifel hat (torst ich mich daran lan y 43,1). Aus der relativ einläßlich, wiewohl nicht in allen Einzelheiten wiedergegebenen Szene erfahren w i r mehr über die Umstände eines Treubruchs als sonst aus 34

Nach der einzigen Handschrift sogar sein eygen man. Beibehalten hat den Wortlaut der Handschrift naturgemäß U w e Zimmer, Studien zu >Alpharts Tod< nebst einem verbesserten Abdruck der Handschrift, G A G 67 (Göppingen 1972). 35

Dabei ist selbstverständlich in alter epischer Tradition i m Gold (und Silber) verdichtet und vergegenwärtigt, was tatsächlich eine viel breitere Palette von Loyalität begründenden Rechtsakten war.

Treubrüchige und Verräter in der Heldendichtung

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der mittelalterlichen Heldendichtung, auch wenn w i r uns die pragmatischen Zusammenhänge und die rechtliche Wertung noch deutlicher vergegenwärtigt gewünscht hätten. Klar dürfte sein, daß materielle Verlockungen Heime veranlaßt haben, in des mächtigen Ermenrichs Dienste zu treten. Gewiß gibt es für den Wechsel des Lehns- oder Dienstherrn auch andere Motive, etwa falls der Herr dem Mann Unrecht zugefügt hat, was i m Falle Heimes von vornherein ausscheidet. Aber wenn die Dichter den ungetriuwen aufs schärfste verurteilen, dann gilt ihr Verdikt seinen Handlungen, nicht dem Gold, das bei seinem Treubruch i m Spiele war. U n d sofern Heime nicht gegen Dietrich gekämpft hätte, wäre er ein integrer Recke geblieben - aus der Sicht des Berners wie w o h l auch des Erzählers und in Ubereinstimmung mit den geschichtlichen Gegebenheiten. Diese Integrität ist nicht an die Bewahrung und Bewährung der Treue zu einem Herrn u m des Prinzips der Treue willen gebunden. Den Entschluß Heimes wie seines Gefährten Witege, Dietrich gegenüber treubrüchig zu werden, hat der Erzähler in einer eher beiläufigen Bemerkung ziemlich überraschend auf die raete Sibeches zurückgeführt (41,4). Der Urheber des Unrechts ist also wieder der böse Ratgeber. Doch bedeutet das keinerlei Entlastung für die beiden. Überdies weiß Dietrich - woher w i r d nicht erklärt - , daß Sibeche der ungetriuwe (71,1) Ermenrich geraten hat, ihn zu vertreiben und ihm das Leben zu nehmen. So ist es verständlich, daß ihm auch in Alpharts Tod wiederholt das Epitheton ungetriuwe beigelegt wird. U m Heime gerecht zu werden, darf man nicht außer acht lassen, daß er nach seiner Rückkehr aus Bern sich bei Ermenrich für Dietrich eingesetzt hat. Er erinnert ihn daran, daß dieser der Sohn seines Bruders ist (62,4), mahnt ihn somit an die aus der Blutsverwandtschaft erwachsenden Pflichten - die Ermenrich völlig gleichgültig sind - , und trotz eines Zornesausbruchs des Kaisers wiederholt er, daß es unvriuntlich gehandelt wäre, den Berner aus seinem Erbe zu vertreiben (63,2; 66,4). unvriuntlich bedeutet allgemein >feindschaftlich, feindseligUberläufernnur< objektiven und einer vielleicht doch vorhandenen subjektiven Schuld bei dem Kampf gegen einen Mann des Lehnsherrn, in dessen Diensten sie selbst einmal standen, kommt es dem Dichter nicht an. U n d entsprechend richtet sich Dietrichs Racheverlangen gegen Witege und Heime, ohne daß er sich die Frage stellt - und heldenepischem Erzählstil gemäß zu stellen brauchte - , ob sie wußten, daß ihr Gegner Alphart oder ein anderer Mann des Berners war. A u f der Walstatt sucht Dietrich Witege und Heime (431), und da sie seine überlegene Kampfkraft fürchten, brechen sie ihre Zeichen von den Helmen, um nicht erkannt zu werden (432) - wiederum nicht gerade ein vorbildliches ritterliches, aber aus ihrer Sicht ein taktisch kluges Verhalten. Dietrich erringt zwar den Sieg, doch wie Ermenrich und Sibeche entkommen auch Witege und 37 Wenn man unbedingt eine Erklärung suchen w i l l , wieso Alphart seine Gegner erkennt, dann ließe sie sich darin finden, daß Witege und Heime sich untereinander mit ihren Namen anreden und Alphart das gehört habe. Aber das gilt nicht für die Identifizierung Witeges noch vor dem Kampf.

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Heime. So bleibt ihr Unrecht - und es ist anscheinend mehr die unehrenhafte Kampfesweise gegen Alphart als der Treubruch gegen Dietrich - ohne Strafe. Dafür können für den A u t o r von Alpharts Tod durchaus pragmatische Überlegungen ausschlaggebend gewesen sein: Witege und Heime gehören zum Personal der beiden großen Dietrichepen, und zumal Witege ist in der Rabenschlacht eine unverzichtbare Gestalt. Dennoch darf man daran erinnern, daß auch der Hauptschuldige an dem unheilvollen Geschehen, Ermrich, am Ende des in der Dietrichepik Erzählten seiner Strafe entgeht, und dafür bestand keine von der Epenfabel vorgegebene unabdingbare pragmatische Notwendigkeit. Der in den historischen Dietrichepen stärker hervortretende Witege ist der Anführer jenes Trupps (DF, 3683), der der kleinen Schar von Dietrichs Leuten, die den Sold für sein Heer holen sollen, einen Hinterhalt legt, und zu den beteiligten Recken gehört auch Heime (3747). I m übrigen ist aus Dietrichs Flucht unter dem hier interessierenden Aspekt des Verrats und der Figur des Verräters nur eine Episode wichtig. Sie ist allerdings von besonderer Aussagekraft. Witege entschließt sich nach der von Dietrich gewonnenen Schlacht von Meilan (Mailand), die auf die Rückeroberung Berns folgt, bei diesem zu bleiben - aus welchem Grund w i r d hier wieder einmal nicht gesagt. Der Berner weiß, daß Witege wie sein jetziger Herr Ermrich voller untriwe ist (7133/34). Doch setzt Witege sein Leben und seine Ehre zum Pfand, daß nur der Tod ihn von Dietrich scheiden könne (7137 ff.). Rüedeger und andere raten dem König, Witege, dem sie Reue unterstellen, wieder aufzunehmen, und Dietrich ist dazu bereit: nu wil ich dine triwe sehen. / Bistu ein reht getriwer man, / daz la dir nu sehen an (7159-7161). Kann man die Tatsache, daß Dietrich den Treulosen wieder in Gnaden aufnimmt, als Ausdruck einer Herrschertugend deuten und auch als Bewährung der christlichen Forderung nach Vergebung, so w i r d er der vom Herrscher gleichfalls geforderten nüchternen Einschätzung der Realität, der von ihm erwarteten Klugheit und Weitsicht nicht i m mindesten gerecht, wenn er Witege sofort als Markgraf von Raben (Ravenna) einsetzt (7162), da der dortige Statthalter, Herzog Sabene, ein Inbegriff der Treue, sein Leben verloren hat. Von der Übertragung der Regierungsgewalt in Ravenna berichtet der Erzähler nur ganz knapp (7178-7180), und ebenso knapp kommentiert er, das künftige Geschehen antizipierend: Do swr ouch im der balde / dreizzech eide an der zit y / die lie er alle meine sit (7181 -7183). Es w i r d für Dietrich in der Rabenschlacht besonders schmerzhaft sein, daß er als Geste betonter Großzügigkeit Witege bei der Wiederaufnahme in seine H u l d das schnelle Pferd Schemminc schenkt, was er mit den Worten begleitet: swenn so du dar öf bist , / so chan dich in cheiner vrist / iemen wol erriten / nahen noch witen (71987201). Das wird, worauf der Erzähler vorausdeutend hinweist (7202-7205), auch für Dietrich gelten und sein Leid, seine >Tragik< erhöhen, hat er selbst doch dem Verräter die Möglichkeit verschafft, ihm zu entkommen. Von Ecke-

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wart - man kennt ihn aus dem Nibelungenlied - erfährt Dietrich am Hofe Etzels, an den er zurückgekehrt ist, von Witeges Verrat: Er hat die Stadt an Ermrich ausgeliefert, der unter den Einwohnern ein fürchterliches Blutbad angerichtet hat (7695 ff.): Swaz ich von untriwe ie horte sagny / daz ist ein tou und ein wint / wider die untriwe , die da ergangen sint (7703 - 7705). Witeges Tat ist klärlich Felonie, mit der er endgültig zum ungetriwen geworden ist. Über das Motiv, das Witege zu seinem Verrat veranlaßt hat, schweigt der Dichter abermals. I n der Heldendichtung genügt eben weithin das Erzählen des Faktischen. Witege verkörpert den Typ des Verräters und als solcher handelt er. I n seinen Handlungen offenbart sich sein Wesen. Wie sich seine Wesensart aber möglicherweise erklären läßt, liegt jenseits der Interessen des Dichters und offenbar auch seines Publikums. I n der Rabenschlacht ist mit Witege der Tod von Dietrichs jüngerem Bruder Diether und der beiden Söhne Etzels verknüpft, zu dem es nur kommen konnte, weil Dietrich wieder seiner Fürsorgepflicht, die er Etzel und Helche gelobt hat, nicht gerecht geworden ist - sowenig wie der für die Einwohner seiner Stadt Raben. Witege trifft zufällig auf die drei jungen Könige, die auf einen falschen Weg geraten sind, und der Autor vermittelt den Hörern und Lesern sogleich das Wissen: da namen si den ende / von des ungetriuwen Witegen hende (364,5/6). Witege hat diese Begegnung nicht gesucht und er möchte den Kampf i m Grunde vermeiden. Aber das in den Jünglingen aus königlichen Geschlechtern angelegte und ihnen anerzogene heroisch-ritterliche Ethos läßt das nicht zu. Diether erkennt Witege sofort, und er denkt an das Leid, das dieser über ihn gebracht hat, und an die untriuwe gröz , / die er an im hete begangen (380). Seine Kräfte maßlos überschätzend, wünscht er sich, daß Witege durch ihn sein Ende finde (384,5/6), und vroun Heichen süne sind bereit, ihn dabei zu unterstützen. Diether apostrophiert Witege als zage ungetriuwer (390,1), und da Witege als recke vil vermezzen (393,5) es verschmäht und verschmähen muß zu fliehen, bleibt ihm nur die Alternative, sich zum Kampf zu stellen. Etzels Sohn Scharphe, der Witege als erster angreift, verliert nach tapferer Gegenwehr sein Leben. Sein Bruder Orte w i l l ihn rächen. Vergeblich versucht Witege ihn davon abzuhalten (416, 417, 419). Der Kampf währt bis zum Einbruch der Nacht, zumal Orte und Diether gemeinsam gegen Witege kämpfen und ihn dabei von vorn und von hinten angreifen - woran der Dichter der Rabenschlacht i m Gegensatz zu den Vorstellungen des Verfassers von Alpharts Tod keinen Anstoß nimmt. Nach Orte unterliegt schließlich auch Dietrichs Bruder, der den erfahreneren Witege in arge Bedrängnis gebracht hat. Der Dichter hat es nicht unterlassen, in der letzten Phase des Kampfes Witege noch einmal als ungetriuwen man zu bezeichnen (454,4), während Diether prononciert als der getriuwe erscheint (458,3). Daß Witege alles andere als ein gefühlloser Bösewicht ist - i m Unterschied zu seinem Herrn Ermrich - , zeigt seine

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Reaktion auf Diethers Tod: Er beklagt ihn mit exaltierten Worten und auch mit Gebärden, wie sie für den Klagegestus der Rabenschlacht charakteristisch sind. Doch dieser bewegt klagende Witege ist für den A u t o r gleichwohl der ungetriuwe man (460,4) - die mit den Personen jeweils stereotyp verbundenen Epitheta werden ihnen i n der Heldendichtung auch in Situationen beigelegt, in denen sie nicht passen. Freilich ist Witege nicht nur von Schmerz darüber erfüllt, daß er Dietrichs Bruder getötet hat, töten mußte, sondern auch von der Furcht vor Dietrichs Rache (461,5/6). Der Berner erkennt an den Wunden der jungen Könige, wessen Schwert ihnen den Tod gebracht hat, und er spricht von Witege als verworhtem übeltaete (902,5). Alsbald sieht er ihn vorbeireiten und nimmt die Verfolgung auf. Wiederholt ruft er ihm zu anzuhalten, zeittypisch auch u m aller vrouwen w i l len (922,5; 939,2 [hier: durch elliu werdiu wip\). Er redet ihn dabei auch mit auszeichnenden, sein Kämpfertum hervorhebenden Wendungen an (so 922,4 und 932,3), die zu seiner Charakterisierung als der ungetriuwe i m Gegensatz stehen und die sicherlich dadurch bedingt sind, daß Dietrich mit ihnen an Witeges Ehrgefühl appelliert. Doch Witege fürchtet seinen früheren Herrn und wagt nicht, sein Pferd zum Stehen zu bringen. Dies mag vernünftig sein ruhmvoll ist es nicht. Das verdeutlicht der Rab enschlach ¿-Dichter, indem Witeges swestersun Rienolt, der unvermutet als sein Begleiter erwähnt wird, die genau gegenteilige Haltung bewährt. Lediglich zum Zwecke dieser Kontrastierung w i r d der Dichter ihn eingeführt haben: Rienolt stellt sich zum Kampf, in dem er sein Leben verliert (954). 38 Witege ist unterdessen ohne Aufenthalt weitergeritten. Wieder fordert Dietrich ihn bei diesem filmreifen dramatischen Verfolgungsritt auf, mit ihm zu kämpfen, und er benutzt jetzt auch das Argument, er solle seinen Neffen Rienolt rächen (957). Aber für Witege ist das nur der Anlaß, sein Pferd Schemminc zu noch größerer Schnelligkeit anzuspornen. Gleichwohl kommt Dietrich auf seinem Roß Valke seinem Feind immer näher, und Witege ruft Gott an, ihm von hier wegzuhelfen (963,6). Die beiden Reiter sind inzwischen ans Meer gelangt - geographisch gesehen ist es die Adria - , und dort ist es eine merminne , die Witege, der überraschend als vil küener man tituliert w i r d (965,4), rettet, indem sie ihn auf den Meeresgrund führt. Das dem tatsächlichen situativen Sachverhalt geradezu peinlich widersprechende A t t r i but küene sollte vielleicht die übernatürliche Rettung rechtfertigen - einem ungetriuwen man hätte sie nicht zugestanden. 39 Doch auch so hat das plötzliche Auftauchen der merminne und ihr Eingreifen in das Geschehen - und das un38 I n Dietrichs Flucht w i r d dagegen erzählt, daß Rienolt (ist er mit dem Rienolt der Rabenschlacht identisch?) von Wolfhart erschlagen worden ist (3371-3382). 39 Möglich ist allerdings auch, daß der A u t o r das Epitheton küene mit Bedacht ironisch gebraucht hat. M a n vergleiche dazu die Verwendung des Epithetons unverzagt in Strophe 972,4.

Treubrüchige und Verräter in der Heldendichtung

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mittelbar nach Witeges Stoßgebet an Gott - etwas Unbefriedigendes. I n einem >historischen< Dietrichepos stellt das Erscheinen dieser dea ex machina, nach dem Verständnis des heutigen Lesers, das sich nicht mit dem des mittelalterlichen deckt, einen Bruch i m narrativen Nexus dar, der ganz in die (pseudo-) historische Wirklichkeit eingebettet ist, die für Wesen der niederen M y t h o logie eigentlich keinen Raum haben dürfte. I n den Wolfdietrich-Epen gibt es hierzu bekanntlich recht genaue Parallelen. 40 Frau Wachilt hat auf dem Meeresgrund noch ein Gespräch mit Witege, dem sie in der von ihr auch begründeten Überzeugung, er würde Dietrich besiegt haben, Feigheit vorhält (971). Witege erklärt sich daraufhin bereit, sich dem Berner zu stellen, und man weiß nicht, ob es beißende Ironie ist oder wenig durchdacht, wenn der Erzähler ihn nunmehr als unverzagten man bezeichnet (972,4). Doch die merminne belehrt ihn, daß es dafür zu spät sei (972,5). Wenn man sich nicht damit zufriedengeben will, das Auftauchen der Meerfrau einfach als ein aventiurehaftes Element zu erklären, das aus dem zur Verfügung stehenden Motivreservoir leicht in höfische Romane wie Heldenepen eingefügt werden konnte, dann w i r d seine Funktion die sein, hervorzuheben, daß Witeges Rettung nur außerhalb der >rein< menschlichen Welt möglich war. Ohne das Eingreifen eines Wesens aus der anderen Welt wäre Witege von Dietrich gestellt und besiegt worden. So aber ist es dem Berner versagt geblieben - ohne daß ein tieferer Grund hierfür i m Text auch nur angedeutet wäre - , Witege für seine untriuwe zu bestrafen, eine Untreue, die Felonie und Verrat ist, während Dietrich selbst ganz vom Willen zur Rache für die Tötung der hunnischen Prinzen und seines eigenen Bruders geleitet w i r d und damit für eine Tat, die Witege i m Grunde nicht gewollt hat. Auch Heime, dem i n der Rahenschlacht die Auszeichnung zuteil geworden ist, als Ermrichs Fahnenträger zu fungieren (840), und der einen ehrenvollen und erbitterten Zweikampf mit Rüedeger zu bestehen hat, in dem er zwar nicht den Sieg erringt, aber am Leben bleibt, kann von der Walstatt fliehen, und er ist es, der jetzt Ermrich die Nachricht von der Niederlage seiner Truppen überbringt (847). Doch von seiner Bestrafung zu erzählen, hätte in der Rabenschlacht ohnehin kaum ein Anlaß bestanden. 41 40 Siehe Daniela Hempen, »Grenzüberschreitungen: Begegnungen mit der wilden Frau in dem mittelhochdeutschen Epos Wolfdietrich B«, MDU, 89 (1997), 1 8 - 3 0 . Jüngst auch Justin Vollmann, »Wolfdietrich und die Wilden Frauen«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft, 14 (2003/2004), 243-254. 41 Völlig abwegig ist es, wenn Alex Kraemer behauptet, daß Witege und Heime in der Rabenschlacht die Strafe für ihren Landesverrat erreicht hätte [A. K., Der Typus des falschen Ratgebers, des Hoch- und Landesverräters im altdeutschen Schrifttum (Diss. Bonn 1941 [Masch.]), 64]. Der Titel dieser Dissertation ist verheißungsvoll, ihr Inhalt aber außerordentlich dürftig. Man kann es w o h l nur aus den Zeitumständen erklären, daß Kraemers >Leistung< als Dissertation akzeptiert worden ist.

3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 46. Bd.

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Loyalitätsprobleme und -konflikte hat es in der feudalen Realität immer wieder gegeben, zumal die Doppel- und die Mehrfachvasallität weit verbreitet waren, und auch der Wechsel von einem Lehnsherrn zu einem anderen war nichts Ungewöhnliches. Nach dem Zeugnis der historischen Quellen dürfte man sich i m allgemeinen u m pragmatische Lösungen, u m einen Ausgleich der jeweiligen Interessen bemüht haben. Dem entspricht letztlich auch die Beilegung des Konflikts zwischen den Brüdern Siegfried und Kadold, den beiden »Waisen« (orphani), mit dem österreichischen Herzog Friedrich dem Streitbaren i m Jahre 1246, wie ihn Jans Enikel i n seinem zwischen Geschichtswerk und Dichtung changierenden Fürstenbuch schildert. 4 2 I m auffälligen Gegensatz dazu haben die Verfasser der Dietrichepen und zumal der von Dietrichs Flucht eine andere Auffassung propagiert, indem sie Witeges und auch Heimes Handlungsweise wenn nicht von vornherein als Treubruch einstuften, so doch diese irreversible Konsequenz eintreten ließen und die Akteure darüber hinaus auch moralisch diffamiert haben. W i r können die überlieferten Dietrichepen nicht derart genau i m 13. Jahrhundert verorten, daß w i r bestimmte Erzählinhalte - und deren auktoriale Bewertung - mit konkreten kontemporären Konstellationen in Verbindung zu bringen vermöchten. Aber in der damaligen wechselvollen Geschichte des Herzogtums Osterreich (und benachbarter Territorien, vor allem der Steiermark) werden Pflichtenkollisionen häufig i m Blickfeld der Rezipienten gelegen haben, und die Annahme drängt sich auf, daß die Entscheidung eines Lehnsträgers gegen einen seiner Herren durchaus auch so beurteilt worden ist wie z. B. die Witeges in der Dichtung.

III. Eine weitere Heldendichtung, i n der vorbildliche Bewährung der triuwe und zelotisch praktizierte untriuwe kontrastiert sind, ist der Wolfdietrich. Das Thema der Treue ist in ihm ganz auf die Mannentreue fokussiert, die nicht allein die Bereitschaft zum Sterben für den Herrn - hier ist es, genau genommen, der Sohn des Lehnsherrn - einschließt, sondern die dies dem getriuwen Berhtunc und einigen seiner Söhne auch tatsächlich abverlangt. So wie die weit über die rechtliche Verpflichtung hinausgehende triuwe in Berhtunc ver-

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Vgl. Ursula Liebertz-Grün, Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu Ottokar von Steiermark, Jans Enikel, Seifried Helbling, Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 5 (München 1984), 83-85. Neuerdings Tatsuo Terada, »Doppelte Lehnsbindung i m Mittelalter. Eine Fallstudie«, in: Neue Beiträge zur Germanistik. Bd. 1. Internationale Ausgabe von »Doitsu Bungaku«, 109 (2002), 137-150. Dieser vorzügliche Aufsatz enthält ausgedehnte Literaturangaben.

Treubrüchige und Verräter in der Heldendichtung

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körpert ist, so ist i m Ambraser Wolfdietrich , dem Wolfdietrich A43 (der den überlieferten Dietrichepen zeitlich vorausgeht und auf den ich mich beschränke), sein einstiger Gefährte und jetziger Gegenspieler Sabene geradezu die Inkarnation der untriuwe. Wahrend Berhtunc von Anfang an der (vil) getriuwe heißt, ist das Sabene ständig beigelegte Epitheton entsprechend ungetriuwe ein Wort, das für ihn ebenso häufig als Antonomasie dient wie getriuwe als Umschreibung für Berhtunc. Auch als der valsche (48,1; 230,1) und der valsches riche (13,1) w i r d Sabene bezeichnet. Er fungiert, Sibeche in der Dietrichepik vergleichbar, als Ratgeber des Königs Hugdietrich, der ihm zunächst blind vertraut, dann jedoch seine untriuwe erkennt. Sabene verliert vorübergehend seine Stellung am Hof, kann sie aber nach dem Tod des Königs zurückgewinnen und noch ausbauen, so daß er zum eigentlichen Herrscher in Konstantinopel wird. Damit ist seine Position mächtiger als die Sibeches. Verleumdung und Intrige sind die von ihm bedenkenlos eingesetzten Mittel. Er verleumdet sowohl die Königin als auch Berhtunc bei dem König und später bei dessen älteren Söhnen. Alles Unheil, das über das Land kommt, ist sein Werk. Eine Begründung, weshalb die Treulosigkeit der Sabene prägende Wesenszug ist, hat der Dichter nur ansatzweise gegeben. Immerhin erfahren w i r hierüber etwas mehr als aus den deutschen Dietrichdichtungen über das M o t i v oder die Motive Sibeches. Klar ist, warum sich sein Haß gegen die Königin richtet: Während einer längeren Abwesenheit auf einer Heerfahrt hat der König Sabene die Regentschaft über sein Reich und die Obhut über die Frauen anvertraut - übrigens auf den Rat Berhtuncs hin - , und diese Machtstellung sucht Sabene dazu zu benutzen, die Königin, die ihr drittes K i n d erwartet, zu verführen, wobei er dreist das Argument vorbringt, ihr Gemahl werde ohnehin nicht von dem Feldzug zurückkommen (13,4). Sie hat ihn abgewiesen und er rächt sich - ein gängiges literarisches M o t i v - , indem er die Königin nach der Rückkehr des Herrschers der Unzucht bezichtigt. Aber ihre Reaktion ist nur der Anlaß, der >AuslöserWolfdietricbWolfdietrich< der Ambraser Handschrift (>Wolfdietrich Azu nichts gebrachtnaive< Blindheit gegenüber der Realität eignet. Nachdem Sabenes Machenschaften aufgedeckt sind und öffentlich bekannt geworden ist, daß er es war, der dem König eingeredet hat, seinen neugeborenen Sohn umbringen zu lassen, appellieren sowohl der Herrscher als auch seine Gemahlin an Berhtunc, sich an Sabene zu rächen, der ganz in seiner Hand ist; offenbar obliegt es ihm, das Urteil über den ungetriuwen zu sprechen. Sabene bittet ihn um Erbarmen (220) und redet ihn dabei geschickt als geselle unde herre an (220,4). Er suggeriert Berhtunc damit berechnend gleichsam das Stichwort, das diesen dazu führt, seinem Verderber zu verzeihen - durch gesellicliche triuwe , wie Sabene heuchlerisch sagt (222,2). Der König, der hellsichtig geworden ist, warnt Berhtunc vor dem Treulosen und kündigt ihm an: swaz du in nu lenger fristest, daz ist üf 44 Daß i m Zuge der von nationalen Antrieben bis hin zu ihren chauvinistischen Ubersteigerungen nicht freien Rezeption der mittelalterlichen Heldendichtung i m 19. und 20. Jahrhundert Sabene nicht dazu benutzt wurde, ihn wegen seiner hunnischen Vergangenheit zur Verkörperung ungermanischer Falschheit und Tücke zu machen, hat w o h l zwei Gründe. Einmal war der Wolfdietrich außerhalb der Fachwissenschaft viel zu wenig bekannt, als daß eine ideologische Instrumentalisierung erfolgversprechend gewesen wäre; zum andern stand Sabenes Opfer Berhtunc i m Dienste eines >griechischen< (byzantinischen, oströmischen) Herrschers, jedenfalls in der tatsächlich überlieferten Dichtung, mag auch das historische >Modell< Wolfdietrichs in der fränkischen (oder gotischen?) Geschichte zu suchen sein.

Treubrüchige und Verräter in der Heldendichtung

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den schaden din (225,3), und auch die Königin w i l l Sabenes Tod (225,4). Aber Berhtunc setzt sich für ihn ein, und so besteht die einzige Strafe für den valschen, ungetriuwen darin, daß er das Land verlassen muß. N i c h t viel später stirbt der König. Vor seinem Tode hat er Berhtunc bürge unde lantj sine süne alle drie und die vrouwen anvertraut (256,1/2), d. h. ihm die Regentschaft für die Zeit der Unmündigkeit der Königssöhne übertragen. Doch kehrt Sabene alsbald aus dem hunnischen Exil zurück, gegen den Rat Berhtuncs, aber mit Unterstützung der Großen des Landes und mit Zustimmung der Königin, die einen erstaunlich raschen Sinneswandel vollzogen hat, den ihr auch Berhtunc vorhält (259). Kaum ist er wieder im Land, intrigiert er gegen die Königin, ihren jüngsten Sohn Wolfdietrich und Berhtunc. Dieser kann nur resignierend und allzu spät die Erkenntnis aussprechen: Swer ungetriuwe liute

und die argen diebe spart,

die verkerent sich vil selten, zwiu wolte ich den ze nerne, nu muoz ez got erbarmen,

daz solte ich wol hän bewart, der mir ungetriuwe was? daz er vor mir ie genas.

(264)

Er w i r d sogleich aus dem Rat ausgeschlossen, die Königin und Wolfdietrich, die Sabene bei den beiden älteren Brüdern verleumdet hat, werden bald danach unbarmherzig vom H o f vertrieben. Der Kampf u m Wolfdietrichs rechtmäßigen Anteil an dem Erbe, den Berhtunc zusammen mit ihm und seinen eigenen Söhnen gegen Wolfdietrichs Brüder führt, ist an der Stelle, an der der Ambraser Wolfdietrich abbricht, noch nicht entschieden. Daß er letztlich erfolgreich sein wird, geht aus den anderen Fassungen des Wolfdietrich-Stoffes hervor, die jedoch die Gestalt des ungetriuwen Sabene nicht kennen. I n der verkürzenden Wiedergabe des Wolfdietrich A i m späten Dresdener Heldenbuch ( Wolfdietrich k) w i r d von der Bestrafung des ungetriuwen berichtet: Sabin schleift man mit renen , / his jn ratprechen auch/ vnd sein gepein verprenen (325,1 - 3 ) . Aber das muß nicht der Konzeption des Autors des Wolfdietrich A entsprechen, wenngleich eine solche Annahme naheliegt. Unzweifelhaft ergibt sich jedoch aus dem Ambraser Wolfdietrich - und das stimmt mit dem überein, was die Hörer/Leser der historischen Dietrichepik entnehmen konnten - , daß die ungetriuwen dank der Macht, die sie haben oder die sie sich zu verschaffen wissen, nicht allein unermeßliches Leid über die Menschen bringen, sondern daß an ihrem >Erfolg< die Vertreter des guten Prinzips, der Treue, die auch zur Vergebung bereit sind, Anteil haben, indem sie die ungetriuwen falsch einschätzen. Das Ergebnis der Tour d'horizon durch die (>historischeidealistische< Verklärung der Treue kein Raum ist.

45 Zwar w i r d in der >Heldenbuch-Prosa< beiläufig erwähnt, daß Eckehart (Hs.: eckehartt) Kaiser Ermenrich (Hs.: ementrich) getötet habe (Handschriften-Fassung [wie A n m . 30], 228, Druckfassung [wie A n m . 30], 2 r); aber es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß dies ein Zusatz des Kompilators ist, als daß eine entsprechende Erzähltradition existierte. Die Vermutung, daß es keine verbindliche Überlieferung über Ermenrichs Ende gab, w i r d auch dadurch bestätigt, daß in dem vor der Mitte des 16. Jahrhunderts gedruckten niederdeutschen Lied von Koninc Ermenrikes Dot es Dietrich ist, der seinen Widersacher tötet, und u m die Mitte des 13. Jahrhunderts die Thidrekssaga von Ermenrichs Tod als Folge einer Krankheit berichtet.

D i e I n s z e n i e r u n g v o n Munsalvaesche: Parzivals erster Besuch a u f der G r a l b u r g Von Bernd Schirok

I.

Als Parzival im V. Buch zum ersten Mal zur Gralburg Munsalvaesche gelangt, weiß er weder, was ihn erwartet, noch, was von ihm erwartet wird. U n vorbereitet w i r d er mit einer Reihe geheimnisvoll rätselhafter Vorgänge konfrontiert, die er sich nicht erklären kann und deren Sinn er nicht durchschaut, weil er die Hintergründe nicht kennt und nicht kennen kann. Parzival weiß nicht, was das Leben auf Munsalvaesche bestimmt und das Denken und Handeln der Burgbewohner beherrscht: Der Gralkönig Anfortas, so erklärt später i m I X . Buch Trevrizent dem Protagonisten (und dem Hörer), hat gegen die Gralgesetze verstoßen, indem er sich eine friundin wählte (478,18),1 die ihm nicht vom Gral bestimmt war (478,13 ff.). I m Dienste dieser Frau hat er zur Strafe für seine Eigenmächtigkeit eine grauenvolle Verstümmelung der Genitalien (479,12) erlitten. Alle nur erdenklichen Versuche, die furchtbare Wunde zu heilen, sind fehlgeschlagen (481,6 ff.). I n ihrer Verzweiflung haben sich die Mitglieder der Gralgemeinschaft daraufhin vor dem Gral auf die Knie geworfen (483,19ff.). Da erschien eine Schrift auf dem Gral: Es werde ein Ritter kommen: wurd des frage aldä vernomn, / so solde der kumber ende hän. Kurz darauf präzisiert Trevrizent, die Frage solle lauten: herre y wie stet iwer not? (484,27). 2 Allerdings dürfe niemand 1 Zitate nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival Studienausgabe, 2. Aufl., Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann. Ubersetzung von Peter Knecht. M i t Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der >Parzivalhabt ir daz vernomnf / iwer warnen mac ze schaden komn.< (483,29 f.). Außerdem verkündet die Inschrift, dass die Frage nur am ersten Abend wirke (484,1 f.). Die Angehörigen der Gralgemeinschaft sind damit in einer höchst prekären Situation und sie stehen noch dazu unter großem Zeitdruck. Einerseits wünschen sie nichts sehnlicher, als dass der Ritter die Frage stellt, und der König und sie erlöst werden. Andererseits dürfen sie die Frage nicht provozieren. Was aber genau bedeutet >die Frage nicht provozieren ? Sicher dürfen sie den Ritter nicht direkt auffordern, Anfortas nach seinem Leid zu fragen. Aber ist damit auch jegliche Form von Beeinflussung untersagt? Darf man die Aufmerksamkeit des Gastes wenigstens vorsichtig und indirekt auf den Zustand des Burgherrn lenken? Darf man zumindest eine fragefreundliche Atmosphäre schaffen? Oder muss man sich verhalten wie vor der Ankunft des Ritters? Vielleicht könnte aber schon ein solches normales Verhalten als Frageprovokation gewertet werden, soweit es etwa darauf abzielt, dem kranken König sein Los zu erleichtern. Zwingt dann die Schrift vielleicht sogar dazu, das Leid des Königs und die eigene Trauer zu kaschieren und dem Ankömmling eine heile Welt vorzugaukeln? Sicher wäre es eine Übertretung des ProvokationsVerbots, wenn sich Anfortas so verhalten würde wie später, als seine Schmerzensschreie durch gen den einen oder den anderen oder beide Aspekte. Nach dem Knappen geht es darum, den wirt zu fragen (247,29), nach Sigune, den wirt nach siner not zu fragen (255,19), nach Trevrizent, zem wirte zu sprechen umben kumber (473,15 f.) bzw. zu fragen nach des wirtes schaden (473,19). Die später von Parzival gebrauchte Formulierung »oeheim, waz wirret dir?« erfüllt genau die Bedingungen. - Gerhard Bauer, »Parzival und die Minne«, Euphorion , 57 (1963), 6 7 - 9 6 , hier 80, zitiert nur die allgemeinere Formulierung 483,2023 und folgert daraus unzutreffend, dass die Inschrift sich »auf eine beliebige Frage nach den Wundern des Grals, mithin auf eine reine Neugier-Frage« beziehe. Christa-Maria Kordt, Parzival in Munsalvaesche. Kommentar zu Buch V/1 zu Wolframs Parzival (224,1-248,30) (Herne 1997), 288, meint, dass die Frage »nicht wörtlich festgelegt zu sein scheint«. Streng genommen trifft das zu, doch gelten die oben formulierten Einschränkungen hinsichtlich des Adressaten und des Inhalts. Über das Fragemotiv sagt die Gralinschrift nichts, während Sigune und Cundrie das erbarmen als Auslöser akzentuieren. Es kommt also offenbar weniger auf das M o t i v (Neugier, Mitleid) als auf die richtige Formulierung (im oben skizzierten Rahmen) an, von der die Wirkung abhängt. Deshalb ist es am angemessensten, mit Neilmann (s. o.) von der »Erlösungsfrage« zu sprechen. 3

Dazu Christoph J. Steppich, »»Hinweise Geben w i r d euch schadenParzival< 483,24-30«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 119 (1990), 259-289. O b w o h l Parzival die Frage nicht stellt, ist es keineswegs müßig darüber nachzudenken, welche Rolle der Drohung der Wirkungslosigkeit einer provozierten Frage für das Verhalten der Gralgemeinschaft zukommt.

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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die Gralburg hallen und seine Umgebung ihm seinen jamer an den Augen ablesen kann (789,10 ff.). Muss sich der König also jetzt zusammenreißen, damit der Gast nicht merkt, was er eigentlich merken soll, u m zu der Frage veranlasst zu werden? »Kommunizieren ist ein riskantes Geschäft.« 4 Das gilt unter den Bedingungen von Munsalvaesche in besonderem Maße. Man kann das Ziel verfehlen, indem man nicht weit genug geht, und man kann es verfehlen, indem man zu weit geht. Wo aber genau liegt die Grenze zwischen dem noch Erlaubten und schon Verbotenen? 5 Die Gralgemeinschaft jedenfalls scheint die Schrift in dem Sinne zu interpretieren, dass ein direkter Hinweis auf das Leid unter das Verdikt fällt, nicht aber Aktionen und Arrangements, die Parzivals Aufmerksamkeit indirekt in die gewünschte Richtung lenken. Die Gralritter hoffen offenbar, dass ein solches Vorgehen toleriert werde, weil es die Interpretation zumindest zulasse, dass Parzival >von selbst< zur Erkenntnis des Leids und zur Stellung der Frage gekommen sei. A u f der Handlungsebene ist die Gralszene des V. Buches durch den unterschiedlichen Informationsstand der Akteure bestimmt. Dem unwissenden Protagonisten steht die wissende Gralgemeinschaft gegenüber, deren Aktionen jedoch unter dem Damoklesschwert der Wirkungslosigkeit einer provozierten Frage stehen. A u f der Ebene der literarischen Kommunikation steht über den Akteuren der allwissende Erzähler. Er bestimmt den Informationsstand des Hörers und positioniert ihn so i m Dreieck Protagonist - Gralgemeinschaft Erzähler. 6 Der Informationsstand des Hörers ergibt sich also aus dem, was der Erzähler ihm mitteilt. Schwerer zu bestimmen ist der Informationsstand des Protagonisten. Was er weiß, was er sieht, was er wahrnimmt, ist manchmal klar, 7 häufig aber unsicher. A n dieser Frage >hängt< jedoch die Interpretation der Munsalvaesche-Szene, ja des ganzen Romans. 4 Rudi Keller, Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens, bücher 1849 (Tübingen/Basel 1995), 132.

Uni-Taschen-

5 Die Gratwanderung w i r d i m X V I . Buch noch einmal deutlich, wenn Anfortas sich an Parzival, von dessen Berufung er offensichtlich noch nichts weiß, mit den Worten wendet: >sit ir genant Parzival, / so wert min sehen an den gral / sihen naht und aht tage: / da mite ist wendec al min klage. / ine getar iuch anders warnen niht; / wol iu, op man iu helfe giht< (795,11 ff.). Parzival möge ihn also sterben lassen, dann habe seine klage ein Ende; auf die andere Möglichkeit, seine klage zu beenden, wage er nicht, ihn aufmerksam zu machen. 6 Vgl. Matias Martinez / Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 2. durchgesehnen Auflage, C. H . Beck Studium (München 2000), bes. 152, mit der Unterscheidung zwischen »inkongruenter« und »kongruenter Informationsvergabe«; vgl. dazu auch das Kapitel »Informationsvergabe« in: Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, 11. Auflage (München 2001), 67-148. 7 I n der Ritterbegegnung hört Parzival Hufschläge (120,15) und glaubt, der Teufel (120,18) komme heran. Der Hörer erfährt, dass es sich u m drei Ritter handelt (120,25), während Parzival, der noch nie einen Ritter gesehen hat, jeden für einen Gott hält (120,28). Als Karnahkarnanz, dessen vollständigen Namen der Hörer erfährt (121,26 f.),

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Bernd Schirok U n s i c h e r h e i t e n ergeben sich, w e n n der E r z ä h l e r etwas s c h i l d e r t , was n a c h

Lage der D i n g e a u c h P a r z i v a l sehen k ö n n t e , o h n e dass a u s d r ü c k l i c h gesagt w i r d , dass er es t a t s ä c h l i c h w a h r n i m m t . N o c h u n s i c h e r e r w i r d es, w e n n der E r z ä h l e r die S c h i l d e r u n g m i t E r k l ä r u n g e n versieht, die d e m H ö r e r Z u s a m m e n hänge v e r m i t t e l n , o h n e dass k l a r w i r d , o b P a r z i v a l , vorausgesetzt er n i m m t das Geschilderte überhaupt wahr, z u entsprechenden Folgerungen k o m m t . Ä h n liches g i l t , w e n n d e r E r z ä h l e r eine F i g u r , der P a r z i v a l begegnet, näher c h a r a k terisiert. I s t d a n n der E i n d r u c k , d e n der E r z ä h l e r d e m H ö r e r v e r m i t t e l t , m i t d e m E i n d r u c k Parzivals identisch? B i s w e i l e n g i b t der E r z ä h l e r das

Motiv

an, das eine F i g u r z u e i n e m b e s t i m m t e n V e r h a l t e n veranlasst. D e r H ö r e r w e i ß d a n n Bescheid, die M i t s p i e l e r aber k ö n n e n das M o t i v v e r k e n n e n o d e r missdeuten. D i e u n s i c h e r e n Fälle w ä r e n e r z ä h l t e c h n i s c h l e i c h t e i n d e u t i g z u m a c h e n gewesen, w e n n neutrale F o r m u l i e r u n g e n w i e da stuont

(227,10) d u r c h erzählte

seine vorausgerittenen Begleiter eingeholt hat, hält Parzival auch ihn für einen Gott (122,22). Karnahkarnanz klärt ihn darüber auf, dass er vier Ritter vor sich habe (123,1). Parzival spricht ihn nun als ritter guot (Ggg.) bzw. ritter got (Ddgg.) an (123,21). Lachmanns Entscheidung für die Lesart guot hat die Logik auf ihrer Seite, sie setzt allerdings voraus, dass Parzival alles wahrnimmt, was man ihm sagt. Später berichtet er der Mutter: >ich sach vier man/noch liehter danne got getan< (126,9 f.). Z u vergleichen wäre die Artusszene des I I I . Buches: Artus sagt Parzival, dass der Ritter, den er vor dem H o f getroffen hat, Ither von Gaheviez sei (150,9). Als Parzival dann wieder bei Ither ist, äußert er: >du maht wol wesen Lâhelîn, / von dem mir klaget diu muoter mîn< (154,25 f.). Bruno Boesch, Lehrhafte Literatur. Lehre in der Dichtung und Lehrdichtung im deutschen Mittelalter; Grundlagen der Germanistik 21 (Berlin 1977), 35, wollte den Widerspruch durch appellativische Auffassung von Parzival Äußerung vermeiden, doch könnte der Protagonist auch die etwas zurückliegende Erklärung des Königs entweder nicht recht wahrgenommen oder vergessen haben. - Eine unterschiedliche Informationspolitik betreiben der >PercevalParzivalNachgeschichtenVorgeschichtenParzivalVorgeschichten< (Sigune, Gurnemanz, Condwiramurs) untersucht werden. Daran schließt sich (III.) eine ausführlichere Interpretation der Munsalvaesche-Szene an. Ergänzend und erweiternd werden dann (IV.) die >Nachgeschichtener ist gast, ich pin wirtîn: / diu erste rede wœre min< (188,29 f.). Das bringt sie dann auch Parzival gegenüber explizit zum Ausdruck: >herre, ein wirtîn reden muoz< (189,7). 22 Die Begegnungen mit Sigune, mit Gurnemanz und mit Condwiramurs unterscheiden sich also in der Erkennbarkeit der N o t . Bei Sigune ist von Anfang an alles evident, bei Gurnemanz ist lange Zeit kein Leid erkennbar, bei Condwiramurs ist die N o t sichtbar, nicht aber das Ausmaß und die genauen Gründe dafür. Die Änderungen, die Wolfram in diesen drei Szenen gegenüber Chrétien vorgenommen hat, deuten darauf hin, dass sie vorbereitend i m H i n b l i c k auf die Konstellation des V. Buches erfolgt sind.

III. Das V. Buch beginnt mit einer leitmotivischen Vorausdeutung: Der Hörer werde gröziu wunder miterleben. Unausweichlich sei, dass der Held höhen pin erleidet, doch der pin werde kein Dauerzustand bleiben (224,1 ff.). 2 3 Parzival legt nach seinem Aufbruch aus Pelrapeire eine gewaltige Strecke zurück (224,22 ff.). 22 Dazu Hennig (wie A n m . 20), 326 ff., und ergänzend Mertens (wie A n m . 21), 329, A n m . 20. 23 M i t etswenne könnte, so Kordt (wie A n m . 2), 19, ein »Vorausblick - über den Gralburgbesuch hinaus - auf das Ende der Erzählung« intendiert sein, es könnten aber auch i m Sinne des Prologs (si lasternt unde erent; 2,12) die Umschläge angesprochen sein.

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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Setzt man die Entfernung in Zeit um, so muss der Protagonist lange geritten sein. U n d tatsächlich spielt die erste Szene des äbnts (225,2). Parzival kommt an einen See; da heten geankert weideman (225,3). Merkwürdig ist die Perspektivenführung: Die Fischer sehen ihn zuerst (225,5 ff.). Beobachten sie das Ufer? 2 4 Erwarten sie jemanden? Wollen sie verhindern, dass der Fremde i m letzten A u genblick sein Ziel verfehlt? Parzival sieht im schiffe einen, der sich durch seine kostbare Kleidung von seinen Begleitern abhebt. Da dies Parzivals Blick auf diesen einen lenkt, kann man davon ausgehen, dass er die Pracht des Gewandes bemerkt. A n ihn wendet er sich mit der Frage, wa er herherge möhte han (225,17). Der Fischer setzt zur A n t w o r t an und w i r d vom Erzähler als der trüric man (225,18) apostrophiert. Christa-Maria Kordt bemerkt dazu mit Recht, es sei »fraglich, ob Parzival hier schon selbst wahrnimmt, was der allwissende Erzähler über den Fischerkönig mitteilt [ . . . ] « . 2 5 A u f diese Weise kommt eine der typischen Unsicherheiten zustande: Parzival nimmt die »prächtige, herrschaftliche Kleidung« des Fischers mit Sicherheit wahr, ob er auch seinen »traurigen Ausdruck« wahrn i m m t , 2 6 bleibt unsicher. Es ist nicht einmal gesagt, dass es sich u m einen sichtbaren »traurigen Ausdruck« handelt, den Parzival sehen könnte, wenn die Entfernung entsprechend gering wäre. Die Charakterisierung des Fischers könnte vom Erzähler auch nur für den Hörer gedacht sein und auf den psychischen Zustand abzielen. Der Fischer erklärt Parzival nun, dass i m Umkreis von 30 Meilen nichts erbüwen sei - wan ein hüs lit hie hi (225,19 ff.). Er beschreibt Parzival den Weg zu dem hüs und sagt ihm, wie er sich verhalten solle, u m eingelassen zu werden. Als Parzival aufbrechen will, fügt der Fischer hinzu: >komt ir rehte dar y / ich nim iwer hint seihe war: / so danket als man iwer pflege< (226,3 ff.). Der Fischer, offensichtlich der Burgherr, w i r d also nachkommen und sich persönlich um seinen Gast kümmern, und dieser soll für die A r t und Weise der Aufnahme danken, sich erkenntlich zeigen. M i t dieser an sich schon bemerkenswerten Ermahnung ist der Fischer aber noch nicht am Ende: >hüet iuch: da gent unkundiu wege: / ir muget an den Ilten / wol misseriten, / deiswär des ich iu doch niht gan< (226,6 ff.). Nachdem der Fischer mit seinen Gedanken also bereits auf der Burg war, kehrt er scheinbar noch einmal zur Wegbeschreibung zurück. Oder kehrt 24 M a n fühlt sich hier an Kellers (wie A n m . 4), 198 f., >fischenden< Detektiv erinnert, »der eine Angelrute ins Wasser hält«, u m so »auf unverdächtige Weise den Uferweg [zu] observieren.« 25 Kordt (wie A n m . 2), 26. Ahnlich Joachim Bumke, Wolfram von Eschenhach. 8., völlig neu bearbeitete Aufl., Sammlung Metzler 36 (Stuttgart / Weimar 2004), 65. Kordt gebührt das große Verdienst, jeweils entschieden die Frage nach der Wahrnehmung bzw. Wahrnehmbarkeit gestellt zu haben. 26

Kordt (wie A n m . 2), 24.

4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 46. Bd.

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Bernd Schirok

er gar nicht dorthin zurück? Meint er mit da den Weg zur B u r g 2 7 oder meint er die Burg selbst? Liegen die Schwierigkeiten und Gefahren auf dem Weg zur Burg oder setzen sie erst danach auf der Burg ein? Sind unkundiu wege , Ilten und misseriten wörtlich oder übertragen gemeint? Beziehen sich die Aussagen auf den geforderten Dank? Ist gemeint, dass Parzival vielleicht unklar sein kann, wie er den Dank in richtiger Weise abstatten kann und soll, und dass dabei für ihn die Gefahr besteht, einen Fehler zu begehen? Parzival gelangt jedenfalls problemlos zu der Burg. 2 8 Ein Knappe erscheint und erkundigt sich, was Parzival suche. Dieser bittet unter Berufung auf den Fischer, der ihn geschickt habe, u m Einlass. Darauf heißt ihn der Knappe willkommen und läßt die Zugbrücke nidr (227,2 ff.). Parzival reitet auf den Burghof, zu dessen Zustand der Erzähler bemerkt: durch schimpf er niht zertretet was / (da stuont al kurz grüene gras: / da was bühurdiern vermiten), / mit baniern selten überriten y / also der anger z*Abenberg. / selten froelichiu werc/ was da gefrümt ze langer stunt: / in was wol herzen jämer kunt. / wenc er des gein in enkalt (227,9 ff.). Der sichtbare Befund ist eingebettet in seine Erklärung. Danach werden der anger z1Abenberg und der Burghof von Munsalvaesche parallelisiert. 29 Fröhlichkeit gibt es dort schon lange nicht mehr, es herrscht Trauer, aber die Burgbewohner lassen sich das nicht anmerken (vgl. 228,26). 30 Ihre Trauer ist vorhanden, aber nicht sichtbar. Bemerkt Parzival etwas vom ungewöhnlichen Zustand des Burghofes? Hier verfährt Kordt deutlich suggestiver als früher. Sie schreibt zu 227,9-16: »Ob Parzival hier der unbenutzte Zustand des Burghofs auffällt, bleibt offen«, u m dann jedoch etwas inkonsequent fortzufahren: »aus seiner ritterlichen Perspektive müßte ihn das Fehlen von Buhurtspuren allerdings verwundern«. Ahnlich zu 227,13: »Gleichzeitig w i r d deutlich, daß Parzival auf der Gralburg eine Situation vorfindet, die, auch ohne daß man ihm Genaueres erklärt, die Frage nach dem dortigen ungewöhnlichen Zustand nahelegt.« 31 Parzival wäscht sich, den Rat des Gurnemanz befolgend (172,3), Gesicht und Hände. 3 2 Ein kamertere kluoc bringt ihm einen Mantel und erklärt ihm: >Repanse de schoye in truoc , / min frouwe de künegin: / ab ir sol er iu glihen sin: 27

Hennig (wie A n m . 20), 329.

28

Anders bei Chrétien; der Zornausbruch Percevais gegen den Fischer (Perc. 3035 ff.) könnte Anregung zu der Szene mit dem redespœhen man gewesen sein; vgl. Helen A d o l f »Structure and Character Delineation in the >Parzivaljä mohte ich sis mit eren hiten: / wände ir sit ein werder man, / ob ichs geprüevet rehte hdn< (228,14 ff.). Auch hier glaubt Kordt, die Mantelleihe stelle einen der Hinweise dar, »die Parzival dazu auffordern sollen, die Frage zu stellen.« 33 N u r : Wie hätte »die« Frage lauten sollen? Steppich meint, man habe von Parzival die Frage erwartet, »warum ihm die hohe Ehre zuteil werde, gerade den Mantel der Königin [ . . . ] zu tragen [ . . . ] . « 3 4 Dass man diese Frage aber gerade mit der »als Vorwand dienende[n] Behauptung« verhindert, »der Mantel sei ihm nur vorläufig und >leihweise< überlassen, bis geeignete Kleider für ihn angefertigt seien«, w i r d dabei von Steppich i m Hinblick auf Parzivals unmittelbare Reaktion, die keineswegs als unangemessen erscheint, zu wenig bedacht, wenngleich er die weiteren Konsequenzen, die Parzival daraus ziehen muss, klar herausstellt. 35 Aus den Worten des Kämmerers dürfte die Hoffnung sprechen, dass Parzival rechtzeitig die entscheidende Frage stellt, damit Gralkönig w i r d und deshalb länger bleibt. Parzival könnte später daraus schließen, dass er die Frage, die er stellen möchte, aber unterdrückt, noch in Zukunft klären kann. Parzival w i r d weiterhin mit zuvorkommender Freundlichkeit behandelt; die trüregen waren mit im vrö (228,26). Ihre hoffnungsvolle Vorfreude, die ihren tatsächlichen Zustand überdeckt, w i r d durch den Hinweis, dass Parzival Pelrapeire erlöst habe, suggestiv auf den Hörer übertragen (228,28 ff.). Kordts Kommentar zu 228,26 lautet: »Wolframs Bewohner der Gralburg [ . . . ] sind [ . . . ] daran gebunden, den Gast nicht direkt zu der Frage nach ihrer Lage aufzufordern [ . . . ] , da diese dann nicht als Erlösungsfrage wirken kann. Dennoch möchten sie dem Gast die tatsächliche Situation indirekt übermitteln, 33

Kordt (wie A n m . 2), 45.

34

Steppich (wie A n m . 3), 275.

35

Kordt (wie A n m . 2), 49, hält es für »plausibel, daß auf der Gralburg für Gäste keine Kleider vorhanden sind (obwohl es sonst an keinem Luxus mangelt). M i t unverhofften Gästen ist nicht zu rechnen, da niemand ohne berufen zu sein die Gralburg erreicht [ . . . ] . Derjenige, der auf die Gralburg gelangt, soll der künftige Gralkönig werden, d. h. er wird, wenn er die Frage stellt, die Königskleider tragen. Zunächst muß er sich also noch bewähren, dann erst braucht er die Königskleidung.« Andererseits war die A n k u n f t eines Ritters angekündigt (483,21). Wenn man gewollt hätte, hätte man Kleider vorbereiten können. Für Parzival und Feirefiz liegen später jedenfalls Kleider bereit (794,18 ff.). M i t der Leihe des Mantels der Repanse w i r d nicht aus der N o t eine Tugend gemacht, sondern es handelt sich - wie später klar w i r d (500,29 f.) - u m eine auszeichnende Geste. Dass mit der Bemerkung des Kämmerers die Bedeutung der Mantelleihe heruntergespielt werden soll [Helmut Brall, Gralsuche und Adelsheil. Studien zu Wolframs Parzival, Germanistische Bibliothek, 3. Reihe: Untersuchungen (Heidelberg 1983), 257, A n m . 39], halte ich i m Gegensatz zu Kordt (wie A n m . 2), 50, keineswegs für unwahrscheinlich, sondern für offensichtlich. 4*

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wodurch eine mehrschichtige Kommunikation entsteht [ . . . ] . « 3 6 Auch die »Frage nach ihrer [der Burgbewohner] Lage« wäre nicht die erlösende, weil der Adressat und der Inhalt der Frage vom Gral vorgegeben sind. 3 7 I n dieser freundlich harmonisch gelösten Atmosphäre kommt es aus heiterem H i m m e l zum Eklat: ze hove ein redespoeher man / bat komn ze vrävelliche / den gast ellens riebe / zem wirte y als ob im wäre zorn (229,4 ff.). Die Szene w i r d in der Forschung höchst unterschiedlich interpretiert. 3 8 Keine der vorgeschlagenen Erklärungen vermag wirklich zu überzeugen. Das größte aller möglichen Missverständnisse freilich wäre, die Bedeutung der Szene gering einzuschätzen. 39 Tatsächlich kommt dem Auftritt Schlüsselfunktion zu. Der redesptehe man erweckt den Eindruck, als wenn der Fischer seinen Gast i m Z o r n 4 0 zu sich zitiert habe, als wenn er wütend auf ihn sei. Das steht in diametralem Gegensatz zu der Freundlichkeit des Fischers bei der ersten Begegnung am See, zu der bisher entspannten Atmosphäre auf der Burg beim Empfang, zu der großzügigen Leihe des königlichen Mantels, zu den liebenswürdigen Komplimenten des Kämmerers und der Ehrerbietung der Bewohner. Für Munsalvaesche galt bisher, was der Erzähler in Pelrapeire festgestellt hatte: guote friunt da vander (187,30). Das scheint jetzt vorbei zu sein. Parzival muss aufs höchste irritiert sein (und zwar i m doppelten Wortsinn). Warum ist sein vorher so freundlicher Gastgeber plötzlich wütend auf ihn? Ware er jetzt zu ihm gegangen, wäre er also der Aufforderung des redespahen mannes - vielleicht selbst zornig oder eher eingeschüchtert, jedenfalls angespannt und aufmerksam 36

K o r d t ( w i e A n m . 2), 51.

37

Wahrscheinlich hätte der Gral Formulierungsvarianten toleriert, eine Frage in andere Richtung aber w o h l kaum. 38

Vgl. Hermann J. Weigand, »A Jester at the Grail Castle in Wolfram's Parzival f«, Publications of the Modern Language Association of America, 67 (1952), 485-510; wieder in: ders., Wolfram's Parzival. Five Essays with an Introduction (Ithaca/ London 1969), 75-119; Joachim Bumke, Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945. Bericht und Bibliographie (München 1970), 291-293; Volker Mertens, (wie A n m . 21), mit knappem Forschungsbericht; ebenso Christoph J. Steppich, »Erzählstrategie oder Figureninitiative? Z u m Auftritt des redespoehen Mannes in Wolframs >Parzival< (229,1-22)«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur; 122 (1993), 388-417; Kordt (wie A n m . 2); Bumke (wie A n m . 25), 66. 39 40

A d o l f (wie A n m . 28), 167: »one w o u l d not mind if it were missing.«

Kordt konstatiert, es bleibe offen, ob der redespahe man vortäusche, selbst zornig zu sein oder ob er vortäusche, der König sei zornig. Sie neigt dem Bezug auf den Sprecher zu: »Eher ist anzunehmen, daß das zornige Auftreten des Mannes gemeint ist, der Parzival direkt gegenübersteht« (S. 55). Die Ubersetzungen von Stapel, Spiewok (wie A n m . 19), K ü h n (wie A n m . 2) und Knecht (wie A n m . 1) beziehen den Z o r n m.E. mit Recht auf den König; anders M o h r (wie A n m . 19). Mertens (wie A n m . 21), 331 spielt den Auftritt etwas herunter, wenn er formuliert, »der Spaßmacher [bitte] mit kecken Worten Parzival zum Gastgeber.«

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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gefolgt, d a n n hätte er e r w a r t e t , d e n Fischer aufgebracht v o r z u f i n d e n . E r hätte i h n aber n i c h t z o r n i g v o r g e f u n d e n , s o n d e r n - v i e l l e i c h t bei n ä h e r e m H i n s e h e n - i n einer m e r k w ü r d i g e n S c h o n h a l t u n g (491,1 ff.). D i e Frage herre, iwer

notf

redespjehe

wie

stet

hätte die F o l g e sein k ö n n e n . E i n e andere M ö g l i c h k e i t w ä r e , dass der (also w o h l a u c h semantisch beschlagene) man P a r z i v a l n a c h der not

( i m Sinne v o n >Grund, A n l a s s < 4 1 f ü r die v e r m e i n t l i c h e A u f g e b r a c h t h e i t )

des

B u r g h e r r n fragen lassen w i l l - i n d e r H o f f n u n g , dass die f o r m a l k o r r e k t e F o r m u l i e r u n g erlösend w i r k e n k ö n n t e . D e r P l a n des redesptehen

mannes,

w i e i m m e r m a n i h n genau i n t e r p r e t i e r t , ist

r a f f i n i e r t ausgedacht, das A r r a n g e m e n t ist genial, der V e r l a u f ist w o h l k a l k u liert. A b e r alles m i s s l i n g t g r ü n d l i c h . 4 2 Statt der A u f f o r d e r u n g z u f o l g e n u n d i n E r w a r t u n g eines z o r n i g e n Gastgebers z u diesem z u eilen, i n t e r p r e t i e r t P a r z i v a l die Ä u ß e r u n g als A n g r i f f auf seine P e r s o n u n d reagiert gegenüber d e m verm e i n t l i c h e n B o t e n w ü t e n d , so dass die U m s t e h e n d e n sich z u m E i n g r e i f e n veranlasst sehen, die N o t b r e m s e z i e h e n u n d eine E r k l ä r u n g präsentieren, die z w a r n i c h t s o n d e r l i c h schlüssig ist, aber i m m e r h i n auf P a r z i v a l z u w i r k e n s c h e i n t . 4 3

41 Häufig negativ âne nôt (z. B. 299,25: du zürnest mit mir âne nôt; 377,19: diu klage was gar âne nôt), aber auch positiv (z. B. 9,17: hêrre, ir lobt mich umbe nôt; 241,22: des in durch nôt verdriuzet; 517,29 f.: ime lant ze Trîbalibôt / w absent liute alsus durch nôt; 772,28: durch nôt ichs muoz verswigen vil). 42 Anders Mertens und Steppich; beide interpretieren die Szene, wenn auch in durchaus unterschiedlicher Weise, als Test. Nach Mertens (wie A n m . 21), 331, handelt es sich u m den ersten Teil einer doppelten Probe. Parzival zeige zunächst in der Szene mit dem redespœhen man, dass er nicht in der Lage sei, »Gurnemanz' Rat der bedâhten gegenrede [... ] auf seine Situation an[zu]wenden«, wie ihm auch später vor dem Gral »die Fähigkeit [fehle] zu entscheiden, ob die Situation die Frage erfordere oder nicht.« Steppichs (wie A n m . 38), 405 und 413, Testarrangement ist komplizierter, es ist ebenfalls zweiteilig, betrifft aber die Mantelleihe und den Auftritt des redespœhen mannes. Der Gralgemeinschaft gehe es darum, »schon gleich zu Beginn des Aufenthaltes des Unbekannten herauszufinden, u m welche A r t von Besucher es sich bei ihm handelt: O b u m einen völlig Fremden, der jedoch eventuell zur Verheiratung mit Repanse de Schoye in Frage käme, oder aber um den mit der herrschenden Gralsdynastie blutsverwandten Parzival.« Der Manteltest bleibt ohne Ergebnis, da der Besucher nicht reagiert. A u f die Provokation des redespœhen mannes reagiert der Proband so, dass die Gralgemeinschaft daraus schließt, dass es sich »mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit u m den [ . . . ] in puncto Kultur und Gesellschaftsleben noch reichlich unbedarften Parzival handeln [dürfte].« Mertens und Steppich gehen also von einer Abgeschlossenheit der Szene mit dem redespœhen man aus; demgegenüber zeigt m.E. der Verlauf, dass die Intention des redespœhen mannes nicht zum Tragen kommt. 43 Steppich (wie A n m . 38), 397, glaubt m.E. mit Recht, dass der Provokateur kein Einzelgänger ist, sondern »im Einvernehmen mit den übrigen Anwesenden« handelt, und dass er sich infolgedessen »im Notfall auf Eingreifen und Beistand der anwesenden Ritter verlassen kann.« Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im >Parzival< Wolframs von Eschenbach, Hermaea N.F. 94 (Tübingen 2001), 67, A n m . 127, meint, dass Repanse Regie führe.

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Die sorgsam aufgebaute Spannung bricht vorzeitig und am falschen O r t in sich zusammen, ja die planvolle Inszenierung erweist sich sogar als kontraproduktiv, denn Parzival w i r d aufgefordert, nicht spontan zu reagieren, sondern zuht zu demonstrieren, und das w i r d Folgen haben. 44 Vielleicht weckt der Vorfall auch sein generelles Misstrauen: Man muss auf dieser Burg offenbar aufpassen, denn es gibt Leute, die das, was sie sagen, anders meinen, als sie es sagen. A u f jeden Fall sind Vorsicht und Zurückhaltung geboten. Die Burgbewohner riskieren bei ihrer Beschwichtigungsrede sogar einen auf den ersten Blick gefährlich direkten Hinweis auf ihre Trauer (229,17). Damit beginnt jedoch offenbar ein Strategiewechsel. Die Gralgemeinschaft demonstriert, nachdem der erste Plan fehlgeschlagen ist, eigene Stimmungen und Befindlichkeiten in der Hoffnung, dass Parzival von ihnen auf ihren Herrn rückschließen möge. Kordt kommentiert, an der genannten Stelle ergebe sich »den Gralleuten die Möglichkeit, ihre Stimmung direkt anzusprechen und damit Parzival einen A n stoß zu der Frage nach der Ursache ihrer Traurigkeit zu geben.« 45 Die Frage »nach der Ursache ihrer Traurigkeit« wäre aber ebenfalls nicht die geforderte Erlösungsfrage. I n Ubereinstimmung mit Kordt glaube ich, dass alle Handlungen der Gralgemeinschaft darauf gerichtet sind, Parzival zu der erlösenden Frage zu veranlassen. Anders als Kordt meine ich aber nicht, dass jede einzelne Handlung für sich direkt (taktisch) als Frageauslöser gedacht ist. Das ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil die vermeintlichen Frageaufforderungen nach dem »ungewöhnlichen Zustand« des Burghofes, nach der »besondere[n] Situation auf der Gralburg«, nach dem Sinn der »Kleiderleihe« an der geforderten Frage vorbeizielen würden. 4 6 Vielmehr verfolgt die Gralgemeinschaft bestimmte Strategien, die Parzival zur Frage führen sollen. Der freundliche Empfang Parzivals baut eine Stimmung auf, zu der der Auftritt des redespœhen mannes im Kontrast steht, der Parzivals Aufmerksamkeit auf den Zustand des Burgherrn lenken und die Frage danach oder nach dem Grund seines vermeintlichen Zorns auslösen soll. Nach dem (missglückten) Auftritt des redespœhen mannes wechselt der Schauplatz: si giengen üf ein palas (229,23). Der Erzähler beginnt den Hörer mit Zahlenangaben einzudecken (hundert kröne; hundert pette er ligen vant; hundert kulter; ie vier gesellen sundersiz = 100 x 4 = 400 Ritter) und hebt die Pracht der Ausstattung hervor (230,4 f.). Z u den drei viereckigen Feuerstellen 44

Kordt (wie A n m . 2), 57.

45

Kordt (wie A n m . 2), 56 f.

46

Kordt (wie A n m . 2), 38, 39 und 45. N u r in Ausnahmefällen sieht das auch Kordt so. Z u 239,17 bemerkt sie, 141: »Die Frage, wiez dirre massenîe stêt , geht in die erwartete Richtung, bezieht sich aber noch nicht direkt auf Anfortas.« Die Frage brächte also nichts. Außerdem ist anzumerken, dass Parzival die genannte Frage gar nicht verbal stellen w i l l , sondern den Sachverhalt âne vrâge herausfinden will.

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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heißt es: so groziu fiwer sit noch ê / sach niemen hie ze Wildenberg: / jenz waren kostenlîchiu werc (230,12 ff.). Die beiden Ortsanspielungen des Erzählers Abenberc : selten froelîchiu werc (227,13 f.) und Wildenherc : kostenlîchiu werc (230,13 f.) unterstreichen den Kontrast von tiefer Trauer und pompöser Prachtentfaltung, der nun beherrschend w i r d . 4 7 Anfortas arrangiert, bevor Parzival den Raum betritt, die Sitzordnung: der wirt sich seihen setzen bat / gein der mittein fiwerstat / üf ein spanbette (230,15 ff.). Er lässt sich dorthin setzen, er kann es also nicht selbst. Wichtiger: Er vermeidet sorgfältig, dass Parzival Zeuge dieses Vorgangs wird, weil er offenbar fürchtet, dass, wenn Parzival seinen Zustand bemerkt, dies die Frage auslösen und sie als provozierte zugleich unwirksam machen könnte. Sowohl die Gralgemeinschaft als auch der König sind also gezwungen, sich >unnatürlich< zu verhalten. N u n erst kommt Parzival in den palas, und der Gastgeber bittet ihn, bei ihm Platz zu nehmen. Parzival der lieht gevar (230,23) und der wirt jâmers rieh (230,30) werden für den Hörer deutlich kontrastiert. Bemerkt aber auch Parzival den Zustand seines Gastgebers? Kordt glaubt, die Frage bejahen zu müssen. Diese Interpretation ist früh vorbereitet. Bei der ersten Begegnung Parzivals mit dem Fischer am See w i r d die Unsicherheit, ob Parzival den »traurigen Zustand« oder »traurigen Ausdruck« des Fischers wahrnimmt, dadurch begründet, dass Parzival Anfortas »vermutlich zunächst aus der Ferne ungenau [ . . . ] sieht.« 48 A u f der Gralburg, w o »Parzival und Anfortas direkt zusammensitzen [ . . . ] , muß also [der Gast] die Verfassung des Königs bemerken.« 49 So sicher ist das freilich nicht. 5 0 Wenn auch für Anfortas zutrifft, was Trevrizent später allgemein ausführt, dass nämlich der Anblick des Grals nicht nur vor dem Tode bewahre, sondern auch jugendliches Aussehen verleihe (469,14 ff.), könnte das zusätzlich erklären, warum Parzival nichts bemerkt. Vergleicht man die Begrüßung des Gastes durch seinen Gastgeber bei Chrétien und Wolfram, so fällt auf, dass Wolframs wirt - u m es vorsichtig auszudrücken - äußerst wortkarg ist. Während sich Chrétiens Gastgeber höflich erkundigt, von w o sein Gast heute gekommen sei (Perc. 3120 f.), fragt Anfortas danach nicht. Das muss für Parzival umso befremdlicher sein, als er eine solche 47

Schmidt (wie Anm. 18), 371, konstatiert: »Prinzip der Darstellung [ . . . ] ist durchgehend das Paradox, das auf dem Gegensatz Reichtum - Elend aufbaut. Dieser Gegensatz w i r d von erster leiser Andeutung zur rätselhaften Erscheinung und schließlich zu drängender, aber nicht verstandener Aufforderung gesteigert.« 48

Kordt (wie A n m . 2), 23.

49

Kordt (wie A n m . 2), 122 (zu 237,9 mit Rückverweis auf 230,26 f.).

50

Vgl. Bumke (wie A n m . 38), 292: »Als Parzival die Halle betritt, merkt man dem König jedenfalls nicht mehr an, daß er an diesem Tag schlimmer gelitten hat als je zuvor.«

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höfliche Erkundigung bisher gewohnt war. Condwiramurs hatte so gefragt (189,13 f.; entsprechend Blancheflor Perc. 1882 f.) und ebenso vorher Gurnemanz (166,7; entsprechend Gornemanz Perc. 1367). Anfortas fürchtet offenbar, dass ein Gespräch mit seinem Gast, wenn es zu der ersehnten Frage führen würde, als Frageprovokation interpretiert werden könnte. Wenn man Condwiramurs offen ausgesprochene Überlegungen zur Rolle von wirt(în) und gast mit einbezieht, muss das Verhalten des Königs Parzival umso befremdlicher erscheinen, denn die Situation ist hier entsprechend. Z u m ersten Mal erfährt der Hörer nun explizit von der Krankheit des Königs: Der wirt het durch siechheit / groziu fiur und an im warmiu kleit (231,1 f.). Sowohl bei den Feuern wie bei der Kleidung ist eine A r t >Kippen< zu beobachten: Beide signalisierten zunächst Kostbarkeit (225,9 ff.; 230,12 ff.), hier nun w i r d für den Hörer ihre wahre Funktion erkennbar. Die Kleiderbeschreibung >kippt< anschließend wieder zurück zur Erlesenheit (231,10; 14). Dann folgt eine rasch ablaufende (231,15-232,4 = 20 Verse) und merkwürdig befremdliche Szene, »ein kurzes, rätselhaftes Intermezzo«. 5 1 Ein Knappe springt (231,17) in den Raum; er trägt eine Lanze, aus deren Schneide Blut quillt. Die Anwesenden brechen (anders als bei Chrétien) in ohrenbetäubendes Wehgeschrei aus: da wart geweinet und gesehnt / ûf dem palase wît: / daz voie von drîzec landen / möhtz den ougen niht erblanden (231,23 ff.). Der Knappe springt (231,30) wieder aus dem Raum, und das Wehklagen verstummt ebenso schlagartig, wie es eingesetzt hatte: Gestillet was des Volkes not, / als in der jâmer ê gebot, / des si diu glœvin het ermant, / die der knappe brâhte in siner hant (232,1 ff.). Kordt kommentiert: »Das Wehklagen der Gralritter beim Anblick der Lanze soll Parzival zum Fragen bewegen. Das Publikum müßte aufgrund vergleichbarer Situationen in anderen Romanen, in denen Klagegebärden die Handlung befördernde Fragen auslösen, eine bestimmte Erwartungshaltung eingenommen haben.« Der Auftritt ist freilich kaum mit anderen Klageszenen (z. B. der ersten Sigune-Szene) vergleichbar, denn in dem Augenblick, in dem Parzival fragen könnte, ist die not bereits abrupt gestillet. Die Szene soll sich sicher Parzival einprägen, sie ist »ein Element der indirekten Fragehinweisstrategie«. 52 Das zweite Element folgt kontrastiv mit dem breit geschilderten feierlich gemessenen Einzug der Gralprozession und dem Festmahl. 53 Vier Gruppen von 51 Kordt (wie A n m . 2), 75. Ansprechend vergleicht Kordt den Auftritt mit der Technik, »kurz Szenen oder einzelne Bilder in einen Film« einzublenden, »die man kaum bewußt wahrnimmt« (79, A n m . 21). 52 53

Kordt (wie A n m . 2), 78, 72.

Zur unterschiedlichen Abfolge bei Chrétien und Wolfram vgl. Nellmann (wie A n m . 2), I I , 573 ff.

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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Jungfrauen ziehen in den palas. Jede der Gruppen besteht aus Damen, die Lichter tragen, und solchen, die einen Gegenstand hereinbringen: 1. Gruppe: 2 (mit lieht) + 2 (mit den Elfenbeingestellen für den Tisch) 2. Gruppe: 4 (mit kerzen gröz) + 4 (mit der Tischplatte) 3. Gruppe: 4 (mit lieht) + 2 (mit den silbernen Messern) 4. Gruppe: 6 (mit balsemvaz) + 1 (Repanse mit dem Gral). Die >Choreographie< 54 erfordert Aufmerksamkeit. So w i r d bei der 1. Gruppe die Kleidung der ersten beiden Damen beschrieben (232,25 ff.), und am Schluss w i r d festgestellt, den vieren was gelich ir wat (233,11). Bei der 2. Gruppe w i r d die Kleidung aller acht Damen am Schluss beschrieben. Bei der 3. Gruppe w i r d die Kleidung zunächst überhaupt nicht erwähnt. Bei der 4. Gruppe w i r d die Kleidung der balsamvaz-Tr'igerinnen am Beginn geschildert und gesagt, dass sie mit der der 3. Gruppe identisch ist. Die Kleidung Repanses unterscheidet sich von der aller anderen Damen. Während sich also beim Einzug die Gruppierung 4 - 8 - 6 - 6 + 1 bildet, zeigt die Kleidung das Bild 4 - 8 - 1 2 + 1, und bei der Aufstellung der Damen ergibt sich die Anordnung 1 2 - 1 - 12. Auch andere Darstellungstechniken verlangen einen wachen Hörer. So führt der Erzähler die 2. Gruppe als ander frouwen vierstunt zwuo (233,13) ein, löst sie dann aber in zweimal vier auf. Die Schilderung der Binnengruppierungen ist uneinheitlich. Bei der 1. und 2. Gruppe werden erst die Lichtträgerinnen genannt, dann die Damen mit den Elfenbeingestellen bzw. der Tischplatte. I n der 3. Gruppe werden erst die Damen mit den beiden Silbermessern vorgestellt, dann die (vorausgehenden) Lichtträgerinnen. I n der 4. Gruppe werden zunächst die sechs Begleiterinnen Repanses vorgestellt, dann kommt Repanse mit dem Gral, danach werden die halsamvaz der sechs Begleiterinnen beschrieben. Auch bei der Vorstellung der Damen verfährt der Erzähler unterschiedlich. Den Namen und den Stand erfährt der Hörer nur bei der künegin Repanse (235,15 ff.), Herkunft und Stand erfährt er bei der groevin von Tenahroc (232,25) und bei den beiden Fürstinnen, deren Väter die Grafen Iwan von Nönel/unde Jernis von Ril sind (234,12 ff.). Eine namenlose herzogin erscheint 233,1. M i t der Gräfin von Tenabroc und der namenlosen Herzogin tritt je eine Dame auf, die als deren gespil (232,27; 233,2) bezeichnet werden. A u f die Erscheinung Repanses reagiert Parzival: dez mtere giht daz Parziväl / dicke an si sach unt dähte, / diu den gräl da brähte: / er het och ir mantel an (236,12 ff.). 54

Dagmar Hirschberg, Untersuchungen zur Erzählstruktur von Wolframs >Parzivalmir riet Gurnamanz / mit grozen triuwen âne schranz, / ich solte vil gevrâgen niht. / waz op min wesen hie geschiht / die mâze als dort pi im ? / âne vrâge ich vernim/ wiez dirre massenie stet< (239,8 ff.). Beim Rat des Grunemanz ging es i m I I I . Buch (171,17 ff.) 5 8 u m richtiges kommunikatives Verhalten zwischen zwei Akteuren, die beide Klarheit über den anderen erlangen möchten. Die einfachste Möglichkeit wäre, sich gegenseitig zu befragen. Dem ersten der beiden w i r d jedoch davon abgeraten, vil zu vrâgen (171,17), während der zweite offenbar uneingeschränkt Fragen stellen darf (171,20) und der erste zu bedâhter gegenrede (171,19) verpflichtet ist. Das deutet auf eine asymmetrische Kommunikationssituation, vergleichbar dem Interview. Der erste der beiden Akteure w i r d aber abschließend auf die Möglichkeit verwiesen, das, was er erfragen könnte, aber nicht soll, kompensatorisch durch den Gebrauch seiner Sinne in Erfahrung zu bringen. Parzival nimmt auf Munsalvaesche die richeit unt daz wunder grôz wahr. Davon geht ein Anreiz zum Fragen aus. 59 Parzival unterlässt die Frage jedoch 55

Kordt (wie A n m . 2), 119.

56

Ernst Martin, 'Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Hg. und erklärt von Ernst Martin, 2. Teil: Kommentar, Germanistische Handbibliothek 9,2 (Halle an der Saale 1903; Nachdruck Darmstadt 1976) geht von »etwa 1200 Personen« aus (zu 237,20); Hirschberg (wie A n m . 54), 122, errechnet »1137« Teilnehmer, Kordt (wie A n m . 2), 120, A n m . 81, k o m m t auf »1135 Personen«; zu den Unsicherheiten wegen möglicher Identität gesondert aufgeführter Gruppen Kordt, 120, mit Verweis auf Joachim Heinzle, »Gralkonzeption und Quellenmischung. Forschungskritische Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte von Wolframs >Parzival< und>TiturelLeitmotiven< in Wolframs Parzival«, Der Deutschunterricht, 37 (1985), Heft 4, 8 7 - 9 9 ; Johannes Maczewski, »Wolframs Erzähltechnik i m ersten MunsalvaescheAbschnitt des Parzival«, Seminar. A Journal of Germanic Studies, 20 (1984), 1 - 2 6 , hier 9 f. versucht, ohne zu überzeugen, zwischen der zuht der Gralgemeinschaft und der höfischen zuht Parzival qualitativ zu unterscheiden. 61

Vgl. dazu oben A n m . 46.

62

Kordt (wie A n m . 2), 140.

63

Green (wie A n m . 8), 109 f.

64

Kordt (wie A n m . 2), 228.

65

Kordt (wie A n m . 2), 72.

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beide Komponenten zusammen existieren können und damit (vielleicht) seine Aufmerksamkeit auf den König und seinen Zustand zu lenken, würde dann nicht funktionieren. Folgt man dagegen Kordt, so wäre die Absicht der Gralgemeinschaft, Parzivals Aufmerksamkeit auf den Gegensatz von Trauer und Luxus zu lenken zwar aufgegangen, aber der entscheidende Schritt in Richtung Anfortas fehlte. 6 6 Vor diesem Hintergrund scheint dann sogar der Rat des Gurnemanz für das Gelingen oder Misslingen nicht mehr entscheidend zu sein. Unter der Voraussetzung, dass sich die erlösende Frage direkt an den König richten und dessen Leid zum Inhalt haben müsste, wäre das, was Parzival äne vräge in Erfahrung bringen will, nämlich wiez dirre massenie stet, 67 auch wenn es als Frage geäußert würde, wirkungslos. Würde er einen der Ritter fragen, wären Adressat und Inhalt der Frage falsch, würde er die Frage an Anfortas richten, hätte sie den falschen Inhalt. 6 8 Nachdem Parzival sich einmal entschlossen hat, 6 9 keine Frage zu stellen, ist die Situation für Anfortas objektiv hoffnungslos. Ohne das zu wissen, scheint er nun einen letzten verzweifelten Versuch unternehmen zu wollen, seinen stummen Gast doch noch zur Frage zu bewegen. Auch diese Szene scheint vorbereitet zu sein. Denn plötzlich erscheint wie auf ein Stichwort und sicher nicht aus eigenem Antrieb ein Knappe mit einem überaus kostbaren Schwert, und Anfortas überreicht es Parzival mit den Worten: >[...] herre, ich prähtz in not / in maneger stat, e daz mich got / ame libe hat geletzet. / nu sit dermit ergetzet, / ob man iwer hie niht wol enpflege. / ir mugetz wol füeren alle wege: / Swenne

66 Schmidt (wie A n m . 18), 372 f., postuliert ansprechend zwei Fragen. Erst müsste sich Parzival über den Zustand der Bewohner Klarheit verschaffen: »Sie sind zwar traurig, leben aber doch auch wieder froh in himmlischem Überfluß. [ . . . ] U n d erst die A n t w o r t auf diese Frage [ . . . ] könnte zur zweiten, zur mitleidigen Frage führen.« Ein Problem ist dabei freilich w o h l übersehen: Wenn die A n t w o r t auf die erste Frage (von wem auch immer gegeben) zur zweiten (entscheidenden) hinführt, dann fiele sie unter das Verdikt des Provokationsverbots. A u c h Mertens (wie A n m . 21), 331 f., scheint implizit an eine Zweischrittigkeit zu denken, wenn er konstatiert: »Grund für Parzivals doppeltes Versagen ist seine mangelnde Fähigkeit, die richtigen Regeln in der entsprechenden Situation anzuwenden.« Die Situationsanalyse müsste also der Regelanwendung vorausgehen. 67 Schmidt (wie A n m . 18), 374: »diese Worte hätten den Inhalt der Frage gebildet, wäre sie ausgesprochen worden.« 68 Vgl. oben A n m . 46 und 67; zu Parzivals Entscheidung, dem Rat des Gurnemanz zu folgen vgl. Uta Störmer-Caysa, Gewissen und Buch. Uber den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters, Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 14 (248) ( B e r l i n / N e w York 1998), 56. Bei Chrétien ist die Situation eine andere: Perceval müsste, ohne dass der Adressat vorgeschrieben ist, fragen, (1.) warum die Lanze blutet und (2.) wen man mit dem graal bedient. U n d genau das w i l l er, unterlässt es aber i m H i n b l i c k auf die Ratschläge des Gornemanz. 69 Schmidt (wie A n m . 18), 373: »Sein Entschluß hat tragische Folgen, die Motive sind lauter.«

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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ir geprüevet sinen art, / ir sit gein strite dermite bewart< (239,25 ff.). Parzival erfährt, dass Gott seinen Gastgeber geschlagen hat, doch er reagiert nicht, weil er sich nun einmal entschlossen hat, keine Frage zu stellen. Der Erzähler klagt: öwe daz er niht vrdgte dö! / des pin ich für in noch unvrö. / wan do erz enpfienc in sine hant, / dö was er vrdgens mit ermant. / och riwet mich sin süezer wirt, / den ungenande niht verbirt, / des im von vrägn nu wäre rät (240,3 ff.). Der Hörer erfährt, dass Parzival hier hätte fragen sollen und dass die Frage Anfortas von seinem Leiden befreit hätte. Auffällig, aber wenig beachtet ist, dass Anfortas mit seiner Äußerung die Frage, zu der er Parzival nach den Worten des Erzählers mit dem Geschenk des Schwertes veranlassen will, anschließend i m Grunde selbst beantwortet. 7 0 Seine not besteht ja genau darin, dass Gott ihn ame lihe hat geletzet. Hätte Parzival nach der not seines Gastgebers gefragt, was anderes hätte der ihm sagen können als das, was er ihm hier mitteilt? Außerdem: Warum sollte sich Parzival nach der not seines Gastgebers erkundigen, nachdem er gerade von diesem selbst zumindest andeutungsweise gehört hat, was es damit auf sich hat? So gesehen verhindert Anfortas mit seiner Äußerung i m gleichen Atemzug die Frage, die er mit der Schwertübergabe provozieren wollte. Das klingt paradox, ist es aber keineswegs. Anfortas übergibt Parzival sein Schwert, u m ihn zur Frage zu bewegen. Das stellt der Erzähler eindeutig fest, und es muss Anfortas bewusst sein. 71 Damit verstößt er gegen das Verbot, seinen Gast direkt zur Frage zu veranlassen. Würde Parzival nun die Frage stellen, wäre sie (aus der Sicht des A n fortas) nicht nur wirkungslos, sondern würde das Leiden des Gralkönigs wegen der Übertretung des Hinweisverbots nur noch verschlimmern. Das verhütet

70 A m deutlichsten sieht das Werner Schröder, »Parzivals Schwerter«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur; 100 (1971), 111 - 1 3 2 , hier 122; Wiederabdruck in: W. S., Wolfram von Eschenbach, Spuren, Werke, Wirkungen. Kleine Schriften 1956 — 1987, 2 Bände (Stuttgart 1989), hier I, 231: » [ . . . ] da ist gleichsam die A n t w o r t auf die erwartete Frage vorweggenommen. N i c h t eine gewöhnliche Krankheit hat ihn befallen, Gott hat ihn geschlagen. Eine suggestivere Mahnung ist kaum vorstellbar, Parzival müßte sich jetzt nach den näheren Umständen des von Gott verhängten Siechtums erkundigen und seinem Mitgefühl Ausdruck geben [ . . . ] . « Vgl. Mergeil (wie A n m . 59), 213: »Was Sigune von Anfortas aussagt [255,18], bekennt dieser selbst in der Gralszene bei der Überreichung des Schwertes.« Steppich (wie A n m . 3), 269, A n m . 22, spricht von einem »Zusammenspiel von Geste und verbaler Andeutung« und zitiert L u d w i g Wolff, »Die höfischritterliche Welt und der Gral in Wolframs Parzival«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur,; 77 (Tübingen 1955), 254-278, hier 264, der die Äußerung als »Wendung des Königs, mit der er sein Leiden berührt«, charakterisiert. 71

Bumke (wie A n m . 43), 69, A n m . 134, hat darauf aufmerksam gemacht, »daß Anfortas selber eine andere Begründung für das Schwertgeschenk nennt« als der Erzähler. Das könnte man mit Bumke »als eine Anspielung darauf [ . . . ] verstehen [ . . . ] , daß der König sich wegen seines körperlichen Zustands nicht persönlich u m den Gast kümmern kann.« Es könnte aber auch den verbalen Versuch darstellen, das tatsächliche M o t i v zu kaschieren.

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Anfortas, der offenbar weiß, dass er zu weit gegangen ist, indem er die Frage dadurch verhindert, dass er sie selbst beantwortet. Was Parzival denkt und welche Überlegungen er anstellt, w i r d nicht gesagt. Die Tatsache aber, dass Anfortas ausdrücklich Gott als Urheber seiner Verwundung ins Spiel bringt, könnte lähmend auf ihn wirken, weil er unter diesen U m ständen (im Gegensatz zu den früheren >natürlichen< Notsituationen bei Sigune, Gurnemanz und Condwiramurs) keine Möglichkeit sieht, wie er seinem Gastgeber helfen könnte. 7 2 Damit sind Gralzeremonie und Festmahl beendet. Das Geschirr w i r d hinausgetragen, die Graljungfrauen verlassen in umgekehrter Reihenfolge (240,15) den Palas. Parzival blickt ihnen nach und sieht i m Nebenraum den aller schœnsten alten man/des er künde ie gewan (240,27 f.). Daran schließt sich das Bogengleichnis an. Seine poetologische Bedeutung ist in letzter Zeit immer deutlicher herausgearbeitet worden. 7 3 Der Erzähler wendet sich an die Hörer und verspricht, sie zu einem späteren Zeitpunkt, her nach so des wirdet zit (241,5), über alle Unklarheiten aufzuklären, über den aller schœnsten alten man, aber auch über alles andere, über den wirt, seine burc und sein lant (241,3). O b w o h l der Hörer aufgrund der Erzählerbemerkungen i m Allgemeinen etwas mehr weiß als Parzival, kann er also das Ganze nicht durchschauen. Was der Hörer aber nicht weiß und nicht wissen kann, weiß Parzival erst recht nicht. Insofern dient das Bogengleichnis auch der Entlastung Parzivals. Der Hörer kann sich zudem damit beruhigen, dass der Erzähler ihm aufgrund seiner Kompetenz versichert, eine sofortige Aufklärung wäre sinnlos, weil sie zur Unzeit käme und daher wirkungslos bliebe (241,21 ff.). 7 4 Dann fährt er fort* Ich wil iu doch paz hediuten / von disen jâmerbœren Unten. / dar kom geriten Parzival, / man sach da selten freuden schal, / ez wäre buhurt oder tanz: / ir klagendiu stete was so ganz, / sine kêrten sich an schimphen niht. / swâ man noch minner Volkes siht, / den tuot etswenne vreude wol: / dort warn die winkel alle vol, / und ouch ze hove dâ man se sach (242,1 ff.). Diese auf das Bogengleichnis folgende Passage ist zum einen auffällig, weil in ihr Aufklärungen angekündigt werden, die gerade explizit verweigert worden waren. Sie ist zum zweiten auffällig, weil die angekündigten Aufklärungen substantiell nichts Neues bringen. Diese doppelte Auffälligkeit hat Funktion. Die Stelle soll dem Hörer die Freudlosigkeit der Gralburgbewohner in Erinnerung rufen und zugleich klarmachen, worauf die Trauer nicht beruht. Die letzten vier 72

Vgl. dazu oben A n m . 15 und Störmer-Caysa (wie A n m . 15), 87 f. und 90 f.

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Zuletzt Peter Kern, »ich sage die senewen âne bogen. Zur Reflexion über die Erzählweise i m >Parzivalich wœn man iu gebettet hat. / sit ir müede y so ist min rat / daz ir gët y leit iu slafen< (242,12 ff.). Erneut bricht der Erzähler in Klagen aus (242,16 ff.): ez wirt groz schade in beiden kuont (242,18). 78 Denkt man sich das Bogengleichnis und die nachfolgenden Erzählerbemerkungen über die jâmerbœren Hute einmal weg, schließt also 242,12 unmittelbar an 240,30 an, so zeigt sich, dass der Aufenthalt Parzivals i m Palas von Anfortas formal höflich, aber bestimmt und relativ abrupt beendet wird. Das steht i m Gegensatz zu der Gestaltung bei Chrétien, w o sich Gastgeber und Gast nach dem Essen noch unterhalten und Früchte und Getränke zu sich nehmen. A u c h bei Wolfram werden Parzival noch moraz y wîn unt lütertranc (244,13) und obz der art von pardîs (244,16) gereicht, aber nicht in Anwesenheit seines Gastgebers und nicht auf dem Palas, sondern in einer Kemenate, w o h i n er von Rittern geleitet und w o er von jungen Damen bedient wird. Die Änderung Wolframs ist insofern bemerkenswert, als Anfortas doch eigentlich daran liegen müsste, das scheiden möglichst hinauszuzögern, u m seinem Gast doch noch die 75

Ich interpretiere die Passage mit Kordt (wie A n m . 2), 169, so, dass minner »auf den Stand der Leute« bezogen ist und die winkel alle vol sich »auf den Reichtum auf der Gralburg« beziehen. 76

Kordt (wie A n m . 2), 169: »Damit wäre der leitmotivisch gebrauchte Kontrast Reichtum - Traurigkeit offen angesprochen.« 77 Gawan ist später mit einer i m Prinzip vergleichbaren Konstellation konfrontiert, wenn die schöne Orgeluse ein Verhalten an den Tag legt, das ihrer Schönheit H o h n spricht. Der Hörer könnte sich an den Prolog erinnern, in dem der Erzähler den möglichen Gegensatz zwischen äußerer Schönheit und innerer Qualität dargelegt hatte. So ein Fall könnte Orgeluse sein, ein safer ime golde (3,14). Der Erzähler warnt den Hörer jedoch explizit vor einem solchen vorschnellen Schluss (516,3 ff.). U n d auch Gawan scheint zu ahnen, dass hinter der widersprüchlichen Konstellation ein Geheimnis steht, sonst hätte er sich nicht i n dieser Weise schikanieren lassen (612,1 ff.). Orgeluse selbst offenbart i h m später die zwei Komponenten ihrer not (612,23): > glich en jâmer oder mer y / als Cidegast geben kunde y / gab mir Anfortases wunde< (616,24 ff.). 78

Zur Identität der Begriffe schade(n) in 242,18, 483,27 und 483,30 vgl. Steppich (wie A n m . 3), 272.

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Gelegenheit zu der ersehnten Frage zu geben. Vor dem Hintergrund der oben vorgeschlagenen Interpretation ist es jedoch sinnvoll, dass Anfortas auf das scheiden drängt. Denn die Frage - jetzt noch gestellt - würde, weil sie provoziert worden war, eine Verschlimmerung der Leiden herbeiführen. Das Drängen zur Trennung liegt also auf derselben Linie wie die Selbstbeantwortung der Frage durch Anfortas. Die Selbstbeantwortung nimmt Parzival die Motivation zur Frage, das Drängen auf Abschied verhindert, dass er sie vielleicht doch noch stellt. I m Palas hatte Parzival kein einziges Wort gesagt, 79 außerhalb findet er nun in der Kemenate die Sprache wieder. Er bittet die Ritter, die ihn geleitet haben, wieder zurückzugehen (243,4 ff.). Es folgt eine kleine Zeremonie, ein heiteres Intermezzo: juncherren ziehen ihm die Schuhe aus und entkleiden ihn. Vier junge Damen betreten den Raum, vor jeder geht ein Knappe mit einer Kerze. Die Damen wollen sehen, ob Parzival sanfte läge (243,24). M i t einem raschen Sprung bringt der nackte Parzival sich unter der Bettdecke in Sicherheit. Die vier jungen Damen bitten ihn, doch ihretwegen noch ein bisschen wach zu bleiben. Sie haben auch Wein und Obst mitgebracht und Parzival bedient sich. Er grüßt die juncvrouwen (244,6), bittet sie Platz zu nehmen (244,19) und richtet freundliche Worte an sie (244,23). I n der Nacht w i r d Parzival von Unheil verheißenden Träumen heimgesucht. Als er am Morgen danach die Gralburg menschenleer findet, macht er sich Gedanken, warum die Bewohner auf einmal nicht mehr da sind. Er schließt aus den Gegebenheiten auf die not des Burgherrn, die er allerdings vielleicht auch aufgrund seiner Traumerlebnisse, vielleicht auch aufgrund seiner Erfahrungen in Pelrapeire als kriegerische Auseinandersetzung (urliuge) deutet. Er ist mit triuwen sofort zur Hilfeleistung bereit (246,11 ff.). Als er dann gewappnet die Gralburg verlässt, reißt ein Knappe die Zugbrücke hoch, so dass Parzivals Pferd fast zu Fall kommt. Der Knappe verwünscht Parzival: >ir sult varn der sunnen haz,< / sprach der knappe. >ir sit ein gans. / möht ir gerüeret hän den flans , / und het den wirt gevräget! / vilpriss iuch hat betraget (247,26 ff.). Parzival muss das auf die Frage beziehen, die er stellen wollte, dann aber durch zuht (239,10) in Erinnerung an Gurnemanz' Ratschläge unterdrückt hat. Er erfährt, dass er die Frage an den wirt hätte richten müssen und dass das Schweigen ein Fehler war, der ihn u m viel Ruhm gebracht hat. Näheres erfährt er nicht. Er verfolgt die Spuren, u m seinen Entschluss zur Hilfeleistung in die Tat 79 Alois Wolf, »Literarhistorische Aspekte von Parzivals Schweigen«, in: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Fs. f. Fritz Tschirch ( K ö l n 1972), 7 4 - 9 5 ; Wiederabdruck in: A . W , Erzählkunst des Mittelalters. Komparatistische Arbeiten zur französischen und deutschen Literatur (Tübingen 1999), 251-270 (danach zit.), hier 253 [Sperrung aufgehoben]: »Parzival ist von all dem Seltsamen, das den Gral umgibt, so benommen, daß er unfähig ist, eine Frage zu stellen.«

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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umzusetzen (248,19 ff.). Doch Parzival, nun vom Erzähler als der valscheite widersaz (249,1) apostrophiert, verliert die Spur.

IV. N u n kommt es zu einer Begegnung, durch die Parzival herzenöt gewan (249,10). Er hört einer frouwen stimme jjemerlich (249,12) und trifft erneut auf Sigune, die den toten Schionatulander in den Armen hält. Der Erzähler konstatiert: swenz niht wolt erbarmen, / der si so sitzen sähe, / untriwen ich im jähe (249,18 ff.). Parzival trifft der Vorwurf der untriwe nicht, wie seine Worte sofort zeigen: >frouwe y mir ist vil leit / iwer senelichiu arebeit. / bedurft ir mines dienstes iht y / in iwerem dienste man mich siht< (249,18 ff.). Sigune fragt Parzival, w o er die vorige Nacht verbracht habe. Parzival antwortet: >dar ist ein mile oder mer; / daz ich gesach nie burc so her / mit aller slahte richheit. / in kurzer wile ich dannen reit< (250,13 ff.). Die richheit (vgl. 239,9) bleibt Parzivals vorherrschender Eindruck. Sigune reagiert ungläubig, denn 30 Meilen i m Umkreis liege nur e i n e solche Burg, die allerdings tatsächlich erden Wunsches riche sei (250,25): > Munsalvaesche ist si genant< (251,2). Dann fällt zum ersten Male der Name Anfortas (251,16), und Sigune berichtet von ihm: >der mac geriten noch gegen / och geiigen noch gesten. / der ist üf Munsalvaesche wirt. / ungenäde in niht verbirt< (251,17 ff.; vgl. 491,1 ff.). Z u m ersten Mal erfährt Parzival hier Genaueres vom Leiden des Königs. Dann äußert sie in konditionaler Fügung, wobei sie jedoch das entscheidende Moment, nämlich die Frage, als gewissermaßen selbstverständlich ausspart: >her y wart ir komen dar / zuo der jamerlichen schar y / so wäre dem wirte worden rät / vil kumbers den er lange hät< (251,21 ff.). Parzival schildert Sigune seine Eindrücke: >groezlich wunder ich dä sachy / unt manege frouwen wol getän< (251,26 f.). Sigune erkennt Parzival bi der stimme (251,28) 80 und fragt: >sden wünsch üf der erden / hästu vollecliche: / niemen ist so riche, / der gein dir koste mege hän, / hästu vräge ir reht getän< (254,26 ff.). Als Parzival ihr gesteht >ich hän gevräget niht< (255,1), reagiert Sigune scharf und wechselt sofort vom >du< zum >ihröwe daz iuch min ouge sihtsit ir vrägens sit verzagt! / ir sähet doch solch wunder gröz / (daz iuch vrägens dö verdröz!), / aldä ir wart dem gräle bi: / manege frouwen valsches vri, / die werden Garschiloyen / und Repans de schoyen, / und snidnde silbr und bluotec sper< (255,2 ff.). 8 4 Hier ist wunder sicher i m übergreifenden Sinne aufgefasst, da neben dem Gral und den Graljungfrauen auch die Lanze erwähnt wird. Sigune verflucht Parzival: >öwe waz wolt ir zuo mir herf / gunerter lip, verfluochet man! / ir truogt den eiterwolves zany / dä diu galle in der triuwe / an iu hekleip so niuwe. / iuch solt iur wirt erbarmet hän, / an dem got wunder hät getän, / und het gevräget siner not. / ir lebt, und sit an stelden töt< (255,12 ff.). Auffällig ist, dass Sigune in zwei Anläufen (jeweils mit öwe eingeleitet) zwei unterschiedliche Momente benennt, welche die Frage hätten auslösen sollen, nämlich einerseits die wunder gröz (255,5), wobei sie i m einzelnen den Gral, die Damen und snidnde silber und bluotec sper erwähnt (255,7 ff.), andererseits den wirt und seine not (255,17 ff.). Sigune subsumiert das Leiden des Königs 81 Diese Dialogregie erinnert stark an die des I X . Buches; vgl. Bernd Schirok, »Parzival und Trevrizent. Beobachtungen zur Dialogführung und zur Frage der figuralen Komposition«, Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik, 10 (1976), 4 3 - 7 1 . 82 Zur Bestattung von Toten als Werk der Barmherzigkeit vgl. A r n o l d Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter (Darmstadt 1997), 677. 83 84

Martin (wie A n m . 56) und Neilmann (wie A n m . 2), z. St.

Interpunktion hier nach Nellmann (wie A n m . 2). Sigune erwähnt neben Repanse die werden Garschiloyen (255,9), die bei der Prozession nicht genannt ist. I m X V I . Buch w i r d sie von Gruonlant Garschiloye (806,14) genannt (ebenfalls zusammen mit Repanse). D o r t w i r d auch eine Flörie von Lunel (806,15) genannt, die w o h l mit der Tochter des Grafen Iwan von N o n e l identisch ist; Martin (wie A n m . 56) zu 234,12: dafür spricht neben den Namenvarianten, dass i m selben Zusammenhang die Tochter des Jernis von Ril namentlich genannt wird: diu maget hiez Ampflise (806,22). U n d auch das Rätsel u m die grxvin von Tenabroc w i r d gelöst: Ihr Name ist Clarischanze (806,23 f.).

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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unter den Begriff wunder,; der damit eine Ausweitung gegenüber dem erfährt, was Parzival darunter verstanden hat. Hier erfährt Parzival zum ersten Mal, dass er den Burgherrn nach sîner nôt hätte fragen sollen. 8 5 Parzival äußert gegenüber Sigune sofort seine Bereitschaft zur Wiedergutmachung mit der Einschränkung hân ich iht getan (255,23). Knecht und K ü h n übersetzten iht mit >(etwas) BösesUnrechtiren vindet nu decheinen wis / decheine geinrede an mir< (255,28 f.). Als Parzival dann allein ist, heißt es: Daz er vrâgens was so laz y / dô 3r bi dem trüregen wirte saz, / daz rou dô grcezlîche / den helt ellens riche (256,1 ff.). 8 6 Die Worte bedeuten nicht, dass er die Trauer damals wahrgenommen hat. Er rekurriert auf das, was er von Sigune gehört hat (253,21). Öffentlich werden die Ereignisse auf der Gralburg dann durch Cundries A n klage vor dem Artushof: >her Parzival, wan sagt ir mir / unt bescheidt mich einer mare, / dô der trurge vischœre / saz âne freude und âne trôst, / war umb irn niht siufzens hât erlôst< (315,26 ff.). Die Zuspitzung der Situation, die sich dann in Cundries maßlosen Feststellungen über Parzivals angebliche Verdammnis äußert, die ze himele vor der hôhsten hant (316,8) beschlossene Sache sei, w i r d hier bereits vorbereitet, indem Cundrie die Erkennbarkeit des Leides voraussetzt und Parzival nach den Gründen oder Motiven fragt, warum er Anfortas nicht erlöst habe. Sie unterstellt Parzival implizit, er habe Anfortas nicht erlösen wollen. Sie wirft ihm vor: >Er truog iu für den jâmers last. / ir vil ungetriuwer gast! / sin not iuch solt erbarmet hân. /[...]/ iu gap iedoch der wirt ein swert, / des iwer wirde nie wart wert: / da erwarb iu swigen sünden zil. / ir sit der hellehirten spil. / gunêrter Up, hêr Parzivâl! / ir säht ouch für iuch tragen den grâl, / und snidnde silbr und bluotec sper. / irfreuden letze, ir trurens wer!< (316,1 ff.) 8 7 Z u m ersten Mal fällt hier i m Zusammenhang mit Parzivals swigen der Begriff sünde. Cundries Urteil beruht auf der Unterstellung, dass Parzival (1.) den jâmers last und die nôt erkannt hat, dass er (2.) von der heilenden Kraft der Frage wusste und dass er (3.) die Frage nicht gestellt hat, weil er Anfortas nicht erlösen wollte. N u r wenn die Prämissen 1 und 2 zuträfen, wäre Cundries Sün85

Nellmann (wie A n m . 2), z. St.

86

Zur Rolle der Reue für die Beurteilung der Tat Michael Müller, Ethik und Recht in der Lehre von der Verantwortlichkeit. Ein Längsschnitt durch die Geschichte der katholischen Moraltheologie (Regensburg 1932), 172. 87 M i t dem gräl, den snidenden mezzem und dem bluotic sper nennt Cundrie dieselben Gegenstände, die Sigune genannt hatte; vgl. auch die Parallelen 255,13 und 316,25 sowie 255,17 und 316,3.



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denvorwurf gerechtfertigt. Entfällt die Prämisse 1, brechen ohnehin alle Folgerungen als grund- und daher haltlos in sich zusammen. Träfe Prämisse 1 zu, nicht aber Prämisse 2, dann hätte Parzival die Frage stellen können, ohne sich der Folgen bewusst zu sein und ohne diese wollen zu können; er hätte die Frage aber auch »aus Discretion« 8 8 unterlassen können. Cundries Vorwürfe sind eine Ungeheuerlichkeit. Dass sie Parzival mit Wucht treffen, liegt neben der Öffentlichkeit w o h l vor allem daran, dass sie alles, was er sukzessive erfahren hat, in einen plausiblen Zusammenhang stellen. Wenn Parzival nach Cundries Verfluchung rechtfertigend auf den Rat des Gurnemanz verweist, so ist das auch ein Appell, seine damalige Entscheidung aus seiner damaligen Situation zu beurteilen: >Sol ich durch miner zuht gebot / beeren nu der Werlte spot y / so mac sin raten niht sin ganz: / mir riet der werde Gurnamanz / daz ich vrävelliche vräge mite / und iemer gein unfuoge strite< (330,1 ff.). Tatsächlich war der Rat nicht ganz, d. h. er deckte nicht alle denkbaren Situationen ab. Das konnte er auch nicht, denn was auf der Gralburg richtig und was falsch war, konnte nur wissen, wer es wusste. Man konnte es nicht mit ethisch-moralischen oder theologischen Maßstäben eruieren. 89 Parzival klagt: >ay helfelöser Anfortas, / waz half dich daz ich pi dir was?< (330,29 f.) Die Rechtfertigung weicht der Klage. I m I X . Buch erfährt Parzival von Trevrizent diu verholnen maere umben gräl (452,30). Z u m Teil sind das Sachverhalte, die Parzival bisher noch nicht kannte, zum Teil stellt der Einsiedler das, was Parzival auf Munsalvaesche miterlebt und von Sigune und Cundrie gehört hat, in Zusammenhänge und beleuchtet es aus seiner Perspektive. Nachdem Parzival Trevrizent i m Laufe ihres Gesprächs von seiner doppelten not umhen grdl und umh min selbes wip (467,26 f.) berichtet hat, sagt ihm der Einsiedler, dass er selbst beim Gral war, und teilt ihm Einzelheiten mit. Z u m Gral können nur die gelangen, die dar sint benennet 88

Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter; 2 Bände (München 1972-1973), hier I I , 824; vgl. Rainer Gruenter, »Parzivals einvalt« y Euphorion, 52 (1958), 297-302, hier 302. Steppich (wie A n m . 38), 413, meint, dass Parzival »zumindest soviel Gespür für gute Tischsitten entwickelt haben mochte, daß es ihm ungehobelt erscheinen mußte, einen offensichtlich kranken Gastgeber während einer festlichen Abendmahlzeit mit peinlichen Fragen nach dessen Gesundheitszustand zu belästigen.« 89 Z u Chrétien vgl. Volker Roloff, Reden und Schweigen. Zur Tradition und Gestaltung eines mittelalterlichen Themas in der französischen Literatur; Münchener Romanistische Arbeiten 34 (München 1973), 152: »alle Versuche, die unterlassene Frage [Percevais] als vermeidbaren Fehler, Mißverständnis oder Unvernunft dem Schüler oder als zu einseitige Weisung dem Lehrer anzulasten, scheitern letzten Endes an der Märchenstruktur des Romans, dem magischen Charakter der Erlösungsfrage und ihrer unbegreiflichen Wirkung.« Z u Wolfram vgl. Wolf (wie A n m . 79), 252 f., der betont, dass man die Frage »nicht i m Religiösen unterbringen« könne, Parzival reagiere »höfisch-moralisch-psychologisch völlig richtig«, jedoch habe »sein Verhalten verheerende Folgen«.

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(473,10). Ein Einziger allerdings sei unbenennet (473,12) nach Munsalvaesche gekommen. Der sei ein tumber man (473,13) gewesen und habe dadurch sünde auf sich geladen, daz er niht zem wirte sprach / umben kumber den er an im sach (473,14 ff.). Auch Trevrizent koppelt den Sündenvorwurf an die Wahrnehmung des kumbers. Nachdem er Parzival von der grässlichen Verwundung des Anfortas, den vergeblichen Heilungsversuchen und der Inschrift auf dem Gral berichtet hat, die für den Fall der Frage Genesung verhieß, kommt er erneut auf den Mann zurück, der unbenennet nach Munsalvaesche gekommen ist. Dieser Ritter habe unpris davongetragen, sit er den rehten kumber sach, / daz er niht zuo dem wirte sprach / >herre, wie stet iwer nöt?< / sit im sin tumpheit daz gebot / daz er aldä niht vrägte y / grözer Steide in dö betragte (484,21 ff.). Wieder w i r d unterstellt, dass der kumber wahrnehmbar war. Der Vorwurf lautet nun: tumpheit. Trevrizents Worte aufnehmend (der den rehten kumber sach)90 und sich damit nun seine Sicht zu eigen machend gesteht Parzival schließlich: >der üf Munsalvaesche reit, / unt der den rehten kumber sach, / unt der deheine vräge sprach, / daz bin ich unstelec barn: / sus hän ich, herre, missevarn< (488,16 ff.). 9 1 Trevrizent beklagt, dass >din kunst sich saelden sus verzech. / dö dir got fünf sinne lech, / die hänt ir rät dir vor bespart. / wie was din triwe von in bewart / an den selben stunden / vor Anfortases wunden?< (488,25 f.) Der Vorwurf betrifft jetzt die Sinne und schlägt damit den Bogen zurück zu Gurnemanz , Rat, die Sinne zu gebrauchen. 92 90

Vgl. Schmidt (wie A n m . 18), 372, A n m . 6.

91

Das missevarn könnte mit dem misseriten (226,8) korrespondieren, vor dem der vischare gewarnt hatte. 92 Dazu Schmidt (wie A n m . 18), 373: »Das Problem aber ist, daß die Sinne trügen oder den Aufschluß schuldig bleiben können«. Grundsätzlich stimmt Bumke (wie A n m . 43), 74, Trevrizent zu: Der Einsiedler lenke »die Aufmerksamkeit mit Recht auf die Erkenntnisproblematik, denn diese Problematik vermag, glaube ich, Parzivals Fehlverhalten eher verständlich zu machen als die Annahme eines religiösen oder eines moralischen Versagens.« Allerdings sieht er, 104, das Fehlverhalten nicht in der Sinneswahrnehmung, sondern in der rationalen Verarbeitung. A u c h Trevrizent könnte ein (allerdings vor der ratio liegendes) Koordinationsdefizit unterstellen. Die Fähigkeit, Sinneswahrnehmungen zu koordinieren, w i r d von einem Teil der mittelalterlichen Erkenntnistheorie als sensus communis bezeichnet. Er w i r d teils den äußeren Sinnen, teils den inneren Sinnen zugerechnet. D e m sensus communis k o m m t die Aufgabe zu, die »kognitive Einheit des Wahrgenommenen« herzustellen und »einen synoptischen Überblick über die einzelnen Elemente perzeptiver Episoden« zu schaffen [vgl. Jörg Alejandro Teilkamp, Sinne, Gegenstände und Sensibilia. Zur Wahrnehmungslehre des Thomas von Aquin y Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 66 (Leiden u. a. 1999), 245-253, Zitate 245, 251]. Die Beispiele, die mittelalterliche erkenntnistheoretische Schriften bringen, sind vergleichsweise einfach: gelb + süß = H o n i g (vgl. Teilkamp, 252). Für Parzival ist die Situation jedoch komplexer. Es geht nicht darum,

70

Bernd Schirok N a c h d e m T r e v r i z e n t seine R o l l e als Ratgeber (>ich bin

von gote

dm

rates

wernu sag mir y sähe du daz sper / ze

Munsalvaesche

üf dem hus?< (489,22 f.) O h n e eine A n t w o r t a b z u w a r t e n , e r k l ä r t er P a r z i v a l , was es m i t d e m sper auf sich hat. D a n n k o m m t T r e v r i z e n t auf die Eingangsszene des V. Buches z u sprechen u n d e r k l ä r t P a r z i v a l , w a r u m m a n d e n l e i d e n d e n A n f o r t a s z u m See B r u m b a n e b r i n g t , w o P a r z i v a l i h n g e t r o f f e n hat. D i e L u f t d o r t tue i h m g u t : >daz heizt so smerzlîchem

wœr ein fischœre. lützel

er sinen weidetac:

sere y / er bedarf

dâ heime

/ daz mœre muoser

/ swaz er aida gevâhen

mac / bi

mère. / dâ von kom uz ein mœre y / er

lîden:

/ salmen,

lamprîden

y

/ hat er doch

veile y / der trürege , niht der geile< (491,9 ff.).

P a r z i v a l n i m m t d e n B a l l auf u n d r e k a p i t u l i e r t : >in dem se den künec ich / gankert

uf dem wage y / ich wœn durch vische läge / od durch ander

vant

kurzewîle
Parzivalwie tet in jämer dö so wolf< (492,16) 95 Woraus resultiert Parzivals Eindruck, dass der jämer den Klagenden wol tet ? Fragt er sich, warum der Knappe überhaupt die Lanze präsentiert, wenn deren 93

Stapel übersetzt ich wart mit »wie mir schien«, K ü h n mit »mir scheint«, Knecht mit »ich glaube«. 94 95

So auch Green (wie A n m . 8), 94, A n m . 20.

Die Ubersetzer Karl Bartsch, Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, hg. von Karl Bartsch, 2. Teil, 2. Auflage, Deutsche Classiker des Mittelalters mit Wort- und Sacherklärungen 10 (Leipzig 1876), Stapel (wie A n m . 19), M o h r (wie A n m . 19), Spiewok (wie A n m . 19), K ü h n (wie A n m . 2) und Knecht (wie A n m . 1) machen folgende Vorschläge: »Wie war es möglich, das sie so jammern konnten.« (Bartsch in der Erklärung) »Ach, wie tat ihnen das Jammern wohl!« (Stapel) »Tat ihnen Jammer denn so wohl?« (Mohr) »Fühlen sie sich denn w o h l dabei?« (Spiewok) »Hatten sie das Jammern gern?« (Kühn) »Wie konnten sie nur am Jammer so Gefallen finden?« (Knecht). Die Interpunktion (Frage- oder Ausrufezeichen) ist nicht entscheidend. Es könnte sich um eine Frage oder einen verwunderten Ausruf handeln. Ließe sich der Gegensatz von jämer und so wol tuon durch die Auffassung überbrücken, dass es den Leuten einfach gut tut, ihren Tränen freien Lauf lassen, und dass sie darin Trost finden (so w o h l Stapel)? Allerdings finden sie erst dann Trost, als die Lanze wieder hinausgetragen wird. Die Ubersetzung von Bartsch lässt das entscheidende wol außer Betracht. Mohr, Spiewok und K ü h n stellen die Verbindung von jämer und wol tuon in Frage, die der Text aus der Protagonistenperspektive als gegeben voraussetzt. M i t anderen Worten: Sie stellen eine Frage, die der Text nicht stellt, und sie stellen die Frage gerade nicht, die der Text formuliert. A m dichtesten scheint mir Knecht am mittelhochdeutschen Text zu bleiben.

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Bernd Schirok

Anblick bei den anwesenden Gralrittern solche Erschütterung hervorruft? 9 6 Machen ihn der plötzliche Einsatz und der abrupte Abbruch der geradezu hyperbolischen Trauer misstrauisch? Ist das wirklich empfundener Jammer oder die Demonstration von Jammer? 97 Erinnert ihn das Wechselbad, dem er sich hier ausgesetzt sah, an die Szene mit dem rede spähen man, in der ja auch schon einmal Blut geflossen und auf einen Ärmel gelaufen war? 9 8 Wenn damals zuht von ihm gefordert wurde (229,18), dann vermutlich auch in dieser Situation. Auch an die Gralprozession erinnert sich Parzival bei Trevrizent: >fiinf und zweinzec meide ich da sach, / die vor dem künege stuonden / und wol mit zühten kuonden< (493,16 ff.). Er hat also genau mitgezählt, 9 9 und ihm ist aufgefallen, dass alles mit zühten ablief. Dann stellt Parzival Trevrizent eine sehr merkwürdige Frage: >wer was ein maget diu den gräl / truocf ir mantel lech man mir< (500,24 f.). Merkwürdig deswegen, weil ihm schon der Kämmerer mitgeteilt hatte (228,14 ff.), dass es die Königin Repanse de schoye war, deren Mantel er geliehen bekam. Hat er den Namen jetzt vergessen? Trevrizent hatte kurz vor Parzivals Frage Repanse de schoye als die Gralträgerin bezeichnet (477,15 ff.) und er hatte erläutert, dass Herzeloyde, Repanse, Anfortas und er Geschwister seien (475,19; 476,12 f.; 477,13 ff.). Anfortas wiederholt auf Parzivals Frage Repanses Namen nicht, sondern geht auf die - an sich klare - Verwandtschaftsbeziehung ein (>diu selbe ist din muomesi wand du soltst da herre sin / des grdls unt ir y dar zuo min< (500,29 f.). Es scheint, dass der Erzähler Parzival eine überflüssige Frage stellen lässt, u m Trevrizent die Gelegenheit zu geben, das M o t i v der Mantelleihe zu erläutern. Repanse und die Gralgemeinschaft (außerhalb und innerhalb der Burg) haben also Parzival hoffnungsvoll als den verheißenen Ritter identifiziert. Eine letzte Frage hat Parzival noch: >wer was ein man lac vorme gräl? / der was al grä bi liehtem vel< (501,20 f.). Parzivals Formulierung grä bi liehtem vel 96 I n diesem Sinne ist die Stelle erklärt in Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel , hg. von Karl Bartsch, 4. Auflage bearbeitet von Marta Marti, 2. Teil, Deutsche Klassiker des Mittelalters mit Wort- und Sacherklärungen 10 (Leipzig 1929), 168: »Warum verschafften sie sich freiwillig den Schmerz durch den Knappen?« 97

Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde (Darmstadt 1997), bes. die Kapitel »Empörung, Tränen, Zerknirschung. Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters«, 258-281, und »Ungeschriebene Gesetze. Wie funktioniert Herrschaft ohne schriftlich fixierte Normen?«, 282-304; Keller (wie A n m . 4), 162 f. zur Symptomsimulation in Kommunikationsabsicht. 98

Maczewski (wie A n m . 60), 16.

99

Vgl. Bumke (wie A n m . 25), 67.

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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nimmt chiastisch auf, was er gesehen hat, nämlich den aller schoensten alten man (240,27). Das, so erklärt Trevrizent, sei Titurel, dîner muoter an, gewesen: >ein siechtuom heizet pôgrât / treit er.; die lerne helfelôs. / sîne varwe er iedoch nie verlos, / wand er den grâl so dicke siht: / da von mager ersterben niht< (501,26 ff.). Sein Aussehen ist also durch das siechtuom nicht beeinträchtigt. Sigune, Cundrie und Trevrizent verbindet, dass sie das Schicksal des Gralkönigs kennen und dass sie wissen, dass er mit der Frage nach seiner nôt hätte erlöst werden können. Vor diesem Hintergrund rechnen sie Parzival sein Versagen als schuldhaft zu und unterstellen ihm, er habe die nôt des Gralkönigs bemerken müssen. Sie projizieren damit ihr Wissen in die Figur Parzivals. Gegen Ende des Romans (rund 600 Verse vor Schluss) w i r d klar, dass die gesamte Gralszene des V. Buches Appellcharakter hatte: durch daz si trôstes wänden, / dô si sich freunden ânden / des âbents umb daz pluotec sper; / do wart der grâl durch helfe ger / für getragen an der selben zît: / Parzival si liez in sorgen sît (807,19 ff.). Die entscheidenden Requisiten werden hier noch einmal genannt: daz pluotec sper und der grâl. Die Inszenierung von Trauer und Pracht erfolgte also durch helfe ger; aber sie hat die Wirkung nicht erzielt, die man sich von ihr erhofft hatte. 1 0 0

V. Vergleicht man Wolframs Gestaltung mit der Vorlage, so ergeben sich gravierende Unterschiede zwischen den Erklärungen Sigunes, Cundries und Trevrizents und den Äußerungen ihrer namenlosen Vorgängerfiguren. Bei Chrétien erklären die cosine und der Einsiedler Perceval, dass er mit dem Tod der Mutter eine Sünde (pechié ; Perc. 3593 1 0 1 und 6399) auf sich geladen und diese Sünde ihn gehindert habe, die erlösenden Fragen zu stellen. Der Tod der Mutter ist danach ursächlich für das Versagen auf der Gralburg, d. h. für die cosine und den Einsiedler liegt der Grund für Percevais Verhalten nicht in der Szene auf der Gralburg, sondern außerhalb. 1 0 2 Das hässliche Fräulein stellt diese Verbin100 Diese brisante Stelle w i r d von Steppich (wie A n m . 38), 414 f. und A n m . 63 f., erstaunlich zurückhaltend behandelt. 101 Der Ausdruck pechie de ta mere ist, worauf Olef-Krafft (wie A n m . 7), 587, hingewiesen hat, zwar doppeldeutig und kann als >Unglück der Mutter< oder >Sünde an der Mutter< aufgefasst werden, da das Ereignis Perceval jedoch zugerechnet wird, liegt die Interpretation >Sünde< näher. 102 Die Ausführungen der cosine und des Einsiedlers sind vor dem Hintergrund von Augustins Sündenlehre zu sehen. I n der Frühschrift De vera religione (entstanden u m 390) heißt es: » N u n ist aber die Sünde so sehr ein freigewollt Böses, daß man schlechterdings von Sünde nicht reden könnte, wenn sie nicht frei gewollt wäre.« I n den späten Retractationes (entstanden 427) versucht Augustin, diese Definition zu halten, muss jedoch einschränken, unter Sünde sei »hier nur das verstanden, was ausschließlich Sünde, nicht auch

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Bernd Schirok

d u n g auffälligerweise n i c h t her, sie b e s c h u l d i g t Perceval ü b e r h a u p t k e i n e r Sünde, s o n d e r n w i r f t i h m v o r , dass er die G e l e g e n h e i t n i c h t >beim Schopfe< e r g r i f fen habe, als F o r t u n a (Perc. 4646, 4651) i h m begegnete. B e i W o l f r a m stellen w e d e r Sigune n o c h C u n d r i e e i n e n K a u s a l n e x u s z w i schen d e m T o d d e r M u t t e r u n d der Frageunterlassung her, was a u c h deswegen s c h w e r m ö g l i c h w ä r e , w e i l H e r z e l o y d e erst z u s a m m e n b r i c h t , als P a r z i v a l außer S i c h t w e i t e ist. A u c h T r e v r i z e n t k o p p e l t das Geschehen auf

Munsalvaesche

an k e i n früheres E r e i g n i s , s o n d e r n q u a l i f i z i e r t d e n T o d der M u t t e r u n d die Ithertötung sünden.

ebenso w i e die Frageunterlassung

als ( o f f e n b a r

eigenständige)

I n d e m er d r e i v ö l l i g u n t e r s c h i e d l i c h e Ereignisse u n t e r e i n u n d d e n -

selben B e g r i f f s u b s u m i e r t , n ä h r t er d e n V e r d a c h t , dass f ü r i h n sünde »eine A r t W e l t f o r m e l z u r E r k l ä r u n g des Schlechten« d a r s t e l l t . 1 0 3 F ü r W o l f r a m s G e s t a l t u n g der Munsalvaesche-Szene scheint die I n t e r p r e t a t i o n v o n C h r é t i e n s hässlichem F r ä u l e i n sehr v i e l angemessener als die D e u t u n g v o n Sigune, C u n d r i e u n d T r e v r i z e n t . 1 0 4 P a r z i v a l hat e i n e n F e h l e r g e m a c h t , eine Sündenstrafe ist [ . . . ] « ; Aurelius Augustinus, De vera religione. Über die wahre Religion. Lateinisch / Deutsch. Übersetzung und Anmerkungen von Wilhelm Thimme, Nachwort von K u r t Flasch, Reclams Universal-Bibliothek 7971 (Stuttgart 1983). Die peccatum-poena /?ecctf£¿-Konstruktion besagt, dass eine willentlich und wissentlich begangene Sünde (peccatum) weitere Übel {mala) nach sich ziehen könne, die nicht eigenständige (wissentliche und willentliche) Sünden darstellen, sondern als Sündenstrafe (poena peccati) zu interpretieren seien. Demnach wäre das Verhalten Percevals beim Abschied von der Mutter ein peccatum. Dieses peccatum zieht eine poena peccati nach sich, die darin besteht, dass Perceval auf der Gralburg nicht fragt, wobei zusätzlich [dazu Wilhelm Kellermann, Aufbaustil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman, Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, 88 (Halle a. d. Saale 1936)] der Rat des Gornemanz eine Rolle spielt. - Chrétiens Konstruktion ist weniger überzeugend, als sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Perceval weiß weder, dass sein Aufbruch den Tod der Mutter zur Folge haben wird, noch w i l l er ihren Tod. Die Konstruktion ist aber insofern geschickt, als sie an Percevals liebloses Verhalten beim Aufbruch anknüpft und das Problem umgeht, die Frageunterlassung als Sünde i m theologischen Sinne, das heißt als wissentliche und willentliche Übertretung eines göttlichen Gebotes aufzufassen. Zur grundsätzlichen Problematik von Chrétiens Konstruktion vgl. Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung , Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, 97,2. Auflage (Tübingen 1970), 189 f. 103 Hermann Häring, Das Problem des Bösen in der Theologie , Grundzüge 62 (Darmstadt 1985), 87, zu Augustins Zusammenfassung allen Übels »als Sünde und Sündenstrafe«. 104 Allerdings bleibt das nicht das letzte Wort dieser Figuren. Sigune urteilt i m I X . Buch milder und hält es sogar nicht mehr für ausgeschlossen, dass Parzival noch einmal auf die Gralburg gelangen kann (441,18 ff.). Cundrie fällt Parzival i m XV. Buch zu Füßen und bittet ihn u m Verzeihung (779,17 ff.). Trevrizent reagiert mit Verwirrung auf die Nachricht von Parzivals Berufung. Er kann sie sich nur mit der Annahme erklären, Parzival habe seine Berufung Gott abgetrotzt (798,1 ff.). - Trevrizent steht mit seinen Problemen nicht allein, auch moderne Interpreten haben Schwierigkeiten mit Parzivals Berufung. Bumke (wie A n m . 43), 93 f., formuliert: »Das Unbehagen, das viele Interpreten

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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sich bietende G e l e g e n h e i t verpasst. Z w e i I n d i z i e n i n W o l f r a m s T e x t k ö n n t e n diese Sicht bestätigen. Z u m einen w i r d das Geschehen auf d e r G r a l b u r g m i t e i n e m W ü r f e l s p i e l i n B e z i e h u n g gesetzt (248,10 f.). N e i l m a n n fragt: »Soll d a m i t angedeutet w e r d e n , daß P a r z i v a l s c h u l d l o s i s t ? « 1 0 5 D a f ü r s p r i c h t auch, dass d e r E r z ä h l e r k u r z darauf P a r z i v a l als der valscheite

widersaz

(249,1) a p o s t r o p h i e r t .

Z u m anderen w i r d die F r a g e k o n s t e l l a t i o n a m E n d e u m g e p o l t . Per I n s c h r i f t a m G r a l w i r d d e k r e t i e r t , dass i n f r e m d e L ä n d e r entsandte G r a l r i t t e r n i c h t n a c h i h r e r H e r k u n f t gefragt w e r d e n d ü r f e n . G e s c h i e h t das t r o t z des ö f f e n t l i c h geäußerten V e r b o t s d o c h , so müssen sie das L a n d verlassen. D a s V e r b o t muss n a t ü r l i c h n i c h t b e g r ü n d e t w e r d e n u n d w i r d n i c h t b e g r ü n d e t . A u f f ä l l i g ist j e d o c h die E r z ä h l e r b e m e r k u n g , »daß die G r a l r i t t e r diese neue B e s t i m m u n g beg r ü ß t e n , w e i l i h n e n alles F r a g e n v e r l e i d e t w a r , n a c h d e m A n f o r t a s so lange auf die erlösende Frage hatte w a r t e n müssen [ . . . ] . « 1 0 6 Es ist m e r k w ü r d i g , dass die Z e i t v e r g e b l i c h e n W a r t e n s z u r » F r a g e p h o b i e « 1 0 7 f ü h r t , näher l i e g e n d w ä r e , w e n n n a c h der E r l ö s u n g d u r c h die Frage jedes F r a g e n b e g r ü ß t w ü r d e . K a n n j e m a n d e m d u r c h langes D ü r s t e n das T r i n k e n o d e r d u r c h S c h l a f e n t z u g das

gegenüber dem Gedanken empfunden haben, daß die Gralwürdigkeit des Helden in seinen ständigen Kämpfen begründet sein soll, wurde häufig durch die Versicherung beruhigt, daß Parzival durch seinen Besuch bei Trevrizent mit einer anderen Einstellung kämpfe, daß er ein demütiger Kämpfer geworden sei, an dem Gott Wohlgefallen haben könnte. Das k o m m t jedoch i m Text nicht zum Ausdruck.« Dass Parzival kein demütiger Kämpfer geworden ist, scheint mir unbestreitbar. Das wäre w o h l auch eine contradictio in adiecto. Dass er sich aber durch den Besuch bei Trevrizent nicht geändert habe, entspricht nicht der Aussage des Textes: 741,26 ff. und Bumke (wie A n m . 43), 88 f.; aus der Perspektive Trevrizents 502,26. Unübersehbar vertreten Trevrizent und Parzival zwei unterschiedliche Konzepte, die gleichermaßen darauf abzielen, Anfortas, den Bruder und Onkel, zu erlösen; vgl. dazu Bumke (wie A n m . 38), 160-163. Trevrizent berichtet Parzival, er habe gelobt, daz ich deheine riterscbaft / getœte nimmer mère , / daz got durch sin ère / mînem bruoder hülfe von der not (480,10 ff.). Der Gral entscheidet sich (später) gegen Trevrizents Konzept, indem er einen Ritter für die Erlösung vorsieht (483,19 ff.). D o c h dieser scheitert zunächst. I n der Begegnung zwischen Parzival und Trevrizent i m I X . Buch gelingt es dem Einsiedler, seinen Neffen aus der Hoffnungslosigkeit zu lösen, ihm neues Gottvertrauen zu geben (741,26 ff.) und seinen Blick nach vorn zu richten. I n einem Punkt freilich ist die Differenz zwischen Parzival und Trevrizent unüberbrückbar. Trevrizent glaubt, es sei ausgeschlossen, dass Parzival eine zweite Chance beim Gral erhält, während Parzival unbeirrt an seinem Doppelziel, den Gral und Condwiramurs wieder zu finden, festhält und es schließlich durch Gottes Gnade erlangt. Eine andere Lösung wäre für einen Erzähler, der von sich sagt schildes ambet ist mvn art (115,11), schwer vorstellbar. Z u m Verhältnis von »ritterliche[r] Bewährung und Gralberufung« vgl. Mertens (wie A n m . 21), 334 f. 105 Nellmann (wie A n m . 2), I I , 589; Kordt (wie A n m . 2), 194, verweist auf die Äußerung ihres Lehrers, die aber nicht recht zu ihrer eigenen Interpretation passen will. 106

Joachim Bumke, »Parzival und Feirefiz - Priester Johannes - Loherangrin. Der offene Schluß des Parzival von Wolfram von Eschenbach«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschiche, 65 (1991), 236-264, hier 242 ff. 107

Bumke (wie A n m . 106), 242.

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Bernd Schirok

Schlafen verleidet werden? Bumke betont zu Recht, dass durch das Frageverbot die »Mission [ . . . ] erschwert« werde, ja dass »das Scheitern [ . . . ] i m Grunde vorprogrammiert« sei. 1 0 8 Logisch wäre die freudige Reaktion also nur, wenn die Templeisen das zölibatäre Leben auf der Gralburg höher schätzten als Ehe und Familie in der Welt und wenn für sie das Frageverbot als ersehnter Frageauslöser fungierte und ihnen die Chance der Rückkehr eröffnete. Hier könnte man Herbert Kolbs Vorstellung anschließen, dass Loherangrin als Parzivals Nachfolger Gralkönig werde. 1 0 9 Tatsächlich könnte eine Bemerkung Loherangrins in diese Richtung deuten, wenn er nämlich gegenüber der (namenlosen) fürstin in Brdbant nicht gerade galant äußert: >sol ich hie landes herre sin, / dar umbe läz ich als vil< (825,16). Dagegen steht dann allerdings nach der verbotenen Erkundigung die eindeutige Erzählerbemerkung er schiet ouch ungerne dan (826,15). Damit stellt sich zugleich die Frage nach dem Sinn der den Abschnitt abschließenden Erec-Anspielung, mit der die Forschung ihre liebe N o t hatte und hat. Als Loherangrin seine Frau, seine Kinder und sein Land verlassen muss, nur weil seine Frau durch liebe die verbotene Frage nach seiner Herkunft stellt, bemerkt der Erzähler: hie solte Ereck nu sprechen: / der kund mit rede sich rechen (826,29). Neilmann fragt: »Wird der Starrsinn Erecs lächerlich gemacht? W i r d Loherangrins Rigorismus getadelt? Gilt die K r i t i k der neugierigen Herzogin [ . . . ] ? « 1 1 0 M.E. ist keine dieser Fragen zu bejahen. 111 Vielmehr scheint die K r i t i k des Parzival-Erzählers den Gralgesetzen 112 zu gel108

Bumke (wie A n m . 106), 243.

109

Herbert Kolb, Munsalvaesche. Studien zum Kyotproblem (München 1963), 51: »Parzivals Sohn und Nachfolger, der Gralkönig Loherangrin, w i r d zum Gemahl der vürstin in Bräbant und w i r d damit vürste in Bräbant.« Diese Sicht w i r d aber vom Text nicht getragen. 110

Neilmann (wie A n m . 2), I I , 788 f.

111

Schirok (wie A n m . 1), C X X I I .

112

Darauf läuft auch Bumkes (wie A n m . 106), 256 f., A n m . 39, Interpretation hinaus, der in der Stelle zunächst »einen Tadel an Loherangrins Adresse« sieht, dann aber konstatiert, »daß Loherangrin, anders als Erec, keine Wahl hatte, weil die Strafe für die Übertretung des Frageverbots von Gott festgesetzt war.« Allerdings neigt Bumke (wie A n m . 106), 256 f., A n m . 39, dazu, die beiden Verse »als einen literarischen Witz« zu verstehen, was »vielleicht das beste Verständnis« sei. Auch Horst Brunner, »Von Munsalvaesche wart gesant / der den der swane brahte. Überlegungen zur Gestaltung des Schlusses von Wolframs Parzival«, Germanisch-Romanische Monatsschrift, 72 (1991), 369-384, hier 381, meint, dass das Ganze »wohl nichts weiter als ein etwas grimmiger Scherz« sei. I n die gleiche Richtung weist Neilmanns Kommentar (wie A n m . 2), I I , 789: »Auf jeden Fall klingt die (von der Forschung mit Bedeutung beladene) Episode etwas unernst aus.« Rüdiger Schnell, »Literarische Beziehungen zwischen Hartmanns >Erec< und Wolframs >ParzivalParzival< aber begegne uns die wahre Wirklichkeit.« A u c h ich hatte

Die Inszenierung von Munsalvaesche

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ten, deren unerbittlicher Automatismus mit Erecs Handeln verglichen wird, der gegenüber Enite ein Redeverbot mit Todesandrohung ausspricht, dann aber, als seine Frau es durch liehe (Er. 3144) bricht, nicht gezwungen ist, seine unmenschlichen Drohungen in die Tat umzusetzen. So verstanden steht am Ende der Romanhandlung - eine exponiertere Stelle ist w o h l kaum denkbar - über Erec eine Reverenz an Hartmann und die arthurische Welt, von der auch die umfangreiche Gawan-Handlung innerhalb von Wolframs Roman zeugt. Das freilich führt zu einer Deutung des Verhältnisses zwischen Gralwelt und Artuswelt, die der traditionellen Interpretation diametral entgegengesetzt ist, die aber in neueren Forschungen teils vorsichtiger, 1 1 3 teils entschiedener erwogen oder vertreten w i r d . 1 1 4 Werner Williams-Krapp hat das so formuliert: »In ihrer starren Fixierung auf den höheren Wert der Gralgesellschaft haben Generationen von Interpreten übersehen, daß die Artuswelt letztlich die freudigere, die perspektivenreichere ist.« 1 1 5 Die zentralen Begriffe der Artuswelt, minne und aventiure, sind in der Gralwelt negiert oder pervertiert. Die Lebensaufgabe der Gralritter besteht darin, den Gral und die Gralburg zu schützen. Warum eigentlich, wenn man doch gar nicht dorthin gelangen kann? 1 1 6 Ihre Kämpfe enden zudem regelmäßig tödlich, entweder für die eine oder für die andere Seite, denn si nement niemens Sicherheit, / si wägnt ir lehn gein jenes lehn (492,8 f . ) . 1 1 7 Liebe ist den Rittern beim Gral verboten (495,7 f.), mit Ausnahme des Königs (495,9 f.), und der bekommt seine Frau vom Gral mittels Inschrift zugeteilt (478,13 ff.). in diese Richtung argumentiert, doch überzeugt mich das heute nicht mehr [Bernd Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter,; Erträge der Forschung 174 (Darmstadt 1982), 25]; vgl. auch Christine Wand, Wolfram von Eschenhach und Hartmann von Aue. Literarische Reaktionen auf Hartmann im >Parzival< (Herne 1998), 4 9 - 5 1 ; Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution, Mikrokosmos 36 (Frankfurt am Main [u. a.] 1993), 287-295. 113 Joachim Bumke, »Die Utopie des Grals. Eine Gesellschaft ohne Liebe?«, in: Literarische Utopie-Entwürfe, hg. H i l t r u d Gnüg, suhrkamp taschenbuch 2012 (Frankfurt am Main 1982), 7 0 - 7 9 . 114 Bumke (wie A n m . 113). A d o l f Muschg überschreibt in seinem Roman Der rote Ritter. Eine Geschichte von Parziväl (Frankfurt am Main 1993), 489, das Kapitel, das auf der

G r a l b u r g s p i e l t , m i t »DAS KALTE HAUS WORIN PARZIVÄL INS ZENTRUM SEINER GESCHICHTE GELANGT«. 115

Werner Williams-Krapp, »Wolfram von Eschenbach, Parzival«, in: Große Werke der Literatur; 8. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2002/2003, hg. Hans Vilmar Geppert (Tübingen 2003), 2 3 - 4 2 , hier 40. 116

Als der Gralritter Lybbeals von Lähelin getötet w i r d (473,22 ff.), ist damit für diesen keineswegs der Weg zum Gral frei. Er erbeutet lediglich das Pferd seines Gegners; dazu Kratz (wie A n m . 10), 416. 117 Nach K o l b (wie A n m . 109), 105, »bieten die templeise das düstere Bild permanenter Kampfbereitschaft. Alles was kriegerisch-ritterliches Leben zu einem höfischen macht, ist ihnen versagt.«

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U m noch einmal Werner Williams-Krapp zu zitieren: »Nicht die Gralswelt, sondern die Artuswelt ist die letztlich menschlichere, die eigentlich humanere [ . . . ] und daher für den laikalen Leser vorbildlicher als die obskure Gralswelt, für die Wolfram keine konkrete Perspektive eröffnet [ . . . ] . « 1 1 8 Der Parzival-Erzähler sagt das s o direkt nicht, aber er konstruiert die Welt des Grals in einer spannungsvoll unaufgelösten Widersprüchlichkeit, die zu denken gibt, und er stellt ihr mit dem Artusbereich eine Welt gegenüber, die zwar auch widersprüchlich ist, deren Mitgliedern es aber gelingt, die Widersprüche zu überwinden und zu dauerhaften Lösungen zu gelangen. Wolframs Inszenierung zweier Welten wirft beim Leser und Interpreten Fragen auf, die nicht beantwortet werden - jedenfalls nicht vom Erzähler.

118

Williams-Krapp (wie A n m . 115), 41.

Tempus recreationis: D a s Erholungsbedürfnis des M e n s c h e n als A r g u m e n t z u r R e c h t f e r t i g u n g u n t e r h a l t s a m e r Texte u n d Gespräche der italienischen u n d französischen L i t e r a t u r

(1300-1550) Von Tobias Leuker

»Der ständig gespannte Bogen w i r d schlaff«, lautet ein schon in der Antike nachweisbares und über das gesamte Mittelalter hin beliebtes D i k t u m , 1 das die Notwendigkeit der zeitweiligen Unterbrechung anstrengender Arbeit hervorhebt. A u f den folgenden Seiten möchte ich von Zeugnissen aus der italienischen und französischen Literatur des 14.-16. Jahrhunderts handeln, die unterhaltsame Texte mit dem Hinweis auf das Erholungsbedürfnis des Menschen rechtfertigen. U m das Korpus überschaubar zu halten, werde ich mich auf Äußerungen konzentrieren, die die Komposition von leichten Schriften zwischen gewichtigen bzw. das Lesen erfrischender Literatur zwischen der Lektüre ernster Werke verteidigen. Z u dieser spezifischen Fragestellung gibt es bislang keine Forschungsbeiträge, und auch mit dem allgemeineren Thema >Recreatio als ostendierte raison d'être literarischer Texte< haben sich bislang - von einigen Andeutungen bei Ernst Robert Curtius 2 und Joachim Suchomski 3 abgesehen - nur zwei wissenschaftliche Arbeiten befasst: ein schönes 1 Es begegnet in zahlreichen christlichen Texten der Spätantike und des Mittelalters, beginnend mit den viel gelesenen und gern rezipierten Collationes des Johannes Cassianus (*um 360, f430/435); vgl. Glending Oison, Literature as Récréation in the Later Middle Ages (Ithaca 1982), 9 1 - 9 3 , 97, 99, 117, 149 und 227. Der Bogen-Vergleich war schon der römischen Antike nicht fremd. I n Ovids Heroides benutzt ihn die unglückliche Phädra, u m ihren Stiefsohn H i p p o l y t , einen leidenschaftlichen Jäger, zu überreden, seinem Lieblingssport nicht unablässig nachzugehen: »Quid iuvat incinctae studia exercere Dianae / et Veneri numéros eripuisse suos? / Q u o d caret alterna requie, durabile non est: / haec reparat vires fessaque membra novat. / Arcus - et arma tuae tibi sunt imitanda Dianae - / si numquam cesses tendere, mollis erit« ( I V 8 7 - 9 2 ) . Vgl. ferner Phaedrus, Fabulae I I I 14.

10

2 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur 1984), 419-434 und 471 - 4 7 2 .

und Lateinisches

Mittelalter

(Bern

3 Joachim Suchomski, »Delectatio« und »Utilitas«. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur (Bern / München 1975), 3 0 - 6 5 (»Die antike Bejahung von Scherz und W i t z und ihre Integration in die christliche Ethik«).

Tobias Leuker

80

B u c h v o n G l e n d i n g O l s o n 4 u n d e i n k n a p p e r A u f s a t z v o n Jacqueline C e r q u i g lini-Toulet.5 I. » U n t e r h a l t u n g w u r d e i n d e r A n t i k e n u r selten als alleiniges Z i e l v o n D i c h t u n g p r o k l a m i e r t . I n d e r r ö m i s c h e n W e l t d o m i n i e r t e das I d e a l der M i s c h u n g des N ü t z l i c h e n m i t d e m E r f r e u l i c h e n . F r e i l i c h gab es a u c h Schriftsteller, die es, anders als v o n H o r a z 6 e m p f o h l e n , n i c h t i n e i n u n d d e m s e l b e n T e x t v e r w i r k l i c h e n w o l l t e n , s o n d e r n d a d u r c h , dass sie ernste W e r k e g e l e g e n t l i c h m i t scherzh a f t e n d u r c h s e t z t e n . P r o m i n e n t e s t e r V e r t r e t e r i h r e r Schar ist P l i n i u s d e r J ü n gere. 7 Sein L o b der » i n n o x i a remissio«, die heitere I n t e r m e z z i g e w ä h r t e n , verrät eine gewisse N ä h e z u r o£M/m-Theorie, die A r i s t o t e l e s i n der chischen Ethik

Nikoma-

e n t w i c k e l t h a t t e . 8 A n k n ü p f e n d an eine M a x i m e des s k y t h i s c h e n

W e i s e n A n a c h a r s i s , »Jtaü^eiv ÖJtoog o j t o v ö a ^ T ] « (»Scherzen, u m d a n n w i e d e r ernst z u sein«), erlaubte der P h i l o s o p h die U n t e r b r e c h u n g ernster T ä t i g k e i t e n d u r c h Scherz u n d Spiel, sofern sie d e r R e g e n e r a t i o n d e r K r ä f t e diene. C i c e r o m a c h t e sich diese A u f f a s s u n g , die A r i s t o t e l e s a n d e r n o r t s ä h n l i c h f o r m u l i e r t e , 9 i m ersten B u c h De officiis

z u eigen, als er schrieb:

Neque enim ita generati a natura sumus, ut ad ludum et iocum facti esse videamur, ad severitatem potius et ad quaedam studia graviora atque maiora. Ludo autem et ioco uti illo quidem licet, sed sicut somno et quietibus ceteris tum, cum gravibus seriisque rebus satis fecerimus. 10 4

Olson, Literature as Recreation.

5

Jacqueline Cerquiglini-Toulet, »Le Loisir et le concept de «récréation» à la fin du M o y e n Age«, in: J.-M. André, J. Dangel, P. Demont (Hgg.), Les Loisirs et l'héritage de la culture classique (Brüssel 1996), 503-512. 6

Vgl. Horaz, Arspoetica

7

Vgl. Plinius d. J., Epist. V 3,2; siehe Curtius, Europäische Literatur ; 420.

343-344.

8 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1176b- 1177a; vgl. Suchomski, »Delectatio«, 30 und 266. Zur Fortune des Erholungspostulats des Aristoteles i m Mittelalter, insbesondere bei Thomas von Aquin, vgl. ebd., 5 5 - 6 1 , sowie Olson, Literature as Recreation , 94-100. Eine andere Kette von recreatio-Texten, die sich von Seneca über Martin von Braga bis hin zu Petrus Cellensis spannt, rekonstruiert Suchomski, 3 0 - 3 1 , 3 7 - 3 8 , 4 4 - 4 5 . 9 10

Vgl. Aristoteles, Politik

1337b.

Cicero, De officiis I 103, zitiert in Suchomski, »Delectatio« y 30. Übersetzung: »Wir sind nicht so von der Natur geschaffen worden, dass w i r zu Spiel und Scherz bestimmt scheinen. Vielmehr sind w i r zu Strenge und zu gewissen Betätigungen ernsterer und bedeutenderer A r t ausersehen. Z u spielen und zu scherzen ist uns dabei sehr w o h l erlaubt, aber - wie es auch für das Schlafen oder andere Arten des Ausruhens gilt - erst dann, wenn w i r den wichtigen und ernsten Dingen Genüge getan haben.« Zur Auseinandersetzung des Ambrosius mit dieser Textstelle vgl. Suchomski, 37. Der Kirchenvater wollte Scherze aus dem geistlichen Bereich ganz verdrängt sehen, sie aber i m weltlichen Leben zur Entspannung gelten lassen.

Tempus recreationis

81

Ein schönes Beispiel für einen hochmittelalterlichen Rekurs auf diese Stelle durch einen schreibenden Gelehrten gibt der staufische Richter Richard von Venosa, der Friedrich II. 1229 eine Komödie mit dem Titel De Paulino et Polla widmete. I m Prolog des Werkes ordnet er seine literarische Tätigkeit folgender Regel unter: Tempus adest aptum quo ludere nostra Camoena Debeat et curis se leviare suis. N a m cum saepe jocis sapientum cura levetur, Saepius et sapiens corda jocosa domat. 1 1

Weitere Quelle dieser Verse dürfte eines der spätantiken Disticha Catonis gewesen sein, die, wie ihr Name verrät, für gewöhnlich mit dem illustren Zensor der römischen Republik assoziiert wurden. Es lautet: »Interpone tuis interdum gaudia curis, / ut possis animo quemvis sufferre laborem« (»Mische mitunter Freuden unter deine Pflichten, damit du festen Mutes jedwede Mühe ertragen kannst«), 12 und entspricht i m Kern dem D i k t u m des Anacharsis, das Aristoteles zur Bekräftigung seiner otium-Theorie angeführt hatte. Hält man sich an Ernst Robert Curtius, so war Richard von Venosa der erste nachantike Gelehrte aus Italien, der zur Rechtfertigung literarischer ludi auf das Erholungsargument rekurrierte. A m Ubergang zum Humanismus verhalf Giovanni Boccaccio (1313-1375) der Vorstellung von geistiger recreatio durch leichte Schriften zu neuem Gewicht. I m Rahmen der leidenschaftlichen Verteidigung der Dichtkunst, die das 14. Buch seiner Genealogia deorum gentilium bildet, äußert er: Fabulis fessis illustrium virorum circa maxima animis vires persepe restitute sunt, quod non tantum exemplo veteri, sed assiduis demonstratur. Cernimus enim principes, et maximis occupatos rebus, quasi rerum natura docente, post regnorum suorum sublimes dispositiones in melius, ut fessas in nervum revocent vires, convocare, qui iocosis confabulationibus recreent animos fatigatos. 13 11 Zitiert bei Curtius, Europäische Literatur ; 472 (ohne Bezug auf Cicero). Übersetzung: »Es gibt eine eng bemessene Zeitspanne, in der unsere Muse scherzen und sich von ihren Sorgen entspannen soll. Die Sorgen der Weisen werden zwar oft durch Scherze gelindert, öfter aber bändigt der Weise zum Scherz aufgelegte Gemüter.« 12

Disticha Catonis , hg. Marcus Boas, Hendrik Johannes Botschuyver (Amsterdam 1952), Nr. I I I 6. Den Pentameter zitiert Curtius, Europäische Literatur ; 423, das ganze Distichon bieten Suchomski, »Delectatio«, 31, und Olson, Literature as Recreation , 94. 13

Giovanni Boccaccio, Genealogie [sz'c] deorum gentilium libri y hg. Vittorio Zaccaria, in: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio , hg. Vittore Branca, Bd. V I I - V I I I in 2 Teilbänden (Mailand 1998), Teilbd. I, 11-1151, Teilbd. I I , 1152-1813, hier Teilbd. I I , 1410 (= Buch X I V , Kap. 9). Ubersetzung: »Durch erfundene Geschichten ist schon sehr oft den Gemütern berühmter Männer, die durch die Beschäftigung mit Dingen von höchster Wichtigkeit ermattet waren, ihre Kraft zurückgegeben worden, was sich nicht nur mit einem Beispiel aus der Antike beweisen, sondern ständig beobachten lässt. W i r sehen nämlich, 6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 46. Bd.

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Das zu Beginn dieses Auszugs erwähnte »alte Beispiel« für die Kräftigung eines vir illustris durch ihm vorgetragene Gedichte ist Augustus. M i t Blick auf ihn hatte Horaz in einer Ode geschrieben: »Vos [sc. Camoenae] Caesarem altum, militia simul / fessas cohortes abdidit oppidis, / finire quaerentem labores / Pierio recreatis antro« (»Ihr, o Musen, erquickt den erhabenen Caesar, der sein Tagwerk beenden will, sobald er die müden Kohorten in den Festungen untergebracht hat, in der Pierischen Höhle.«). 1 4 Es ist vielleicht die einzige Stelle aus der lateinischen Literatur der Antike, an der die Wirkung von Poesie auf ihr Publikum mit dem Verb recreare beschrieben wird. Sprach Boccaccio in der Genealogia deorum gentilium von der Regeneration der Geisteskräfte durch das Rezipieren leichter Texte, so hatte er in einem einige Jahrzehnte älteren Brief darüber hinaus auch die erquickende Wirkung des Verfassens solcher Werke thematisiert. Das volkssprachliche Schreiben von 1339 15 ist an Francesco de' Bardi gerichtet, einen Spross jenes großen Florentiner Bankhauses, das nach Jahren finanzieller Schwierigkeiten 1345 endgültig zusammenbrechen sollte. Der Text besteht aus einem toskanischen Proömium und einem neapolitanischen Hauptteil, der vom freudigen Ereignis der Geburt eines figlio maschio durch eine Neapolitanerin und der dadurch hervorgerufenen festlichen Stimmung berichtet und als Zugabe eine köstlich selbstironische Betrachtung Boccaccios über seine übermäßige Schreibneigung bietet. Hier interessiert indes das Proömium, das die nach der damals vorherrschenden, thomistischen Auffassung 16 schriftunwürdigen Sujets des Briefes und dessen

dass Fürsten und mit wichtigen Dingen betraute Politiker, nachdem sie erhabene Verfügungen zur Mehrung des Wohls ihrer Reiche getroffen haben, gleichsam auf Weisung der Natur Leute herbeirufen, die mit scherzhaften Erzählungen ihre erschöpften Geister erquicken sollen.« A u c h Olson, Literature as Recreation , 131-133, zitiert und kommentiert den Passus. Die darin getroffene Aussage scheint mir, was die Hervorhebung der Praxis des Erzählens scherzhafter Geschichten an mittelalterlichen Höfen betrifft, auf Walter Map zurückzugehen; vgl. W. Map, De nugis curialium - Courtiers ' Trifles, hg. M . R. James, C. N . L. Brooke, R. A . B. Mynors (Oxford 1983), I I I 1: »Cum a palacii descendunt palatini negociis, regalium operum inmensitate defessi, placet eis ad humilium inclinari colloquia, ludicrisque levare pondera seriorum.« Der Satz ist Teil einer Einladung an den Leser des Werkes, sich die in dessen drittem Buch enthaltenen »exangues inepcias« »recreacionis et ludi gracia« zu Gemüte zu führen. Zur Schrift De nugis curialium und zum soeben zitierten Passus vgl. Olson, 114-115. 14

Horaz, Carmina I I I 4, 3 7 - 4 0 .

15

Giovanni Boccaccio, Lettere y hg. Ginetta Auzzas, in: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, Bd. V . l : Rime, Carmina , Epistole e Lettere , Vite, De Canaria (Mailand 1992), 857-878, hier 861-865 (= Lettera I). Die Herausgeberin dokumentiert die Verbreitung des Briefes (869-870) und wartet mit einem gründlichen Kommentar des Schreibens auf (871-874). 16 Vgl. Walter Pabst, Novellentheorie und Novellendichtung. tinomie in den romanischen Literaturen (Heidelberg 2 1967), 34.

Die Geschichte ihrer An-

Tempus recreationis

83

nach demselben Maßstab nicht minder zu verdammendes dialektales Register rhetorisch geschickt rechtfertigt. Boccaccio beruft sich dabei auf weise Männer, die es den Menschen zur Rückgewinnung ihrer ermatteten Kräfte erlaubt, ja empfohlen hätten, ihre Mühen ab und an durch ein sittlich unbedenkliches Vergnügen zu lindern. Wer sind nun aber die »savi uomini«, die erholsame Vergnügungen zwischen Mühen autorisieren? Zunächst einmal Aristoteles und Anacharsis, deren Ansichten Boccaccio der lateinischen Ubersetzung der Nikomachischen Ethik von Robert Grosseteste 17 entnehmen konnte, sowie Cicero. Allesamt erlauben sie Entspannung durch Spiel und Scherz aber eher, als dass sie sie empfehlen. Anders verhält es sich bei >Cato< und einem Autor, dem w i r noch nicht begegnet sind: Valerius Maximus. Dieser hatte das Kapitel V I I I 8 seiner Factorum et dictorum memorabilium libri dem erholsamen otium gewidmet. D e m kaiserzeitlichen A n w a l t spielerischer Erquickung entnahm Boccaccio zwei Beispiele berühmter Männer, die sich zwischen ernsten Dingen zu regenerieren pflegten: 1 8 zum einen Sokrates, »solennissimo e singulare investigatore ne' giorni suoi delle divine cose e delle umane«, zum anderen Cornelius Scipio und Laelius, »due singulari lumi del romano splendore e a' quali era all'uno in tutto e alPaltro i n parte la gloria d'aver con senno e con forza abbattuta la superbia de* Cartaginesi riserbata.« Sokrates, so Boccaccio auf den Spuren des Valerius, habe es nicht als unschicklich empfunden, zwischen seinen tief schürfenden Gedankengängen Pausen einzulegen und i n diesen Intervallen mit seinen Kindern auf einem Steckenpferd herumzureiten; Scipio und Laelius hätten sich nicht geschämt, zwischen ihren schweren Amtsgeschäften »fanciullescamente« am Strand des Golfes von Gaeta Muscheln zu sammeln. 1 9 So wie die illustren Exempla solle, fährt der Certaldeser fort, auch Francesco de' Bardi, obwohl noch jung an Jahren, einer lobenswerten Erholung frönen: E cosi tu, ancora molto giovinetto, 2 0 essendo, si come sentito abbiamo, da molte varie e noiose faccende or quinci or quindi percosso, t i doverai ritrarre, se savio sarai, ad alcuno laudevole trastullo, i l quäle abbia forza di recreare alquanto gli spiriti affaticati.

17 Modern ediert in: Aristoteles latinus X X V I 1 - 3 : Ethica Nicomachea: Translatio Roberti Grosseteste Lincolniensis sive >Liber Ethicorum(sich) erholen, regenerieren< verzeichnet: eine Predigt über das Christuswort »Gaudium vestrum nemo tollet a vobis« Qoh 16,22), die der Pisaner Mönch Fra Giordano da Rivalto (1260-1311) am 24. A p r i l 1306 in der Florentiner Dominikanerkirche Santa Maria Novella hielt. Darin fordert der beredte Gottesmann die Gläubigen auf, keine Zeit mit den vermeintlichen Freuden des Diesseits zu vergeuden und statt dessen nach Kräften auf die Erringung der »letizia di Dio« hinzuarbeiten. Kaum hat Giordano diese Mahnung verkündet, lässt er sich von einem fiktiven >Du< einen Einwand entgegenhalten: Ein wenig Zeitvertreib, meint der Widerredner, könne doch gar nicht verboten sein, lese man doch vom Evangelisten Johannes, dass er sich mit einem Vögelchen in der Hand vergnügt habe. A u f diesen Einwand antwortet der Mönch, dass darin aus zwei Gründen kein Laster zu sehen sei: Z u m einen sei jene Erholung nicht sündhaft gewesen, zum anderen habe sie der recreado spiritus gedient, die aufgrund der Schwäche der menschlichen Natur unabdingbar sei. I m Rahmen seiner Argumentation geht Giordano auf das eingangs dieser Studie zitierte Bogengleichnis ein: Se tu dicessi: >Or e' si legge di Santo Giovanni Vangelista, che tenea uno uccellino in mano e trastullavasi con essoÜbung< geht einmal mehr auf Plinius zurück. 6 2

57 »Was die Weisen lobten, ist gewiss anständig und unbedingt notwendig, nämlich unseren Geist, der von verschiedenen Gedanken und Misslichkeiten bedrückt wird, von Zeit zu Zeit von seinen ständigen Sorgen zu entlasten und ihn durch irgendeine A r t des Scherzens heiter und entspannt zu stimmen.« 58

Vgl. Plinius, Epist. I V 14,4 und V I I I 21,1.

59

Cicero, De officiis

60

Vgl. oben, A n m . 13.

1104.

61

Vgl. K o j , Die frühe Rezeption, 37. A u c h in Poggios Epistolar [vgl. Poggio Bracciolini, Lettere , hg. Helene Harth, 3 Bde. (Florenz 1984-1987)] überwiegt die Bezeichnung Confabulationes. Während sie i n Epist. fam. I: X 5 sowie Epist. fam. I I : I 6 , 1 10, I V 4, I V 9, V 36 und V I I I 24 gebraucht wird, begegnet der Titel Facetie nur in Epist. fam. I: X 19. N B : Epist. fam. I entspricht Bd. 2, Epist. fam. I I Bd. 3 von Harths Edition. 62

Vgl. Plinius, Epist. V I I 9,12.

Tempus recreationis

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IV. Poggio wollte mit dem Facetiarum Uber der urbanitas ein Denkmal setzen. 63 Das Buch huldigt all ihren Facetten, den witzigen wie den gewagten. Die Freizügigkeit des Toskaners war nicht zuletzt dadurch möglich geworden, dass ein anderer Humanist, Antonio Beccadelli, besser bekannt als Panormita, in seinem Anfang 1426 veröffentlichten Hermaphroditus 64 alle verbale Scham über Bord geworfen und das erotische Vokabular antiker Dichter wie Catull, Martial und O v i d in seiner ganzen Drastik imitiert hatte. Zwar war das Werk auf lautstarken Protest gestoßen, doch hatte es einen Präzedenzfall geschaffen. Beccadelli hatte in den literaturtheoretischen Passagen seiner Cosimo de' Medici gewidmeten Gedichtsammlung die Bemerkungen des jüngeren Plinius zugunsten sprachlicher Schrankenlosigkeit aufgegriffen 65 und gleich mehrfach zur Verteidigung seines poetischen Unterfangens das schon von Plinius zitierte Carmen X V I des Catull angeführt, 66 in dem der Neoteriker die Würze schlüpfriger sales beschworen und all jene mit Strafe bedroht hatte, die aus seinen lasziven Versen auf einen ausschweifenden Lebenswandel schlössen. 67 Auch Martial, das wichtigste poetische Vorbild Beccadellis, hatte auf der strikten Trennung von verbaler und moralischer Sphäre bestanden. 68 A u f ihn, Catull und Plinius berief sich der Autor des Hermaphroditus in einem Brief, den er Poggio i m Juli 1426 schrieb. 69 Wenige Monate zuvor hatte der Toskaner die Gedichtsammlung zwar ob ihres Witzes und ihres prallen Realismus' gelobt, 7 0 ihrem A u t o r aber dringend geraten, seinem lasziven Debüt nun ein ernstes Werk folgen zu lassen.

63

Vgl. Ciccuto in: Poggio, Facezie, 43.

64

Antonio Beccadelli, Hermaphroditus,

65

Vgl. Hermaphroditus

66 Vgl. Hermaphroditus I V 14.

hg. Donatella Coppini (Rom 1990).

I 1 mit Plinius, Epist. V 3. I 1, I 18, I I 11. Das Catullzitat des Plinius findet sich in Epist.

67 Hier der Wortlaut der berühmten Hendekasyllaboi des Catull: »Pedicabo ego vos et irrumabo, / Aureli pathice et cinaede Furi, / qui me ex versiculis meis putastis, / quod sunt molliculi, parum pudicum. / N a m castum esse decet pium poetam / ipsum, versiculos nihil necesse est, / qui tum denique habent salem ac leporem, / si sunt molliculi ac parum pudici / et quod pruriat incitare possunt, / non dico pueris, sed his pilosis, / qui duros nequeunt movere limbos. / Vos, qui milia multa basiorum / legistis, male me marem putastis? / Pedicabo ego vos et irrumabo.« - Plinius' Zitat umfasst die Verse 5 - 8 , in denen er eine »verissima lex« aufgestellt sah. 68 Vgl. Martial, Epigrammaton libri I 4,8: »Lasciva est nobis pagina, vita proba«; siehe auch I X 28. Der Dichter folgte Catull auch darin, dass er Pikanterie i m Epigramm für unverzichtbar erachtete: »Lex haec carminibus data est iocosis, / ne possint, nisi pruriant, iuvare« (I 35, w . 10-11). 69

Text im Anhang der zitierten Edition des Hermaphroditus.

70

Vgl. Poggio, Epist. fam. I: I I 5.

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I n der Replik auf Beccadellis Apologie 7 1 warnte Poggio den jungen Humanisten davor, die Äußerungen des Plinius allzu sehr zu seinen Gunsten auszulegen, 72 und wiederholte seinen früheren Ratschlag, zu einem Genre überzuwechseln, das bei sittenstrengen Lesern den Verdacht der moralischen Verdorbenheit erst gar nicht hervorrufe. Freilich unterließ er es nicht zu betonen, dass er selbst keineswegs dazu neige, Beccadelli aufgrund seiner Verse als zügellosen Menschen einzustufen: »Denn es wäre nicht nur kindisch«, führte er im Geiste Catulls zur Begründung an, »sondern darüber hinaus lächerlich und leichtsinnig, sich eher an die Äußerungen eines Menschen zu halten als an seinen Lebenswandel« (»non solum enim id puerile est, sed ridiculum et leve, dicta potius et verba inspicere quam vite consuetudinem et rationem«). A u f diesen Satz ließ Poggio eine Bemerkung folgen, die er auch mit Blick auf sein Liber facetiarum hätte formulieren können: »Wir scherzen oft mit Worten und warten mit Witzen und Pointen auf, die, wenn w i r sie mit Bewegungen des Körpers umsetzen würden, uns zu Recht die Bezeichnung >Verrückte< eintrügen.« (»Iocamus sepe verbis, utimur facetiis et salibus que si eadem redderemus gestu corporis, diceremur merito insani«). 73 Wie Poggio bezeichnet auch Beccadelli die eigenen ioca als Intermezzi zwischen ernsten Tätigkeiten. Er bekundet, sie während der Mußestunden verfasst zu haben, die ihm seine juristischen Studien gelassen hätten. 7 4 Poggio hat seine Facetie , wie seinem Briefwechsel glaubhaft zu entnehmen ist, i m Laufe vieler Jahre zu Papier gebracht. 75 Bedenkt man die Fülle seiner ernsten Werke und seiner politischen Verpflichtungen, so kann man ihm nicht abstreiten, der recreatio-Theorie eines Aristoteles oder Cicero zumindest darin gefolgt zu sein, dass er der heiteren Anekdotik nur sporadisch frönte. 7 6 Das M o t i v der Erholung, das Petrarca in Anlehnung an Cicero mit den Facetien verknüpft hatte, sollte auch in der Facetientheorie der Zeit nach Poggio virulent bleiben. Für ihre Weiterentwicklung sorgte einer der bedeutendsten lateinischen Dichter des Humanismus, Giovanni Pontano (1429-1503), in der Abhandlung De sermone , einem Alterswerk, das erstmals 1509 gedruckt wur71

Epist. fam. 1:114.

72

Er scheint i h m just jene Verknüpfung der Aussagen der Epistulae I V 14 und V 3 vorzuwerfen, die er selbst i m Vorwort der Facetien nicht scheuen sollte. 73

Poggio, Epist. fam. I: I I 4.

74

Vgl. Beccadelli, Hermaphroditus

75

Vgl. hierzu K o j , Die frühe Rezeption, , 3 8 - 3 9 .

I I 1 und I I 38.

76 I n Zeiten besonders starker Beanspruchung musste die Arbeit an den Facetien laut Poggio sogar vollends ruhen. »Temporum iniuria et iniquitates«, schrieb er i m Juli 1444 aus Rom, »mentem ab studiis avertunt paulum, iocari vero omnino prohibent. Itaque Facetie ille nostre cessarunt paulisper, non tamquam exules sed tanquam peregrine quas tarnen spero esse una cum vere, si quando venerit, redituras« (Poggio, Epist. fam. I: X 19).

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de. 7 7 Seinem Auftakt ist zu entnehmen, dass Facetien ihren Platz i m gebildeten städtischen Milieu hätten, und zwar dort, w o man sich nicht so sehr u m des eigenen Nutzens willen (»utilitatis gratia«) als vielmehr zur Erheiterung und zur Erquickung von Arbeit und Mühsal (»iucunditatis refocillationis[que] a labore ac molestiis [sc. gratia]«) treffe. Benennt schon der Prolog zu Buch I »relaxationem animorum« als Ziel der Facetien, so flankiert das Kapitel I 6 diese Anschauung, in dem es vom T i t e l 7 8 an dem Menschen ein natürliches Bedürfnis nach Ruhe und Erquickung attestiert. Die beigefügte Begründung ist nichts als eine neuerliche Variation einer uns längst vertrauten Vorstellung: Principio, quod hominum vita tum corporis tum animi laborum plena est ac molestiarum, iccirco post labores cessatio quaeritur, in qua recreetur animus, atque inter molestias iocus. Natura enim duce, ad requiem trahimur ac voluptatem. 7 9

Ciceros De oratore und Pontanos De sermone wurden von Baidassare Castiglione aufmerksam gelesen. 80 Die Facetien-Partie seines Libro del Cortegiano (1528), 81 in der zumeist das alter ego des Autors der Calandria , Bernardo Dovizi da Bibbiena, 8 2 das Wort führt, ist eng an Vorgaben beider Traktate angelehnt. Wie bei Cicero soll die mit vielen Beispielen gespickte Unterhaltung über die Facetie der zuvor dominierenden Figur des Dialogs, dort Marcus Antonius, hier Federico Fregoso, die Möglichkeit bieten, sich beim Zuhören von ihren Strapazen zu regenerieren. 83 Wie i m antiken Traktat w i r d auch i m modernen der pausierende Sprecher nach der Abhandlung über den Witz bekennen, sich prächtig erholt zu haben. 84 Innerhalb der Facetien-Sektion des Cortegiano ist im Übrigen dem menschlichen Bedürfnis nach Entspannung ein eigener A b schnitt gewidmet. 8 5

77 Jüngste Edition: Ioannis Ioviani Pontani De sermone libri sex, hg. Sergio L u p i und Antonino Risicato (Padua 2 2001). Einige Aspekte des Werkes beleuchtet K o j , Die frühe Rezeption , 2 9 - 3 1 . 78

»A natura inesse homini cupiditatem quietis ac recreationis«.

79

»Das Leben der Menschen ist [ . . . ] voll von körperlichen und seelischen Mühen und Belastungen. Daher strebt man nach Strapazen nach einer Pause, in der das Gemüt erfrischt wird, und inmitten von Beschwernissen nach Vergnügungen. Die Natur selbst leitet uns zu Erholung und Freude.« 80

Vgl. u. a. Pabst, Novellentheorie , 8 0 - 9 1 .

81

Baidassar Castiglione, Ii Libro del Cortegiano , hg. Amedeo Quondam, Nicola Longo (Mailand 10 2001), I I 4 2 - 9 0 . 82 Vgl. Bernardo D o v i z i da Bibbiena, La Calandria , in: Ii teatro italiano , Bd. II: La commedia del Cinquecento , Teilbd. I, hg. Guido Davico Bonino (Turin 1977), 7 - 8 7 . Das Stück erlebte seine Uraufführung am 6. Februar 1513 in Urbino. 83

Vgl. Castiglione, Cortegiano I I 44.

84

Vgl. I I 84.

85

I I 45.

7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 46. Bd.

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Es dürfte nicht dem Zufall zuzuschreiben sein, dass das Wort »facezie« bei seinem ersten, beiläufigen Vorkommen in Castigliones Werk vom Adjektiv »oneste« begleitet w i r d . 8 6 Obszönitäten nämlich wollte der A u t o r bei Hofe nicht dulden. Ein »gentilomo«, lässt er Bibbiena ausführen, müsse seine »dignitä« stets bewahren und »schmutzige Wörter« (»parole sporche«) ebenso strikt meiden wie »unanständige Handlungen« (»atti men che onesti«). 87 Catulls Forderung nach einer differenzierten moralischen Bewertung von Worten und Taten, die sich Plinius, Martial und Beccadelli zu eigen gemacht hatten, w i r d i m Cortegiano ebenso knapp wie entschieden zurückgewiesen.

V. Z u m Schluss der Studie ein Blick nach Frankreich. Das erste ausführliche Plädoyer zugunsten einer geistigen Regeneration durch leichte Lektüre, das die dortige Literatur vorzuweisen hat, stammt von Laurent de Premierfait. Er rechtfertigte 1414 i m Prolog zu seiner Übertragung von Boccaccios Decameron ss sein mühevolles Unterfangen mit dem Wunsch, dem König und den übrigen Lesern der französischen Fassung des Werkes Entspannung zu verschaffen, und versäumte dabei nicht, das Bogengleichnis anzuführen. 89 Die Unabdingbarkeit gelegentlicher geistiger Erquickung unterstrich er mit einem interessanten Verweis auf die pädagogische Praxis seiner Zeit: Ceste chose j'ay veue et esprouvee es escolles de toutes generales estudes, car les maistres et docteurs ou milieu de leurs leçons racomptent aux escoliers aucunes fables ou nouvelles joyeuses, afin que par interposees paroles de honneste soulaz et esbatement les liseurs et escouteurs resveillent et rafreschissent leurs sens et entendemens a vigoureusement lire et escouter le remenant des leçons ordinaires. 90

Eustache Deschamps hatte recreatio schon 1398 i n seinem Traktat L'Art de dictier 91 zum eigentlichen Zweck der gesamten Dichtung, die er als Unterart der Musik betrachtete, erklärt. 9 2 Es sollte indes noch einige Zeit vergehen, bis 86

I 4 (es spricht der auktoriale Erzähler).

87

I I 50.

88

Laurent de Premierfait, »Prologue du translateur du Livre des Cent Nouvelles de Jehan Bocace de Certald«, in: Boccace, Decameron. Traduction (1411-1414) de Laurent de Premierfait , hg. Giuseppe D i Stefano (Montreal 1999), 1 - 6 . 89 90

Vgl. 4.

Ibid. D e n Passus paraphrasiert Olson, Literature Vorwort Laurent de Premierfaits vgl. 223-229.

as Recreation, 227; zum gesamten

91 Eustache Deschamps, L'Art de dictier, in: Œuvres complètes de Eustache Deschamps, hg. von Gaston Raynaud, 10 Bde. (Paris 1878-1901), Bd. V I I , 266-292. 92

Vgl. 269; siehe Olson, Literature as Recreation, 147-149.

Tempus recreationis

99

das Verb récréer bzw. davon abgeleitete Wörter erstmals i n einem französischsprachigen Text mit einer bestimmten literarischen Gattung assoziiert wurden. Diesen Schritt vollzog Guillaume Tardif, als er gegen Ende des 15. Jahrhunderts ein Textkorpus in seine Muttersprache übersetzte, das neben den Facetiae moralesy einer Übersetzung äsopischer Fabeln von Lorenzo Valla, 9 3 Poggios Facetiarum liber 94 sowie weite Teile der Facetien-Sektion aus Petrarcas Rerum memorandarum libri enthielt. 9 5 Die einleitenden Texte zu Poggio 9 6 und Petrarca, 97 die jeweils an König Karl V I I I . (1483-1498) gerichtet sind, würdigen die Facetie auf den Spuren der beiden toskanischen Humanisten als erquickendes Genre. 9 8 I m neuen Medium des Buchdrucks wurden seit dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zahlreiche Romane des französischen Mittelalters als regenerierend gepriesen. Den Anfang machte nach meinen Recherchen UHystoire du Sainct Greaal qui est le premier livre de la table ronde lequel traicte de plusieurs matieres recreatives y ein Foliant, der 1516 in Paris erschien. 99 24 Jahre später begann Nicolas Herberay Des Essarts, i m Hauptberuf Offizier, den spanischen Amadis-Komzxi und seine Fortsetzungen dem Publikum seiner Heimat zugänglich zu machen und erzielte damit einen ungeheuren Erfolg. I m Vorwort zur französischen Fassung von Buch I des Romans versicherte er seinen Lesern, 93

Gemeinsam mit Tardifs Übertragung ediert in: Pierre Ruelle, Les «Apologues» de Guillaume Tardif et les «Facetiae morales» de Laurent Valla (Genf /Paris 1986), 3 9 - 4 9 bzw. 5 9 - 8 9 . 94 Der »französische Poggio< liegt seit kurzem in einer kritischen Edition vor: Guillaume Tardif, Les Facecies de Poge. Traduction du Liber facetiarum de Poggio Bracciolini, hg. Frédéric Duval, Sandrine Hériché-Pradeau (Genf 2003). 95

Vgl. Koj, Die frühe Rezeption, 130-131.

96

Tardif, Les Facecies, 8 5 - 8 8 ; vgl. Koj, Die frühe Rezeption, 132.

97

Text bei Koj, 137.

98

Vgl. Tardif, Les Facecies, 85 - dort ist von der »matiere [ . . . ] joyeuse et recreative« von Poggios Erzählungen die Rede - bzw. 87: » [ . . . ] i l est utille, mesmes aux gens contemplatif z et studieux, de recreer leur entendemens par aulcune maniéré de jeux honnestes pour les ramener a hilarité et plaisance.« (vorgeblich Übersetzung eines Abschnitts aus Poggios Praefatio, freilich alles andere getreu - die brisante Formel »aliquo iocandi genere« etwa w i r d in der französischen Version durch den Zusatz »honnestes« verharmlost); ferner Tardif in: Koj, Die frühe Rezeption, 137: »François Petrarque, en certain Traicté qu'il faict des facecies des nobles hommes, dist que, ainsi comme l'ennui et fatigation que ès pensees et opérations humaines est relevé et récréé par interposition de esbas et de jeux, pareillement l'ennuy, qui peut estre en narrant ou recitant choses utiles et prouffitables, est récréé et relevé par ditz et parolles facecieuses et recreatives«; weiter unten bezeichnet Tardif die von ihm übersetzten Facetien aus Petrarcas Sammlung als »choses recreatives« für den König und dessen Höflinge. 99 Es existiert eine philologisch aufbereitete Faksimile-Edition: UHystoire du Sainct Greaal 1516, hg. Cedric E. Pickford (London 1978). - Außerhalb des Titelblatts der Originalausgabe ist von rekreativen Eigenschaften des Werkes nicht die Rede.

7*

100

Tobias Leuker

die Mühe des Übersetzens auf sich genommen zu haben »pour vous donner quelquefois de quoy recréer vostre gentil esprit lorsqu'il sera ennuyé de lire choses plus haultes et ardues.« 100 Von der Lektüre des Amadis und anderer spanischer Ritterromane wollte der Humanist Jacques A m y o t die französische Leserschaft abbringen. 1 0 1 Z u diesem Zweck übertrug der Gelehrte, der von 1536 bis 1547 eine Professur für Griechisch und Latein an der Universität Bourges innehatte, eine griechische Abenteuererzählung der Spätantike, Heliodors Aethiopica, in seine Muttersprache. Namentlich die chaotische Struktur der Ritterromane erregte Amyots Missfallen. Von ihr setzte er die raffinierte, später auch von Julius Caesar Scaliger gerühmte dispositio der Aethiopica a b . 1 0 2 Der französische Heliodor erschien 1548, noch vor der ersten lateinischen Version des Werkes. 1 0 3 A m y o t stellte seiner Arbeit ein Proësme du Translateur 104 voran. Darin mahnt er die Leser der Übersetzung, nicht »sans jugement toutes sortes de livres fabuleux« zu lesen, da sie sonst Gefahr liefen, an Lügen und Nichtigkeiten Gefallen zu finden und ihre Zeit zu verschwenden. 105 Einer generellen Verurteilung fiktiver Geschichten stimmt der Humanist indes nicht zu, da auch er der Ansicht ist, dass der menschliche Geist nicht ständig die Strapazen ertragen könne, die aus der Beschäftigung mit »matieres graves, et serieuses« 106 resultierten, und deshalb mitunter der Ablenkung bedürfe, u m anschließend u m so kräftiger zu den wichtigen Dingen zurückkehren zu k ö n n e n . 1 0 7 100

Herberays Vorwort ist leicht zugänglich in: Bernard Weinberg, Critical Préfacés of the French Renaissance (New York 1950), 8 6 - 8 8 , hier 87. 101 Z u m Verhältnis Amyot-Des Essarts vgl. Marc Fumaroli, »Jacques A m y o t and the Clérical Polemic against the Chivalric Novel«, Renaissance Quarterly, 38 (1985), 2 2 - 4 0 . 102 Z u Scaligers Lob vgl. Iulius Caesar Scaliger, Poetices libri Septem [1561] - Sieben Bücher über die Dichtkunst, hg. Luc Deitz, Gregor Vogt-Spira, 5 Bde. (Stuttgart 19942003), Bd. I I I , 22 (= Buch I I I , Kap. 95). 103 Jacques A m y o t , L'Histoire JEthiopique de Heliodorus, contenant dix livres , traitant des loyales et pudicques amours de Theagenes Thessalien, et Chariclee Aethiopienne. Nouvellement traduite de Graec en Françoys (Paris 1547 [Februar, nach heutigem Stilus also 1548]). 104 Text in: Sergio Cappello, »La prefazione di A m y o t all'Histoire ^Ethiopique di Eliodoro«, in: Vincenzo Orioles (Hg.), Studi in memoria di Giorgio Valussi (Alessandria 1992), 125-146, hier 141-146. 105

Ibid., 141.

106 Ibid. 107 A m y o t verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass neben dem Geist auch der Körper anstrengende Arbeit nicht ohne Unterbrechung ertragen könne: » [ . . . ] l'imbecilité de nostre nature ne peult porter que l'entendement soit tousjours tendu à lire matieres graves, et serieuses, non plus que le corps ne sçauroit sans intermission durer au travail d'oeuvres laborieuses« (141). Für eine ähnliche, freilich weitaus plastischere Argumentation vgl. den Auftakt der Verae historiae des Lukian von Samosata. Der spätantike A u t o r hatte seine aus zwei Teilen bestehende fictio mit der Bemerkung eröffnet, dass Athleten nicht nur ihr Training sorgfältig planten, sondern auch die Erholungsphasen dazwischen,

Tempus recreationis

101

I m U n t e r s c h i e d z u allen anderen bisher b e t r a c h t e t e n A u t o r e n h e b t

Amyot

h e r v o r , dass exzellente S c h ö p f u n g e n aus d e m G e b i e t der f i k t i o n a l e n L i t e r a t u r eine größere »force à recréer P e n t e n d e m e n t « h ä t t e n als h e r v o r r a g e n d e W e r k e der G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g . 1 0 8

D e m Paragone des französischen

Humanisten

d ü r f t e eine These z u m E r q u i c k u n g s g r a d v o n U n t e r h a l t u n g s l i t e r a t u r aus e i n e m verbreiteten

Lehrwerk

A b s c h n i t t De fictis

des Erasmus

narrationibus

von Rotterdam

zugrunde

seines Buches De copia verborum

liegen.

Im

ac rerum

( 1 5 1 2 ) 1 0 9 hatte Erasmus geschrieben: » P o r r o , quae risus causa f i n g u n t u r , q u o l o n g i u s a b s u n t a v e r o , h o c magis d e m u l c e n t a n i m o s , m o d o ne s i n t a n i c u l a r u m s i m i l i a d e l i r a m e n t i s , et e r u d i t i s a l l u s i o n i b u s doctas e t i a m aures capere p o s s i n t . « 1 1 0 A m y o t s A d a p t i o n dieses G e d a n k e n s k ö n n t e gegen d i e j e n i g e n seiner Zeitgenossen gerichtet gewesen sein, die es sei es als A u t o r e n , sei es als H e r a u s geber

unternommen

hatten,

Schriften

mit

»ernsthaftem

historischen

An-

s p r u c h ^ 1 1 auf deren T i t e l b l ä t t e r n o d e r i n deren V o r r e d e n als besonders e n t und seinen Lesern analog dazu empfohlen, anstrengende und leichte Lektüren bewusst zu alternieren ( I 1). Es verwundert, dass dieser Passus i m recreatio-Diskurs des 15. und 16. Jahrhunderts, wenn überhaupt, nur schwach rezipiert wurde. Vielleicht ist dieser U m stand dem merkwürdigen Schicksal des Textstücks i m »lateinischen Lukian< zuzuschreiben. Die erste >offizielle< Ubersetzung der Verae historiae, in der der Athletenvergleich enthalten ist, wurde erst 1494 i n Venedig veröffentlicht. Es handelt sich u m eine vom Veranstalter der Ausgabe, Benedetto Bordon, veranlasste Bearbeitung der 1475 und 1493 gedruckten Version des Lilius Tifernas, die seit den 1440er Jahren handschriftlich zirkulierte [Lilio Tifernate, Luciani de veris narrationibus, hg. Giovanna Dapelo, Barbara Zoppelli (Genua 1998)]. I n der Übersetzung des umbrischen Humanisten hatte das Proömium der Wahren Geschichten zwar zunächst Berücksichtigung gefunden, war aber vor der Freigabe der Version zu einer Widmung umgearbeitet worden, in der man das Sportlergleichnis vergeblich sucht; vgl. Giovanna Dapelo, »La traduzione umanistica délia Storia ver a di Luciano«, Maia, 48 (1996), 6 5 - 8 2 . I n der Ausgabe Venedig 1494 und allen lateinischen L u kian-Editionen des 16. Jahrhunderts lautet der Auftaktsatz der Verae historiae: »Mos est athletarum ac eorum, qui summa diligentia corpus exercent [ . . . ] , nonnunquam remissioni corporis adquiescere. Idem litterarum studiosis fieri oportere censeo, ut cum gravibus ac seriis legendis defatigati fuerint, ad animi laxamentum aliquantisper declinent, donec ad futurum laborem robustiores ac vegetiores efficiantur.« 108

A m y o t , Proësme , 142.

109

Erasmus, De copia verborum ac rerum, hg. Betty I. Knott, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, Bd. 1-6 (Amsterdam 1988), 2 1 - 2 8 1 , hier 256-257. 110 Ibid., 257. Übersetzung: »Die Dinge andererseits, die u m der Erheiterung willen [und nicht »persuadendi gratia« (256)] erdichtet werden, erfreuen die Gemüter desto mehr, je weiter sie von der Wahrheit entfernt sind; dies gilt jedenfalls dann, wenn sie nicht den Phantasiegebilden alter Weiber ähneln und mit gelehrten Anspielungen auch gebildete Zuhörer in ihren Bann zu ziehen vermögen.« Als Beispiele für gelungene Texte dieser A r t benennt Erasmus die Verae historiae (vgl. oben, A n m . 107), den Icaromenippus und »reliqua Luciani pleraque« sowie den Goldenen Esel des Apuleius. Die Auffindung der Äußerung des Erasmus verdanke ich der Studie von Robert H . F. Carver, »>True Histories< and >Old Wives' Talesc Renaissance Humanism and the >Rise of the NovelPaulusOrtswechsels< (freie Natur - Wirtshaus - freie Natur) ließen sich alle Szenen vor einem einzigen Bühnenbild aufführen (d. h. das Wirtshaus i m Hintergrund, die Natur i m Vordergrund; die Wirtshausszene spielte in diesem Falle vor dem Gebäude). - Eine solche Stabilität des Bühnenbildes ist auch bei den anderen, italienischen Gattungsvertretern zu beobachten. 62 Während sich in Italien in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine lebendige Komödientradition entwickelt, lassen sich zur gleichen Zeit in Frankreich und Deutschland keine vergleichbaren Ansätze beobachten (sieht man einmal von der Nürnberger »Chrysis« des Italieners Piccolomini ab). Bis zum Ende des Jahrhunderts entsteht in Frankreich keine nennenswerte Komödienprodukt i o n . 6 3 I n Deutschland setzt die Entwicklung zumindest phasenversetzt ein. 6 4 Zunächst bringen deutsche Studenten wie Hartmann Schedel und Peter Luder italienische Komödientexte nach Abschluss des Studiums in ihre Heimat m i t . 6 5 Eine eigene Produktion entwickelt sich jedoch erst i m ausgehenden 15. Jahrhundert - und diese deutschen Texte sind wie ihre italienischen Vorgänger aus der ersten Hälfte des Saeculums noch durchweg in Prosa abgefasst. Wohl aus den 1480er oder 1490er Jahren stammen etwa der knapp gefasste »Dialogus« zwischen den Personen Lollius und Theodericus 6 6 und die aus mehreren Sze61 Vgl. Mary Hieber Sabatini, »The problem of setting i n early Humanist comedy i n Italy: a study in fifteenth century goliardic theatre«, Studi urbinati y N.S. 1 - 2 (1974), 5 - 7 0 , insbes. 6 2 - 7 0 . 62

Vgl. Hieber Sabatini, »Setting«, 62: »The >scene< never changes.«

63

Vgl. Leicester Bradner, »The Latin Drama of the Renaissance (1340-1640)«, Studies in the Renaissance , 4 (1957), 3 1 - 7 0 , hier 38 f. Wilhelm Creizenach, Geschichte des neueren Dramas. Zweiter Band. Renaissance und Reformation (Halle a. S. 1918), Erster Teil, 5 4 - 6 3 . Die frühesten Beispiele für eine Entstehung des neulateinischen Dramas in Frankreich sind die Dialoge des Ravisius Textor (1470-1524). 64

Vgl. Hans-Gert Roloff, Artikel »Neulateinisches Drama«, in: Werner Kohlschmidt / Wolfgang M o h r (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Gegründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler (2. Aufl., Berlin 1965), 645-678, hier 648-678; Creizenach, Geschichte, I I 1, 2 1 - 2 9 ; P. Bahlmann, Die lateinischen Dramen von Wimpfelings Stylpho bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, 1480-1550 (Münster 1893); H u g o Holstein, Die Reformation im Spiegelbilde der dramatischen Litteratur des sechzehnten Jahrhunderts, Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 14/15 (Halle 1886), 1 - 1 8 ; Bradner, »Latin Drama«, 3 7 - 4 1 . 65

Vgl. Antonio Stäuble, Parlarper lettera. Ilpedante nella commedia del Cinquecento e altri saggi sul teatro rinascimentale, Biblioteca del Cinquecento 51 (Rom 1991), 185 f. 66 Vgl. Johannes Bolte, »Ein Schwank des 15. Jahrhunderts«, Vierteljahrsschrift tur und Litteratur der Renaissance, 1 (1886), 484-486.

für Kul-

120

Thomas Haye

nen bestehende »Comedia de lepore«. 67 Erst Johannes Reuchlin kann in seinem 1497 in Heidelberg aufgeführten Fünfakter »Henno« die iambischen Senare des Terenz reaktivieren. Die deutsche Entwicklung setzt somit deutlich später ein, läuft jedoch wesentlich schneller ab: Denn erst 17 Jahre zuvor hat Jakob Wimpfeling mit seinem aus sechs Szenen bestehenden »Stylpho« die erste lateinische Komödie i m humanistischen Deutschland geschaffen. 68 Der von Wimpfeling (oder von dessen Studenten) 1480 in Heidelberg i m Rahmen einer akademischen Feier rezitierte Text ist zwar (bis auf wenige Ausnahmen) noch in Prosa verfasst, jedoch nähert er sich rhythmisch an die terenzischen Verse an. Wie der vorliegende Dialog, so ist auch Wimpfelings Komödie eine Satire, die sich gegen die römische Kurie richtet und deren Unmoral und Pfründenwesen anprangert. N i c h t nur das Thema und die Stoßrichtung, sondern auch die dramatischen Figuren erinnern unmittelbar an den genannten Dialog: Wimpfeling lässt in seiner Komödie zwei Landsleute auftreten, die sich nach unterschiedlichen Lebenswegen wieder treffen. Während der fleißige Vincentius eine U n i versität besucht hat, ist der faule Stylpho in Rom gewesen, u m eine Pfründe zu erwerben; doch hat der Romipeta so wenig reüssiert, dass er sich nun als Schweinehirt verdingen muss. Nach der Rezitation des eigentlichen Komödientextes wendet sich Wimpfeling als Dekan der Heidelberger Artistenfakultät an die Bakkalaurei und fordert sie ganz ähnlich wie der anonyme Verfasser des Dialogs zu einem vorbildhaften Leben auf. 6 9 Angesichts solcher Parallelen ist es denkbar, dass Wimpfeling eine handschriftliche Version des anonymen Dialogs gekannt und als Inspirationsquelle verwendet hat. Anders als Wimpfelings »Stylpho« und viele der italienischen Komödien dürfte der vorliegende Dialog jedoch niemals öffentlich aufgeführt oder rezitiert worden sein. Der Text ist als Lesedrama konzipiert und vermutlich nur in diesem Modus benutzt worden. Wo er entstanden ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Angesichts der deutlich antikurialen Tendenz, der Beziehungen zur mittelalterlichen Satirentradition des nordalpinen Raumes und der zeitlich spezifischen petrarkistischen Tendenz ist es am wahrscheinlichsten, dass das Werk i n den 1440er Jahren von einem deutschen oder französischen Dichter 67 Zuletzt abgedruckt in: Albrecht Keller, Die Schwaben in der Geschichte des Volkshumors (Freiburg i. Br. 1907), 386-388. Vgl. Creizenach, Geschichte , I I , 1, 24. 68 Harry C. Schnur, Jakob Wimpheling , Stylpho , übers, und hg. v. H . S. (Stuttgart 1971); H u g o Holstein, Iacobus Wimphelingius , Stylpho , Lateinische Litteraturdenkmäler des XV. und X V I . Jahrhunderts 6 (Berlin 1892). 69 » [ . . . ] cultas [sc. litteras] in dei honorem animarumque vestrarum salutem accomodate, quo facilius tandem, dum fata velint dumque fuerit diis ita visum, detur spiritui vita beata poli.« (hg. Schnur, Stylpho , 40). Vgl. hiermit das Ende des vorliegenden Dialogs: »Hoccine cupio, mi Horestes, viuere modo et hunc ab annis elegi prioribus. Vadamus igitur in has mundi partes sine mundo viuere, ut, cum aderit exitus hora, non ceno fedati, non scelerum grauitate depressi illimes ad preparatas nobis sedes euolemus.«

Einmal Rom und zurück

121

k o m p o n i e r t w o r d e n i s t . 7 0 A u c h w e n n sich k e i n e d i r e k t e n Bezüge z u d e n i t a l i e n i s c h e n K o m ö d i e n der ersten J a h r h u n d e r t h ä l f t e e r k e n n e n lassen, ist es v o r s t e l l bar, dass d e r Verfasser i n I t a l i e n s t u d i e r t u n d die d o r t i g e E n t w i c k l u n g des d r a m a t i s c h e n Genres b e o b a c h t e t hat. I n n e r h a l b der g a t t u n g s g e s c h i c h t l i c h e n T r a d i t i o n d ü r f t e der v o r l i e g e n d e D i a l o g eine a u ß e r o r d e n t l i c h f r ü h e u n d z u g l e i c h w i c h t i g e I n s t a n z darstellen, i n s o f e r n er e i n d r ü c k l i c h i l l u s t r i e r t , w i e die W i e d e r b e l e b u n g der a n t i k e n V e r s k o m ö d i e n ö r d l i c h d e r A l p e n aus c h r o n o l o g i s c h w i e t e x t t y p o l o g i s c h h ö c h s t d i f f e r e n t e n Q u e l l e n gespeist w i r d .

V. 7 1 T e x t und Ü b e r s e t z u n g

Erste Szene (Orestes und Pylades) P:

^ h e , unde, mi Horestes?

*He, mein Orestes! Woher kommst du?

H:

2

Sed quo, mi Pylades?

2

Gegenfrage: Wohin willst du, mein Pylades?

P:

3

Stolide interrogas.

3

D u m m e Frage!

H:

4

Inertius respondisti.

4

Deine A n t w o r t war noch blöder.

P:

5

Q u a m ob rem, fateor, tu ne cernis? Limes hic, quem ambulo, petitum terminum ostendit.

5

I c h sag's ganz offen: Warum siehst du das denn nicht? Der Pfad hier, auf dem ich wandele, zeigt doch das erstrebte Ziel.

H:

6

H u i , hui, o Pylades? Hiccine idem non minus innuit, unde veniam.

6

A c h , Pylades! Derselbe Pfad weist doch genauso darauf hin, woher ich komme.

P:

7

D i c i t o locum nunc temporis.

7

N e n n ' mir jetzt sofort den Ort.

H:

8

N o n artat opus.

8

Das ist nicht vordringlich.

P:

9

9

D o c h , doch! Denn ich w i l l auf dem Weg gehen, dem du den Rücken zuwendest.

Q u i n ymo, quoniam cui vie tu tergiuersas, obuius esse gestio.

H:

10

P:

n

H:

12

E t tendis.

Quo?

10

U n d da gehst du ja auch.

11

Wohin?

12

Weißt du's nicht?

P: »Scio.

13

Natürlich!

H:

14

14

P:

15

Ignoras?

Paucorum scientiam cupit, qui cognita querit. M e ludis, Horestes.

Wer nach Bekanntem fragt, sehnt sich nach einem Wissen, über das nur wenige verfügen.

15

D u veräppelst mich, Orestes.

70

Die Formulierung pro agendo tempore (82) lässt sich als Germanismus interpretieren, doch fehlen weitere Indizien. 71 Der Text folgt (mit geringen Eingriffen) der Ausgabe von Bertalot, 1926; die Übersetzung und die Zählung der Gesprächseinheiten stammen von mir.

122

Thomas Haye

H:

16

P:

17

H:

18

P: H:

Prebuisti exordium.

16

Sed mediusfidius effare, quo de remees exilio.

17

E o quo pergis.

18

19

Q u i gressibus oppositis obuiam venis michi?

19

20

A t q u e etiam sensu aduerso prolata subaudisti. Namque non fero nos vie comités eiusdem.

20

P:

21

U n d e venis igitur?

21

H:

22

Q u o proficisceris.

22

P:

23

E t quo vadam scis? Solis relictum diis

23

I c h gehe dahin [ein Wortspiel; alternativ: ich komme von dem Ort], w o h i n du gehst. W i e kannst du dann aus der entgegengesetzten Richtung zu mir kommen?

A b e r du hast ja auch meine Worte falsch verstanden. Denn ich behaupte ja nicht, dass w i r dasselbe Ziel haben.

nactus es oculos, quibus interiora contueris? 24

P:

Woher kommst du also? W o h i n du gehst.

U n d du weißt, w o h i n ich reise? Dieses Geheimnis meines Herzens ist doch allein den Göttern anvertraut. Woher hast du die Augen eines Luchses, mit denen du in mein Inneres sehen kannst?

cordis archanum. U b i linceos hos

H:

D U hast damit angefangen.

D o c h , zum Teufel! N u n sage endlich, von welchem O r t in der Fremde du zurückkehrst.

N e c lincea luminum acutie secreta perspicio tua iudicia, sed petite vie terminum tuus habitus demonstrat.

24

25

Signa eque, que gestas, te perniciosam habitasse terram profitentur.

25

H:

26

Comperies, si petas hanc.

26

P:

27

H: P:

I c h erkenne deine geheimen Pläne nicht durch die luchsähnliche Schärfe meiner Augen, sondern dein Aussehen zeigt mir, welchen Weg du gehen willst.

Ebenso verraten mir die Kennzeichen, welche du aufweist, dass du dich in einem gefährlichen Land aufgehalten hast. D u wirst es erfahren, wenn du das Land betrittst.

A d quam tendo, ampliandi status me conducit intentio.

27

28

Consumende substantie forsitan peregrinus efficieris.

28

29

Sed dicito michi post has nugas: in predonum speluncam cecidisti?

29

D e r Wunsch, Karriere zu machen, führt mich in das Land, in das ich reise.

Vielleicht wirst du aber zu einem Pilger, der sein Erspartes aufzehren muss. D o c h sag mir nach all diesen Scherzen: Bist du in einer Räuberhöhle gelandet?

H:

30

Equidem.

30

Stimmt.

P:

31

Quelibet edissere.

31

ErzähP mir davon.

H:

32

Siluam, qua venio, latissimam quedam horrende fere inhabitant, corporibus quidem perhumane, intus autem lupina rapacitate seuientes, que pretereuntes deglutiunt; nec est, quamuis cursus leuitate ceruos preeat, qui rapacium fauces valeat euitare. Vides, ut non modo lanas colobii

32

I n dem riesigen Wald, aus dem ich komme, wohnen grässliche Monster. Ihre Körper sehen genauso aus wie die von Menschen, doch in ihrem Innern rasen sie vor wölfischer Gier. Sie verschlingen jeden, der vorbeikommt. U n d es gibt niemanden, der dem Schlund dieser Räuber entkommen könnte, auch wenn

Einmal Rom und zurück

er hinsichtlich der Laufgeschwindigkeit sogar Hirsche übertreffen würde. D u siehst ja, wie sie nicht nur die Wolle meines Hemdes zerrissen haben, sondern bis auf die Knochen alles Fleisch abgenagt haben, was an dem Menschen dran war. Theseus, der Bezwinger des Minotaurus, und auch der bärenstarke Herkules, die ja beide in der Unterwelt Monster besiegt haben und dann von dort unverletzt zurückgekehrt sind, würden, so sie hier wären, den Verlust von Teilen ihres Wesens erleiden, wenn sie nicht durch noch größere Kraft obsiegten. Nirgendwo habe ich solche Martern erlitten. Ich bin nämlich nicht nur von einem einzelnen, sondern von fast allen gefoltert worden.

lacerarunt, verum tenus ossa quidquid pingue fuit in homine corroserunt. Theseus ille domitor Minotauri, Hercules quoque fortissimus, qui a tartaris expugnatis monstris illesi remearunt, nisi potenciori robore preualerent, partium substantie, si adessent, paterentur apocopam. Nusquam talia perpessus sum supplicia, quoniam nec unius sed pene quorumlibet toleraui cruciatus.

P: " i n a u d i t a narras, Horestes, necdum tibi assentiar, priusquam iuramento fata corrobores, quia nusquam gentium audiui locum aliquem feras quas dicis continere. Itemque terra hec nulla, quam fabularis, silua tali occupatur. Quod si fueris veridicus, siluam retrogrediens non subibo.

123

33

Orestes, du erzählst Unerhörtes. U n d ich werde dir erst dann glauben, wenn du das Gesagte durch einen Eid bekräftigst. Denn ich habe noch nie gehört, dass es irgendwo auf der Welt einen O r t gibt, den solche Monster bewohnen, wie du sie beschreibst. U n d ebensowenig weist dieses Land einen solchen Wald auf wie diesen, von dem du hier schwafelst. Falls du aber die Wahrheit sagen solltest, werde ich kehrtmachen und diesen Wald nicht betreten.

H:

34

Intrare properas.

34

P:

35

Rennuo. Lora traham. Hac meabo.

35

H:

36

Q u o iturus?

36

U m wohin zu gehen?

P:

37

Romam, Romam.

37

N a c h Rom, nach Rom.

H:

38

E y a , vale, mi Pylades; nempe de équité fies pedes, feris quas dixi deuorandus immanibus.

38

P:

39

Nemus, si quod sit, refugiam.

39

D u beeilst dich aber doch schon, ihn zu betreten. D a s bestreite ich. Ich werde mich zügeln. Dorthin w i l l ich wandern.

N a dann, leb wohl, mein Pylades. D u wirst nämlich vom Reiter zum Fußgänger werden, um dann von den wilden Bestien gefressen zu werden, die ich erwähnt habe. I c h werde den Wald meiden, falls es ihn denn gibt.

(Pylades zieht weiter. Orestes spricht zu sich selbst.)

124 H:

Thomas Haye 40

Inscius in preparatos laqueos incidet et siluam quam non putat permeabit. Prestolabor eius regressum, ubi vendendi meri hederá pendens copiam significat dominicam, fessosque artus post esum conmittam sopori.

40

D e r Dummkopf w i r d in die aufgestellte Falle tappen und durch jenen Wald gehen, an den er nicht glaubt. A u f seine Rückkehr werde ich dort warten, w o herabhängender Efeu anzeigt, dass ein Gastwirt mir Wein verkaufen kann. U n d nach dem Essen w i l l ich meine müden Glieder dem Schlaf anvertrauen.

Zweite Szene ( Orestes , Wirt) H:

41

Salve, caupo, hospitem suscepturus.

41

C:

42

Ingredere tecta extimplo accubiturus. Facies macra cutem maritans ossibus famelicum te predicat.

42

H:

43

Siccine esurio, quasi tres dies non ederim.

43

C:

44

Mandes; actutum presto sunt edenda. Queso, solus peragrasti? Quot comités percunctaris?

44

H:

45

Vnicus ambulaui.

45

C:

46

Q u i d , cum tanti limites fures occupent?

46

H:

47

M e pensas eorum ungulas impune pertransisse?

47

C:

48

Q u i d ? Habita substulerunt?

48

Was? Haben sie dir deine Habe gestohlen?

H:

49

Cernis.

49

D a s siehst du ja.

C:

50

A d u e n t u m [djegentis non liceor. Abeat in omine infelici, dum nichil afferat incrementi. Opulentos recolligo, non egentes; dolia quippe cauponis irrita marsupia non poscunt. Volo priusquam Bromio huic mea conmittam, commercium exhibeat.

50

H:

51

B r i a m temeti apporta.

51

Bring' einen Becher Wein.

C:

52

O c i u s asportem.

52

I c h werde ihn eher wegbringen.

H:

53

Q u a ex re?

53

C:

54

Ea.

54

W i r t , sei gegrüßt, wenn du bereit bist, einen Gast zu empfangen!

T r i t t in mein Haus und setze dich gleich hin. Deine verhärmte Erscheinung, die ja die Haut mit den Knochen verheiratet, verrät mir, dass du völlig ausgehungert bist. I c h bin so hungrig, als ob ich drei Tage nichts gegessen hätte.

G i b deine Bestellung auf; das Essen ist sofort fertig. - Ach, bitte: Bist du allein gewandert? Wieviele Begleiter hast du dabei? I c h bin ganz allein unterwegs gewesen.

Was? - O b w o h l so viele Räuber die Wege belagern?

Glaubst du, ich sei ungeschoren an ihren Klauen vorbeigekommen?

A u f die Ankunft eines Habenichts setze ich nicht. Er soll sich mit seinem Unglück zum Teufel scheren, wenn er mir keine Einnahmen verschaffen kann. Ich schreibe Rechnungen für Reiche, nicht für Arme. Ein leerer Geldbeutel verlangt doch nicht nach dem Weinfass des Wirtes. Ich will, dass mir dieser Trunkenbold sein Zahlungsmittel zeigt, bevor ich ihm meine Waren überlasse.

Warum? Darum!

Einmal Rom und zurück H:

55

T e ante pollicebaris apprime michi obsecuturum.

55

C:

56

Gratia nummi cauponis opera famulatur.

56

H:

57

Agnosco, et equum est labori respondere premium. Putas ille sum, qui incomparandas escas expostulet? N o n adeo atterit inopia, quin pastum bimestrem exsoluere queam. Insertos etiam boues in aratris, armenta pinguia ruraque ubera nostra domus habet, que, si quibus nunc temporis pabulis me satures, potens est tibi referre ad quintupla.

57

C:

58

Errant hospites. Minus constant eorum colloquia; nichil michi [cum] possessis, multum autem [in] compares propinanda.

58

H:

59

Sentencia.

59

C:

60

I r r i t a satis est emptio, qua non patet nummorum collatio.

60

H:

61

H a b e o in forulo hoc, qui hodie sufficient, denarios.

61

C:

62

Sat est. Gratissimus iam michi tuus introitus. Pete nunc pro libito: exhibebo. Cauponum hec omnium natura est magis nummis quam hospitibus consolari.

62

H:

63

Fateor. Accéléra. Fame languescunt ilia.

63

C:

64

Adest ferculum ariete ex optimo, lieum quoque magno flumine permiscendum.

64

H:

65

Habunde est. Mitte. Ito vacatum domi.

65

125

D U hast mir aber doch vorhin versprochen, mir ganz besonders zu Diensten zu sein. E i n eifriger Wirt bedient nur gegen Geld.

I c h verstehe. U n d es ist nur gerecht, dass die Bezahlung dem Einsatz entspricht. Glaubst du, ich sei jemand, der ein Essen bestellt, das er nicht bezahlen kann? Ich bin nicht so arm, dass ich nicht zwei Monate lang mein Essen bezahlen könnte. Mein Haus besitzt sogar Ochsen, die vor den Pflug gespannt sind, wohlgenährtes Vieh und ertragreiche Ländereien. Wenn du mich jetzt - mit welchen Speisen auch immer - sättigst, kann es dir mein Haus bis auf das Fünffache erstatten. Gäste erliegen einem Irrtum. Ihre Gespräche sind billiger. D u besitzt nichts, was für mich von Wert wäre, und doch bestellst du reichlich zu essen. E i n schöner Satz.

A b s o l u t nichtig ist ein Kauf, bei dem man keine Geldzahlung erkennen kann.

I c h habe in diesem Beutel Geldstücke, die für heute reichen werden. D a s genügt. N u n ist mir deine Ankunft hoch willkommen. Bestell nun nach Belieben: Ich werde es bringen. Es ist ja das Wesen aller Gastwirte, sich eher mit Münzen als mit Gästen zu trösten. D a s sage ich ja. Beeile dich. Mein Magen knurrt vor Hunger.

H i e r kommt ein Teller mit bestem Fleisch vom Schaf; auch Wein, der mit viel Wasser gemischt werden muss. D a s reicht. Lass' nur. Geh', um dich drinnen zu entspannen.

Dritte Szene (Pylades) P:

66

Pape deus, quem specum latronum ingressus sum ego! Ilia est silua certe, qua de michi riualis nudius tercius confabulabatur. Optime ciuitati

66

B e i Gott! Was für eine Räuberhöhle habe ich da betreten! Das ist sicherlich jener Wald, von dem mir mein Gesprächspartner vorgestern erzählt hat. Er hat

126

Thomas Haye nomen imposuit. Sed quo vadam extremis deditus erumpnis? quo meam reclinabo pauperiem? Inuisus fiam ego modo his qui prius accessu de meo congaudebant. Satis est angustie paupertatem exosam fore. Ibo, ut opus est, plantaque citata Horestem meum, quo mea letior sit pauperies, temptabo prosequi.

dieser Stadt einen absolut zutreffenden Namen gegeben. - Doch w o h i n soll ich jetzt gehen, da ich schlimmster Drangsal ausgeliefert bin? Wohin soll ich mich wenden, um meine A r m u t zu lindern? Ich werde doch jetzt sogar jenen unwillkommen sein, die sich früher über meinen Besuch zu freuen pflegten. Es ist ja quälend genug, dass man als Armer verhasst ist. Ich werde losziehen, wie es notwendig ist, und versuchen, schnellen Schrittes meinen Freund Orestes einzuholen, damit durch ihn meine A r m u t gelindert wird.

Vierte Szene (Orestes, Wirt) H:

67

Caupo, facito calculum. Abire conuenit.

67

C:

68

Tres mitte argenteos et secedas.

68

H:

69

N i m i s est e multo.

69

D a s ist viel zu viel!

C:

70

N i c h i l satis cupienti.

70

N i c h t s ist dem Gierigen genug.

H:

71

Sume, vale.

71

N i m m , leb' wohl.

C:

72

Salueto tu.

72

L e b ' wohl auch du.

W i r t , mach' die Rechnung fertig. Es ist Zeit aufzubrechen. G i b mir drei Denare, und du kannst scheiden.

(Orestes spricht zu sich.) H:

73

Assiduis utique referta est angustiis humana conditio. Famescens siquidem prius cruciabar. Iam quoque immobilis satur efficior. Itaque si fuerit voluptas, consistit in nummo.

73

D a s Schicksal des Menschen ist tief geprägt durch beständige Probleme. Vorher war ich ja geplagt, weil ich Hunger hatte. U n d jetzt fühle ich mich unbeweglich, weil ich vollkommen satt bin. Wenn es also ein Vergnügen gibt, so besteht es i m Geld.

Fünfte Szene (Orestes, Pylades) H:

74

Eccum sine equo expectatum Pyladem. Die, die, sodes, vera prefatus sum? U b i sonipes phaleratus? tumide buggie, vestis amenis munita pellibus? U b i leta facies illa quam vadens gerebas? Q u i d nudis duobus pedibus commutasti quatuor? Q u i d cannam gestas tremulam? Q u i d non te tuetur a fiante borea procera clamis? Q u i d sciens non velata membra tradis frigoribus? N e sic simulas pauperiem, quo tucius agas iter? Vel tales vultus fingis, quo

74

D a ist ja Pylades, wie erwartet: ohne Pferd! Sag\ bitte sag': Habe ich Wahres prophezeit? Wo ist dein prachtvoll gezäumtes Ross? Wo dein stolz geraffter Mantel? Wo dein mit schönem Pelz besetztes Kleid? Wo ist jene fröhliche Miene, die du aufgesetzt hattest, als du fortgingst? Warum hast du die vier Füße [sc. des Pferdes] gegen diese beiden nackten eingetauscht? Warum trägst du zitterndes Schilf? Warum schützt dich nicht mehr dein langer Umhang vor dem böigen Nordwind? Warum setzt du deine

Einmal Rom und zurück mendicitatis ministerio viuas e rogatis? Opinor equidem: discreta astucia gestus hos contexeris. Ede, queso, nemus horridum adiisti? Q u i d gaudii sumpsisti? Propalato.

127

unverhüllten Glieder absichtlich der Kälte aus? Täuscht du auf diese Weise A r m u t vor, um gefahrloser reisen zu können? Oder setzt du eine solche Miene auf, um mithilfe der Bettelei von den Almosen leben zu können? Meine Meinung dazu lautet: M i t kluger List spielst du diese Rolle. Sag* mir bitte: Bist du in diesen schrecklichen Wald gegangen? Welchen Spaß hast du gehabt? Spuck's aus!

P:

75

Siccine, Horestes, sodalem rides? Est quod populo dicitur: I n calamitosos semper erit illusio.

75

H:

76

Presertim qui libentes queritant

76

Orestes! A u f diese Weise lachst du deinen Freund aus? Es stimmt, was man i m Volke sagt: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Zumal, wer auch noch freiwillig sein Unglück sucht, so wie du.

erumpnas sicut tu. P:

77

Inuitus pertuli.

77

H:

78

Volens locum ingressus es. N a m te paulo ante docueram, precauens tibi.

78

P:

79

Enigma tuum non previdi. Debuisses de Roma palam reserasse.

79

H:

80

N e omni silva lupos nutrit acriores?

80

P:

81

Expertus probato loqueris.

81

H:

82

Effare, rogito, pro agendo tempore queque reperta.

82

P:

83

Postulas, Horestes, ut mala malis accumulem. Habite reminisci miserie secundum dat supplicium.

83

H:

84

Sed profecto tolles fastidium, si me perpessorum malorum tuorum participem inuenias. Misero enim suaue est equo casu videre lugentem. Unicum miseris contulit deus priuilegium pene de consortibus debere letari. Eya, age, die introitus inicia.

84

I c h habe gelitten, ohne es zu wollen.

D U bist freiwillig dorthin gegangen. Denn ich hatte dich ja kurz zuvor aufgeklärt und dich gewarnt. I c h habe deine rätselhafte Ausdrucksweise vorher nicht durchschaut. D u hättest offen von Rom sprechen müssen. H e g t Rom nicht Wölfe, die reißender sind, als man sie in irgendeinem Wald findet?

A1S jemand, der seine eigenen Erfahrungen gemacht hat, sprichst du zu einem Menschen, an dem sich genau das gezeigt hat. Erzähl' mir bitte zum Zeitvertreib alles, was du erlebt hast. Orestes, du verlangst, dass ich mein Elend noch verschlimmere. Es ist eine doppelte Strafe, sich an ein erlittenes Unglück zu erinnern.

A b e r nein! D u wirst dein Leiden beenden, wenn du mich an dem von dir erlittenen Unglück teilhaben lässt. Ein armer Mensch findet es nämlich angenehm zu sehen, wie einen anderen dasselbe Schicksal betrübt. I m Falle einer Bestrafung hat Gott den Unglücklichen nur ein einziges Vorrecht eingeräumt, nämlich sich über Leidensgenossen freuen zu dürfen. Los, vorwärts, sage, wie du am Anfang hineingegangen bist.

128

Thomas Haye

P:

85

Moleste licet proferam. U b i post tergum te reliqui, iuncto lateri gradarii calce ad Romam, quam silvam vocas, properaui.

85

H:

86

F i t certe sepenumero celeres petamus infortunia.

86

P:

87

O p p i d o . Contigi tandem terminum pone campum qui Flore dicitur, ab hospite exceptus. Crepusculo autem experrectus delubra Petri petens clauigeri rotam inter omnes pauonis ad instar expandi, et certe rebar magnam michi pontifex mitteret dignitatem.

87

H:

88

Spes lata in ardua persepe redit inanis.

88

P:

89

Confestim nouam predam intuentes lupi famelici in eorum speluncam decidisse, parte qua lanam ouis discerperent auisarunt. Nec momenta duo effluxerunt, et ecce duo ex illis quasi ceteris famulantes latus utrumque ambientes me antrum in unum detruserunt, quo ante presidentis fere tribunal effrenate vellerum suorum oues vidi pati diuorcia. Ibi tot a me satellites presidentis abstulere spolia, quod minimum posteris reliquerunt. Unus decernebat, alii inscribebant, alii prede auidissimi feruenter mee spoliacionis procurabant sententiam. Et credo viuus insaciabiles eorum hiatus subintrassem, nisi me ad partem alii superuenientes reclamassent. De manibus itaque Anne liberatus traductus sum ad Caypham.

89

H:

90

H a u t alias accidit michi.

90

I c h will's erzählen, wenngleich ungern. Sobald ich dich hinter mir gelassen hatte, gab ich meinem Pferd die Sporen und eilte zur Stadt Rom, welche du als Wald bezeichnest. E s geschieht sicherlich oft, dass w i r eilig in unser Unglück rennen.

Sehr oft. Schließlich ereichte ich die Stadtgrenze hinter dem sogenannten Campo de' Fiori und wurde vom Gastwirt aufgenommen. I n der Dämmerung wachte ich dann auf, ging zum D o m des schlüsseltragenden Petrus und schlug stolz wie ein Pfau vor allen Leuten mein Rad; und natürlich dachte ich, dass mir der Papst ein hohes A m t übertragen würde. E i n e Hoffnung, die nach Hohem strebt, kehrt oft unerfüllt zurück.

A l s die hungrigen Wölfe sahen, dass sich eine neue Beute in ihre Höhle verirrt hatte, schauten sie sofort, an welcher Stelle sie die Wolle des Schafes scheren könnten. Es waren noch keine zwei Sekunden vergangen, und schon stellten sich zwei von ihnen links und rechts von mir auf, gleichsam u m den übrigen zu Diensten zu sein, und stießen mich in eine Höhle, in der ich sah, wie Schafe vor dem Richterstuhl der den Vorsitz führenden wilden Bestie den Verlust ihrer Wolle erlitten. D o r t raubten mir die Diener der Vorsitzenden so viele wertvolle Dinge, dass sie den anderen nur noch eine Winzigkeit übrig ließen. Einer entschied, andere notierten es, wiederum andere, die auf Beute versessen waren, fertigten rasend schnell das Urteil meiner Beraubung aus. U n d ich glaube, ich wäre noch lebend in ihre unersättlichen Mäuler gelangt, wenn nicht andere dazugekommen wären und mich für sich gefordert hätten. So bin also aus den Händen des Hannas befreit und an Kaiphas weitergereicht worden. N i c h t anders ist es mir ergangen.

Einmal Rom und zurück P:

91

Deinceps sic tonso vellere ad alium magis ferorum specum luporum minatus sum, quo nephandissima usura pellem viuidam pro membrana martirii commutare coactus martiris ad instar pellem propriam exutus sum. Vides adhuc scoriate pellicule vestigia.

91

Darauf bin ich mit derart geschorenem Fell zu einer anderen Höhle getrieben worden, in der noch wildere Wölfe wohnten. D o r t wurde ich gezwungen, zu einem unglaublichen Zins das lebende Fell gegen die Lederhaut des Martyriums [sc. eine Urkunde des apostolischen Stuhles] einzutauschen, und wie einem Märtyrer wurde mir das eigene Fell abgezogen. D u kannst jetzt noch die Spuren der abgezogenen Haut erkennen.

H:

92

Equidem.

92

P:

93

Pellem itaque meam inter se diuiserunt meamque carnem, quoniam maioribus maior minoribusque minor tributa pars est; nec fuit in eis qui de carne mea sua labra non lamberet. Demum mórbida pelle sincopata, rasa et, ut de punicione constaret mea, per presidem consignata in ludibrium amictus remissus sum ad Pilatum.

93

H:

94

E t ego.

94

P:

95

Sic igitur correptus in foueam immanissimam proiectus sum, qua non luporum nec leonum, ymo monstrorum horridorum feritatem probatus sum. Súbito enim dentibus acutissimis irruere in me quod supererat deuorantes. Et credo vitales spiritus abstulissent, si preses, cui non licet interficere quemquam, pertulisset; voluit tamen et oretenus iniunxit, ut si quid esset quod ad vite subsidium inueniretur, confestim tolleretur; et nondum iussa finierat, et ecce me graui tortura distrahentes dúo ex ipsis, quos ut vite subseruirent mee reseruaueram, áureos viginti asportarunt, plumbi grauedinem, quo grauius afficerer, humeris imponentes.

95

9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 46. Bd.

129

Ja, kann ich. A l s o teilten sie mein Fell und mein Fleisch unter sich auf, indem nämlich den Höherstehenden ein größerer und den Niedrigerstehenden ein kleinerer Teil zugewiesen wurde. U n d es gab unter ihnen keinen, der sich nicht ob meines Fleisches die Lippen leckte. Nachdem schließlich mein sieches Fell beschnitten, rasiert und - als Zeichen meiner Bestrafung - durch die Vorsitzende Bestie besiegelt und dazu bestimmt worden war, als Mantel verspottet zu werden, bin ich zu Pilatus geschickt worden. I c h auch.

I n dieser Weise misshandelt, wurde ich dann in eine riesige Grube geworfen, in der ich eine grausame Behandlung - nicht etwa durch Wölfe oder Löwen, sondern durch schreckliche Ungeheuer - erlitten habe. Sie stürzten sich nämlich sofort mit messerscharfen Zähnen auf mich und verschlangen, was von mir noch übrig war. U n d ich denke, sie hätten mir die Lebensgeister genommen, wenn der Vorsitzende, dem es nicht gestattet ist, jemanden zu töten, dies zugelassen hätte. U n d dennoch wollte er es und verschlang mich bis zum Gesicht, damit für den Fall, dass man noch etwas fände, was zum Lebensunterhalt geeignet wäre, mir dieses sofort geraubt werde. Er hatte das ihm Aufgetragene noch nicht restlos erledigt, und siehe da: Zwei von ihnen quälten mich mit schwerer Folter und nahmen mir die zwanzig Goldstücke ab, welche ich mir zu

130

Thomas Haye meinem Lebensunterhalt aufgespart hatte, und legten mir schweres Blei [sc. der päpstlichen Bulle] auf die Schultern, um meine Qualen noch zu vergrößern.

H:

96

E t postremo quid actum est?

96

P:

97

N i c h i l super me edendum remanserat; mendicus expulsus sum.

97

H:

98

N e es ergo magno ioco dignus, Pylades?

98

P:

" U t tu, Horestes.

A n mir war nichts Essbares mehr. Daher wurde ich als Bettler hinausgeworfen. H a s t du es nicht verdient, dass man dich heftig verspottet, Pylades?

" S o wie du, Orestes.

H:

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P:

101

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H:

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P:

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H:

104

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P:

105

V o l o , sile; me verbis fastidis.

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H:

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Interea narrato de singulis.

106

P:

107

Infestus es nimium.

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H:

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Prudentis est de singulis indagare.

108

P:

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F a t u i est tegenda vulgare.

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Ignorabam que sciens amplexus es mala; quo minus venio criminandus, et tu magis. Mala namque qui preuisa non euitat, iuste conuicia refert.

A b e a n t hec rogito. Reminisci horum graue est. U t i l e forsan erit ista tolerasse, quoniam suauius post acta mala boni suscipitur aduentus.

E t quis neget boni semper gustantes dulcedinem his, qui pro tempore beatiores fore. Vellern ista non vidisse.

N o n estimât tanti, o Pylades, qui semper delibat fauos quanti qui post absinthium mella sapit. Siccine post perpessa flagicia quies captatur iocundior.

U n d was ist danach geschehen?

I c h kannte das Unglück damals noch nicht, während du dich wissentlich in dieses Unglück gestürzt hast. Umso weniger bin ich zu kritisieren, und du umso mehr. Denn wer das Unglück nicht meidet, obwohl er es voraussieht, handelt sich zu Recht einen Tadel ein. Lass' das, ich bitte dich. Es bedrückt mich, daran zu denken.

Vielleicht w i r d es noch nützlich sein, so etwas ertragen zu haben, da ja nach erlittenem Unglück das Eintreten eines Glücksfalles als umso angenehmer empfunden wird.

D o c h wer könnte leugnen, dass diejenigen, welche stets die Süße des angenehmen Lebens kosten, glücklicher sind als jene, die dies nur für eine gewisse Zeit tun. Ich wünschte mir, ich hätte das nie erlebt.

O Pylades! Wer immer nur aus Waben isst, kann das nicht so hochschätzen wie derjenige, welcher nach bitterer Speise wieder H o n i g kostet. Ebenso w i r d doch w o h l nach erlittener Misshandlung die Ruhe als angenehmer empfunden. I c h will, dass du schweigst. D u gehst mir mit deinem Gerede auf die Nerven. Erzähle mir unterdessen die Einzelheiten. D U bist allzu grausam.

E s zeugt von Klugheit, den Einzelheiten nachzuspüren.

E s zeugt von Dummheit, den Leuten das zu erzählen, was man besser verheimlichen sollte.

Einmal Rom und zurück H:

110

110

P:

11 !

11

H:

112

N o n hic vulgus. D u m soli loquimur, secreta sunt omnia. Nos solos arua tenent. Intrepidus visa pande. Verum est quod vulgatur Rome Simonem reuixisse?

U n a cum coniuge Simonia.

H i e r sind keine Leute. Wenn nur w i r miteinander sprechen, bleibt alles geheim. Hier auf den Feldern sind nur wir. Erzähle ohne Angst, was du gesehen hast. Stimmt es, was man überall erzählt, nämlich dass in Rom der Simon [sc. Magus] wiederauferstanden ist?

Zusammen mit seiner Frau Simonie.

Hercle.

112

Nein!

P:

113

V i d i ego.

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I c h habe es selbst gesehen.

H:

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S u n t ei patuli aditus palacii?

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P:

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D i c i t u r etiam pontif icis.

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A n g e b l i c h sogar die des Papstes.

H:

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M o d o quo?

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W i e das?

P:

117

117

H:

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118

P:

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M a g i quidam suis hos viuificarunt caracteribus.

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H:

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Profecto Roma ilia esse nescit expers iniqui. Nonne diu fuere Simon cum coniuge clausi in tumulo?

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P:

121

H:

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9*

V i d i t coniugem Simonis venustissima pulcritudine redimitam, rethorum omnium eloquentissimam ad erigendos tuendosque status, ad aceruos erarii quoque permaximos disertissimam cumulandos, in dispensandis quoque rebus prouidentissimam. Re qua effecit hanc suorum dispensatricem nummorum; et ideo creuit eius auctoritas, quod ferme nichil absque eius consilio a manu valeat extrahi pontificis.

0 deus, quis hos suscitauit maléficos?

N u p e r r i m e reuixere.

0 pestem diram! Cernis modo, Pylades, ut non modo latrones illam Romam inhabitent, verum in ea cunctorum malorum genera communicent. Est certe Romana curia latronum spelunca, simonie trapezetum, aula superbie, gule sepulchrum, luxurie palus

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D i e Eingänge zum Palast stehen ihm also weit offen?

E r [sc. der Papst] hat gesehen, dass Simons Frau mit lieblichster Schönheit bekränzt ist, dass sie von allen Rednern am meisten begabt ist, u m Staaten zu errichten und zu schützen, dass sie auch höchst geschickt darin ist, gewaltige Staatsschätze anzuhäufen, dass sie zudem sehr klug darin ist, diese Mittel zu verwalten. Aus diesem Grund hat er sie zur Verwalterin seines Geldes bestimmt. U n d ihr Ansehen ist deshalb gewachsen, weil der Hand des Papstes praktisch nichts entwunden werden kann ohne ihre Zustimmung. 0 Gott! Wer hat diese gottlosen Zauberer auf den Plan gerufen? E i n i g e Magier haben sie nach ihrem eigenen Ebenbild zum Leben erweckt.

Dieses Rom versteht es wahrlich nicht, ohne Unrecht zu existieren. Sind Simon und seine Frau nicht lange Zeit i m Grab eingeschlossen gewesen?

121 122

Sie sind vor kurzem wiederauferstanden.

Pest und Cholera! Pylades, jetzt siehst du, wie in diesem Rom nicht nur die Räuber wohnen, sondern in ihm alle Arten der Sünde miteinander vereint sind. Die römische Kurie ist wirklich eine Räuberhöhle, eine Wechselbank der Simonie, der H o f der Hochmut, das Grab der Völlerei, der Sumpf der

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Thomas Haye cunctorumque malorum congeries; quam cuius maliciis verser amplius, morti prius subiciar.

Ausschweifung und eine Anhäufung aller Laster. Eher würde ich mich dem Tode hingeben, als dass ich mich noch länger in Roms schlechter Umgebung aufhielte.

P:

123

Esset multo sanctius.

123

H:

124

Sed vis, mi Pylades, huius obscenitatis curie orbisque fugiamus erumpnas?

124

D a s wäre viel weniger frevelhaft.

U n d , mein Pylades, möchtest du, dass w i r dieser Schändlichkeit der Kurie und der Mühsal der Welt entfliehen?

P:

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H:

126

126

P:

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127

Afficio.

Auspices quieti nemoris umbras glande vel radice famem satiantes amne liquido guttura rigantes incolemus. Sub frondibus securi recubantes Strato molli gramine tempestiuos captabimus somnos. Aurora consurgentes matutina armonias philomene garrientiumque auium mille consonam hauriemus melodiam. Si flabit boreas, corpora Phebi radiis opponemus; si dominabitur estus, pectora Zephiro detegemus. N a m sic viuentes que nature sunt peragemus. N o n nos rabies perterrebit populorum, non libidinem habebimus hospitem, non sculpto vase trahemus pocula. Sed quem ritum vite prima tenuit etas hominum, libertate perducemus.

H o c c i n e cupio, m i Horestes, viuere modo et hunc ab annis elegi prioribus. Vadamus igitur in has mundi partes sine mundo viuere, ut, cum aderit exitus hora, non ceno fedati, non scelerum grauitate depressi illimes ad preparatas nobis sedes euolemus.

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Danach sehne ich mich.

Lass uns also i m glückverheißenden Schatten eines ruhigen Haines wohnen, und dabei unseren Hunger durch Eicheln oder Wurzeln stillen und unsere Kehlen mit klarer Flut benetzen. Ohne Sorgen werden w i r unter dem Laubdach liegen und auf dem weichen Bett des Grases zur rechten Zeit Schlaf finden. Wenn sich Aurora am Morgen zeigt, werden w i r uns erheben und den Gesang der Nachtigall und den harmonischen Klang von tausend zwitschernden Vögeln vernehmen. Wenn der N o r d w i n d bläst, werden w i r unsere Körper den Strahlen des Phoebus aussetzen; wenn Sommerglut herrscht, werden w i r unsere Brust für den Westwind entblößen. Denn durch eine solche Lebensweise werden w i r tun, was der Natur entspricht. N i c h t w i r d uns die Wut der Völker schrecken, nicht werden w i r die Lust zu Gast haben, nicht werden w i r bechern aus ziselierten Gefäßen. Vielmehr werden w i r in Freiheit jene Lebensart fortführen, welche die erste Generation der Menschen gepflegt hat.

I n dieser Weise, mein Orestes, möchte ich gerne leben, und diese Weise habe ich mir von Jugend an erwählt. Gehen w i r also in diesen Teil der Welt, u m ohne die Welt zu leben, so dass wir, wenn die Stunde des Todes kommt, nicht durch Dreck beschmutzt, nicht durch die Bürde der Sünden belastet, sondern unbefleckt zu der uns bereiteten Heimstatt eilen können!

Einmal Rom und zurück

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A n m e r k u n g e n 24 habitus] A n dem offenkundigen Reichtum und der prächtigen Kleidung des Pylades erkennt Orestes, dass sein Freund noch nicht in Rom gewesen ist. 74 canna tremula] Zur Formulierung vgl. Ovid, Met. 6, 326: » [ . . . ] tremulis [ . . . ] cannis.« 87 P e t r i . . . clauigeri] Vgl. Vulgata, M t . 16,19: » [ . . . ] tibi dabo claves regni coelorum.« 87 rota] Ein Wortspiel: hiermit ist nicht nur das Rad des Pfaus gemeint, sondern auch die >Audientia sacri palatii< (genannt >RotaA11 words are created equal
A11 words are created equal
The True Sovereigns of a Country Are Those Who Determine Its MindA11 words are created equal
A11 words are created equal
A11 words are created equalA child [cries] for the stars, a maiden for the matron's dress, a woman for her shroud.westliche< Werte vertretenden Erzählers w i r d an seinem Entsetzen ob der Lage der Frauen immer wieder demonstriert. Daß er selbst >orientalisiert< ist, läßt seine Kritik, die sich gleichermaßen gegen »orientalische< Grausamkeit und, wie in vielen Vergleichen deutlich wird, »westlichem Werteverfall richtet, nur glaubwürdiger erscheinen. Die imperiale Geschichte, die in den vielen Analogien anklingt, mit denen der Erzähler seine Erfahrungen auf dem Mars erläutert, liegt weit vor dem Veröffentlichungsdatum des Romans. Aus den zahlreichen im Text verstreuten Hinweisen zum Hintergrund des Erzählers läßt sich zwar keine stimmige Biographie rekonstruieren, mit der Datierung der Reise innerhalb der Herausgeberfiktion auf ca. 1830 läßt sich jedoch die Bemerkung zu einem »encounter w i t h the mounted swordsmen of Scindiah and the Peishwah« (AZ I I , 20) in Einklang bringen. Hier w i r d w o h l auf die Mahratta-Kriege zu Beginn des Jahrhunderts angespielt, und es ist anzunehmen, daß der Erzähler auf britischer Seite gegen die Armeen Hindustans gekämpft hat. Z u der Ausstattung, die er auf den Mars mitbringt, gehört ein Kettenhemd »of fine close-woven wire,

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Eva-Maria O r t h

which had turned the edge of Mahratta tulwars« (AZ I, 79). 3 7 Es handelt sich aber bei ihm u m keinen regulären britischen Soldaten, die Figur ist vielmehr auch in Anlehnung an die europäischen Abenteurer konzipiert, die vor allem i m späten 18. und frühen 19. Jahrhundert i m Dienst asiatischer Herrscher standen und zum Teil nicht nur in militärisch führende Positionen gelangten, sondern auch selbst zu lokalen Herrschern avancierten. Als seinen wertvollsten irdischen Besitz betrachtet der Held ein Schwert, das ein Smaragd schmückt »with which alone the Commander of the Faithful rewarded my services« (AZ I I , 45). Seine Nationalität bleibt absichtsvoll i m Dunkeln »I was born the subject of one of the greatest monarchs of the Earth; I left his country at an early age, and my youth was passed in the service of less powerful rulers [ . . . ] « (AZ I I , 120). N u r mittelbar erschließt sich die Herkunft des Turban tragenden und den Namen Allahs i m Munde führenden Erzählers, der sich offensichtlich den von ihm erkundeten Kulturen Asiens angepaßt hat. Er hat nicht nur in Indien gekämpft, sondern kennt die Türkei, hat Mekka besucht und Zentralasien bereist. Wenn seine Biographie solcherart Ähnlichkeit mit der europäischer Söldner in den Diensten orientalischer Potentaten aufweist, 38 so unterscheidet er sich von ihnen zugleich durch seine umfassende Bildung und das strikte Festhalten an einem europäischen Wertekodex, der sich vor allem an den Geschlechterverhältnissen festmacht. Greg verknüpft i n seiner Figur die Qualitäten des heldenhaften Eroberers und Entdeckers einer vergangenen Zeit - er läßt seinen Protagonisten sich sogar mit Kolumbus vergleichen - und des ideal-

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I m Roman w i r d nur deutlich, daß der H e l d an Kämpfen gegen die Mahratta Armeen beteiligt war. Diese wurden selbst von Europäern geführt. O b der Erzähler tatsächlich auf britischer Seite stand, bleibt letztlich unklar, er könnte auch an innerindischen Auseinandersetzungen beteiligt gewesen sein. Europäer sind in den Armeen Indiens schon i m 18. Jahrhundert keine Seltenheit: »As the eighteenth century wore on and the Moghul Empire continued to crumble the Imperial army and the successor states which were carved out of its ruins all raised corps of regular troops commanded by Europeans [ . . . ] . The earliest were French-trained and in the Imperial armies of Dehli; later the NawabWazir of O u d h and the Subahdar of the Deccan, the family of the N i z a m - u l - M u l k of Hyderabad, the Moghul viceroys w h o now ruled virtually independent states, Haidar A l i , the usurper of Mysore and petty Jat and great Rajput chieftains all had their corps of regular troops« [Shelford Bidwell, Swords for Hire: European Mercenaries in EighteenthCentury India (London 1971), 1]. Greg geht es offensichtlich weniger u m den Anschluß an konkretes historisches Geschehen als darum, seiner Figur einen möglichst weiten H i n tergrund zu geben. Anachronismen wie der Verweis auf den indischen Vizekönig (AZ I I , 184) stellen eindeutige historische Bezüge ohnehin in Frage. 38 Die Geschichte eines solchen Abenteurers, des Amerikaners Josiah Harlan, der K i p ling als Inspiration für seine Geschichte »The Man w h o Would be King« gedient haben kann, erzählt Ben Maclntyre, Josiah the Great: The True Story of the Man who Would be King (London 2004). M i t Europäern i m Dienst Ranjit Singhs, deren Biographien in Teilen vorbildhaft für Gregs Konzeption seines Helden erscheinen, beschäftigt sich C. Grey, European Adventurers of Northern India 1785-1849 [1929] ( N e w Dehli u. Madras 1993).

Spracherfindung in der spätviktorianischen Science Fiction

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typischen britischen Offiziers und >modernen< Menschen des späteren 19. Jahrhunderts, der mit allen aktuellen Fragen seiner Zeit vertraut ist, ob es sich nun u m Ingenieurswissen oder das Sammeln von Sprachdaten handelt. Diese phantastische Mischung einer glorreichen >alten< Zeit europäischer Weltentdeckung und modernster Fortschrittlichkeit verkörpert das Raumschiff, das den Helden zum Mars bringt: sein >astronaut< ähnelt einem Seeschiff, einem »antique Dutch East-Indiaman« (.AZ I, 27). Wie bei Bulwer-Lytton dient die Exotisierung in Gregs Roman mehr als einem Zweck. Einerseits werden die Folgen eines zerstörerischen Fortschritts, der mit moralischer Degenerierung einhergeht, durch Stereotype von >orientalischem< Despotismus, >östlicher< Brutalität und Frauenverachtung veranschaulicht. Andererseits werden >abendländische< Werte in der Berufung auf >Ostliches< affirmiert. Wenn der Erzähler den Gründer der Geheimorganisation der Marselite, des Ordens der physiognomisch europäischen aber in vielen Lebensgewohnheiten orientalischen Zinta, Southey zitierend mit Indra vergleicht, w i r d der Orient als O r t uralter Weisheit evoziert. Auch hier wieder sind die Pole der indogermanischen Sprachgemeinschaft zusammengeführt. Die Werte, die die Marselite i m Gegensatz zu den gewöhnlichen, >feigen< Marsbewohnern vertritt, sind auch die Werte des Erzählers, der bei ihnen i m gemeinsamen Kampf die Kameradschaft, die er auf der Erde als Soldat erlebt hat, in spiritueller Erhöhung wieder erfährt. Er spürt wie »a frank spirit of affectionate comradeship, that reminded me forcibly of the mess-tent and the bivouac fire, was mingled w i t h the sense of a deeper and more sacred tie« (AZ I I , 218). I n dieser symbolischen Zusammenführung orientalisierter westlicher und verwestlichter östlicher Eliten unter den Vorzeichen althergebrachter europäischer Werte verwirklicht sich mit gewissermaßen universalistischem Anspruch ein konservatives Ideal soldatischer Tugenden, eines milden Patriarchats und einer Spiritualität okkultischer Prägung als Korrektur eines vermeintlich sinnentleerten Fortschrittsglaubens in der modernen Welt. Allerdings nimmt sich Gregs i m Vergleich zu Bulwer-Lytton weniger skeptische Zukunftsphantasie nur gegen das Schreckensbild eines >östlichen< Despotismus als Ideal aus, so wie auch die Ritterlichkeit des Helden nur gegen den Hintergrund »orientalischem Frauenversklavung an Kontur gewinnen kann.

V o n Wölfen u n d H u n d e n : Wilderness u n d Civilization i n der v i k t o r i a n i s c h e n u n d der modernistischen E r z ä h l l i t e r a t u r Von Stefan Welz

>Doch darfst du immer gehn, w o h i n du willst?< >Das nicht.< - >Dann, H u n d , genieße nur dein Glück! Kein Königreich wiegt mir die Freiheit auf.< (Äsop, »Der Wolf und der Hund«)

I m Verhältnis von Wolf und H u n d erkennt der Viktorianismus eine seiner Grundängste wieder, die Furcht vor der Degenerierung, die aus dem Wissen um einen möglichen progressiven oder regressiven Charakter der Evolution erwächst. Diese Erkenntnis gestaltet sich in zweifacher Hinsicht als Dilemma: Z u m einen besteht die Furcht vor einem Rückfall des Hundes, der gleichsam ein zivilisatorisches Produkt des Menschen ist, in sein bestialisches Vorstadium; zum anderen feiert der Spätviktorianismus - gerade auch am Beispiel des Wolfs - in einem neuen Naturverständnis den Wert des Ursprünglichen und Naturhaften und verweist dabei auf die Gefahr der Überzüchtung und Verweichlichung als Ursache von Degenerierung. Dies ist nur ein Aspekt, der sich aus einer interdisziplinären Untersuchung des bürgerlichen Natur- und Tierverständnisses i m Zusammenspiel mit relevanten literarischen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ergibt. Der Aufbruch der hierarchischen Naturordnung, wie sie in der christlichen Schöpfungsgeschichte beschrieben wird, und die Sentimentalisierung, Romantisierung, Ästhetisierung und Verwissenschaftlichung der Mensch-Tier-Beziehung haben den Grundstein für eine moderne literarische Beschäftigung mit dem Tier gelegt. Das hatte nicht nur eine neuartige thematische Behandlung und erweiterte symbolische N u t z u n g zur Folge, auch philosophische, naturwissenschaftliche, kulturelle und selbst erzähltechnische Fragestellungen werden i m Ergebnis der intensiven Neubefragung aufgeworfen. Vor allem populäre Genres wie die Gothic Literature , Science-Fiction und die Kindergeschichte haben davon unmittelbar profitiert. Der folgende Aufsatz geht anhand der exemplarischen Bilder von H u n d und Wolf deren kulturgeschichtlicher Verwurzlung und -Wandlung sowie deren literarischer Wirkung nach. I m Ergebnis davon w i r d das viktorianische Natur- und Tierverständnis als fragile Balance

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und historisches Ideenkonstrukt erkennbar, das auf typischen bürgerlichen Wertvorstellungen wie Moral, Identität, Repräsentativität, Fortschrittsdenken und Disziplin fußt. Gleichzeitig soll deutlich werden, dass der literarische Gebrauch von Tierbildern keineswegs so eindeutig ist, wie man in der Zuordnung von H u n d (Zivilisation) und Wolf (Wildnis) auf den ersten Blick glauben könnte, sondern wesentlich nuancierter und komplexer.

I. W o s f lm y h te n England ist das Land Europas, in dem der Wolf bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts ausgerottet wurde. Das zeitige Aussterben der Tierart auf der Insel erklärt sich nicht allein aus dem traditionellen Jagdeifer einer Aristokratie, die auf den beliebten Parforcejagden mit speziell abgerichteten Hunden und hoch zu Ross Hätz auf die Wölfe veranstaltet. Als das Ende der Spezies absehbar war, wurden unter den passionierten Jägern Stimmen laut, die eine Schonzeit für den bedrängten Räuber forderten oder ihn sogar wieder lokal anzusiedeln gedachten, bis man schließlich auf die Fuchsjagd verfiel. Der eigentliche Grund für das frühzeitige Verschwinden der Wölfe lag jedoch in der Urbanisierung und einer immer extensiveren Landwirtschaft, die zur Rodung der alten Wälder auf der Insel führten. Dadurch wurde dem Wildtier der natürliche Lebensraum eingeengt, bis ihm nur noch vereinzelte Rückzugsgebiete verblieben, von denen heute allein geographische Bezeichnungen wie Wolf Pits oder Howl Moors künden. I n Schottland und Irland konnte sich das Raubtier zweihundert Jahre länger behaupten, bis es auch von dort durch die voranschreitende Erschließung der Wälder und Moore verschwand. 1743 gilt als das Jahr, in dem der letzte Wolf in Großbritannien erlegt wurde (Vgl. Zimen 1993, 380/81). Dem virulenten Hass, der dem tierischen Räuber seit alters her überall in Europa entgegen schlug, kam damit, zumindest auf den Britischen Inseln, das reale Zielobjekt abhanden. Das führte allerdings nicht zur Revision des Feindbildes >Wolf< oder gar zum Wiederaufleben eines auf Respekt begründeten Miteinanders, das in den Jägerund Sammlergemeinschaften einstmals vorgeherrscht hatte. Z u stark wirkten die über Jahrhunderte hinweg kulturell verfestigten Auffassungen, die an die natürliche Lebensweise der Wölfe anknüpften, diese aber als Inbegriff allen Übels aus der anthropozentristischen Perspektive sesshafter und Viehzucht betreibender Gesellschaften häufig negativ überzeichneten. I n einigen Überlieferungen erscheint der natürliche Wolf bisweilen jedoch auch als Wächter des Glaubens und Feind der Häretiker. So in der St. Edmund-Legende, der zufolge ein Wolf über den Kopf des von den Dänen enthaupteten Märtyrers und englischen Königs Edmund wachte, bis die Seinen den wieder vereinten Leichnam würdig bestatten konnte. Letztlich dominierte aber das sich überlagernde

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Negativklischee. Wölfe waren als unberechenbare, verrückte Mördertiere verschrien, die aus bloßer Lust am Töten wahllos andere Tiere und zuweilen auch Menschen (vor allem Frauen und Kinder) rissen. Sprachliche Wendungen, ein reicher Legendenschatz und die Symbolwelt des Christentums trugen das Negativbild in die nachfolgenden Generationen. Schon i m Alten Testament erfolgt die Gleichsetzung des Wolfs als leibhaftiger Satan mit der Habgier und Zerstörungswut des Menschen: »Die Fürsten von Jerusalem gleichen den räuberischen Wölfen, denn sie vergießen Blut und stürzen Menschen ins Verderben des niedrigsten Gewinnes wegen« (Hesekiel; 22, 27). U n d in Umkehrung der bestehenden Verhältnisse spricht die alttestamentarische Prophezeiung des Jesaja von einem kommenden Reich des Friedens, in dem idyllische Verhältnisse herrschen, die an den Urzustand der Genesis erinnern, w o der Wolf beim Lamm zu Gast ist. Vermutlich entspringt eine derartig polarisierte Sicht amnestischen Glaubensvorstellungen und dem ständigen Konflikt, in dem die Hirtenvölker Palästinas mit den Raubtieren lebten. N i c h t zufällig w i r d dem Bild des bösen Räubers das biblische Pendant vom guten Hirten entgegengestellt. I n den Stadtkulturen der Antike trat die bäuerliche Erfahrung mit wilden Tieren dagegen eher in den Hintergrund, weshalb der Wolf selten und wenn, dann bisweilen sogar positiv erscheint, wie in der Sage der legendären Begründer Roms, Romulus und Remus. Jüngere christliche Darstellungen wie das MatthäusEvangelium (7, 15) unterstellen dem Wolf einmal mehr List und Raub, Falschheit und Verstellung. I n der Bergpredigt warnt Jesus die Jünger: »Hütet euch vor den falschen Propheten. Sie kommen zu euch in Schafskleidern, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.« I n all diesen Beispielen aus den biblischen Texten zeigt sich eine Sicht auf das Tier, die aus christlicher Perspektive interpretiert und moralisch wertet. D e m i m Mittelalter populären didaktischen Genre der Bestiarien, namentlich dem aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts stammenden Physiologus, ist diese Dichotomie von animalischer Erscheinung und Verhaltensweise zusammen mit deren christlich-anthropozentristischer Interpretation beispielhaft eingeschrieben. So vermischen sich naturwissenschaftliche Darstellungen populärer Zoologie, die sich aus orientalischen und hellenistischen Quellen speisen, mit späten judaisch-christlichen Auslegungen. Indem tierisches Aussehen und Verhalten moralisierend gedeutet wird, suchte man mittels Allegorien nach dem wahren Sinn hinter den Worten der Bibel: Der Physiologus sagt v o m Wolf, dass er ein bösartiges und listiges Tier ist. Denn er geht, zu rauben von der weidenden Herde und mit offenem Maul. H a t er aber geraubt, so flieht er vor den Hirten. Der große Basilius sagte: So beschaffen sind die Ketzer, die in Schaffellen umherlaufen, ihre Herzen aber rauben wie räuberische Wölfe die etwas Einfältigen und verderben ihre Seelen. (.Physiologus, 108)

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Ein derartiges dichotomisches Naturverständnis eröffnet durch die tendenzielle Ablösung der Interpretationsmuster von den naturgegebenen Fakten weiterführende Möglichkeiten in der Legendenbildung und Mystifizierung eines Tiers. Bei diesem Vorgang, dem nicht nur der Wolf unterworfen war, w i r d ein Tier unter Beibehaltung und Uberzeichnung einzelner Eigenschaften aus seinem natürlichen Zusammenhang herausgelöst und funktionell einem bestimmten Weltverständnis interpretierend zu- und letztlich untergeordnet. M i t Blick auf den Wolf erfuhr dieser Prozess i m Mittelalter einen Höhepunkt. Z u jener Zeit kamen viele Geschichten u m die vermeintliche Bestie auf, die an das vorhandene Negativbild anknüpften und durch die verschärfte Konfrontation Mensch-(Wild)Tier i m Ergebnis der Urbanen Expansion neue Nahrung erhielten. Die in der Tradition des christlich-europäischen Tierverständnisses typische Dominanz von anthropozentristischer Interpretation gegenüber den naturgegebenen Fakten begünstigte letztlich auch das Aufkommen der Legenden u m den Werwolf. Er vereint die animalisch-atavistischen Eigenschaften des Wolfes mit deren anthropomorphisierender Auslegung aus christlicher Sicht. I m Ergebnis der sich verselbständigenden Phantasiekonstruktion entstand ein moralisch zutiefst verwerfliches und grausames Hybridwesen. Die Legendenbildung wurde begleitet von einer Werwolf-Hysterie mit ganz realem Hintergrund. So verhängte die inquisitorische und städtische Gerichtsbarkeit, vor allem in Deutschland und Frankreich, zahlreiche Todesurteile gegen vermeintliche Werwölfe, die man i m Bund mit dem Teufel sah. Die Beschuldigten wurden grausamen Prozeduren unterzogen, u m den Beweis ihrer von Mordorgien herrührenden Wunden oder ihrer behaarten Unterhaut zu erbringen. Angeblich hatte der Teufel seine menschlichen Opfer mit einer Salbe eingerieben und ihnen ein Tierfell übergezogen. Erst u m die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert fanden die unrühmlichen Verfolgungen ein Ende. Die Idee der Hybridisierung von Mensch und Tier ist kein mittelalterliches Novum. Sie findet sich in den Mythen unterschiedlicher Kulturen, in denen der Mensch beispielsweise mit Robben (Keltischer Kulturkreis), Füchsen (Japan) oder Bären (Nordamerika) zum Zwitterwesen verschmilzt. Die griechische Mythologie ist besonders reich an derartigen Mutationen. Unter anderem w i r d dort von einem König Lykaon berichtet, der während eines Mals den Göttervater Zeus beleidigte und daraufhin in einen Wolf, die Verkörperung von Wildheit und Unkultiviertheit, verwandelt wurde. Dieser antike Vorläufer ist allerdings weit vom mittelalterlichen Werwolf entfernt, der, halb Tier, halb Mensch, zumeist als scheußliches, zuweilen auch unsterbliches Monster beschrieben wird, dessen Ziel darin besteht, unschuldige Menschen zu zerfleischen. Furchtbare Geschichten erzählen davon, wie er - frei von jeglichen menschlichen Moralgeboten - seine Opfer in mondhellen Nächten auf bestialische Weise umbringt, das noch warme Blut trinkt und die Eingeweide

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verschlingt. I n seltsamer Umkehrung des oben beschriebenen Prozesses der interpretatorischen Bedeutungsübertragung vom Tier auf den Menschen verbreitete sich bald der Glaube, dass tatsächliche Wölfe Menschen in Tiergestalt oder der als Tier verkleidete Teufel seien. Auch wenn die Unterschiede zum Tier erkannt wurden, stellten die aus der Mythologie herrührenden Negativcharakteristika eine allzu große Verlockung dar, Parallelen zu ziehen und die Unterschiede zwischen Mensch und Tier verblassen zu lassen. Die Attraktivität dieses imaginierten Status für Menschen lag vermutlich in der Wandlungsfähigkeit und der Annahme von nichtmenschlichen Eigenschaften wie der erhöhten Sensibilität für Gerüche, Laute und optische Reize. Dennoch wurde das Werwolfdasein aufgrund seiner Bestialität eher als Fluch denn als Gabe verstanden. Der Werwolf -Topos ist i m Viktorianismus erneut auf vielfältige Weise popularisiert worden, woran insbesondere die Gothic Literature und die Scientific Romance als Vorläufer der Science Fiction teilhaben. Insbesondere das erstere Genre knüpft in Form von Monstern, Hybridwesen und Vampir-Gestalten an die Traditionslinie an und verhandelt dabei typisch viktorianische Obsessionen, wie die Fortschrittsproblematik, die Gefährdung des Empire, den moralischen Tabubruch oder die Geschlechterrelation. Die Relevanz für den letzteren Aspekt stellt sich über eine dem Wolf und mehr noch dem Werwolf nachgesagte tödliche wie auch herausfordernde sexuelle Gefahr her. Weibliche Werwölfe wurden als mordende sluts , männliche als killer-rapists gesehen. Doch auch in andersgearteten Erzählungen wie Robert Louis Stevensons (1850-94) Dr Jekyll and Mr Hyde (1886) hat der (Wer)Wolf-Topos Spuren hinterlassen, selbst wenn der i m Selbstversuch verwandelte Mediziner eher einem degenerierten affenartigen Wesen gleicht: There was something strange in my sensations, something indescribably new and, from its very novelty, incredibly sweet. I felt younger, lighter, happier in body; w i t h i n I was conscious of a heady recklessness, a current of disordered sensual images running like a m i l l race in my fancy, a solution of the bonds of obligation, an u n k n o w n but not an innocent freedom of the soul. I knew myself, at the first breath of this new life, to be more wicked, tenfold more wicked, sold a slave to my original evil; and the thought, in that moment, braced and delighted me like wine. (Stevenson 1996/1902, 72)

I n der zehn Jahre später von H . G. Wells vorgelegten Erzählung The Island of Dr. Moreau (1896) erscheint dann ein ganzer Katalog von Mutationen, einschließlich des Wolfsmenschen: The t w o most formidable animal-men were my Leopard M a n and a creature made of Hyaena and Swine. Larger than these were the three bull creatures w h o pulled in the boat. Then came the Silvery Hairy Man, w h o was also the Sayer of the Law, M'ling, and a satyr-like creature of Ape and Goat. There were three Swine Men and a Swine Woman, a Mare-Rhinoceros creature, and several other females whose sources I did not 13 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 46. Bd.

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ascertain. There were several Wolf creatures, a Bear-Bull, and a Saint Bernard D o g Man. (Wells 2000/1896, 80/1)

Die von dem gewissenlosen Wissenschaftler Moreau durch Vivisektion geschaffenen Tiermutanten scheinen nachts am weitesten von ihrem vorgeblichen Menschsein entfernt zu sein: » [ . . . ] the Law, especially among the feline Beast People, became oddly weakened about nightfall; [ . . . ] then the animal was at its strongest; a spirit of adventure sprang up in them at dusk; they would dare things they never seemed to dream about by day« (Wells 1994/1896, 79). 1 Die schauerliche Familienvorgeschichte in Arthur Conan Doyles (1850-94) Sherlock Holmes-Ges chichte The Hound of Baskervilles (1902) kehrt hingegen die physischen Merkmale hervor: » [ . . . ] Standing over Hugo, and plucking at his throat, there stood a foul thing, a great, black beast, shaped like a hound yet larger than any hound that ever mortal eye has rested upon« (Doyle 1996/1902, 18). I n Hector H u g h Munros (Saki) (1870-1916) Kurzgeschichte »The She-Wolf« aus der Short Story Sammlung Beasts and Super-Beasts (1914) w i r d die Thematik dann bestenfalls noch satirisch aufgeriffen. D o r t gibt ein angeblicher Gelehrter des Schamanismus vor, während einer Party die Dame des Hauses in einen Wolf (She-Wolf) verzaubern zu können, schreckt sodann aber doch davor zurück. Clovis, der wiederholt auftretende Protagonist Sakis, nimmt den Plan in eigene Hände, indem er der verstörten Gesellschaft eine echte, aber gezähmte Wölfin aus dem Gehege eines befreundeten Lords als die versprochene Mutation vorführt: »In various attitudes of helpless horror or instinctive defence they confronted the evil-looking grey beast that was peering at them from amid a setting of fern and azalea« (Saki 1994/1914, 89). Das Untier w i r d schließlich mit Zuckerstückchen ruhig gestellt, während die eingeweihte und wieder zurückverwandelte aristokratische Dame von ihren vermeintlichen Erfahrungen erzählt. Der Schamanenlehrling hat beschämt das Nachsehen ob der gestohlenen Schau. I m Unterschied zum Wolf als realem Tier, dessen biologische Existenz zu einem aus der menschlichen Wahrnehmung und Imagination erwachsenen Kulturbild in Beziehung tritt, gehört der Werwolf, zusammen mit einer großen Vielfalt anderer Monster, zu den »cultural constructs that invite both interpretation and criticism« (Goetsch 2002, 5). 2 Derartige Konstrukte sind rein 1

Die aus beiden Büchern sprechende Furcht vor Degeneration w i r d anhand der Manie viktorianischer Hundeliebhaber i m Weiteren noch ausführlicher besprochen. Z u m Fortschrittsdiskurs und zur Evolutionsthematik i m Viktorianismus siehe auch Hermann Josef Schnackertz, Darwinismus und literarischer Diskurs (München 1992), Kapitel IV, 96-133. 2 Vgl. auch J. J. Cohen: » [ . . . ] [monsters] bear self-knowledge, human knowledge and a discourse all the more sacred as it arises from the Outside. These monsters ask us how we perceive the world, and how we have misrepresented what we have attempted to place. They ask us to revaluate our cultural assumptions about race, gender, sexuality, our

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menschliche Schöpfungen, die auf ihren Schöpfer zurückweisen und dessen Zwecken dienen. Derartige Funktionen können auch kulturell aufgeladenen Tierbildern zukommen. So galt der Wolf in Abhängigkeit vom Menschen innerhalb der Jahrtausende währenden Auseinandersetzung als Bote des Todes, als Fruchtbarkeitssymbol, Stellvertreter Satans auf Erden, Wächter des Heiligen, Städtegründer, wütender Krieger, Weltverschlinger oder Stammvater von Herrscherdynastien wie Dschingis-Khan. Doch letztlich ist es die v o m Menschen unabhängige Existenz des Tiers, die, in neue Bedeutungszusammenhänge gestellt, eine allein anthropozentristische Perspektive derartiger Sinnzuweisungen und symbolhafter Auslegungen wiederholt zu übersteigen und herauszufordern vermag. I m England des frühen 19. Jahrhundert war das Bild vom Wolf weitgehend zum Klischee verkommen, dessen literarische Produktivität sich aufgrund der negativen Uberzeichnung in den Legenden, Märchen und Fabeln, in der Bibel, den Bestiarien und i m Wortschatz nahezu erschöpft hatte. Die Balance zwischen dem biologischen Wesen und dem kulturellen A b b i l d war aufgrund der zeitigen Ausrottung des Wolfs und der Verselbständigung des kulturellen Konstrukts einseitig verschoben. Paradoxerweise wies das stereotype Wolfsbild neben den Negativa immer auch heroisch-romantische Konnotationen auf. 3 Als ein Tier der Vergangenheit profitierte der Wolf kaum von der am Ende des 18. Jahrhunderts erfolgenden Sentimentalisierung der Mensch-Tier-Beziehung. Dies zeigt ein Blick auf die romantische Literatur, w o der subjektiv-sentimentalische Gebrauch von Tieren auf unmittelbarem Naturerleben oder auf einem nachvollziehbaren glaubwürdigen Naturbericht beruht. Daraus erwachsen ästhetisierende und romantisierende Haltungen gegenüber dem Tier als Naturwesen wie das i m Fall von Coleridges Albatros (»The Rime of the Ancient Mariner«, 1797) oder Keats' Nachtigall (»Ode to a Nightingale«, 1820) i n ihrer

perception of difference, our tolerance toward its expression. They ask us w h y we have created them« [Jeffrey Jerome Cohen, »Monster Culture (Seven Theses)< in: J. J. Cohen, Monster Theory: Reading Culture (Minneapolis, 1996), 3 - 2 5 , hier 20]. 3 Diese Sicht verdankt sich nicht zuletzt dem i m Viktorianismus verbreiteten Interesse an der nordischen Sagenwelt, von deren Popularisierung späterhin die Wagner-Begeisterung in England mitgetragen wurde. D e m Wolf kommt in der nordischen Mythologie ein besonderer Platz zu. Er erscheint als Symbol des Göttervaters und Kriegsgotts O d i n wie auch i m Mythos vom Fenriswolf. Fenrir oder der Fenriswolf, Sohn des schönen und intriganten Gottes L o k i , w i r d so groß und gefährlich, dass die Götter entscheiden, ihn zu vernichten. Der Gott Tyr übernimmt die herausfordernde Aufgabe, eine Leine u m Fenrirs Hals zu schlingen. Tyr verliert dabei seine Hand, doch Fenrir w i r d durch ein magisches Band gefesselt, das nicht zerreißen kann. Erst wenn die Welt ihr Ende finden wird, w i r d Fenrir seine Fesseln sprengen, und er und die anderen Wölfe werden H i m m e l und Erde und auch der Gott O d i n verschlingen. Nachdem Odins Sohn Fenrir getötet hat, w i r d die Welt wieder geboren werden.

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jeweiligen symbolischen Aufhebung der Fall ist. Dennoch ist der Wolf ein natürliches Lebewesen, das sich nicht allein auf die ihm traditionell zugewiesenen kulturellen Funktionen reduzieren lässt, weshalb er in einem Zeitalter der Naturwissenschaft, des positivistischen Denkens und der Infragestellung kultureller Werte erneute Attraktivität erlangen konnte. Das kulturelle Bild und die natürliche Erscheinung traten wiederum bedeutungsstiftend zueinander, indem letzteres erfolgreich gegen das statische Image des verfemten Tiers ausgespielt werden konnte. Der Boden dazu wurde von dem bürgerlichen Natur- und Tierverständnis bereitet, die Umwertung erfolgte innerhalb einer neuen Kontextualisierung der Mensch-Tier-Beziehung am Ende des 19. Jahrhunderts. Allerdings musste die fortgeschriebene Verteufelung des Wolfs in England wie auch anderswo noch lange zur Rechtfertigung und Zelebrierung des Sieges der Zivilisation über die Natur herhalten. Auch das modifizierte Bild vom Wolf ist ein kulturelles Konstrukt, das Stereotype aufgreift. Allerdings werden den biologischen Faktoren in einem sich wandelnden sozio-kulturellen Kontext, der angesichts von Imperialismus und aufkommender Massengesellschaft das traditionelle bürgerliche Verständnis übersteigt, neue Bedeutungen zugeordnet. Z u einer Zeit als der Wolf besiegt war, erlebte sein kulturelles Bild somit eine radikale Verkehrung und Aufwertung, wozu der Sozialdarwinismus mit seiner neuartigen Rechtfertigung des Rechts des Stärkeren wesentlich beitrug. Das neue Bild vom Wolf lieferte kritische Interpretationsansätze in sozialer, kultureller und religiöser Hinsicht; seine natürlichen Eigenschaften boten ein breites Spektrum von Analogien. Das vornehmlich in der Trivialliteratur fortwirkende traditionelle Bild vom Wolf fungierte dagegen nunmehr als ein kulturelles Pendant, von dem man sich wirkungsvoll absetzen konnte. Darin unterscheidet sich der Wolf von Löwen, Hyänen und anderen exotischen Tieren, die wegen ihres ausschließlichen Fabelcharakters und des nicht heimischen Ursprungs weniger attraktiv für eine derartige kulturgeschichtliche Neubelebung waren. Als ausgestorbenes Tier war der Wolf in gewissem Sinn vergessen und entging den pragmatischen Evaluationsbemühungen der bürgerlichen Naturauffassung. Derart frei von Zuordnung und Nutzfunktion i m utilitaristischen Verständnis, war er auch weitgehend frei von moralischen Konnotationen des viktorianischen Tierverständnisses und somit letztlich frei verfügbar. Die modifizierten Darstellungen und Interpretationen kamen nicht selten einer Anti-Legende gleich, die ihren Ursprung allerdings nicht mehr in England hatte, sondern von den exotischen Regionen des British Empire oder anderer Erdteile dorthin zurückwirkte. Eins der bekanntesten und erfolgreichsten literarischen Beispiele des neuen Wolfsbilds sind Rudyard Kiplings Jungle Books (1894/95), die von den Abenteuern des Waisenjungen M o w g l i handeln, der als Ziehkind in einem Rudel von Wölfen aufwächst. Verfasst in den Wäldern Vermonts, Kiplings zeitweiligem

Wilderness

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amerikanischen Wohnsitz, greifen die Geschichten auf populäre Berichte des »child lifting« durch Wölfe aus Indien zurück, von denen er vermutlich durch seinen Vater Kenntnis hatte. 4 Kiplings Geschichten stehen in der abendländisch-christlichen Tradition der beast fables mit ihrem moralisierenden Tiergebrauch. Der Fabelcharakter der einzelnen Geschichten w i r d von einem Erzählgestus getragen, der nicht nur den Tieren Stimme verleiht, sondern auch aus deren Sicht die menschliche Welt verfremdet. Diese narrative Technik greift Kipling später erneut in seiner Short Story »Thy Servant a Dog« (1930) auf und vervollkommnet sie. O b w o h l Kiplings Darstellung naturwissenschaftlichbiologischer Glaubwürdigkeit entbehrt, ist es doch kein reines Phantasiegebilde, da er eine anthropomorphisierte Dschungelwelt und eine realistische Menschenwelt als kontrastive Pole miteinander verbindet, und dabei den Zwischenraum, den M o w g l i zeitweilig ausfüllt, thematisiert. I n ihnen erfolgt eine beständige Gradwanderung zwischen moralisierend-realistischem A n spruch und märchenhafter Darstellungsweise. Die sich aufdrängenden Analogiebildungen spielen auf die zeitgenössische Situation des British Empire an, vermitteln jedoch auch darüber hinausweisende Aussagen. So dienten die wolves cubs als Anregung für das von Kiplings Freund Baden-Powell 1908 ins Leben gerufene Boy-Scouts Movement, in dem mit Vorliebe Begebenheiten aus den Jungle Books nachgestellt wurden. Bei Kipling erfolgt eine bis dahin nicht gekannte konsequente Umwertung des Wolfsbildes. Zwar werden die biologischen Aspekte, auf denen das vormalige Negativbild beruht, nicht ausgespart, doch steht nunmehr das Wolfsrudel in seiner moralischen Aufwertung als funktionierende soziale Gemeinschaft - repräsentativ in seiner familiären wie auch aristokratischen Ordnung - , die sich scheinbar naturgegeben in den Gesamtzusammenhang des Dschungellebens einfügt. Dieses w i r d durch eine Sammlung von Moralgrundsätzen und Festlegungen geregelt, die als unumstößliches Law Anerkennung gebieten, sich jedoch nicht auf darwinistische oder sozialdarwinistische Prämissen reduzieren lassen.5 Zwei Schlüsselwörter in diesem Konzept heißen obey und fear. Damit soll aus einem konservativ-paternalistischen Verständnis heraus ein hierarchisch strukturiertes sinnvolles Leben aller Tiere i m Dschungel garantiert werden: The Law of the Jungle - which is by far the oldest law in the world - has arranged for almost every kind of accident that may befall the Jungle-People, tili now its code is as perfect as time and custom can make it. [ . . . ] the Law was like the giant creeper, 4 Kiplings Vater Lockwood war Museumskurator in Lahore und verfügte über gute Kenntnisse der indischen Kultur, die er später systematisierend in der Studie Beast and Man in India (1904) veröffentlichte. 5 Z u Kiplings Gesetz vgl. Wilhelm Gauger, Wandlungsmotive Prosawerk (München 1975).

in Rudyard

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because it dropped across every one's back and no one could escape. (Kipling 1994/ 1894,153)

Unübersehbar sind die positiven Eigenschaften, die von Kipling dem Raubtier zugeschrieben werden und Biologisches mit Moralischem vermischen: Familiensinn, Fairness, Disziplin, Jagdeifer, Freiheitssinn, Selbstregierung nach anerkannten Regeln i m Sinne einer naturgegebenen Notwendigkeit. Ganz i m Gegensatz dazu stehen die gesetz- und führungslosen Affen des Bandar-log, die als in den Baumwipfeln herumlungernde Taugenichtse beschrieben werden. O b w o h l sie dem Menschen nahestehen, manifestiert sich dessen Überlegenheit, wie am Beispiel Mowglis vorgeführt, i m ungebrochenen Blickkontakt und i n der Beherrschung des Feuers. Für die in den Jungle Books erfolgende Moralisierung, Interpretation und Selektion erscheint das von Kipling als verfügbar und wandlungsfähig begriffene naturnahe Wolfsbild des indischen Dschungels besser geeignet als das kulturell kompromittierte Hundebild seiner Zeit, das viel zu eng mit gesellschaftlichen Gegebenheiten Englands verwebt war. Dennoch findet Kipling i m Sinne der sich neugestaltenden Mensch-Tier-Beziehung u m die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert keinen eigentlichen Zugang zur Wolfsperspektive wie dies bei Jack London stellenweise erfolgreich literarisch konstruiert wird. Jack Londons Wolf- und Hundeabenteuer sind Kipling verpflichtet, den der Amerikaner als literarisches Vorbild ansah, wenngleich er sich aufgrund seiner sozialistischen Sympathien von dessen politischen Ansichten distanzierte. Londons literarische Behandlung einer letztlich freien Entscheidungsfähigkeit seiner Hunde- und Wolfscharaktere erweist sich als Antithese zu Kiplings geordneter und autoritärer Dschungelwelt. Die komplementäre Struktur von Londons beiden Geschichten Call of the Wild (1903) und White Fang (1906) ist deutlich erkennbar: Während er in dem H u n d Buck den ungebundenen männlichen Held der amerikanischen Frontier vorführt, der in einer feindlichen U m w e l t überlebt und letztlich zum »triumphant primordial beast« in der Natur Alaskas wird, erlebt White Fang seine zivilisatorische Belohnung für all die überstandenen Strapazen und Härten, die ihn aus der nordischen Kälte in das milde Klima Kaliforniens führten. Doch bei London ist das triumphierende Tier in der Wildnis mehr als sein zivilisierter Gegenpart an der Seite des Farmers. London beabsichtigte nicht, eine menschliche Analogie zu schreiben, wie er in seinem Essay »The Other Animals« darlegt: I wrote, speaking of my dog-heroes: >He did not think these things; he merely did them.< etc. A n d I did this repeatedly, to the clogging of my narrative and in violation of my artistic canons; and I did it in order to hammer into the average human understanding that these dog-heroes of mine were not directed by abstract reasoning, but by instinct, sensation, and emotion, and by simple reasoning. (Zitiert in Allen 1983, 81/82)

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Zwar ist Buck, der Schlittenhund, ein proletarischer Held, doch sieht London die Hunde eher als fellow-creatures, die dem Menschen nicht gleichen und ihm häufig sogar überlegen sind. London verurteilt eine rein menschliche Perspektive bei der Tierdarstellung, die er anderen Naturschilderern unterstellt. Seine beiden Erzählungen weisen durch die objektiviertere Erzählinstanz und nicht zuletzt durch die unmittelbareren persönlichen Kenntnisse geographischer und klimatischer A r t einen engeren Realitätsbezug auf als Kiplings Dschungelbücher. 6 I n der Beschreibung der Alaska-Wölfe gibt er Gewalt und Brutalität in der Natur mit Notwendigkeit und detailgetreu wieder, während Kiplings Darstellungen vergleichsweise harmlos ausfallen, selbst wenn das Töten aus Hunger auch dort gerechtfertigt erscheint. Trotzdem muss den authentischen Erfahrungen des Autors eine gewisse Romantisierung zugeschrieben werden, denn nirgendwo erfolgte eine so grausame und brutale Ausrottung der Raubtiere wie in den USA. Unvertraut mit den Praktiken der weißen Siedler gingen hunderttausende Wölfe in die Fallen der Jäger und schluckten mit Strychnin vergiftete Köder vornehmlich während der Ausrottung der Büffel. Die Vernichtung ging mit der Verschiebung der Last Frontier von Ost nach West einher (vgl. Zimen 1993, 386). Bei London w i r d das Tier zum entscheidenden Aktionsträger der Handlung und kann daher bestimmten Vermenschlichungen nicht entgehen, zumal sich diese in der Beschreibung des Familienlebens oder motivierter Handlungen geradezu aufdrängen und zum anderen eingangs der Erzählung notwendig für ein Akzeptieren, Identifizieren und Orientieren des Lesers sind. 7 London findet häufig einen glaubwürdigen Zugang zu dem von ihm literarisch (re)konstruierten tierischen Bewusstsein, wenngleich seine Versuche qualitativ variieren: In fact, the gray cub was not given to thinking - at least, to the kind of thinking customary of men. His brain worked in d i m ways. Yet his conclusions were as sharp and distinct as those achieved by men. H e had a method of accepting things, without questioning the w h y and wherefore. I n reality, this was the act of classification. H e was never disturbed over why a thing happened. [ . . . ] Logic and physics were no part of his mental makeup. (London 1994/1906, 50)

Rudyard Kiplings und Jack Londons Texte weisen aufgrund ihrer Thematik und Konzeption räsonnierende Tiere auf, was sie von rein dekorativ-beschreibender Naturliteratur unterscheidet, sie i m narrativen Stil aber wiederum an die Kinder-, Abenteuer-, oder Unterhaltungsliteratur heranrückt. Dennoch ist 6 In einem notorischen Artikel aus dem Jahr 1907 disqualifizierte Präsident Theodore Roosevelt London als nature-faker und bezichtigte ihn, Natur und Tiere in übertriebener und unglaubwürdiger A r t und Weise zu vermenschlichen (siehe Auerbach 1996, 25). 7

Für eine detaillierte Analyse und Lesart siehe Auerbach 1996.

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ihr partieller Ausbruch aus der traditionellen anthropozentristischen Betrachtungsweise des Mensch-Tier-Verhältnisses mit literarischen Mitteln von großer Bedeutung für die Kultur des 20. Jahrhunderts und möglichen Grenzüberschreitungen. Dadurch eröffneten sich neue Perspektiven für beide Pole dieses dynamischen Verhältnisses. Das Zusammenspiel von Symbolhaftigkeit und kultureller Legendenbildung, fehlender biologischer Faktizität und erneutem naturwissenschaftlichen Interesse am Wolf vor dem sozialen Hintergrund des 19. Jahrhunderts schufen die Möglichkeit der Umwertung und Dynamisierung eines statisch gewordenen kulturellen Bildes, wie sie sich in den Entwürfen der ordnungsorientierten Dschungelwelt Kiplings oder der zivilisationskritischen Sicht Londons manifestieren. So konnte der Wolf geradezu idealerweise für die spätviktorianische wie auch für die US-amerikanische Literatur der Zeit bedeutsam werden und neben dem Affen und dem H u n d zu einem wichtigen Medium und Agens i m menschlichen Selbstverständnis wie auch in der neuen Mensch-Tier-Beziehung werden. 8

II. Der H u n dm i b ü r g e r c i lh e n N a t u r v e r s t ä n d n s i I m Unterschied zum bestialischen Wolf galt der H u n d seit Alters her als intelligentes Tier. Die menschliche Zuneigung zu der Spezies erklärt sich aus der Tatsache, dass canine familiaris das erste Tier war, das der prähistorische Mensch erfolgreich domestizierte. Anders als es bei den Schakalen und Wölfen der Fall war, wurde dem H u n d nachgesagt, dass er seine bestialischen Impulse überwunden hätte, weshalb man ihm Weisheit und Spiritualität zuschrieb (Ziolkowski 1983, 89). Die Belege für den Sonderstatus des Hundes sind vielfältig: I n den alten Kulturen diente er als Ersatz für Menschenopfer; Piaton entwickelte, anknüpfend an die dem Tier zugeschriebene philosophische Gabe, den literarischen Topos der »sprechenden HundeHound of the Baskervilles< kann als Kreuzung von Bloodhound und Mastiff in dieser Hinsicht als Warnung vor einer Degenerierung reiner Rassenhunde gesehen werden. Andererseits birgt die Einbindung der Kreatur in ein perfides Verbrechen und die Steigerung seines furchteinflößen-

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den Äußeren durch Phosphorizierung auch eine Warnung vor der scheinbar grenzenlosen Manipulierbarkeit dieser Spezies: I n mere size and strength it was a terrible creature which was lying stretched before us. I t was not a pure bloodhound and it was not a pure mastiff; but it appeared to be a combination of the t w o - gaunt, savage, and as large as a small lioness. Even now, in the stillness of death, the huge jaws seemed to be dripping w i t h a bluish flame, and the small, deep-set, cruel eyes were ringed w i t h fire. (Conan Doyle 1996/1902,157)

Es ist genau an diesem Scheidepunkt, w o ein überzüchtetes Hundebild einem neu belebten urtümlichen Wolfsbild entgegensteht. Angesichts der immensen Popularität der Hunde i m Viktorianismus erscheint deren literarische Präsenz nur folgerichtig. Allerdings ist dies keine Neuheit der Epoche. Der aus der Antike herrührende Topos der sprechenden Hunde wurde i n der Renaissance, vornehmlich in Spanien durch Cervantes (Coloquio de los perros) und in Frankreich durch Rabelais (Gargantua et Pantagruel) erfolgreich fortgeschrieben, u m dann i m 19. und 20. Jahrhundert seine Verkehrung und Parodierung zu erfahren. Bereits vor der Wertschätzung des Hundes als exemplarisches Haustier der Mittelklasse fand er vereinzelt Eingang in die bürgerliche Romanliteratur. Dafür steht beispielhaft Francis Coventrys pikareske Geschichte History of Pompey the Little; or, The Life and Adventures of a Lap-Dog (1751), die sich bewusst an Henry Fieldings Tom Jones orientiert und die Lebens- und Reiseabenteuer eines Hundes zwischen Bologna und London in den Jahren 1735-49 erzählt. 1 1 Die viktorianischen Lieblinge gelangten i m Vergleich zu der ab den 1850er Jahren einsetzenden Hundeeuphorie erst mit Verzögerung zu literarischen Ehren. Dafür setzte dann am Ende des 19. Jahrhunderts eine wahre Flut von Hundeliteratur meist trivialer Natur in England und Amerika ein. 1 2 Sehr populär war beispielsweise die Leidensgeschichte von König Edward V I I . und seinem treuen H u n d Caesar unter dem Titel Where's Master (1910), in der dieser Begebenheiten u m die Krankheit, den Tod und das Begräbnis des geliebten 11 Die zumeist von weniger bekannten Autoren verfassten biographischen Hundegeschichten erlebten ab der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine stetig wachsende Auflage wie die Biography of a Spaniel (1797), vermutlich eine Übersetzung aus dem Deutschen doch wahrscheinlicher ein Werk eines relativ unbedeutenden englischen Autors, oder die anonyme Erzählung Dog of Knowledge; or Memoirs of Boh, the Spotted Terrier: Supposed to Be Written by Himself (1801). 12 Allein in den USA erschienen in kurzer Abfolge ein Dutzend vermeintliche Selbstdarstellungen der geliebten Vierbeiner, von denen einige sogar beachtliche, wenn auch nur kurzzeitige Verkaufserfolge wurden: Vic: The Autobiography of a Fox Terrier y 1892; The Autobiography of an Irish Terrier ; 1904; Pup: The Autobiography of a Greyhound , 1905; Fairy: The Autobiography of a Real Dog, 1907, and The Autobiography of Jeremy L.y The Actor Dogy 1910.

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Herren der befreundeten Terrierhündin Daisy erzählt. Bekannte Autoren und bekennende Hundeliebhaber jener Zeit waren Vita Sackville-West, John Galsworthy und Rudyard Kipling. Während Galsworthy zusammen mit seiner Frau in nahezu minutiös-dokumentarischer Detailtreue über seine Erfahrungen mit Hunden berichtete 13 , erfahren sie in Kiplings »Thy Servant a Dog« (1930) eine literarische Behandlung, die die animalische Perspektive in Grammatik und Wortwahl berücksichtigt und gleichzeitig Themen des Autors wie die Initiation einer jüngeren Generation fortschreibt. Ein typisches Beispiel für derartige Erzählungen ist der seinerzeit äußerst populäre Hunderoman Greyfriars Bobby (1912) der amerikanischen Unterhaltungsschriftstellerin Eleanor Atkinson (1863-1942). Darin w i r d die melancholisch-rührselige Geschichte eines Terriers - »no lady's lap-dog« (Atkinson 1996/1912, 15) - erzählt, der vom herrenlosen, umherstreunenden H u n d zum sozialen Fokus einer ganzen Stadt avanciert und dem am Ende von einer dankbaren menschlichen Gemeinschaft ein Bronzestatue gesetzt wird. Der Name des Hundes erklärt sich aus der Verehrung seines ursprünglichen Herrn für Robert (Bobby) Bums und dem Schauplatz der Handlung, dem Friedhof Greyfriars in einem populären Armenviertel von Edinburgh. Die Unkenntnis der tatsächlichen kulturell-geographischen Gegebenheiten - Atkinson stützt sich allein auf Bücherwissen - und die Rückdatierung des Geschehens auf eine Zeit kurz nach dem Krimkrieg verleihen der Erzählung eine Unwirklichkeit, die ans Märchenhafte grenzt, wie auch eine gewisse Langatmigkeit. Dennoch bringt Atkinson einige, für ein Buch dieser A r t , gewagte neue Aspekte ein. Zahlreiche ihrer Charaktere sprechen über weite Strecken hinweg ein Idiom der Region. Bobby ist jedermanns und niemands Hund, da der alte Schafhirte, dem der Terrier über den Tod hinaus die Treue hält, gleich eingangs der Erzählung verstirbt. Diese Auflösung eines traditionellen Herr-Diener-Verhältnisses könnte als demokratischer Aspekt gesehen werden. Andererseits schreibt sie ihrer Geschichte eine typisch anthropozentristische Perspektive ein. 1 4 Zwar ist der H u n d in seinem aktiven, aber kleinen Gehirn fähig zu einer Folge von Assoziationen und darüber hinaus gutmütig, aufgeweckt und clever, doch versteht er die menschlichen Regeln nicht automatisch, sondern muss sie wie Lektionen lernen. So ist Bobbys Verständnis sehr beschränkt und eher instinktiv, und sein Gedächtnis stützt sich auf den Geruchssinn. Atkinsons Buch ist auch dem gängigen bürgerlichen Verständnis vom H u n d verpflichtet, da Aussehen (appearance) und Herkunft (pedigree) 13 14

Galsworthys postum erschienene Hundeerlebnisse [The DearDogs

(1936)].

Ziolkowski unterscheidet zwischen anthropocentric (relative) und cynocentric (absolute) narratives , wobei er unter Letzterem Hundegeschichten versteht, die aus der Perspektive des Hundes erzählt werden (Ziolkowski 1983, 95).

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eine wichtige Rolle spielen: »Although of a subarctic breed, fitted to live shelterless if need be, and to earn his living by native w i t , Bobby had the beauty, the grace, and the charming manners of a lady's pet. I n a litter of prick-eared, wire-haired puppies Bobby was a >sport«< (Atkinson 1996/1912, 21). Der mitgelieferte Stammbaum reicht bis in die Zeiten Königin Elizabeth I. zurück: I t is said that some of the ships of the Spanish Armada, w i t h French poodles in the officer's cabins, were b l o w n far north and west, and broken up on the icy coasts of the Hebrides and Skye. Some such crossing of his far-away ancestry, it w o u l d seem, had given a greater length and a crisp wave to Bobby's outer coat, dropped and silkily fringed his ears, and powdered his useful, slate-grey colour w i t h silver frost. But he had the hardiness and intelligence of a sturdier breed, and the instinct of devotion to the working master. (Atkinson 1996/1912, 21/22)

Bobbys Qualitäten als Skye Terrier liegen in der natürlichen Gabe, kleinere Tiere aus Löchern auszugraben, doch dem somit vorherbestimmten drögen Schicksal als H o f - oder Jagdhund entgeht er, indem er sich seinen Fluchtweg in die Freiheit gräbt. Demgegenüber gewinnt er das Vertrauen des gestrengen Friedhofswärters durch Arbeit, indem er der Rattenplage auf dem altehrwürdigen Gottesacker ein Ende bereitet. Diese Auferlegung des Arbeitsethos auf die animalische Kreatur kann als typisches Beispiel für die gängige Moralisierung gelesen werden: The furtive life is not only perilous, it outrages every feeling of an honest dog. I t is hard for h i m to live at all without the approval and the cordial consent of men. The human order hostile, he quickly loses his self-respect and drops to the Pariah class. [ . . . ] Instinctively any dog struggles to escape the fate of the outcast. By every art he posseses he ingratiates himself w i t h men. One that has his usefulness in the human scheme of things often is able to make his o w n terms w i t h life, to w i n the niche of his choice. (Atkinson 1996/1912, 88)

Die literarische Beschäftigung mit dem H u n d blieb in der Folgezeit nicht nur der zeitgenössischen Trivialliteratur oder den Phantasie- und Horrorgeschichten vorbehalten. Virginia Woolfs Hundeerzählung Flush (1933) steht beispielgebend für die literarischen Möglichkeiten der Thematik. Dabei überrascht, wie stark der Text von der zeitgenössischen K r i t i k beachtet wurde, wenngleich er i m Verhältnis zu ihren andern modernistischen Experimentaltexten zumeist kritisch-abwertend besprochen wurde. 1 5 Beispielsweise titelte die Rezension i m Times Literary Supplement vom 5. Oktober 1933 »Brown Beauty«, w o m i t auf die triviale Popularität von Anna Sewells Pferde-Erzählung angespielt wurde. Anknüpfend an die Modeerscheinung der Hundebiographie 15 Vgl. hierzu die Sammlung der Rezensionen und Kritiken von Eleanor McNees (Ed.), Virginia Woolf: Critical Assessments, Vol. 2 (Mountfield 1994) und Robin Majumdar & Allen McLaurin (Eds.), Virginia Woolf: The Critical Heritage (London 1975).

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des Spätviktorianismus und der Edwardianischen Zeit zeichnet Woolf aus modernistischer Retrospektive den Lebensweg von Elizabeth Barrett-Brownings (1806-1861) Cockerspaniel Flush nach. Sie spielt nicht nur ironisch mit den gängigen Elementen des populären Sujets wie Herkunft und Aussehen des Hundes, sondern nutzt das Genre für ihre genuinen modernistischen Interessen, insbesondere für die Darstellung der weiblichen Psyche, die K r i t i k an patriarchalischen Strukturen sowie philosophischen Fragestellungen nach der Konstituierung von Identität und Weltsicht. Ähnlich wie die Tiercharaktere bei Kipling und London nimmt der H u n d auch bei ihr die Funktion einer beobachtenden und wertenden Zwischeninstanz zwischen Natur und menschlicher Gemeinschaft ein, wobei die Verfremdung der Perspektive sowohl einen neuen Zugang als auch K r i t i k an sozialen Erscheinungen ermöglicht. Deutlich w i r d dies unter anderem bei der Liebeswerbung und der daraus erwachsenden Beziehung zwischen Elizabeth und Robert Browning, die der H u n d aus der Sicht des vertrauten Freundes seiner Herrin skeptisch verfolgt. Unter Anspielung auf die mittelalterliche Tierikonographie in der Malerei, bei der Hunde Loyalität zu verschiedenen Heiligen verkörperten, zeigt sich Flush zu Füßen seiner Herrin voller Verständnis und Treue, während er die traditionelle Symbolisierung von M u t und Allmacht gegenüber dem neuen Herren, der sich wie ein Dieb in die animalisch-menschliche Vertrautheit eingeschlichen hat, demonstrativ ablehnt. Später weicht das aggressive Verhalten der Einsicht, dass er als H u n d die neue Situation notgedrungen akzeptieren muss. Neben der Aufarbeitung von Elizabeth Barrett-Brownings Briefwechsel und Gedichten, die Woolf ihrer Erzählung zugrunde legt, liefert sie wichtige kulturgeschichtliche Details zur viktorianischen Hundemanie. So erfährt der Leser, dass Hunde aus gutem Haus aus lilafarbenen Wasserschüsseln schlürfen und in ständiger Gefahr schwebten, in den Parks und auf den Straßen von London von Lösegelderpressern gekidnappt zu werden, da ein Gesetz von 1846 den freien Auslauf der geliebten Vierbeiner ohne Leine verbot. Andererseits ist Woolfs Erzählung ebenso eine sozialkritische Geschichte kultureller Transformation, der sowohl Mensch als auch H u n d mit der Ubersiedlung nach Italien unterworfen sind. Erste Anzeichen zeigen sich in einer erhöhten Sensibilisierung gegenüber Klima und Natur des Südens. Die Transformation der Sinne findet ihr Pendant i m Politischen, w o der Freiheitswille der Italiener mit der Rigorosität und Uberregulierung der englischen Klassengesellschaft kontrastiert. Woolf bricht ferner mit einem bis dahin strikt gewahrten Tabu der traditionellen Tierbiographie, indem sie Flushs glückbringende südländische Promiskuität anspricht und diese der steifen englischen /Wzgree-Tradition als natürliche Alternative entgegenstellt. Sie lehnt die englische Manie der pure breed ab, w o r i n sie mit Jack London übereinstimmt, der in seinen Hundeerzählungen fast immer Bastarden den Vorzug gibt. 14 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 46. Bd.

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Bei Woolf erscheint der H u n d als ein zivilisatorisches Produkt, dem dennoch der Sinn für seinen natürlichen Ursprung nicht abhanden gekommen ist. Über den ausgezeichneten Geruchssinn, der allen Kaniden eigen ist, versucht sie Zugang zu dessen Weltverständnis zu erlangen. Dieser tierische Sensualismus w i r d von menschlichen Erwägungen und Spekulationen begleitet, die dem räsonierenden H u n d unterstellt werden: The human nose is practically non-existent. The greatest poets i n the w o r l d have smelt nothing but roses on the one hand and dung on the other. The infinite gradations that lie between are unrecorded. Yet it was in the world of smell that Flush mostly lived. Love was chiefly smell; form and colour were smell; music and architecture, law, politics and science were smell. To h i m religion itself was smell. To describe his simplest experience w i t h the daily chop or biscuit is beyond our power. N o t even Mr. Swinburne could have said what the smell of Wimpole Street meant to flush on a hot afternoon in June. As for describing the smell of a spaniel mixed w i t h the smell of torches, laurels, incense, banners, wax candles and a galand of rose leaves crushed by a satin heel that has been laid up in camphor, perhaps Shakespeare, had he paused in the middle of writing Anthony and Cleopatra [ . . . ] (Woolf 2002/1933,124/25)

Flush lernt Florenz auf eine A r t und Weise kennen, wie es weder George Eliot noch John Ruskin jemals hätten erfahren können: »He knew it as only the dumb know. N o t a single one of his myriad sensations ever submitted itself to the deformity of words« (Woolf 2002/1933, 127). A m Ende der Erzählung konstatiert Woolf eine grundlegende Differenz zwischen Tier und Mensch trotz der gemeinsamen Ursprünge. Jedoch vermag die Begegnung zwischen den Kreaturen verborgenes Potential in beiden zu erwecken. Woolf entwirft damit das Ideal einer gegenseitig gewinnbringenden Partnerschaft zwischen Mensch und Tier: »Broken asunder, yet made in the same mould, each, perhaps, completed what was dormant in the other. But she was a woman; he was a dog« (Woolf 2002/1933, 153). O b w o h l zahlreiche Beispiele aus der Tierliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Trivialliteratur zuzuordnen sind, bergen manche davon ein Potential an experimentellen literarischen Möglichkeiten und Techniken, die späterhin erfolgreich i m Modernismus entwickelt wurden. Durch das Tier konnte gleichsam aus der Mitte der menschlichen Gesellschaft heraus aus anderer Perspektive beobachtet und das Andere dorthin eingebracht werden. Dennoch bleibt die Frage offen, ob eine prinzipiell andere Sichtweise als die anthropozentristische in der Literatur möglich ist. Die Beschreibung des tierischen Verhaltens mittels menschlicher Sprache und Eigenschaften bedingen nahezu automatisch eine anthropomorphe Darstellung der Tiere, die auf eine menschähnliche, häufig moralisierende Repräsentation oder Analogiebildung hinauslaufen. Dennoch haben einige dieser literarischen Tierdarstellungen durch den Versuch des Mitdenkens und Bezugnehmens auf das Andere, A n i -

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malische, E i n s e i t i g k e i t e n u n d m e n s c h l i c h e Selbstbezogenheit herausgefordert. N e b e n d e m Spiel m i t P e r s p e k t i v e n u n d E r z ä h l i n s t a n z e n , d e n i n t i m e n B e o b a c h t u n g e n u n d d e n p s y c h o l o g i s i e r e n d e n S e l b s t a u s k ü n f t e n der Verfasser ist das Verw i s c h e n v o n G e n r e g r e n z e n v i e l l e i c h t eins der w i c h t i g s t e n Resultate d e r l i t e r a r i schen A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e r m o d e r n e n T i e r t h e m a t i k . D a d u r c h w u r d e n w e s e n t l i c h e T e n d e n z e n i n d e r K u l t u r u n d L i t e r a t u r des 20. J a h r h u n d e r t v o r b e r e i t e t , die heute i n d e r Science Fiction , i m Cartoon

mit

u n d i n der K i n d e r l i t e -

r a t u r w i e a u c h i m T i e r - u n d A n i m a t i o n s f i l m a l l g e g e n w ä r t i g sind.

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Musikalischer U n t e r g a n g des Abendlandes. Z u r I n t e r m e d i a l i t ä t des O r a t o r i u m s Apocalipsis cum figuris i n T h o m a s M a n n s R o m a n Doktor Faustus Von Barbara Beßlich

Thomas Manns Doktor Faustus ist ein Künstlerroman und ist auch ein Deutschlandroman. Sein Protagonist, der deutsche Tonsetzer Adrian Leverkühn, komponiert i m Jahre 1919, sieben Jahre nach seinem Teufelspakt, sein erstes Hauptwerk, Apocalipsis cum figuris, ein Oratorium, das vom Teufel inspiriert, den ideologischen Konstrukten der Konservativen Revolution ästhetischen Ausdruck verleiht. Apocalipsis cum figuris ist politische Musik, die, so Zeitblom, »gewisser kühner und prophetischer Beziehungen zu jenen Erörterungen [der konservativen Revolution] nicht entbehrte, sie auf höherer, schöpferischer Ebene bestätigte und verwirklichte«. 1 Die literaturwissenschaftliche Forschung hat bisher vor allem die Bedeutung Dürers für Apocalipsis cum figuris untersucht und sich dabei den intermedialen Verwirrungen zugewandt, die entstehen, wenn Thomas Mann seinen Erzähler Zeitblom in Worten ein Oratorium beschreiben läßt, das sein Freund Leverkühn angeregt von Dürers Bilderfolge komponiert hat. 2 Auch nach möglichen musikalischen Vorbildern für Leverkühns Oratorium wurde geforscht und dabei vor allem Adornos Vermittlung berücksichtigt. 3 Vorliegende Studie möchte diese ästhetisch-intermedialen 1

Thomas Mann, Doktor Faustus , in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden (Frankfurt am Main 2 1974), Bd. V I , 470. I m folgenden werden die Werke Thomas Manns nach dieser Ausgabe i m fortlaufenden Text in Klammern mit der Sigle GW zitiert. 2 Ernst Osterkamp, »»Apocalipsis cum figurisApocalipsis cum figurisDoktor Faustus< und Thomas Manns Welt des Magischen Quadrats«, Zeitschrift für deutsche Philologie , 112 (1993), 251-270. Eckhard Heftrich, »Apokalypse und Apocalipsis bei Thomas Mann«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch , 29 (1988), 271-289; J. Elma, »Thomas Mann, Dürer und D o k t o r Faustus«, Euphorion, 59 (1965), 97-117. 3 Angelika Abel, Musikästhetik der Klassischen Moderne. Thomas Mann - Theodor W. Adorno - Arnold Schönberg (München 2003), 295-332; Dietmar und Ruth Strauß, »Sprache eines unbekannten Sterns«. Adorno und die Musik im »Doktor Faustus« (Saarbrücken 1993).

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Untersuchungen kulturgeschichtlich kontextualisieren und zeigen, inwiefern Apocalipsis cum figuris von Thomas Mann als zeitgebundene Weltanschauungskunst entworfen wurde. I m folgenden w i r d daher analysiert, wie Thomas Mann i m Doktor Faustus ein Hauptwerk der konservativen Revolution, nämlich Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes Gestalt annehmen läßt und zwar sowohl in den Erörterungen des Kridwiß-Kreises und hier insbesondere in der Figur des Dr. Chaim Breisacher als auch schließlich in Adrians Komposition, die hier als Transformation von Spenglers Text in einen musikalischen Untergang des Abendlandes gelesen wird. Ein erster Teil stellt kurz Thomas Manns SpenglerLektüre i m Jahre 1919 vor, also genau in der Zeit, in der später Thomas Mann Adrian sein Oratorium komponieren läßt. Ein zweiter Teil erläutert, inwiefern Breisacher i m Roman Spenglersche Thesen vorträgt. Der letzte Teil analysiert, wie Adrian die weltanschaulichen Exaltationen Breisachers musikalisiert und mit seinem Oratorium einen Beitrag zur konservativen Revolution liefert. Diese Untersuchung begreift sich nicht als quellenkritischer Selbstzweck, dem es bloß u m einen Nachweis von Thomas Manns Spengler-Rezeption i m Doktor Faustus zu tun ist. Vielmehr soll auf der philologischen Grundlage der Quellenkritik eine intertextuelle Analyse aufbauen, die zeigt, in welcher Weise Thomas Mann i m Doktor Faustus dialogisch Spenglers Untergang des Abendlandes einer detaillierten K r i t i k unterzieht. Dabei spielt der unzuverlässige Erzähler Zeitblom eine zentrale Rolle in der narrativen Vermittlung von Thomas Manns Spengler-Kritik. I.

Oswald Spengler verkündete den Deutschen 1918 den Untergang des Abendlandes. Seine kulturgeschichtliche Prognose zeitigte eine ungeheure Wirkung. Spengler bestritt i m Untergang des Abendlandes einen fortlaufenden weltgeschichtlichen Zusammenhang und nahm dagegen an, daß sich Zeitalter der Struktur nach, unabhängig voneinander, wiederholen. Er unterschied acht Kulturen, die Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang durchliefen. Die eigene Kultur bezeichnete er als die abendländische, die nicht mit der Antike, sondern mit dem christlichen Mittelalter begonnen habe und sich gegenwärtig i m Endstadium befinde. Diese letzte Phase einer Kultur etikettierte Spengler als »Zivilisation«. Diese »Zivilisation« zeichne sich aus durch Rationalisierung, Bürokratie, Bedeutungszuwachs der Technik, Urbanisierung und Vermassung, durch eine Hausse der Wissenschaft und eine Baisse der Religion, durch depravierten Liberalismus, Kapitalismus und durch labile demokratische Herrschaftsformen, die dazu tendierten, sich cäsaristischen und imperialistischen Modellen zu öffnen. I m Kulturpessimismus und der Konstruktion über-

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menschlich dimensionierter Herrscher war Spengler Nietzsche verpflichtet. Der Begriff der >Morphologie< ging zurück auf Goethe, dessen Prinzipien der Naturforschung Spengler auf die Geschichte übertrug. Die Begeisterung für prognostische Geschichtsmodelle übernahm er von Marx. Uneins waren sich die Leser 1918/19, wie Spengler diesen Untergang des Abendlandes bewertete. Wenn er den abendländischen Zeitgenossen beschrieb als einen »Nomaden« und »Parasiten«, so schien dies darauf hin zu deuten, daß Spengler den Prozeß der Zivilisierung bedauerte. Die bekannten Topoi aus dem Reservoir der wilhelminischen Zivilisationskritik täuschen aber darüber hinweg, daß Spengler die Heraufkunft der Zivilisation keineswegs ein Lamento abnötigte; i m Gegenteil: Spengler sah in der Zivilisation vielmehr die politische Chance für einen imperialistischen Neuaufstieg Deutschlands, und für diesen warb er. Ernst Bloch hat Spengler in diesem Sinn zu Recht als Optimisten beschrieben. 4 Wenn von Thomas Manns Spengler-Rezeption die Rede ist, so fallen gemeinhin die abfällig-bissig intonierten Thomas Mann-Zitate von Spengler als »dem klugen Affen Nietzsches« (GW X I I , 907), dem »Defaitisten der Humanität« (GW X , 174) und der »Hyäne Spengler«. 5 Diese geringschätzigen Äußerungen stammen aus der Zeit zwischen 1922 und 1947. Sie zeigen den republikanisch >gewendeten< Thomas Mann, mit dessen demokratischer Orientierung die A b kehr von konservativ-revolutionären Positionen einherging, die ihn u m 1918 noch beeindruckt hatten. Flankiert w i r d die Darstellung des Spengler-Kritikers Thomas Mann gewöhnlich durch die Hinweise auf die Josephs-Romane als Gegenentwurf zum Untergang des Abendlandes. 6 Dieses allgegenwärtige Ensemble von Zitaten verdunkelt jedoch, daß Mann Spengler keineswegs von Anfang an skeptisch gegenüber stand. I n die Zeit konservativ-revolutionärer Sympathien - zwischen die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) und die Rede von deutscher Republik (1922) - fällt die begeisterte Spengler-Lektüre Manns 1919/20, die sich in seinen Tagebüchern nachverfolgen läßt. Thomas 4

Ernst Bloch, »Spengler als Optimist«, Der Neue Merkur, 5 (1921 -1922), 290-292.

5

Letztes Zitat in Brief Thomas Manns an Hugo Martens vom 18.9. 1947, in: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. ; Bd. I I I : Die Briefe von 1944 bis 1950, bearb. und hg. unter Mitarbeit v. Yvonne Schmidlin (Thomas Mann-Archiv Zürich), v. Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer (Frankfurt am M a i n 1982), 318 f., Nr. 47/276. 6 Helmut Koopmann, »Der Untergang des Abendlandes und der Aufgang des Morgenlandes. Thomas Mann, die Josephs-Romane und Spengler«, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft , 24 (1980), 300-331; Roger A . Nicholls, »Thomas Mann und Spengler«, The German Quarterly , 58 (1985), 361-374; Henning Ottmann, »Oswald Spengler und Thomas Mann«, in: Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz y hg. Alexander Demandt und John Farrenkopf ( K ö l n und Weimar 1994), 153-169; Massimo Ferrari Zumbini, »Untergänge und Morgenröten. Über Spengler und Nietzsche«, Nietzsche-Studien, 5 (1976), 194-254.

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Mann zeigt sich zudem in seinen Briefen und vor allem in seinen Anstreichungen und Marginalien i m Untergang des Abendlandes als ein enthusiasmierter Spengler-Leser. 7 So wie Thomas Mann sich nicht der Faszination von Spenglers Thesen entziehen kann, so w i r d später Adrian Leverkühn sich nicht der Wirkung von Breisachers Überlegungen entwinden. Erst in der Diskussion mit Münchener Zeitgenossen, wie dem Soziologen Max Weber, dem Historiker Erich Mareks und dem Theologen Georg Merz dämpfte sich allmählich Thomas Manns Faszination. Aber zunächst begrüßte er Spengler als Dichter-Kollegen, der mit seinem Werk einen »intellektualen Roman« (GW X , 573) geschaffen habe. Dieser »intellektuale Roman« ist zwischen Dichtung und Wissenschaft angesiedelt, und das begreift Thomas Mann nicht als wissenschaftlich bedenklich, sondern als ästhetisches Potential. Ähnlichkeiten konnte Thomas Mann zwischen sich und Spengler auch ausmachen i m Denken in Analogien. Wichtig war in diesem Zusammenhang die Dichotomie von Kultur und Zivilisation. Während Mann Kultur und Zivilisation in seiner Kriegspublizistik aber auch schon in der Vorkriegszeit polar begriff, als einen Gegensatz, in dem sich eine Hierarchie manifestierte von der höherwertigen Kultur zur minderwertigen Zivilisation, verzeitlichte Spengler diesen Gegensatz. Aus der Hierarchie schuf er eine Chronologie, in der die Zivilisation notwendig der Kultur folgte. Einen pessimistischen Blick, der das Ende der eigenen Epoche weissagte, teilten sich Mann und Spengler. N u r in der Bewertung dieser Prophezeiung unterschieden sie sich. Thomas Mann haderte damit, wie Spengler diesen Untergang einschätzte. Spenglers Werben für die Zivilisation mißverstand Thomas Mann anfänglich noch als Melancholie und »Maske eines pessimistischen Konservativen«. 8 Der Pfarrer Georg Merz wies ihn aber darauf hin, daß Spengler es durchaus ernst meine mit seiner Untergangsforcierung. 9 Daraufhin nahm Thomas Mann 1922 in seiner Rede Von deutscher Republik öffentlich Abstand von Spenglers Werk. Die ursprüngliche Sympathie Manns mit Spengler entpuppte sich so auch als Ergebnis einer Fehlinterpretation. 1924 bekräftigte Thomas Mann diese kritische Haltung in seinem Essay Über die Lehre Spenglers. Aber das war keine Distanzierung von Spenglers Diagnose, daß das Abendland untergehe, sondern lediglich von Spenglers Therapievorschlag, diesen Untergang auch noch gutzuheißen und zu beschleu-

7 Die handschriftlichen Marginalien in Thomas Manns Exemplar des Untergang des Abendlandes, das sich i m Thomas Mann-Archiv in Zürich befindet, habe ich erstmals ausführlich ausgewertet in Barbara Beßlich, Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler (Berlin 2002). 8 Brief Thomas Manns an Franz Boll vom 2. 11. 1919, in: Die Briefe Thomas Manns (Anm. 5), Bd. 1: Die Briefe von 1889 bis 1933 (Frankfurt am Main 1976), 277, Nr. 19/108. 9 Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921, Main 1979), Eintrag vom 26. 2. 1920, 386 f.

hg. Peter de Mendelssohn (Frankfurt am

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nigen. Untergründig wirkten Spenglers Thesen, aber auch sein Gestus, in Thomas Manns Werk nach, der zu dieser Zeit am Zauberberg arbeitete. 10 Thomas Mann bedurfte selbstverständlich nicht Spenglers zur Vermittlung des Faust-Stoffes. Aber Spengler präsentierte Thomas Mann den Faust-Stoff in eigentümlicher Verknüpfung mit nationaler Überheblichkeit einerseits und mit einer kulturgeschichtlichen Untergangstheorie andererseits. U n d dies barg einigen Quellenwert für den Deutschland-Roman Manns. 1 1 I n Spenglers Untergang des Abendlandes präsentierte sich das Faustische bereits hoch ideologisiert, zum Barbarischen disponiert und den eigenen Abstieg prophezeiend. So wie die Antike von der »apollinischen Seele« bestimmt worden sei, walte, nach Spengler, i m Abendland die „faustische Seele«.12 Faustisch ist für Spengler eine Selbstbespiegelung, wie sie Zeitblom vornehmen wird. Seinen preußischen Sozialismus bezeichnete Spengler ebenfalls als faustisch. Hier wurde die Ideologisierung am deutlichsten in der Disposition zum Geistesaristokratismus, zur Verachtung der Massen und zur Propagierung einer strikten Unterordnung des Einzelnen unter seine Pflicht für die Gemeinschaft. 13 Sozialismus ist für Spengler das »irreligiös gewordene faustische Lebensgefühl« (UdA, 459/1, 521). Was für Thomas Manns Konzeption des Doktor Faustus nun aber entscheidend sein dürfte, ist die Verbindung des Faustischen mit der Musik. Sie er10 I m Tagebuch hielt Thomas Mann erstaunt eine Nähe des Untergang des Abendlandes zum Zauberberg fest I n seinem mit reichlichen Anmerkungen versehenen Exemplar des Untergangs vermerkte Thomas Mann an mehreren Stellen das Kürzel »Zbg« für Zauberberg. Inwiefern man den Zauberberg als kritische A n t w o r t auf Spenglers Untergangsbegeisterung lesen kann, habe ich versucht an anderer Stelle darzulegen: Barbara Beßlich, »>Das wichtigste Buch!< Z u Thomas Manns Spengler-Rezeption i m Zauberberg«, in: Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität als Krisenbewußtsein, hg. Gilbert Merlio und Gérard Raulet (Frankfurt am Main 2005), 267-285. Siehe auch Beßlich, Faszination des Verfalls (Anm. 7), 53 - 1 0 9 . 11 Vgl. André Dabezies, »Entre le mythe de Faust et l'idée >faustienneHebräern< - aus Widerwillen. Er hat die Arroganz und Süffisanz Spenglers, ohne i m entferntesten schreiben zu können, wie er.« 20 Breisachers Bemerkungen zur jüdischen Religion sind aus Oskar Goldbergs Studie Die Wirklichkeit der Hebräer von 1925 montiert. 2 1 Goldberg beschreibt die Entwicklung vom hebräischen Ritual zur jüdischen Religion als eine dekadente Universalisierung und Abstrahierung. Religionsgeschichte ist für Goldberg Abstiegsgeschichte, wie für Spengler Kulturgeschichte Verfallsgeschichte bedeutet. Zur Zeit der Josephs-Romane hatte Mann sich noch positiv über Goldberg geäußert. I m kalifornischen Exil erschien ihm Goldberg allerdings ganz als intellektueller Zuarbeiter des Nationalsozialismus: »Breisacher ist der jüdische Faschist wie er i m Buche steht, der jüdische Diener der faschistischen Epoche, wie Leben und Literatur ihn mir oft genug gezeigt haben. Vieles, was er sagt, steht in Goldbergs »Wirklichkeit der Hebräern« 2 2 »Vieles«, aber eben nicht alles. Retrospektiv nannte Thomas Mann Breisacher 1952 »nichts als eine Karikatur der >Konservativen Revolution^ die in Goldberg einen ihrer jüdischen Vertreter hatte«. 23 Inwiefern diese »Karikatur der »Konservativen Revolution^ auch Äußerungen Spenglers einbezieht, sei i m folgenden dargelegt. 24 Zeitblom attestiert Breisacher ein »verwirrend antipathisches Gepräge« (GW V I , 15) und »Snobismus« (GW V I , 371), so wie Thomas Mann Spengler eine »vexatorische Erscheinung« ( G W X , 178) zugesprochen und ihn einen 20

Thomas Mann, Tagebücher 1944 - 1. 4. 1946, hg. Inge Jens (Frankfurt am Main 1986), Eintrag vom 14. 8. 1945,241. 21 Oskar Goldberg, Die Wirklichkeit der Hebräer. Einleitung in das System des Pentateuch (Berlin 1925). Vgl. Hülshörster (Anm. 18), 247-259. Den Einfluß Goldbergs auf Joseph und seine Brüder beleuchtet Helmut Koopmann, »Ein »Mystiker und Faschist als Ideenlieferant für Thomas Manns Josephs-Romane. Thomas Mann und Oskar Goldberg«, Thomas Mann-Jahrbuch, 6 (1993), 7 1 - 9 2 . 22

Brief Thomas Manns an L u d w i g Lewisohn vom 19. 4. 1948, in: Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 1 4 / I I I : Thomas Mann, hg. Hans Wysling unter M i t w i r k u n g von Marianne Fischer (München und Frankfurt am Main 1981), 158. 23

Brief Thomas Manns an Jonas Lesser vom 10. 2. 1952, in: Dichter über ihre Dichtungen (Anm. 22), 269 f. Zur Integration des Jüdischen i m Deutschen bzw. zur Separierung des Jüdischen vom Deutschen bei Thomas Mann vgl. Yahya A . Elsaghe, Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das »Deutsche« (München 2000). 24 Daß neben Goldberg und Spengler auch noch Anklänge an Hans Blühers Männerbündlerei, A r t h u r Moeller van den Brucks »Drittes Reich«, Edgar Dacqués Eschatologie, Georges Sorels Réflexions sur la violence, Alfred Baeumlers und Johann Jakob Bachofens Mythos-Auffassung in Breisacher virulent sind, skizziert Thomas Klugkist, Sehnsuchtskosmogonie. Thomas Manns »Doktor Faustus« im Umkreis seiner Schopenhauer-, Nietzsche- und Wagner-Rezeption , Epistemata, Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 284 (Würzburg 2000), 241 ff.

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»Snob« (GWX, 179) genannt hatte. Breisacher w i r d keineswegs als Orientalist oder Religionswissenschaftler eingeführt, was die Verbindung zu Goldberg untermauern würde, sondern als »Polyhistor« ( G W V I , 371), was die intertextuelle Durchlässigkeit zu Spenglers Morphologie der Weltgeschichte verdeutlicht. Breisachers Werk w i r d allgemein kulturgeschichtlich gekennzeichnet und nicht etwa von Anfang an auf die Religionsgeschichte perspektiviert. Die folgende Charakterisierung Breisachers ist in der Kulturverneinung, Verfallsemphase und dem interdisziplinären Zugriff ganz auf Spengler zugeschnitten: Breisacher ist ein »Polyhistor, der über alles und jedes zu reden wußte, ein K u l turphilosoph, dessen Gesinnung aber insofern gegen die Kultur gerichtet war, als er in ihrer ganzen Geschichte nichts als einen Verfallsprozeß zu sehen vorgab« ( G W V I , 371). Geschichte als Verfall und Kulturgeschichte in zivilisatorischer Absicht waren die zentralen Punkte, u m die Thomas Manns essayistische Bemühungen zu Spengler gekreist waren. Breisachers Ausführungen kommentiert Zeitblom mit dem Attribut »boshaft« ( G W V I , 370), das auch aus Manns Spengler-Kritik stammt, wenn Mann von der »boshaften Apodiktizität« (GW X , 174) Spenglers sprach. Auch Zeitbloms Kommentierung von Breisachers Redestil als »unerbittlich« und getragen von »Hohn« (GW V I , 377) kann zurückgeführt werden auf Thomas Manns Entsetzen über Spenglers »süffisante Unerbittlichkeiten« und seine »Verhöhnung des Geistes« (GW X , 179). Damit übernimmt die fiktionale Figur Zeitblom Positionen von Thomas Manns essayistischer Spengler-Kritik aus den 1920er Jahren. Aber nicht nur in der Charakterisierung von Stil und Gestus rekurriert Breisacher auf Spengler. Auch die Themen ihrer Kulturkritik ähneln sich. Breisachers Wut gilt dem »Fortschritt«. 2 5 »Fortschritt« erscheint auch bei Spengler stets in Anführungszeichen (UdA, 437 und 450), u m das Zweideutige dieses Begriffs zu betonen. 2 6 Fortschritt w i r d bei Spengler wie bei Breisacher zum Paradox, weil es sich bei ihm zwar u m ein Weiterschreiten, nicht aber um ein positives Voranschreiten, sondern vielmehr u m einen unaufhaltsamen Abstieg handelt. 2 7 Gemeinsam ist Spengler und Breisacher auch der Aristokratismus, wenn Breisacher seinen »noblen Geschmack« betont und Spengler seinen Sozialismus als »exklusives Ideal« (UdA, 4 4 8 / 1 500) anpreist. 25

»Die verächtlichste Vokabel in seinem Munde war das Wort >FortschrittFortschrittLebenethischenMenschensohnes< und des Entrafftwerdens der Gläubigen in die Luft i h m entgegen (1. Thes 4,15 ff.). Erledigt ist durch die Kenntnis der Kräfte und Gesetze der Natur der Geister- und Dämonenglaube [ . . . ] • Die Wunder des Neuen Testamentes sind damit als Wunder erledigt [ . . . ] . M a n kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische M i t t e l in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testamentes glauben.« 19

Cf. K . Hübner, La Veritä del Mito (Mailand 1990), 369-371.

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Demian), Teufel und Jesus (.Demian), Herrscher und Diener (Joseph Knecht in Das Glasperlenspiel). Auch der Kontakt zwischen Transzendenz und Immanenz steht der Sinnkonstruktion der Romane Hesses nicht fern: Dieser w i r d zudem durch die mythischen Vorlagen gefördert, die Hübner gegen die eschatologische Position Bultmanns verteidigen will. Für einen Christen ist es nach Hübner sowie nach Hesse undenkbar, auf jede übernatürliche Hoffnung zu verzichten. Ebenso schwer ist es für den Menschen jedoch, jedes materielle und historische Faktum abzustreiten, u m sich völlig der göttlichen Gnade hinzugeben, wie es Bultmann möchte. 2 0 Hesse vermittelt also die Gewissheit, dass es unmöglich ist, die Einheit zwischen Sinnlichem und Idealem zu umgehen, weil diese die Grundidee der Religion und der Heiligen Schriften bildet: nach christlichem Dogma ist Jesus das fleischgewordene Wort, der Mensch gewordene Gott; könnte man einen schlagkräftigeren Beweis für den Austausch von Immanenz und Transzendenz finden? Offenbar nicht, wie die Vertreter der liberalen Theologie, Zeitgenossen von Hesse, meinen; sicherlich nicht, wenn man die Rolle der biblischen Mythen und ihre ästhetische Aufarbeitung in den Werken dieses Schriftstellers genauer betrachtet. Hesses Werk legt es nahe, ein besonderes Augenmerk auf die Bibel als literarisches Werk zu richten, wie die Äußerung Knulps, eine seiner frühen Romanfiguren, dies andeutet: Es ist ein kurioses Buch, die Bibel [ . . . ] in der Bibel stehen ganz gescheite Sachen. [ . . . ] Die Bibel ist alt, und früher hat man mancherlei noch nicht gewusst, was man heute kennt und weiß; aber darum steht doch viel Schönes und Braves drin, und auch ganz viel Wahres. 21

Neben die Betrachtung der Bibel als Buch - als Vorrat von unterschiedlichen Stilen, Handlungen, prophetischen Formeln und Allegorien - tritt die universelle Reichweite ihrer menschlichen Muster: Die Weisheit, der Scharfsinn und die menschlichen Eigenschaften, die in den biblischen Erzählungen auftauchen, werden für Hesse zum Vorbild des unermüdlichen Kampfes des Individuums, die einzige erkenntniswürdige Wahrheit zu erreichen: nämlich 20 Der Glauben i m eschatologischen Sinn bezieht sich nämlich auf eine absolute Transzendenz und bedingt weiterhin auch eine neue Interpretation der Evangeliumsberichte: Die Geschehnisse des Lebens Christi verlieren ihren historischen Wert und sogar die A u thentizität des Kreuzes und der Auferstehung beschränken sich, nach Bultmann, auf das Wort, das sie verkündet: »Das Osterereignis als die Auferstehung Christi ist kein historisches Ereignis. Der christliche Osterglaube ist an der historischen Frage nicht interessiert«. Bultmanns programmatische Eliminierung grundlegender Aussagen des Neuen Testamentes machte die Relativierung der Bibel endgültig hoffähig. Cf. R. Bultmann, »Neues Testament und Mythologie«, 46 f. 21

H . Hesse, Knulp y in: Ders., Gesammelte Werke in 12 Bänden, I V (Frankfurt am Main 1987), 456-457.

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sich selbst. Christentum, Judentum und ihre gemeinsamen Quellen erscheinen in den Romanen Hesses nicht als Formulierungen ex-novo der Dogmen einer Offenbarungslehre, sondern vielmehr in der Form existentieller Parabeln, menschlicher Typen, die in H i n b l i c k auf die persönliche Lage, auf die Neurose der modernen Zeit, neu interpretiert werden müssen. 22 A u f diesen U m gang mit der Tradition spielt offenbar auch Thomas Mann in der Einleitung zur englischen Demian-Ausgabe an: er preist die unbezweifelbare, außerordentliche Gabe »dem Neuen beizustehen, ohne das Alte daran zu geben. Die besten Diener des Neuen - dafür ist Hesse ein Beispiel - mögen diejenigen sein, die das Alte kennen und lieben und es ins Neue hinübertragen«. 23 Die Aufwertung der Vergangenheit und des Mythos geht nämlich in Romanen wie Demian oder Die Morgendlandfahrt immer mit einem tiefen Verständnis der neuen wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften einher. Durch die gepflegte Variation der Themen und die besonnene Wiedergabe der Formen der biblischen Erzählung werden die Geschichten der Bibel als Phasen einer universellen anthropologischen Entwicklung gelesen und das Buch der Bücher w i r d auf den Spuren der psychoanalytischen Entdeckungen, als Spiegel einer säkularisierten Menschheit betrachtet. Hinter einer von den Heiligen Schriften geliehenen Phraseologie, vor allem hinter der Form der Sentenz 24 und der religiösen Terminologie, die in ungewohnten Zusammenhängen eingesetzt sind, scheinen unorthodoxe Bedeutungen durch, deren Botschaften den Klang der Nietzscheanischen Prophetie aufweisen und sich oft sehr stark vom ursprünglichen Inhalt der jüdischen und christlichen Tradition unterscheiden. Die Poetik Hesses deutet somit an, dass sich die biblischen Figurationen in seinen Werken festen und definitiven Interpretationen sowie scharfen Gegenüberstellungen entziehen, weil diese »nur i m Gehirn der Menschen [leben], in der Heimat der Täuschungen. Alle Gegensätze sind Täuschungen«. 25 Konsequenterweise w i r d auch die Klassifizierung von Begriffen je nach Epoche und philosophischer Position von Hesse, zugunsten der tiefen Weisheit einer

22 Cf. T. Ziolkowski, »The Mithic Jesus«, in: Ders., Fictional Transfigurations of Jesus (Princeton, N J 1978), 153. Ziolkowski weist auf die zentrale Rolle der Auseinandersetzung Hesses mit dem Psychiater D o k t o r Lang über die mythischen Wurzeln vieler biblischer Episoden hin und zitiert einige Zeilen eines Briefes, den Hesse 1930 an Lang schrieb: »The miths of the Bible like all the Miths of mankind, are worthless to us as long as we do not dare to interpret them personally, for ourselves and our time.« 23

Cf. V. Michels, Über Hermann Hesse (Frankfurt am M a i n 1976), 1,158.

24

M . Versari, »Un'illecebra della scrittura hessiana: la sentenza«, Strumenti (2001), 245-60. 25

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Nach den Worten des armenischen Zauberers in: H . Hesse, Klingsors letzter Sommer; in: Ders., Gesammelte Werke in 12 Bänden, V, 330. 16 Literaturwissenschafdiches Jahrbuch, 46. Bd.

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Weltansicht, in der alles Einheit, Teil des Ganzen ist, abgelehnt. Unter dieser Perspektive steht dem modernen A u t o r jede Ausdrucksmöglichkeit zur Verfügung, ohne dass diese in vorgegebene Zusammenhänge gepresst, ohne dass sie zu >heilig< gedacht wird, um nicht ex-novo, angesichts der neuen Anforderungen der modernen Menschen, seiner schwankenden Identität, vorgestellt zu werden. Z u dieser philosophischen und methodologischen Einstellung seitens unseres Autors trägt bekanntermaßen die Vielfältigkeit seiner kulturellen Bildung sehr viel bei: Die tiefenpsychologischen Studien von Jung, die östliche Philosophie, die literarischen Vorbilder der Romantik, die Philosophie Nietzsches und schließlich pietistisches Gedankengut prägten bereits in Hesses Kindheit sein Familienleben und bilden die Basis einer Poetik, die das Grundprinzip der >Menschenwerdung< in Bezug auf eine höhere Ordnung herausarbeiten w i l l . 2 6 Hesse stellt in seinen Romanen verschiedene Individuen vor, die Vorbilder unterschiedlicher Reife sind. Sie alle haben einen langen Weg, ihrer menschlichen Verwirklichung, ihrer Menschenwerdung 27 entgegen, zurückgelegt. Ihr symbolischer Gehalt verweist auf biblische Figuren, die innerhalb der hesseschen Erzählung und kraft der neuen Zusammenhänge säkularisiert werden. Die A r t und Weise, in der Hesse dieses Ziel der Verweltlichung biblischer Figuren verfolgt, zeugt nicht nur von literarischem Ehrgeiz, sondern auch von einem tiefen Verständnis der Sinnkonstituierung der Heiligen Schriften. Die ästhetische Aufarbeitung des biblischen Stoffes in seinem Werk stützt sich nämlich auf zwei in der geschichteten Erzählstruktur der Bibel entdeckten Merkmale: Zunächst auf die Unbestimmtheit des moralischen Charakters und der Psychologie der Figuren; dann auf die Stichhaltigkeit der beschreibenden 26 Der mystizistische Charakter des Gedankengangs unseres Autors in seinem Werk und in den Erfahrungen seiner Figuren w i r d z. B. von Grenzmann hervorgehoben; cf. W. Grenzmann, Dichtung und Glaube. Probleme und Gestalten der deutschen Gegenwartsliteratur (Bonn 1952), 116: »So steht uns [ . . . ] ein Träumer und Grübler gegenüber, der die Linie eines nachdenklichen Lebens zur Höhe führt und die eigenen Erfahrungen mit alten, aus der Überlieferung auf ihn zukommenden Gedanken der Menschheit verbindet, um dem Gottgeheimnis dieser Welt näherzukommen.« 27 Cf. H . Hesse, Ein Stückchen Theologie, in: Ders., Gesammelte Werke, X , 7 4 - 7 5 : »Der Weg der Menschenwerdung beginnt mit der Unschuld (Paradies, Kindheit, Verantwortungsloses Vorstadium). Von da führt er in die Schuld, in das Wissen u m Gut und Böse, in die Forderungen der Kultur, der Moral, der Religionen, der Menschheitsideale. Bei jedem, der diese Stufe ernstlich und als differenziertes Individuum durchlebt, endet sie unweigerlich mit Verzweiflung, nämlich mit der Einsicht, daß es ein Verwirklichen der Tugend, ein völliges Gehorchen, ein sattsames Dienen nicht gibt, daß Gerechtigkeit unerreichbar, daß Gutsein unerfüllbar ist. Diese Verzweiflung führt nun entweder zum Untergang oder aber zu einem dritten Reich des Geistes, zum Erleben eines Zustandes jenseits von Moral und Gesetz, ein Vordringen zu Gnade und Erlöstsein, zu einer neuen, höheren A r t von Verantwortungslosigkeit, oder kurz gesagt: zum Glauben.«

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Methode in progress, die imstande ist, die Leser bzw. die Gläubigen zur Wahrheit einer wichtigen Botschaft zu führen. I m Unterschied zur Bibel jedoch, ist für Hesse die kontinuierliche Darbietung der Werturteile innerhalb der Erzählung kein Vorzeichen eines göttlichen Einsatzes des logos in das Leben der Menschen und auch kein Hinweis auf eine mögliche Erlösung am Ende der Zeiten, sondern nur explizite Darstellung des Nietzscheanischen Perspektivismus als besonderer Vorzug seiner Zeit. Das Schreiben der klassischen Moderne schließt also auch in den ätherischen und idealen Formen des hesseschen Schrifttums, die Gewissheit eines Einsatzes des Eschaton aus. I m Gegenteil, indem auch das göttliche Mittel dieses Einsatzes völlig vermenschlicht wird, bleibt die Frage nach einem existentiellen Sinn eine vornehmlich irdische A n gelegenheit. Die Hesse oft vorgeworfenen, erkennbaren Brüche in der Handlungsführung und die Widersprüche in der Figurenkonzeption beruhen also auf einer konzeptuell bewussten Wahl, die sich vor allem in der Darstellung der Jesus-Figurationen niederschlägt. Es ist kein Zufall, dass die christologischen Motive eine besondere Rolle für die Entwicklung der Menschen spielen: Die innovative und revolutionäre Kennzeichnung der christlichen Botschaft gegenüber der Tradition schreibt der historischen Person Christi einen außerordentlichen Charakter und eine mythische Aura zu, die oft sogar von denjenigen verschwiegen worden ist, die in Jesus >nur< den Sohn des jüdischen und christlichen Gottes gesehen haben. I m Falle Hesses hängt das Interesse für die Figur Jesu sicherlich nicht mit dem von der Kirche dargebotenen Porträt des Sohnes Gottes und seiner heiligen Botschaft zusammen. Auch die Zusammenstellung von historischen und realistischen Einzelheiten 2 8 mit der Form der Legende, bleibt bei ihm nur ästhetische Extravaganz. Der Schriftsteller aus Calw erkennt i n Jesus vielmehr das perfekte Individuum, das kraft seiner Selbstverwirklichung die göttliche Gnade ausstrahlen und sich als Erfüllung und Krönung der Menschheit vorstellen kann. Ein zur Idealität gewendeter Mensch, der sich von den Mitmenschen unterscheidet, indem er eine neue Sprache spricht - »Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?« 29 rufen die Jünger aus - zeigt der Gesellschaft gegenüber eine ironische und aristokratische Miene, die der Einstellung unseres Künstlers dem konservativen, ordentlichen Bürgertum gegenüber ähnelt. Da-

28

Cf. R. Alter, The art of biblical narrative (London 1990), 12 und vor allem 32: »The God of Israel, as often has been observed, is above all the G o d of history: the working out of His purposes in history is a process that compels the attention of the hebrew imagination, which is thus led to the most vital interest in the concrete and differential characters of historical events. The point is that fiction was the principal means which the biblical authors had at their disposal for realizing history.« 29 Die Bibel nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers, Textfassung 1912 (Stuttgart 1982): Johannes 6,60.

16*

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rüber hinaus w i r d das Auserwählt-Sein Jesu sowie die Idee der Dichtung als Mission, von einem Schlußopfertod ausbalanciert, der aber die ewige Verherrlichung einleitet. 3 0 I m Rahmen dieser Reflexion über die Person Christi, die die ästhetische Übersetzung Hesses einführt, ist >Selbstverwirklichung< offenbar das Schlüsselwort und zeigt in der von den Theorien Jungs hergeleiteten Terminologie, das Erreichen des inneren Gleichgewichts des Selbst, dessen sich nur wenige Individuen brüsten können. 3 1 Wie zum Beispiel der Religionswissenschaftler Baumann erläutert, basiert die Lebensgeschichte wichtiger Gründer der Weltreligionen auf einem psychoanalytischen Hintergrund. Dies erlaubt uns z. B. von Jesus als einem exemplarischen Individuum zu sprechen, das sein Selbst in die Einheit seiner Person wiedereingegliedert hat: Wenn Jesus dergestalt sowohl seinen Schatten als auch die anima und sein Selbst sich bewusst gemacht und gelebt hat, so w i r d deutlich, daß er nach Jungs Psychologie ein vollgültiges Symbol des Selbst gewesen ist. [ . . . ] Er hat alle grundlegenden Archetypen assimiliert und strahlt die Ganzheit durch sein Charisma aus. 32

Weit davon entfernt, Gebärden und Worte Jesu als gelehrte Zitate darzulegen, studiert nämlich auch Hesse Jesus nicht unter historischem sondern unter mythischem Gesichtspunkt, der in seinen literarischen Figuren gleichfalls aktuell ist. Dies hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Theodore Ziolkowski i n seiner mittlerweile sehr berühmten Analyse - Fictional Transfigurations of Jesus - sehr genau erklärt, indem er den Begriff fictional transfiguration sehr deutlich fasst: »It is a fictional narrative in which the characters and the action, irrespective of meaning and theme, are prefigured to a noticeable extent by figures and events popularly associated w i t h the life of Jesus as it is k n o w n from the Gospels«. 33 Viele Romanfiguren Hesses entsprechen dieser Definition und rufen die bedeutungsvollen Worte des Priesters Pistorius i m Demian hervor: 30 Sinnbild dieser Auserwählung ist der androgyne Charakter, der Jesus und anderen Künstlerfiguren der zeitgenössischen Literatur zugeschrieben worden ist; die Androgynie ist Merkmal eines geistlich vollkommenen und perfekten Wesens. Dieser Meinung ist u. a. K. Fiedler, Luthertum oder Christentum? (Dresden-Blasewitz 1920). 31 G. Mayer, »Hermann Hesse. Mystische Religiosität und dichterische Form«, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 4 (1960), 439: »Das eigentliche Thema der wichtigsten Werke vom Demian bis zum Glasperlenspiel besteht demnach in dem seelischen Vorgang der >Selbstverwirklichung< - wie Hesse das nennt - der des Dichters mystisch strukturierter Grundanschauung entspricht«. 32 G. Baumann, Der archetypische Heilsweg. Hermann Hesse, C. G. Jung und die Weltreligionen (Rheinfelden 1990), 62. 33

T. Ziolkowski, Fictional Transfigurations

of Jesus, 6.

Christologische Motive in Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse

245

Die paar wirklich Gläubigen - ich kenne solche - halten sich gern an das Wörtliche, ihnen könnte ich nicht sagen, daß etwa Christus für mich keine Person, sondern ein Heros, ein Mythos ist, ein ungeheures Schattenbild, in dem die Menschheit sich selber an die Wand der Ewigkeit gemalt sieht. 3 4

Den Mitmenschen und vor allem seinem Biograph gegenüber ist auch Joseph Knecht an die Wand der Ewigkeit gemalt: er ist der Magister Lndi des Glasperlenspiels, der, dank zahlreicher Gebärden und Ausdrücke, die auf die Dienerschaft Christi anspielen, in einem mythischen, legendären Raum außerhalb von Zeit und Geschichte steht und durch sein exemplum die Gelegenheit einer Auseinandersetzung mit der Transzendenz anbietet. Das Streben nach Vollkommenheit und Idealität steht in mehr als einem Fall i m Zentrum der Romane Hesses; es ist demzufolge einsichtig, weshalb das Erreichen des Idealen durch die Morgenlandfahrer - Protagonisten des gleichnamigen Romans - eine metaphorische Fortsetzung in der Geschichte Kastaliens findet: Die thematische Übereinstimmung beider Romane ergibt sich aus den gemeinsamen Absichten der Protagonisten, die eine geistige Selbstverwirklichung i m Rahmen einer höheren Ordnung suchen. Es ist kein Zufall, dass der Roman den Morgenlandfahrern gewidmet ist und das Thema des Reifens nochmals vertieft: »Ideale fratello di Leo, Knecht è sacerdote di quella solenne e gioiosa >celebrazione del sacro< rappresentata per Hesse da ogni forma di gioco, in quanto rito allegorico, cerimoniale e sacrificale ad un tempo, di dedizione ad un ordine superiore.« 35 Die höhere regelnde Gemeinschaft ist aber im Glasperlenspiel nicht mehr ein Bund auserwählter Geister, sondern - wie schon erwähnt - die pädagogische Provinz Kastaliens, innerhalb der Knecht heranreift. Liest man verschiedene Interpretationen des Romans, für den Hesse den Nobelpreis erhielt, w i r d sehr schnell deutlich, in welchem Maße die Gattungsdefinition Verlegenheit verursacht. So kennzeichnet z. B. der Literaturwissenschaftler Jacques Martin das Werk: C'est en partie une oeuvre de polémique, en même temps qu'une œuvre de sagesse, une œuvre d'actualité, mais de valeur permanente, et qui se nourrit autant de la pensée chinoise et hindoue que des conceptions piétistes du X V I I I i e m e siècle allemand et de références au grand roman de vieillesse de Goethe, les >années de voyage de Wilhelm Meistere 3 6

Da keine eindeutige Definition vorliegt, sollen i m Folgenden, in der Absicht die thematische Komplexität des Romans sowie der biblischen Wiederaufnahmen näher zu beleuchten, zunächst kurz Handlung und Erzählstruktur betrachtet werden. 34

H . Hesse, Demian, in: Ders., Gesammelte Werke in 12 Bänden, V, 110.

35

E. Banchelli, Invito alla lettura di Hermann Hesse (Mailand 1988), 157.

36 J. Martin, »Le Jeu des perles de verre de Hermann Hesse. Essai d'interprétation«, Études germaniques, 34.1 (1979), 4 6 - 6 5 , hier 47/48.

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Die Handlung wurde in die ferne Zukunft, ins Jahr 2529, in die Zeit des Papstes Pius X V und somit zweitausend Jahre nach Gründung des Benediktinerordens, verlegt. Zwei für das Verständnis des Werkes unabdingbare Passagen bilden den Übergang zur Einleitung, die die Geschichte des Spiels zur Zeit seiner Erfindung erzählt: die erste Passage beschreibt »Das Kriegszeitalter«, also die zwei Weltkriege; die zweite berichtet sehr kritisch vom »Feuilletonzeitalter«, von der Epoche der Kultur, die nicht mehr Kultur sein kann und der falschen Hingabe an die intellektuellen Werte. Die Entstehung und Entwicklung Kastaliens sowie des Glasperlenspiels stellen die geistig-nüchterne Alternative zu diesen zwei korrupten Momenten dar. Knechts Leben, dessen Beschreibung der Erklärung der Spielregel folgt, hat die Rolle eines exemplums, eines Vorbilds für die Anhänger der pädagogischen Provinz: The account of Knecht's life might be called secularized hagiography, in which the traditional framework of saintly vita is adapted to the pattern of hierarchy: but in practice, of course, a strongly personalized impression of Joseph Knecht is conveyed, all the same. 37

Angefangen bei der schulischen Bildung w i r d die Karriere Knechts von einem seiner damaligen Jünger beschrieben, der sich schriftlicher Zeugnisse bedient, u m den Weg seines Erziehers zum höchsten A m t und zu der nachträglichen umstrittenen Abwendung von der Provinz zu erzählen. Die letzte Lebensphase des Magister Ludi ist durch eine legendäre Atmosphäre charakterisiert und beweist seine völlige Hingabe an die Rolle des Erziehers außerhalb Kastaliens bis zu seinem Tod. 3 8 Joseph Knecht stirbt auf geheimnisvolle Weise, indem er in einem vereisten See zwischen den Bergen eintaucht mit der A b sicht, seinem Jünger Tito zu folgen und dabei dessen Vertrauen und Achtung zu erobern. 39 Diese Geschichte w i r d unter den Augen des Erzählers eine Legende - das ist eben der Titel des letzten Kapitels - und die Person Knechts: »is looked at mythically, that is as a redeemer, in the consciousness of the narrator«; 4 0 d. h. die Erzählstruktur selbst des Romans begründet die Identität seiner Hauptgestalt wie diejenige einer fictional transfiguration von Christus.

37

M . Boulby, Hermann Hesse: His Mind and Art (Ithaka 1967), 277.

38

Eine Konstante der Romane Hesses erkennt Gerhart Mayer in »eine(m) Rundlauf von Meister und Schüler, von Mystagoge und Myste [ . . . ] . I n solchem Werben der Weisheit u m die Jugend, der Jugend u m die Weisheit« [G. Mayer, »Hermann Hesse. Mystische Religiosität und dichterische Form«, 457]. 39

N i c h t nur das Vertrauen Titos w i l l er erobern, sondern, wie Ziolkowski erläutert, auch dasjenige des Biographen: Dieser letzte ist nämlich der echte Empfänger seiner Botschaft und der erste neue Kastalier, dessen Wertvortsellungen durch die K r i t i k des Magisters verändert und gemildert worden sind. 40 R. B. H o r o w i t z , Biblical Archetypes in the Novels of Unamuno and Hesse ( A n n Arbor, M I 1974), 227.

Christologische Motive in Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse

247

Die Handlung des Romans besteht i m Wesentlichen aus einer Vorstellung von Freundschaften Knechts sowie aus der Wiedergabe seiner Auseinandersetzungen mit der Außenwelt, die seine Werte und seinen Glauben an Kastalien i n Frage stellt. Dank einer Dialektik der Auseinandersetzung - die die Struktur des Romans bedingt - entscheidet sich Knecht, die Provinz zu verlassen, nachdem er die Grenzen ihrer Ideale erkannt hat. Aufgrund dieses letztendlichen Bewusstwerdens und der darauf folgenden Abwendung von der Isolation Kastaliens scheint es unangebracht, das Werk Hesses als utopischen Roman zu bezeichnen, eben weil die Utopie Kastaliens verneint wird. Einer solchen Zuordnung widerspricht auch die Struktur des Romans: A u f die Einleitung zum Spiel folgen die Biographie Knechts und die drei fiktiven Biographien, die dieser zur Zeit des Studiums i n Waldzell als Übung verfasst hat. Ziolkowski bemerkt, dass dem Versuch, die Werte Kastaliens durch die einleitenden Seiten und die fiktiven Biographien zu idealisieren, die Meldung ihrer Niederlage und der Bestätigung ihrer fehlenden Perfektion durch die Geschichte Knechts gegenübersteht. A m Ende steht nicht, wie man es erwarten könnte, eine perfekte Gemeinschaft, in der das Individuum endlich den O r t seiner Verwirklichung gefunden hat. Eine aufmerksame Lektüre des Glasperlenspiels schließt eine Kennzeichnung des Werkes als utopischen Roman - als solcher wurde er von vielen Kritikern verstanden - völlig aus: nicht nur die letztendliche Zurückweisung der Autorität seitens ihres höchsten Vertreters, sondern auch die Merkmale des veralteten Lebensstils Kastaliens stellen die Äußerungen dieser Forscher 41 in Frage. Die existentielle Parabel des Magister Ludi führt nicht zur Erfüllung des Ideals. I m Gegenteil: Durch den Opfertod w i r d die Suche nach Selbstverwirklichung in ein anderes Leben verschoben: in das des jungen Tito. Dieses letzte Bild, das die Biographie Knechts beschließt, soll i m Folgenden i m Mittelpunkt stehen. Hinsichtlich der christologischen Zitate ist insbesondere die Bedeutung von Knechts Tod untersuchenswert, da dieser Wesen und Symbolik von Opfertod und Einweihung in sich verbindet. Der Sinnbildcharakter dieses Todes w i r d jedoch erst begreifbar, wenn man den Weg, der zu ihm und zur Verwirklichung eines neuen Ideals führt, lesend gegangen ist. Die letzte Bedeutung seines mythischen Todes ist nur auf der Grundlage der Logik des Dienens erkennbar, die auch die Existenz und den Namen Knechts rechtfertigt. Das Verb >dienen< verbindet nicht nur das Leben des Magister Ludi mit dem von H . H . - Hauptgestalt von Die Morgenlandfahrt - sondern ist auch der Schlüsselbegriff, der auf das Neue Testament und die Figur Jesu verweist. I n der 41

So w i r d Das Glasperlenspiel z. B. als Allegorie definiert, die sich mit der utopischen Gattung trifft. Die Isolation der Provinz Kastalien ist das erste Merkmal dieser Utopie. Sie erlaubt die Entwicklung eines völlig intellektuellen und musikalischen Wesens. Trotzdem erfasst dieses Verständnis nicht die Sinnkonstituierung des Romans; cf. W. Kohlschmidt, Die entzweite Welt (Gladbeck und Gelsenkirchen 1953), 127- 137.

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Tat gründet auch Knecht, ähnlich wie Jesus, sein Leben auf die Logik des Dienstes und der Führung, in der Absicht seine >Heiligkeit< zu erproben und eine geistige Fülle zu erreichen, deren wichtigster Vertreter innerhalb des Romans der Magister Musicae ist. Die Auseinandersetzung mit der christlichen Welt über dieses Thema beginnt bereits hier: I n einem der wichtigsten Gespräche mit Pater Jakobus, dem Vertreter des historischen Geistes 42 , spricht Knecht von dem Sinn eines Dienstes, der nur i m Rahmen des Glaubens die menschliche Existenz ordnen und rechtfertigen kann: »Frömmigkeit, das heißt gläubiger Dienst und Treue bis zur Hingabe des Lebens, sei in jedem Bekenntnis und auf jeder Stufe möglich, und für die Aufrichtigkeit und den Wert jeder persönlichen Frömmigkeit sei dieser Dienst und diese Treue die einzige gültige Probe«. 43 Dieselbe Verknüpfung von Dienst und Glauben w i r d vom Sohn Gottes in der Offenbarung bestätigt: »Ich weiß deine Werke und deine Liebe und deinen Dienst und deinen Glauben und deine Geduld und, dass du je länger, je mehr tust«, 4 4 trotzdem weiß Knecht ebenso wie der Leser von Beginn des Romans an, dass der kastalische Orden i m Gegensatz zur christlichen Perspektive keinen Anspruch auf Ewigkeit erhebt. Andererseits w i r d Knecht durch das M o t i v der Berufung zum Dienst - in ihm war »eine Wandlung [ . . . ] vorgegangen«, er wurde von »einem Ruf [ . . . ] erreicht«, der ihn dazu führte, »die Berufung zum Lusor [zu erleben]« 45 - in einen heiligen Raum gerückt, w o die religiöse Sinnbildlichkeit der Zeichenhandlung eine tiefgründige mystische Erfahrung offenbart. Die Bemerkung Mayers N o c h deutlicher als in Die Morgenlandfahrt

tritt die Tendenz zur symbolkräftigen

Gestaltung einer höheren Wirklichkeit - i m engsten Anschluß an die abendländische kulturelle Tradition - i m Glasperlenspiel zutage 4 6

macht deutlich, dass die Erfahrungen dieses Magisters, einer heiligen Sphäre zuzuschreiben sind, zu der nur einige Auserwählte Zutritt haben. Joseph Knecht weiß, dass »unser königliches Spiel wirklich eine lingua sacra, eine heilige und göttliche Sprache ist«, 4 7 und dass innerhalb dieser geschlossenen Gemeinschaft zwei Momente des Glaubens immer erlebbar sind: die völlige Hingabe und der Zweifel. N i c h t nur der Schluss der Geschichte Knechts sondern auch das Bewusstsein der persönlichen Voraussetzungen seines Tuns und der Eigenschaften seines Charakters beweisen, dass sein Dienst nicht bedingungslos ist: 42 Durch Pater Jakobus w i r d auf die Person Jakob Burckhardt angespielt: Dank seiner Worte lernt Knecht die Geschichte zu schätzen und Kastalien selber als Teil dieser Geschichte zu erkennen. 43 44 45

H . Hesse, Das Glasperlenspiel, in: Ders., Gesammelte Werke in 12 Bänden, I X , 186. Die Bibel: Offenbarung 2,19. H . Hesse, Das Glasperlenspiel, 126.

46 G. Mayer, Die Begegnung des Christentums mit den asiatischen Religionen im Werk Hermann Hesses (Bonn 1956), 133. 47

H . Hesse, Das Glasperlenspiel, 125.

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[er] wusste [ . . . ] noch andere Kräfte in sich vorhanden, eine gewisse innere Unabhängigkeit, einen hohen Eigensinn, der ihm zwar keineswegs das Dienen verbot oder erschwerte, der aber von i h m verlangte, dass er nur dem höchsten Herrn diene. 4 8

Der Rückgriff auf die Regel des Evangeliums, nach der niemand zwei Herren dienen kann, und einer nur dem größten Herrn angehören wird, denn »Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr, noch der Apostel größer denn der ihn gesandt hat«, 4 9 ist offenbar und w i r d am Ende auch der Grund sein, weshalb Knecht Kastalien verlässt: Es kommt nämlich eine Zeit in seinem Leben, in der der größte Herr die säkularisierte korrupte Welt sein w i r d . 5 0 U m die A r t und Weise zu verstehen, wie Knecht zur Erfüllung seines »heilige[n] Dienst [es]« des Spiels in Kastalien und zur nachträglichen Entsagung kommt, ist die Vertiefung des Themas des »Erwachen[s]« durch die Figur eines Führers unabdingbare Voraussetzung. Die Rolle des alten Magister Musicae w i r d von der Hauptgestalt in Bezug auf die Existenz der pädagogischen Provinz so empfunden: Diese Welt existierte nicht nur irgendwo in der Ferne, in der Vergangenheit oder Zukunft, nein, sie war da und war aktiv, sie strahlte aus, sie schickte Sendboten, Apostel, Gesandte aus, Männer wie diesen alten Magister. 51

Das Ziel der Botschaft dieses alten Lehrers ist eben die Berufung Knechts. Diese geschieht jedoch nicht auf Anraten einer Gruppe der Kastalier, sondern dank eines intimen Treffens mit Knecht, i m Gefolge dessen er diesen als Ideal der kastalischen Welt gewinnt. Seit diesem allerersten Moment der Bekanntschaft kennzeichnet die prophetische und weise Anwesenheit dieses Lehrers die Schlüsselphasen und Wendepunkte des Lebens Knechts. Der starke Einfluss, den der Magister Musicae auf den Protagonist ausüben kann sowie sein Charisma hängen mit seiner Neigung zur »Heiterkeit« 5 2 zusammen, die auch

48 49

H . Hesse, Das Glasperlenspiel, 142. Die Bibel: Johannes 13,16.

50

G. Schneider, »Dienst und Entsagung i m Werk und Wirken Hermann Hesses«, Sinn und Form, I X (1957), 633-638. 51 52

H . Hesse, Das Glasperlenspiel, 55.

Die >kastalische Heiterkeit des Magister Musicae verdeutlicht das Erreichen der letzten Phase der Menschenwerdung: Das zu diesem Zustand gelangte Individuum, lebt nach G. Mayer sub specie aeternitatis und zeigt die Zeichen der lutherischen fiducia, der völligen Hingabe zum Göttlichen; cf. G. Mayer, Die Begegnung des Christentums mit den asiatischen Religionen im Werk Hermann Hesses, 65. I m berühmten Roman Siddartha w i r d z. B. die völlige Hingabe an die Gottheit durch die Umsetzung des evangelischen Leitspruchs: »Bittet, so w i r d euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so w i r d euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem w i r d aufgetan« (Die Bibel, Matthäus 7 , 7 - 8 ) verdeutlicht. Die öst-

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Heiligen und Unsterblichen eigen ist. I n seiner heiteren Einstellung, die besonders in den letzten Tagen vor seinem Tod offenbar wird, lassen sich einige A n spielungen auf die Evangelien und die Verklärung Christi entdecken. Knecht beobachtet das langsame Sterben des alten Weisen und nennt dies eine »Verklärung«: Er sieht sich nicht vor einem Untergang, sondern meint einer Metamorphose beizuwohnen: Er war nicht krank, und sein Tod war nicht eigentlich ein Sterben, es war eine fortschreitende Entstofflichung, ein Schwinden der leiblichen Substanz und der leiblichen Funktionen, während das Leben sich immer ausschließlicher i m Blick der Augen und dem leisen Strahlen des einsinkenden Greisengesichts sammelte. 53

Das Unklare dieser Figur, das Licht, das sein Gesicht ausstrahlt, sind Zeichen des Übergangs seines Geistes in eine höhere Sphäre und erinnern an die Szene auf dem Berg Tabor, 5 4 w o Jesus seine Teilhabe am Wesen des Vaters offenbart: »Und er ward verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß als ein Licht«. 5 5 Die Übereinstimmungen zwischen den zwei Verklärungen gehen noch weiter: beide finden auf einem Berg, an einem abgeschiedenen O r t statt, und wirken auf die Anwesenden wie eine geistige Erneuerung, die bis ins tägliche Leben hineinwirkt. Man liest nämlich i m Text Hesses: Diesen wenigen [ . . . ] gelang der Eintritt in diesen sanften Glanz des Entwerdens, das Mitfühlen der wortlos gewordenen Vollendung, [ . . . ] und kehrten dann mit geklärten Herzen in ihren Tag zurück wie von einem hohen Berggipfel. 56

I m Matthäus-Evangelium steht entsprechend: »Petrus aber antwortete und sprach zu Jesu: >Herr, hier ist gut sein.< [ . . . ] Da er noch also redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. [ . . . ] U n d da sie vom Berge herabgingen«. 57

liehe Philosophie kehrt den Satz aus dem Evangelium so um: »Wenn jemand sucht - sagte Siddartha - dann geschieht es leicht, daß sein Auge nur noch das D i n g sieht, das er sucht, daß er nichts zu finden, nichts in sich einzuverlassen vermag, weil er nur immer an das Gesuchte denkt [ . . . ] Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben«. Cf. H . Hesse, Siddartha, in: Ders., Gesammelte Werke in Zwölf Bänden, V, 460- 461. 53

H . Hesse, Das Glasperlenspiel

}

305.

54

Cf. J. Mackenzie, B. Maggioni (a cura di), Dizionario bíblico (Assisi 1981), 1006: »Die Verklärung ist vielmehr als eine Wiederholung der Taufe Jesu oder die Erscheinung seiner Auferstehung am falschen Platz: Es ist die Behauptung, dass der Menschensohn auch in seiner irdischen Existenz, Sohn eines glorreichen Menschen ist, [ . . . ] es verdeutlicht, dass der Passion immer die Seligkeit folgt«. 55 56 57

Die Bibel: Matthäus 17,2. H . Hesse, Das Glasperlenspiel, 305. Die Bibel: Matthäus 17,4, 5, 9.

Christologische Motive in Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse

251

Dass die Bezüge zur Figur Christi sich nicht nur in der Person des Magister Musicae erschöpfen, zeigt sich in der Darstellung Knechts: Unter den durchdringenden Blicken des Lehrers erscheint auch er wie ein besonderes Individuum, dessen Leben christologische Motive aufweist. Zunächst ist zu unterstreichen, dass Knecht wie Jesus, Isolation und Ruhe sucht, wohingegen beide zur Verkündigung und Mission berufen sind. Als er zum Propheten des Ordens ernannt wird, ist die Mahnung der höchsten Vertreter Kastaliens ihm gegenüber eindeutig - »Seid ihr recht eigentlich das Salz der Provinz«. Sehr ähnlich lautete die Ermunterung Jesu an seine Jünger: »Ihr seid das Salz der Erde. Wo nun das Salz dumm wird, w o m i t soll's man salzen?«. 58 N i c h t nur in der Neigung zum Dienst erkennt man die A n t w o r t des Magister Ludi auf diese Forderung der Provinzoberen: Kraft seines starken Einflusses auf die Mitmenschen zeigt er schon in den Jahren seines Studiums in Waldzell die Neigung, auf jene nach Rat, Führung und Vorbild begierigen Kameraden in ihrer Schwäche, ihrem Mangel an Eigensinn und an Würde herabzusehen, ja die gelegentlich auftauchende heimliche Lust, sie (wenigstens in Gedanken) zu gefügigen Sklaven zu machen. 59

Dank »eine[s] Spürsinn[s] für Menschen«, kann Knecht wie Jesus die unterschiedlichsten Menschen an sich ziehen: den unternehmungslustigen Plinio Designori, den misstrauischen Pater Jakobus und den respektlosen Tegularius. Diesem letzten ausgestoßenen Spielkameraden gegenüber zeigt Knecht eine besondere Aufmerksamkeit, die sich auf dessen starkes und dauerndes Interesse [ . . . ] ebensosehr auf dessen Fehler und seine Kränklichkeit, [ . . . ] was den anderen Waldzellern an Tegularius störend und oft unleidlich war [ . . . ] Was man seine Krankheit nannte, war schließlich vorwiegend ein Laster 6 0

konzentriert. Seine Einstellung, seine Bereitschaft dem eklektischen Ordensbruder, »ein[em] bockigefn], unartige[n] Schaf in der Herde« zu helfen, steht somit der Uberzeugung Christi - »Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten« 61 - sehr nahe. Neben der Eigenschaft des Dienens ist Knecht ohne Zweifel auch in seinem A m t als Magister eine von Jesus geprägte Figur. Er ist der »Domine«, der die Schlüssel und den Siegel der Provinz Kastaliens bekommt: die zwei für die Einweihung typischen Gegenstände sind die Sinnbilder, die in der Offenbarung 58

Die Bibel: Matthäus 5,13.

59

H . Hesse, Das Glasperlenspiel, 143.

60

H . Hesse, Das Glasperlenspiel

61

Die Bibel: Markus 2,17.

293-294.

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die Macht des Lammes am Jüngsten Tag zeigt: »Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids [ . . . ] U n d da es das siebente Siegel auftat, ward eine Stille in dem H i m m e l bei einer halben Stunden«. 62 Wie in der biblischen Darstellung dieser Szene werden Schlüssel und Siegel Sinnbild seiner Macht und seines Amtes innerhalb Kastaliens. Die Initiation bringt jedoch für Knecht auch das Bewusstsein einer höheren Verantwortung mit sich. Daran erinnert ihn der scheidende Magister Ludi, Thomas von der Trave, vor dem Eintreten in Kastalien: »Je höher das A m t , desto tiefer die Bindung. Je größer die Amtsgewalt, desto strenger der Dienst«. 6 3 Sowohl in den Figuren der kastalischen Magister als auch in der Person des evangelischen Hirten sind A m t und Dienst somit eng miteinander verbunden: »So jemand w i l l unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener; und wer da w i l l der Vornehmste sein, der sei euer Knecht«. 6 4 Der Tenor dieser biblischen Wiederaufnahme ist vielen anderen i m Roman ähnlich. Sie bietet den Schlüssel zur Parabel Knechts: Die obengenannten Sprüche, die auf die biblische Weisheit anspielen, heben nicht den Geist, die Reflexion und das Schicksal des Einzelnen hervor, sondern sein Verhältnis zur Gemeinschaft, zum Orden. Die Autoren von Sekundärwerken zum Roman haben deswegen mehrmals die Ähnlichkeiten zwischen der kirchlichen Hierarchie und derjenigen Kastaliens unterstrichen: Hinter diesen Ubereinstimmungen verbirgt sich die Absicht des Autors, die Regel des Umgangs des Individuums mit der Gemeinschaft zu erklären: zentrales Thema dieses fiktiven Werkes ist eben das Schicksal Knechts, des berufenen, »schicksalsbereit[en]«, Menschen, der sich die Verantwortung des Dienstes und des Führens innerhalb des Verbandes aufbürdet, u m dessen Erlösung und Weiterleben zu gewährleisten. Knecht und Jesus träumen von einer Reform ihrer Traditionen; während Jesus gegen die Starre des Judentums kämpft, wünscht sich Knecht eine Provinz, die auch die Widersprüche der Welt aufnehmen kann. Für beide Ziele w i r d der Opfertod erforderlich. Die zentrale Rolle des letzten Kapitels wurde bereits mehrmals angesprochen. Selbst der Titel - »die Legende« - deutet auf die besondere Bedeutung dieser letzten Phase hin und ruft schon eine mythische Stimmung wach, wie der Kritiker Cohn sagt: »It emphasizes the absolute truth of this chapter in contrast w i t h the historical truth of the others. The title »Legende« suggests miracle, holiness, salvation, and grace«. 65 Z u m Aufbau der wundersamen Atmosphäre dieses letzten Kapitels tragen die christologischen Motive einiges

62 63 64 65

Die Bibel: Offenbarung 3,7; 8,1. H . Hesse, Das Glasperlenspiel, 151. Die Bibel: Matthäus 20,26 - 27.

H . D . Cohn, »The Symbolic End of Hermann Hesses Glasperlenspiel«, Modern Language Quarterly, X I (1950), 350-351.

Christologische Motive in Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse

253

bei: Der beispielhafte Tod des Protagonisten nimmt nur dann einen symbolischen Wert an, wenn dieser in Bezug zur gesamten Struktur des Romans gesehen wird. Unter dieser Voraussetzung führt er den Leser dazu, die Anspielungen auf die Figur Christi erneut zu überdenken. Wenn w i r nämlich nur die Szene des Todes i m See betrachteten, wäre es nicht so absurd, diesen als zufälligen Tod, als plötzliches Unglück, zu verstehen. Der Opfertod Knechts ist jedoch der letzte Ring einer Ereigniskette, die sich hier wie ein Kreis schließt. Eine Äußerung Knechts beim Abschied von Kastalien, unmittelbar nach seinem Rücktritt als Magister Ludi [ . . . ] jene vor so langer Zeit erlebte Fußreise [blickte] nicht wie eine Ferne und ein Paradies in ein resigniertes Heute herein, sondern es war die heutige Reise der damaligen, der heutige Joseph Knecht dem von damals brüderlich ähnlich, es war alles wieder neu, geheimnisvoll, vielversprechend, es konnte alles Gewesene wiederkehren und noch viel Neues dazu 6 6

- bringt die Wahl vor dem Tod mit der Reise in Verbindung, die ihn vor vielen Jahren aus dem Kloster Mariafels nach Kastalien geführt hatte. Die Kreisförmigkeit der Existenz bringt Tod und Leben eng zusammen: Es ist dementsprechend bedeutungsvoll, dass dieser Moment des Lebens, i n dem Knecht einen neuen Anfang - den Abschied vom A m t und der Neubeginn in der Rolle des Erziehers eines jungen Bürgers - ein richtiges >Erwachen< erlebt, Zeichen der Dekadenz zeigt. Die herbstliche Landschaft, die Knecht bewundert, während er sich zu Fuß von Kastalien entfernt, verdeutlicht die innere Stimmung eines Geistes, der wahrscheinlich im Tod untergehen wird, der sich jedoch auch der Tatsache bewusst ist, sich einer zyklischen Erneuerung hinzugeben. Eine A r t >Absterben< kann man bereits in der Trennung von der pädagogischen Provinz erkennen. Dass diese notwendig war, ist Knecht bekannt: So zeitlos und eins mit sich selbst dahinwandernd, vermittelt Knecht das Bild eines abgerundeten, vollkommen in sich erfüllten Lebens, das keiner weiteren Fortsetzung bedarf, zumindest nicht unter den bisherigen Verhältnissen. 67

Nach Meinung Knechts kann der geniale Versuch Kastaliens, die Sinn-Einheit der Realität in der Transzendenz zu suchen, seine Erfüllung, seine Verwirklichung erst i m Zusammentreffen mit den Widersprüchen der Außenwelt und weit entfernt von der dünnen geistigen Atmosphäre des Spiels finden. Der Eigenart der Mission, zu der sich Knecht in diesem Moment berufen fühlt - die Auseinandersetzung mit der Resignation und der Entartung des alten Schulkameraden Plinio Designori - entspricht der Charakter einer Berufung, die nicht von oben kommt: 66

H . Hesse, Das Glasperlenspiel , 449.

67

C. I. Schneider, Das Todesproblem bei Hermann Hesse (Marburg 1973), 218.

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Veronica Piccolo

Der Ruf findet mich diesmal nicht taub, er findet mich wacher, als ich es jemals war, denn er überrascht mich eigentlich nicht, er erscheint mir nicht als Fremdes und von außen Kommendes [ . . . ] sondern es k o m m t wie aus mir selber. 68

I n der Neigung zur Tat, in den Worten, die sie bezeugen, klingt die Ermunterung Jesu an seine Jünger nach: »Sehet zu, wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wann es Zeit ist! [ . . . ] auf daß er nicht schnell komme und finde euch schlafend«. 69 Knecht lässt sich nicht vom Hereinbrechen einer neuen Botschaft überraschen. Er nimmt i m Gegenteil die Herausforderung einer neuen Rolle bis zu derjenigen des Opfers auf sich, indem er versucht, aus dem jungen Tito einen Vermittler zwischen zwei Welten zu machen. M i t einer eindeutigen Formulierung - »den Staub Kastaliens von den Füßen schüttel[n]« 7 0 - deren biblische Grundlage offensichtlich ist: »Und w o euch jemand nicht annehmen w i r d noch eure Rede hören, so geht heraus von demselben Haus oder der Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen« 7 1 - wendet sich Knecht seinem neuem Leben zu: »Bringt man Knechts Handlung [ . . . ] i m Zusammenhang mit jener Bezauberung, die ihm zum Moment seines Todessprunges in zunehmendem Maße ergriff, so versteht man besser, warum der »hermetische« Anruf stärker als die Warnung, der Wille stärker als der Instinkt ist«. 7 2 Indem Knecht, der »ungehorsame und scheinbar Abtrünnige« 7 3 sich i n seiner neuen Rolle lebendig fühlt, indem er auch an seinen Jünger denkt, mit der Absicht »etwas zu heilen und wiedergutzumachen«, seine >Schuld< auf sich zu nehmen, rechtfertigt er nämlich eine Lesart, in der der Opfertod gleichzeitig Neuanfang und Abschluss der Geschehnisse wird. Das Verhältnis zwischen Schüler und Magister, i m Wechselspiel von Herausforderung und Vertrauensbeweisen, fügt die Todesszene in einen besonderen Kontext ein, dessen Ausgang der Protagonist ahnt, dass die »Willkür seines jetzigen Handelns in Wahrheit Dienst und Gehorsam war, daß er [ . . . ] nicht ein Flüchtling, sondern ein Gerufener, nicht eigenwillig, sondern gehorchend, nicht Herr, sondern Opfer [war]!«. 7 4 Dank des Jungen, der einer Heilung bedarf, w i r d in Knecht der Gedanke des Opfers immer stärker: Er w i l l Tito einer höheren Verantwortung ausliefern, so wie Jesus die Menschen gleichermaßen in die Pflicht n i m m t . 7 5 Knecht w i r d sich der Tatsache be68

H . Hesse, Das Glasperlenspiel

69

Die Bibel: Markus 13,33, 36.

70

H . Hesse, Das Glasperlenspiel, 366.

71 72

339.

Die Bibel: Matthäus 10,14. C. I. Schneider, Das Todesproblem bei Hermann Hesse, 236.

73

C. I. Schneider, Das Todesproblem bei Hermann Hesse, 218.

74

H . Hesse, Das Glasperlenspiel, 418.

75 I n Bezug auf den Tod Christi scheint es interessant zu erwähnen, wie Josephus Famulus, der Eremit i m Zentrum einer der von Knecht verfassten Biographien, an dem Gedanken leidet, dass »am Ende der v o m Erlöser am Kreuz erlittene Tod auch nichts

Christologische Motive in Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse

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wusst, dass i n Hinblick auf sein Ziel Tito und die Welt auf einen Kompromiss mit Kastalien vorzubereiten, sein reales Handeln weit weniger wirksam ist als ein idealer und ritueller A k t , wie der Opfertod einer ist. 7 6 I m Hintergrund einer beeindruckenden Szenerie, unter den beobachtenden Augen seines Magisters, scheint Tito einen rituellen, heidnischen Tanz zu improvisieren, u m die aufgehende Sonne anzubeten. I m Rahmen unserer Analyse der biblischen Wiederaufnahmen kommt dem Licht, ebenso wie den Elementen Wasser und Feuer, die gleichermaßen i m Zusammenhang mit dem Tod Knechts Erwähnung finden, eine besondere Bedeutung zu. Als der Protagonist ins eiskalte Wasser eintaucht, fühlt er sich wie von einem feurigen Klammergriff umschlungen: Er war auf einen tüchtigen Schauder gefaßt gewesen, nicht aber auf diese grimmige Kälte, die ihn ringsum wie mit lodernden Flammen umfaßte und nach einem Augenblick aufwallenden Brennens rasch in ihn einzudringen begann. 77

O b w o h l die Beschreibung dieses Augenblicks keine wörtlichen biblischen Motive enthält, lohnt es sich, näher auf sie einzugehen, weil sie die Sinnbilder der Taufe wieder aufnimmt. Dieses Sakrament verdeutlicht zwei fundamentale, christliche Mysterien: Tod und Wiedergeburt. Indem er ins Wasser eintaucht (wie es in den ältesten christlichen Gemeinschaften bei der Taufe allgemein üblich war) stirbt der alte, von der Last der Sünde bedrückte Mensch, u m dem neuen, kraft der Auferstehung Christi regenerierten Menschen neues Leben zu garantieren. 78 Wie der französische Theologe Danielou erklärt, ist nämlich die Taufe ein >Eintauchen< und symbolisiert die Teilhabe am tödlichen Schicksal Christi. Trotzdem - fügt der Theologe hinzu - bringt uns das Sakrament nicht nur dem Tod Christi näher, sondern erlaubt uns auch seine Auferstehung mitzuerleben, da die Taufe wie der Glauben, in christlicher Hinsicht, Anfang eines neuen Lebens ist: »Cette mort est définitive; dans le Christ comme dans le chrétien, elle est une »mort au péché«; elle entraîne une >vie pour DieuGlasperlenspielhellen< und den >dunklen< Mächten? [ . . . ] - dies alles sind Worte geworden in einer Zeit, in der man zuerst fragen muß, w o einer steht, u m zu wissen, was er meint« ( W V 224). 10 Angesichts der Notlagen und Mißstände i m Exil erscheint Literatur vordergründig als Zeitverschwendung. Die Gedichte, die er i m Exil schreibt, verwirft Kobbe i m Tagebuch als »sinnlos: Menschen sterben, hängen sich auf, werden aufgehängt oder wollen sich aufhängen - und ich sitze hier und arbeite an etwas, noch dazu auf Deutsch, das nie veröffentlicht werden kann« (WV 173). Seine Dichtung nützt niemandem. Kunst sei eben »genauso sinnlos wie die Wolke, die sich jetzt über den Türmen von St.-Sulpice zusammenzieht und die w o h l bald zu einem Gewitter führen w i r d [ . . . ] « (WV 173). I m Bild der Wolke postuliert Kobbe zwar die Zweckfreiheit der Kunst, unterläuft dieses Postulat aber zugleich: Wie die Wolke als Gewitterwolke durchaus eine Funktion erfüllt und der daraus resultierende Regen Fruchtbarkeit hervorbringt, hat auch die Literatur als engagiertes Zeugnis einen Sinn. Die Ambivalenz der Wolke verdeutlicht die indirekte Zweckmäßigkeit, die Kobbe der Literatur zuschreibt. M i t seiner späteren Abkehr vom Kommunismus wendet sich Kobbe zugleich auch gegen dessen ausschließlich zweckgerichtete Kunstauffassung, für die z. B. ein Gedicht über die Liebe ein »Verbrechen« ist (WV 198).

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zum Konsumartikel mit Unterhaltungswert. I n der literarischen Überformung w i r d Kobbe, der seine Exilerlebnisse noch nicht bewältigen konnte, aufs Neue fremdbestimmt. Die kommerzialisierte Literatur reduziert das Leben »zur algebraischen Formel und die Kunst zu einer Sammlung von Rezepten, die, je nach Bedarf, dem Geschmack des Konsumenten angepaßt werden« (WV 144). Trotz Sahls bzw. Kobbes Skepsis gegenüber den Möglichkeiten, in der Exilerfahrung einen Sinn zu entdecken, leistet gerade das Verfahren des Erzählens die für den Exilanten notwendige Sinnstiftung. Fragmente der Lebensgeschichte des Emigranten werden in Die Wenigen und die Vielen mittels narrativer Strategien in (be)greifbare Sinnzusammenhänge gebracht, wie sie Paul Ricoeur und Hayden White in ihren theoretischen Überlegungen zur narrativen Sinnbildung beschreiben: Ricoeur geht davon aus, daß ein menschlicher Lebensabschnitt zunächst aus einer Folge bedeutungsneutraler Vorfälle besteht, die erst zu sinnhaften Ereignissen werden, indem sie in der erzählerischen Konfiguration jeweils zueinander und zum Ganzen einer Geschichte in Beziehung gesetzt werden. Konfiguration definiert Ricoeur in Anlehnung an Aristoteles als »Beziehung zwischen Anfang, Mitte und Ende« einer Erzählung (Ricoeur 1986, 17). Erzählen bewirkt somit die »Synthese des Heterogenen« (Ricoeur 1986, 11): »[DJurch [den] Beitrag [des Ereignisses] zum Fortgang der Erzählung transformiert die narrative Operation die irrationale Kontingenz in eine geregelte, bedeutsame, intelligible Kontingenz« (Ricoeur 1986, 14). Ricoeur zufolge können entweder Mitte oder Schluß einer Erzählung als deren Sinnzentrum fungieren, wobei die Sinnhaftigkeit i m Fall der auf das Ende hin orientierten Erzählung erst in der Retrospektive erkennbar w i r d . 1 1 I n beiden Fällen ist den Einzelereignissen die Sinnstruktur der ganzen Geschichte unterlegt. Da der Abschluß einer >final orientiertem Erzählung für deren narrative Konfiguration bekannt sein muß, ist die Gestaltung des Romanschlusses, dessen Handlung bis in die Gegenwart des Autors reicht, für Sahl höchst problematisch, denn das »historische Kapitel< des Zweiten Weltkriegs ist während seiner Arbeit am Roman noch nicht abgeschlossen - »die Vergangenheit, von der ich [im Roman] berichte, [ragt] noch mitten in unsere Gegenwart hinein« 11 Diese Auffassung von Sinnbildung geht somit von einem dynamischen Identitätsbegriff aus (vgl. Wood 4), der erst die fortwährende Revision des eigenen Selbstbildes unter dem Eindruck der Gegenwart ermöglicht. Aus Sahls zweitem Memoirenband Exil im Exil geht hervor, daß er das Exil als »Stationen [des] Überlebens, [ . . . ] das sich von Tag zu Tag v o l l z i e h t ] , sprunghaft, zusammenhanglos, unverbindlich« erfährt (EE 125). Sein Leben besteht also aus einer Reihe von fremdbestimmten und unplanbaren Kontinuitätsbrüchen und daraus resultierenden Fragmenten. Diese scheinen Sahl narrativ erfaßbar, wenn es i h m in seinem Roman »darauf an[kommt], daß die Teile sich schließen und zusammenwachsen, daß er [d. i. der Roman] wuchert und wächst + [sie] verschiedenartige, auseinanderliegende Realität aufsaugt« (Tagebuch V, 116). Die Erzählung übernimmt somit für Sahl dieselbe synthetisierende und harmonisierende Funktion wie für Ricoeur.

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(Brief an Broch, 1. 2. 1943). Sahl erläutert dem Verlag Houghton Mifflin in einem Schreiben vom 22. November 1946, welche Auswirkungen die Ereignisse des Jahres 1945 auf die Konzeption seines Romans hatten: I re-wrote and changed everything [ . . . ] in order to adapt my book to the ever changing situation. Then came V-D-day [sic] and the atomic bomb, which blew up most of what I had written, and I had to change and rewrite it all over.

I n einem weiteren Brief an den Verlag schreibt er am 20. Oktober 1952: »I was not able to finish the book until history itself had done it for me.« I n Sahls Roman sind auf strukturbildende Weise zwei elementare >Plotmuster< bzw. »archetypische Formen von Geschichten (story-forms)« i m Sinne Hayden Whites (1986, 130) übereinander gelagert, die jeweils unterschiedliche Lesarten zulassen. 12 Z u m einen folgt der Roman dem Plotmuster einer säkularen Konversionsgeschichte, indem alle Einzelereignisse u m die >Bekehrung< des Protagonisten Kobbe vom Kommunismus konfiguriert sind. Z u m andern orientiert sich Kobbes Lebensgeschichte an der Struktur einer Quest, zu deren Abschluß notwendig die Heimkehr nach erfolgreichem >Abenteuer< gehört. 1 3 O b der Schluß des Romans als narrativ abgeschlossen aufzufassen ist oder nicht, hängt davon ab, entlang welchem Plotmuster man die Handlung liest. Wenn sich Sahls Roman am elementaren Erzählmuster der Quest bzw. Reise mit >siegreicher< Heimkehr orientiert, wäre das Exil als eine Variation des Reisemotivs und der Exilant als derjenige zu verstehen, der auszieht und schwierige Aufgaben löst, u m mit mehr Wissen und Erfahrung i n die Heimat zurückzukehren. I m H i n b l i c k auf dieses Plotmuster bricht Sahls Roman mitten i m Handlungsbogen ab, da Kobbe i m Roman nie nach Deutschland zurückgeht, sondern langfristig in N e w York bleibt. 1 4 Seine Rückkehr verschiebt Kobbe auf 12 Neben diesen beiden zentralen Erzählmustern finden sich i m Roman noch andere elementare Plotmuster. Die Darstellung von Kobbes Studentenzeit und seiner Loslösung vom Elternhaus z. B. orientiert sich am Muster der Initiationsgeschichte. 13 A u c h Susanna Egan weist grundlegende narrative >Plotmuster< für die Autobiographie wie auch fiktionale Texte nach, welche Erfahrung prä- und konfigurieren. Egan versteht solche archetypischen Muster als »mythic metaphors that condense and clarify complex experiences into a comprehensible narrative« (Egan 196). Egan nennt unter den narrativen Mustern von Krisenerfahrungen des Erwachsenenlebens speziell das der Reise als Suche nach dem eigenen Selbst. Als Ausweg aus der Krise benennt sie die Konversion, die Abkehr von einer früheren Lebensweise oder Uberzeugung und die Hinwendung zu einem neuen Orientierungspunkt, der aber keinen religiösen Charakter haben muß (Egan 137 ff.). Beide >Plotmuster< lassen sich problemlos in Paul Ricoeurs bzw. Hayden Whites Theorie narrativer Sinnbildung integrieren. 14 Lothar Pikulik versteht den Roman daher »formal als Dokument des Unabgeschlossenen« (410). Er übersieht dabei jedoch die Abgeschlossenheit der >Bekehrungsgeschichte< bzw. die integrative Wirkung der Leitmotive in Die Wenigen und die Vielen, welche den Roman - ohne seine Fragmentarität zu verleugnen - zu einem Abschluß bringen.

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ungewisse Zeit, eben mit der Begründung, daß er der Rolle des »siegreichen HeldenReise< abbricht, findet seine innere >Reise< ihren Abschluß in Kobbes charakterlicher Reifung: A m Ende akzeptiert er das eigene Scheitern und sublimiert es in einer Haltung skeptizistischer »Gelassenheit«, einem »Exil im Exil«: [Das Exil] war nicht mehr an irgendein Land gebunden, es war ein geistiger Zustand, eine Lebensform geworden, eine A r t von passivem Widerstand gegen eine Welt, die nur noch in Kräften und Gegenkräften, in Bewegungen und Gegenbewegungen dachte. (W285)

Liest man Die Wenigen und die Vielen hingegen als eine säkulare Konversionsgeschichte, so fungiert das Ende des Romans durchaus als Abschluß. Hierbei bildet Kobbes Abwendung von der kommunistischen Ideologie stalinistischer Prägung beim Austritt aus dem von Moskau unterwanderten Exilverband und seine Hinwendung zu einer radikalen Ideologieskepsis den Mittel- und Wendepunkt der Handlung i m Sinne Ricoeurs, auf den hin alle anderen Ereignisse konfiguriert sind. Als Kobbes fiktionale Autobiographie steht der Roman damit in einer langen Gattungstradition, die mit Augustinus' Bekenntnissen beginnt und in der pietistischen Bekehrungsgeschichte zur Blüte gelangt (vgl. Nübel 24). Die religiöse Konversionserzählung folgt traditionell dem Schema »Sündenbekenntnis - Glaubenszweifel - Bußkampf - Durchbruch - Glaubensgewißheit« in Verbindung mit der Individualisierung des Bekehrten (Nübel 24). Die Darstellung von Kobbes Austritt aus dem Exilverband der Schriftsteller folgt in konzentrierter Form eben dieser Struktur. Kobbe w i r d gedrängt, eine Erklärung zu unterschreiben, die »ehrbare Männer der Verachtung und dem Zorn der Welt preisgeben sollte« (WV 178). Anfangs stellt Kobbe sich selbst als einen dem ideologischen >Irrglauben< Verfallenen und somit als einen >Sünder< dar, denn er ist weder aus eigener Kraft zu einer »wohlüberlegte[n] politische[n] Willensäußerung« in der Lage, noch erkennt er die eigene >Sündhaftigkeit< (WV 178). D o c h dann kommen ihm ideologiekritische »Glaubenszweifels die sich in dem fast einjährigen Zeitraum äußern, in dem er zwar seine Unterschrift verweigert, aber dennoch i m Vorstand des Verbands verbleibt. Der >Durchbruch< vollzieht sich scheinbar ohne eigenes Zutun, ähnlich der religiösen Konversion, die Gott selbst lenkt und nicht der sich Bekehrende: Kobbe sieht sich in einer der Verbandssitzungen »wie eine fremde Person aufstehen und zur Tür gehen« (WV 179). Sein >Bußkampf< findet i m Zögern an der Tür statt, w o er die leise Hoffnung hegt, daß ihn jemand zurückruft. I n der nachträglichen Rechtfertigung seines Schrittes folgt schließlich die Glaubensgewiß-

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heit und das Gefühl des »Glück[s]« (WV 179). Die säkulare, politische Konversion verändert insofern unwiderruflich sein Leben, als Kobbe seine Individualität und sein »Recht zu zweifeln« wiedererlangt. Die allmähliche Individualisierung Kobbes macht sich auch sprachlich bemerkbar. Solange er noch unentschlossen ist und noch »dazugehört«, spricht er von sich i n der allgemeinen Personalform »man«, von dem Moment an, als er aufsteht, u m die Sitzung und somit den Verband zu verlassen, redet Kobbe hingegen nur noch i n Ich-Form von sich. I m Romanganzen sind viele Einzelereignisse auf Kobbes säkulare >Bekehrung< als Peripetie des Handlungsbogens hin konfiguriert, so daß sie jeweils ihre Bedeutung von dieser her beziehen. Einige seiner vorausgegangenen Erlebnisse setzen sich kontrastiv von seiner >Bekehrung< ab, wenn er in Prag noch »entschlossen [ist], [s]ich nicht an >Kleinigkeiten< zu stoßen« und in jedem Fall im moskautreuen Exilverband mitzuarbeiten (vgl. WV 169 f.). Andere Momente antizipieren Kobbes Entschluß zur kompromißlosen Wahrhaftigkeit, wenn er als K i n d dem Kindermädchen verspricht, »[n]ie wieder [zu] lügen« (WV 79), oder wenn er von Anfang an eine Abneigung gegen den skrupellosen KPFunktionär Krana hegt. Alle Ereignisse, die der politischen Konversion nachfolgen, bestätigen diese, wie etwa Kobbes kritische Distanz zur Exilversammlung in N e w York. Sein Austritt aus dem Exilverband läßt ihn »wieder ganz von vorne anfangen« ( W V 179) und das Gegebene kritisch hinterfragen. A m Romanende radikalisiert er seine ideologiekritische Haltung zur grundsätzlichen >Ratlosigkeit< des Skeptikers, indem er sie zur Lebensmaxime erhebt (vgl. WV 283; 285). Kobbes Konversionsgeschichte w i r d somit konsequent zu Ende geführt. U m die Disparität der Exilerfahrung durch die narrative Integration allerdings nicht zu nivellieren, erhebt Sahl das Fragment gleichsam zum Formprinzip seines Romans. 1 5 Die scheinbar klare Überschaubarkeit des Romans mit seiner Großgliederung in fünf Bücher erweist sich daher als trügerisch, denn die vielfältig verschränkten und ineinander geschobenen Erzähl- und Zeitebenen setzen sich immer wieder über die Linearität der Ereignisfolge hinweg, so daß die Romanhandlung in episodische Momentaufnahmen, essayistische Reflexionen und erinnernde Rückblenden zerfällt. I m Verlauf des Romans zeichnet sich eine wachsende Fragmentierung ab. Die Kapitel über Kobbes Familie und seine Jugend i m ersten Buch sind die in sich geschlossensten, weil hier die Erfahrung der Diskontinuität i m späteren Exil noch keine Rolle spielt.

15 Nach Ricoeur kann die Offenheit eines narrativen Textes, die sich in einem »nicht abschlußhaftefn] Ende« äußert, als konfigurierende Sinnordnung des Textes fungieren, »indem bewußt ein Problem aufgeworfen wird, das der Verfasser für unlösbar hält« (1989, 39).

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Auch i m Vorfeld zu Kobbes Gang ins Exil werden der Aufstieg der Nationalsozialisten und die zunehmende Bedrohung als kontinuierliche Entwicklung erzählt. Erst nach Kobbes Flucht aus Deutschland nimmt der Roman fragmentarischen Charakter an. Die assoziativen Rückblenden in seine Zeit i n Deutschland sind dabei mit Erzählabschnitten zur Exilzeit montiert bzw. in sie eingebettet. Der Eindruck höchster Komplexität w i r d zudem durch die Verwendung unterschiedlicher Textsorten unterstützt. Tagebucheinträge, Briefe, Dokumente, sowie Erzähl- und Reflexionspassagen greifen so ineinander, daß »das Ganze als Mosaik [ . . . ] , als kunstvoll geordnetes Chaos« erscheint (Maas 253). Die Ereignisse werden dabei in assoziativer Erinnerung einer sinnhaften Geschichte angenähert, so daß ihr fragmentarischer Charakter erhalten bleibt. Erst die retrospektive Zusammenschau durch den Leser kann alle Fragmente in ein sinnvolles Ganzes integrieren. I n der Lektüre w i r d so die narrative und ästhetische Sinnbildung vom Leser mit- und nachvollzogen. I n der narrativen Montage zeitlich disparater Ereignisse macht Sahl in seinem Roman vor allem vom Stilmittel der Metalepse Gebrauch, dem Wechsel zwischen verschiedenen narrativen Ebenen (vgl. Wood 7). Da das Exil die lineare Kontinuität der Zeiterfahrung sprengt, sind in Die Wenigen und die Vielen verschiedene Zeitebenen immer wieder ineinandergeschoben und die Chronologie ist aufgebrochen. 16 Dabei schafft aber die Erzählung einen Gültigkeitsbereich, »a domain of validity« (Wood 5), i n dem die disparate Zeiterfahrung verarbeitet werden kann. Sahl selbst beschreibt die Beschaffenheit seiner Zeitwahrnehmung mit John B. Priestleys Zeitbegriff, demzufolge der Mensch die Zeit »nicht mehr chronologisch, sondern als ein gleichzeitiges Nebeneinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« erlebt, nämlich i m »Jetzt« seines gegenwärtigen Bewußtseins (Brief an Broch 1. 2. 1943). Das narrative Ineinanderschieben verschiedener Zeitebenen des Romans entspricht Kobbes assoziativem Denken und seiner tatsächlichen Zeiterfahrung. Dabei dienen einzelne aus der Vergangenheit stammende Gegenstände ebenso als Erinnerungsstützen wie Kobbes Tagebücher, in denen seine Fluchtstationen verzeichnet sind (vgl. WV 221; 225). Kobbes Erinnerungsprozesse werden durch die Erzählgegenwart ausgelöst, die ihn beispielsweise ein Glas Moselwein mit dem Vater assoziieren läßt, der diesen »am Abend zu trinken pflegte« (WV 42). Die umgekehrte Gedankenbewegung verläuft ebenso in Assoziationen von der Erinnerung an die brennende Zigarre seines Vaters zur brennenden

16 Nach Ricoeur ist die menschliche Zeiterfahrung insofern grundsätzlich problematisch, als die Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mental und sprachlich nur als Modalitäten der Gegenwart, nämlich als Erinnerung, Aufmerksamkeit und Erwartung erfaßt und als solche erzählerisch integriert werden können (vgl. Ricoeur 1988, 21 und 39).

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Zigarre seines Schwagers Mergenthin in der Gegenwart (vgl. WV 59). Die solchermaßen montierte narrative Konfiguration schafft Kontinuität zwischen den Erfahrungen unterschiedlicher Zeitpunkte, so daß Kobbes Erinnerung und Gegenwart in seinen Gedanken und Sinneswahrnehmungen ineinandergreifen: Die alten Möbel standen schweigend. Er [d. i. Kobbe] trat ans Fenster. Ein Mann schrie i m Schlaf. Ein Lastwagen ratterte durch die Straße. »Mein Sohn soll es einmal besser haben ...« (WV 59; Druckbild original)

I n N e w York stehen die »alten Möbel« der Eltern gleichsam als Reliquien einer bürgerlichen Idylle »schweigend« wie Fremdkörper i m Raum. Der Wunsch des Vaters, »[s]ein Sohn soll[e] es einmal besser haben«, entspricht dem Fortschrittsglauben dieser Generation. I m Gegensatz zu den Vorstellungen des Vaters ist der Sohn jedoch i m bürgerlichen Sinne gescheitert und desillusioniert. Kobbes nüchterne Wahrnehmung des N e w Yorker Lärms kontrastiert in der Montage mit dem optimistischen Blickwinkel des Vaters: Der Sohn nimmt nicht teil am Wohlstand versprechenden Wirtschaftsleben, auf das die Lastwagen hindeuten, sondern er steht vielmehr abseits und ist durch den Schrei des Mannes mit menschlichem Leid konfrontiert. I m Erinnerungsprozeß überlagern sich die Zeitebenen, denn das Vergangene ist in Form von Erinnerung in der Gegenwart präsent: Ich könnte nicht mehr sagen, ob dies, mein Zimmer, mit der >Bill of Rights< über dem Schreibtisch, [ . . . ] wirklicher ist als das, was in meiner Erinnerung vorgeht und mit mir lebt und täglich neue Umrisse annimmt. [ . . . ] N u r das Geistige ist lebendig, und mit ihm die Welt der Vorstellungen, der Erinnerungen und Assoziationen. [ . . . ] und ich muß ihrer habhaft werden, ich muß sie mir wieder aneignen . . . (WV 220 f.)

I n der Erinnerung erst vergegenwärtigt sich Kobbe seine Vergangenheit als verstehbare Wirklichkeit und überführt das eigene Leben in eine kontinuierliche und kohärente Geschichte. Da Kobbe eine narrative Vorstellung von Identität hat, die sein Gewordensein beschreibt, kann die Erinnerung seine Identität plausibilisieren. 17 Dabei ist die Identität in ein komplexes Beziehungs- und Interdependenzgeflecht eingebunden, in dem Vergangenheitserinnerung, Gegenwartserfahrung und Zukunftsantizipation wechselseitig aufein17 Das Gedächtnis w i r d hier weder als statische, akkumulative und abrufbare Speicherkapazität aufgefaßt, noch w i r d i h m eine arbiträre Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit zugeschrieben. A u c h wenn »Erinnerungen stets in der Gegenwart und unter spezifischen Bedingungen rekonstruiert« werden (Assmann 250), so werden doch einzelne Erfahrungen durch Erinnerungsstabilisatoren i m Gedächtnis gefestigt. Z u diesen zählen beispielsweise die Versprachlichung von Erfahrungen in Form von Tagebüchern oder Briefen, erinnerte Affekte, die auch als Authentizitätsgaranten fungieren können, symbolische Deutungen einzelner Erlebnisse und ihre Integration in Sinnkonfigurationen (vgl. Assmann 249-266).

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ander einwirken, so daß seine Identität »täglich neue Umrisse« annehmen kann (WV 221). Zur weiteren Fragmentierung des Romans trägt der stete Wechsel der Erzählstimmen bei, wobei nahezu alle Varianten narrativer Perspektivierung ausgeschöpft und in der Montage einander gegenübergestellt werden. Grammatikalisch wechseln erste, zweite und dritte Person Singular einander ab. Teilweise erzählt ein sich außerhalb der Handlungsebene befindlicher Erzähler, teilweise die Romanfigur Kobbe selbst, mal intern als erlebendes, mal extern als rückblickendes Ich. Da der selbst erzählende Kobbe fortwährend zwischen verschiedenen Zeitebenen der Handlung wechselt, ändert sich damit sein jeweiliger Blickwinkel: Er berichtet von Ereignissen der Erzählgegenwart, welche die letzten drei Kriegsjahre umfaßt, oder schildert in der Retrospektive seine vergangenen Erlebnisse. I m Tagebuch wiederum ist die Distanz zum erlebenden Ich fast aufgehoben, da Kobbe dort relativ unmittelbar unter dem Eindruck des Erlebten berichtet (vgl. Boerner 13). I n Rückblenden stellt Kobbe die Geschehnisse z. T. aus dem Blickwinkel seines damals erlebenden Ichs, z. T. aus dem der Erzählgegenwart dar und ergänzt seine Darstellung häufig durch Reflexionen. Darüber hinaus stellen Briefe von Nebenfiguren das Geschehen als Zeugen in der zweiten Person Singular dar (vgl. WV 171 ff.; 283 f.). Der auktoriale Erzähler bewegt sich ebenfalls auf mehreren Zeitebenen und nimmt außerdem unterschiedliche Blickwinkel ein. Z u Beginn des zweiten Buches w i r d der Aufstieg der Nationalsozialisten zunächst vom allwissenden Erzähler geschildert, dann aus der Fokalisierungsinstanz einzelner Personengruppen der Handlungsebene, wie z. B. den Arbeitnehmerverbänden (WV 72), und schließlich aus dem Blickwinkel Einzelner (WV 72 f.). 1 8 Innen- und Außensicht werden dabei variabel eingesetzt. Die vom Erzähler präsentierten Passagen mit Kobbes Freundin Luise, Professor Seehaus und dem Arbeiter Hackenschmidt als Fokalisierungsinstanzen (2. Buch, Kap. 5 - 7 ) treten gleichberechtigt neben die Passagen, in denen Kobbe selbst erzählt. 1 9 Die Perspek18

Durch die Multiperspektivität, in der die unmittelbaren Folgen der Ernennung H i t lers zum Reichskanzler in der jeweiligen Fokalisierung unterschiedlicher Figuren geschildert werden, schafft Sahl ein differenziertes und doch stets subjektives Bild der politischen Situation. Wenn Sigrid Kellenter behauptet, »[d]ie ständige Objektivierung aller Ereignisse, die kritische, reflektierende, kommentierende, distanzierte und distanzierende Haltung [ . . . ist] vielleicht das durchgreifendste strukturelle Element des Romans« (1982b, 33), ist ihr nur eingeschränkt zuzustimmen, da gerade die Subjektivität der Tagebucheinträge und Briefe sowie die weitgehende Konzentration auf Kobbe als Protagonisten die Repräsentativität des Romans relativieren. Es handelt sich m. E. vielmehr u m eine Vielzahl höchst subjektiver Wahrnehmungen, nämlich diejenige »hunderttausende^] Ichs« (Interview Zeugen). 19 A u c h die essayistisch reflektierenden Passagen des Romans sind vorwiegend dem Blickwinkel einzelner Figuren, meist Kobbes, zugeordnet. Dabei sind sie oft in Diskus-

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tivenvielfalt und die Vielzahl unterschiedlicher Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen machen deutlich, daß sich das Exil nicht auf einen Nenner bringen läßt, sondern i m Einzelfall eine ganz unterschiedliche Erfahrung bedingen kann, die jeweils der Interpretation bedarf. Der Leser muß sich entlang der Metalepsen und Perspektivenwechsel immer wieder neu zurechtfinden, so daß sich Kobbes Orientierungslosigkeit auf der Flucht mimetisch in den Orientierungsschwierigkeiten des Lesers bei der Lektüre widerspiegelt. Bei der Schilderung von Kobbes Flucht über die Grenze w i r d beispielsweise erst nach zehn Zeilen klar, daß er selbst erzählt und kein übergeordneter Erzähler (vgl. WV 129). Während der Erzählprozeß die Exilerlebnisse zu einer Geschichte konfiguriert, bindet ein komplexes Beziehungs- und Verweisungsgeflecht von wiederkehrenden Motiven, Formulierungen und Situationen die einzelnen Segmente in ein ästhetisches Ganzes ein. Z u den zentralen Leitmotiven zählt unter anderem das M o t i v des Schiffbrüchigen, das hier ein ganzes semantisches Wortfeld umfaßt und sich auf diese Weise zu einem Motivkomplex ausweitet. Zusammen mit anderen Leitmotiven bildet es mehrere, übereinandergelagerte, den gesamten Roman umfassende Motivgeflechte, die dem fragmentarischen Text auf subtile Weise Einheit verleihen. Der Schiffbrüchige evoziert das Bild des Meeres, das einerseits konkret als Rettungsweg aus Frankreich fungiert (WV216), andererseits aber auch metaphorisch als »Meer der Ungewissheit« ( W V 283) auftritt. Schiffe, die vor allem in den N e w Yorker Textpassagen allgegenwärtig sind, erinnern an Abfahrt bzw. Ankunft oder, in Form eines Kriegsschiffes, an den Krieg (WV 139, 274 f. u. a.) und evozieren so zentrale Themen des Romans. Die Wenigen und die Vielen endet am N e w Yorker Hafen mit der Abreise vieler Exilanten, die ohne Kobbe nach Deutschland zurückkehren. Bezeichnenderweise w i r d Kobbe sowohl am Romananfang als auch an dessen Ende mit einem Schiffbrüchigen verglichen: Anfangs gleicht er »einem Menschen, der soeben an eine unbekannte Küste gespült worden ist und sich verwundert umsieht: Wo bin ich?« (WV 12). A m Romanende w i r d er explizit als »Schiffbrüchige[r]« bezeichnet (WV 286). Auch der mehrjährige Aufenthalt in N e w York hat ihn dort keine Heimat finden lassen; er bleibt für immer ein Exilant - und dies auch i m weltanschaulichen Sinn, indem er sich die Ratlosigsionen zwischen den Figuren eingebettet, wie z. B. die Reaktion Kobbes und anderer Figuren auf Hackenschmidts Rechtfertigung der Moskauer Prozesse (vgl. WV 201). A u f diese Weise w i r d i m Roman eine Vielstimmigkeit von Meinungen geschaffen, die i n einen Dialog miteinander treten und so einander relativieren. Diese Vielstimmigkeit entspricht Kobbes bzw. Sahls Skepsis gegenüber monistischen Weltanschauungen und Ideologien. I n seiner Rezension des Romans bemängelt Wolfdietrich Schnurre ein Ubergewicht an theoretisch reflektierenden Passagen, die den Erzählfluß unterbrechen würden (vgl. Schnurre 77). Hierin drückt sich jedoch Sahls didaktisches Anliegen aus, dem Leser eine ideologiekritische Haltung nahezulegen: »Wachsam sein [ . . . ] , immer wieder fragen und immer wieder von neuem wissen, daß es nicht eine A n t w o r t gibt, sondern viele« (WV283).

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keit des eben Gestrandeten zur permanenten Lebenshaltung macht (vgl. WV 283). I m Bild des Schiffbrüchigen spiegelt sich erneut der Zustand des Ausgeliefertseins an übermächtige Kräfte. Sich wiederholende Verhaltensweisen einzelner Figuren oder Gruppen fungieren ebenfalls als Leitmotive, die je nach Kontext unterschiedlich zu bewerten sind. Hierzu zählen etwa die politischen Exilversammlungen, einmal in Paris noch vor Kriegsbeginn (WV 166), einmal 1942 in N e w York ( W 2 1 - 3 1 ) ; in ihnen werden dieselben ideologischen Debatten geführt, die einander z.T. bis in den Wortlaut der Reden hinein gleichen. Ihre nahezu identische Wiederholung, ungeachtet der grundlegend veränderten weltpolitischen Situation, entlarvt vor allem die moskautreuen Exilanten als Idealisten, die einer anachronistischen Illusion nachjagen, u m ihr bisheriges Engagement, zu dem auch ihr Gang ins Exil zählt, nicht in Frage stellen zu müssen. Auch der Arbeiter Hakkenschmidt w i r d durch Wiederholung in ein ironisches Licht gerückt, wenn er in jeder Lebenslage die >Internationale< pfeift, ohne es zu merken. Dies ist beispielsweise 1933 in Berlin der Fall, als er jederzeit von den Nazis verhaftet werden kann und diese Melodie keineswegs opportun ist (vgl. WV 88 f.), und später in den USA, w o dieses Kampflied ebenfalls unangebracht erscheint, da sich Hackenschmidt bereits dem kapitalistischen Wirtschaftssystem angepaßt hat (vgl. WV 281). Die kommunistische Indoktriniertheit Hackenschmidts w i r d auf diese Weise als der Realität unangemessen und als scheinheilig entlarvt. 2 0 Wie die hier genannten Beispiele belegen, entsteht durch die variierende Wiederholung einzelner Motive i m Verlauf des Romans ein dichtes Netzwerk von Beziehungen und Bedeutungen, das der sonstigen Fragmentarität des Romans entgegenwirkt. Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß es Hans Sahl in seinem Roman Die Wenigen und die Vielen auf mehrfache Weise gelingt, die Erfahrung der Fragmentierung der eigenen Lebensgeschichte i m Exils narrativ zu kompensieren. I m A k t des Erzählens konstituiert er sein Leben als zusammenhängendes Ganzes, indem er seiner Lebensgeschichte in Form konventioneller Plotmuster, wie dem der Quest bzw. dem der Konversionsgeschichte, einen umfassenden 20 Die Funktion eines Leitmotivs hat auch die fünfteilige Episodenfolge »Das Schafott der Trinker«. Kobbe reflektiert darin in einer A r t irrealen Zwiesprache mit dem »Dolmetscher [sjeines Gewissens, [seinem] zweite[n] Ich« (WV 94), über die sozialhistorischen Vorgänge i m Deutschland von 1933 bzw. später i m Exil. Kobbe hinterfragt dabei verschiedene Formen der Ideologiegläubigkeit. Die blinde Befolgung von institutionalisierten Ideologien wie dem Stalinismus und dem Faschismus zeigt ähnliche Symptome wie Trunksucht, da sie den Blick für die Wirklichkeit verzerrt, den Betreffenden seiner A u t o nomie beraubt, seine Persönlichkeit verändert und ihn nicht mehr losläßt. Kobbe sucht bei seinem »zweiten Ich< Rat und w i r d von diesem auf seine Kritikfähigkeit hin geprüft. Indem sein alter ego selbst die Skepsis verkörpert, führt es - bildlich gesprochen - die Ideologiegläubigkeit innerhalb Kobbes eigenem Denken zum Schafott.

18 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 46. Bd.

274

Isabell Klaiber

S i n n einschreibt. D i e D i s p a r i t ä t des E x i l s greift er einerseits m i m e t i s c h i n der f o r m a l - n a r r a t o l o g i s c h e n F r a g m e n t a r i t ä t des R o m a n s auf, w ä h r e n d er andererseits eben diese B r u c h s t ü c k h a f t i g k e i t ästhetisch d u r c h d i e f o r m a l e n Strategien des m o d e r n i s t i s c h e n R o m a n s - das h e i ß t m i t t e l s k o m p l e x e r , d e n g a n z e n R o m a n d u r c h z i e h e n d e r M o t i v g e f l e c h t e - ü b e r w i n d e t , o h n e die g r u n d l e g e n d e

Hete-

r o g e n i t ä t z u negieren.

L i t e r a t u r 1. U n v e r ö f e n c t i lh t e T e x t e aus dem N a c h a lß H a n sS a h s l 2 1 m i D e u s tc h e nL t i e r a t u r a r c h v i in M a r b a c h und n It e r v e iw s Tagebuch V, 1941-45. Brief von Hans Sahl an Hermann Broch: 3. 12. 1941; 1. 2. 1943. Brief von Hermann Broch an Hans Sahl: 6. 8.1943; vgl. auch Brochs veröffentlichte Briefe. Brief von Hans Sahl an Houghton M i f f l i n Company: 22. 11. 1946; 20. 10. 1952. Brief von Houghton M i f f l i n Company an Hans Sahl: 19. 2. 1946. Zeugen des Jahrhunderts:

Hans Sahl im Gespräch mit Hans Herbert

Westermann. Mainz:

ZDF, 1989.

2. W e t e ir ez i t i e r t eL i t e r a t u r Assmann, Aleida. Erinnerungsräume:

Formen und Wandlungen des kulturellen

Gedächt-

nisses. München 1999. Boerner, Peter. Das Tagebuch. Stuttgart 1969. Broch, Hermann. Briefe 2 (1938-1945): Werk: Kommentierte

Dokumente

und Kommentare

zu Leben und

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Egan, Susanna. Patterns of Experience in Autobiography. Fritz-Ullmer, Gabriele. Auseinandersetzung

Chapel H i l l und London 1984.

antifaschistischer

Problem des Stalinismus in Autobiographien

Exil-Schriftsteller

der Nachkriegszeit.

mit dem

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Ein internationales Jahrbuch, 2 (1984), 9 - 2 3 .

21 M i t freundlicher Genehmigung der Erben Hans Sahls und des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar.

Erzählte Exilerfahrung - Hans Sahls Die Wenigen und die Vielen

275

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Symbolische K o n s t r u k t i o n des D e u t s c h e n : A l b e r t C a m u s , Lettres ä un ami allemand Von Gerhard R. Kaiser

ä Véronique Décarie

Angesichts des frühen, großen Erfolgs, den Camus in Deutschland hatte, nimmt die Vernachlässigung der Lettres à un ami allemand wunder, eines schmalen Bandes, in dem der A u t o r sich ausdrücklich an die Deutschen gewendet hatte bzw. gewendet zu haben schien. Diese Briefe waren bereits 1945 herausgekommen und wurden in mehrere Sprachen, unter anderem ins Italienische und Japanische, übertragen. I n Deutschland gab erst die Zuerkennung des Nobelpreises, über ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung, den A n stoß dazu, auch sie in Übersetzung zugänglich zu machen. 1 Ein nennenswertes kritisches Echo blieb aus, anders als bei L'Étranger und Le Mythe de Sisyphe , La Peste und L'Homme révolté oder auch dem zeitweise viel gespielten Drama Les Justes. Erst in den letzten anderthalb Jahrzehnten setzte eine Diskussion ein. Peter Sloterdijk rühmte die Lettres à un ami allemand in seiner 1989 in den Münchner Kammerspielen gegen die mögliche Wiedervereinigung gehaltenen und 1990 unter dem Titel Versprechen auf Deutsch in erweiterter Fassung veröffentlichten Rede über das eigene Land als einen »unvergeßlichen Text«, der »zum Eindrucksvollsten« gehöre, »was uns aus diesen finsteren Zeiten überliefert« sei - »wie die Stimme des besten Freundes«. 2 Lutz Niethammer hat diese Einschätzung 2000 in Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjuktur kritisch in den größeren Zusammenhang der von Sloterdijk beförderten »noblen Feindschaft« der Deutschen »gegen sich selbst« gestellt. 3 1

Albert Camus, Fragen der Zeit. Ausgewählt und zusammengestellt von Albert Camus, übers. Guido G. Meister (Reinbek bei Hamburg 1960). Die drei ersten Titel dieser Auswahl sind: »Briefe an einen deutschen Freund«, »Die Befreiung von Paris«, »René Leynaud« (der von den Deutschen erschossene Widerstandskämpfer, dem die »Briefe« gewidmet waren). 2 Peter Sloterdijk, Versprechen auf Deutsch. Rede Uber das eigene Land (Frankfurt am Main 1990), 19 f., 22. 3 Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Axel Doßmann, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur (Reinbek bei Hamburg 2000), 567-571, hier 570 (Zitat Sloterdijks, Versprechen auf Deutsch , 223).

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Gerhard R. Kaiser

M i t den Lettres à un ami allemand betritt man das weite, öde und glitschige Feld kollektiver Identitätszuschreibungen. Weit ist dieses Feld wegen der Vielzahl gängiger ethnischer, rassischer oder sozialer Qualifizierungen, öde wegen seiner Monotonie, glitschig nicht nur der allseits verbreiteten Empfindlichkeiten, sondern auch der häufig undurchschaut wirksamen projektiven Mechanismen wegen. Ich versuche, mich Camus' Schrift in vier Schritten zu nähern: I. Das Bild der Deutschen in der französischen Literatur seit Valéry; II. Kontext, Aufbau und Argumentation der Lettres à un ami allemand; I I I . historischkritische Analyse; IV. Camus' Mythos des mediterranen Menschen als Quelle seines ästhetischen wie politischen Ranges und seiner Begrenztheit.

I. Das B d l i der D e u s tc h e n in der f r a n z ö s s ic h e n L i t e r a t u r s e t i V a é lr y I m frühen 19. Jahrhundert hatte Germaine de Staël das Bild des »tatenarmen«, doch »gedankenvollen« Deutschen verbreitet, 4 das in Frankreich trotz warnender Stimmen wie denen Heinrich Heines und Edgar Quinets bis 1870/ 71 weitgehend in Geltung blieb. 1897, 84 Jahre nach De l'Allemagne , ein Vierteljahrhundert nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, veröffentlichte Paul Valéry in London einen Essay mit dem Titel »La Conquête allemande«. 5 Vom Staëlschen Deutschlandbild ist, in reduzierter Form, nur noch eines der beiden Glieder geblieben. Zwar erscheinen die Deutschen noch immer als »gedankenvoll«, doch drückt sich ihre Gedankenfülle nicht mehr in einer bahnbrechend neuen Literatur und Philosophie aus, sondern in einer konsequent methodischen, wissenschaftlichen Haltung als Voraussetzung des technischen, ökonomischen und militärisch-politischen Aufstiegs ihrer N a tion. »Methode« heißt das verbindende Glied zwischen den vormals geschiedenen Bereichen des Gedankens und der Tat. I m Zeitalter der Wissenschaften gilt sie Valéry als Bedingung der Möglichkeit erfolgreichen nationalen Handelns und nicht weniger als solche ästhetischer Kreativität. Bereits zwei Jahre vor »La Conquête allemande« hatte er die »Introduction à la méthode de Léonard da Vinci« erscheinen lassen, und nachdem die Deutschlandschrift während des Ersten Weltkriegs unter dem ursprünglichen Titel wiederabgedruckt worden war, 6 trug sie ab 1924 die Überschrift Une Conquête méthodi-

4 Vgl. Hölderlins Ode »An die Deutschen«: »Spottet nimmer des Kinds, wenn noch das alberne / A u f dem Rosse von H o l z herrlich und viel sich dünkt, / O ihr Guten! auch w i r sind / Tatenarm und gedankenvoll!« [Friedrich Hölderlin, Werke und Briefe, hg. Friedrich Beißner und Jochen Schmidt (Frankfurt am Main 1969), Bd. 1, 64]. 5

The New Review, 16 (Januar 1897), Nr. 92, 99-112.

6

Mercure de France, 112 (1. September 1915), Nr. 417, 5 1 - 6 6 .

Symbolische Konstruktion des Deutschen

279

que 7 . I m Gedanken der Methode rückte Valéry die vormals antithetisch getrennten Glieder des Gedankens und der Tat so nahe zusammen, daß sie fast miteinander verschmolzen: Deutscher Gedanke ist ihm nichts anderes als wissenschaftlich-methodische Vorbereitung deutscher Tat, deutsches Handeln nur konsequente Umsetzung des zuvor als richtig Erkannten. Diese Zusammenführung erlaubte es ihm, die Staëlschen Pole in einem zweiten Schritt zusammenzufassen, den man als »methodisch geleitetes Handeln« resümieren könnte und das nun als positiver Pol für eine neue Antithesenbildung i m Bild der Deutschen zur Verfügung stand. Den neuen - nur bedingt negativ gewerteten - Gegenpol bildet der mit Hierarchie und Disziplin, auch mit persönlicher Mediokrität bezeichnete Vorstellungskomplex: Es ist gerade die zumal Engländer und Franzosen abstoßende Fähigkeit der Deutschen, sich als einzelne i m hierarchisch geordneten Kollektiv in Dienst nehmen zu lassen, die ihren methodisch erarbeiteten Erkenntnisvorsprung und, als dessen Folge, die technische, ökonomische und militärische Stärke ihrer N a t i o n hervorgebracht hat. 8 Perspektivisch zielt Valéry auf die Überwindung der in seinen Augen irreführenden Gegenüberstellung von Persönlichkeit und Methode: Tous les grands inventeurs d'idées ou de formes me semblent s'être servis de méthodes particulières. Je veux dire que leur force même et leur mâitrise sont fondées sur l'usage de certaines habitudes, et de certaines conceptions qui disciplinent toutes leurs pensées. Chose étrange, c'est justement l'apparence de cette méthode interne que nous appelons leur personnalité.

9

Als bildender Künstler habe in dieser Hinsicht Leonardo da Vinci, als Schriftsteller Balzac, als Komponist auch ein Deutscher, Wagner, Maßstäbe gesetzt. I m Widerspruch zum behaupteten engen Zusammenhang von Methode und Persönlichkeit, doch in Übereinstimmung mit seiner These von der Überlegenheit eines kollektiven methodischen Fortschritts über den individuellen Geistesblitz erschien Valéry der 1870/71 militärisch triumphierende Moltke als persönlich wenig bedeutend, und auch unter den neueren deutschen Wissenschaftlern vermochte er 1897 keine überragende Persönlichkeit zu erkennen. 1925 ließ er dann »Einstein, Planck, etc.« gelten. 10 7

Paul Valéry, Une Conquête méthodique (Paris 1924).

8

»L'Allemagne doit tout à une chose qui est la plus antipathique du monde à certains tempéraments - particulièrement à l'Anglais et au Français. Cette chose est la discipline. Elle porte d'ailleurs un autre nom: en matière intellectuelle, elle se nomme méthode [ . . . ] . Pour un Allemand, c'est la vie même« [Paul Valéry, Œuvres, hg. Jean Hytier, Bd. 1 (Paris 1965), 983]. Vgl. Edmond de Goncourts Einschätzung der »Prussiens« vom 23. 8. 1870: »ce mélange de H u r o n et de professeur de sciences exactes« [Edmond et Jules de Goncourt, Journal. Mémoires de la vie littéraire (Monaco 1956), Bd. I X , 22]. 9 10

Valéry, Œuvres, Bd. 1, 986 f. Valéry, Œuvres, Bd. 1, 982.

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Gerhard R. Kaiser

Valéry, der am 20. 7. 1945, nach der Kapitulation Hitler-Deutschlands, starb, ist 1938 unter dem Titel »Souvenir actuel« auf die Entstehungsgeschichte von »Une Conquête allemande«, später: Une Conquête méthodique zu sprechen gekommen und hat noch 1945, indem er den aus dem Abstand von vierzig Jahren zurückblickenden Text in die Regards sur le monde actuel et autres essais aufnahm, an seine frühe Deutschlandschrift erinnert. 1 1 Auch andere Deutschlandbilder jener dunklen Jahre bezeugen die Fortdauer von Mme de Staëls antithetischem Schema bei gleichzeitigem Austausch eines oder beider oppositioneller Glieder. I n Vercors' Erzählung Le Silence de la mer etwa, dem berühmtesten, wenn auch einem der schwächeren der aus der Résistance hervorgegangenen Werke, 1 2 zeigt sich ein dreifacher Riß: zwischen deutschen Besatzern und französischen Besatzungsopfern, zwischen einem zu äußerster Gewalt bereiten und einem minoritären, u m Mäßigung bemühten Teil des deutschen Offizierskorps, schließlich i m Herzen des männlichen Protagonisten selbst, eines Wehrmachtsoffiziers, der als begabter Violinspieler und Liebhaber französischer Literatur die gegen Frankreich gerichtete Waffengewalt verabscheut (wobei der Name Werner von Ebrennac nahelegt, die sympathischen Züge des Deutschen seien seinem französischen Erbteil geschuldet). I n dem Maße, wie dieser Offizier keinen Einfluß auf die militärischen Entscheidungen nehmen kann, ist er ein später Nachkomme des Staëlschen Typs des »tatenarmen«, doch »gedankenvollen« Deutschen, während die Mehrheit der Offiziere i n der Nachfolge des methodisch geschulten, vor extremer Repression nicht zurückschreckenden Militärs steht, wie ihn Valéry in Moltke gezeichnet hatte. Sehr viel schärfer als Vercors nahm René Char, auch er aktiver Widerstandskämpfer, in den Camus gewidmeten Feuillets d'Hypnos von 1946 den deutschen Gegner ins Visier, indem er zugleich auf die französische Schwäche zielte, die seinen Triumph mit ermöglicht hatte: »Lie dans le cerveau: à l'Est du Rhin. Gabegie morale: de ce côté-ci.« I n Paul Celans Ubersetzung: »Östlich des Rheins: die Hefe i m Gehirn. Diesseits: Geistiges Drunter und Drüber.« 1 3 I n anderen französischen Deutschlandbildern der ersten Nachkriegsjahre verbinden sich posi11

Paul Valéry, Œuvres , hg. Jean Hytier, Bd. 2 (Paris 1960), 982-986, hier 1549 f.

12

Es entstand 1941 und wurde 1942 unter dem Pseudonym Vercors veröffentlicht, das der A u t o r Jean Bruller, der Begründer des Résistance-Verlages »Editions de minuit«, auch in späteren Veröffentlichungen beibehielt. Eine Abwägung des eng befristeten möglichen praktischen Nutzens i m Verhältnis zu den ästhetischen Schwächen des Werkes bei JeanPaul Sartre; Was ist Literaturf Ein Essay, übers. Hans Georg Brenner (Hamburg 1958), 4 5 - 4 7 (»Der Fall Vercors«). Durchaus positiver urteilte seinerzeit Hans Mayer, Von der dritten zur vierten Republik. Geistige Strömungen in Frankreich (1939-1945) [Singen o.J. (1946)], 6 2 - 6 8 (»Lichter in der Nacht. I. Vercors«). 13 René Char, Poésies / Dichtungen. Vorwort von Albert Camus, Bd. 1, hg. Jean-Pierre Wilhelm unter Mitarbeit von Christoph Schwerin (Frankfurt am Main 1959), 140 f. (Celans Ubersetzung von » Gabegie morale« mit »Geistiges Drunter und Drüber« verdiente eine Erörterung.)

Symbolische Konstruktion des Deutschen

281

tive und negative Zuschreibungen zu aggressiven Vernichtungsphantasien. So läßt Biaise Cendrars in seinem 1948 erschienenen semifiktionalen Bourlinguer den Abschnitt »Hambourg. Choc en retour« - es geht u m die Bombardierung der Hansestadt - mit den Worten enden: » - Licht! Licht ! criaient les Boches dans la rue. / C'était exactement la parole de Goethe sur son lit de mort; mais contrairement à leur grand homme, les salauds d'en bas ne réclamaient pas plus de lumière en tirant des coups de fusil dans la camoufle.« 14 Die antithetische Struktur »Goethe« / »die Mistdeutschen« enthält einen historischen Akzent und w i r d zugleich apokalyptisch zugespitzt: Die Deutschen der Gegenwart sind eine vom Licht abgefallene Macht der Finsternis, die von der Macht des Lichts, den Hamburg ausradierenden Bombern der Alliierten, niedergerungen wird.

II. K o n t e x t ,A u b fa u und A r g u m e n t a o t in der Lettres à un ami allemand Gegenüber solch semifiktional zugespitzten und damit unangreifbar gemachten Vernichtungsphantasien, die das verbrecherische nationalsozialistische Deutschland ausgelöst hatte, zeichnen sich Camus' Lettres a un ami allemand 15 durch einen moderaten Ton aus, trotz des rhetorischen Pathos und ungeachtet ihres heute nicht weniger befremdenden Lyrismus. Zurecht hob Walter Heist »die ungeheure Ruhe« hervor, mit der Camus hier seine Sache vorträgt. 1 6 Der erste dieser Briefe, i m Juli 1943 geschrieben, war noch i m selben Jahr anonym i m zweiten Heft der Revue libre erschienen, der zweite Brief, auf den Dezember 1943 datiert, unter dem Pseudonym Louis Neuville in den Cahiers de Libération , i m dritten Heft des folgenden Jahres. Der dritte und der vierte Brief, vom A p r i l und Juli 1944, konnten erst 1945, nach der Befreiung, zusammen mit den beiden ersten, in einer selbständigen Broschüre bei Gallimard erscheinen. Camus widmete sie dem befreundeten Dichter und Widerstandskämpfer René Leynaud, den die Deutschen 1944 in Lyon erschossen hatten und dessen Poésies posthumes er 1947 mit einem ergreifenden Vorwort versah. 17 Der erste Brief war ursprünglich unter dem Titel »Lettre à un Allemand qui fut mon ami« erschienen, 18 eine weniger elegante, doch genauere Formulierung 14 Biaise Cendrars, Bourlinguer. 1961), 251.

Le lotissement du ciel , Œuvres complètes 6 (Paris

15

Essais, hg. Roger Q u i l l i o t und Louis Faucon (Paris 2000), 213-243, 1456-1491 (mit ergänzenden Texten). 16 Walter Heist, Genet und andere. Exkurse über eine faschistische Literatur (Hamburg 1965), 121. 17

Essais, 1472-1479.

18

Roger Grenier (Hg.), Album Camus (Paris 1982), 116.

von Rang

282

Gerhard R. Kaiser

als die des späteren Titels, handelt es sich bei dem Adressaten doch nicht u m einen gegenwärtigen, sondern u m einen Freund aus der Vorkriegszeit, von dem sich der Schreiber, wie es leitmotivisch heißt, zwischenzeitlich »getrennt« habe. 19 Dieser Adressat ist fiktiv - aus biographischem Grund: weil Camus nach allem, was man weiß, zu keiner Zeit mit einem Deutschen befreundet w a r ; 2 0 wegen der Veröffentlichungsumstände: weil der i m Untergrund publizierte Text allenfalls einen des Französischen mächtigen deutschen Zensor hätte erreichen können; vor allem aber der Textlogik wegen: weil er ein durch Lektüren, Beobachtungen und Erfahrungen genährtes Konstrukt ist, das es erlaubt, die eigene kämpferische Absage an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in polemischer Adressierung zuzuspitzen. Diese Absage vollzieht sich in vier Schritten. Die ersten drei Briefe handeln vom Verständnis nationaler Größe, von Macht und Gerechtigkeit sowie vom Bild Europas, der vierte thematisiert die gemeinsame historische Voraussetzung, auf deren Grundlage Schreiber und Adressat zu unvereinbaren Folgerungen gelangt seien. »Freund« kann der imaginäre Adressat deswegen heißen, weil er mit dem Verfasser die weltanschauliche Herkunft teilt. Schon der fiktive Dialog, der den ersten Brief eröffnet, spricht von diesem gemeinsamen Ausgangspunkt und den sich entzweienden Lebenswegen; so w i r d der Bogen, der die vier Briefe als Ganzes trägt, von Beginn an geschlagen: Vous me disiez: >La grandeur de mon pays n'a pas de prix. Tout est bon qui la consomme. Et dans un monde où plus rien n'a de sens, ceux qui, comme nous, jeunes Allemands, ont la chance d'en trouver un au destin de leur nation doivent tout lui sacrifiera Je vous aimais alors, mais c'est là que, déjà, je me séparais de vous. >Non, vous disais-je, je ne puis croire qu'il faille tout asservir au but que l'on poursuit. I l est des moyens qui ne s'excusent pas. Et je voudrais pouvoir aimer mon pays tout en aimant la justice. Je ne veux pour lui de n'importe quelle grandeur, fût-ce celle du sang et du mensonge. C'est en faisant vivre la justice que je veux le faire vivre.< 21

Als Thema der Briefe waren damit die aus dem nationenübergreifenden Nihilismus zu ziehenden Folgerungen und näherhin zwei unvereinbare Vorstellungen nationaler Größe exponiert. Die vier Briefe sind nichts anderes als 19

Wenig plausibel - weil ohne Anhaltspunkte i m Text - die Lesart, mit der Adressierung an einen deutschen Freund deute Camus an, »daß es eine Grundlage der Verständigung nach der Niederlage Hitlers geben werde« [Paul Michael Lützeler, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart (München und Zürich 1992), 381]. 20 Nach Herbert R. Lottman, Camus. Eine Biographie (Hamburg 1986) [ H . R. L., A. C. A biography ( N e w York 1979), gekürzte Ubers, aus dem Amerikanischen von Hans-Henning Werner und Ina von Trossel-Brose] und Olivier Todd, Albert Camus. Une vie (Paris 1996).

Camus, Essais ,

.

Symbolische Konstruktion des Deutschen

283

Variationen dieses Themas. Es lohnt sich, auf Nuancierungen in der Durchführung zu achten. I m ersten Brief stellt Camus das deutsche und das französische Verständnis nationaler Größe nicht nur als zwei konträre Folgerungen aus dem gemeinsamen nihilistischen Ausgangspunkt dar, sondern versieht beide auch mit einem zeitlichen Index. Die Deutschen hätten beim Ubergang vom nihilistischen Gedanken zur nationalsozialistischen Tat weder moralische noch intellektuelle Skrupel zu bewältigen gehabt und entsprechend schnell, rücksichtslos und effizient gehandelt. Dagegen seien die Franzosen, vom Bedürfnis nach Frieden und Freundschaft geleitet und den Stimmen des Herzens und der Intelligenz Gehör schenkend, von den feigen Göttern, denen ihre Gegner dienten und deren Anziehungskraft auch sie selber sich hätten erwehren müssen, abgestoßen worden und den langen, schmerzlichen Umweg einer Selbstprüfung gegangen, an dessen Ende nun der Entschluß stehe, den Feind mit aller notwendigen Gewalt niederzuringen. Deutscher Todesmut verdiene diesen Namen nicht, denn er sei das Ergebnis eines dressurhaften Verhaltens, i m Unterschied zum französischen, der sich der Gefahr physischer Vernichtung i m Bewußtsein intellektuell-moralischer Überlegenheit aussetze. 22 A m gegenwärtigen Ende des langen, opferreichen Klärungsprozesses stünden deutscher mystischer Todesverfallenheit französischer Wille zum befreienden Selbstopfer, deutscher Gewalt französische Energie, deutscher Grausamkeit französische Stärke gegenüber. 23 Bei Gleichheit der Waffen aber entscheide der Geist; es siege in diesem Fall die sehende, kritische Liebe über die blinde, bedingungslose Verherrlichung des Vaterlandes. Offenkundig sind Camus' reduktive Konstruktionen des Deutschen und des Franzosen antithetisch miteinander verbunden, doch verdankt sich seine verklärende Überhöhung der eigenen Nation zugleich der Absetzung von allen anderen europäischen Mächten. N i c h t Blindheit, Feigheit oder gar Sympathie mit dem nationalsozialistischen Deutschland nämlich hätten zum späten Eintritt Frankreichs i n den militärischen Kampf gegen Hitler geführt, sondern das Bestehen auf dem Besten der eigenen intellektuellen und moralischen Tradition. Die i m ersten Brief entwickelte Opposition zwischen Deutschen und Franzosen und die nahezu deckungsgleiche zwischen intellektuell wie moralisch skrupellosen, zu grausamster Gewalt bereiten Beförderern nationalen Prestiges und solchen, denen nationale Größe an die Werte einer luziden Vernunft, der Gerechtigkeit und der friedlich-freundlichen Begegnung gebunden bleibt, werden i m zweiten u m eine dritte Gegenüberstellung, die zwischen Regierenden und Regierten, ergänzt. Camus spricht den mit den Nationalsozialisten kolla22

Camus, Essais, 222.

23

Camus, Essais , 224.

284

Gerhard R. Kaiser

borierenden französischen Eliten ab, die Nation in irgendeinem relevanten Sinn zu vertreten, 24 und ruft gleichzeitig, von der intellektuellen extremen Rechten und der breiten Masse jener Franzosen absehend, die sich unter dem Druck der Verhältnisse arrangierten, 25 die schmale Gruppe der RésistanceKämpfer zur eigentlichen Nation aus. Eine entsprechende Unterscheidung w i r d für Deutschland nicht einmal als Möglichkeit erwogen. Das führt ihn zum Bild einer Nation, in der sich politische Führung, Intelligenz und breite Masse unterschiedslos dem chauvinistischen Wahn verschrieben haben. A m Ende des zweiten Briefes soll die breit ausgeführte Erzählung vom niederträchtigen Verhalten eines deutschen Militärgeistlichen, der sich zum Handlanger eines Erschießungskommandos macht, als exemplum spezifisch nationaler Verworfenheit die differenzierungsresistente Gegenüberstellung von Deutschen und Franzosen beglaubigen. Der dritte Brief faßt das antithetisch in der K r i t i k der Deutschen entwickelte französische Selbstverständnis in der Formel »intelligence et courage« zusammen, die bis ins letzte Lebensjahr maßgeblich für Camus' Selbstverständnis blieb. 2 6 »Intelligence« meint die illusionslose, radikale Einsicht in die condition humaine , wie sie der Nihilismus ausgesprochen habe, »courage« die Absage an die sich aus der nihilistischen Diagnose ergebenden intellektuellen wie moralischen Verführungen und die aktive Solidarität der einem ungerechten Schicksal gemeinsam unterworfenen Menschen. Die Formel »intelligence et courage« w i r d wie die unausgesprochen bleibende negative Komplementärformel, die man etwa mit »feige Triebhaftigkeit« umschreiben könnte, auf unterschiedliche Vorstellungen von Europa übertragen. Während die Deutschen von Europa erst zu sprechen begonnen hätten, seit ihre Armeen Afrika aufgeben mußten, und dabei lediglich an materielle Ressourcen für die eigene Nation dächten, sei die Bestimmung des wahren Europa das Gleichgewicht »entre la force et la connaissance« 27 : [L']Europe [ . . . ] est pour nous cette terre de l'esprit où depuis vingt siècles se poursuit la plus étonnante aventure de l'esprit humain. Elle est cette arène privilégiée où la lutte de l'homme d'Occident contre le monde, contre les dieux, contre lui-même, atteint aujourd'hui son moment le plus bouleversé. 28 24

Camus, Essais , 228.

25

Oliver Fahrni, »Frankreich - vom richtigen Gebrauch der Résistance«, Kursbuch, 115 (März 1994): Kollaboration., 147-158. 26 Vgl. »Réponses à Jean-Claude Brisville (1959)« [J.-C. B., Camus (Paris 1959)]: » - Quel est, selon vous, le trait, chez l'homme, que vous mettez le plus haut? - I l y a un mélange d'intelligence et de courage, assez rare en somme, et que j'aime bien« (Essais , 1923). 27

Camus, Essais, 235. Camus, Essais ,

.

Symbolische Konstruktion des Deutschen

285

M i t diesen Ausführungen schloß Camus eine persönliche Lebensregel mit seiner Idee Europas zusammen, die er zugleich in die Perspektive ihrer über zweitausendjährigen Geschichte stellte. Das zwei Jahre zuvor von ihm selbst entworfene mythische Bild - Sisyphos - scheint durch. Wenn den Lettres à un ami allemand als M o t t o ein Wort Pascals voransteht, »On ne montre pas sa grandeur pour être à une extrémité, mais bien en touchant les deux à la fois«, 2 9 so w i r d auch damit auf den so verstandenen europäischen Genius, die Synthese von »intelligence« und »courage«, von »connaissance« und »force«, gedeutet und diese unausdrücklich als genuin französisch ausgewiesen. Dazu paßt die zumal in ihrer A p o d i k t i k fragwürdige Behauptung, die Deutschen hätten die Idee Europas, bevor sie sie in der Gegenwart entstellten, den Besten der Franzosen entnommen. 3 0 Der vierte Brief schlägt schon mit dem vorangestellten M o t t o aus Senancours Briefroman Obermann den Bogen zum Beginn des ersten, der mit der Exposition der alternativen Antworten auf die gemeinsame nihilistische Ausgangsposition eingesetzt hatte: » L'homme est périssable. I l se peut; mais périssons en résistant, et si le néant nous est réservé, ne faisons pas que ce soit une justice!« 3 1 Die modalisierenden Einschränkungen dieser Worte vom Beginn des 19. Jahrhunderts haben für Camus nach der von Nietzsche gestellten Nihilismus-Diagnose ihre Gültigkeit verloren. So meinen die Sätze nun, bezogen auf den Schluß, den die Nationalsozialisten aus ihr gezogen hätten, die Selbstermächtigung zu grausamster Gewalt i m Dienste deutscher Größe: Da die condition humaine , ebenso ungerecht wie unabwendbar, der Zeit und dem Tod unterworfen ist, so laßt uns alles in unserer Macht Stehende tun, u m sie nicht durch menschliches Handeln noch schwerer erträglich zu machen, als sie ohne29 Camus, Essais , 217. Aus den Pensées; i m Kontext: »Je n'admire point l'excès d'une vertu, comme de la valeur, si je ne vois en même temps l'excès de la vertu opposée, comme en Epaminondas, qui avait l'extrême valeur et l'extrême bénignité. Car, autrement, ce n'est pas monter, c'est tomber. O n ne montre pas sa grandeur pour être à une extrémité, mais bien en touchant les deux à la fois, et remplissant tout l'entre-deux. Mais peut-être que ce n'est qu'un soudain mouvement de l'âme de l ' u n à l'autre de ces extrêmes, et qu'elle n'est jamais en effet qu'en u n point, comme le tison du feu? Soit; mais au moins cela marque l'agilité de l'âme, si cela n'en marque l'étendue« [Pascal, Œuvres complètes , hg. Jacques Chevalier (Paris 1954), 1169]. 30 Camus, Essais , 233. Z u m Europa-Gedanken vgl. Lützeler, Die Schriftsteller Europa. 31

und

Camus, Essais , 239. I m Kontext: »Sommes-nous faits pour jouir ici de l'entraînement des désirs? [ . . . ] Si la vie n'est que cela, elle n'est rien. [ . . . ] Comptons pour peu de chose ce qui se dissipe rapidement. A u milieu du grand jeu du monde, cherchons un autre partage: c'est de nos fortes résolutions que quelque effet subsistera peut-être. - L'homme est périssable. - I l se peut; mais périssons en résistant, et, si le néant nous est réservé, ne faisons pas que ce soit une justice« [De Senancour, Obermann , hg. Gustave Michaut, Bd. 2 (Paris 1913), 231].

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hin ist! Die Deutschen hätten allzu willig verzweifelnd die Ungerechtigkeit der Götter u m ihre eigene vermehrt und mit verbrecherischer Logik und niedrigsten Instinkten den Gesetzen des Tierreichs unter den Menschen zum Triumph verholfen, ja, schlimmer noch - Camus spricht dies nicht aus, legt es aber nahe - , ihren Intellekt diabolisch zu Täuschung, Betrug und Zerstörung der Seelen genutzt. Zwar sei den Franzosen die diagnostische Schärfe der deutschen Philosophie nicht verborgen geblieben, 32 doch als moralischen, emotionalen, nach Schönheit, Freundschaft und Glück verlangenden Wesen widerspreche alles in ihnen der aus Verzweiflung, Maßlosigkeit und verbrecherischer Triebhaftigkeit genährten Selbstermächtigung des Gegners, der das eigene Denken zugunsten seines »Führers« aufgegeben habe. Die endlich schwer erlangte Gewißheit der Differenz, das Wissen u m die zwei oder drei Nuancen, die Franzosen und Deutsche schieden, gebe nun den Ausschlag: »Voici notre force qui est de penser comme vous sur la profondeur du monde, de ne rien refuser du drame qui est le nôtre, mais en même temps d'avoir sauvé l'idée de l'homme au bout de ce désastre de l'intelligence et d'en tirer l'infatigable courage des renaissances.«33

III. H s it o r s ic h k r t i s c h e A n a y ls e Die Lettres à un ami allemand enden mit dem Versprechen, nur die physische Macht des deutschen Gegners zerstören, nicht aber seine Seele verstümmeln zu wollen. 3 4 Es sind w o h l vor allem sprachliche Gesten wie diese, die einen oberflächlichen Leser wie Sloterdijk dazu brachten, Camus eine geradezu unverständliche Großzügigkeit gegenüber dem »deutschen Freund« zuzusprechen. Bei genauer Lektüre kann davon keine Rede sein. Tatsächlich verbirgt sich hinter der Zusage nichts anderes, als daß dem ins unbedingt Böse verzerrten Gegner in der Niederlage die Integrität seiner besserungsunfähigen Verworfenheit zugestanden wird. Die Essenz des in den Briefen entworfenen Deutschenbildes läßt sich mit René Chars Formel »lie dans le cerveau« fassen, derzufolge sich verbrecherische Rücksichtslosigkeit mit instrumentell erniedrigter Intelligenz i m bedingungslosen Willen zur nationalen Macht liiert habe. M i t der Verbindung von moderner Technologie und atavistischen Werten war ein auch aus heutiger Sicht wesentliches Moment der nationalsozialistischen Herrschaft gefaßt. Weitergehende Fragen schienen sich umso mehr zu 32 Mehr noch: »11 nous a fallu entrer dans votre philosophie, accepter de vous ressembler un peu. Vous aviez choisi l'héroïsme sans direction [ . . . ] • Nous avons été obligés de vous imiter afin de ne pas mourir. Mais nous avons aperçu alors que notre supériorité sur vous était d'avoir une direction« (Camus, Essais , 242). 33

Camus, Essais , 243.

34

lbid.

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287

erübrigen, als Camus i m Vorwort zur italienischen Ausgabe, das i n die späteren französischen Auflagen und auch in die deutsche Ubersetzung übernommen wurde, explizierend hinzugefügt hatte, mit dem deutschen Freund sei nicht der Deutsche, sondern der Nationalsozialist, mit dessen Gegner nicht der Franzose, sondern der freiheitlich denkende Europäer gemeint. D o c h - trifft diese Selbstauslegung zu? Oder hat sie nicht vielmehr den Charakter einer nachträglichen Zensur, die verdecken soll, daß sich hinter der i m Kampf gegen Hitler rhetorisch-polemisch motivierten Gleichsetzung der Deutschen mit den Nationalsozialisten und der Franzosen mit ihren Gegnern tatsächlich eine doppelte Identifizierung verbirgt? A u f ein Changieren zwischen polemisch motivierter Gleichsetzung und vorurteilsgesteuerter, ressentimentbehafteter Identifizierung von Deutschen und Nazis deuten in den Lettres à un ami allemand eine Reihe von Indizien hin, die i m Bild des bewundernswerten politischen Publizisten Camus einige dunkle Flecken hervortreten lassen. Ich gehe näher auf drei dieser Indizien ein, indem ich bereits Referiertes entsprechend akzentuiere und ergänze. 1. Camus erzählt exempelhaft von einem deutschen Militärgeistlichen, der eine Gruppe französischer Gefangener auf dem Weg zur Erschießung begleitet. Unter den zum Tode Verurteilten befindet sich ein Sechzehnjähriger, der selbst i m Sinne der Besatzer als unschuldig gelten muß. D e m jungen Mann, der - fast noch ein K i n d - nach dem Urteil fortfährt, seine Unschuld zu beteuern, gelingt es in einem unbewachten Augenblick, von dem Lastwagen zu springen, der die Gruppe zur Hinrichtung fährt. Der Geistliche macht die Soldaten auf den Flüchtigen aufmerksam. Als der u m sein Leben Kämpfende wieder gefaßt ist, setzt er selber sich ins Fahrerhaus. A n seiner Stelle bewacht nun ein weiterer Soldat die zum Tode Bestimmten: Je vous connais [fährt Camus an den »deutschen Freund« gewendet fort], vous imaginerez très bien le reste. Mais vous devez savoir qui m'a raconté cette histoire. C'est un prêtre français. I l me disait: >J'ai honte pour cet homme, et je suis content de penser que pas u n prêtre français n'aurait accepté de mettre son Dieu au service du meurtre.< Cela était vrai. Simplement, cet aumônier pensait comme vous. I l n'était pas jusqu'à sa foi qu'il ne lui parût naturel de faire servir à son pays. 3 5

A n der Authentizität dieser Geschichte kann man zweifeln, nicht weil solch schändliches Verhalten eines deutschen Militärgeistlichen nicht vorgekommen sein w i r d oder hätte vorkommen können, sondern wegen der Unwahrscheinlichkeit, daß einer der Beteiligten die Geschichte einem französischen Priester erzählt haben oder dieser selber gar Zeuge gewesen sein soll. Zur Diskussion steht indes nicht die faktische Authentizität der Geschichte, sondern der mit ihr verbundene Geltungsanspruch. »Pas un prêtre français n'aurait accepté de 35

Camus, Essais , 231.

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mettre son Dieu au service du meurtre«, läßt Camus seinen angeblichen französischen Informanten sagen und fügt in einem Lapidarstil, der keinen Widerspruch duldet, hinzu: »Cela était vrai.« Das exemplum, dem er mit sparsam gesetzten Worten die sinnlich-atmosphärische Dichte verleiht, die seine besten Texte auszeichnet, belegt gegen die damit verbundene Absicht nicht die sittliche Minderwertigkeit der Deutschen, deren Geistliche selbst den christlichen Gott der Liebe an den blutigen Götzen Nation verraten, sondern ein illusionäres französisches Selbstbild, demzufolge das eigene Volk von der Möglichkeit eines ebenso feigen wie gesinnungslosen und unmenschlichen Handelns ausgenommen wird. Die zitierte apodiktische Sentenz des exemplums findet übrigens, noch nach Kriegsende, i m Vorwort zur italienischen Ausgabe der Lettres à un ami allemand eine Entsprechung. Camus schreibt hier: »j'aurais honte aujourd'hui si je laissais croire qu'un écrivain français puisse être l'ennemi d'une seule nation«. 3 6 Louis-Ferdinand Célines antijüdische Haßtiraden belegen die Richtigkeit des Gegenteils. 2. Daß Camus mit dem »deutschen Freund« entgegen der nachträglichen Versicherung nicht nur den Nationalsozialisten, sondern den mit diesem gleichgesetzten Deutschen sah und, komplementär dazu, als dessen Gegner den Franzosen schlechthin, nicht nur den Widerstandskämpfer, geht auch aus der Verbindung hervor, die er zwischen der weltanschaulich-theoretischen und der politisch- bzw. militärisch-praktischen Ebene herstellt. A u f jener w i r d der Zusammenhang von Nihilismus und den daraus ableitbaren Handlungsoptionen zum Thema, auf dieser die zielstrebige Effizienz des deutschen militärischen Handelns und der späte, zögerliche Einsatz der französischen Résistance. Wenn Camus dem deutschen Freund zuspricht: »Vous n'avez rien eu à vaincre dans votre cœur, ni dans votre intelligence«, 37 so bezieht er sich auf den gemeinsamen, von ihm selber geteilten nihilistischen Ausgangspunkt. I n diesen Worten ist vom Deutschen, nicht vom Nationalsozialisten die Rede, von deutscher, nicht von nationalsozialistischer Herz- und Skrupellosigkeit. Denn zum Nationalsozialisten, mit dem Camus die nihilistische Ausgangsdiagnose zu teilen vorgibt, w i r d der Angesprochene ja erst dadurch, daß er den Bedenken des Herzens und der Intelligenz keinen Raum gibt, und dies ist nach allem, was der Text nahe legt, deswegen der Fall, weil ihm als Deutschem solche Bedenken völlig fremd sind. Befremdlicher noch ist die komplementäre Deutung des nach dem katastrophalen Zusammenbruch von 1940 zunächst äußerst begrenzten und zögerlichen französischen Widerstands, der erst nach Stalingrad erkennbarere Züge annahm. N i c h t Opportunismus, Feigheit oder Sympathie mit dem Nationalsozialismus werden von Camus dafür verantwortlich gemacht, 36

Camus, Essais, 219.

37

Camus, Essais, 222.

Symbolische Konstruktion des Deutschen

289

sondern eine moralisch skrupulöse Intelligenz, die sich erst langsam zur Überzeugung von der Rechtmäßigkeit des bewaffneten Kampfes durchgerungen habe. Daß Frankreich damit selbst gegenüber den anderen europäischen Kriegsgegnern des nationalsozialistischen Deutschland ein Vorzug gebührt, 3 8 darf man nicht erst aus heutiger Sicht eine verblendete Anmaßung nennen. Diesen Belegen ließen sich weitere Indizien dafür anfügen, daß Camus einerseits - kritisch - seine Idee Frankreichs gegen dessen Wirklichkeit ausspielt, andererseits beide, Frankreich zum mythisch Guten stilisierend, vermischt, während er für Deutschland eine entsprechende Unterscheidung nicht einmal i m Ansatz erwägt und es so zum mythisch Bösen erklären kann. Hinzuweisen ist etwa auf die folgenden gestisch expressiven Sätze, die wie selbstverständlich die Besserungsunfähigkeit des angesprochenen deutschen Gegenübers auch nach der bevorstehenden Niederlage unterstellen: Vous serez plein de votre défaite et vous n'aurez pas honte de votre ancienne victoire, la regrettant plutôt de toutes vos forces écrasées. Aujourd'hui je suis encore près de vous par l'esprit - votre ennemi, i l est vrai, mais encore un peu votre ami puisque je vous livre ici toute ma pensée. Demain, ce sera fini. Ce que votre victoire n'aura pu entamer, votre défaite l'achèvera. 39

Hinzuweisen ist auf einen von Camus auch gegenüber französischen Gegnern gelegentlich angeschlagenen Ton absprechender Arroganz, etwa, wenn dem deutschen Freund zugesprochen wird: »C'est peu de chose que de savoir courir au feu quand on s'y prépare depuis toujours et quand la course vous est plus naturelle que la pensée.« 40 Bezogen auf die Konstruktion des gemeinsamen nihilistischen Ausgangspunktes zwischen antifaschistischem Schreiber und nationalsozialistischem Adressat - beide doch offenbar Intellektuelle - , bleibt die Aussage unverständlich, als Klischee vom autoritätshörigen, leicht abzurichtenden, automatenhaft handelnden Deutschen hingegen hat sie durchaus Sinn. Hinzuweisen ist schließlich auch auf die Formulierung von der »civilisation supérieure« Frankreichs. 41 I m Blick auf das nationalsozialistische Deutschland artikuliert sie eine schiere Selbstverständlichkeit, i m Blick auf die in den Lettres à un ami allemand nicht zugestandene Wirklichkeit eines besseren Deutschland aber ist sie Ausdruck eines Dünkels wie, 25 Jahre zuvor, die umgekehrte Anmaßung Thomas Manns in den Betrachtungen eines Unpolitischen. 3. Camus spricht den mit den Nationalsozialisten kollaborierenden französischen >Eliten< ab, die N a t i o n in irgendeinem relevanten Sinn zu vertreten. 38

Camus, Essais, 223.

39

Camus, Essais, 222.

40

Ibid.

41

Ibid.

19 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 46. Bd.

290

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Zugleich geht er mit keinem Wort auf die Masse jener Landsleute ein, die sich unter dem Druck der Verhältnisse mit den deutschen Besatzern arrangierten und ruft die kleine Gruppe der Résistance-Kâmpfer zur eigentlichen Nation aus: »Quand je dis >nousein paar Koffer getragenDer Mensch in der Revolte»Ceux-là sont mes ennemis, dit Nietzsche, qui veulent renverser, et non pas se créer eux-mêmes.< L u i renverse, mais pour tenter de créer. Et il exalte la probité, fustigeant les jouisseurs >au groin de porc«< (Camus, Essais, 418); »Nietzsche n'a jamais pensé qu'en fonction d'une apocalypse à venir, non pour l'exalter, car il devinait le visage sordide et calculateur que cette apocalypse finirait par prendre, mais pour l'éviter et la transformer en renaissance« (475); »La révolte n'est pas en elle-même u n élément de civilisation. Mais elle est préalable à toute civilisation. Mais elle seule, dans l'impasse ou nous vivons, permet d'espérer l'avenir dont rêvait Nietzsche. >Au lieu du juge et du répresseur, le créateur«< (676).

Symbolische Konstruktion des Deutschen

299

Nietzsche eine Christus ähnelnde Passionsfigur von weltgeschichtlichem Rang. Bekanntlich waren Hölderlin und Nietzsche zwei der schärfsten deutschen Kritiker der Deutschen und zugleich herausragende deutsche Verehrer der Griechen. Zumal bei Nietzsche hatte Camus die grundlegende Opposition zwischen den Deutschen als Volk der »Innerlichkeit« und der griechischen »Cultur [ . . . ] einer neuen und verbesserten Physis« 70 finden können. I m fremden Deutschen begegnete Camus in Nietzsche und Hölderlin dem eigenen mediterranen Mythos. Was kann man aus diesen Zeugnissen schließen? Sie widersprechen nicht der These von der ins Verworfene, ins mythisch Böse, ins Diabolische verzerrten symbolischen Konstruktion des Deutschen in den Lettres à un ami allemand , sondern sind Belege für die Unhaltbarkeit der Camusschen Position selbst. Camus ist i m Positiven wie i m Negativen ein Mythenbildner. Ästhetisch schreibt er nie besser, als wenn er in einer durch äußerste Verknappung expressiv aufgeladenen Sprache die Schönheit der algerischen Landschaft zum Sprechen bringt, in der lyrischen Prosa von Noces etwa, in L'Étranger oder dem semifiktionalen Nachlaß werk Le premier homme, wo beispielsweise in der Schilderung eines banalen Wochenendausflugs ein Ton mitschwingt, als erzähle Homer von Odysseus und Telemachos. Die ästhetisch fruchtbare mythenbildende Kraft macht zugleich die Schwäche des Theoretikers Camus aus, überdeutlich dort etwa, w o er die materialistische Geschichtsphilosophie mit der Bemerkung abzutun versucht, Marx sei die Sonne des Südens fremd geblieben, oder, statt sich auf die Gedankenbewegung der Phänomenologie des Geistes einzulassen, Hegel als Apologeten der Macht des Herrn über den Knecht denunziert. Die mythenschöpfende Potenz, die ästhetisch die Stärke, theoretisch die Schwäche Camus' ausmacht, stellt sich in ethischer Hinsicht als janusköpfig dar. Mythisch kristallisierte Vorstellungen vom mediterranen Menschen stärkten Camus i n seinem Widerstand gegen nationalsozialistische wie stalinistische und poststalinistische Gewalt. Sie machten ihn aber auch tendenziell geschichtsblind, in seinem überhöhten französischen Selbstbild wie in seinem Widerstand gegen die Unabhängigkeit Algeriens, 71 und ließen ihn gelegentlich die abstoßenden Züge eines hochmütigen politischen Sittenrichters annehmen, die Jeanson, Sartre und Simone de Beauvoir geschickt polemisch aufzuspießen wußten. Dies führt abschließend zu der Frage, ob und inwieweit Camus selber die psychologische Kausalität seiner mythischen Zuschreibungen reflektierte und 70 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, hg. Giorgio C o l l i und Mazzino Montinari. Krit. Studienausgabe i n 15 Bänden (München 1980), Bd. 1, 276 f., 334. 71

Siehe dazu nun, mit abweichender Einschätzung Jean-Jacques Gonzales, »Une utopie méditerranéenne. Albert Camus et l'Algérie en guerre«, in: Harbi, Stora (Hgg.), La guerre d'Algérie , 597-620. 20*

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damit auch relativierte. Der Platz fehlt für eine genauere Antwort. Die Elemente für sie fände man zumal in den beiden Werken, in denen Camus die Deutschlandreise 1936 verarbeitete, in »La mort dans Tarne« und dem erst postum veröffentlichten Fragment La mort heureuse , i n dem frühen Drama Caligula und in der späten Erzählung La Chute. Sowohl in »La mort dans l'âme« aus Uenvers et V endroit 72 von 1936 als auch in La mort heureuse 73 bezeichnet der mitteleuropäische Norden - Prag, Sachsen, Schlesien - den Punkt äußerster Entfremdung des essayistischen bzw. fiktiven Ich-Erzählers. Als solcher bildet er den negativen Pol eines positiven mittelmeerischen Ursprungsmythos, für den im ersten Fall die auf dem Rückweg aus dem Norden gemachte Erfahrung Vicenzas, i m zweiten die Genuas steht. Dieser Ursprungsmythos ist in beiden Fällen betont subjektiv und zwar insofern, als noch sein ins Allgemeine ausgreifender Symbolismus i m Horizont der bis in absonderliche Idiosynkrasien konditionierten Perspektivfigur formuliert wird. Seine fragwürdige Fixierung setzt in dem Augenblick ein, als Camus auf die Weiterführung von La mort heureuse verzichtet und das M o t i v des kalkulierten Mordes, das hier dem Aufbruch i n den Norden vorausgeht, in jene mehr oder weniger zufällige, »unschuldige« Tötung transformiert, die i m Zentrum von L'Étranger steht. Entstehungsgeschichtlich gesehen verdankt sich Camus' nicht nur faktisch feststellende, sondern explikativen Wert beanspruchende Zuordnung des Nordens zu den theoretisch inspirierten mörderischsten Verbrechen der Weltgeschichte nicht nur der fragwürdigen wirkungsmächtigen Tradition Barrés', sondern auch, spezifischer, einer dem Süden i m Zuge der persönlichen Identitätskonstruktion dogmatisch zugesprochenen Positivität, die nicht ohne den Preis einer schönenden Selbstzensur zu haben war. Was Caligula betrifft, so ist in dem römischen Gewaltherrscher, der nicht nur das Leben, sondern auch die Seele seiner Opfer vernichtet, weniger Hitler porträtiert als vielmehr die rauschhafte, alles Lebendige zerstörende und zuletzt in die Selbstauslöschung führende Verzweiflung des Nihilisten gefaßt, der in sich und außer sich keine Grenzen findet. Daß diese Versuchung demjenigen als emotionale Möglichkeit völlig fremd gewesen sein soll, der sie i n seinem besten, mehrfach überarbeiteten Drama so eindrucksvoll gestaltete und i n den Lettres a un ami allemand immer wieder auf den gemeinsamen Ausgangspunkt mit dem deutschen Freund hinwies, steht nicht zu vermuten. 7 4 Insofern stimme 72

Camus, Essais, 3 1 - 3 9 .

73

La mort heureuse , hg. Jean Sarocchi (Paris 1991 [1971]).

74

Vgl. die Äußerung in dem schon angeführten Interview mit Rauhut: »Mes œuvres sortent de tentations qui m'assaillent. I l est impossible de vivre toutes les formes possibles de la vie, de céder à toutes les tentations qu'on a en soi, de s'abandonner à tous les crimes qui vous tentent. En les réalisant dans une oeuvre littéraire, je les exagère, je laisse mes personnages vivre leur expérience jusqu'au bout« (Thieberger, Camus, 18).

Symbolische Konstruktion des Deutschen

301

ich Walter Heist zu, der provozierend davon sprach, es sei nicht zu übersehen, »wie tapfer« Camus, den er zu Recht »eine der lautersten Erscheinungen [ . . . ] der letzten Jahrzehnte« nannte, sich »mit der faschistischen Verführung« herumgeschlagen habe. 75 La Chute , von Sartre i m Nachruf als das beste Werk Camus' hervorgehoben, thematisiert einen doppelten »Fall« bzw. »Sturz«: den einer Frau vom PontNeuf i n die Seine und den des Pariser Rechtsanwalts Clamart, der Zeuge des Geschehens wurde, aus moralischer Selbstgefälligkeit in einen bohrenden Zweifel, wobei er - dem Rousseau der Confessions verwandt - gerade aus dem Eingeständnis eigenen Versagens die Kraft zu neuerlicher Überheblichkeit schöpft. Der O r t des Geschehens, das aus nichts anderem als einer großen Konfession Clamarts besteht, ist das neblige, nasse Amsterdam. Der sonnenarme Norden steht hier nicht für einen maßlosen, verbrecherischen Machtwahn, sondern für eine radikale introspektive Selbstbefragung. I m Norden erst ist Clamart, der ein Leben lang i n einem quasi mythischen Selbstbild befangen war, in seiner wirklichen Geschichte angekommen. Nach dem großen Mythenbildner begegnet uns hier der i m französischen Wortsinn bedeutende Moralist, der Menschenkenner Camus. I n der Nachfolge Nietzsches war Camus nämlich, vom politischen Mahner und Kämpfer abgesehen, vor allem dies: ein stilistisch brillanter Mythenbildner und Moralist. Aus der Spannung dieser beiden Pole sind die mythischen Kristallisationen in seinem symbolisch verzerrten Bild des Deutschen wie auch die verstreuten Äußerungen zu verstehen, die diese K r i stallisationen gleichsam wieder verflüssigen.

75 Heist, Genet, 12. Heist über die »Vergötterung der mittelmeerischen Natur« i n L'envers et l'endroit und Noces: »Nicht die Hingabe an die Natur ist darin bemerkenswert und gefährlich, sondern die A r t , wie sie zur Grundlage auch philosophischer und politischer Entscheidungen gemacht wird. M a n fühlt sich als deutscher Leser an Äußerungen aus der großen Zeit der Jugendbewegung erinnert, wenn man nicht gar das verhängnisvolle Wort Blut und Boden gebrauchen w i l l - es w i r d i m Grunde mit dem gleichen politisch-biologischen Gefühlsmischmasch argumentiert« (115). Über Caligula: »Nach der Naturverherrlichung trägt [ . . . ] auch die Konstruktion des abstrakten, >absoluten< Lebenshungers bei Caligula das [ . . . ] Kennzeichen einer Flucht vor der Wirklichkeit und vor der Geschichte« (118).

Polysemantik u n d Entropie: Z u r Ä s t h e t i k der A m b i g u i t ä t bei H e n r y James und Thomas Pynchon Von Stefan L. Brandt

I. E n if ü h r u n g : Der T e x t as l ä s t h e s t ic h e sG a n z e s Generationen von Literaturwissenschaftlern haben sich über die Frage gestritten, was genau das >Literarische< an der Literatur ist. Wodurch qualifiziert sich ein Werk als ein Werk der Literatur? Die russischen Formalisten u m Roman Jakobson und Boris Ejchenbaum haben diese Frage in den 1910er und 1920er Jahren mit dem Verweis auf den generischen Charakter der Literatur beantwortet, der, so die Autoren, eine Unterscheidung von Bereichen wie der Psychologie, der Politik und der Philosophie ermögliche. Damit verbunden war das Postulat, die, in Jakobsons Worten, »Autonomie der ästhetischen Funktion« 1 zu bewahren. Literatur sollte, in der Lesart der Formalisten, als eine gesonderte Textgattung behandelt werden, die mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und einer inneren Logik und Ästhetik ausgestattet war. Der Fokussierung der Formalisten auf >Literarizität< und >Literaturhaftigkeit< entsprach in der amerikanischen Literaturkritik der 1940er, 50er und 60er Jahre das Beharren der N e w Critics auf der ästhetischen Abgeschlossenheit, Selbstreferentialität und der >self-sufficiencys d. h. dem Sich-Selbst-Genügen, des literarischen Werkes. Dennoch waren auch für die N e w Critics Aspekte des sinnlichen und sinnhaften Aufbaus des literarischen Textes von Interesse. So verwundert es nicht, dass auch in jenen Texten, die den N e w Critics als Motivation gedient haben, 2 Momente der psychologischen Beeinflussung des Lesers 3 eine wichtige Rolle spielen. I n der Verwendung des Konzeptes der >Literaturhaftigkeit< seit den 1970er Jahren lassen sich zahlreiche Elemente dieses gespaltenen Erbes wiederfinden. 1 Roman Jakobson, »Was ist Poesie?«, in: Roman Jakobson, Poetik: Ausgewählte Aufsätze, hg. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert (Frankfurt am M a i n 1979), 6 7 - 8 2 , hier 67. 2 Vgl. I. A . Richards, Practical Criticism: A Study of Literary Judgment ( N e w York 1929) und William Empson, Seven Types of Ambiguity (3. Aufl., London 1961). 3 Ich verwende i m folgenden, aus Gründen der Vereinfachung, den Begriff >Leser< als generischen Begriff; hierunter verstehe ich stets gleichermaßen Leserinnen wie Leser.

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Stefan L. Brandt

Hier treten, neben einem Interesse an der inneren Struktur des Textes, auch die ästhetische Dimension, das Zusammenspiel zwischen Text und Bezugsfeldern aus dem sozialen Umfeld, die Vielfalt der Lektüremöglichkeiten sowie der Konstruktionscharakter literarischer Kommunikation i n den Vordergrund. I n der Rezeptionsästhetik der 1970er und 80er Jahre sind die Komponenten eines sinnlichen Zusammenspiels von Text und Umfeld noch stärker herausgearbeitet worden. Der literarische Text selbst erscheint in dieser Sicht nicht mehr als alles entscheidender Faktor in der Konstitution von Bedeutung. M i t der Moderne, so die rezeptionsästhetische Sicht, scheint der Leser zunehmend gefordert, sich am Prozess der Sinnkonstitution zu beteiligen, ja sogar den Text als ästhetisches Ganzes mitzugestalten. »In their experimental mode,« so Winfried Fluck, »modernist texts defy realist representation and compel the reader to become active in making sense of what often appears incomplete or even incomprehensible.« 4 Literatur ist, so gesehen, weit entfernt davon, sinnhomogen zu sein oder als sinnhomogen klassifiziert zu werden. Sowohl in der modernen Literaturkritik als auch i m literarischen Text selbst, vom Realismus zur Postmoderne, kommen Mustern der Mehrdeutigkeit eine hohe Bedeutung zu. I m M o t i v der Mehrdeutigkeit drücken sich zum einen übergeordnete Interpretationszusammenhänge aus, zum anderen aber auch bestimmte literarische Selbstmodellierungsstrategien. M i t anderen Worten - und dies ist meine zentrale These: I n der literarischen Moderne w i r d mit dem ästhetischen Konzept der Mehrdeutigkeit einerseits eine erhöhte Offenheit der Sinninterpretation signalisiert, andererseits aber auch ein Prozess der Vertiefung der Text-Leser-Relation in die Wege geleitet, der zu einer Produktion von neuen und im Endeffekt auch stabileren Sinnbildungsstrukturen führt. 5 Mein Aufsatz knüpft an die literaturwissenschaftliche Debatte an, die i n den 1970er Jahren durch Shlomith Rimmons Buch The Concept of Ambiguity ausgelöst wurde. 6 A m Beispiel von Henry James* Romanen arbeitet Rimmon in 4

Winfried Fluck, »The Role of the Reader and the Changing Functions of Literature: Reception Aesthetics, Literary Anthropology, Funktionsgeschichte«, European Journal of English Studies , 6.3 (2002), 253-271, hier 256. Fluck bezieht sich hier auf Wolfgang Isers frühe rezeptionsästhetische Schriften aus den 1960er Jahren, vor allem auf dessen Aufsatz »Image und Montage« aus dem Jahre 1966. Der darin angedeutete und später von Iser weiterentwickelte Ansatz einer Ä s t h e t i k der Negativität< zielte auf das literarischen Texten inhärente Potential ab, die Grenzen unserer Vorstellungskraft offenzulegen sowie Bruchstellen in etablierten Denkmustern zu enttarnen. Die Ästhetik der Moderne mit ihrem Appell an die Reflexivität des Lesers erschien in dieser Phase von besonderem Interesse: »Initially, for Iser, as for many critics of his generation, the model for such a negative >art of reflexivity< was provided by modernism« (Fluck, ibid.). 5 Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität: Zur Funktion deutigkeit in der Literatur der Moderne (Tübingen 1988), 21.

und Bedeutung von Mehr-

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ihrer Studie einen Begriff literarischer Ambiguität heraus, der die Strategie der Mehrdeutigkeit als einen logischen und zutiefst binär ausgerichteten Vorgang der Sinnkonstruktion begreift. »Ambiguity«, so fasst Rimmon die Hauptaussage ihres Buches zusammen, »is the >conjunction< of exclusive disjuncts, or - in less technical language - the co-existence of mutually exclusive readings.« 7 Der Leser ist i n Rimmons Sicht einer Situation ausgesetzt, in der sich die Textaussage als Paradoxon vermittelt: »a and not a« 8 - für Rimmon die »basic formula« 9 des Ambiguitätskonzeptes. Wie J. Hillis Miller in seiner A n t w o r t auf Rimmon dargelegt hat, erscheint diese Definition von Ambiguität jedoch »too rational, too >canny,< too much an attempt to reduce the mise en abyme of any literary w o r k [ . . . ] to a logical scheme.« 10 Man mag Rimmon zwar Recht darin geben, dass literarische Texte in komplexer Weise ein Arsenal unterschiedlicher Bedeutungsebenen erfassen; ihre Interpretation bezieht jedoch ausdrücklich nur zwei sich gegenseitig ausschließende Bedeutungsebenen mit ein. Miller verweist daher zu Recht auf den alogischen und ereignishaften Charakter von Literatur, der potentiell in einer Unabschließbarkeit der Literaturinterpretationen mündet. 1 1 Millers Schlussfolgerungen erscheinen jedoch nicht minder problematisch. So schlägt er den Begriff der >Unlesbarkeit< (>unreadabilityAmbiguität< vor und benennt die Unentscheidbarkeit (>undecidabilityAmbiguität< i m folgenden eingrenzen auf die i m literarischen Text eingesetzten Strategien der Unbestimmtheit, wobei die Polyphonie, d. h. die Vielstimmigkeit, als spezifisches Verfahren der ambigen Textbildung gesehen wird. Der Einsatzbereich von Ambiguitätsmustern reicht mit Empson von Vergleichen mit mehr als einem Bezugspunkt bis hin zur Konstruktion einer kontradiktorischen Gesamtaussage des Textes. Gerade in der literarischen Fiktion, und hier vor allem in der Lyrik, werden Muster der Mehrdeutigkeit oder der Sinnoffenheit gebraucht, um einen Effekt literarischer Dichte entstehen zu lassen. Der Eindruck von Ambiguität w i r d dabei durch eine gezielte Uberlagerung der Prinzipien der Similarität und der Kontiguität erreicht. Wie sich sehr gut am Beispiel der Ironie zeigen lässt, kann insbesondere dann Ambiguität entstehen, wenn mehrere mögliche Aussagen zeitgleich i m Räume stehen und diese Aussagen einander in ihrer sprachlichen Struktur ähneln. »In der Dichtung, w o Ähnlichkeit über Kontiguität herbeigeführt wird«, so Roman Jakobson, »ist jede Metonymie ein wenig metaphorisch, und jede Metapher hat einen metonymischen Anstrich.« 2 6 Die Überlagerung von Mustern der Kontiguität und der Similarität verleiht dem literarischen Werk, in 25 26

Empson, Seven Types , 1.

Roman Jakobson, »Concluding Statement: Linguistics and Poetics«, in: T. A . Sebeok (Hg.), Style in Language (New York 1960), 350-377, hier 370, m. Ü .

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Jakobsons Worten, »eine symbolische, multiple und polysemantische Einheit«. 2 7 Es w i r d in dieser sprachlichen Operation des Textes also durchaus eine Referenz vorgenommen, diese Referenz ist jedoch nicht eindeutig, sondern muss i m Bewusstsein des Rezipienten vervollständigt werden. N o c h einmal Roman Jakobson: Ambiguität ist eine wesentliche und unveräußerliche Eigenschaft jeder auf sich selbst bezogenen Botschaft, kurz eine Eigenschaft, die aus der Dichtung folgt. [ . . . ] Das Uberwiegen der poetischen über die referentielle Funktion löscht die Referenz nicht aus, sondern macht sie zweideutig. 2 8

III. R e a d n ig as M s ir e a d n ig Muster der Ambiguität lassen sich jedoch keineswegs nur in der Lyrik allein feststellen, sondern finden auch in anderen literarischen Gattungen Anwendung. Harold Bloom spricht davon, dass der A k t des Lesens fast immer ein A k t des Falsch-Lesens, des >Misreading< sei. 29 Da jeder Leser die Sinnangebote eines literarischen Textes anders versteht und nutzt, entsteht auch eine Vielzahl von Lesarten, die, jede für sich, ihre Berechtigung haben. Die dekonstruktive Literaturkritik u m Jacques Derrida und Geoffrey Hartman geht gar so weit, die Unbestimmtheit zum zentralen Merkmal jedes geschriebenen Textes zu erklären. Es gilt als unumstritten, dass Muster der Ambiguität mit dem Aufkommen der Romankunst i m 18. Jahrhundert zugenommen haben. Der Roman war in besonderem Maße u m eine stärkere Einbeziehung des Lesers und ein neues Wirklichkeitsverständnis bemüht. Das Stilmittel der Ambiguität wurde, wie Christoph Bode und Thomas Schaub in ihren Studien gezeigt haben, i m Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend eingesetzt, u m eine Steigerung an erzählerischer Dichte und Perspektivenvielfalt zu erzielen. 30 Dies lässt sich beispielsweise für die von Hawthorne und Melville begründete Romantradition feststellen, in der die Autorität der Hauptfiguren durch die Einführung anderer gleichermaßen dominanter Figuren und Erzählstimmen problematisiert wird.

27

Ibid., m. Ü .

28

Jakobson, »Concluding Statement«, 370 f., m. Ü .

29

Harold Bloom, Map of Misreading ( N e w York 1975). Vgl. Steven Mailloux, »Misreading as a Historical Act: Cultural Rhetoric, Bible Politics, and Fuller's 1845 Reading of Douglass's Narrative«, in: James L. Machor (Hg.), Readers in History: NineteenthCentury American Literature and the Contexts of Response (Baltimore und London 1993), 3-31. 30 Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität: Zur Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne (Tübingen 1988); Thomas Schaub, Pynchon: The Voice of Ambiguity (Urbana und Chicago 1981).

Stefan L. Brandt

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Wayne Booth hat in The Rhetoric of Fiction nachgewiesen, dass diese Technik der Problematisierung von auktorialen Erzählstimmen in Schlüsseltexten der englischen und amerikanischen Erzählkunst angewandt worden ist. 3 1 Die entscheidende literarästhetische Wende setzt Booth jedoch nicht bei Fielding, Swift, Defoe oder Thackeray an, sondern bei Henry James, der in Booths Sicht diese Erzähltechnik revolutioniert hat. 3 2 Tatsächlich ist James' Erzählstrategie, die er während seiner experimentellen Phase von 1882 bis 1904 perfektioniert hat, inzwischen von der Literaturkritik zum Paradigma einer modernen Erzählweise erhoben worden. Der James-Exeget Paul Armstrong ordnet das Werk des Schriftstellers daher als Brückenkopf zwischen Viktorianismus und Moderne ein. 3 3 James' Technik, die menschliche Vorstellungskraft als ein K o m positum verschiedener möglicher Blickpunkte zu inszenieren, hat ihm nicht zu Unrecht den Ruf eingetragen, zur Avantgarde eines modernen, ja freudianischen Verständnisses der menschlichen Psyche zu gehören.

IV. » T h eT u r n of the S c r e w « - a» F r e u d a in a f a r i « ? Ein anschauliches Beispiel für den kalkulierten Einsatz von Momenten der Ambiguität bei James ist seine Novelle »The Turn of the Screw«. Erschienen i m Jahre 1898, erzählt »The Turn of the Screw« eine Geistergeschichte, die sich vierzig Jahre zuvor auf dem englischen Landsitz Bly zugetragen haben soll. Weitgehend aus dem Blickwinkel einer empfindsamen, leicht exaltiert wirkenden Gouvernante erzählt, erfahren w i r von zwei Geistern, die auf dem Landsitz ihr Unwesen treiben. Die beiden Geistererscheinungen werden von der Gouvernante mit dem Diener Peter Quint und ihrer Vorgängerin Miss Jessel identifiziert, die beide in Bly gestorben sind. Die Geister scheinen es besonders auf die beiden Kinder abgesehen zu haben, die von der Gouvernante betreut werden: die engelhafte Flora und ihr älterer Bruder Miles. Fest überzeugt davon, dass von den Geistern ein unheilvoller, schädigender Einfluss auf die Kinder ausgeht, beginnt die Gouvernante, ihre Zöglinge äußerst streng zu überwachen. Das Mädchen fällt daraufhin in ein Nervenfieber und muss ärztlich in London behandelt werden. Den mit ihr zurückgebliebenen Jungen treibt die Gouvernante bei einer letzten Begegnung mit Quints Geist in eine A r t Schockzustand, der zu seinem Tode führt. Der Junge stirbt bezeichnenderweise in dem Moment, als die Gouvernante ihn in einem A k t der scheinbar rettenden Umarmung an sich reißt. 31

Wayne Booth, The Rhetoric of Fiction (Harmondsworth 1987), 317-322.

32

Booth, Rhetoric, 315 f.

33

Paul B. Armstrong, »The Modernity of Henry James«, in: Ders., The Phenomenology of Henry James (Chapel H i l l und London 1983), 206-213.

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Tatsächlich lässt James, wie Edmund Wilson als einer der Ersten in einem Aufsatz von 1925 festgestellt hat, bis zum Schluss offen, ob die Geister tatsächlich gegenwärtig sind oder ob sie nur als Halluzinationen im Bewusstsein der Gouvernante existieren. 34 W i r sind also mit zwei möglichen Interpretationsmustern konfrontiert: A u f der einen Seite ließe sich argumentieren, dass die Gouvernante aus einem ehrenhaften Beschützerinstinkt heraus handelt. I n dieser Sicht stellen die Geistererscheinungen eine tatsächliche Bedrohung für die Kinder dar, welche die Gouvernante zu Recht erkennt. Diese Position w i r d beispielsweise von Glenn Reed vertreten. »[T]here is little possibility of ambiguity of interpretation concerning the governess.« 35 Alexander E. Jones formuliert diese Sicht noch deutlicher: »The evil spirits do appear; the children are corrupted, and the governess does struggle to save them.« 3 6 Andererseits ließe sich aber auch argumentieren, dass die Gouvernante erst durch ihren übermäßigen und krankhaften Eifer die katastrophale Kettenreaktion herbeiführt, die schließlich i m Tode des Jungen mündet. I n dieser Sicht, die etwa von Harold Goddard vertreten wird, erscheint die Erzieherin als eine neurotische, vom Hysteriediskurs des späten 19. Jahrhunderts gekennzeichnete Erzählgestalt, gebrochen von den dominanten sozialen Codes und ein Opfer der sie umgebenden Umstände. 3 7 Ezra Pound hat James* Erzählung in einer berühmten Bemerkung als »Freudian affair« bezeichnet. 38 Wie sehr die Geschichte insgesamt zwischen diesen beiden Deutungsoptionen oszilliert, lässt sich am deutlichsten anhand der Schlusspassage aufzeigen. Als die Gouvernante erneut meint, den Geist des verstorbenen Dieners zu sehen und der Junge ihr mit seiner zögerlichen Frage »It's he?« Recht zu geben scheint, ist sie entschlossen, endlich die Wahrheit herauszufinden. I was so determined to have all my proof that I flashed into ice to challenge him. »Whom do you mean by >he