Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 15. Band (1974) [1 ed.] 9783428436781, 9783428036783

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 15. Band (1974) [1 ed.]
 9783428436781, 9783428036783

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LITERATÜRWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N K U N I S C H

N E U E FOLGE / F Ü N F Z E H N T E R BAND

1974

Das ,Literaturwissens(haftlidie Jahrbuch' wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Professor Dr. Hermann Kunisch, 8 Mündien 19, Nürnberger Straße 63. Schriftleitung: Dr. Günter Niggl, 8 München 19, Löfftzstraße 1. Das ,Literaturwissenschaftliche Jahrbuch* erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an den Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte drudefertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Den Verfassern wird ein Merkblatt für die typographische Gestaltung übermittelt. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Sdiriftleitung erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot, 1000 Berlin 41, Dietrich-Schäfer-Weg 9

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH FÜNFZEHNTER BAND

Joseph von Eichendorff:

E n t w u r f des Gedichts

.Mondnacht' (vgl. S. 128 f.).

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT H E R A U S G E G E B E N VON H E R M A N N

NEUE FOLGE/FÜNFZEHNTER

KUNISCH

BAND

1974

DUNCKER

&

HUMBLOT

/

B E R L I N

Schriftleitung: Günter Niggl

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03678 6

INHALT

AUFSÄTZE

Joachim Wich (Heidelberg), Ferdinands Unfähigkeit zur Reue. Ein Beitrag zur Deutung von Schillers ,Kabale und Liebe1 1 Colin Walker (Belfast), Temptation and Salvation in Zacharias Werner's ,Der Vierundzwanzigste Februar* 17 Wilhelm

Solms (München), Goethes ,Deutscher Divan' von 1814

39

Hermann F. Weiss (Ann Arbor, Mich.), Achim von Arnims Harmonisierungs81 bedürfnis. Zur Thematik und Technik seiner Novellen Klaus Lindemann (Essen), Von der Naturphilosophie zur christlichen Kunst. Zur Funktion des Venusmotivs in Tiecks ,Runenberg' und Eichendorffs ,Marmorbild' 101 Friedrich

Nemec (München), Zur „Trivialität" in Eichendorffs Mondnacht'.. 123

Dietmar Kunisch (Mainz), Zur genetischen Struktur und Poetologie der 135 Prosaentwürfe Eichendorffs Hans Unterreitmeier (München), Der Riß durch die Wirklichkeit. Versuch einer philosophischen Deutung von Adalbert Stifters Erzählung ,Der 145 Kondor* Wendelin Schmidt-D engler (Wien), Dichtung und Philologie. Zu Hugo von Hofmannsthals ^lkestis* 157 Magda Marx-Weber

(Hamburg), Hugo von Hofmannsthals Beethovenbild . . 179

Claudio Magris (Triest), Musil und die „Nähte der Zeichen"

189

Friedrich Carl Scheibe (Engelskirchen), Der Kriegsroman als optimistische Tragödie. Uber Arnold Zweigs ,Der Streit um den Sergeanten Grischa' . . 221

BERICHTE

Winfried Kreutzer (Würzburg), Theoretische Ansatzpunkte einer Literaturbetrachtung bei Th. W. Adorno 237 Volker Kapp (Trier), Ästhetik und Dramatik. Zu den Prolegomena der ,Theodramatik4 von Hans Urs von Balthasar 260

Inhalt

VI

BUCHBESPRECHUNGEN Traugott Stählin, Gottfried Arnolds geistliche (Von Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert)

Dichtung. Glaube und Mystik. 273

Gottfried Benn, Den Traum alleine tragen. Neue Texte, Briefe, Dokumente. Herausgegeben von Paul Raabe und Max Niedermayer. (Von Steffen Ewig) 283 Namen- und Sachregister

299

NACHWEIS DER ABBILDUNG Titelbild: Faksimile des Blattes f. 14 v (mit dem Entwurf des Gedichts ,Mondnacht4) aus dem Nachlaß Eichendorff (Akzessionsnummer 11004) der Deutschen Staatsbibliothek Berlin/DDR, der wir für die freundliche Erlaubnis des Abdrucks danken.

FERDINANDS UNFÄHIGKEIT ZUR REUE Ein Beitrag zur Deutung von Schillers ,Kabale und Liebe' Von Joachim Wich Shakespeares Othello, nachdem er erkannt, daß Desdemona das Opfer seiner verblendeten Eifersucht geworden, wird von den Furien der Reue ergriffen: Peitscht midi, ihr Teufel, Weg von dem Anblick dieser Himmelsschönheit! Stürmt mich in Wirbeln! Röstet midi in Schwefel, Wascht mich in tiefen Schlünden flüssiger Glut! O Desdemona,..

Othellos Tragik gipfelt im jähen Erlebnis der eigenen Schuld und wird — letzte und prägnante Konsequenz der Katharsis seiner abgründigen Affekte — durch die tödliche Selbstbestrafung beendet. Kaum irgendwo aber wird die Tragik der Reue eindringlicher und gewagter dramatisch vergegenwärtigt als in Kleists ^enthesilea', wenn die Amazonenkönigin aus ihrer Gefühlsverwirrung erwachend, erkennt, daß sie Achilles unschuldig ihrem Rachewahn geopfert: . . . jetzt steig' ich in meinen Busen nieder, Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz, mir ein vernichtendes Gefühl hervor. Dies Erz, dies läutr' ich in der Glut des Jammers Hart mir zu Stahl; tränk' es mit Gift sodann, Heissätzendem, der Reue, durch und durch:... Und schärf' und spitz' es mir zu einem Dolch; Und diesem Dolch jetzt reich' ich meine Brust . . . 2

Wie eigenartig reuelos verhält sich demgegenüber Ferdinand in Schillers ,Kabale und Liebe', als ihn Louise sterbend über die Intrige aufklärt und er so erfahren muß, daß er eine unschuldige Geliebte vergiftet hat. Seine 1 Othello, V, 2. Ubers, v. W. Graf v. Baudissin. Shakespeares dramat. Werke, ed. A. Brandl , Bibliograph. Institut, Leipzig / Wien, o. J., Bd. IV. 2 Penthesilea, 24. Auftritt. Kleists Werke, ed. E. Schmidt, Bibliograph. Institut, Leipzig / Wien, o. J. [1904], Bd. II.

1 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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Unfähigkeit, Worte der Reue zu artikulieren, könnte zwar durch seine Gebärdensprache kompensiert und damit als dramatische Verlebendigung von Schillers Vers, „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr"., aufgefaßt werden. Denn in der Regieanweisung heißt es, Ferdinand steht „starr und einer Bildsäule gleich, in langer toter Pause hingewurzelt, fällt endlich wie von einem Donnerschlag nieder" 3 . Aber wie seine folgenden, „im Ausdruck der unbändigsten Wut", hervorgestoßenen Worte: „Mörder und Mördervater!" bezeugen, gilt Ferdinands Sprachlosigkeit vor allem dem Entsetzen über den väterlichen „Barbar", dem er „feierlich" „die größte, gräßlichste Hälfte" des Mordes „zuwälzt". Und Miller gegenüber, der „in der fürchterlichsten Angst" nach seinem Kinde schreit, erklärt er vor Louises Leiche auf den Vater deutend: »Ich bin unschuldig — Danke diesem hier." Er gibt zwar zu: „wie ich mit Gott stehe, zittre ich —", schränkt aber sofort ein: „doch ein Bösewicht bin ich niemals gewesen"4. Ferdinands Unfähigkeit zur Reue, von der Forschung bisher nicht hervorgehoben, scheint doch geeignet, wesentliche Argumente der Deutung von ,Kabale und Liebe' entweder stärker zu profilieren oder aber modifizierend abzuschwächen, zumal das Motiv der Reue für das Drama der Empfindsamkeit und des Sturms und Drangs sonst von so entscheidender Bedeutung ist. Gleichsam in Form eines indirekten Forschungsberichts ist es so die Absicht des vorliegenden Versuches, die durch eine existentialpsychologische Betrachtungsweise fragwürdig gewordenen Züge der Ferdinandfigur erneut zur Diskussion zu stellen und dabei wesentliche Erkenntnisse früherer Forschung, die zu Unrecht in den Hintergrund gedrängt wurden, wieder zu rechtfertigen und darauf basierend Ferdinands Tragik von einer kritisch erneuerten Perspektive her zu beleuchten. Vermessenheit oder

Superbia?

Schon Karl Philipp Moritz weist in seiner berühmt-berüchtigten Kritik aus dem Jahre 1784 darauf hin, daß sich Ferdinand im Unterschied zu Othello bereits vor Entdeckung der Unschuld seiner Geliebten vergifte, was er, wie Moritz etwas philiströs meint, vielmehr erst nadiher hätte tun sollen 5 . Jedenfalls bestätigt auch dieser Umstand, daß Ferdinand nicht im Hinblick auf die Tragik einer reuevollen Konfrontation mit der eigenen Schuld und der daraus erwachsenen Sühne konzipiert ist, wodurch sinn3 Kabale und Liebe, V, 7, Nationalausg., ed. H . O. Bürger u. W. Höllerer, Weimar 1957, Bd. V. 4 Ibid., V, 8. 5 Karl Philipp Moritz, Schriften zur Ästhetik u. Poetik, ed. H . J. Schrimpf, Tübingen 1962, S. 305.

Ferdinands Unfähigkeit zur Reue

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fällig wird, wie sehr er sich bereits von Karl Moor abhebt und wie nahe er schon dem Marquis Posa verwandt ist 6 . Wenn Karl Morr in der Katastrophe mit „Scham und Grauen" seinen „hochfliegenden Plänen" entsagt, wenn er „mit Zähnklappern und Heulen" „am Rand eines entsetzlichen Lebens" steht, und wenn er endlich sich selbst opfernd versucht, die „mißhandelte Ordnung" und die „beleidigten Gesetze" wieder zu „versöhnen", so gestaltet Schiller damit die Schauder und Jammer erregende Katharsis des „großen Kerls", des titanischen Frevlers wider den „ganzen Bau der sittlichen Welt" 7. Schon allein die hyperbolische Eindringlichkeit, mit der Schiller Moors reuevolles Schuldbekenntnis und Sühne und damit die Katharsis der Superbia dramatisch vergegenwärtigt, sollte vor der Annahme warnen, Schiller habe auch Ferdinand als tragischen Repräsentanten der Superbia verstanden. Wäre dem wirklich so, Schiller hätte wohl kaum darauf verzichtet, auch hier die Katharsis der Hybris in einem reuevollen Schuldbekenntnis gipfeln zu lassen. Niemals aber hätte er Ferdinand noch in seinem letzten Auftritt, wenn die Szene zum apokalyptischen Tribunal wird 8 , mit derart forciertem Pathos die Rolle des „bübisch um sein Leben bestohlenen" Anklägers spielen lassen. Ferdinand beschwört nicht nur sogar vor Louises Leiche noch seine Unschuld, sondern darüber hinaus ist er es, dem der Dichter das Recht verleiht, mit einer letzten verzeihenden Gebärde Vergebung zu gewähren9. Die Konzeption der Superbia des Ferdinand wurde am konsequentesten von W. Binder vertreten 10 . Binder nimmt damit, wie er selbst anmerkt, Beobachtungen über „Ferdinands Subjektivismus und frevelhafte Leidenschaft" von F. Martini 1 1 und A. Beck12 auf, die er „mit dem Gedanken der superbia . . . in ihren metaphysischen Horizont zu stellen" 13 sucht. Für Binder ist die Gestalt des Ferdinand bereits im Ansatz im Hinblick auf die Superbia entworfen. Ferdinands Weigerung, die Vertreibung aus dem 6 Vgl. zur Ähnlichkeit Posa und Ferdinand, G. Storz , Der Dichter Friedrich Schiller, IV. Aufl. Stuttgart 1968, S. 100. 7 Die Räuber. Ein Schauspiel, V, 2, Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, ed. G. Fricke u. G. Goepfert in Verbindung mit H . Stubenrauch , München 1965, Bd. 1. 8 Vgl. B. v. Wiese , Die deutsche Tragödie v. Lessing bis Hebbel, 2. Aufl. Hamburg 1952, S. 188 ff. Derselbe, Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 215 ff. Vgl. auch G. Storz y a.a.O., S. 94 ff. 9 Die Behauptung v. W. Binder , Ferdinand gelange wie Karl Moor in der Katastrophe zur Erkenntnis seiner Schuld, läßt sich vom Text her nicht beweisen. Vgl. W. Binder , Schiller, Kabale und Liebe, in: B. v. Wiese , Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1968, Bd. I, S. 250 - 270. 10 Ibid., S. 260 ff. 11 F. Martini , Schillers „Kabale und Liebe", Bemerkungen zur Interpretation des bürgerlichen Trauerspiels', Deutschunterricht 5, (1952), S. 18 - 39. 12 A. Bede, Die Krisis des Menschen im Drama des jungen Schiller, Euphorion 49 (1955), S. 163 - 202. Darin „Kabale und Liebe" S. 179 - 187. 13 Binder, a.a.O., Anm. 5, S. 497/98.

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Paradies der Liebesidylle in die Realität zu akzeptieren, wird von ihm als Vermessenheit von Anfang an deklariert. Dies wäre durchaus zu akzeptieren, wenn eben nicht Binder in der Vermessenheit eine „superbia als Gesinnung" 14 sähe. Wir möchten aber, den Wertbegriff „vermessen", so wie Schiller ihn gebraucht, scharf von der im Begriff der Superbia enthaltenen eindeutig negativen Abwertung unterscheiden. Wenn Kant etwa „ein Urteil" als „vermessen" bezeichnet, „bei welchem man das Längemaß seiner Kräfte des Verstandes zu überschlagen vergißt" 15 , und wenn er die Schwärmerei „eine andächtige Vermessenheit" nennt 16 , so glauben wir mit dieser Umschreibung der Schillerischen Wertvorstellung von diesem Begriff weit näher zu kommen, als wenn wir ihn mit der Superbia, der menschlichen Hauptsünde, sowohl nach griechischer als auch nach jüdisch-christlicher Vorstellung gleichsetzen würden. Bei der Entwicklung seiner Superbiakonzeption weist Binder u. a. ausdrücklich auf Ferdinands Fluchtplan hin. Höre, Louise — ein Gedanke, groß und vermessen wie meine Leidenschaft drängt sich vor meine Seele — Du Louise, und ich und die Liebe! — Liegt nicht in diesem Zirkel der ganze Himmel? Oder brauchst du noch etwas viertes dazu?17 Dieser „Gedanke", mit dem Ferdinand seinen Fluchtplan einleitet, kann, bedenkt man den Zwang der moralisch versumpften Umgebung, dem die Liebenden ausgesetzt sind, zwar als enthusiastische Vermessenheit nicht aber als Superbia gewertet werden. Da Ferdinand Miller sogar mit auf die Flucht nehmen will, was meist übersehen wird, kann sein Ansinnen wohl als schwärmerisch-unrealistisch, nicht aber als eigentlich „frevelhaft" gelten. Wenn Louise es trotzdem darüber hinaus als „Frevel" bezeichnet, daß Ferdinand seinen Vater verlassen will, so bedeutet dies eine Wertung, die zwar Louisens bürgerlich-empfindsamem Ethos entspricht, die aber keinerlei objektive moralische Bedeutung auch für Ferdinands Verhältnis zu dem skrupellosen Präsidenten beanspruchen kann. Wir glauben18, Ferdinands Vermessenheit will von Schiller weit eher als geradezu notwendige enthusiastische Reaktion auf die Herausforderung durch eine in Konventionen erstickende Gesellschaft verstanden sein, denn 14

Ibid., S. 260. Kritik der Urteilskraft, ed. K. Vorländer , Hamburg 1954, S. 247, Anm. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), Immanuel Kants Werke, ed. E. Cassirer , Berlin 1922, Bd. I I , S. 294. Ebenda, S. 295, Anm. findet sich auch die folgende Definition des Enthusiasmus, die unserer Anwendung dieses Begriffes zugrunde liegt: Der Enthusiasmus „glaubt eine unmittelbare und außerordentliche Gemeinschaft mit einer höheren Natur zu fühlen,.. 17 Kabale und Liebe, a.a.O., I I I , 4. 15

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als Sünde des Hochmuts. Damit bleibt die Vermessenheit freilich ein „Fehler", aber eben jener menschlich-rührende Fehler im Sinne Lessings, ohne den der Tragödienheld und sein unglückliches Schicksal nicht eins sein können 19 . Es kann zwar nicht geleugnet werden, daß Ferdinands „Vermessenheit" sich zu frevelhafter Hybris steigert, wenn er, sich selbst zum Richter über Tod und Leben erhebend, von Gott Louises Schicksal abfordert: — „Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel!" 20 Doch sollte dieses Unmaß an Vermessenheit nicht dazu führen, aus der Retrospektive des IV. Aktes zu urteilen, Ferdinand sei schon im Ansatz auf jene Superbia hin konzipiert. Eine solche Betrachtungsweise scheint uns Ferdinands Charakter zu ausschließlich aus seinem Verhalten Louise gegenüber zu erklären und zu isoliert von den Umständen, die ihn erst zu dieser hybriden Ubersteigerung verleiten mußten, zu betrachten. Genau so: wenn Beck Ferdinands „Gewaltsinn" und „Machtwillen" gegenüber Louise in den Vordergrund seiner Charakteristik rückt 21 , dann bemißt er vielleicht doch zu wenig, daß Ferdinand von seinem ersten Auftritt an nur mit Widerständen konfrontiert wird, die sich von Szene zu Szene steigern. Ferdinand muß sich nicht nur dem tyrannischen Machtwillen des Präsidenten, der Abneigung Millers und der Versuchung durch die Lady widersetzen, sondern ist von Anfang an auch der Unsicherheit und Verzagtheit Louises ausgesetzt. Bedenkt man, daß jeder seiner Auftritte so zu einer immer enervierenderen „Probe" seiner Widerstandskraft wird 2 2 , dann zeigt sich deutlich, daß es Schiller weniger darum geht, die differenzierte Psychologie des tragischen Liebhabers zu gestalten, als vielmehr die unerhörte Charakterfestigkeit des enthusiastischen Idealisten zu demonstrieren. Ferdinands Charakter wird nicht eigentlich naturgemäß psychologisch entwickelt, sondern ist vielmehr im Hinblick auf solche „theatralischen Momente" entworfen, in denen sein enthusiastischer Protest gegen die Verstrickung in eine inferiore soziale Realität die „größte augenblicklichste Wirksamkeit", „die höchste packendste Gegenwart" gewinnt 23 . Durch eben 18

In Anlehnung an W. Schadewaldt , Zur Tragik Schillers, Hellas und Hesperien, Stuttgart 1960, S. 832-842. Vgl. auch P. Böckmann , Anm. 24 unten. Vgl. Anm. 16 oben. 19 G. E. Lessing, Briefwechsel, ed. R. Petsch , Philosoph. Bibliothek, Bd. 121, Leipzig 1910, S. 55, 80, 87. 20 Kabale und Liebe, a.a.O., IV, 4. 21 Beck x a.a.O., S. 180. 22 Vgl. Storz , a.a.O., S. 99/100. 23 Schadewaldt , a.a.O., S. 833 f. geht nicht speziell auf Kabale und Liebe ein, doch lassen sich seine überzeugenden Feststellungen, die er generell für Sdiillers dramatischen Stil trifft, auch hier anwenden.

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diesen leidenschaftlichen Willen zur Überwindung der Realität aber wird er für Schiller zum Vorentwurf des pathetischen Tragödienhelden par excellence; denn in seinem Pathos wird nicht nur „die höchstlebendigste „zugleich die höhere Menschheit, die Schilderung des Leidenssondern Gegenwart eines übersinnlichen Vermögens, sichtbar . . ." 2 4 . Dieses Bewußtsein, aus einem „übersinnlichen Vermögen" heraus die Werte der Freiheit, der Liebe und der Menschenrechte gegenüber einer im Sumpf der Intrigen vermodernden Gesellschaft zu verteidigen, verleiht Ferdinand jene moralische Selbstsicherheit, die seinen Charakter bis zu seinem letzten Auftritt vor dem „Richter der Welt" bestimmt. Diese „höhere Menschheit", die er durch seinen pathetischen Willen zur Uberwindung von Vorurteilen, Tyrannei, Verzagtheit und Infamie erlangt, gibt ihm schließlich auch jene „metaphysische" Würde, die es ihm ermöglicht, im apokalyptischen Schlußtribunal Verzeihung zu gewähren. Und diese mit seiner letzten vergebenden Gebärde demonstrierte „Erhabenheit", bestimmt sicherlich eher als die Repräsentation der Superbia Ferdinands „metaphysischen" Standort. Denn wohl kaum hätte der noch wesentlich vom pietistischen Geist beeinflußte junge Schiller gerade dem das Recht der Vergebung verliehen, als dessen Hauptsünde er die Superbia angesehen hätte. Daß aber gerade dieser „ideal" angelegte Charakter in den Fallstricken der sozialen Realität scheitern muß, das ist, wie Schadewaldt treffend bemerkt, „die mit dem Wesen des Enthusiastisch-Idealen notwendig gesetzte Tragik" 2 5 . Und so wie Kant die Schwärmerei eine „andächtige Vermessenheit" nennt, ist es eben jener revolutionär-erotische Enthusiasmus, der Ferdinand seine eigene Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Bedingungen verkennen läßt und der ihn in die tragische Verblendung führt. Doch sollte diese nicht mit einer a priori konzipierten Superbia gleichgesetzt werden. V e r t r a u e n s k r i s e oder tragische

Blindheit?

Betrachtet man jedoch Ferdinand fast ausschließlich als tragischen Liebhaber und damit losgelöst von dem ihm durch Schiller verliehenen „metaphysischen" Standort eines „übersinnlichen Vermögens", dann bleibt schließlich keine andere Möglichkeit, als ihn im Sinne einer Psychologie, die eigentlich erst mit Nietzsche und Strindberg wirksam wird, als „ichbefan24 Schiller, Über das Pathetische, Nationalausg., ed. B. v. Wiese , Weimar 1962, Bd. 20, S. 200-201. Hervorhebung nicht im Originaltext. Vgl. auch P. Böckmann , Die pathetische Ausdrucksform in Schillers Jugenddramen, Formgeschichte der deutschen Dichtung, Hamburg 1949, S. 668 - 694. 26 Schadewaldt, a.a.O., S. 838.

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genen" Subjektivisten „voller verborgenem Machtwillen" zu charakterisieren 26 . Diese Deutung, die mit letzter Konsequenz dazu führte, Ferdinand „innerlich, als einen Angehörigen" gerade der höfischen Gesellschaft zu verurteilen, gegen die er die Stimme seines Herzens zu verteidigen sucht27, erscheint uns von der gehaltlichen wie auch dramaturgischen Struktur des Trauerspiels her als kaum annehmbar 28. Eine Interpretation, für die in ,Kabale und Liebe' vor allem das psychologische Problem entscheidend ist, „wieweit die Liebe ein Recht" und „einen Anspruch . . . ja, eine Macht" über den geliebten Menschen begründe 29, urteilt wahrscheinlich richtig im Sinne einer absoluten Existentialpsychologie, scheint uns aber zu wenig einzubeziehen, daß für Schiller Ferdinand als Liebhaber nur insofern interessant ist, als er gleichzeitig auch als Verkünder der Menschenrechte, als idealischer Jünger Rousseaus, „die Ketten des Vorurteils" zerreißen und die Kabalen der diabolischen Intriganten „durchbohren" will. Genauso wie Beck verneint auch Binder die „höhere Menschheit", die Ferdinand als Verfechter dieser „übersinnlichen" Ideale erlangt, wenn er von einem „hybriden Sichabsolutsetzen" Ferdinands spricht, „das sich mit verfälschten Ideen legitimieren muß" 3 0 . Aber waren für Schiller diese Ideen tatsächlich schon verfälscht oder nicht viel eher die geradezu notwendige enthusiastische Reaktion auf die Widrigkeiten seiner historischen Wirklichkeit, hervorgerufen auch durch eigene leidvolle Erfahrungen in diesen letzten Jahren vor der französischen Revolution? Wir glauben daher in Anlehnung an die ältere, oben zitierte Schillerforschung, daß nur dann die volle dramatisch-tragische Funktionalität von Ferdinands Rolle erfaßt wird werden kann, wenn sein Pathos der Vermessenheit in unlöslichem Zusammenhang mit der Provokation durch eine inferiore Realität beurteilt wird. Auch die Auffassung, daß der Grund der tragischen Katastrophe in ,Kabale und Liebe* in der Anfälligkeit des Vertrauens von Ferdinand liege, wird wohl in der Forschung umstritten bleiben: würde für Schiller Ferdinands „Vertrauenskrise" tatsächlich den entscheidenden psychologischtragischen Stellenwert besitzen, den Beck ihr beimißt, so hätte er wahrscheinlich nicht Ferdinand noch vor der Leiche der ermordeten Geliebten seine Unschuld beteuern lassen! Bedenkt man darüber hinaus, daß in den Augen des Enthusiasten Louise von ihrem ersten Auftritt an bis zu ihrer Weigerung, mit ihm zu fliehen, als unsicher und schwankend erscheinen muß — und daß endlich sie, die für ihn das ganze Universum vertrat, selbst auf seine 26

Beck , a.a.O., S. 180. Ibid., a.a.O., S. 31. Vgl. auch Wiese, Schiller, a.a.O., S. 201. 2 ® Bede, a.a.O., S. 180 f. 80 Binder, a.a.O., S. 263.

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verzweifeltsten Fragen das Geheimnis der Kabale nicht preisgibt, sondern ihren „Liebesverrat" sogar noch selbst bestätigt, so wird wohl eher sinnfällig, daß es Schiller vor allem darum geht, die tragische Blindheit des Enthusiasten zu demonstrieren, für den es „durchaus unmöglich ist . . . , sich auch nur vorzustellen, daß ein Mensch anders ist als er zu sein scheint"31. Für Schiller ist Ferdinand sicher weniger der vertrauenslose, rücksichtslos machtgierige Liebhaber, als der tragisch Verblendete, der, wie Grabbe es ausdrücken würde, Adler im Kopfe trägt und darüber den Kot nicht zu erkennen vermag, in dem er mit den Füßen steckt. Würde Schiller es im Sinne von Kleists Psychologie der tragischen Liebe als eine persönliche Schuld Ferdinands ansehen, daß dieser nicht fähig ist, gegen den Schein der Wirklichkeit Louise zu vertrauen, so hätte die Katastrophe in jenem reuevollen Schuldbekenntnis: „ich hätte dir nidit mißtrauen sollen;" gipfeln müssen, mit dem Gustav von der Ried in der „Verlobung von San Domingo" seine Schuld eingesteht32. Ferdinand aber zitiert mit pathetischer Anklage den „Mördervater" und die väterliche Welt der Konvention und Sünde vor den „Richter der Welt"! So scheint Ferdinands „Unfähigkeit" zur Reue letztlich die Beobachtung von Fricke zu bestätigen, daß für Schiller „die innere Problematik der Liebe in ihrer konkreten Bestimmtheit, in ihrer individuellen und existenten Erscheinung ohne letztes Interesse" war. „Die Liebe interessierte ihn nur insofern, als sie einen unveräußerlichen Bestandteil der Menschenrechte darstellte." „Auf die ,Gesetze der Menschheit' (Ferd. 2, 3), darauf, ob ,die Mode oder die Menschheit auf dem Platze bleiben wird' (Ferd. 2, 4), . . . kommt es ihm wesentlich an . . . " . Von dieser Perspektive her „mußte das chaotische Getriebe des Psychologischen und Individuellen zum Unwesentlichen, bloß Stofflichen, Vergänglichen gehören — " 3 3 . Geniemoral und „metaphysischer"

Standort34

Goethes Urfaust bekennt mit dem verzweifelten Pathos des zerknirschten Frevlers seine Schuld gegenüber Gretchen, die er durch die Dämonie seiner Leidenschaft in den Abgrund gerissen: 81

Vgl. Wiese , Schiller, a.a.O., S. 206. Kleists Werke, a.a.O., Bd. I I I , S. 351. G. Fricke , Die Problematik des Tragischen im Drama Schillers, in: Vollendung und Aufbruch, Berlin 1943, S. 389/90. 84 Verstehen wir hier unter meta-physisdi möglichst wörtlich das, was jenseits der kreatürlichen Natur sich im Menschen über diese erhebt, also was Schiller mit „höherer Menschheit" bezw. „übersinnlichem Vermögen" umschreibt, so deuten in diesem Sinne sowohl Korff als auch Cysarz, Storz und Wiese — trotz verschiedener Perspektiven — Ferdinand doch in gleicher Weise metaphysisch, insofern sie sein Wesen nicht modernistisch psychologisch analysieren, sondern seinen idea82

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Und ich, der Gottverhaßte, Hatte nicht genug, Daß ich die Felsen faßte Und sie zu Trümmern schlug! Sie, ihren Frieden mußt ich untergraben! 35

Clavigo stammelt in der Erkenntnis seiner moralischen Schwäche: „ . . . ich bin ein kleiner Mensch"36. Sein „Herz zerfließt in Schauer", als er Mariens Leichenzug gewahrt. Er erscheint ihm wie „ein Nachtgesicht", in dem er das Ende seiner „Verrätereien" erkennen soll" 37 . Und Stellas Fernando stellt in der Verwirrung seiner Gefühle die verzweifelte Frage an sein Herz: „O, Wenn's in dir liegt, so zu fühlen und so zu handeln, warum hast du nicht auch Kraft, dir das Geschehene zu verzeihen?" 38. Schillers Ferdinand dagegen verkündet noch in der Schlußszene, wenn die Bühne zum Tribunal vor dem „Richter der Welt" wird: „ . . . ein Bösewicht bin ich niemals gewesen" ! Damit wird der besondere „metaphysische" Standort deutlich, durch den sich Ferdinand von der Geniemoral der Goetheschen Sturm- und DrangHelden — aber auch von deren empfindsamem Vorläufer Mellefont in Lessings ,Sarah Sampson' unterscheidet. Wohl kämpfen auch sie um die Emanzipation ihrer leidenschaftlichen Gefühle von einer in Konventionen erstarrten Gesellschaftsordnung: aber sie beladen sich mit tiefer persönlicher Schuld und empfinden diese auch, weil sie von der Dämonie ihrer Leidenschaft getrieben vor allem ihre subjektive Individualität zu verwirklichen trachten. In der Erkenntnis, daß eine derartig prätendierte Freiheit des subjektiven Ichs seine Grenzen nicht nur im Gegenüber der Realität, sondern auch in den Skrupeln des eigenen Gewissens finden muß, erweist sich Goethe an Shakespeare orientiert und den Lessingschen Ansatz weiterführend als früher Meister einer tragischen Psychologie39. Die gleiche psychologische Problematik, wenn auch sehr vergröbert, findet sich bei anderen Dramatikern des Sturms und Drangs, vor allem bei Klinger und Wagner. Besonders Klinger steigert das Verhältnis von exzessiver Leidenschaft und reuevoller Buße ins Extrem. In seinem Trauerspiel ,Das leidende Weib', das 1775, ein Jahr nach ,Clavigo' erschien, ist die Persönlichkeitsstruktur der Hauptpersonen von dem permanenten, bewußt lischen Willen zur Überwindung der Ralität hervorheben. Vgl. auch H . A. Korff, Geist der Goethezeit, I, 4. Aufl. Leipzig 1957, S. 237 und H . Cysarz, Die dichterische Phantasie Friedrich Schillers, Tübingen 1959, S. 120/21. 86 Urfaust, Nacht, Vor Gretdiens Haus, Goethes Werke, ed. E. Trunz , Hamburg 1954, Bd. I I I . 86 Clavigo, IV, 1. Goethes Werke, Hamburg 1955, Bd. IV. 87 Ibid., V, 1. 88 Stella, I I I , 5, s. Anm. 36. 8 ® Vgl. Wiese , Tragödie, a.a.O., S. 69 f.

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erlittenen Gegensatz zwischen geradezu brünstigem Sexualverlangen und reuiger Einkehr gekennzeichnet: „Könnt* ich's gutmachen, alle Männer sollten mich mit Pfriemen hauen, bis ich meinen Geist aufgäbe." 40, bekennt der Verführer Brand schon im I. Akt, lange bevor er sich selbst richtend ein Messer in sein Herz bohrt. Und sein Opfer, die Gesandtin, die einerseits danach lechzt, seine Knie mit „Haaren" zu „umwinden" und ihn damit an sich zu fesseln" 41, will andererseits „in Staub, Asche und Sack gehüllt, Buße tun", und mit ihren „Füßen nackend über Dornen gehen"42. Wenn hier letztlich die antikonventionelle Hemmungslosigkeit der Leidenschaft, indem sie zur Selbstvernichtung ausartet, ad absurdum geführt wird, und wenn das dialektische Verhältnis von Schuld und Sühne die Konvention schließlich doch zu bestätigen scheint, so erweist sich auch bei Klinger die Psychologie der Reue als notwendiges Korrektiv eines hemmungslosen Dranges nach Selbstverwirklichung. Anders Schiller: sein Ferdinand behauptet seine subjektive Unschuld noch vor dem „Richter der Welt", weil seine Liebesleidenschaft nicht als Verwirklichung einer individuellen „Liebeswut" (so Mephisto über Faust) 48 , konzipiert ist, sondern, weil sie im Dienste einer geradezu religiös empfundenen „Metaphysik des Herzens" 44 und der Menschenrechte steht. Dieser „höhere Zweck" so wie die unerhörte Charakterfestigkeit, die er dabei durch seinen pathetischen Widerstand demonstriert — und seine darin eingeschlossene tragische Blindheit, die nicht als Schuld im psychologischindividuellen Sinn aufgefaßt werden darf, tragen schließlich dazu bei, daß sein Scheitern weit eher als notwendiges und gerechtfertigtes Opfer für den „Weltfortschritt" erscheint, denn als Gericht über die „Superbia" oder als Selbstvernichtung eines exzessiven Individualismus. D i e D i a l e k t i k der t r a g i s c h e n

Schuld

Man mag es vom Standpunkt der modernen Psychologie aus bedauern, daß Schiller darauf verzichtet, Ferdinand mit seiner eigenen Fehlbarkeitj mit seiner persönlichen Schuld gegenüber Louise zu konfrontieren. Die Dimension des Tragischen hätte durch die Einsicht in die menschliche Fragwürdigkeit seines enthusiastischen Handelns sicher an Tiefe und Diffe40

Das leidende Weib, I, 5; Sturm u. Drang. Dramatische Schriften, ed. E. Loewenthal u. L. Schneider, Heidelberg 1963, Bd; II. 41 Ibid., I, 7. 42 Ibid., IV, 7. 43 Faust I, Wald und Höhle, ed. E. Trunz, s. Anm. 35. 44 H . CysarZy a.a.O., S. 12, unterscheidet zwischen Schillers Metaphysik des Herzens und der romantischen Metaphysik der Liebe-

Ferdinands Unfähigkeit zur Reue

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renziertheit gewonnen. Man würde aber den auf die unmittelbare Wirkung des „theatralischen Moments" gerichteten pathetischen Willens Schillers verkennen, der vom „Held einer Tragödie . . . nur so viel moralischen Gehalt, als nöthig ist, um Furcht und Mitleid zu erregen", verlangt 45 . Wenn er 1797 an Goethe schreibt, es sei ihm aufgefallen, „daß die Charaktere des griechischen Trauerspiels mehr oder weniger, idealische Masken und keine eigentliche Individuen" seien und das mit der Feststellung rechtfertigt, „man kommt mit solchen Charakteren in der Tragödie offenbar viel besser aus, sie exponieren sich geschwinder, und ihre Züge sind permanenter und fester" 46 , so charakterisiert er damit gleichzeitig wesentliche Züge seiner Ferdinandkonzeption, obwohl diese Sätze erst zwölf Jahre später niedergeschrieben wurden. Indem Schiller aber fähig ist, trotz seines Willens zur dramatischen Verkörperung des Idealischen gleichzeitig die menschlichen Gefahren dieses Willen zum Unbedingten aufzuzeigen 47, formt er seine tragischen Helden im Sinne der Hamburgischen Dramaturgie zu Charakteren der mittleren Gattung und verhindert, das gilt für Ferdinand wie für Posa, daß sie zu bloßen Märtyrerschemen einer neuen Menschheitsideologie erstarren. Aus der Perspektive des empfindsamen Freundes Don Carlos muß der fast totalitäre Idealismus des Marquis Posa menschlich fragwürdig erscheinen. Genau so: wer mit den Augen der entsagenden Louise Ferdinands Willen zu Unbedingtheit betrachtet, muß diesen, wie sie, als frevelhaft verurteilen. Andererseits: nimmt man den Standpunkt des Enthusiasten Ferdinand ein, der —- provoziert durch verrottete gesellschaftliche Zustände — es wagt, sich von den überkommenen Wertvorstellungen zu emanzipieren, um sein Ideal von Liebe und Menschheit zu verwirklichen, dann muß auch Louise als schuldig erscheinen, weil sie in ihrer Angst und Verzagtheit das „heilige Recht" der Liebe opfert. Aber so wie Schiller Louises rührende Entsagung fast heroisiert und als wahre tragische Entscheidung würdigt 48 , genauso wie er Ferdinands enthusiastische Vermessenheit als tragische Verblendung erscheinen läßt, wird deutlich: beide Liebenden sind subjektiv unschuldig, und führen doch gerade durch ihr subjektives Recht den Unter45

An Körner, 13. Juli 1800, Briefwechsel, ed. L. Blumenthal, Nationalausg., Weimar 1961, Bd. 30, S. 172. 46 4. April 1797, Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, ed. H. Dollinger, Stuttgart 1948, S. 113. 47 Vgl. P. Böckmann, Die innere Form in Schillers Jugenddramen, (1934), jetzt in: Formensprache, Studien zur Literaturästhetik und Dichtungsinterpretation, Hamburg 1966, S. 255 ff. 48 Zu Louises Tragik vgl. neben Böckmann und Storz auch H . O. Burger, Die Bürgerliche Sitte, Schillers „Kabale und Liebe" in: Dasein heißt eine Rolle spielen. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, München 1963, S. 194-210. W. MüllerSeidel, Das stumme Drama der Luise Millerin in: Jahrbuch der Goethe-Gesell^ schaft, N. F. Bd. 17 (1955), S. 91 - 103.

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Joachim Wich

gang des Geliebten herbei. Wenn Korff, Joachim Müller und Auerbach Louises kleinbürgerliche Gebundenheit kritisch verurteilen 49 , dann werden sie — aus Ferdinands Perspektive sehend — der tragischen Notwendigkeit von Louises Entscheidung nicht voll gerecht. Denn diese bedeutet nicht lediglich dogmatische Abhängigkeit von einem oktroyierten Pflichtbewußtsein, sondern Louises viel zitiertes Pflichtgefühl erhält gerade dadurch seine rührende Glaubwürdigkeit, daß es neben seiner religiösen und sozialen Verankerung auch tief mit einer empfindsamen Zärtlichkeit für den Vater verbunden ist. Doch das Gleiche gilt, wenn Ferdinands Frevelhaftigkeit aus der Sicht Louises verurteilt wird. Beide Perspektiven werden letztlich der Dialektik der tragischen Schuld in diesem bürgerlichen Trauerspiel nicht ganz gerecht. Und doch wird gerade in der Ambivalenz von persönlicher Unschuld und objektiver Schuld der eigentliche „Realismus" deutlich, der dieses Stück immer wieder so lebendig erscheinen läßt. Obwohl Schiller, wie es scheint, sich zunächst fast etwas geringschätzig dazu herabließ, ein bürgerliches Trauerspiel zu schreiben50, hat gerade er die tiefsten tragischen Möglichkeiten dieser Gattung ausgelotet, indem er mit Louisens Zwiespalt zwischen liebevoller Pflicht und leidenschaftlicher Neigung allen Glanz und alles Elend der bürgerlichen Empfindsamkeit in theatralischen Momenten von unerhörter Wirksamkeit vergegenwärtigt. Aber trotz seines tiefen Verständnisses für die Bedingtheit der bürgerlichen Sittlichkeit hat er gleichzeitig in Ferdinands pathetischem Willen zur Emanzipation von den Gesellschaftsschranken einen Ausweg zur Überwindung dieser Gebundenheit angedeutet. Darin liegt das „Perspektivische" dieses Trauerspiels. Indem Schiller aber auch gleichzeitig die abgründigen menschlichen Gefahren aufzeigt, die mit Ferdinands absolutem Willen zur Uberwindung der Tradition gegeben sind, ergibt sich, daß er alle unrealistische Schwarzweißmalerei zu vermeiden sucht. Wenn daher Auerbach ,Kabale und Liebe* als unrealistischen „Reißer" disqualifiziert, dann verkennt er, daß gerade der dialektische Charakter von Recht und Unrecht diesem bürgerlichen Trauerspiel weit mehr Tiefe und zeitlosen „Realismus" verleiht, als daß man es, wie er, 49 Korff y a.a.O., S. 237 ff. Joachim Müller, Schillers „Kabale und Liebe" als Höhepunkt seines Jugendwerkes, in: Wirklichkeit und Klassik, Berlin 1955, S. 116 148. E. Auerbach, Musikus Miller, in: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, S. 404 - 421. Zur Kritik an Auerbachs Louisebild, vgl. Wiese, Schiller-Forschung und Schiller-Deutung von 1937 bis 1953, DVJS, X X V I I (1953), S. 471; auch H. O. Burger, s. Anm. 46. 50 Vgl. die Erinnerungen von Schillers Jugendfreund Andreas Streicher, Schillers Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785, ed. H . Hofmann, Deutsche Literaturdenkmäler des 18. und 19. Jahrhunderts Nr. 134, 1905, S. 90.

Ferdinands Unfähigkeit zur Reue

lediglich ein dürfte 51 .

„demagogisches"

und

„melodramatisches"

13

Stüde nennen

Indem Schiller einerseits deutlich macht, daß Ferdinands absolute Hingabe an die Idee der Freiheit und der Menschenrechte durch den Zwang der sozialen und politischen Umstände unbedingt notwendig und gerechtfertigt ist, indem er andererseits aber auch die dadurch notwendig verursachte Schuld aufzeigt, wird von ihm schon ganz im Sinne Hebbels „die dramatische Dialektik nicht bloß in die Charaktere, sondern unmittelbar in die Idee selbst hinein gelegt, . . ." 5 2 . Um so unverständlicher ist Hebbels gehässiges Urteil über die „gränzenlose Nichtigkeit" 53 von ,Kabale und Liebe', zumal auch andere wesentliche Postulate seiner Dramaturgie hier bereits vorweggenommen werden: Beide, Louise und Ferdinand „vereinzeln" sich durch ihre leidenschaftliche Liebe gegenüber Tradition und Gesellschaft und werden dadurch schuldlos schuldig. Ihr Untergang wird zu einem versöhnenden Opfer für den Weltfortschritt, weil er zur Erkenntnis führt, daß die Tradition reformiert, daß die Gesellschaft aus ihrem „Massenschlaf" geweckt, daß Menschheit über Mode gesetzt werden müsse. Besonders für Ferdinand aber gilt Hebbels Auffassung, daß die tragische Schuld seiner Vereinzelung durch die dieser „eingepflanzte Maßlosigkeit" bewirkt wird und daß diese Schuld letztlich „eine uranfängliche, von dem Begriff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende" ist; denn „sie ist mit dem Leben selbst gesetzt"54. Dies könnte gegen Frickes Behauptung, Ferdinand sei kein eigentlicher tragischer Held, eingewandt werden 55 ; denn tatsächlich verkörpert doch Ferdinand die Urtragik des Menschen, der schuldig werden muß, sobald er sich über die reine Kreatürlichkeit erhebt, weil er dadurch in notwendigen Widerspruch zur Realität geraten muß. Ferdinand ist durch seine enthusiastische Existenz an sich bereits zur Tragik prädestiniert und es entspricht wiederum Hebbels Forderung, daß das „erschütterndste Bild" gerade dadurch „Zustandekommen soll", daß „der Held an einer vortrefflichen Bestrebung zugrundegeht" 56 . Es bedeutet doch eine unzulässige Einengung, wenn man das Tragische alleine auf den im Helden bewußt ausgetragenen Konflikt zwischen zwei unausgleichbaren Gegensätzen beschränken will. Letztere Tragik gilt, wie 61

Auerbach , a.a.O., S. 408/9. Friedrich Hebbel, Tagebücher, ed. R. M. Werner , Berlin 1905, Bd. 2, Nr. 2864. 63 Ibid., Nr. 4106. 64 Mein Wort über das Drama, Hebbels Werke, ed. F. Zinkernagel , Leipzig o. J., (Bibliograph. Institut), Bd. 6, S. 69. 65 Fricke y a.a.O., S. 387 ff. 66 Mein Wort über das Drama, a.a.O., S. 70. 62

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Joachim Wich

oft bemerkt, zweifellos für Louise, aber darüber darf Ferdinands Tragik nicht verkannt werden. Da Louise bereit wäre, ihren Konflikt durch Entsagung — wenn auch unglücklich — zu lösen, scheint sie sogar die zwar unglücklichere aber doch weniger tragische Figur zu sein. Denn ihr Untergang ist nicht so notwendig durch ihr Wesen selbst gesetzt, wie der Ferdinands 57 : Wenn es dem alten Miller noch kurz vor der Katastrophe gelingt, Louise von der Verzweiflungstat des Selbstmords abzuhalten, wird deutlich, daß Louise nicht im gleichen Maße durch die verunglückte Liebe die letzte Verankerung im Leben verloren hat. „ . . . — so zernicht* ich sein letztes Gedächtnis", sagt sie, als die den aufklärenden Brief an Ferdinand zerreißt. Dann fordert sie Miller auf: „Doch hinweg aus dieser Gegend mein Vater — weg von der Stadt, wo meine Gespielinnen meiner spotten und mein guter Name dahin ist auf immerdar . . . " (V, 1). Für Ferdinand dagegen gelten bereits Kleists Worte, daß mit dem vermeintlichen „Verrat" Louises sein „einziges", sein „höchstes Ziel" gesunken ist. Denn Louise symbolisiert für ihn jene höhere Welt, um deretwillen alleine seine enthusiastischen Anstrengungen begründet und rechtfertigt werden konnten. Während Louise in ihrer Beziehung zum Vater doch noch einen anderen Lebenssinn erblicken kann, ist für Ferdinand — ganz im Sinne von Staigers Definition des Tragischen — »das, worum es in einem letzten allumfassenden Sinn geht", das, worauf sein „ganzes Dasein ankommt", zerbrochen 58.

F e r d i n a n d u n d Posa Schiller gestaltet zwar schon mit der Ferdinandfigur die dialektische Problematik der tragischen Schuld, doch zu theoretisch klärendem Bewußtsein, welche Gefahren dem Menschlichen aus der absoluten enthusiastischen Hingabe an das Ideal erwachsen, ist Schiller erst, wie die Briefe über Don Carlos zeigen, im Bannkreis dieses Dramas gelangt: „Ich halte für Wahr57

Vielleicht hat auch die Erwägung der tragischen Bedeutung von Ferdinand mit dazu beigetragen, daß Schiller so bereitwillig auf Ifflands Vorschlag einging und den ursprünglichen Titel »Louise Millerin' in ,Kabale und Liebe' änderte. Setzt man für „Kabale" die Korruptheit der Gesellschaftsordnung und für „Liebe" den revolutionären Protest eines enthusiastischen Herzens dagegen, so entspricht der zweite Titel trotz seiner vielgeschmähten „Kinohaftigkeit" doch eher der dramaturgischen Konzeption als der ursprüngliche in Anlehnung an ,Emilia Galotti' gesetzte. Jedenfalls hat Schiller auch bei der späteren Herausgabe seiner Werke, als sein Ruhm es ihm leicht ermöglicht hätte, auf den effektvolleren Titel zu verzichten, nicht mehr auf den ursprünglichen Namen zurückgegriffen. 58 E. Staiger , Grundbegriffe der Poetik, IV. Aufl., Zürich 1959, S. 183.

Ferdinands Unfähigkeit zur Reue

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heit, . . . — daß der uneigennützigste, reinste und edelste Mensch aus enthusiastischer Anhänglichkeit an seine Vorstellung von Tugend und hervorzubringendem Glück sehr oft ausgesetzt ist, ebenso willkürlich mit den Individuen zu schalten, als nur immer der selbstsüchtigste Despot, . . . weil jener, der seine Handlungen nach einem inneren Geistesbilde modelt, mit der Freiheit anderer beinahe ebenso im Streit liegt als dieser, dessen letztes Ziel sein eigenes Ich ist. Wahre Größe des Gemüts führt oft nicht weniger zu Verletzungen fremder Freiheit als der Egoismus und die Herrschsucht . . . , weil sie in steter Hinsicht auf das Ganze wirkt, verschwindet nur allzuleicht das kleinere Interesse des Individuums in diesem weiten Prospekte, . . ." 5 9 . Diese Sätze, mit denen Schiller Posas Beziehung zu Carlos reflektiert, könnten ebenso auf Ferdinands Verhalten gegenüber Louise angewandt werden. Aber zur Zeit der Entstehung von ,Kabale und Liebe' scheint Schiller, wie Ferdinands Reuelosigkeit zeigt, sich weit unbedingter mit dem enthusiastischen Pathos Ferdinands identifiziert zu haben, als ihm das noch in derartiger Absolutheit bei Posa gelingen konnte. Deshalb findet Posa auch im Unterschied zu Ferdinand wenigstens andeutungsweise Worte der Reue gegenüber Carlos: Mein Gebäude stürzt Zusammen — ich vergaß dein Herz 60 .

Aber trotz dieser Einsicht in die Fragwürdigkeit des absoluten idealistischen Strebens bedeutet auch in ,Don Carlos' noch für Schiller Posas idealistische Unbedingtheit gerade das Wertkriterium, das ihn letztlich über die Anerkennung der individuellen Schuld erhebt: Wenn Posa „stirbt, um für sein — in des Prinzen Seele niedergelegtes — Ideal alles zu tun", wenn er sich opfert, um „eine höhere Ehrwürdigkeit über das Werk auszugießen, indem er den Schöpfer desselben zu einem Gegenstand der Rührung und Bewunderung machte", dann erspart ihm gerade das „übersinnliche Vermögen" dieser Handlung, wie Schiller selbst mit imponierender Selbstentlarvung erklärt, die Reue der individuellen Schuld: Posa „hüllt sich in die Größe seiner Tat, um keine Reue darüber zu empfinden" 61 .

69 11. Brief, Briefe über Don Karlos, ed. Herbert Meyer, Nationalausg., Weimar 1958, Bd. 22, S. 170. 60 Don Carlos, V, 1, Schiller, Ausgewählte Werke, ed. Ernst Müller, Darmstadt 1954, Bd. I I I . 61 12. Brief, Briefe über Don Karlos, a.a.O., S. 176/77.

TEMPTATION A N D SALVATION I N ZACHARIAS WERNER'S ,DER VIERUNDZWANZIGSTE FEBRUAR' Von Colin Walker

In recent years much interest has been aroused again by the theory and history of the S c h i c k s a l s t r a g ö d i e , and particular attention has been paid to Grillparzer's ,Die Ahnfrau' 1 . Rather less has been written about Zacharias Werner's ,Der vierundzwanzigste Februar' 2, which was long considered to be the prototype of the genre. Certainly the vogue of fate tragedies which lasted in the German theatre from the year of its first performance, 1810, to about 1825 was begun by Werner's play, although many of the features of the genre are to be found already in Karl Philipp Moritz's ,Blunt' (1780), Tieck's ,Karl von Berneck' (1795), and Schiller's ,Die Braut von Messina' (1803). Yet almost all twentieth-century commentators on ,Der 24. Februar' have been at pains to rescue it from its disreputable progeny: they have claimed that it has only the superficial appearance of fate tragedy. This practically unanimous view 3 is forcefully argued for instance by the play's most recent editor, Johannes Krogoll, who writes: „Der vierundzwanzigste Februar ist ein literaturgeschichtliches Paradoxon: er hat das sogenannte ,Schicksalsdrama' ausgelöst, ist selbst 1 See for example Rudolf Werner, Die Schicksalstragödie und das Theater der Romantik, Diss. Munich 1963; Roger Bauer, Das gemißhandelte Schicksal, Euph. 58 (1964), pp. 243-59; Hinrich C. Seeba, Das Schicksal der Grillen und Parzen: Zu Grillparzers „Ahnfrau", Euph. 65 (1971), pp. 132-61; Zdenko Skreb, Die deutsche sogenannte Schicksalstragödie, Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge, 9 (1972), pp. 193 - 227; Roger Bauer, „Die Ahnfrau" et la querelle de la tragédie fataliste, EG 27 (1972), pp. 165 - 92. 2 There have, however, been a few important studies of this play and of the circumstances of its composition: Heinz Moenkemeyer , Motivierung in Zacharias Werners Drama „Der vierundzwanzigste Februar", Monatshefte, 50 (1958), pp. 105-118; Lee B. Jennings , The Freezing Flame: Zacharias Werner and the Twenty-fourth of February, Symposium, 20 (1966), pp. 24-42; Gerard Kozielek , Das dramatische Werk Zacharias Werners, Travaux de la Société des Sciences et Lettres de Wroclaw, Séria A, Nr. 120, Wroclaw 1967, especially pp. 287 - 312. 3 There has been an occasional dissenting voice — for instance G. A. Wells , Fate Tragedy and Schiller's Die Braut von Messina , JEGP 114 (1965), pp. 191 - 212 (pp. 191 - 3). Skreb argues that since „Schicksal" is neither mentioned nor recognized in the play itself, which depicts rather the clearly effective workings of a curse, ,Der 24. Februar* should be termed a „Fluchtragödie" (Skreb , pp. 199 f.).

2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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aber nichts weniger als eine Schicksalstragödie. [ . . . ] In Wahrheit hat Werner kein ,Schicksalsdrama' verfaßt, sondern ein Drama gegen das Schicksal."4 I t is not my primary purpose to re-enter the controversy about the categorizing of the play; rather I should like in the first instance to reexamine the crucial problems for its interpretation: is there some malignant supernatural agency which attempts to bring about the destruction of the Kuruth family, and, if so, what is the nature of this agency? Most recent commentators seem to be agreed that there is in fact no such force at work, that Kunz Kuruth and his wife Trude, on whom and on whose children the curse of the dying Christoph Kuruth has been placed, only imagine that their misfortunes are the work of a malevolent destiny. These critics share the view of Paul Hankamer: „ I n der Konzeption Werners ist das Fluchschicksal eine Schöpfung der Individuen selbst, eine grausige, bindende Fiktion ihres Wollens." 5 They do not suffer at the hands of Fate, it is said; rather they are doomed by their own fatalism. Gerhard Kozielek even argues that Werner is anxious, perhaps too evidently anxious, „nichts dem Zufall zu überlassen oder irrationale Gewalten ins Spiel zu bringen" 6 . He cites as an example the incident where the son Kurt tries with some force to straighten a nail on the wall of his bedroom in order to use it as a coathook: the vibration dislodges the fatal knife hanging in the living-room on the other side of the wall. Kunz and Trude see it fall, seemingly miraculously, to the floor, and this ,sign' gives the desperate Kunz the idea of killing Kurt for his money7. Certainly no one could claim that the lives of the characters in the play are wholly determined by an external supernatural power. They clearly do have some freedom of will; they recognize to some degree their responsi4 Johannes Krogoll , Postscript to Der vierundzwanzigste Februar, Reclams Universal-Bibliothek, Stuttgart 1967, pp. 77, 78. 6 Paul Hankamer , Zacharias Werner: Ein Beitrag zur Darstellung der Persönlichkeit in der Romantik, Bonn 1920, p. 211. 6 Kozieleky p. 293. For an examination of Werner's careful psychological motivation of much that occurs in the play see also Moenkemeyer , and G. Guder , Zacharias Werners ,Der vierundzwanzigste Februar \ Modern Languages, 41 (1960), pp. 95 - 101. Jennings does say of the ,Fate€ influencing the characters: „though bound to certain objects in a way that taxes our credulity, it must be regarded as a symbolic magnification of the very real presence of demonic and irrational forces that give rise to unpredictable yet monotonously recurrent disasters and outbreaks of violence" (p. 27). Yet he goes on to argue that „the forces behind the play's disasters . . . are not malignant demons but rather time, matter, inertia, causality, gravity — the attributes of a universe that, being physical, must decline" (p. 37). 7 Zacharias Werner, Ausgewählte Schriften (henceforth abbreviated to AS), 15 vols, Grimma 1840 - 1, reprinted Berne 1970, I X , 47.

Zacharias Werner's ,Der Vierundzwanzigste Februar*

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bility for their actions; they admit their guilt, and at the end Kurt demonstrates the redeeming power of Christian forgiveness. I t is furthermore true that there are no overtly supernatural events depicted on the stage — such as one finds in most of Werner's other plays. Some of the apparently supernatural influences can indeed be explained in terms of the psychology of fear, superstition, guilt, or greed, for instance the supposed baneful associations of the „Unglücksmesser", which is used in all the acts of violence of which members of the family are guilty. Kunz, and to a lesser extent Trude, both show symptoms of paranoia: they believe with some justice that they have been ill-used by their fellows, and they relate this ill-treatment to what they believe to be the malevolent forces released upon them by the father's curse. They personalize the realm of nature, as they transfer their own fears and obsessions on to the external world 8 . I t is also true, as Kozielek points out, that nowhere in ,Der 24. Februar* is there an unambiguous statement that the characters are at any time in the inescapable control of a supernatural force. He makes a pertinent contrast with Müllner's ,Die Schuld', where we read: Thun? Der Mensch thut nichts. Es waltet Über ihm verborgner Rat, Und er muß, wie dieser schaltet.9

Is this play then just a study in obsessions? The major barrier to such an interpretation is the fatal date, 24 February, the date on which Christoph pronounced his curse and died, and on which every disaster afflicting the family has fallen. Some critics try to skirt this barrier, as if the date were a mere trivial incidental, a sop paid by Werner to a theatre public avid for sensation; others duly recognize its importance, but are then reluctant to take into account its full implications in their reading of the play. But as Heinz Moenkemeyer says: „die Koinzidenz des dies fatalis [läßt sich] kaum hinweginterpretieren" 10. For what rational or psychological explanation can one offer for the fact that the boy Kurt killed his sister on 24 February, seven years after the death of his grandfather Christoph Kuruth, that he ran away from the reformatory precisely seven years later, and that now he has returned from exile as a mysterious stranger exactly fourteen years later to the day? He knew nothing of the curse. Again, the avalanche which destroyed Kunz's best meadow fell on that date, as does the notice of their eviction from the 8

See for instance AS I X , 3, 4, 15, 52. Adolf Müllner, Die Schuld, in: Das Schicksalsdrama, edited by Jakob Minor , Deutsche National-Litteratur, 151, Berlin - Stuttgart n. d., p. 429. See Kozielek , p. 307. 10 Moenkemeyer t p. 116. 9

2*

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family inn. I t is not sufficient to say, as Krogoll does: „des Alten Aberglaube an den fluchbeladenen Schicksalstag ist nichts als die positive Gestalt seines Nicht-Glaubens" (Krogoll, p. 80). Kunz did not imagine these catastrophes, and there is no reason to believe that his memory is playing him tricks. Kozielek also dismisses the problem too easily, in my view. He contends that the fatal date is „eine im Grunde genommen unnötige Zugabe. Nirgends nämlich wird das Geschehen von diesem Unglücksdatum irgendwie bestimmt" (Kozielek, p. 293). I t is true that the parents are not consciously influenced by the recurrence of the date to act in a certain way, but the point is that they have suffered disasters, either through events over which they had absolutely no control, or through the misdeeds of their son, who was not fully responsible for his actions as a child and did not know the significance of the date. The only catastrophe for which one of the parents is directly responsible is Kunz's killing of his son, (and this crime, as Lee B. Jennings reminds us, actually takes place in the early morning of 25 February) 11 . The inference must be surely — and if Werner is to invoke the desired terror in the audience, it can only be an inference — that a fatal power maliciously creates these coincidences in order to induce in its victims the feeling that in the long run they are inescapably doomed, that they are being played with, as a cat plays with a mouse. This power may not be controlling their lives, but it is affecting their lives, by putting temptation in their path, by frustrating their hopes, generally by creating circumstances which will make it likely that they will act in a desired way. I f the date does not point to some supernatural presence, if it is just a trivial incidental, why did Werner call his play ,Der 24. Februar'? As Kozielek points out, there was indeed another reason for the choice of title. Werner's mother died on 24 February 1804; so also, he thought, did his Warsaw friend Johann Jakob Mnioch, who in fact died two days previously. After her death he was obsessed with guilt because of his quarrels with her in his early manhood, and it was only after his conversion to the Roman Catholic Church in April 1810 that he began to find release from this burden. Indeed his search for peace of mind in this respect was one of the strongest motives for his conversion. Kozielek argues convincingly that in ,Der 24. Februar' Werner is already voicing this obsession12. There is of course nothing to suggest that he ever did violence to his mother, and he expressly denied that the curse in the play 11 Jennings , p. 41. See also Elisabeth Stopp, Ein Sohn der Zeit: Goethe and the Romantic Plays of Zacharias Werner, PEGS 40 (1970), pp. 123 - 50 (p. 147). 12 See Kozielek, p. 302 f.

Zacharias Werner's ,Der Vierundzwanzigste Februar'

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reflected any experience in his own family 13 . Nor can one say that Christoph Kuruth has the same character traits as Frau Werner. Yet the quarrel which leads to the curse concerns Kunz's choice of wife, and one of Werner's most bitter quarrels with his mother was over his first marriage. She died aged seventy-four, as does Christoph Kuruth. The date of his death was 24 February 1776, and the action of the play takes place exactly twentyeight years later, on 24 February 1804 — the date of Frau Werner's death 14 . Other evidence leaves little doubt that Werner saw the play as an act of expiation for his sins. On 17 April 1810, two days before his conversion, he wrote to Frau Sophie von Schardt and inquired about the performance of his play at Weimar under Goethe's direction on 24 February 1810: „Schreib mir bald ausführlich vom 2 4 t e n F e b r u a r , ob Gott die Aufführung dieses Bußakts geseegnet hat." 1 5 Kozielek concludes: „Das Zusammentreffen der unheilvollen Ereignisse im Drama ist somit nichts anderes als eine Transponierung von Geschehnissen aus seinem Leben auf literarische Ebene. Weder diese noch jene sagen etwas über die Macht des Schicksals aus" (Kozielek, p. 304). I t should be borne in mind, however, that Werner was frequently anxious to find signs of divine favour or disfavour directed at him individually 16 . He probably even intented to gauge the theatrical success of his „Bußakt" as a sign whether or not God had forgiven him for his treatment of his mother. I t is also likely that he saw God's hand at work in the supposedly coincidental deaths of his mother and Mnioch, and that he suffered this as a divine visitation upon him personally. He wrote to his friend Julius Eduard Hitzig on 6 May 1804: „Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, daß meine Mutter den 24sten Februar c[urrentis] (an demselben Tage als mein trefflicher Mnioch in Warschau starb) hier in meinen Armen gestorben ist. Mein Freund! Die Gottheit schlägt mit einem eisernen Hammer an unser Hertz, und wir sind ärger als Stein, wenn wir das nicht fühlen, und toller als toll, wenn wir uns schämen uns vor dem Allgewaltigen in den 18 Briefe Zacharias Werners an Sophie von Schardt, edited by Gerard Kozielek , Germanica Wratislaviensia, 15 (1970), pp. 99 - 140 (p. 115). 14 See Kozielek , p. 301 f. 15 Briefe an Sophie von Schardt, p. 119. 16 See for instance AS I, 176; Briefe des Dichters Friedrich Ludwig Zacharias Werner (henceforth abbreviated to Br.), edited by Oswald Floeck , 2 vols, Munich 1914, I, 356, 357, 463, 465, 475, I I , 255; Die Tagebücher des Dichters Zacharias Werner, edited by Oswald Floeck , 2 vols, Leipzig 1939-40, I, 31, 171; Briefe an Sophie von Schardt, p. 110. In a letter to Mme de Staël (8 March 1809) he refers to „les circonstances, qui sont les messagers de Dieu" (Lettres inédites de Zacharias Werner à Madame de Staël, edited by Fernand Baldensperger , RLC 3 (1923), pp. 112-33 (p. 122)).

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Staub zu werffen, unsre ganze so höchst miserable Persönlichkeit zu vernichten, in dem Gefühl seiner unendlichen Größe und Langmuth" (Br. I, 267 f.). There is other evidence that Werner believed in this particular form of supernatural notification. Some twelve years later, for instance, he mentioned to Friedrich Schlegel what he took to be a mark of divine favour: he wrote above the date of a letter written on 19 April 1816 that he had been converted to the Catholic Church on a 19 April, and that now on the same date he had just learned that his pension was to be continued: „Gott thut nichts halb. Hallelujah!" (Br. I I , 281). Thus the private significance to Werner of 24 February does not weaken the argument that the date in the play has supernatural associations, for if Werner believed that a benevolent Deity could use dates for his own purpose he could no doubt have conceived of a malevolent power doing the same. Another possible example in the play of his presenting as malignant something which he normally saw as a sign of divine influence is his treatment of the Pietistic practice of Däumeln , whereby a text chosen at random from the Bible or a devotional work is interpreted as God's message for that moment 17 . In Scene 2, when Kunz and Trude are about to consult the Bible as they prepare to pray for God's mercy, a paper falls from it reminding them that that day is the fatal 24 February, and this effectively prevents Kunz's prayer (AS I X , 12 f.). Later Kunz turns to the Bible for comfort, but the text which he turns up, apparently by chance, only reminds him of the curse, and it confirms him in his pressimism: „Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, Aber der Mutter Fluch reißt sie nieder." Nicht wahr! — Der Mutter Segen baut allein Sie auf; des Vaters Fluch, der reißt sie ein! — (AS I X , 47)

Again it would seem that an evil force was at work. What form does this evil force take? In the original version of the play, which was written in Weimar in March 1809, performed first at Coppet in October of that year and then in Weimar in 1810, and which apparently has not survived, it would seem to have been a Nemesis-like Fate, wreaking vengeance on the Kuruth family as a direct result of the curse pronounced 17 Werner himself frequently engaged in this practice, before and after his conversion — see for instance Br. I I , 113; Tagebücher I, 201, 202, 203, 252, 256, 258; Lettres £ Mme de Stael, pp. 122, 124.

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by Christoph. In the ,Prolog an deutsche Söhne und Töchter', dated the feast-day of St. Matthias [24 February] 1814 and published with a revised version of the play at the end of that year in ,Urania' 18 , Werner refers to his play as „ein heidnisch [Lied] noch vom alten Fluche" (AS I X , xii). In May 1809, when he was offering the play to Iff land for production in Berlin, he maintained: „Ich habe [ . . . ] die Triebfeder der griechischen Tragödie: den Fluch, nach Goethens Meinung sehr zweckmäßig ins Spiel gebracht" (Br. I I , 196). I see no reason to dismiss this as mere sales talk, as Krogoll does (Krogoll, p. 78). Furthermore, according to Pauline Gotter, the version performed at Weimar in 1810 bore the sub-title ,Die Wirkung des Fluches'19. Although this 1810 version is not extant it is possible to form a clear picture of the Weimar performance from a review in ,Pantheon' in 1810 by Franz Passow20, who in 1807 was invited by Goethe to succeed Heinrich Voß as Professor of Greek Literature at the Weimar Gymnasium and was later to become Professor of Archaeology at Breslau University. Passow writes this review in order to counteract what could be the effects of „oberflächlich allgemeinen Notizen in vielgelesenen Flugblättern" (Passow, p. 179), and he therefore includes a six-page synopsis of the plot, followed by a detailed examination of the characters and of the play's main themes. In the course of his discussion he quotes Kunz's final speech, and he appends to his review a thirty-nine line extract from the play, which contains Kunz's horrific description of his return home from Leuk. Passow received Goethe's permission to quote from a manuscript copy, presumably one of those used for the performance which Goethe directed 21. To judge from the information which Passow provides the changes in the play which Werner made for the 1814 version must have been minor ones. The synopsis accords with the play as we have it 2 2 , and the quoted extracts show only 18 Urania: Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1815, Leipzig [1814], pp. 30784. The publisher noted that the play appeared „mit den neuesten Verbesserungen des verehrten Hrn. Verf." (Urania, Anhang, p. vi, quoted by Krogoll, p. 92). 19 See Goethes Gespräche, edited by Wolfgang Pfeiffer-Belli, 2 vols, Zürich 1949, I ( = Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, X X I I ) , 590. 20 Franz Passow, Der vierundzwanzigste Februar, Trauerspiel von Werner, und seine Aufführung in Weimar, Pantheon: Eine Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst, Leipzig, 2 (1810), pp. 179 - 201. 21 See letter from Goethe to Passow, 20 March 1810, Goethe, Werke, Weimarer Ausgabe, IV, 21, p. 217 f. 22 Admittedly Passow makes no mention of Kurt's words of forgiveness at the end of the play, and thus he apparently attributes Kunz's salvation only to his readiness to submit to earthly justice, a resolve which shows that Kunz has broken the power of the curse by asserting his individual will (Passow , pp. 193, 197 f.), but since the exchange containing these words of forgiveness rhymes with the beginning of Kunz's final speech, which Passow quotes (p. 185), they probably did appear in the 1810 version.

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the sort of variants in vocabulary, spelling, and punctuation which one would expect to find in quotations from a manuscript copy. Passow is in no doubt concerning the nature of the moving force which brings about „die furchtbaren Orgien des Todes und der Vernichtung" (Passow, p. 188) which the play presents: he designates „das Schicksal in voller, alterthümlichen Kraft als das große, meisterhaft gelenkte Motiv des vier und zwanzigsten Februars, und den väterlichen Fluch als das Mittel, in welchem es anschaulich und dramatisch ins Leben tritt" (p. 192). Passow's view of ,Der 24. Februar* was by no means an isolated one. Thanking him for his review, Goethe wrote: „Es hat mir sehr viel Vergnügen gemacht, und ich wüßte nichts davon noch dazu zu thun", and he added that he was sure that the author of the play would feel honoured by Passow's comments (Goethe, Werke, IV, 21, p. 217). Although it was a work which illustrated the power of a heathen curse Werner tells us that he never regretted having written ,Der 24. Februar'. In the Prologue he refers to it as „Dies Lied, das nie mich reute" (AS, I X , x). The only other pre-conversion plays which held his favour were the uncompleted ,Das Kreuz an der Ostsee', and ,Cunegunde die Heilige', both works which are not blatantly incompatible with Catholic teadiing. Obviously Werner now felt in 1814 that it was possible to present ,Der 24. Februar' in such a way that a Christian moral could be derived from it: in the Prologue he is offering his public a Catholic re-interpretation of an originally heathen work. ,Der 24. Februar', he tells us in the Prologue, was conceived in spiritual darkness: gleich in der Nacht gesponnen, Als Nachhall gleichsam eines Sterberöcheln, Das, leise, zwar, ins Mark, das inn're, dröhnet. (AS I X , viii)

He now offers it to the public as a warning of the power of evil, a „Schreckgedicht": Das mir, bevor idi's sang, als Wetterwolke Den düstern Sinn, den trunknen Geist verwirrte, Und als ich sang es, schwirrte Gleich Eulenflügeln! — Mög* es Euch verkünden Was, habt Ihr Reinen es audi nicht erlebet, Doch tief im leichtgereizten Abgrund bebet; Auf daß Ihr Euch bewahrt vor Todessünden Und, wie der Unfried* [Urfeind] jeden auch versuche, Vor dem auf Erden immer regen Fluche. — (AS I X , vii f.)

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I t seems that Werner would have his readers believe that the force behind all the evil and suffering in the play is Satan, the Ardhfiend of all history, whose power to influence, tempt and ultimately to destroy men and women is the genuine ,curse' and ,Fate' which still hangs over the earth. Yet this latter curse differs from the ancient Greek concept of the curse, the victims of which are held in inescapable thrall. Satan's power over the victim can be dispelled if that person abandons himself in faith and remorse to God's loving mercy: So schafft das Schicksal weder Lust noch Leiden Den Weisen, die, mag Hölle blinken, blitzen, In treuer Brust des Glaubens Schild besitzen! (AS I X , x)

For the Christian the ancient concept of the curse is therefore but an insubstantial myth: die alte Kunde Vom Fluch, Gottlob, ist uns ein Mährlein worden; Ein Kind, ein Christenkind, kann d'rüber spotten, Und welcher ist getreten in den Orden Des Herrn, der für uns litt die Todeswunde, Kann aus den Fluch und alle Sündenrotten Mit einer Thräne rotten! (AS I X , x f.)

The second „Fluch" in this passage is somewhat ambiguous. In the context Werner would appear to be referring to the ancient, mythical, Nemesislike curse, yet its effects can be removed simply by a tear of remorse. I n fact Werner seems to hold the view that anyone who believes that he is the hopeless victim of a curse of the Greek type thereby shows that he is truly the still redeemable victim of the ,curse' of Satan, but that as his remorse frees him from Satan's thrall he can recognize the mythical nature of the Greek type of curse. Thus Werner is telling the readers of his Prologue that he wrote the play before he saw the light of salvation in Christ, at a time when the „Nachtgewalten" were raging in him, and that it illustrates their power. He is engaging in the same sort of admonitory public self-castigation that one finds in ,Die Weihe der Unkraft' (1813) 23 , in so many of his sermons, and indeed in the inscription he requested for his tombstone (AS X V , 182). His warning is addressed above all to those non-Christians or nominal This was published at Frankfurt am Main and bears the date 1814. It is reprinted in J. Minor , Schicksalsdrama, pp. 223 - 37. Werner clearly refers to this work at the beginning of the Prologue to ,Der 24. Februar 4.

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Christians who because of the root sin of egotism fall easy prey to the Devil's attacks: Jedoch wir Andern, die wir uns nodi wollen, Nicht Gott allein, sind leicht im Netz bestricket, Und leicht des wilden Jägers arme Beute; Und daß Ihr seine Jagd von fern erblicket, Den stets gespannten Bogen, immer vollen Köcher des Erzfeinde d'rum biet' ich Euch heute Dies Lied, das nie midi reute. (AS I X , x)

Yet Werner apparently did not believe that this heathen work could be given the desired Christian interpretation only if it was judged in conjunction with the Prologue, for the Prologue was for the reader only, and he still favoured stage production of the play 2 4 . So let us take up Werner's offer: let us examine the play to see which darts Satan holds in his quiver, and let us consider whether it is possible to derive from the play alone the Christian message proclaimed in the Prologue. In the course of this examination it would be useful, I believe, to bear in mind the view of Satan's activities which Werner held around this period of his life, at the beginning of his career in the priesthood. His concept of Satan is expounded in the sermons which he preached in Aschaffenburg and Vienna in 1814 and 18 1 5 2 5 , and particularly in one which he composed on 25 January 1815. In this sermon Werner portrays the Devil not as a wild huntsman but in similar, more conventional terms: „der Teufel gehet umher wie ein brüllender Löwe, und suchet, welchen er verschlinge" (NP p. 212) 26 . Satan is the „Urquell des Bösen" (NP p. 213), the „Urheber der Sünde" (NP p. 210), and Werner speaks of „der Reiz zum Bösen, der ein immer noch fortgesetztes Werk ist des Urfeindes" (NP p. 210). On the basis of the Prologue we can assume that in ,Der 24. Februar' every evil deed perpetrated, every evil word spoken, every evil thought entertained is instigated by Satan. A l l of the characters in the play are indeed intermittently aware of the Devil's promptings, although almost always they recognize this influence only in others, not in themselves27. On a couple of occasions Kunz does note that the Devil has prompted him into evil (AS I X , 25, 43), but he does not have 24 It was performed in Vienna at the Theater an der Wien in May 1814. For its theatrical history see Kozielek , p. 311 f. 25 See Fried. Ludw. Zach. Werner, Nachgelassene Predigten (henceforth abbreviated to NP), Vienna 1836. The sermons in this collection were written between 14 February 1814 and 27 January 1816. 26 See I Peter 5. 8. 27 AS I X , 11, 25, 34, 39.

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sufficient insight or strength of purpose to go beyond this fleeting recognition. Of course Satan's influence did not begin with the curse pronounced by Kunz's father. Old Christoph himself must have been a ready recipient of satanic temptations. Kunz calls him „auch so'n wildes Blut" (AS I X , 22), „ein böser Mann" (AS I X , 24), „ein grämlich Mann" (AS I X , 27), and if Kunz has reported accurately on his father's behaviour it would be difficult to disagree with these assessments. We learn that Christoph also had a weakness for drink, was prone to violence, and that he too rebelled against a cruel father (AS I X , 27). Christoph's own cruelty is no more marked than in the curse which he pronounced on his family, and which no doubt was also satanically inspired: „Fluch Dir," . . . „und Deiner Frau, Und Eurer Leibesfrucht!" . . . . . . „Fluch Euch und Eurer Brut!" . . . „auf sie und Euch komme Eures Vaters Blut! — Des Mörders Mörder seyd — wir mich Ihr morden thut!" — (AS I X , 26)

I t is this curse which provides the Wild Huntsman with the opportunity to pursue his quarry more easily, for Kunz and Trude would appear not to be such natural prey, ready to succumb quickly to temptation, as was old Christoph. Satan seems to use the curse in order to create in the parents the impression that they are doomed — doomed not to fulfil the curse literally, for they seem to give no thought to this, believing as they do that both their children are already dead, but doomed in a material and moral sense: they will be driven into destitution and iniquity. Satan apparently instigates and uses various supernatural manifestations to achieve this purpose: the coincidence of dates, the sickle birth-mark on Kurt's arm. Also he foments in Kunz in particular a sense of hopeless guilt, a desperate feeling that the curse has bereft him of any chance of spiritual release while he lives, although at the beginning of the play Kunz does think of expiating his crime by suicide: „Ich will es mich erkühnen, / Vor Gott zu treten — fluchentsühnt!" (AS I X , 11). He also seems to share Kurt's faith that in an after-life the working of the curse will come to an end, but he does not take into account Kurt's implication that this must be preceded by „ein sel'ger Tod" (AS I X , 20). In this life, however, he can find no deliverance. He appears to be prey to what Werner describes as „verklagende Gedanken, die vom Teufel kommen, weil sie den Sünder muthlos machen, selbst des Frommen Erhebung zu Gott hemmen, und den Unglücklichen, der sich ihnen

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ganz überläßt, wofür uns Gott bewahren möge, in Verzweiflung stürzen können" (NP p. 213 f.). Trade urges on him the right course: Flieh die Schlingen, Die Dir der Böse legen thut! Des Mittlers Blut, es floß auch Dir zu gut! — O nimm die Bibel; laß uns beten, singen, Und waschen unsre Schuld in bittrer Thränenfluth! (AS I X , 11 f.)

But he tells her that he has been unable to pray since his father died. Even Christ's work of salvation is inadequate, he feels, to free him from the curse: „Ist's groß genug, das Kreuz, den Fluch zu decken?" (AS I X , 12). Later when he does finally try to pray — not for mercy or Grace, but that the vision of his dead father should be taken from him — he calls out: „Vater unser, der mich hat verflucht!" (AS I X , 51). His fatalism extends to a fear that he has been destined to do evil, that he is so contaminated that he could infect others. When Kurt tries to kiss his father's hand Kunz draws back: Laßt das! — Die Hand — 's ist keine von den frommen! — 's ist eine garst'ge, rasch, zur bösen That gewandt; — Wenn Ihr noch fluchlos — meidet sie! (AS I X , 17)

Nevertheless Kunz is not by nature a serious criminal. As far as we know he has committed no crime since the attack on his father twentyeight years before, and he indignantly rejects Trade's initial suggestion that he rob a rich neighbour in order to pay off his debts. When he does come to rob Kurt of his gold he has gone through an agonizing struggle; he is under the influence of alcohol and is nearly delirious. I n the end he is not forced into the robbery by a feeling that he is accursed and that he has to commit further crime because he is doomed to do so. Rather his fatalism prevents him from earnestly seeking God's saving Grace, that power which alone can give him spiritual and moral security. He aims now only to free himself from the material effects of the curse, to escape the apparently ordained destitution. He can entertain no hope of spiritual salvation, and thus his moral compunctions disappear: he has nothing else to lose. He will make sure at least that in future he will be damned in comfort: nur ich sollt' schmachbeladen in den Daubensee hinein, Bios weil ich verflucht und arm bin? — Nein! Nein, midi retten muß ich — retten! Sollt's auch ewig mich gereu'n! — (AS I X , 52)

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The reference to the shame of suicide is an echo of another theme which is often on Kunz's lips: his sense of honour. His self-respect as an honest Swiss ex-soldier has helped to preserve him from crime, yet clearly this self-esteem is compounded of arrogance and pride. Almost always he attempts to escape from his predicaments through his own efforts and initiative. In Werner's view pride is a basic sin, and one of the easiest for Satan to induce (NP p. 37); of all sins it is the most insidious and difficult to root out (NP p. 52). Satan can appear in the guise of an angel of light (NP p. 52), so that he can prompt an apparent virtue which is really a cover for egotism. Thus Kunz is deluded into viewing his planned suicide, a mortal sin in Werner's eyes, as an act of courage and altruism (AS I X , 11). Similarly, hubris is partly responsible for Kurt's tragedy. Kurt finds release in the prayer which the father denies himself. His appeals to God are in direct contrast to Kunz's despairing rejection of him: Laß mich, im Strudel der Gedanken, Versinken nicht, du Gott der Huld! Laß es zurück zum Abgrund wanken, Das Bild der blut'gen Mordesschuld! — Laß mich der Schwester Geist versöhnen, Die jetzt vielleicht mitleidig auf mich schaut, Und auf des Herzens Gletscher mir warmes Leben thaut! — Schon schmilzt das Eis! — Gottlob, es kommen Thränen! — (AS I X , 42 f.)

The long-awaited assurance of God's Grace and his forgiveness comes suddenly: Ich bin entsühnt! — die Ahnung ist erfüllt: Wie Alpenglöcklein tönt's von oben: Frieden! (AS I X , 46)

Although Kurt is planning to restore his parents' fortunes and to bring them happiness again there is more than a trace of egotism in his hopes for reconciliation, and in his related hopes for divine forgiveness. He prays for and rejoices in his own salvation; he does not pray for his parents' salvation, or even simply for their peace of mind. He sees divine forgiveness in terms of expiation of his own past crimes, so that he can return to the lost innocence of his Swiss childhood in the bosom of his Swiss family: Mir naht die Kinderzeit mit blüh'nden Engelswangen; Mein Schwesterchen, mit kindisch zarter Hand, Beut wieder Alpenröslein mir! — Das Bangen, Beschwichtigt ist's — erreicht der Heimath Land! (AS I X , 46)

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After Kurt's own sense of spiritual release he continues to see himself as his parents' saviour, but he will save them only from their material impoverishment. The gold which enabled him to travel home to seek their forgiveness now „schließt . . . die Pforte . . . auf vom ird'sdien Paradies" (AS I X , 47 f.); we must contrast this with his prayer to God for his own salvation: „Schleuß' auf des Himmels Thür!" (AS I X , 45). He believes that the gold has been fairly gained, and indeed it was the reward for faithful service, yet for the audience that gold must have sinister associations that it no longer has for him. When he hopes that it will bring happiness again to his parents he forgets that it did not bring him full contentment — first he had to find peace of mind through release from his guilt. He forgets his own words to his father: Reich war ich nun, doch immerfort beklommen! — Wenn das Gewissen uns im Innern brennt, Kann alles Gold — der ganzen Schöpfung Wonnen, Sie können löschen nicht den Flammenbronnen! (AS I X , 35)

In the Prologue Werner also contends that those who refuse to take account of Satan's power show in fact that they are under his sway: Ihr, die Ihr: „bist Du thöricht?" sprecht zum Zagen, Und wagt's, den Eumeniden28 Hohn zu sprechen, Da doch ihr Schlangenheer schon in Euch wühlet! (AS I X , xi)

I t best suits the Devil's purposes, in Werner's view, that people should ignore him, or even should not believe in his existence (NP pp. 38, 210). The proper attitude of course is to recognize his power and arm oneself against it (NP p. 212). Kunz swings from one dangerous extreme to the other: he is either intimidated and sinks into fatalistic despair, or else he recklessly disregards warnings of the Devil's temptations. And at times he ignores the signs of the baneful influence upon the family. Repeatedly Kunz's hope for the future flickers to life again, and his egoism blinds him to the reality of the past depredations of Satan, for instance when he takes up the knife, full of the self-assurance of an old soldier, before he goes in to rob Kurt (AS I X , 50). Yet the extent of his, and Trude's unawareness at the beginning of the drama is barely credible. As we have seen, in spite of all the misfortunes that have previously been visited upon them on the fatal 28 Here again Werner does not make a clear distinction between a satanic pursuit and a Greek concept of hounding, but once again the context meakes it clear that it is to the former that he is truly referring. He is using the mythical Eumenides as a perhaps rather unhappy metaphor for what is certainly not a mythical power. See also NP p. 211.

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date, with some of the disasters having struck at seven-year intervals, now on this day, exactly twenty-eight years after Christoph Kuruth's death, they have to be reminded late in the evening that it is 24 February (AS I X , 13). A t the beginning of the play Trude even seems uncertain whether her father-in-law did die in February (AS I X , 3). In the end, however, Satan's designs are thwarted, and redemption — even if a somewhat questionable kind — does come, but it comes desperately late, literally at five minutes past twelve. For Christoph Kuruth's curse is wholly fulfilled. By the largely unmerited Grace of God Satan's victims are saved from the consequences of that fulfilment. And during the pursuit of his quarry Satan seems to have enjoyed very considerable power, the power not only to tempt his victims into wrong-doing, but also the power of an apparently Nemesis-like Fate, the power to influence the forces of nature. He could cause an avalanche to fall on a certain date; he could so influence Kurt's mind that he crossed an ocean and a continent to arrive at his parents' home at a certain hour. On the other hand the outcome of the play also demonstrates that Satan does not hold complete sway over his victims, and that his designs are encompassed within the overall design of God's Providence. The view of Satan as God's unwilling but effective servant is fully in keeping with both Old Testament and New Testament tradition 29 , and it is one whidi Werner accepted. We read in ,Raphael Sanzio von Urbino', which was begun in 1810 after his conversion and was complete in 1816: „Doch muß auch dieser [der Teufel] nützen statt zu schaden" (AS I I I , 33), and in the sermon of 25 January 1815 Werner condemns those who argue that a good God would not permit Satan to foment evil (NP p. 211). Yet it must be conceded that in ,Der 24. Februar' Satan operates with a very loose rein. The fate which he is allowed to inflict on his victims does seem exceptionally testing. I t costs the lives of Kurt's baby sister and of the people and animals buried by the avalanche. Admittedly Kunz has less reason to complain than the innocent Job, whose sons, daughters, servants and herds are exterminated by Satan with God's permission (Job. 1.13 - 19). Werner does not often refer to Fate as the permitted work of the Devil. During his literary career he saw Fate in many guises, ranging from „die Umgebung, welche sich unser Geist (der Gott in uns) erschafft" (Br. I I , 11) to simply the power of God: „der Christ, der den Glauben gelernt hat, der wird sein Schicksal geduldig ertragen. Warum? weil Gott sein Schicksal ist, das, was wir Schicksal nennen, ist Schickung Gottes, Gott ist das Schicksal, 29 See Ethelbert Stau ff er, New Testament Theology, translated by John Marsh, London 1955, pp. 67, 269.

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das merket Euch" (AS X I I , 141). Usually in the 1814 to 1815 period Fate meant for Werner some form of suffering which God visited upon an individual or a group. Such a visitation had the purpose either of punishing and reforming wrongdoers or of testing his servants: it was but one of the means chosen by God as he sought to ensure his creatures' salvation 30 . Thus in the Prologue Werner describes the force at work in his play as something which Im ungerechten Frevelthun und Schalten Den dauernden Verbrecher überdauert, Und sicher ihn erlauert! (AS I X , x)

— but for the „Gerechten" this same force is „Feuerroß und Wagen" (AS I X , x), a symbol of God's saving guardianship 31. Here Fate may be actually implemented by Satan, but the visitation does still have within it that „saving and creating possibility" which for Paul Tillich is the essence of Divine Providence 32. Thus the play is not only a warning to the egotists and sceptics: it also offers to the righteous a challenge to an act of faith — to withstand Fate's blows, to evade Satan's snares, to have their eyes open to the means of salvation which are to be found in and through suffering. For Werner an obvious contemporary example of such a visitation and its ultimate hoped-for benefits was provided by the Napoleonic subjugation of most of Europa. I n the sermon of 25 January 1815 he writes: „Alles was wir Schicksal nennen, unsre Freuden und Leiden, selbst die ungeheueren, die wir alle in den letztverflossenen Jahren durchlebt haben, wozu hat sie Gott über uns verhängt, als um Same zu seyn, in unsern Herzen, Same für seine selige Ewigkeit" (NP p. 208). Yet from 1813 onwards Werner evidently believed that Napoleon was satanically inspired 33, and in one particularly impassioned poem he even depicts him as a fiend out of hell 34 . The 30

„Genug, daß Natur und Schicksal, Glück und Unglück, Reichthum und Armuth, Freude und Schmerz, Leben und Tod, ja die Sünde selbst, die bereute, gebüßte, daß Alles im Suchen des Hirten ist, der sein verlornes Schaf ruft" (NP p. 27). 31 See I I Kings 2. 11-12; 6. 17; Psalm 104. 4. Writing with reference to the second of these texts F. W. Farrar sees two possible interpretations of this symbol: „The joy of God's protection has least deserted His saints when to the world's eyes they seemed to have been most utterly abandoned", and: „The chariots and horses of fire are still there, and are there to work a deliverance yet greater and more eternal. Their office is not to deliver the perishing body, but to carry into God's glory the immortal soul" (The Second Book of Kings, The Expositor's Bible, London n. d., pp. 69 and 72). 32 Paul Tillich, The Meaning of Providence, in: The Shaking of the Foundations, Penguin Books 1962, p. 111. 33 See AS I I , 91, 92, 107 f. 34 Schlachtgesang für die zum neuen Kreuzzuge gegen den Erzfeind der ganzen Menschheit verbündeten deutschen christlichen Strafheere, in August Fournier, Die

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call to do battle against the revolutionary, anti-Christian forces whidi in Werner's view Napoleon personified, God's ultimate defeat of the tyrant, and the promise which this victory holds for religious renewal in Germany are among the dominant themes particularly of the first half of the Nachgelassene Predigtet. And indeed it is his hope that this admonitory drama will play its part in purifying Germany of the evil which has recently blighted her: Drum unverzagt, Ihr meine Schmerzgesellen! Macht solcher Thränen Strom mein Lied Euch weinen, Heil Euch und mir, dann eilt das Land zu reinen, Dann ist's nicht Nacht mehr, dann in Eurem hellen, Gereinten Blick leuchtet der Morgen wieder Befruchtend auf das deutsche Land hernieder! (AS I X , ix)

The foregoing has been an attempt to interpret ,Der 24. Februar 1 in the light of the Prologue of 1814, as a play which warns of the power of Satan: it is indeed possible to see the evil and suffering in the play as the result of the exercise of Satan's power as Werner understood it. Assuredly in 1810 neither Werner nor the audience in Weimar would have understood the play in these terms — no doubt they would have seen references in the play to Satan as expressions of the characters' beliefs rather than of the author's beliefs — but I would suggest that in 1814 Werner wished his prospective readers and theatre audiences to place such an interpretation upon it. One may conclude that Werner's attempt to transform a Greek curse that is fulfilled into a satanic pursuit which is foiled at the last minute is neither complete nor successful, and that the interpretation outlined above would not be immediately evident to anyone who was ignorant of the Prologue, but it does seem probable that it was such a revised view of the play, together with financial considerations 35, which induced him to publish it in 1814. The Prologue in turn can best be understood when it is read in conjunction with Werner's religious writings of this period. The one other work which most accurately summarizes the religious thinking which underlay his re-interpretation of the play is the sonnet ,An Gräfin Josepha L.', which was written „am Tage Francisci Seraphici [4 October] 1815". Here, as nowhere else in Werner's oeuvre, we find both the sentiments and the terminology of the Prologue to ,Der 24. Februar*. Here again we read of Satan the Wild Huntsman, the servant of God, the executor of Fate, yet Werner reminds us once more that no matter how we are tempted it is we who are responsible for our misdeeds. The only difference from the Geheimpolizei auf dem Wiener Kongress: Eine Auswahl aus ihren Papieren, Vienna - Leipzig 1913, pp. 441 - 6 (especially p. 446). 85 See Werner's letter to his publisher Brockhaus, 4 May 1814 (Br. I I , 273 - 7). 3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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Prologue which this sonnet contains is the view that one cannot arm oneself to resist the Huntsman. There is no reference here to „des Glaubens Schild". Rather Satan is thwarted by tearful looks to heaven, and by a quiet, trustful walk with God. This poem issues a warning, but it is not a „Schreckgedicht", nor does it pronounce a challenging call to conflict. It reflects a more settled period in Werner's career and is in keeping with the less frenzied mood of the latter sermons of the ,Nachgelassene Predigten'. Yet it still makes plain the lesson of ,Der 24. Februar 4 and its Prologue, the lesson of the final sermons of 1820 to 182286, and indeed the lesson that experience was to teach Werner again and again in the seven remaining years of his life: that the path to salvation is no easy road, that the Christian pilgrim is in constant danger: Ein wilder Jäger thut die Menschen hetzen, Uns zu verwunden ist sein täglich Sinnen; Es kann durch Rennen Niemand ihm entrinnen, Auch kann sich Niemand ihm zur Wehre setzen Doch den, der ruhig schreitet, zu verletzen, Das hat er nimmer mögen noch gewinnen, Auch scheucht ein Blick gen Himmel ihn von hinnen, Des Auges, welches würd'ge Thränen netzen! — Der wilde Jäger ward von Gott gesendet, Auch unsre Herzen hat er schwer verwundet Doch haben wir nicht selber ihn gerufen? — Jetzt nur den Thränenblick zu Gott gewendet, Geschritten ruhig zu des Oelbergs Stufen, So flieht das Schicksal, und das Herz gesundet. (AS I I , 112)

It is possible that the sub-title of the 1810 version of the play was ,Die Wirkung des Fluches'. On the other hand the motto on the title-page of the 1814 version is „Führe uns nicht in Versuchung", and we are surely invited to complete the text in our minds: „sondern erlöse uns von dem Übel". The New English Bible translation of Matthew 6. 13 is: „And do not bring us to the test, / but save us from the evil one." I have argued that the characters of ,Der 24. Februar' are indeed brought to the test, and to an exceptionally severe one at that, but they have not been abandoned, and they are finally delivered out of the tempter's hands. I t remains to consider how this deliverance is achieved. 36 The vols X I to X I I I of the AS contain sermons delivered between Christmas Day 1820 and 23 December 1821. The collection Geistesfunken aufgefangen im Umgange mit weiland F. L. Z. Werner von Isidorus Regiomontanus, Würzburg 1827, seems to be made up largely of short extracts from sermons delivered in

1822.

Zacharias Werner's ,Der Vierundzwanzigste Februar*

35

In the end it is Kurt who leads his parents along the true path. In life he is the unwitting victim and agent of the huntsman Satan, even when he believes himself forgiven. In death he becomes the agent of divine forgiveness: Vergeben — Hat Euch — der Vater — ! — Ihr — seyd fluchentsühnt — ! — Kunz (vor dem Kurt hinknieend): Und Du — vergibst Du? —

Kurt:

Ja — ! —

Und Gott — vergibt er — ?! —

Kunz:

Kurt:

Amen — ! —

(AS I X , 54)

We encounter here some rather daunting problems. In the first place, by what authority does Kurt pronounce Christoph Kuruth's forgiveness? Does Kurt imagine Christoph pardoning Kunz and Trude and releasing them from the curse, just as earlier he had a vision of his own conciliation with his sister? This is the most likely explanation, but it is possible that we are meant to believe that from some limbo beyond the grave Christoph forgives his family and that now Kurt is his mouthpiece. I f in some way Kurt becomes authorized to voice Christoph's pardon it is strange that his should not occur until the old man's vindictive prediction has come true. There is little merit in forgiving a wrongdoer only after one's revenge has been exacted upon him. Also Kurt's pronouncement that the curse has been lifted can bring Kunz meagre consolation, for in one sense it is too late: the curse has been fulfilled. I t is also strange, in view of what we have read in the Prologue, that Kurt should pronounce the lifting of the curse before Kunz has sought forgiveness for his crimes, for when Kunz learns that he has dealt his own son a mortal blow both he and Trude react with horror and despair, rather than with tearful contrition or a prayer for mercy: Kunz: Trude:

Ha, Verfluchter! 's ist Deines Sohnes Blut! — ... Bring' urn's Leben Midi audi, Du Kindermorder Du — ! — (AS I X , 53)

Further, if it is true that the breaking of the power of the curse is symbolized by the shattering of the knife when Kunz flings it to the ground in his despair 37, then this too would be more in keeping with a Nemesis-like curse than one whose power is broken by genuine remorse and selfsurrender to God. 87

p. 67. 3*

This can be related to a similar motif in Karl von Berneck — see Krogoll,

36

Colin Walker

Certainly Kurt's pronouncement of Christoph's pardon and of the expiation of the curse does seem to induce Kunz to seek an assurance that Kurt and God have forgiven him, and we can assume that behind Kunz's pleas there now lies a genuine remorse. We may then conclude that as Kurt speaks the „Amen" God's Grace is operating, and that this in turn moves Kunz to submit to earthly authority and pay the price for his crime. We may wonder what authority Kurt has to voice God's mercy. Again it is possible that Kurt simply envisages divine forgiveness, but in this instance the explanation offered by Krogoll seems much more probable, even though it may be theologically unorthodox: „Indem Kurt vergibt, legitimiert er sich, die vergebende Gnade Gottes weiterzureichen" (Krogoll, p. 81). Certainly this Grace seems to be effective, for as Passow was probably the first to point out (Passow, p. 198), Kunz concludes the play with „Amen!", the word he has been unable to say since the crime which occasioned the curse (AS I X , 42), and this in itself is direct evidence that he has been released from the evil thrall. On the whole, however, it seems easier to make what the Prologue tells us about temptation, the ,curse', and Fate fit with the presentation of these in the play than it is to harmonize the concepts of redemption in the Prologue and the play. Finally we can take up again the question of how this play can best be categorized. I cannot agree with Krogoll's view that it can be seen as ,,ein Erlosungsspiel . . . eine Verbindung von Láuterungsdrama und Mártyrerspiel" (Krogoll, p. 82). This description could well be applied to ,Martin Luther, oder Die Weihe der Kraft', or ,Cunegunde die Heilige', or indeed to the concluding part of ,Das Kreuz an der Ostsee' as Werner seems to have planned it, but in this play temptation to do evil and evil-doing are more dominant and more memorable themes than deliverance from evil — and after all the title of the play puts us in mind of the power of evil, in contrast to the three titles mentioned above. Also, unlike these three plays, it does not have elements of a martyr play, for there is no persecution of faith or of a virtue associated with faith, nor is there self-sacrificial witness to faith or to such a virtue. ,Der 24. Februar' presents us with a very unusual phenomenon in literary history. The texts of the 1810 and 1814 versions of the play seem to have been essentially the same, but it is possible to place two quite different interpretations on them. I f we view the play as Werner apparently intended it to be viewed in 1810 and as many of his contemporaries did view it, then it is justifiable to call it a S c h i c k s a l s t r a g o d i e , a play illustrating a modern example of the mysterious and ineluctable workings of

Zacharias Werner's ,Der Vierundzwanzigste Februar

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an ancient type of curse, the victims of whidi evoke our horrified pity rather than our censure. Indeed we can even admire Kurt and Kunz for the way in which they finally make amends for the crimes into which they have been led. I f we examine the play from the standpoint of Werner in 1814 it can be seen rather as a „Schreckgedicht" which should serve as an exemplary deterrent illustrating the „ever-active curse", the devastating but vincible power of Satan. The plight of its victims should warn us against falling into temptation as they do, but their example also offers the promise that if we wish we may be saved from the Huntsman's clutches at the very mouth of hell.

GOETHES ,DEUTSCHER DIVAN* V O N 1814 Von Wilhelm Solms Die hier vorgelegte Untersuchung der Goetheschen Gedichtsammlung vom Sommer und Spätherbst 1814, die von ihm als ,Deutscher Divan' bezeichnet wird, unternimmt den von Konrad Burdach 1 angekündigten Versuch, die nicht im Reinschriftcorpus 2 überlieferten Gedichte dieser Sammlung zu ermitteln und in sie einzuordnen. Sie sucht dann auf dieser erweiterten Grundlage die Umwandlung der zunächst rein chronologisch angeordneten Gedichtsammlung in eine Versammlung von Gedichten, einen „Divan a zu kennzeichnen. Dabei wird zu beantworten sein, ob Goethe die ursprüngliche Gedichtsammlung schon im Sommer 1814 als „Divan" konzipiert hat, ob er sie erst im Dezember in einen Divan verwandelt hat oder ob er damals seine schon zu Beginn vorhandene Konzeption eines Divans verdeutlicht hat. Als ältester Beitrag zu diesem Thema kann die Handschriftenbeschreibung von Konrad Burdach im 6. Band der Weimarer Ausgabe von 1888 gelten: Unter den 153 Blättern von R tragen 89 . . . oben links von Goethes Hand mit rother Tinte eine Nummer, 36 außerdem auch noch oben rechts 1 Konrad Burdach , Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans. Akademievortrag von 1904, abgedruckt in: K. B., Zur Entstehungsgeschichte des West-östlidien Divans (WöD). Drei Akademie-Vorträge, hrsg. von Ernst Grumach , Berlin 1955, S. 7 - 50. Die Seitenangaben zu Burdach beziehen sich, wenn nichts näheres vermerkt, auf diesen Vortrag. Daneben wurden vor allem die Kommentare zu Divan-Ausgaben verwendet, und zwar von Burdach zur Jubiläums-Ausgabe (1905) und zur Weltausgabe 1937, ferner von Gustav von Loeper zur Hempel-Ausgabe (1872), von Heinrich Düntzer zur Ausgabe in Kürschners Nationalliteratur 1886, von Rudolf Richter zur Festausgabe (1926), von Ernst Beutler zur Ausgabe in der Sammlung Dieterich (1943), von Hans-J. Weitz zur Inselausgabe 1949, von Erich Trunz zur Hamburger Ausgabe 1949 und von Hans Albert Maier zur kritischen Ausgabe des WöD bei Niemeyer, Band 2, 1965. 2 Grundlage unserer Untersuchung sind die im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar aufbewahrten Handschriften und Kopien der außerhalb von Weimar existierenden Blätter. Sie sind aufbewahrt und registriert in A 1. Goethes Werkhandschriften, Kasten X : Mappe I bis X I I = Reinschriften der Gedichte des WöD , Buch I - X I I , und Kasten X I : Mappe X I I I bis X X = Handschriften mit Vorarbeiten zum Divan. Die Handschriften sind mit den in der Weimarer Ausgabe (WA) verwendeten Nummern bezeichnet, die Entwürfe sind zitiert nach der Akademie-Ausgabe (AA), WöD , 3. Paralipomena (Par.), hrsg. von Ernst Grumach , Berlin 1952.

Wilhelm Solms

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eine gleichfalls eigenhändige schwarze, die meistens roth durchstrichen ist . . . Die rothen Nummern beziehen sich auf die Zahlen des . . . Wiesb. Reg., die so bezeichneten Blätter bilden den a l t e n , sicher erkennbaren K e r n des Divan . . . Doch weist die aufgegebene Numerirung mit schwarzen Ziffern auf eine noch frühere Sammlung in chronologischer Reihenfolge (WA 6, 337 f.). Da man unter einem „Divan" eine Gedichtsammlung zu verstehen hat, die, wie auch immer sie bestimmt sein mag, über die „chronologische Reihenfolge" der Gedichte hinausgeht, so hätte man dieser Beschreibung zufolge den „Kern" oder die erste Stufe des Goetheschen Divans in der Ordnung des Wiesbader Registers von Ende Mai 1815 zu sehen. Heinrich Düntzer hat 1891 in seiner Rezension der Weimarer Ausgabe „die fehlenden nummern durch wahrscheinliche . . . Vermutung" ergänzt — wobei er einfach die an entsprechender Stelle stehenden Gedichte des Wiesbader Registers einfügte — und daraus den Schluß gezogen, daß „bei der ersten Zusammenstellung keineswegs ,die zeitfolge der entstehen beobachtet4" war 3 . Burdach hat in seinem Vortrag von 1904 über ,Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans' den Rekonstruktionsversuch von Düntzer übergangen und ihn später, ohne näher auf ihn einzugehen, als „mißlungen" bezeichnet (Weltausgabe, S. 381), aber er hat sich Düntzers Folgerung zu eigen gemacht und nunmehr die „frühere Sammlung" von 1814 als die älteste Form des Divans angesehen. Er hat zur Methode seines Vorgehens bemerkt: Von dieser festen Grundlage [der handschriftlichen Überlieferung] soll meine Untersuchung ausgehen. Später wird festzustellen sein, inwieweit sich etwa auch die nicht unmittelbar . . . vorliegenden 17 Gedichte noch ermitteln lassen. (S. 20) Er hat in seinem Vortrag jedoch nur zwei Gedichte ausfindig gemacht und nur eines von beiden in die Sammlung eingereiht (s. u.) und ist auch „später" nicht darauf zurückgekommen. Bei der Wiedergabe der überlieferten Nummern sind ihm im Unterschied zu seiner genauen Beschreibung der Reinschriften in der Weimarer Ausgabe mehrere Versehen passiert (s. u.). Sein Vortrag ist also kaum als philologische Untersuchung, wohl aber als Versuch einer Deutung zu werten. Sein Augenmerk galt der Gestalt des ältesten Divans bzw. seines überlieferten Fragments. Anzeichen eines „poetischen" (S. 21) oder „künstlerischen Zyklus" (S. 43) sind ihm die „zu Ende des 5

ZfdPh. 23 (1891), S. 326.

Goethes ^Deutscher Divan' von 1814

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Jahres 1814" durchgeführte Numerierung (S. 19), die „das Prinzip rein chronologischer Anordnung" an mehreren Stellen „durchbricht" (S. 23 u. a.), der zur gleichen Zeit geschaffene „epische Rahmen" (S. 46) und die Bezeichnung „Deutscher Divan" im Tagebuch vom 14. Dezember. Burdach hat 1911 einen zweiten Vortrag über dasselbe Thema gehalten, diesmal jedoch die Sammlung vom Sommer 1814 als „Die älteste Gestalt des West-östlichen Divans" behandelt4. Wolf gang Lentz hat 1958 in seiner Abhandlung über den Prosateil des Divans bereits die Gedichte an Hafis vom Sommer 1814, die seit Ende Juni in Berka und Weimar und zwischen 25. und 27. Juli auf der Fahrt nach Frankfurt entstanden waren, als „Urform des Werks" betrachtet, weil Goethe schon damals, im Tagebuch vom 31. Juli, den Titel ,Divan* gebrauche und weil er im Brief an Riemer vom 29. August ihren genauen Umfang angebe und sie als ein „kleines Ganzes" bezeichne. Lentz meint, daß Burdach diese Sammlung nur deshalb nicht als eigene Stufe berücksichtigt habe, weil es von damals noch keine „Belege einer Numerierung" gebe5. Hans Albert Maier hat 1965 in den von Goethe im August an Zelter geschenkten numerierten Reinschriftblättern einen solchen Beleg gefunden (S.u.).

Bilden demnach bereits die Gedichte an Hafis vom Sommer 1814 die erste Stufe des Divans? Wurden die später entstandenen Gedichte jeweils sofort nach ihrer Entstehung oder zusammen am Jahresende beziffert? Wurde die erste Numerierung dabei lediglich fortgesetzt oder zum Teil auch verändert? Ist die Anordnung vom Dezember, der ,Deutsche Divan', nur eine „Ausdehnung" des „kleinen Ganzen" (Brief an Riemer) oder eine neue Ordnung, mithin die zweite Stufe? Die Bestimmung der ersten Stufe des Divans muß von der „festen Grundlage" der handschriftlichen Überlieferung ausgehen, wie Burdach feststellt, die Handschriften sind jedoch nur fragmentarisch überliefert. Da heute kaum noch damit zu rechnen ist, daß 4 K. B.y Die älteste Gestalt des WöD. Zweite Untersuchung, Manuskript von etwa 100 Seiten im Literaturarchiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Zu seinem Inhalt vgl. Burdachs kurze Zusammenfassung in: Zur Entstehungsgeschichte des WöD, S. 75. David Lee, der sich mit diesem Vortrag in seiner Dissertation (Stanford Univ. 1969) auseinandergesetzt hat und ihn herausgeben möchte, hat midi freundlicherweise näher unterrichtet. „Als wichtige und noch zu lösende Probleme" habe Burdach in der Einleitung „erstens die Frage nach den fehlenden Gedichten der schwarzen Numerierung und zweitens die nach der Entwicklung der Gedichte zu einer poetischen Einheit" genannt. Von den fehlenden Gedichten habe Burdach aber nur ,1m Gegenwärtigen Vergangnes' als Nr. 14 mit Sicherheit erschließen können. 6 Wolf gang Lentz: Goethes Noten und Abhandlungen zum WöD, Hamburg (1958), S. 15 f.

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weitere numerierte Blätter auftauchen, stehen wir vor der Aufgabe, die ursprüngliche Form des Divans aus dem heute vorliegenden Material zu rekonstruieren, um auf dieser allerdings nicht gesicherten, sondern an einigen Stellen mit Fragezeichen zu versehenden Grundlage entscheiden zu können, welche Sammlung nur chronologisch und welche nach künstlerischen Gesichtspunkten geordnet ist, d. h. welche als bloße Gedichtsammlung und welche als ,Divan' anzusehen ist. Burdach hat die „älteste Gestalt" des Divans auf der Grundlage des überlieferten Fragments interpretiert, ohne zugleich umgekehrt dieses Fragment auf Grund seiner Interpretation zu vervollständigen. Er hat die Textkritik und die Interpretation, obwohl er beide beherrschte, hier wie sonst auseinandergehalten6. Wir beginnen ebenfalls mit der kritischen Revision der überlieferten Reinschriften, nehmen dann aber auch die Interpretation zu Hilfe, um die ursprüngliche Form des ,West-östlichen Divans' zu rekonstruieren und um die Gedichte schon zu Anfang „im Sinn und Zusammenhange des Ganzen" verstehen zu können (Kp. Endlicher Abschluß). 1. D a s ü b e r l i e f e r t e F r a g m e n t d e r

Reinschriften

Burdach zählt in der Weimarer Ausgabe „36" Blätter, die oben rechts eine schwarze Nummer tragen (WA 6, 337). Einschließlich Nr. 18a sind es 377. In den ,Nachträgen zu den Gedichten' (WA 53) und in der Ausgabe von Maier sind drei weitere schwarz bezifferte Handschriften mitgeteilt: Nr. 21 und Nr. 26 und das Originalblatt von Nr. 7, das eine durchstrichene „6" aufweist. Weiter ist zu ergänzen, daß die Ziffer 23 aus „22" umgeändert worden ist. Insgesamt sind also 39 Reinschriften mit 37 verschiedenen Nummern (ohne Nr. 18a und die zweite Nr. 44) überliefert. In der folgenden Übersicht sind die überlieferten Nummern der ursprünglichen Ordnung von 1814 einschließlich der Änderungen vermerkt, die Nummern des Wiesbader Registers in Klammern daneben gesetzt und hinter dem Titel 8 oder der Anfangszeile der Ort und die Zeit der Entstehung, so wie sie unter dem Reinschrifttext notiert sind, zitiert. Zur Bezeich• So enthält seine Faksimile-Ausgabe von 28 Reinschriftblättern • ( = Schriften der Goethe-Gesellschaft Bd. 26, Weimar 1911) vieles zum Verständnis der betreffenden Gedichte, aber nicht ein Wort über Goethes Schreibweise. 7 In seinem Vortrag ist diese Nummer nicht erwähnt, Nr. 25 erscheint dort als „26", ebenso Nr. 43 als „42", schließlich fehlt der Hinweis, daß die zweite Nr. 43 mit roter Tinte neben eine rot durchstrichene „44" gesetzt ist. 8 Die Divangedichte von 1914 haben ihren Titel meist erst bei der Ordnung des Wiesbader Registers im Mai 1815 oder bei der Vorbereitung der Erstausgabe im Frühjahr und Sommer 1818 erhalten. Sie werden hier dennoch unter ihrem Titel zitiert, damit sie sich in jeder greifbaren Ausgabe nachschlagen lassen.

GoethesDeutscher Divan' von 1814

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nung des von Goethe bei der Numerierung benutzten Schreibgeräts wurden die Siglen der Weimarer Ausgabe verwendet: g: eigenhändig mit schwarzer Tinte, g 1 : Bleistift . . . , g 3 : rother Tinte [und g 4 : brauner Tinte] (WA 6, 359). D D (WR) Titel oder Anfang 1. ( 3) g 2. ( 9 ) g g 3 > 4 > 5. (14) g , g 4 6 > 7 . (16) 9. g 10. (19) g 11. (20) g 12. (21) g 13. g 18. (26) g 18a. (27) g 19. (40) g g 20 > 22. (42) 21. (41) g g 22 > 23. (44) 24. (45) g 25. (46) g 26. g 27. (47) g 28. (67) g 29. (52) g 31. (68) g 32. (69) g 34. (72) g1 35. (75) g1 36. (77) g1 37. (76) g1 38. (78) g1 41. (80) g1 g1 8 g 1 ,g 5 g g g g g g g g

43. (81) 44 >43. (82) 44. (83) 45. (84) 47. (86) (87) 48. (88) 49. (89) 50. (90) 51. (91) 53. (100)

Datierung

W. d. 24 Dec./1814 Hegire Fetwa./Der Deutsche dankt. Berka Juli./Jena Dec./1814 26 Jun./1814 Beyame. W. d. 22 Jul 1814 Elemente. d. 26 Jul 1814 Vision. d. 26 Jul./1814 Zwiespalt. d. 25. Jul/1814 Phänomen. d. 25 Jul 1814 Liebliches. 25 Jul1814 Sollt einmal durch Erfurt ... Gewarnt. Versunken. Jul 1814 Höre den Rath . . . 26 Jul. I814./Fulda 8 Uhr Wenn du auf dem Guten ruhst Uebermacht, Ihr könnt es spüren D. 26. Jul. I814./Fulda 8 Uhr 26 Jul 1814. Solang man nüchtern ist 26 Jul 1814. Derb und tüchtig. Keinen Reimer wird man finden 26 Jul. 23 Dec. 1814 Jesus auch er darf da lehren d. 27 Jul d. 22 Dec./1814 Als wenn das auf Namen ruhte d. 29 Jul/1814/ [Unterwegs in der Allleben. W.B.d. 31. Jul./1814 Nacht] Selige Sehnsucht. Unvermeidlich. Wiesb. d. 31. Jul. 1814 Wiesb./d. 31. Aug/1814 Geheimes. Herrenrecht und Dienstpflicht. Du, mit deinen braunen Locken Octbr 1814 Welch ein Zustand! Herr so späte Octbr 1814 Nennen dich den großen Dichter Octbr 1814 Octbr 1814 Heute hast du gut gegessen Wer wird von der Welt verlangen W . d . 19 NOV./1814 Wandrers Gemüthsruhe. Jena/10 Dec. 1814 Offenbar Geheimniß. Wink. Jena d. 11 Dec. 1814. Der Winter und Timur. Fünf Dinge. Jena d. 15 Dec 1814 Fünf andere. Jena d. 16 Dec 1814 Jena d. 15. Dec./1814 Das Leben ist ein Gaensespiel Jena d.l6Dec/1814 Sommernacht. W. d. 23 Dec/1814 Dreistigkeit. Einladung. Sylvester Abend/1814 Gute Nacht.

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Numerierung : Daß die ersten Gedichte noch im Sommer beziffert wurden, hat Maier anhand der Gedichte nachgewiesen, von denen neben Goethes Reinschriften auch Abschriften von Zelter vorliegen, welche dieselben Nummern aufweisen (Nr. 7, 23 u. 29) und welche im August 1814 angefertigt worden sind. Burdach hat die drei Originalblätter zur Zeit seines Vortrags noch nicht gekannt. Er hätte aber darauf achten können, daß Goethe bei der Numerierung der übrigen Blätter „drei verschiedene Medien (schwarze Tinte, rote Tinte und Bleistift) . . . benutzte" (Maier, S. 11). Obwohl Maier dies bemerkt, zieht er ebenfalls keine eindeutigen Schlüsse daraus. Goethe hat die Reinschriften bis Nr. 32 und von Nr. 45 an durchgehend mit schwarzer Tinte beziffert. Nur die vor der durchstrichenen „6" stehende „7" schrieb er ebenso wie Text und Datum von Nr. 28 in dunkelbrauner Tinte, also einem vierten Medium. Von Nr. 34 bis Nr. 44 hat er Bleistift benutzt. Die darübergeschriebene „43" und die zweite „44" sind aus roter Tinte, die sich laut Maier von der Ende Mai gebrauchten unterscheidet. Demnach wurden die Gedichte zu folgenden Zeitpunkten beziffert: die ersten 32 Gedichte im Sommer, von Nr. 34 bis zur ursprünglichen Nr. 44 Mitte Dezember, von Nr. 45 bis Nr. 53 am 31. Dezember 1814 und die zweite Nr. 44 erst 1815. Wann und warum hat Goethe einzelne Gedichte umnumeriert? Hat er die ursprünglichen Nummern noch während der Bezifferung geändert, weil er ein davor entstandenes Gedicht zunächst übersehen hatte, oder erst viel später, um ein danach entstandenes Gedicht voranzustellen? Die Änderung von Nr. 6 zu 7 muß bereits im Sommer erfolgt sein, da Zelters Abschrift nur mit „7" beziffert ist. Maier scheint daraus zu folgern, daß auch die übrigen Nummern der Gedichte vom Sommer schon damals geändert wurden. Er schreibt im Kommentar zu ,Beynamec: „Drei Nummern . . . von Juli/August 1814" (S. 116). Burdach vermerkt genauer: „5.3.4 ( . . . die beiden letzten auch g durchstrichen)" (WA 6, 373). Aus der Reihenfolge der Zahlen könnte man schließen, daß die zweite Änderung erst später, vielleicht im Anschluß an die Voranstellung von ,Hegire' erfolgt ist. Es ist denkbar, daß Goethe zunächst nach der Numerierung der ersten sechs Gedichte ein Gedicht an dritter Stelle eingerückt und dann die folgenden Gedichte jeweils um eine Stelle weitergerückt hat („3" > „4", 4>5, 5 >6 und „6" > „7"). Durch die Umordnung von Nr. „20" zu „22" wird die Chronologie kaum berührt, da dieses Gedicht auf denselben Tag und dieselbe Stunde wie Nr. „21" datiert ist. Nr. „18a" wurde nachträglich eingefügt, ohne daß die Ziffern der benachbarten Gedichte Nr. „18" und „19" geändert wurden. Können wir Nr. „18a" auf Platz 19, Nr. 19 auf Platz 20 und, wie Burdach stillschwei-

GoethesDeutscher Divan' von 1814

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gend getan hat, Nr. „43" auf Platz 42 setzen, dann hätten wir bereits zwei der fehlenden Nummern: 20 und 42, gefunden. Datierung : Goethe hat auf fast allen Blättern die Zeit, oft auch den Ort der Entstehung notiert und die Gedichte in ihrer Entstehungsfolge numeriert. Das erste Gedicht wurde jedoch erst kurz vor Abschluß der Sammlung verfaßt, also bewußt als Prolog an den Anfang gestellt. Die gleiche Verbindung zwischen dem Anfang und dem Ende der Gedichtsammlung läßt sich aus den Doppeldaten ablesen. Das mit „2" bezifferte Blatt, das zwei Gedichte bzw. ein Doppelgedicht enthält, ist unterzeichnet: „Berka Juli. / Jena Dec./ 1814". Dem zweiten Datum entspricht der Eintrag im Tagebuch vom 18. Dezember: „Felwa [Fetwa] und Antwort". Da das Antwortgedicht auf den von Goethe erst im Dezember gelesenen zweiten Band der Fundgruben' zurückgeht, kann sich das erste Datum nur auf ,Fetwa' beziehen. Goethe hat dieses Gedicht vermutlich schon im Juni geschrieben, denn er ist im Juli nicht mehr in Berka gewesen. Die Folgerung von Burdach, daß „die älteste Sammlung des Divans von 1814 gleich hier, am Anfang, das Prinzip rein chronologischer Anordnung" durchbreche (S. 23), trifft also gerade hier, bei der Folge von „2" und „5", auf die Burdach sich bezieht, nicht zu. Die Gedichte Nr. 25 und 27 wurden am 26. und 27. Juli entworfen, das zweite wurde am 22., das erste am 23. Dezember vollendet. Goethe hat sich also schon ein bis zwei Tage vor der Abfassung des Prologgedichts um den Abschluß und die Revision der Gedichtsammlung von 1814 bemüht. Burdach weist mit gleichem Nachdruck darauf hin, daß Goethe vor die Gedichte Nr. 11 bis 13 „gegen die Chronologie . . . zwei Lieder vom folgenden Tag gestellt" habe (S. 26). Hier ist zu prüfen, ob die Gedichte Nr. 9 und 10 nicht ebenfalls schon am 25. Juli konzipiert wurden (s. u.). Bei den übrigen Gedichten ist das Prinzip der chronologischen Anordnung streng durchgeführt. Wiesbader

Register:

Wenn wir die schwarzen Ziffern der Gedichtsammlung von 1814 und die roten Ziffern, die sich auf das Wiesbader Register beziehen, nebeneinanderstellen (s. o.), erkennen wir zwischen beiden Ordnungen eine weitgehende Übereinstimmung. Goethe hat Ende Mai 1815 weder die Gedichte völlig neu geordnet, noch hat er die neuen Gedichte einfach angehängt, sondern er hat sie an bestimmten Stellen dazwischengeschoben, und zwar so, daß die Sammlung von 1814 in drei Gruppen getrennt erscheint (Nr. 2-18a, 19-27 und 31-51), in deren Aufeinanderfolge aber immer noch beisammen ist.

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Es ist deshalb gerechtfertigt, bei der Rekonstruktion der ersten Ordnung die zweite heranzuziehen: sofern man die entsprechenden Gedichte auf das Jahr 1814 datieren kann. Düntzer hat in seiner Rezension der Weimarer Ausgabe für die 17 fehlenden Nummern der ersten Sammlung ausschließlich die an entsprechender Stelle stehenden Gedichte des Wiesbader Registers eingesetzt, obwohl sechs jedenfalls und zwei höchstwahrscheinlich erst 1815 entstanden sind9. Die Rekonstruktion des ältesten Divans hat sich gegenüber dem Ausgangspunkt von Burdach einerseits erschwert, weil wir, zumindest für die ersten acht Gedichte, neben der ursprünglichen Anordnung auch die im Dezember vorgenommene Umordnung wiederherstellen müssen, andererseits erleichtert. Denn wir haben nun drei „feste Grundlagen", von denen wir ausgehen können: die erhalten gebliebenen und seither wiedergefundenen Reinschriften, die Entstehungsfolge der Gedichte und die spätere Ordnung des Wiesbader Registers. Die Reinschriften gehören beiden Ordnungen an, da sie im Winter teilweise verändert und ergänzt, teilweise neu geschrieben wurden, die Chronologie ist nur auf die ursprüngliche Anordnung zu beziehen, das Wiesbader Register nur auf die spätere Umordnung. 2. D i e i m R e i n s c h r i f t c o r p u s

fehlenden

Gedichte

Für die insgesamt 16 bzw. 17 fehlenden Nummern des ,Deutschen Divans' 10 kommen zunächst alle Gedichte in Betracht, die in der Zeit von Mitte Juni bis Ende Dezember 1814 entstanden und nicht in der Reinschrift überliefert sind. Doch eben weil bei diesen Gedichten die meist datierten Reinschriften fehlen, ist auch ihre Entstehungszeit nur selten bekannt. Aus dem Wiesbader Register läßt sich ablesen, welche Divangedichte bis Ende Mai 1815 entstanden sind. Vielleicht haben aber auch einige der Sprüche, die 9 Verbessert man die vielen Druckfehler, die bisher jeden Leser abgeschreckt zu haben scheinen, so sieht sein Versuch einer Rekonstruktion des ,Deutschen Divans* so aus: DD WR DD WR DD WR

3- 4 6 8 14 - 17

= = = =

10-11 15 17 22 - 25

21 - 2 2 26 30 33

= = = =

41.43 65? 53? 54? 70

39 - 40 = 79.47 46 = 85 52 = 7?

Die Nummern 11, 43, 65, 53/54, 70 und 79 des Wiesbader Registers stammen jedenfalls, die Nummern 25 und 74 wahrscheinlich erst von 1815, kommen für den Deutschen Divan also nicht in Betracht. Durch die später aufgefundenen Reinschriften von Nr. 21 und 26 D D wurde Düntzers Vermutung im ersten Fall bestätigt, im zweiten widerlegt. 10 Die urspr. Nr. 1, Nr. 3 - 4, 6, 8, 14-17, 20, 30, 33, 39-40, 42 (?), 46 und 52.

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erst nach dem Wiesbader Register, im Oktober 1815, in den D i van aufgenommen wurden 11 , zu seiner ursprünglichen Ordnung gehört. Schließlich können auch andere Gedichte von 1814 zunächst für den Divan bestimmt gewesen sein. Je mehr aber die Zahl der ausgewählten Gedichte die Zahl der freien Plätze übersteigt, desto willkürlicher wird ihre Einordnung. Es gilt deshalb, soweit als möglich die Zahl der Gedichte einzuschränken und den Zeitraum ihrer Entstehung einzugrenzen. Oberlief erung : Die Reinschriften müssen entweder fehlen oder als Abschriften kenntlich sein, da sie sonst eine Nummer des ,Deutschen Divans' tragen würden. Die in Band 6 und 7 der Weimarer Ausgabe und in der Ausgabe von Maier mitgeteilten Handschriften mit Vorstufen von Divangedichten sind nicht vor Mitte Dezember 1814 entstanden. Im Nachtragsband der Weimarer Ausgabe ist ein Oktavheft mit mehreren herausgerissenen Blättchen beschrieben, in das Goethe am 26. und 27. Juli 1814 während der Fahrt Verse und Motive zu Divangedichten und zur Oper ,Der Löwenstuhl' notierte. Die Maxime „Laß es gut seyn / Wir wollen es nicht bös machen" liegt dem Beginn der 5. Strophe von ,22. Wenn du auf dem Guten ruhst* vom 26. Juli zu Grunde. Die Verse „Die so ein närrisch Wesen hatten / Als wenn Bachstelzen sich begatten" passen nach Ansicht von Wahle „in Ton und Versmass" zum „Jahrmarkt zu Hünfeld, den 26. Juli 1814" (WA 53, 353). Die Verse „Ganz oben hinauf gesetzt/Die ganze heilige Dreyeinigkeit . . . " sind „Dem gleichen Gedankenkreis angehörig wie Jesus auch er . . .'" (WA 53, 354). Die Sammelhandschrift H 10, auf der Goethe am 14. Dezember viele teils schon im Sommer entstandene kleine „Fragmente" zusammenstellte (s.u.), enthält Entwürfe von Nr. 25, von Fachbildung* (jeweils 3. Strophe), von Nr. 41 und Nr. 49 (1. Strophe), die sämtlich zum Zeichen ihrer Verarbeitung durchstrichen sind. Demzufolge hat er die nicht durchstrichenen Fragmente, die im Nachlaß zum Divan (,Daß des Hauses . . . ' , ,Hör ich doch . . .', ,Solcher Bande . . .') und zu den ,Zahmen Xenien' abgedruckt sind (,Seh ich zum Wagen heraus'), nicht in den ,Deutschen Divan' aufgenommen. Vielleicht hat er die auf den Blättern von Kräuter überlieferten Sprüche zum Teil erst einzeln niedergeschrieben und Ende Oktober 1815 in Gruppen zusammengestellt und Kräuter diktiert oder zur Abschrift gegeben. Die mit Kräuters brauner Tinte durchstrichenen Entwürfe hat er jedenfalls erst 11 Da viele Sprüche erst Ende Oktober 1815 von Kräuter ins Reine geschrieben wurden, läßt sich ,7. Talismane pp' mit Sicherheit nur auf den Leitspruch ,Talismane werd* ich in dem Buch zerstreuen' beziehen. Vgl. M. Mommsen, Studien zum WöD . . . Berlin 1962, S. 133. Dieser Spruch hat also „damals noch in einer Einzelhandschrift" vorgelegen (H. A. Maier , Besprechung des Buchs von M. Mommsen in: JEGPh. Vol. 62, 1963, p. 633).

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damals ausgeführt (vgl. Maier, S. 225 f.). Damit scheiden auch die am 15. Dezember auf H 55 entworfenen Sprüche (,Guten Ruf . . .', ,Die Flut der Leidenschaft.. .') aus. Quellen: Kennen wir die orientalische Quelle eines Gedichts, so haben wir meist auch den terminus a quo seiner Entstehung, da der Beginn der Lektüre gewöhnlich im Tagebuch vermerkt ist 12 . Goethe las seit dem 7. Juni 1814 immer wieder in „Hafis Divan" (Tagebuch), der für die Gedichte bis zur Nummer 42 die alleinige östliche Quelle ist. Er hat sich aber auch im Mai und im Herbst 1815 sowie 1818 und 1819 von Hafis inspirieren lassen. Und er hat die beiden Bände seines Divans nicht Seite für Seite durchstudiert, sondern in ihnen „gedäumelt" (Boisser^es Tagebuch vom 8. Okt. 1815). Er hat sich zunächst mit der Vorrede beschäftigt, wie durch Nr. 2, 5, 13 und 26 belegt wird, er hat die Vorrede aber auch im Dezember für Nr. 1 und 44 und in den folgenden Jahren als Quelle benutzt. Hat er ,Sey das Wort . . .', das spätere Motto des ,Buch Hafis', das auf das Motto von Hafis Divan zurückgeht, gleich zu Anfang gedichtet? Die überlieferte Reinschrift, das Titelblatt des Wiesbader Registers, ist vom 16. Mai 1815. Wahrscheinlich stammen auch die Bleistiftanstreichungen in Goethes HafisExemplar vom Sommer 1814, da sie u. a. die Quellen von Nr. 25, 29 und vom ,Hans Adam' bezeichnen13. Goethe hat am 2. November 1814, wenige Tage nach seiner Rückkunft nach Weimar, den Jenaer Orientalisten Lorsbach in einem Brief an Eichstädt um Auskunft, wie der Name Hafis zu lesen sei (vgl. Tgb.: „Eichstädt Wiesb. Schrift. Hafis?") und erhielt am 10. November dessen Antwort: „Es leidet keinen Zweifel, daß im Namen Hafis . . . die erste Silbe lang, die zweite kurz ist." (Vgl. Tgb.: „Moh. Schema [Scherns.] Hafis.") Folglich sind die Reinschriften der acht Gedichte, in denen die Versstellung von „Hafis" geändert wurde, vor diesem Datum entstanden, die Reinschriften, die von vornherein die richtige Betonung aufweisen, danach14. 12 Dabei darf man die in den Kommentaren angegebenen „Quellen" nicht ungeprüft übernehmen. Denn sie stammen nicht selten aus Büchern, die Goethe bei der Niederschrift des betreffenden Gedichts noch gar nicht gekannt hat. So wird zu ,34. Herrenrecht und Dienstpflicht' und ,41. Wer wird von der Welt verlangen', die zum Deutschen Divan gehören, von Christian Wurm über Burdach bis Maier auf Saadi-Olearius verwiesen, den Goethe frühestens am 10. Januar 1815 gelesen hat, was Wurm ohne Kenntnis der Tagebücher freilich nicht wissen konnte. 18 Die Stellen sind angegeben in Hans Ruppert: Goethes Bibliothek, Katalog, Weimar 1958, Nr. 1771. 14 „Hafis" wurde umgestellt in Nr. 5, 7, 12, 18, 18a, 21, 22 und dem ,Hans Adam', er blieb unverändert in Nr. 1, 2 und 44. In Nr. 13 und in »Unbegrenzt' läßt der Name Hafis keinen Schluß auf die Entstehung zu, da die Anfangsbetonung im jambischen Vers frei ist. Das erste der „Fragmente" auf H 10 vom 14. De-

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Wann Goethe Diez* Übersetzung des Königlichen Buchs erhalten und studiert hat, das die Quelle von ,43. Wandrers Gemüthsruhe' vom 19. November bildet, ist nicht überliefert. Goethe hat in Jena wahrscheinlich schon am 4. Dezember, also gleich nach seiner Ankunft den Orientalisten Lorsbach besucht und sich von ihm Jones ,Poeseos Asiaticae' entliehen und diese vom 8. bis 11. Dezember studiert (Tagebuch). Am 12. Dezember erhielt er durch Eichstädt von der dortigen Universitätsbibliothek die ,Historia Religionis' von Hyde (vgl. WA I I I , 5, 363) und wohl auch Band I bis I I I und die beiden ersten Hefte von Band I V der von Joseph von Hammer herausgegebenen ,Fundgruben des Orients', die er noch am selben Abend zu lesen begann (Tagebuch). Er hat in den »Fundgruben* zunächst vor allem die anderen persischen Dichter studiert (vgl. Tgb. vom 14. und 15. Dez.) und sie am 22. Dezember mit nach Weimar genommen. Er hat dort einen Tag später die ,Reise nach Sheeraz' (Schiras) von Scott-Waring und das orientalische Wörterbuch von Herbelot ausgeliehen15, aber anscheinend nur Waring gelesen (Tgb. vom 23. Dez.) und sich zwischen 29. und 31. Dezember sowie Anfang Januar nochmals die Fundgruben, diesmal vor allem Band I I I und I V vorgenommen. Bei Jones fand er die Parabeln vom ,Winter und Timur' (Dt. Divan Nr. 43) und von der ,Gläubigen Perle' (WR Nr. 32). Er hat die letztere und das Gedicht ,Rumi' (WR Nr. 48), das auf den gleichnamigen Artikel von Herbelot zurückgeht, wohl erst im Februar zusammen mit den Studiennotizen über die persischen Dichter verfaßt, in denen die Quelle der Perlenparabel vermerkt ist (vgl. Par. 112c, 116a u. 120 der AA). Aus Hyde notierte er im Tagebuch vom 12. Dezember den Entwurf von ,Anbete du das Feuer . . . ' , den er nicht mehr in der Sammlung »Sprichwörtlich', sondern erst in den »Zahmen Xenien' veröffentlichte, also wohl erst nach ihrem Abschluß, d. h. nach Januar 1815 ausführte. Die beiden ersten Bände der ,Fundgruben' benutzte er Mitte Dezember für ein Fragment auf H 10, die Exzerpte auf H 55 und H 63a und die Gedichte Nr. 47 bis 49, Band I I I benutzte er am 29. Dezember für die »Siebenschläfer' (Tagebuch), Band I V am 1. Januar für die ,Segenspfänder' (WR Nr. 4). Als Quellen der fehlenden Gedichte kommen für die ersten 43 Nummern nur Hafis, für die letzten Nummern auch die Fundgruben in Betracht.

zember 1814, ,Hör ich doch . . / , weist die ursprüngliche Betonung auf und gehört demnach zu den Hafis-Sprüchen vom Sommer. 15 Die Ausleihdaten sind verzeichnet in: Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Ein Verzeichnis der von ihm ausgeliehenen Werke, bearbeitet von Elise von Keudell, Weimar 1931. 4 Literatur-wissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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Zeugnisse : Die Tagebuchnotizen und Briefe aus jener Zeit geben nicht nur über die Beschäftigung mit der orientalischen Literatur Auskunft. Die auf der Reise verfaßten Gedichte lassen sich durch Goethes Tagebuch und seinen Reisebericht an Christiane erläutern. I n ,41. Wer wird von der Welt verlangen* hält Goethe einen Gedanken fest, den er am 9. November Knebel mitteilte (s.u. Anm. 36). Und sein Brief an Knebel vom 11. Januar 1815 spielt offensichtlich auf die zweite Strophe von ,Lied und Gebilde* und auf Fachbildung* an (s. u. Anm. 35). Das Gedicht ,Die Wächter sind gebändiget', auf das sich im Wiesbader Register ,25. Blumensprache' bezieht, wurde durch einen Artikel in Band I und I I der Fundgruben angeregt, es könnte also auf Grund seiner Quelle noch von 1814 sein, wie Düntzer annimmt, es gehört aber von seinem Inhalt her eher in die Nähe des an Willemer gerichteten Gedichts ,Reicher Blumen goldne Ranken' vom 12. Februar und des Briefs an Franz Brentano vom selben Tag, in dem von „gemalten und poetischen Blumen" die Rede ist. Gothe scheint in ,Ja, in der Schenke hab' ich auch gesessen' an Marianne von Willemer zurückzudenken, da er die beiden Schlußzeilen im Brief an Rosine Städel vom 27. September 1815 zitiert, weshalb es bisher meist auf diesen Tag datiert wurde (s. Beutler, S. 661 und Trunz, S. 583). Es ist aber das einzige Gedicht, auf das im Wiesbader Register der Titel ,23. Schencke' passen kann, wurde also schon vorher, vielleicht bereits 1814 gedichtet. Die Reinschrift des Doppelgedichts ,Dem Kellner — Dem Schencken' ist „1. 7.15." datiert, wobei die Jahreszahl aus „14" verbessert ist. Da das Gedicht im Wiesbader Register angeführt ist (,74. Kellner und Schencke'), nimmt Burdach an, daß es von 1814 stamme und „noch ohne Beziehung" auf den Schenken des Wirtshauses auf dem Geisberg sei16. Dagegen spricht aber der Bericht von Boisseree vom 8. August 1815: „Ein anderes Gedicht bezieht sich auf den schönen, jungen, blonden Kellner auf dem Geisberg." Parallelstellen : Wir kommen bei der Auswahl und Einordnung der fehlenden Gedichte ein gutes Stück weiter, wenn wir auch auf die zwischen den Gedichten hin und her laufenden Verbindungen achten. Der Spruch ,Gesteht's! Die Dichter des Orients' hat den gleichen Inhalt und dieselbe Quelle wie ,25. Keinen Reimer wird man finden', ist also vermutlich vom selben Tag. ,Dümmer 16 Jubiläums-Ausgabe 5, 404. Maier vermutet, Goethe habe beide Strophen Ende Mai geplant, um die Figur des Schenken einzuführen, und einen Monat später, am 1. Juli 1815, ausgeführt (S. 360). Düntzer hat das vorige Gedicht als Nr. 15 und diese beiden als Nr. 40 in den Deutschen Divan eingereiht.

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ist nichts zu ertragen' scheint mit ,21. Uebermacht, ihr könnt es spüren' zusammenzuhängen. ,Thut ein Schilf . . . ' preist das östliche Vorbild und kündigt das eigene Schaffen an, gehört demnach ganz an den Anfang. Die nicht zum Divan gehörenden Sprüche von 1814 dürften von vornherein für die Sammlung ,Sprichwörtlich' bestimmt gewesen sein, mit deren Ordnung der Dichter schon zu Anfang des Jahres begonnen hatte. Außer im Wiesbader Register und auf den Blättern von Kräuter könnten die fehlenden Gedichte am ehesten in der Sammlung ,Epigrammatisch zu finden sein, die 1815 erschienen ist und dem ,Buch der Betrachtungen' verwandt ist. Der Jahrmarkt zu Hünfeld, den 26. Juli 1814', dessen Reinschrift verloren ist, gehört zu den Reisegedichten. ,Auf den Kauf', das dem Inhaltsverzeichnis der Quartausgabe zufolge am 21. November gedichtet wurde (vgl. WA 2, 491), läßt sich den Unmutsgedichten Nr. 41 und 43 zur Seite stellen. Die ursprüngliche Fassung von ,Lebensregel', die nach Loeper „im heitern Licht der Divanszeit geboren" wurde (WA 2, 484 f.), scheint Nr. 13 und 27 vorauszugehen17. Die anderen Anklänge an Divangedichte in dieser Sammlung betreffen entweder Epigramme, die noch vor der Divanzeit, oder Divangedichte, die nach der Veröffentlichung von Epigrammatisch' verfaßt wurden 18 . Von den übrigen Gedichten von 181410 könnten allenfalls die Unmutsverse ,Daß ich bezahle', deren überlieferte Abschrift auf „Berka d. 21. Juni 1814" datiert ist (s. WA 5/2, 264), für den Divan bestimmt gewesen sein. Da wir bei der Auswahl der fehlenden Gedichte nicht von der „festen Grundlage" der Reinschriften ausgehen konnten, haben wir sie nach den verschiedensten inhaltlichen Kriterien: durch Bezug auf den Osten (orientalische Quellen), den Westen (biographische Zeugnisse) und auf einander beurteilt und teilweise bereits datiert. Damit der Leser unsere Entscheidung leichter überprüfen kann, stellen wir die vorerst ausgewählten Gedichte zusammen. 17 Der 4. Vers: „Mußt stets die Gegenwart genießen" wird durch die Schlußverse von Nr. 13 übertroffen: „Uns der Gegenwart erfreuen, / Das Vergangne mitgenießen." Und der 5. Vers: „Besonders keinen Menschen hassen" ist vermutlich eine Vorstufe von Nr. 27, Vers 6 und 8: „Niemand hass ich; soll ich hassen . . . Hasse gleich in ganzen Massen." 18 Vergleichbar sind ,Fürstenregel', dessen erst im Sommer 1969 aufgefundene Reinschrift auf Januar 1814 datiert ist, mit ,34. Herrenrecht und Dienstpflicht' oder ,Egalité', das im Brief an Zelter vom 22. April 1814 zitiert ist, mit ,Gesteht's! Die Dichter . . . ' und »Keinen Reimer . . . ' oder ,Die Jahre' und ,Keins von allen', beides vermutlich Beilagen zum Brief an Zelter vom 23. Februar 1814, mit ,Die Jahre nahmen dir . . . ' und ,Wie ich so ehrlich war' oder die beiden Versionen von ,Es geht eins nach dem andern hin'. 19 Die bisher auf 1814 datierten Gedichte sind im chronologischen Verzeichnis von Jakob Steiner im 2. Band der Gedenkausgabe zusammengestellt.

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Gedichte aus dem Wiesbader Register 1. 10. 13. 15. 17. 22. 23. 24.

Motto Anerkennung Hafis Dichtercha[ra]cter Kunstreime Urvater Erinnerung Schencke Schoen Bittende Und was im Pendnameh . . . 85. Dichtungsarten 99. Siebenschläfer

Jena Dec./1814

Hafis Motto Fundgr. I I Hafis I, Vorr.

Berka . . ./d. 21 Juni 1814 Hafis I d. 26. Jul. 1814 Hafis I I 26. Jul. 1814. Fundgr. I I Jena/Ende Dec. 1814/May. I815./Wiesb.

Sprüche aus den Blättern von Kräuter: Dümmer ist nichts . . . Gesteht's! Die Dichter . . . Bl. 8 Du bist auf immer... Thut ein Schilf ...

Fundgr. I I I

Bl. 2

Hafis I I Hafis I Hafis I I

Aus Epigrammatisches': Lebensregel Jahrmarkt zu Hünfeld, Auf den Kauf Daß ich bezahle

den 26. Juli 1814 (22. Nov. 1814) Aus dem Nachlaß: Berka d. 21. Juni 1814

3. E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e Gedichte über

Hafis:

Den Anfang bilden sieben oder acht Gedichte, die vermutlich noch vor der Abreise aus Weimar verfaßt wurden. Hierzu dürften außer den drei in R überlieferten Gedichten ,Fetwa', ,Beyname' und ,Elemente' auf Grund ihres Entstehungsdatums ,Hans Adam' und ,Daß ich bezahle', ferner auf Grund ihrer Quelle und ihres Inhalts die aus Hafis übertragenen oder auf Hafis bezogenen Sprüche gehören. Die „feste Grundlage", von der wir ausgehen können, sind nicht die überlieferten Reinschriften, sondern nur die Originalblätter . ,1. Hegire' ist datiert auf den 24. Dezember, die mit „2" bezifferte Reinschrift von ,Fetwa' stammt vom 18. Dezember, das Reinschriftblatt vom ,Hans Adam', von dem nur noch ein Foto existiert, ist erst „nach dem 10. November 1814, wahrscheinlich erst nach Ende Mai 1815 entstanden . . . , da es die Betonung ,Hafis' und gar keine Numerierung aufweist" (Maier, S. 97), das Blatt von ,Daß ich bezahle' bildet ebenfalls eine „späte Abschrift" (WA 5/2, 264). Übrig bleiben die beiden umnumerierten Reinschriften von ,Beyname' und ,Elemente'.

GoethesDeutscher Divan' von 1814

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Als nächstes können wir die Gedichte nach ihrer Entstehungsfolge zu ordnen suchen. Als ältestes Gedicht des Divans gilt der ,Hans Adam', der „Berka an der Ilm (d. 21. Juni 1814)" datiert ist. ,Daß ich bezahle' trägt dasselbe Datum, dürfte aber, da der Name des Flusses fehlt, erst danach geschrieben und datiert worden sein20. Ebenfalls noch in „Berka", also zwischen 21. und 26. Juni, dem Entstehungsdatum von ,Beyname', wurde ,Fetwa' gedichtet. Im Zusammenhang mit dem Vergleich mit Hafis in diesen beiden Gedichten könnte auch der dem Motto von Hafis Divan nachgebildete Leitspruch ,Sey das W o r t . . . ' entstanden sein. Aus der Zeit in Weimar (28. Juni bis 24. Juli) ist nur ein Gedicht: ,Elemente' vom 22. Juli belegt. Goethe dürfte um diese Zeit auch die inhaltlich verwandten Hafis-Sprüche gedichtet und sie sowohl chronologisch als auch thematisch eingeordnet haben. Der Spruch ,Gesteht's! Die Dichter des Orients' greift das Thema von ,Fetwa' auf, das Reimpaar „Orients - Okzidents" wiederholt die Gegenüberstellung „im Westen — im Osten" aus ,Daß ich bezahle', und der „Haß" (Vers 4) weist auf das Gedicht Elemente' voraus, wo er als Element der Dichtung seine Rechtfertigung erfährt. Auf ,Elemente' könnte der Spruch ,Du bist auf immer geborgen' gefolgt sein, in dem gleichfalls von „Lied" und „Wein" die Rede ist. Aus der Beobachtung, daß Goethe die Nummern von ,Elemente' und wohl auch von ,Beyname' schon bei der ersten Ordnung der Gedichte am 30. Juli geändert hat (s. o.), läßt sich schließen, daß er ein Gedicht nachträglich vorgeschoben hat, sei es, daß er eines der ersten drei Gedichte zunächst übersehen hatte oder daß er den Spruch ,Sey das Wort . . . ' den ,Gedichten an Hafis' wie später dem ,Buch Hafis' als Motto vorangestellt hat 21 . (1) (2*) (2 >3) 3> 4 (4 > 5) (5 >6) 6> 7 (7 > 8)

Hans Adam Fetwa Daß ich Beyname Sey das Gesteht's! Elemente Du bist

Berka, 21. Juni Berka, zw. 21. u. 26. Juni Berka, 21. Juni Berka, 26. Juni Berka, zw. 21. u. 26. Juni Weimar, um 22. Juli Weimar, 22. Juli Weimar, um 22. Juli

Hafis 1, 233 f. Hafis I, Vorr. 34 Hafis? Hafis I, Vorr. 9 Hafis I, Motto Hafis I I , 91 Hafis I I , 75 ff. Hafis 1,87

20 Die am 24. Mai nacheinander verfaßten Gedichte ,Daß Suleika ...', ,Da du nun Suleika heißest' und ,Schlechter Trost' sind datiert: „Eisenach./d. 24 May/1815.", „Eisenadi./24 May./1815." und „d.24 May/1815". Die Reinschriften von »Geständnis', ,Gruß' und »Ergebung', die am 27. Mai in dieser Reihenfolge gedichtet wurden (vgl. den Entwurf von ,Geständnis' auf H 2 vom 26. Mai), tragen die Ortsangabe „Frfurt", „Frf." und „Ff.". 21 Würde man gleich von der Ordnung des Wiesbader Registers ausgehen, so müßte man den ,Hans Adam' wie Düntzer gegen die Chronologie auf Platz 8 stellen und dafür das Hafis-Motto an den Anfang stellen. Möglicherweise hat auch ,Lebensregel' zu den ersten Gedichten gehört (s. o. Anm. 17).

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Wir können trotz dieses Einschubs weiterhin annehmen, daß Goethe die Gedichte zunächst nach ihrer Entstehungsfolge beziffert hat, und als Ergebnis festhalten, daß er die ersten acht Gedichte, die alle den Dichterberuf zum Thema haben und auf Hafis und seine Lieder bezogen sind, in Berka und in Weimar jeweils kurz vor der Abreise verfaßt hat. Reisebilder : Der Hauptteil der ersten Sammlung stammt von den ersten beiden Reisetagen. Goethe berichtete Christiane am 28. Juli: Den 25ten schrieb ich viele Gedichte an Hafis, die meisten gut . . . den 26.ten . . . Den Tag über hatte ich weniger Gedichte geschrieben und sehr wenige gut. Auf den 25. Juli sind datiert Nr. 11 - 13 = drei Gedichte, auf den 26. Nr. 9 - 1 0 und 21 - 25 = sieben und drei andere = zehn Gedichte. Lassen sich diese Zahlen mit Goethes Angabe in Einklang bringen, und läßt sich dabei die Feststellung von Burdach, daß zwei Gedichte, Nr. 9 und 10, „gegen die Chronologie . . . gestellt" seien, entkräften? ,9. Artges Häuschen hab ich klein' entspricht nach Stellung und Inhalt genau dem ersten Absatz des Reiseberichts: Zuvörderst also muß ich die charmante Person loben, welche mich das Fahrhäuschen zu betreten bewog . . . Goethe könnte es also durchaus als erstes Reisegedicht entworfen haben, er könnte es aber auch später, wie Burdach meint, als „kommentierenden Prolog . . . vorangesetzt" haben (S. 26). Beutler will wissen, daß „dieses Gedicht im Stadtschloß zu Eisenach . . . , eben am Abend jenes 25. Juli 1814" geschrieben wurde (S. 352). Goethe hat die Gedichte Nr. 9 und 10 vermutlich gleichzeitig aufgeschrieben, denn sie stehen auf der Vorderseite und Rückseite eines Blatts. Wenn er ,10. Zwiespalt' gleich anschließend konzipiert hat, dann wäre er nicht weit hinter Weimar auf Kriegstruppen gestoßen. Nach Beutler fand diese Begegnung erst am nächsten Morgen zwischen Eisenach und Hünfeld statt (S. 356), vermutlich weil auch im Jahrmarkt zu Hünfeld' von „Soldaten" die Rede ist. Da Nr. 10 durch Hafis angeregt wurde, ist es jedoch „keineswegs notwendig", wie Burdach vorsichtiger äußert, „daß ein bestimmter einzelner Reiseeindruck dabei im Spiel war" (S. 27). ,10. Zwiespalt' und ,11. Phaenomen' sind der Form nach verwandt, was für ihre gleichzeitige Entstehung spricht 22. Die beiden Gedichte gehören 22 Gleiche Gedichtformen, gleiche Reimklänge, paralleler Anfang, römischer Göttername zu Beginn des 2. Verses.

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mit den Gedichten von 25. Juli auch vom Thema her zusammen: als Reisebilder. Aus der Nr. 11 will Beutler herauslesen, daß sich am Morgen des 25. bei emporsteigender Sonne Nebel gebildet habe. Da der 25. der erste trockne und sonnige Tag gewesen zu sein scheint, mag dies zutreffen. ,12. Liebliches' beschreibt die aus dem Morgennebel auftauchenden Felder „um Erfurt" (urspr. Lesart von Vers 14), und Nr. 13 beginnt: ,Sollt einmal durch Erfurt fahren', durch das er tatsächlich am Vormittag des 25. Juli gefahren ist. Ober den zweiten Tag schrieb er Christiane: Den 26ten fünf Uhr von Eisenach. Herrlicher Duftmorgen um die Wartburg. Köstlicher Tag überhaupt. In Hünfeld fand ich Jahrmarkt und bemerkte einige Späße. Um sechs Uhr im Posthaus zu Fulda . . . Im Laufe dieses Tages dürften die zu den fehlenden Nummern 14-17 gehörenden Gedichte entstanden sein. Um sie in der richtigen Reihenfolge einzuordnen, ziehen wir das Wiesbader Register heran, welches die Gedichte vom Vortag in ihrer Entstehungsfolge aufzählt. Wiesbader Register 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.

— (leeres Blatt) Liebe und Krieg Seltnes Meteor Bunte Felder Erinnerung Schencke. Schoen Bittende. Blumensprache Locken und Zöpfe

Deutscher Divan 9. 10. 11. 12. (14.) (15.) (16.)

Vision Zwiespalt Phaenomen Liebliches Im Gegenwärtigen Vergangnes Ja, in der Schencke . . . Lieblich i s t . . .

18. Gewarnt

Zum Gedicht ,1m Gegenwärtigen Vergangnes' ( = WR ,22. Erinnerung'), dessen Reinschrift er „Fulda 6 Uhr" unterzeichnete, wurde Goethe bekanntlich durch den Anblick der Wartburg inspiriert. Vermutlich hat er am frühen Morgen die ersten drei Strophen gedichtet und zwölf Stunden später, nach der Ankunft in Fulda, die letzte Strophe von Nr. 13 übertragen. Da es im Wiesbader Register direkt an die Gedichte vom 25. Juli anschließt, dürfte die Reinschrift die Nummer 14 getragen haben. Demnach hat er auch hier wie auf der Reinschrift von Nr. 9 und 10 bei der Numerierung den Zeitpunkt des Beginns, bei der Datierung den Zeitpunkt des Abschlusses festgehalten. Hat Goethe das Gedicht ,Ja, in der Schencke . . . ' , auf das im Wiesbader Register ,23. Schencke* zu beziehen ist, bereits am Vormittag des 26. Juli verfaßt und mit „15" beziffert? Hätte er es erst 1815 gedichtet, so hätte er

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es vermutlich schon im Wiesbader Register wie später bei der Bucheinteilung den Schenkengedichten vorangestellt. Dieses Gedicht bezieht sich auch nicht auf „Gegenwärtiges": weder auf den Geisberg, noch auf ein Wirtshaus, in das Goethe unterwegs eingekehrt wäre, sondern ebenso wie das vorige Gedicht auf „Vergangnes", das die Schenkenlieder von Hafis in ihm wachgerufen hatten. Früher „hab ich auch" — wie Hafis — „in der Schencke . . . gesessen": nämlich im Herbst 1777 in der Schloßschenke zu Eisenach23. Als nächstes dürfte ,Lieblich ist des Mädchens Blick der winket* gefolgt sein, von dem eine auf den „26. Jul. 1814" datierte Handschrift überliefert ist. Die ersten vier Verse enthalten nochmals einen Rückblick auf die Wartburgtage und knüpfen an die vorausgehenden Gedichte an 24 , die folgenden Verse halten eine Episode fest, die sich während der Reise, vielleicht in Hünfeld, zugetragen hat. Früher, in den Jugendjahren, empfand er die Wonne des Nehmens, jetzt die „Wonne des Gebens"25. Danach dürfte wie im Brief an Christiane der Jahrmarkt zu Hünfeld, den 25. Juli 1814* an der Reihe sein. Goethe hätte ihn dann mit 17 beziffert und bei der Ordnung des Wiesbader Registers durch das vermutlich im Februar 1815 verfaßte Gedicht ,Blumensprache' (s. o.) ersetzt. Die Folge von Nr. 16 und 17 wird wiederum durch eine inhaltliche Beziehung bestätigt. Die Handbewegung der „Schoen Bittenden" ist ein versteckter Hinweis auf die physiognomischen Studien von Lavater (vgl. Beutler, S. 440), an den der Dichter im Jahrmarkt zu Hünfeld' zurückdenkt. Demnach hätte er die Gedichte Nr. 14-17 wie die Gedichte vom Vortag (Nr. 9 - 1 3 ) genau in der Folge ihrer Entstehung — nicht der Vollendung! — aneinandergereiht. In ,18. Gewarnt' vergleicht er die von Hafis besungenen Locken mit den Zöpfen, die damals in Mode kamen und ihm vielleicht unterwegs aufgefallen sind. ,19. Höre den Rath', das „Jul 1814" datiert ist, bildet den Übergang von den Mädchen- zu den Unmutsgedichten, hat also eine ähnliche Funktion wie das ,Buch der Betrachtungen', dem es als Motto vorangestellt ist. Diese beiden Gedichte können sowohl am 25. wie am 26. sowohl tagsüber wie am Abend entstanden sein. Unter den Gedichttexten der ur23

Vgl. den von Beutler zu Nr. 14 zitierten Brief an Frau von Stein vom 13. Sept. 1777: „Der Herzog hat midi veranlaßt heraufzuziehen; ich habe mit den Leuten unten, die ganz gute Leute sein mögen, nichts gemein, und sie nichts mit m i r . . . Liebste, diesen Abend denk ich mir Sie in Ihrer Tiefe um Ihren Graben . . . " Der Vers „An meine Liebste dacht* ich . . . " , der gewöhnlich auf Marianne bezogen wird, bildet einen wörtlichen Anklang! 24 Gestern in Erfurt haben ihn „alte Frauen . . . gegrüset" (Nr. 13, Vers 5 f.), damals hatte ihm „des Mädchens Blick" gewunken. „Trinkers Blick", „Grus des Herren" und „Sonnenschein im Herbst" weisen ebenfalls auf die Jagdtage mit dem jungen Herzog zurück. 25 Titel des Gedichts in »Gaben der Milde', Berlin 1817 = J 3.

Goethes Deutscher Divan von 1814

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sprünglichen Nr. 20 und der Nr. 21 ist jeweils „Fulda 8 Uhr" notiert. Hat Goethe auch die übrigen auf den 26. datierten Unmutsgedichte, die ursprüngliche Nr. 22, Nr. 24 und Nr. 25 an diesem Abend ausgeführt? Er hätte dann während des ersten Reisetags immerhin fünf (Nr. 9 - 1 3 ) , während des zweiten immer noch sechs (Nr. 14-19) und am Abend noch weitere fünf Gedichte geschrieben (Nr. 20 - 22 und 24 - 25). Er hat „Hafis" aber nur für den 25. im Tagebuch erwähnt und zwei Tage später Christiane berichtet, daß er am 25. „viele Gedichte an Hafis" und am 26. „Den Tag über . . . weniger Gedichte geschrieben" habe, während er für den Abend nur einen Besuch erwähnt. Da die fünf Gedichte vom 25. alle Reiseeindrücke vom Vormittag festhalten, kann er am Nachmittag zwischen Gotha und Eisenach noch viele Gedichte, z. B. die sechs Unmutsgedichte (Nr. 20 bis 25) konzipiert haben. Er hätte dann während der beiden Reisetage im „Fahrhäuschen" bis zu 17 Gedichte (Nr. 9 - 25) geschrieben oder zumindest konzipiert, den größten Teil davon am ersten Tag, und sie am Abend des zweiten Tags im „Posthaus zu Fulda" zu Ende geführt (wie ,1m Gegenwärtigen Vergangnes') oder zumindest überarbeitet und datiert 26 . Jedenfalls hat er die 17 Gedichte der beiden Reisetage bei ihrer Ordnung am 31. Juli als eine Gruppe betrachtet und sie, ohne bewußt gegen ihre Chronologie zu verstoßen, in drei Themenkreise gegliedert: Nr. 9 - 15 = Reisegedichte (vgl. das spätere ,Buch des Saengers'), Nr. 16-19 = Gedichte über das Liebchen (vgl. ,Buch der Liebe') und Nr. 20-25 = Gedichte des Un- und Übermuts (vgl. ,Buch des Unmuths'). Goethe hat das Gedicht ,Versunken' vermutlich als ältestes Divangedicht bereits in Berka Mitte Juni verfaßt oder konzipiert, da es eine persönliche Begegnung festhält 27, und hinter das andere Lockengedicht ,18. Gewarnt' als „18a" eingerückt. Nr. 19 ist dadurch automatisch einen Platz weitergerückt, Nr. 20 wurde hinter Nr. 21 auf Platz 22 und Nr. 22 auf Platz 23 gestellt. Falls »Versunken' erst nach der Ordnung der ersten 30 Gedichte, also erst im August, vollendet und beziffert wurde, könnte auf Platz 23 zunächst wieder ein Hafis-Spruch gestanden haben, etwa der Spruch des Unmuts ,Dümmer ist nichts zu ertragen', der das Thema von Nr. 21, die Gegenüberstellung der „Dummen" und „Weisen" aufgreift. 28 Am Abend des ersten Tags empfing er zwei Besuche und diktierte wenigstens vier Briefe, fand also kaum noch Zeit zu dichten, am folgenden Abend empfing er, vermutlich noch vor 8 Uhr, nur einen Besuch (vgl. Tgb. und Reisebericht). 27 Hans-J. Weitz im Jahrbuch der Kippenberg-Stiftung 1974.

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Wilhelm Solms Urspr. Anordnung 18 19 20 21 22 (23)?

Gewarnt Höre den Rath Wenn du auf Übermacht Solang man nüchtern Dümmer ist nichts

Umordnung 18 18a ( = 19) 19 (> 20) 21 20 >22 22 >23

Gewarnt Versunken Höre den Rath Übermacht Wenn du auf Solang man nüchtern

,26. Jesus auch . . . ' , eine Vorstufe des Frauengedichts, steht zwischen den Unmutsgedichten Nr. 20 - 25 und Nr. 27 ,Als wenn das . . . ' und würde vom Inhalt her eher zu den Liebchen-Gedichten Nr. 16-19 passen. Goethe hat es demnach nicht thematisch, sondern nach seiner Entstehung eingeordnet und die beiden Fragmente Nr. 26 und 27, die beide auf Hafis zurückgehen, am 27. Juli auf der Fahrt von Fulda nach Hanau verfaßt. ,28. Allleben' entstand am 29. Juli „Unterwegs [auf der Fahrt von Frankfurt nach Wiesbaden] in der Nacht" 28 . An den ersten beiden Tagen in Wiesbaden vermerkte er im Tagebuch: 30. [Früh] Gedichte an Hafis abgeschrieben . . . Abends Zelter Hafis. 31. [Früh] Divan. Geordnet. Gebadet. In Obigem fortgefahren . . . [Nachmittags] Fortsetzung des Obigen. Am Morgen des 30. Juli hat er die unterwegs verfaßten Gedichte ins Reine geschrieben, am Abend hat er seinem Freund Zelter aus dem Divan von Hafis, vielleicht auch aus seinen Gedichten an Hafis vorgelesen. Am nächsten Morgen hat er vermutlich zuerst zum Abschluß der ersten Sammlung ,29. Selige Sehnsucht', vielleicht auch als Nr. 30 ,Thut ein Schilf sich doch hervor' gedichtet, das den Rhythmus der letzten Strophe von ,Selige Sehnsucht' weiterführt und später das erste Buch des Divans abschließt, danach den ganzen Tag über die Gedichte geordnet und numeriert 29 .

28 Angabe auf der Reinschrift. Zur 4. und 3. Strophe vgl. Goethes Brief an Christiane vom 28. Juli: „Es ist eine Hitze von der ich keinen Begriff mehr hatte", und sein Tagebuch vom 29.: „Ein Gewitter türmt sich auf . . . wenig Regen." 29 Goethe hatte die tagsüber im Reisewagen notierten Gedichte abends überarbeitet und wohl teilweise auch schon ins Reine geschrieben. Da er die Reinschriften vermutlich in der Reihenfolge ihrer Entstehung in einer Mappe aufbewahrte, brauchte er sie nicht vollständig neu zu ordnen. Ob er die ersten Gedichte schon am 30. numeriert hat — die Ziffer „6" ist ebenso wie der Gedichttext von Nr. 29 in brauner Tinte geschrieben —, ist für die Entstehungsgeschichte ohne Bedeutung.

GoethesDeutscher Divan von 1814

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Ausdehnung: Goethe schrieb vier Wochen später, am 29. August an Riemer: ,Die Gedichte an Hafis sind auf 30 angewachsen und machen ein kleines Ganze, das sich wohl ausdehnen kann . . .' Das „kleine Ganze" beginnt schon zwei Tage später, am 31. August, sich auszudehnen, indem Goethe zwei weitere Hafis-Gedichte aus dem späteren ,Buch der Liebe' verfaßt und wohl auch gleich mit Tinte beziffert. ,34. Herrenrecht und Dienstpflicht' spiegelt Goethes Verhältnis zum Herzog wider, mit dem er in Wiesbaden vom 23. bis zum 26. August zusammen war. Hat er dieses Gedicht, wie Burdach vermutet, „schon am 26. August, gleich nach der Abreise, . . . einem im Tagebuch notierten Schreiben an Serenissimus beigelegt" (S. 32), so hatte er es zunächst wohl nicht für die ,Gedichte an Hafis' bestimmt und erst im Dezember bei der Bleistiftnumerierung angefügt 30. Ein ähnlicher Ausdruck von Demut und Übermut findet sich in der Betrachtung ,Lebensregel', die auch an andere ,Gedichte an Hafis' (Nr. 13, 14, 25) anklingt und deshalb von uns für Platz 33 vorgeschlagen wird 3 1 . Goethe verdankt auch die Figur des Schenken dem Divan von Hafis. Zugleich verbirgt sich hinter dem „geliebten Knaben" in den Gedichten Nr. 35 bis 38, die übereinstimmend auf „Octbr. 1814" datiert sind, der Sohn des Orientalisten Paulus32. Goethe schrieb seiner Frau aus Heidelberg am 3. Oktober: „Zu Paulus wo eine ganz muntre Zeit verbracht wurde." Demnach dürfte er die vier Schenkengedichte in diesen Tagen verfaßt haben, vielleicht auch am 9. auf der Fahrt von Heidelberg nach Darmstadt. Welche Gedichte sind bei den Nummern 39, 40 und 42 zu ergänzen? Im Wiesbader Register steht zwischen Nr. 38 und 41 nur ein Gedicht vom 23. Februar 1818 (,79. Weinverbot') und zwischen Nr. 41 und 43 gar keines. Auch die Chronologie scheint hier nicht verläßlich, da Nr. 43 auf den 19. November datiert ist und der Entwurf zu Nr. 41 zu den Anfang Dezember auf H 10 zusammengestellten ,Fragmenten' gehört. Goethe hatte am 10. 80 Es ist nicht nur „ein ganz persönliches Gelegenheitsgedicht", dessen „Bedeutung . . . mit Hafis und dem Orient nicht das mindeste zu tun" hat (Burdach S. 31 f.), sondern Goethes erster Beitrag zum „enkomiastischen Teil seines ,Divans'", der ebenfalls auf Hafis und andere persische Dichter bezogen ist (Kp. ,Buch des Unmuths'). 81 Vielleicht ist auch der Spruch ,Ist's möglich daß ich Liebchen dich kose* auf Nr. 31 und 32 gefolgt, der ebenfalls das Liebdien besingt und ein Hafis-Motiv verarbeitet. 82 Wir lesen in Boisserees Tagebuch vom 5. August 1815: „Ein anderes Gedicht (Nr. 38) bezieht sich . . . auf den kleinen Paulus in Heidelberg, mit seinen Schwänchen" (vgl. Burdach S. 32).

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Wilhelm Solms

November die Antwort von Lorsbach erhalten, daß im Namen Hafis die erste Silbe zu betonen sei, und darauf in den früheren Gedichten die bisher gebrauchte Form „Hafis" verbessert. Die erneute Beschäftigung mit Hafis hat ihn seinen Briefen zufolge zu neuen Gedichten an Hafis inspiriert 33 . Welche Hafis-Gedichte stammen aus diesem Zeitraum? Gräf nennt Unbegrenzt' und ,43. Wandrers Gemüthsruhe', das jedoch auf das ,Königliche Buch' zurückgeht. ,Unbegrenzt' dürfte am 10. November, wie Burdach annimmt (Jubiläums-Ausgabe 5, 340), oder gleich danach entstanden und mit „39" beziffert worden sein34. Als Nr. 40 könnte dann wie später im ,Westöstlichen Divan' das Gedicht ,Nachbildung' gefolgt sein, das seit Burdach auf den Eintrag im Tagebuch vom 7. Dezember: „Hafis und Nachahmung" bezogen wird. Goethe hätte dann zwei Gedichte vom 7. Dezember (Nr. 40 und 41) vorangestellt. Es ist aber nicht auszuschließen, daß er auch an dieser Stelle die chronologische Ordnung beibehielt. Vielleicht hat er die ersten beiden Strophen von ,Nachbildung' ebenfalls schon am 10. November oder kurz darauf gedichtet. ,Unbegrenzt' und ,Nachbildung' sind beide im eigentlichen Sinn Gedichte an Hafis, beide wurden sie durch den Divan von Hafis, beinahe dieselbe Stelle (Vorrede, S. 34 f. und 30) angeregt und beide spiegeln Goethes Arbeit am Versrhythmus wider (vgl. „Hafis"). Am 7. Dezember hat er die auf Hafis bezogenen Verse und Strophen auf H 10, darunter die 3. Strophe von ,Nachbildung' zusammengestellt. Er könnte dann ,In deine Reimart . . . ' und ,Zugemessne Rhythmen . . . ' Anfang 1815, vielleicht gleichzeitig mit seinem Brief an Knebel vom 11. Januar 35 , auf dem überlieferten Blatt, das keine schwarze Ziffer trägt, zu einem dreistrophigen Gedicht vereint haben. Vielleicht hat er auch ,41. Wer wird von der Welt verlangen', das auffallend mit seinem Brief an Knebel vom 9. November übereinstimmt 36 , schon damals entworfen. Auf Platz 42 dürfte ebenfalls ein Unmutsgedicht gestanden haben, das dann bei der Umordnung im Mai 1815 aus dem Divan ausgeschieden wurde, 83 Er schrieb um diese Zeit an Riemer: „Hafis hat sich auch wieder gemeldet" und am 21. November an Zelter: „Mohamed Schemsed-din hat sich auch wieder vernehmen lassen." Vgl. a. Tgb. vom 22. Nov.: „[Abends] Für mich, mit Hafis." Der Eintrag vom 27. Nov.: „Schopenhauer Divan Hafis" bezieht sich auf eine Vorlesung im Hause der Adele von Schopenhauer. 84 Das überlieferte Reinschriftblatt stammt von Ende Mai 1815 (vgl. Maier S. 127) und hat daher nur eine rote Nummer erhalten. 85 „Indessen ist es doch angenehm, in einem so breiten Element zu schwimmen und seine Kräfte darin zu üben. Ich thue dieß nach meiner Weise indem ich immer etwas nachbilde und mir so Sinn und Form jener Dichtarten aneigne . . . " 36 „In diesen Betrachtungen [über ,Duldsamkeit' bzw. über ,Ergebung', wie der Titel des Gedichts im WR lautet] bin ich dieses Mal sehr glücklich durch die Welt gekommen, indem ich von Niemand etwas weiter verlangte . . . "

Goethes »Deutscher Divan* von 1814

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nämlich ,Auf den Kauf', das der Quartausgabe zufolge am 22. November, also einen Tag vor seinem „Unmuth"sbekenntnis im Brief an Schlosser37, entstanden ist. In Goethes Briefen vom November findet sich somit sowohl das Zwiegespräch mit Hafis (Nr. 39 und 40) als auch der Verdruß über gegenwärtige Zustände (Nr. 41 bis 43) wieder. Seine Nachricht an Zelter vom 27. Dezember: „Hafis hat mich fleißig besucht . . . " ist auf die „Fragmente" auf H 10 und auf ,44. Offenbar Geheimniß* vom 10. Dezember (vgl. Tgb.: „Hafis") zu beziehen, denn der Brief wurde schon damals konzipiert (vgl. WA IV, 23, 367). In ,44. Offenbar Geheimniß' sind dann beide Themen, der Wettstreit mit Hafis und der Ausbruch des Unmuts (Nr. 39 bis 43) vereint. Goethe hat später das Gedicht ,Wink' als »Widerruf* (Titel im WR) auf dieses Gedicht verfaßt. Er hat es in roter Tinte mit „44" beziffert und ,Offenbar Geheimniß' in „43" umbeziffert. Burdach hat vermutlich deshalb auch die Nr. 43 um einen Platz vorgerückt, so daß auf Platz 42 kein Gedicht zu ergänzen wäre bzw. ,Auf den Kauf* schon damals herausgenommen wurde. Goethe hat ,Wink' aber wohl kaum zwischen dem 11. und 31. Dezember 1814 (Burdach, S. 35), sondern erst nach der Numerierung der folgenden Gedichte, also Anfang 1815 ausgeführt. Aber er hat zuvor, um den 10. Dezember, ein poetisches Schema zu diesem Gedicht skizziert 38 . ursprüng. Anordnung 41 (42) 43 44

Wer wird von der Welt Auf den Kauf Wandrers Gemüthsruhe Offenbar Geheimniß

Umordnung 41 43 (> 42) 44 >43 44

Wer wird von der Welt Wandrers Gemüthsruhe Offenbar Geheimniß Wink

(WR) (80) (81) (82) (83)

Goethe hat nach der Niederschrift von ,Offenbar Geheimniß' und vor der Reinschrift des folgenden Gedichts, ,45. Winter und Timur', also zwischen 10. und 13. Dezember 1814, vermutlich im Hinblick auf seine Vorlesung bei Knebel am 14. Dezember, die neuen Gedichte an Hafis geordnet und von Nr. 34 bis 44 mit Bleistift numeriert. 17 „ . . . weil es in einem Alter, wo man durch das, was in einem engen Kreis mislingt, gar leicht zu Unmuth und Hypochondrie verleitet wird, höchst erwünscht ist zu einer sich wechselweis auffordernden neuen Tätigkeit zu genießen . . Diese Bemerkung ist eine Vorstufe zu einer Stelle im Kp. ,Buch des Unmuths': „der Mensch . . . thut wohl, wenn er seinem Verdruß, besonders über verhinderte, gestörte Thätigkeit, auf diese Weise Luft zu machen trachtet." Unserer Datierung zufolge hat er im November 1814 seinem Ärger tatsächlich auf diese Weise, durch Dichten, Luft gemacht. 88 Dieses Schema steht auf der verdeckten Rückseite eines Zettels, der auf H 63 aufgeklebt ist. Die Notizen auf der Vorderseite stammen nicht aus der Geschichte der schönen Redekünste, wie in der Akademie-Ausgabe angegeben ist, sondern aus Hammers Einleitung zu seiner Ferdusi-Ubersetzung in den Fundgruben I I , 425, die in Goethes Tagebuch vom 15. Dezember 1814 erwähnt ist.

Wilhelm Solms

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Deutscher

Divan:

Goethe las am Nachmittag des 14. Dezember dem Altphilologen Knebel seine bisher entstandenen Gedichte vor und notierte im Tagebuch „Deutscher Divan". Diese Erweiterung des früheren Titels ,Gedichte an Hafis' oder ,Divan Hafis' hängt mit der gleichzeitigen Erweiterung der Quellen (s. o.) zusammen. Goethe schrieb zwischen dem 11. und 13. Dezember nach einer von Jones zitierten Parabel den ,Winter und Timur' (Tagebuch). Die Reinschrift ist auf den 11. Dezember, also den Tag des Beginns datiert und mit „45" beziffert. Das Blatt mit der Nummer 47 enthält zwei Gedichte, die auf ein und dieselbe Quelle, Sylvestre de Sacys Ubersetzung aus dem Pendnameh von Attar in den Fundgruben I I , 229 zurückgehen, auf zwei aufeinanderfolgende Tage, den 15. und 16. Dezember datiert sind und im Wiesbader Register zwei Nummern erhalten haben. Der im Wiesbader Register davor genannte Titel ,85. Dichtungsarten', zu dem in der Weimarer Ausgabe, der Akademie-Ausgabe und bei Weitz kein Gedicht angegeben ist, kann sich nur auf ,Lied und Gebilde' beziehen, in dem Goethe seine neuen Gedichte als Synthese der antiken und orientalischen Kunst preist. Es spricht also alles dafür, daß er es im Anschluß an seine Vorlesung bei Knebel am 14. abends oder am 15. vormittags verfaßt und der Entstehungsfolge entsprechend mit „46" beziffert hat 39 . Wiesbader Register 84. 85. 86. 87.

Winter und Timur Dichtungsarten Fünf Dinge unfruchtbar Fünf Dinge fruchtbar.

Deutscher Divan 45. Der Winter und Timur (46.) Lied und Gebilde 47. Fünf Dinge Fünf andere

(13. Dez.) (14. Dez.) (15. Dez.) (16. Dez.)

Für ,48. Das Leben ist ein Gaensespiel', das ebenfalls auf den 15. Dezember datiert ist, also im Anschluß an das erste Gedicht von Nr. 47 verfaßt wurde, wird in den Kommentaren auf das gleichnamige Gesellschaftsspiel hingewiesen. Es scheint also wie Nr. 46 durch eine Begebenheit in Jena veranlaßt worden zu sein. 39 Düntzer hat das Gedicht in seiner Divanausgabe von 1886 auf Anfang Februar 1815 datiert, in seiner Rezension der Weimarer Ausgabe von 1891 jedoch auf die Zeit nach dem Wiesbader Register angesetzt (S. 327), ebenso Gräf (Goethe über seine Dichtungen, Bd. 8, 1914, S. 40) und Weitz (S. 466). Burdach hat 1930 in seinem Vortrag über „Die Anordnung des Wiesbader Registers" zu Nr. 85 auf dieses Gedicht verwiesen (Zur Entstehungsgeschichte des W ö D, S. 101), ebenso Maier (S. 104). Das im Reinschriftcorpus befindliche Blatt ist eine Abschrift von Kräuter ohne Nummer und Datum. Goethe hat das Originalblatt vermutlich mit seinem Brief von Mitte Dezember an Zelter zur Vertonung geschickt und diesen Brief deshalb bis zum 27. Dezember zurückgehalten, damit Kräuter das Gedicht vorher abschreiben konnte.

GoethesDeutscher Divan von 1814

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,49. Sommernacht4 ist im Tagebuch am 15. Dezember erwähnt, in der Reinschrift auf den 16. Dezember, also den Tag des Abschlusses datiert. Goethe hat zunächst am 12. oder 14. Dezember im ersten Band der Fundgruben das Gedicht von Enveri gelesen und den auf H 10 als vorletztes Fragment stehenden Entwurf der ersten Strophe geschrieben. Dann hat er vermutlich einzelne Motive und Verse aus der Sünna oder der mündlichen Überlieferung Mohameds und aus dem in Band I I stehenden Pendnameh von Attar zusammengestellt und das Gedicht am Abend des 15. entworfen, am 16. in der Früh vollendet und ins Reine geschrieben und nodi am selben Nachmittag Knebel „vorgezeigt 4440 . Damals dehnte sich die Sammlung nicht nur rasch aus, sondern sie wurde auch innerlich erweitert. Am 18. Dezember ist im Tagebuch vermerkt: „Felwa [Fetwa] und Antwort . . . Abends . . . Persisches.44 Am Vormittag entstand ,Der Deutsche dankt 4 , am Abend vermutlich ,Und was im Pendnameh steht 441 . Denn beide Gedichte wurden durch dieselbe Quelle, eben das Pendnameh angeregt, beide wurden jeweils mit einem anderen Gedicht, mit ,Fetwa4 bzw. mit ,Lieblich ist . . . 4 , auf einem neuen Reinschriftblatt zusammengestellt, und beide Doppelgedichte bilden eine Brücke sowohl zwischen Sommer und Winter wie zwischen West und Ost. ,Fetwa4 heißt im Wiesbader Register ,Persisches Fetwa4, die ,Antwort 4 seit der Erstausgabe ,Der Deutsche dankt 4 . Im zweiten Doppelgedicht sind ein Eindruck von der Reise in den Westen und eine Lehre aus dem Osten Gegenstand der gleichen Betrachtung. Goethe hat gleich nach der Ankunft in Weimar am 22. Dezember auf dem Reinschriftblatt von ,27. Als wenn das auf Namen ruhte 4 die ersten beiden Strophen ergänzt und die übrigen überarbeitet und am 23. dem Gedicht ,25. Keinen Reimer wird man finden 4 ein „Fragment 44 von H 10 als dritte Strophe eingefügt und es nochmals ins Reine geschrieben (vgl. Maier 208 und 201). ,50. Dreistigkeit 4, das am selben Tag verfaßt wurde, geht ebenfalls auf die früheren Gedichte zurück, besonders auf ,46. Lied und Gebilde4 und ,24. Derb und tüchtig4, in deren Mitte es im endgültigen Divan erscheint42. Goethe hat die Gedichte des ,Deutschen Divans4 zwar nicht mehr im „Bezug auf den Divan des Hafis 44 (Titelblatt des Wiesbader Registers), wohl aber im Bezug auf seine ,Gedidite an Hafis 4 verfaßt.

40 Das Tagebuch erwähnt am 16. in der Früh: „Persisches" und am Nachmittag: „Bei Knebel: Persisches vorgezeigt". 41 Loeper und Burdach geben an, es sei zusammen mit ,Lieblich ist . . / am 26. Juli 1814 entstanden. 42 Diese drei Gedichte, Nr. 24, 46 und 50, sind im Wiesbader Register auch durch ihre Titel verbunden: 45. Dichten, 80. Dichtungsarten, 90. Dichterglück.

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Nachdem er in der Zeit vom 18. bis 23. Dezember die Verbindung zu den Gedichten vom Sommer hergestellt hatte, schrieb er am 24. Dezember den Prolog ,1. Hegire'. In ihm hat er seine Hauptquelle, den Divan von Hafis, mit den anderen orientalischen Quellen verbunden, indem er in der Rolle des Reisenden und Handelsmanns (Kp. ,Einleitung') die Schauplätze betritt, die er dort kennengelernt 43, und zugleich zwischen den unmittelbaren, vorwiegend durch Reiseeindrücke angeregten Gedichten vom Juli und den distanzierteren, aus dem Orient hergeleiteten Gedichten vom Dezember vermittelt. Er hat „den Westen und Osten, das Vergangne und Gegenwärtige, das Persische und Deutsche" nicht nur wie in den beiden Doppelgedichten nebeneinander gestellt und aufeinander bezogen, sondern „auf heitre Weise": durch die Vorstellung der Reise, „verknüpft" (Briefkonzept an Cotta vom 16. Mai 1815). Im Anschluß an den Prolog hat Goethe seiner Sammlung einen doppelten Epilog hinzugedichtet. Am 29. Dezember schrieb er laut Tagebuch die ,Siebenschläfer'. Die überlieferte Reinschrift ist unterzeichnet: „Jena/Ende Dec. 1814/-May. 1815. / Wiesb." und stammt, wie aus der falschen Ortsangabe („Jena" statt Weimar) hervorgeht, von Ende Mai 1815. Das ursprüngliche Blatt trug gewiß, wie Burdach in der Weltausgabe (S. 380) vermutet und wie Düntzer aus der Folge des Wiesbader Registers hätte schließen können, die Nummer 52. Denn das Schlußgedicht, Nr. 53, das vermutlich ebenfalls am 29., vielleicht auch erst am 30. oder 31. Dezember verfaßt wurde, setzt die orientalische Legende fort und übersetzt sie in den Zusammenhang des ,Deutschen Divans', indem es den junggebliebenen Knaben mit dem verjüngten Dichter vertauscht. Dieser führt die Reise, die in ,Hegire' vor „des Paradieses Pforte" endete, im Paradiese weiter bis ins Unendliche. Prolog und Epilog bilden als Anfang und Ende einer Reise einen festen Rahmen, der auf den späteren Stufen des Divans unverändert wiederkehrt, und schließen dadurch auch die übrigen Gedichte als einzelnen Stationen der Reise zusammen (vgl. Burdach S. 46). Die reale Reise des Dichters nach dem Westen, in seine Heimat, kehrt nun im Zusammenhang der Gedichte wieder als fiktive Reise nach dem Osten, zum Ursprungsland der Poesie. Als letztes Gedicht entstand am „Sylvester Abend/1814" Nr. ,51. Mußt nicht vor dem Tage fliehen'. Es führt das Thema von Nr. 41 fort, indem es die damalige ,Ergebung' (Titel im WR) in freudige Erwartung umkehrt. Es ist kein Neujahrsgedicht für den Herzog, wie Burdach annahm (S. 44) 44 , sondern eine Vorahnung dessen, was das neue Jahr für ihn selbst bereithält, 43 Die Strophen 1 und 6 beruhen auf Hafis, 3 und 4 auf den Moallakat, 5 auf Waring und 7 auf Ferdusi.

GoethesDeutscher Divan von 1814

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weist also über die Grenzen der Gedichtsammlung von 1814 hinaus. Da Goethe es bei der Numerierung den beiden Epiloggedichten voranstellte, dürfte er die zuletzt entstandenen Gedichte ab Nr. 45 erst jetzt, am letzten Tag des Jahres, beziffert haben. Mögliche

Umordnung:

Hat Goethe, als er ,Hegire' an den Anfang stellte, die ursprüngliche Nr. 1 aus dem Divan ausgeschlossen oder an einen anderen Platz gestellt und hat er infolge dieser Umstellung die ganze Gruppe der ersten acht Gedichte umgeordnet? Burdach ist in seinem Vortrag über das Wiesbader Register wie Düntzer davon ausgegangen, daß Goethe die dort erscheinende Reihenfolge der ersten Gedichte bereits 1814 hergestellt hat 45 . Während Goethe Ende Juli in die ,Gedichte an Hafis' sicher auch einige Sprüche aufnahm, hat er im Dezember die auf H 10 und H 55 verzeichneten Sprüche nicht beziffert. Das spricht dafür, daß er die Sprüche nicht erst im Wiesbader Register, sondern schon im Deutschen Divan beiseite ließ. Der ,Hans Adam' wäre dann von Platz 1 auf Platz 8 gerückt, also schon Ende Dezember wie später im Wiesbader Register und im West-östlichen Divan dem Gedicht ,Elemente' als ein Gleichnis für das „Mischen" derselben (Vers 22) gefolgt. „Fetwa und Antwort" hätten wie im Wiesbader Register zwei Plätze, 2 und 3, erhalten und dadurch die zweite Umnumerierung von ,Beyname' verursacht. Die auf Platz 5 und 6 stehenden Sprüche wären wie im Wiesbader Register durch ,Unbegrenzt' und ,Nachbildung' ersetzt worden. Die Gedichte, die das Lob und die Nachahmung von Hafis zum Thema haben und die den Kern des späteren ,Buch Hafis' bilden, hätten dann im Deutschen Divan noch dichter beisammen gestanden als im Wiesbader Register. Gedichte an Hafis (1) Hans Adam (2) Fetwa (3) Daß ich bezahle 3 > 4 Beyname (5) Sey das Wort (6) Gesteht's! Die Dichter 6 >7 Elemente (8) Du bist auf immer

Deutscher Divan 1 Hegire 2 Fetwa (3) Der Deutsche dankt (4) Unbegrenzt? 4 > 5 Beyname (6) Nachbildung? 7 Elemente (8) Hans Adam

(WR) (3) (9) (10) (13) (14) (15) (16) (17)

44 Der Brief des Herzogs, in dem er Goethe „für das Persicum" dankt, stammt nicht von Anfang 1815, sondern von Anfang 1816, wie Hans Wahl nachgewiesen hat (Anmerkung von Grumach zu Burdachs Vortrag S. 44). 45 „Die fünfte Gruppe und die sechste Gruppe [WR Nr. 13-17 und 18-22] standen alle schon im chronologisch geordneten Deutschen Divan von 1814. Sie sind aus ihm in derselben Reihenfolge übergegangen in den sachlich geordneten Wiesbader Divan vom Mai 1815." (Zur Entstehungsgeschichte des W ö D, S. 79.)

5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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Es ist jedoch fraglich, ob ,Unbegrenzt* und »Nachbildung* schon damals an den Anfang gestellt wurden, weil dann auch ihre bisherigen Plätze, 39 und 40, neu zu besetzen wären. Im abschließenden Verzeichnis des Deutschen Divans wurde deshalb die mögliche Umordnung der ersten Gedichte nicht berücksichtigt (s. u.). 4. S i n n u n d Z u s a m m e n h a n g des ä l t e s t e n

Divans

Welche der drei Sammlungen läßt sich nun als die Urform des ,Westöstlichen Divans* bezeichnen, und welchen Aufschluß kann sie uns über den Charakter dieser Dichtung geben? Burdach hatte zunächst die in Themengruppen geordneten Gedichte des Wiesbader Registers vom Mai 1815 als den „Kern** des Divans bezeichnet, dann aber wie Düntzer bereits die Gedichtsammlung von 1814 als „poetischen Zyklus** oder als Divan begriffen und sie in ihrem inneren Zusammenhang als fiktive Reisebeschreibung geschildert. Lentz hatte auf Grund philologischer Argumente wie der Angabe des Umfangs, der Bezeichnung „Divan** und dem Bezug auf Hafis, die sich durch die von Maier nachgewiesene Numerierung ergänzen lassen, für die ,Gedichte an Hafis* entschieden. Ordnung und

Numerierung:

Wenn wir die Gedichte nach ihrer (teilweise rekonstruierten) Numerierung zusammenstellen und jeweils das (teilweise erschlossene) Datum ihrer Konzeption danebenstellen46, so erkennen wir immer noch eine „Sammlung in chronologischer Reihenfolge** (WA 6, 338). Die von Burdach konstatierten absichtlichen „Verstöße** gegen die zeitliche Ordnung lassen sich mit Ausnahme von ,Hegire*, wenn nicht zurückweisen (vgl. Nr. 2 und 9 - 1 0 ) , so doch in Frage stellen oder entkräften (Nr. 34 und 41). Nur die Sprüche scheinen nach thematischen Gesichtspunkten eingereiht zu sein. Es läßt sich aber nicht ausschließen, daß sie in dieser Reihenfolge entstanden sind. Sollen wir deshalb erst das Wiesbader Register als die älteste Form des Divans ansehen? Bei seiner Zusammenstellung hat Goethe den Deutschen Divan von 1814 zwar durch Einschübe erweitert, die ursprüngliche Folge der Gedichte aber kaum verändert. Demnach läßt sich die chronologische Ordnung der thematischen , die im Wiesbader Register erkennbar ist, nicht entgegensetzen, sondern sie ist offensichtlich selbst thematisch. Goethe hat den aus der Chronologie erwachsenden inneren Zusammenhang der Gedichte an einigen Stellen durch Umstellungen (vgl. Nr. 5, 7, 22, 23, 43), Einschübe 46 Auf den Reinschriften sind teils der Zeitpunkt des Beginns (vgl. Nr. 45), teils der Zeitpunkt des Abschlusses (Nr. 14, 49, vermutlich auch Nr. 9 und 10) und, wenn diese weit auseinanderliegen, beide verzeichnet (Nr. 25, 27, 52).

Goethes »Deutscher Divan* von 1814

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(Nr. 18a, 44) und Fortsetzungen (Nr. 2, 16, 25, 27, 39) noch vertieft. Er hat die Chronologie auch durch die Voranstellung von ,Hegire' nicht „durchbrochen" (Burdach, s. o.), sondern in ihrer thematischen Funktion sichtbar gemacht. Das Eröffnungsgedicht stellt uns die Folge der Gedichte und Gedichtgruppen als Stationen einer Reise vor. Wenn wir vom Zeitpunkt der Bezifferung ausgehen (30. und 31. Juli, 31. August, zwischen 10. und 13. Dezember und 31. Dezember), können wir die Gedichte nicht nur in zwei (Nr. 1 - 3 0 und 31-53) sondern ebensogut in drei (1 - 30, 31 - 44, 45 - 53) oder in fünf Entstehungsgruppen (1 - 8, 9 - 3 0 , 31 -32 oder 33, 34 - 44, 45 - 53) einteilen. Da Goethe die Gedichte jeweils weiterzählte, sprechen wir besser nicht von Stufen, sondern von mehreren Abschnitten einer einzigen Stufe, welche alle in der rechten oberen Ecke bezifferten Gedichte umfaßt. Wenn wir wie Lentz Goethes Ordnung (und Numerierung) der Gedichte zu Grunde legen, so können wir gegen Lentz und mit Düntzer und Burdach nur die Gedichtsammlung von 1814, den ,Deutschen Divan', als die erste Stufe des Divans bezeichnen. Aber wir haben sie damit noch nicht als Entstehungsstufe eines Divans erklärt. Quellen und

Titel:

Die erste und wichtigste Quelle sowohl für die Gedichte wie für den Divan als Ganzes ist bekanntlich der Divan von Hafis. Goethe schrieb rückblickend in den Tag- und Jahresheften 1815: Schon im vorigen Jahre waren mir die sämtlichen Gedichte Hafis' in der v. Hammerseben Obersetzung zugekommen, und wenn ich früher den hier und da in Zeitschriften übersetzt mitgetheilten einzelnen Stücken dieses herrlichen Poeten nichts abgewinnen konnte, so wirkten sie doch jetzt zusammen desto lebhafter auf mich ein, und ich mußte mich dagegen produetiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können. Während sich die Goethe-Philologen meist auf den Nachweis beschränken, daß er „einzelnen Stücken" aus den beiden Gedichtbänden von Hafis einzelne Gedichte abgewonnen hat, macht er selbst darauf aufmerksam, daß Hafis Divan in ihm noch vor der Produktion der ersten Gedichte die Idee eines eigenen Divans geweckt habe. Er hat bis Mitte Dezember fast ausschließlich ,Gedichte an Hafis' verfaßt, in denen Gedichte von Hafis als Quelle benutzt wurden, Hafis angeredet oder genannt wird, oder die dem Ton und Thema nach seinen Gedichten verwandt sind 47 . 47 Unter den ersten 44 Gedichten befinden sich 29, die sich auf bestimmte Stellen in Hafis Divan zurückführen lassen (Nr. 1 - 2 , 4 - 8 , 10, 12-14, 18, 18 a, 19,

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Er hat sich erst nach wiederholter gründlicher Lektüre von Hafis und ohne diese abzuschließen mit andern Werken der orientalischen Literatur, von Orient-Reisenden und Orientalisten beschäftigt und Mitte Dezember in Jena gleich mehrere neue Quellen für seine Gedichte erschlossen wie Hyde, Jones (Nr. 45), Waring (Nr. 1), Herbelot und vor allem die Fundgruben des Orients (Nr. 47 - 49, 52 - 53 und die Antworten zu Nr. 2 und 16), in denen er einzelne Stücke oder Auszüge von anderen persischen Dichtern wie Ferdusi, Ferideddin Attar, Enveri, Dschami und aus der mündlichen Überlieferung von Mohamed kennenlernte. Wenn wir die Gedichtsammlung von 1814 im Bezug auf ihre Quellen betrachten, so können wir zwischen den auf Hafis und auf andere persische Dichter bezogenen Gedichten unterscheiden. Die ,Gedichte an Hafis c haben mit der Zahl „30" nicht aufgehört, sondern sind bis 10. Dezember auf 44 angewachsen4. Und zu den Gedichten, die mit dem Orient bekannt machen, lassen sich außer den Nummern 45 bis 53 fast alle der im Wiesbader Register hinzugekommenen Gedichte rechnen. Demnach sind beide Sammlungen, das „kleine Ganze" vom Sommer und seine Erweiterung nur vorläufig. Aus Goethes Benutzung der Quellen läßt sich also eine Gliederung herleiten, die sich mit der von ihm durchgeführten Numerierung überschneidet.

I. Stufe

II. Stufe

Nummern Entstehung

Quellen

1 - 30 31 - 32 33- 44 45- 53 1 - 100

21. Juni-31. Juli 26. Aug.-10. Dez.

Hafis

11. Dez.-31. Dez. 1. Jan. - 27. Mai

Pers. Dtg. Orient. Lit.

Titel Gedichte an Hafis Deutscher Divan

In Goethes Tagebuch von 1814 finden sich folgende auf den Divan bezogene Einträge: Juni 7. die Weisen und die Leut diktiert. Hafis Divan. Juli 30. Gedichte an Hafis abgeschrieben . . . Abends Zelter Hafis. 31. Divan. Geordnet... In Obigem fortgefahren . . . Fortsetzung des Obigen. Nov. 27. Schopenhauer Divan Hafis. Dez. 14. Bei Knebel. Das Gastmahl der Weisen. Deutscher Divan.

Die Bezeichnung ,Gedichte an Hafis' (Tgb. vom 30. Juli und Brief an Riemer vom 29. Aug. 1814) faßt die damals vorliegenden Stücke noch nicht 21 -26, 28-32, 34, 39-40, 44 u. ,1. Hegire'), davon 16 ( 1 - 2 , 5, 7, 12, 14, 18, 18 a, 21 -23, 28, 39-40, 44 u. ,1. Hegire') und ein weiteres (Nr. 12), in denen Hafis angeredet oder genannt ist, außerdem 5 Schenkengedichte (Nr. 15 u. 35 - 38) und 4 Betrachtungen (Nr. 27, 33, 41, 43), die dem Sinn nach den Gedichten von Hafis ähnlich sind, das sind insgesamt 39 Gedichte.

GoethesDeutscher Divan von 1814

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zu einem für sidi bestehenden Ganzen zusammen, sondern charakterisiert sie als Gedichte, die zu gleicher Zeit und aus gleichem Anlaß: der Begegnung mit Hafis, entstanden sind — wie die Sesenheimer Lieder oder die Gedichte an Frau von Stein. Hafis, ihr „Mittelpunkt" (Burdach, S. 31 und Lentz, S. 15) steht hier noch außerhalb. Der Tagebucheintrag vom 31. Juli: „Divan. Geordnet" besagt nicht, daß Goethe „Den Divan geordnet" hätte, wie er im Tagebuch vom 27. Mai 1815 vermerkt, sondern daß er die Gedichte im Hinblick auf den geplanten Divan, vielleicht auch schon als ersten Teil desselben, zusammengestellt hat 48 . Das Wort „Divan", das sich zuerst allein auf „Hafis Divan" bezieht (Tgb. vom 3. Juni), steht bei seiner zweiten Erwähnung immer noch in zeitlicher Nähe zu „Hafis" (Tgb. vom 30. Juli). Am Vorabend hat Goethe seinem Freund Zelter, dem er vier Gedichte zur Vertonung überließ, gewiß nicht nur aus dem Divan von Hafis, sondern zugleich aus seinen Gedichten an Hafis vorgelesen. Am 27. November erwähnt das Tagebuch wieder eine Vorlesung aus dem Divan von Hafis, vielleicht aber zugleich aus seinem Divan an Hafis. Die Bezeichnung „Divan" in Goethes Tagebuch gibt nicht immer zu erkennen, ob sie nur für die Gedichtsammlung von Hafis oder auch für die eigenen Gedichte gebraucht ist. Also gibt sie zu erkennen, daß die eigene Gedichtsammlung nicht für sich, sondern „in stetem Bezug auf den Divan des . . . Hafis" zu verstehen ist (Titelblatt des Wiesbader Registers). Die Bezeichnung ,Deutscher Divan', mit der für Burdach „der enggefaßte erste Titel ,Gedichte an Hafis' aufgegeben" sei (S. 38), betrifft zunächst nur die Gedichte, die Goethe am Nachmittag des 14. Dezember „bei Knebel" vorgelesen hat 49 . Goethe berichtet Knebel nur vier Wochen später, am 11. Januar 1815, aus Weimar: „Die Gedichte, denen Du Deinen Beifall schenktest, sind indessen wohl aufs Doppelte angewachsen." Wenn wir diese Angabe wörtlich nehmen, müßten wir davon ausgehen, daß Goethe damals nur etwa 30 Gedichte vorgetragen hat. Dann aber würde die Bezeichnung ,Deutscher Divan' genau die Sammlung betreffen, der sie von Burdach wie von Maier (S. 12) entgegengesetzt wird: die ,Gedichte an Hafis'. Und dann würde sie auch das Wort „Divan" im Tagebuch vom 31. Juli als Titel bestätigen. 48 Der zwischen beiden Worten stehende Punkt wurde von Burdach und von Lentz bei der Zitierung wie bei der Deutung übersehen. 40 Daß Goethe das Dialoggedicht ,Die Weisen und die Leute' am 7. Juni vor der ersten Lektüre von „Hafis Divan" dichtete und am 14. Dezember vor dem »Deutschen Divan* vorlas, weist auf ihren Zusammenhang. Es finden sich sogar wörtliche Anklänge wie die Reinworte „Osten" — „kosten" in Vers 3 und 5, die in 3. „Daß ich bezahle" und in ,1. Hegire' wiederholt werden, oder die Gegenüberstellung der „Narren" und „Weisen" in Vers 55 f., die ,22. Wenn du auf dem Guten ruhst' vorausgeht.

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Zugleich aber führt sie über jenen ersten Titel hinaus. Waren die Gedichte vom Sommer allein „an Hafis " gerichtet, so ist der ,Deutsche Divan' auf die persischen Dichter und der ,West-östliche Divan' auf die Literatur des Orients bezogen. Goethe dichtete im Sommer 1814 Hafis „Ähnliches " (s.u.), seit Mitte Dezember „Persisches " und seit Frühjahr 1815, da er „auf die orientalische Poesie und Literatur überhaupt Rücksicht" nahm, „Orientalisches"™. Der neue Titel weist ebenso wie die neuen Gedichte (Nr. 45 -53) auf das Wiesbader Register vom 30. Mai voraus, das ,Des Deutschen Divans mannigfaltige Glieder' betitelt ist. Die der Reihe nach verwendeten Titel ,Gedichte an Hafis', ,Deutscher Divan' und ,West-östlicher Divan' halten alle den Bezug auf die Vorbilder: auf Hafis, die persischen Dichter und die Literatur des Orients fest und lassen zugleich die zunehmende Selbständigkeit gegenüber den Vorbildern erkennen. Audi die letzte Stufe, der ,Westöstliche Divan', läßt sich erst dann als ein in sich zusammenhängendes Ganzes begreifen, wenn man vorher zu „Besserem Verständniss" desselben (Titel des Prosateils in der Erstausgabe) die beigefügten Erklärungen über die Geschichte und Literatur des Orients studiert hat. Konnten wir auf der Grundlage von Goethes Ordnung und Numerierung die Gedichtsammlung von 1814 als die erste Stufe des Divans herausstellen, so konnten wir an seiner Benutzung der orientalischen Quellen und an seinen Bezeichnungen für die eigene Gedichtsammlung zeigen, daß die verschiedenen Stufen und Abschnitte miteinander verschlungen sind. Um die einzelnen Gedichte und Gedichtgruppen als die erste — von den späteren unterschiedene und mit ihnen verbundene — Stufe des Divans darstellen zu können, haben wir zu erklären, wie die auf den Westen (eigene Umgebung und Zeitgeschichte) und auf den Osten (Divan von Hafis und persische Literatur) bezogenen Verse und Gedichte untereinander zusammenhängen. Der Prolog nimmt auch diese Verbindung vorweg, indem er die Reise in die Heimat und ins Ursprungsland der Poesie, die Begegnung mit Hafis und den ältesten orientalischen Dichtern, den Moallakat zusammenfaßt. Thematischer

Zusammenhang:

Indem die Gedichte chronologisch geordnet sind, hängen sie zumindest in Bezug auf den Autor zusammen. Viele Glieder der ersten Sammlung erscheinen als Erlebnisgedichte, in denen Bilder von der Reise und Begegnungen mit Personen eingefangen sind. Einige haben Goethes Verhältnis zu seinen Zeitgenossen zum Thema. In anderen stehen zeitgeschichtliche Ereignisse wie der Befreiungskrieg und der Wiener Kongreß im Hintergrund. Viele 60 Tagebucheinträge vom 16. und 18. Dezember 1814, Briefkonzept an Cotta vom 16. Mai 1815 sowie Tagebucheinträge vom 16., 17. und 24. Mai 1815.

Goethes »Deutscher Divan von 1814

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der ersten Divangedichte lassen sich deshalb — wie die ,Rhein und Main'Gedichte oder die ,Gedichte an Personen' — auch für sich verstehen. Ihre zeitliche Folge verweist auf einen bestimmten Lebensabschnitt. Indem er sie ihrer Chronologie entsprechend ordnet, hält der Dichter einen Vorgang fest, den er damals als Person erfahren hat und der für seine Existenz als Dichter entscheidend war. Wir suchen diesen Vorgang zu verdeutlichen, indem wir die chronologische Anordnung beibehalten und die einzelnen Themengruppen, die uns bei der Betrachtung ihrer Entstehung aufgefallen waren, zusammenstellen. Juni/Juli Dichterberuf 1-8 Reise 9-15 Mädchen 16 - 1 9 Unmut 20 - 27 Sinnbilder 28 - 29

Aug. + Okt.

Nov./Dez.

Liebchen Herrscher Schenke

Dichtart Unmut Lehren, Parabeln Dichterleben Reise 1+

31 - 32 33 - 34 35 - 38

39 - 40 41 - 44 45 - 49 50-51 52-53

Sämtliche Themen lassen sich auch bei Hafis finden. Während sie sich dort in der ganzen Sammlung wie in einzelnen Gedichten ständig wiederholen, zeigen sie hier einen gewissen Zusammenhang. Die in der Zwischenzeit verfaßten Gedichte haben alle Verhältnisse zu „geliebten und verehrten Personen" zum Thema (Anzeige des Divans im ,Morgenblatt c von 1816). Ihre zentrale Stellung zeigt sich innerhalb des Deutschen Divans besonders deutlich, wird aber erst aus der Poesie und Prosa des West-östlichen Divans voll verständlich 61. Die Themen der Gedichte vom Sommer kehren, wenn auch in veränderter Reihenfolge, in denen Gedichten vom Spätherbst wieder. Vor der Abfahrt betrachtet der Dichter erst den Gehalt, dann den Stoff der durch Hafis angeregten Gedichte, nach seiner Rückkehr setzt er sich mit ihrer Form auseinander. In den Gedichten, die Reiseeindrücke festhalten, sind westliche und östliche Bilder bunt gemischt, in den Rahmengedichten, die die fiktive Reise darstellen, sind sie als Bild von des „Dichters Lande" vereint (Motto des Prosateils). Zweimal bricht Goethes Unmut über ihn bedrückende Verhältnisse durch, unterwegs steigert er sich zu Übermut, daheim löst er sich in Gleichmut. Hier zeigt sich, wie ihm sein produktives Verhältnis zu Hafis „über bedenkliche Zeiten" hinweghalf (Kp. ,Von Hammer'). Und beide Male folgen diesen Explosionen betrachtende Gedichte, zuerst symbolische oder mystische Gedichte im Sinn der Gedichte 61

Die Gestalten, denen der „Dichter" im Orient begegnet, erscheinen zugleich als lebende Personen und „als eine Vermummung, wohinter ein höheres geistiges Leben sich schalkhaft-eigensinnig versteckt". (Kp. ,Buch der Liebe'.) Das gilt für den enkomiastischen Teil des Divans ebenso wie für die Beziehung zu Suleika, die als Abbild des Höchsten erscheint, und für das „echt pädagogische Verhältnis" zum jungen Knaben (Kp. ,Das Schenkenbuch').

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von Hafis, dann Lehren und Parabeln, wie sie nicht für Hafis, aber für die orientalische Dichtkunst charakteristisch sind. Die Themen vom Sommer werden in den Gedichten vom Spätherbst also nicht einfach wiederholt, sondern variiert, weitergeführt oder erwidert. Die bei der Ordnung festgehaltene Entstehungsfolge der Gedichte verdichtet sich durch die motivische Verknüpfung von Anfang und Ende und die thematischen Bezüge zwischen den einzelnen Gedichten und Gedichtgruppen zum Zyklus. Die dem Abschluß vorausgehende Rückwendung aus dem vergangenen Osten in die eigene Gegenwart und Zukunft zeigt an, daß sich dieser Zyklus noch ausdehnen kann. V e r h ä l t n i s zu H a f i s : Da die Gedichte zugleich „an Hafis" gerichtet sind, ist dieser neben der Person des Dichters der zweite Bezugspunkt, durch den sie verbunden sind. Goethe fährt in den Tag- und Jahresheften fort: Alles, was dem Stoff und dem Sinne nach bei mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, that sich hervor . . . Er spricht damit aus, daß die von ihm erfahrene Verjüngung durch seine Begegnung mit Hafis ausgelöst wurde. Goethe berichtet über diese Begegnung im Kp. ,Von Hammer': Längst war ich auf Hafis und dessen Gedichte aufmerksam, aber was mir auch Literatur, Reisebeschreibung, Zeitblatt und sonst zu Gesicht brachte, gab mir keinen Begriff, keine Anschauung von dem Werth, von dem Verdienste dieses außerordentlichen Mannes. Endlich aber, als mir, im Frühling 1813 [1814], die vollständige Übersetzung aller seiner Werke zukam, ergriff ich mit besonderer Vorliebe sein inneres Wesen und suchte mich durch eigene Production mit ihm in Verhältniß zu setzen. Diese freundliche Beschäftigung half mit über bedenkliche Zeiten hinweg . . . Er unterscheidet hier deutlich zwischen „Hafis und dessen Gedichten", zwischen seinem „Werth" als Person und seinem „Verdienst" als Dichter, seinem „inneren Wesen" und „allen seinen Werken". „Früher" konnte er den einzelnen Gedichten „nichts abgewinnen", weil sie ihm „keinen Begriff, keine Anschauung von dem Werth . . . dieses . . . Mannes" gaben. Was jetzt so lebhaft auf ihn einwirkte, war sein „inneres Wesen", welches in allen Gedichten zusammen, in seinem Divan, zur „Erscheinung" kommt. Um sich zu dieser Person „in Verhältniß zu setzen" und um vor dieser „mächtigen Erscheinung . . . bestehen [zu] können", mußte er sich „dagegen productiv verhalten" (TuJH 1815 und ,Von Hammer'). Sein Verhältnis zu Hafis ist nicht allein ein dichterisches, sondern zuvor ein persönliches. Dieses persön-

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liehe Verhältnis realisiert sich aber erst als dichterisches. Dabei durfte auch er nicht nur einzelne Gedichte an Hafis richten, sondern er mußte dem Ganzen, durch das Hafis auf ihn eingewirkt, selbst ein Ganzes, eine auf den Divan von Hafis bezogene Gedichtsammlung entgegensetzen. Er bezeichnet seinen ,Deutschen Divan' im Titelblatt des Wiesbader Registers als Versammlung / deutscher Gedichte / mit stetem Bezug / auf den / Divan / des persischen Saengers / Mahomed Schemseddin / Hafis.

Um den ,Deutschen Divan' zu erklären, kommt es also nicht darauf an, das Bild des Dichters aus biographischen Einzelheiten zusammenzusetzen oder einzelne Stellen aus dem Divan von Hafis als Quelle von einzelnen Versen oder Motiven ausfindig zu machen oder Goethes Verhältnis zu Hafis aus einzelnen Gedichten, in denen es thematisch ist, abzulesen, sondern es gilt zu zeigen, daß die „Erscheinung" dieses „herrlichen Poeten" der des „Dichters" oder „Saengers" im Deutschen Divan ähnlich ist. Da Goethe den Bezug auf Hafis in seinen Gedichten und in ihrer Anordnung festgehalten hat — die Gedichte aus dem ,Buch des Saengers' und dem ,Buch Hafis' sind fast alle, zum Teil in derselben Reihenfolge, bereits im Deutschen Divan zu finden —, genügt es, wenn wir statt Hafis Divan die im Deutschen Divan erscheinende Figur von Hafis und ihr Verhältnis zur Figur des westlichen Dichters betrachten. In den ersten noch vor der Reise entstandenen Gedichten (Nr. 1 - 8 ) sucht sich der Autor mit der Person von Hafis, die ihm bei der Lektüre seines Divans entgegengetreten war, zu identifizieren. Er nimmt sich Hafis zum Vorbild für die eigene Existenz als Dichter (vgl. ,2. Fetwa'). Er stellt sich ihm nicht gegenüber, sondern er setzt sich ihm gleich52. Durch seine Identifikation mit Hafis gewinnt er zu seiner eigenen Lebensweise ein neues Verhältnis und wird sich seiner Bestimmung als Dichter neu bewußt. Die im Reisewagen geschriebenen Lieder lassen sich, auch wenn sie wirklich Eindrücke von der Reise wiedergeben (Nr. 9 - 1 8 und 28), nicht allein als Erlebnislyrik verstehen, denn sie setzen die Identifikation mit Hafis voraus. Nachdem er in die Gestalt des Hafis geschlüpft ist, verändert sich auch seine Umgebung, denn er sieht sie mit anderen Augen. Der Anblick des Westens vermittelt zugleich eine Vorstellung vom Osten. Und mit der Erinnerung an die Jugend verbindet sich die Ahnung der Verjüngung. Indem die veränderte Umgebung seine eigene Verwandlung spiegelt, erfüllt sie ihn mit Erwartung. 52 Vgl. ,5. Beyname', Vers 18: ,Und so gleich ich dir vollkommen' und ,7. Elemente', Vers 23: „Hafis gleich . .

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Nachdem er erst über die Stellung des Dichters und dann über seine Umgebung gedichtet hat, kommt er nun (in Nr. 20 - 27) auf seine Stellung zur Umwelt zu sprechen. Diese Gedichte sind ebenfalls nicht aus sidi heraus, sondern erst als Folge des Hafis-Erlebnisses und der unterwegs erfahrenen Verwandlung zu verstehen. Befreit von der bedrückenden Gegenwart, vermag er seinen angestauten Ärger über seine Zeitgenossen und die durch sie „verhinderte, gestörte Tätigkeit" als Dichter in Verse zu fassen und ihn auf diese Weise zu bewältigen (Kp. ,Buch des Unmuths'). Er setzt sich nicht nur zur Wehr, sondern zeigt ihnen seine Überlegenheit und schreibt Gedichte des Unmuts wie des Übermuts. Nachdem er seine Gegner in ihre Schranken verwiesen, kann er in den nächsten Gedichten (Nr. 29 - 34) wieder frei bekennen, was sie ihm zu sagen verwehrt hatten. Er offenbart seinen Glauben, weil er weiß, daß ihn nur die Gleichgesinnten verstehen werden. Er verrät, daß er, weil er „der Wissende" ist, auch als Greis noch Liebe finden wird. Er rechtfertigt sein Verhältnis zum Herrscher, das man ihm, dem „Fürstenknecht", zum Vorwurf gemacht hatte. Der Prozeß der Selbsterneuerung erreicht seinen Höhepunkt in den Schenkengedichten (Nr. 35 - 38). Die Figur des „geliebten Knaben" ist zwar ebenfalls bei Hafis vorgebildet und trägt auch Züge des jungen Paulus, sie ist aber vor allem eine eigene Wiedergeburtsphantasie, ist der verjüngte Dichter. So vermag der Knabe an dem Wissen des alten Dichters teilzuhaben und nicht nur von ihm zu lernen, sondern ihn zugleich zu belehren. Nach der Rückkehr nach Weimar blickt der Autor auf das Geschehene zurück und tritt zu sich selbst in Distanz. Er beschäftigt sich erneut mit dem Divan von Hafis, aber diesmal, um sich die durch Hafis hervorgerufene Verwandlung bewußt zu machen (Nr. 39-40). Hier handelt es sich nicht mehr um Gleichsetzung, sondern um Vergleichung. Er will Hafis nicht nachahmen, sondern mit ihm „wetteifern". Hafis ist nun nicht mehr sein Vorbild, sondern sein „Zwilling". In der Zwillingsgestalt Hafis gewinnt er sich selbst als Dichter wieder und erfährt als der neue Hafis seine wirkliche Wiedergeburt. Mit Hafis vereint, fühlt er sich erneut von seiner Umwelt befreit, obwohl er diesmal äußerlich in ihr zurückbleibt, und blickt voll Gleichmut auf die gemeinsamen Gegner hinab (Nr. 39 - 44). Nachdem er über die Identifikation mit Hafis zu sich selbst zurückgefunden hat, ist er frei geworden für neue Identifikationen. I n den folgenden Gedichten (Nr. 45 - 49) blickt er nicht mehr auf Hafis, sondern durch ihn hindurch auf den Orient. Hafis ist das Medium, durch das er die eigene Sehweise gereinigt hat und sich nun eine neue Welt erschließt. Hatte er bisher vorwiegend über eigene Erlebnisse gedichtet, so beginnt er nun sich

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zu orientalisieren, macht Bekanntschaft mit anderen persischen Dichtern und versenkt sich in östliche Lehren und Gleichnisse, die er übernimmt, umoder weiterbildet oder mit eigenen Gedanken konfrontiert. Aber auch die neuen Gedichte setzen das Verhältnis zu Hafis voraus. Denn Goethes Ablösung von Hafis vollzieht sich nicht gewaltsam, sondern er bleibt ihm weiter verbunden. Indem er sich von Hafis entfernt, blickt er zugleich auf ihn zurück und bekräftigt mit jedem neuen Schritt die vorausgegangenen. Die neuen Gedichte beziehen sich nicht auf den Divan von Hafis, sondern auf die eigenen ,Gedichte an Hafis c . Indem sie diese erweitern oder erwidern (vgl. Nr. 2, 16, 25 und 27), setzen sie sie zu ihrem Verständnis voraus. Der Autor vermag so gegenüber den neuen Vorbildern seine Eigenart zu bewahren und bleibt im Orient „als Fremdling kenntlich" (Kp. Einleitung'). Durch, den Prolog und den Epilog wird das Ganze der Gedichtsammlung also nicht erst hergestellt, sondern zum Abschluß gebracht und im Bild der Reise dargestellt. Der Autor übernimmt die Rolle des Reisenden, der den zurückgelegten Weg beschreibt und seine Fortsetzung ankündigt. Er hält durch die Beibehaltung der chronologischen Anordnung die biographische Reise in den Westen fest, aber er deutet sie durch die Beantwortung von frühen Gedichten und durch den poetischen Rahmen um in eine fiktive Reise in den Osten und verwandelt damit die Realität in Poesie. Hafis steht auf dieser Reise nicht mehr außerhalb, sondern er ist nun sein Führer. Der Identifikationsprozeß mit Hafis ist mit dem Schaffensprozeß der ersten Stufe des Divans identisch: zuerst die Identifikation mit dem Beruf des Dichters und damit gleich zu Anfang die Idee eines eigenen Divans, dann die Nachahmung, die sich in der Übernahme hafisischer Themen und Motive zeigt, und die Gleichwerdung, die durch die Nachbildung der Form erreicht wird, darauf die Ablösung, da er, nachdem er die „neue Form bedacht" (Nr. 40), zu neuem Stoff zu gelangen sucht, und zuletzt der Rückblick und die Ergänzung und Abrundung der Gedichtsammlung. Damit ist aus der Sammlung der ,Gedichte an Hafis' eine »Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Divan des . . . Hafis' geworden, die sich weiter ausdehnen kann. D i e neue

Form:

Wurde durch die Rekonstruktion der fehlenden Gedichte der Charakter des überlieferten Fragments wesentlich verändert und sein Verständnis als Divan bzw. als erste Stufe des West-östlichen Divans erleichtert? Die zu Anfang eingeschalteten Sprüche (Nr. 5, 6, 8, 30) beziehen sich auf dieselben Themen oder Gegenstände wie die ,Gedichte an Hafis'. Sie bilden die „Bei-

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gänger und kleine Dienerschaft" und wurden deshalb bei der Ordnung und Zählung im Mai 1815 „nicht gerechnet" (an Christiane, 31. Mai 1815). Die aus dem Wiesbader Register ausgeschlossenen Gedichte (Nr. 3, 9, 13, 17, 33, 42) geben persönliche Eindrücke, Erfahrungen oder Erinnerungen wieder und machen dadurch den vorläufigen Charakter der ,Gedichte an Hafis' deutlich: eine Sammlung westlicher Gedichte, die ausdrücken, was „bei mir Ähnliches verwahrt" wurde (TuJH, s. o.), aber noch kein Divan. Die östlichen Gedichte, die den Schluß der Sammlung bilden, sind bis auf Nr. 52, das schon von Burdach ermittelt wurde, vollständig überliefert. Davor aber konnten wir drei Gedichte ergänzen, die alle die Form der Dichtung zum Gegenstand haben (Nr. 39, 40 und 46). Die Besonnenheit des Dichters bezieht sich eigentlich auf die Form, den Stoff gibt ihm die Welt nur allzu freigebig, der Gehalt entspringt freiwillig aus der Fülle seines Innern; bewußtlos begegnen beide einander und zuletzt weiß man nicht, wem eigentlich der Reichthum angehöre. Aber die Form, ob sie schon vorzüglich im Genie liegt, will erkannt, will bedacht sein . . . Die Ähnlichkeit zwischen Goethe und Hafis betrifft nicht so sehr die Form ihrer Gedichte als ihre Umwelt, die ihnen den poetischen Stoff liefert, und ihr inneres Wesen, aus dem der Sinn oder Gehalt hervorgeht, und vor allem ihre „Besonnenheit" als Dichter, die darauf gerichtet ist, daß Form, Stoff und Gehalt sich zueinander schicken, sich ineinander fügen, sich einander durchdringen (Kp.,Eingeschaltetes4). Die bewußte Nachbildung der Form bildet den Abschluß des direkten Bezugs auf Hafis und den eigentlichen Beginn von Goethes Orientalisierung (s. o.). Weil er sich mit Erfolg bemühte, den „ungeheuren Stoff . . . nach seiner Art" zu behandeln (an Knebel, 11. Jan. 1815), konnte es ihm gelingen, „den Westen und Osten, das Vergangne und Gegenwärtige, das Persische und Deutsche zu verknüpfen" (Briefkonzept an Cotta, 16. Mai 1815), vermochte er den „ganzen Zirkel . . . , in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt" (Kp. „Übersetzungen"), Ende Dezember vorläufig abzuschließen und gleich darauf durch die Aneignung neuer Stoffe zu erweitern. Nr. 39 ,Unbegrenzt' handelt von ,Hafis' Dichtercha[ra]cter c (Titel im WR). Es vergleicht sein Lied, das weder beginnt noch enden kann, also unendlich ist, dem „Sterngewölbe" und seine Verse, die ihm „ungezählt . . . Well auf Welle" entfließen, dem Ozean. „Dein Lied" ist kein bestimmtes Gedicht, sondern alle Gedichte, Hafis Divan. Dieser aber wurde nicht von

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Hafis selbst, sondern von seinen Nachkommen, und zwar nach der alphabetischen Folge der Anfangsreime, zusammengestellt. Er bildet ein Ganzes, indem „immerfort dasselbe" erscheint und jedes auf jedes verweist, aber keinen notwendigen Zusammenhang. In Nr. 40 ist die ,Nachbildung', nicht die Nachahmung von Hafis Gedichten das Thema. Um „in einem so breiten Element" nicht unterzugehen, sondern „zu schwimmen und seine Kräfte darin zu üben", sucht Goethe sidi „Sinn und Form" jener Dichtart anzueignen (an Knebel, 11. Jan. 1815). Er dichtet hier wie an anderen Stellen des Divans kein Ghasel, sondern er bildet die poetische Technik nach, die Hafis „vor allen" beherrschte, nämlich durch den gleichen Klang „besondern Sinn [zu] begründen" (Vers 5) und „übers Kreuz das Fernste zu verknüpfen" (Kp. ,Orientalischer Poesie Urelemente') wie „gefallen" und „Sternenhallen" (Vers 2 und 10) oder „Sterngewölbe" und „dasselbe" (Nr. 39, Vers 3 und 4). ,Zugemess'ne Rhythmen . . .' gibt es nicht in den orientalischen Gedichtformen, die nur durch die Reimart charakterisiert sind, sondern in antiken und romanischen Formen wie Hexameter, Distychon, Alexandriner, Stanze oder Sonett, die im Divan fehlen 53. Die „neue Form", die Form der Divangedichte, ist eine Mischung aus antiken und orientalischen Formelementen, ist west-östlich. In Nr. 46 ,Lied und Gebilde', das eine Woche nach der Schluß Strophe dieses Gedichts geschrieben wurde, wird das Verhältnis von Sinn und Form sinnbildlich dargestellt. Wir meinen, daß hier nicht zwei 54 , sondern drei ,Dichtungsarten' (Titel im WR) dargestellt sind und daß das „Lied" ebenso wie die „neue Form" nicht einen Gegensatz oder eine Alternative, sondern eine Synthese bildet. Der „Grieche" gestaltet nur, was zu ihm selbst gehört. Er steigert „sein Entzücken", weil er sich in seinen Gestalten spiegelt. Seinem Werk fehlt die „Fruchtbarkeit und Mannigfaltigkeit der persischen Dichter", welche nicht dem eigenen Innern, sondern der Außenwelt entspringt (Kp. ,Allgemeines'), und damit Spannung, Leben. Es ist ein ruhendes „Gebilde", also „tote Form" (Nr. 40, Schlußvers). Das lehnt der Dichter für sich ab. Da er in einem späten Zeit- und Lebensalter sich befindet, kann er auch nicht „naiv" dichten und enthusiastisch ausdrücken, was in ihm und in seiner näheren Umgebung vorgeht (Kp. ,Hebräer'), sondern er bedarf der 63 Die ,Zugemeßne(n) Rhythmen' wurden von Düntzer, Burdach, Richter u. a. auf die Nachahmung des Ghasels bezogen, von Beutler auf Formnachahmung überhaupt, und nur von Pyritz als „Absage an die klassische Versform" aufgefaßt (vgl. Trunz, S. 255). 54 In den meisten Kommentaren wurde die Uberschrift als Gegensatz aufgefaßt und das Gedicht als Absage an den „Klassizismus" (Burdach, Jubiläums-Ausgabe 5, 330, Beutler, S. 366, u. a.) gedeutet. Nach Ingeborg Hillmann gehören aber „beide Erfahrungsweisen" zusammen, da auch die Kunstauffassung des „Griechen" im Divan „immer wieder gestaltet" werde (Dichtung als Gegenstand der Dichtung. Zum Problem der Einheit des W ö D, Bonn 1965, S. 47).

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„Weltübersicht, . . . um zum Reichtum aller Stoffe zu gelangen" (Kp. Gegenwirkung 4). „Eh er singt . . . , Muß der Dichter leben" (,50. Dreistigkeit 4), sich „im flüßgen Element" bewegen, auch, wenn er Gefahr läuft, unterzugehen. Er muß „seine Kräfte darin . . . üben" (Brief an Knebel), die in ihm liegende Form entwickeln, die „Hand", mit der er schreiben wird, reinigen. Das „flüßge Element" ist die Welt des Ostens wie die orientalische Dichtung, voran die „leicht hinfließenden Lieder" von Hafis (Kp. ,Hafis 4). Wenn er so „der Seele Brand", den Drang zu leben, gelöscht haben wird, dann wird er dichten können. Dem „Lied", das „erschallen" wird, entspricht in ,50. Dreistigkeit 4, das im West-östlichen Divan direkt anschließt, der „Schall . . . Der zum Ton sich rundet". Beide sind sowohl der „Fülle runden Tons" (14. ,1m Gegenwärtigen Vergangnes4), womit Goethes Jugenddichtung bezeichnet ist, als auch dem „Ton" des Griechen vergleichbar, also weder entgegengesetzt, noch identisch. Und da in seinem Lied der östliche Stoff und der innere Gehalt, also Fremdes und Eigenes verbunden sind, wird „der Dichter" nicht ebenso (I. Hillmann, S. 47), aber ähnlich wie der Grieche „sich selbst versöhnen". Die Schlußstrophe weist in Nr. 46 wie in Nr. 50 in die Zukunft („wird"). Sie bezieht sich also nicht nur auf das eine „Lied", sondern auf alle Lieder, auf den im Entstehen begriffenen Divan, das „Wasser", das „sich ballen" wird, kehrt in späteren Gedichten wieder als Regentropfen, der in der Muschel zur Perle gereift ist. In den Perlen, die eine „Taucherschar . . . dem Golf entriß" und ein „Divan scharfer Kenner" durchbohrte und aufreihte, lassen sich die aus orientalischen Quellen hergeleiteten Gedichte vom Winter 1814/15 erkennen, in den „poetischen" oder „dichtrischen Perlen", die die „Flut der Leidenschaft" an „des Lebens . . . Strand" warf, die im Spätsommer entstandenen Suleikalieder 66. Die Perle ist ein Bild für das fertige Gedicht, die Perlenschnur für den vom Dichter selbst zusammengestellten Divan, das sich ballende Wasser für die Entstehung beider: ein Prozeß, der, indem das Ende an den Anfang zurückkehrt, zum Kreis sich rundet. I m Divan sind westliche und östliche Kunstauffassung 56, Gestalt und Leben vereint. Er ist ein „Gebilde" aus „flüßgem Element". 55 Vergleiche die Gedichte ,Nur wenig ist's ...', ,Vom Himmel sank . . .' und ,Die Perle, die der Muschel entrann' vom März und Mai 1815 und ,Die schön geschriebenen' und ,Die Flut der Leidenschaft...' vom September und Oktober 1815. 66 Zur Bekräftigung dieser Deutung läßt sich außer dem in Anm. 36 zitierten Brief an Knebel auch Boisserees Gesprächsaufzeichnung vom 3. Aug. 1815 anführen: „Freiheit der Form, abgerissen, einzeln — und doch bringt er von den Alten mehr Bildung und Bildlichkeit mit. Das ist gerade das einzige, was den Orientalen abgeht, die Bilder. — Insoweit sei er so eitel und übertrieben, zu sagen, daß er darüber stehe und das Alte und Neue verbinde." Goethes Brief an Windischmann über die indische Poesie vom 20. April 1815 läßt sich ebenfalls auf 45. ,Lied und Gebilde' beziehen, dem eine indische Legende

GoethesDeutscher Divan* von 1814

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Anfang 1815 hat Goethe seine östlichen „ Streifzüge nach allen Seiten" ausgedehnt (Brief an Schlosser, 23. Jan. 1815) und noch größeren Reichtum an Stoffen zusammengehäuft, i m Sommer hat die Begegnung m i t Marianne vielleicht noch tieferen Gehalt i n seinem Innern geweckt 57 , aber die neue Form hat er schon damals, i m Spätherbst 1814, durch die Nachbildung der Lieder v o n Hafis erkannt. Daher vermochte er schon wenige Tage später den zyklischen Rahmen zu schaffen, den er fortan, i m Wiesbader Register wie i m West-östlichen D i v a n , beibehielt.

Register

des D e u t s c h e n D i v a n s v o n

D D WR

WöD

Titel oder Anfang

3 1 (1)? 17 2 9

1.1 1.8 II. 3

Dez. 24. Hegire Erschaffen und Beleben. Juni 21. zw. 21. u. 26./Dez. 18. Fetwa. / Der Deutsche dankt. Daß ich bezahle 21. zw. 21. u. 26.? Sey das Wort die Braut 26. Beyname. Juli zw. 22. u. 24. Gesteht's! Die Dichter 22. Elemente. zw. 22. u. 24. Du bist auf immer geborgen 25. -26. Vision 25. -26. Zwiespalt. 25. Phaenomen. 25. Liebliches Sollt einmal durch Erfurt 25. Im Gegenwärtigen Vergangnes. 26. Ja, in der Schencke 26. Lieblich ist / Und was im 26. /Dez. 18. Jahrmarkt zu Hünfeld 26. Gewarnt. 26. Versunken. Juni / Aug. bis 29. Höre den Rath 25. -26. Juli Ubermacht, ihr könnt 25. -26. Wenn du auf dem Guten 25. -26. Solang man nüchtern ist 25. -26. Derb und tüchtig. 25. -26. Keinen Reimer wird man 25. -26. Jesus auch er darf da lehren 27.

(3)? (4)? 3>4> 5 (6)? 6> 7 (8)? 9 10 11 12 13 (14) (15) (16) (17) 18 18a (> 19) 19 (> 20) 21 20 >22 22 >23 24 25 26

1 14 16

II. II. 1 VI. 6 1.7 VI. 14

19 20 21

1.11 1.9 1.10

22 23 24

1.12 IX. 1 VI. 4

26 27 40 41 42 44 45 46

III. 5 III. 6 IV. 1 V. 4 V. 5 IX. 5 1.15 V. 2

Entstehung

1814 Abschluß

zugrunde liegt (Beutler, S. 366): „ . . . daß wir . . . , die wir uns der griechischen Plastik . . . hingegeben, . . . nur mit einer Art von Bangigkeit in jene grenzenlosen Räume treten..." 57 Goethe berichtet über seine Quellenstudien in den Tag- und Jahresheften 1815: « . . . und so häufte sich der Stoff, bereicherte sich der Gehalt, daß ich nur ohne Bedenken zulangen konnte, um das augenblicklich Bedurfte sogleich zu ergreifen und anzuwenden."

80

Wilhelm Solms D D WR

WöD

Titel oder Anfang

27 47 28 67 29 52 (30)? 31 68 32 69 (33)? 34 72 35 75 36 77 37 76 38 78 (39) 13 (40) 15 41 80 (42)? 43 81 44)43 82 44 83 45 84 (46) 85 47 86/87 48 88 49 89 50 90 51 91 (52) 99 53 100

V. 6 1.16 1.17 1.18 I I I . 13 I I I . 14

Als wenn das auf Namen 27. /Dez. 22. Allleben. 29. nachts Selige Sehnsucht 31. Thut ein Schilf 31.? Unvermeidlich. Aug. 31. 31. Geheimes. um 26. Lebensregel Herrenrecht und Dienstpflicht, bis 26. Okt. zw. 3. u. 9. Du mit deinen braunen zw. 3. u. 9. Welch ein Zustand! zw. 3. u. 9. Nennen dich den großen Heute hast du gut gegessen zw. 3. u. 9. Unbegrenzt Nov. 10. um 10. / Dez. 7. Nachbildung Wer wird von der Welt ab 9. /Dez. 7. 22. Auf den Kauf. Wandrers Gemüthsruhe. 19. Offenbar Geheimniß Dez. 10. um 10. /Anf. Jan. Wink Der Winter und Timur. 11.-13. Lied und Gebilde. 14. Fünf Dinge. / Fünf andre. 15. u. 16. Das Leben ist ein Gaensespiel 15. 15.-16. Sommernacht. Dreistigkeit. 23. Einladung 31. Siebenschläfer. 29. / Ende Mai Gute Nacht. 29. od. 30.

IV. 20 IX. 9 I X . 13 I X . 16 I X . 15 II. 6 II. 7 V. 10 V. 9 II. 8 II. 9 VII. 1 1.13 IV. 2/3 IV. 16 I X . 19 1.14 VIII. 1 X I I . 10 X I I . 11

Entstehung

Abschluß

A C H I M V O N ARNIMS HARMONISIERUNGSBEDÜRFNIS Zur Thematik und Technik seiner Novellen Von Hermann F. Weiss In einem am 3. September 1810 in Berlin verfaßten Brief an die Brüder Grimm wendet sich Arnim mit Nachdruck gegen Dantes ,Inferno', das ihm wie eine „Marterkammer" vorkommt und deren Verfasser er mit Robbespierre vergleicht. Mit diesem Teil der ,Divina Commedia' assoziiert er dann das ihm wohlbekannte Werk Kleists: „Kleist, der sich jetzt hier aufhält, hätte eigentlich eine ungemeine Anlage, so ein zweiter Dante zu werden, so eine Lust hat er an aller Quälerei seiner poetischen Personen . . . K 1 . Diese bei Kleist tatsächlich öfter hervorbrechende Neigung zur Darstellung von Grausamkeiten und Disharmonien mußte Arnim um so eher auffallen, als er sich selbst wiederholt einem entgegengesetzten, dem Ausgleich zuneigenden Dichtertyp zugerechnet hat. So erklärt er in der ,Gräfin Dolores' (1810): „Wir hassen alle schauderhaften Bilder, die das Gemüt trostlos verwirren; wir halten es für gefährlich sogar, den Menschen unnötig mit zerrissenem Herzen auszustellen, um die Mitmenschen zu rühren, oder ihn neugierig zu beobachten . . ." 2 . Ferner tadelt er den Schriftsteller, der „schauerliche Geschichten leichtsinnig noch schauerlicher auszubilden sucht, indem er alle dem Tode opfert, mit deren Fortleben er nichts anzufangen weiß" (I, S. 307), wobei er an Geschichten von Tieck oder Kleist oder auch an die triviale Erzählliteratur jener Jahre gedacht haben mag. Arnims Vorliebe für die harmonische Lösung von Konflikten, welche sich in solchen Erzählerreflexionen offen ausspricht, prägt Thematik und Stil seiner Werke ganz entscheidend. Ich möchte hier nun die Auswirkungen dieser grundlegenden Tendenz, welche bisher weder eingehend dargestellt noch in historische Zusammenhänge eingeordnet worden ist 3 , an Arnims 1 Achim von Arnim und die ihm nahestanden, hrsg. v. Reinhold Steig u. Hermann Grimm , Bd. I I I , Stuttgart u. Berlin 1904, S. 70. Im folgenden zit. als Steig I I I . 2 Achim von Arnim, Sämtliche Romane und Erzählungen, hrsg. v. Walther Migge , München 1962 - 65, Bd. I, S. 267. Zitate nach dieser Ausgabe werden im folgenden durch eingeklammerte Band- und Seitenzahlen gekennzeichnet.

6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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zahlreichen, größtenteils zwischen 1809 (,Wintergarten') und 1826 (,Landhausleben') erschienenen Novellen zeigen, indem ich sie mit anderen zeitgenössischen Erzählungen vergleiche, zunächst im Hinblick auf die Behandlung potentiell tragischer Motive, wie der Trennung von Liebenden und Familienangehörigen, des Inzests und Wahnsinns, der Gewalttätigkeit und des Sterbens. Es wird sich herausstellen, daß die Geschichten dieses Autors eine Sonderstellung einnehmen, und zwar sowohl wegen ihres behutsamen Gebrauchs der eben genannten Motive als auch in ihrer nachdrücklichen Verwendung christlich-harmonisierender Motive, z. B. der Reue und der Gnade. Es wird ferner zu untersuchen sein, auf welche Weise ein anderer wichtigre Aspekt der Erzählweise Arnims, nämlich sein Humor, zur harmonisierenden Beilegung von Konfliktsituationen beiträgt. Meine Beobachtungen zu thematischen und stilistischen Merkmalen Arnimscher Novellen, welche durch einen kurzen Ausblick auf seine Romane und Dramen ergänzt werden, führen schließlich zu einer Erörterung des Zusammenhangs zwischen Arnims Weltanschauung und der harmonisierenden Grundstruktur seiner Werke. Da diese Struktur auch vielen Werken des Biedermeiers zugrunde liegt, werfe ich abschließend die Frage nach biedermeierlichen Zügen in Arnims Werk auf. Das Motiv der Trennung eng miteinander verbundener Menschen gehört zu den wichtigeren Strukturformeln der deutschen Novellistik zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Dämonische Mächte entfernen z. B. Christian von seiner Frau in Tiecks ,Runenberg' und Elis von seiner Verlobten in Hoffmanns ,Bergwerke zu Falun'. Auch in Arnims Erzählungen werden menschliche Bande häufig zerrissen, aber im Gegensatz zu Tieck und Hoffmann neutralisiert er fast immer das tragische Potential dieses Motivs, indem er Szenen der Zusammenführung folgen läßt. Oftmals besiegeln Heiraten die Wiedervereinigung getrennter Liebender, etwa in ,Angelika, die Genueserin und Cosmus, der Seilspringer', wo das übereilt geschlossene Bündnis zwischen Cosmus und Marianina durch die Entführung des ersteren einer strengen Prüfung unterzogen wird 4 . Während Tieck und Hoffmann wiederholt hoffnungslos zerrüttete Ehen darstellen, z. B. in der Jesuitenkirche in G.', wo der unglückliche Maler Berthold seiner Familie entflieht, um wieder Künstler sein zu können, vereinigt Arnim meistens die entfremdeten Ehepartner, etwa Miranda und den Rittmeister in den ,Me3 Bisher hat man sie nur in einigen seiner Geschichten aufgezeigt; vgl. Benno von Wiese, Achim von Arnim, ,Der tolle Invalide', in: Die deutsche Novelle, 2. Bd., Düsseldorf 1962, S. 71 - 86, und Wolfdietrich Rasch, Achim von Arnims Erzählkunst, in: Deutschunterricht 7 (1955), S. 50 ff. 4 Weitere Beispiele: ,Die drei liebreichen Schwestern' (Golno u. Charlotte), ,Owen Tudor' (Waliserin u. Malwydd; Owen u. die Königin), ,Holländische Liebhabereien' (Jan u. Primula) usw.

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tamorphosen der Gesellschaft', die sich erst nach zwanzigjähriger Trennung lieben lernen und damit eine „verletzte heilige Pflicht" ( I I I , S. 338) erfüllen 5. Es ist durchaus kennzeichnend für Arnims Harmonisierungsbedürfnis, daß er das Glück der Wiedervereinigung gelegentlich besonders betont, indem er das Stilmittel des Tableaus einsetzt. Ein solches gestelltes Gruppenbild, das an die Aktschlüsse mancher empfindsamen Familienschauspiele des achtzehnten Jahrhunderts oder an Tableaus in Romanen der Goethezeit erinnert 6, beherrscht z. B. das Ende der allegorisierenden Erzählung J u venis'. Hier macht der von seinen Verirrungen endlich geheilte Juvenis seinen Vater und seine Pflegemutter in folgenden feierlichen, auf Joh. 19, 26 anspielenden Sätzen miteinander bekannt: „Seht meinen Vater, den Glauben; seht, Vater, dies ist meine Pflegemutter, die Liebe" (II, S. 842). In diesem Moment erscheinen Mutter und Schwester des Juvenis, Gesten ersetzen Worte, und die Erzählung schließt mit einem statisch-harmonischen Gruppenbild ab, wobei der Erzähler auch durch die bedeutsame Wiederholung der Konjunktion „und" die nunmehr erreichte Aussöhnung der Familie betont: „Und der Alte segnete die gute Pflegemutter und es trat in Demantschmuck die Mutter Wissenschaft und die Schwester Kunst ein, die beiden, welche ihn entführt hatten und reichten der Pflegemutter die Hand, und diese und die Schüler umher bildeten eine fromme Gemeine" (II, S. 842)7. Die das Tragische abwehrende Haltung Arnims äußert sich auch darin, daß Verstöße gegen die Ordnungen der Liebe und Ehe fast nie verhängnisvolle Folgen haben8. Während der blonde Eckbert seine Schwester heiratet und beide schließlich zugrunde gehen, erkennt Juvenis in den beiden Frauen, denen er verfallen ist, rechtzeitig seine Mutter und seine Schwester. Ihnen allein bleibt ein „gewaltsamer Tod" (II, S. 842) erspart. Auch in ,Angelika, die Genueserin' strukturiert Arnim die Handlung so, daß es nicht zu einem Inzest zwischen der Hauptfigur und seiner Mutter kommt. Sie erkennen sich, bevor es zu spät ist, und die Leidenschaft des verwirrten Cosmus wird 5 Vgl. auch ,Der tolle Invalide', Juvenis' (Glaube u. Wissenschaft) u. ,Mistris Lee'. Eltern und Kinder werden in vielen Arnimschen Erzählungen zusammengeführt, z. B. in der ,Einquartierung im Pfarrhause', Juvenis', ,Fürst Ganzgott und Sänger Halbgott', ,Angelika, die Genueserin' usw. 6 Vgl. August Langen, Attitüde und Tableau in der Goethezeit, in: Jahrbuch der Dt. Schillergesellschaft 12 (1968), S. 194 - 258. 7 Tableaus kommen auch in den folgenden Geschichten vor: ,Die drei liebreichen Schwestern' (II, S. 622, 633); ,Angelika, die Genueserin' (II, S. 668); eine parodistische Version in der ,Postkutsche' (II, S. 813). 8 Bezeichnenderweise werden Entführungen (»Verkleidungen des französischen Hofmeisters'; ,Mistris Lee') und Vergewaltigungen (,Angelika') bei Arnim fast immer vereitelt.

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sogleich auf Marianina, ein jüngeres Ebenbild ihrer Tante, abgeleitet. Im Gegensatz zu Brentano, der in der ,Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl' aus dem illegitimen Verhältnis zwischen Annerl und Grossinger einen Kindesmord und Annerls Tod entwickelt, löst Arnim die aus solchen Beziehungen entstehenden Probleme stets harmonisch auf, entweder durch Reue und Rettung einer verzweifelten Verführten, z. B. der Emerentia in der ,Kirchenordnung', oder durch die unauffällige Eingliederung der Mutter und ihres illegitimen Kindes in die bürgerliche Gesellschaft, wie etwa in der Einquartierung im Pfarrhause'. Es ist bezeichnend für Arnim, daß er in seinen Novellen das Thema des Wahnsinns, dessen Popularität zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts sicher mit der Aufgeschlossenheit der Romantik gegenüber dem Irrationalen, den Nachtseiten der Natur, zusammenhängt, nur relativ selten entfaltet und überdies keine seiner Figuren daran zugrunde gehen läßt. Arnims Zeitgenossen schildern zwar gelegentlich produktive Aspekte des Wahnsinns, z. B. die geistreiche und anschauliche Novellenkunst des Einsiedlers Serapion, stellen aber meistens seine destruktiven Auswirkungen dar. Man denke an Tiecks ,Blonden Eckbert', an Nathanael in Hoffmanns ,Sandmann', oder den Maler Berklinger im ,Artushof'. Im Gegensatz zu Hoffmann und anderen Autoren seiner Zeit verbindet Arnim nie das Wahnsinnsmotiv mit dem Künstlerthema, für welches er übrigens ein auffällig geringes Interesse bezeugt. Anstatt die sich bis zum Wahnsinn steigernde Zerrissenheit problematischer Künstler zu schildern, wählt er das untragische Leben des Dramatikers Jan Vos (,Holländische Liebhabereien') und Raffaels (,Raphael und seine Nachbarinnen') zum Gegenstand seiner zwei Künstlergeschichten. In den Erzählungen Arnims, in denen der Wahnsinn eine Rolle spielt, werden die Figuren entweder bloß vorübergehend von ihm bedroht, z. B. Frau von Saverne in der nach ihr benannten Geschichte, oder lediglich eine Zeitlang von ihm überwältigt und dann geheilt*, z. B. Susanna in den ,Drei liebreichen Schwestern' und Francoeur im ,Tollen Invaliden', der einzigen Novelle Arnims, in der dieses Motiv eine wirklich zentrale Bedeutung gewinnt 10 . Im Gegensatz zu Nathanael im ,Sandmann', der auch unter den Einfluß böser Mächte geraten zu sein scheint, wird Francoeur schließlich gerettet. Ähnlich wie Hoffmann bietet Arnim uns zwei verschiedene Erklärungen 9 Die Königin Johanna im ,Pfalzgraf 4 bildet hier eine Ausnahme, aber sie erscheint nicht schauderlich in ihrem Wahnsinn, eher sanft; ihre Begegnung mit dem Pfalzgrafen, der vorgibt, ihr von den Toten auferstandener Mann zu sein, endet sogar komisch, und ihr Wahnsinn erhöht sie manchmal zu einer Prophetin, deren „Flammenzüge höherer Einsicht" (III, S. 595) die Zukunft richtig deuten. 10 Siehe die eingehendere Interpretation bei v. Wiese, a.a.O., und Lawrence M. u. Ida H. Washington, The Several Aspects of Fire in Achim von Arnim's ,Der tolle Invalide4, in: German Quarterlv 37 (1964), S. 498 - 505.

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des Wahnsinns an 11 . Die Ärzte deuten nämlich Francoeurs Raserei und Heilung vom physiologisch-rationalen, Rosalie hingegen von ihrem christlich-irrationalen Standpunkt aus, dem Arnim zuzustimmen scheint, da er ihn im frommen Schlußvers nochmals hervorhebt. ,Der tolle Invalide' ist eine der wenigen Geschichten, in denen sich Arnim um die Erzeugung von Spannung bemüht, aber im Gegensatz zu Hoffmann vermeidet er dabei das Gräßliche und bereitet insgeheim schon eine harmonische Lösung vor; hierbei spielt sein Humor eine wichtige Rolle, über die noch zu sprechen sein wird. Arnims Neigung zur Harmonisierung äußert sich besonders auffallend in seiner zurückhaltenden Behandlung von Motiven der Gewalttätigkeit und des Todes, die ja die Struktur vieler Geschichten Hoffmanns, Kleists, und des jungen Tieck nachhaltig bestimmen. Entsprechend gliedert sich das Personal der Arnimschen Geschichten. Nur wenige Figuren in seinem umfangreichen Erzählwerk handeln so bösartig und grausam wie Meister Pedrillo im ,Erdbeben in Chili' oder Hubert und sein Verwalter im ,Majorat': der heuchlerische Graf und sein Komplize Rost in ,Angelika, die Genueserin', die habgierige Mörderin Vasthi in den ,Majoratsherren', und Lemelie in ,Albert und Concordia', einer Geschichte aus dem ,Winter garten'. Diese wenigen Personen, denen nie der Rang einer Hauptfigur zugestanden wird, verüben den größten Teil der Morde und Gewaltverbrechen, deren Gesamtzahl Arnim aber bewußt zu beschränken scheint. Er vermeidet es, irgendeine Person außerhalb dieser kleinen Gruppe, z. B. den tollen Invaliden, zu tief in Gewalttaten zu verwickeln, während Kleist an Michael Kohlhaas das tragische Paradox demonstriert, daß aus einem rechtschaffenen ein entsetzlicher Mensch hervorgehen kann. Ganz folgerichtig scheut Arnim auch davor zurück, Situationen der Grausamkeit und Vernichtung so ausführlich und suggestiv darzustellen wie etwa Tieck das Blutvergießen am Ende seiner Novelle ,Der Liebeszauber'. Der Revolutionspöbel in ,Melück' wird längst nicht so drastisch geschildert wie der fanatische Mob im Erdbeben in Chili', und entsprechend vermerkt Arnim den Messerstich St. Lüks, der sowohl Melück als auch, Saintree tötet, in einem lakonischen Nebensatz. Eine Ausnahme scheinen hier einige Partien im ,Wintergarten' zu bilden, z. B. die Hinrichtungsszene im ,Amtsbericht von dem Tode des Generals Grafen von Schaffgottsch' oder die Folterung der Bauern in ,Philander unter den streifenden Soldaten und Zigeunern im Dreißigjährigen Kriege'. W. Migge weist im Kommentar seiner Arnim-Ausgabe darauf hin, daß die in der Vorlage zu ,Philander' enthaltenen Greueltaten beträchtlich abge11 Möglicherweise hat ihn der zwei Jahre früher erschienene ,Sandmann' dazu angeregt; Hoff mann stellt nämlich Klaras rational-psychologischem Standpunkt den Dämonenglauben Nathanaels entgegen.

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schwächt worden sind (II, S. 873). Obwohl Arnim im Wintergarten' seine hauptsächlich aus dem siebzehnten Jahrhundert stammenden Quellen sehr frei behandelte, wollte er wohl die charakteristischen Merkmale älterer Erzählkunst, die z. B. Grausamkeiten oft naiv-realistisch schildert, nicht völlig ausmerzen. Damit hängt es nun auch zusammen, daß nur im ,Wintergarten' blutige Zweikämpfe relativ ausführlich beschrieben werden 12, wenn auch nicht so detailliert und spannend wie in Kleists ,Zweikampf'. Arnims Vorliebe für den Ausgleich von Konflikten zeigt sich auch darin, daß er die im Selbstmordmotiv angelegten tragischen Möglichkeiten sehr selten entfaltet. Während der blonde Eckbert, Nathanael im ,Sandmann' und Berthold in der Jesuiterkirche von G.' zum Selbstmord getrieben werden, strukturiert Arnim seine Erzählungen so, daß sich den Lebensmüden und Verzweifelnden fast immer ein Ausweg eröffnet; nur einige Nebenfiguren bilden in dieser Hinsicht eine Ausnahme: der Fähnrich in den ,Majoratsherren', der seine militärische Ehre verloren hatte, und Doktor Frenel in ,Melück', der nicht darüber hinwegkommt, daß er seine Freunde in den Revolutionswirren nicht zu retten vermochte. In der ,Kirchenordnung' dagegen stürzt sich Emerentia aus Kummer über ihr illegitimes Kind in einen Teich, aber diese an das Drama des Sturm und Drang erinnernde prekäre Situation wird harmonisch aufgelöst. Emerentia wird gerettet, der Tod ihres Kindes kann ihr nicht zur Last gelegt werden, und man weist ihr eine sinnvolle Lebensaufgabe in einem Jungfrauenstift zu. Arnims sogenanntes ,Selbstmord-Fragment' enthält eine eher burleske Version des Selbstmordmotivs, was uns wieder auf den noch zu besprechenden Zusammenhang zwischen Arnims Humor und seinem Harmonisierungsstreben verweist. Ein Mann, der sich am Schwengel einer Glocke aufknüpft, zieht paradoxerweise durch das daraus entstehende Läuten die Aufmerksamkeit einer anderen Person auf sich, die „diesem seltsamen Glöckner" ( I I I , S. 734), wie ihn der Erzähler ironisch nennt, gerade im letzten Moment rettet 13 . Wenn Arnim nun eine Figur sterben läßt, greift er immer auf Stilmittel zurück, welche die Traurigkeit dieser Situation abschwächen. Meistens vermeidet er die eingehende Schilderung der Leiden eines Sterbenden. In eini12 In ,Albert und Concordia' (II, S. 161, 176) u. ,Philander' (II, S. 232). In den ,Verkleidungen des französischen Hofmeisters' dagegen bricht der besonnene Chardin das Duell mit seinem Zögling ab, und in der ,Eheschmiede' kommt es nicht zu einem Duell zwischen dem schottischen Grafen und dem deutschen Philosophen, weil man ihre Pistolen bloß mit Schießpulver geladen hat und weil ein nahebei beginnender Kampf zwischen zwei Schildkröten das ganze Vorhaben lächerlich erscheinen läßt. 13 Weitere Geschichten, in denen Selbstmord in Betracht gezogen, dann aber vermieden wird: Juvenis'; ,Die Verkleidungen des franzöischen Hofmeisters'; ,Angelika, die Genueserin'; ,Martin Martir' usw.

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gen Novellen, z. B. in den ,Holländischen Liebhabereien', spielt er diesen ernsten Vorgang ins Komische hinüber, in anderen schlägt er den entgegengesetzten Weg ein und beschwört das Sterben eindringlich als relativ schmerzlosen, festlichen Übergang in ein friedliches jenseitiges Leben. Durch eine solche Spiritualisierung des Todes, welche in den Erzählungen seiner Zeitgenossen selten vorkommt, dämpft Arnim das traurige Gefühl des Verlustes, das den Leser sonst bedrückt hätte. Anregungen zu dieser christlich verklärenden Art der Todesdarstellung konnte er aus dem romantischen Drama, z. B. Tiecks ,Genoveva', schöpfen, wo die Heldin nach vielen Leiden in ihrer Todesstunde durch eine Vision der Herrlichkeit des Himmels beglückt wird. In ähnlicher Weise stilisiert er den Tod Raffaels in ,Raphael und seine Nachbarinnen' ins Erhabene. Nachdem er sich gegen Ende seines Lebens mit Hilfe Benedettas, der Vermittlerin göttlicher Gnade, von Ghita, der unverantwortlichen und sinnenfreudigen Vertreterin der Welt, losgesagt hat, durchlebt er die Passion Christi „und empfing, als es dunkelte, die trostreichen Worte des Herrn, daß er mit ihm im Paradiese sein werde" ( I I I , S. 275). Diese Verwandlung eines Sünders in einen Heiligen, dessen letztes Werk bezeichnenderweise „Die Verklärung" heißt, soll die Trauer über den vorzeitigen Tod dieses großen Künstlers mildern. Sowohl in ,Isabella von Ägypten' als auch in den ,Majoratsherren' wird der Tod idealisierend als Wiedervereinigung getrennter Liebender geschildert. Damit berühren diese Erzählungen zwar den romantischen Themenkreis der Einheit von Leben, Tod und Liebe, der dem von Arnim nicht besonders geschätzten Novalis so viel bedeutet hatte. Aber Arnim ist eigentlich nicht der Dichter des Todes und der Todessehnsucht, den W. Rehm, z. T. in Anlehnung an Heines ,Romantische Schule', in ihm gesehen hat 14 . Er bewahrt ja die meisten seiner Figuren vor dem Tode und nur gelegentlich stellt er eine erfüllte Sterbestunde dar, steigert sich aber auch dann nicht zu der stark erotisch gefärbten Todesmystik des Novalis, wie die folgenden Überlegungen zur ,Isabella' und den ,Majoratsherren' zeigen werden. Gegen Ende der ,Isabella von Ägypten' kritisiert der Erzähler die politischen Fehler Karls, schlägt aber dann einen versöhnlicheren Ton an, als er auf dessen Einsiedlerleben und die tröstliche Vision des glückselig sterbenden Kaisers zu sprechen kommt: „Er fühlte sich gerechtfertigt, als er sich nun lebend in diesen Sarg legte . . . und durch die irdisch geschlossene Decke der 14

Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Halle 1928, S. 408. Rehm, der Arnim in die Nähe von Novalis rückt, übersieht z. B., daß durch das beispielhafte Leben Saussures in der ,Beilage' zu ,Hollins Liebeleben' die Todeszugewandtheit Hollins' in Frage gestellt wird; es scheint fraglich, ob Arnims gesamtes Novellenwerk, auf das Rehm nicht eingeht, von einem „gleichbleibend dionysisch-magischen Todesempfinden" (S. 407) geprägt wird. Immerhin sollte dieser Gedanke gegenüber unserer Ansicht genauer erwogen werden.

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Kirche Isabella erblickte, wie sie ihm tröstend und liebend an den Gefilden der ewigen Gedanken begegnete, wo die Irrtümer des Menschen mit der Last seines Leibes in Staub zerfallen. Sie winkte ihm und er folgte ihr bald und sah ein helles Morgenlicht, worin Isabella ihm den Weg zum Himmel zeigte . . . " (II, S. 552). Wunderbarerweise stirbt Isabella am gleichen Tag und „die Seligkeit ihres sterbenden Angesichts" (II, S. 555) deutet an, daß für sie der Tod seinen Schrecken verloren hat. Wiederum beschreibt Arnim eine harmonische Vision, in der selbst „der Fluß, der Fluß aller Flüsse" (II, S. 555) keine schaurigen Assoziationen mehr hat. Arnim läßt auch das Sterben Esthers und des Majoratsherren in einem versöhnlichen Licht erscheinen, indem er ihr körperliches Leiden kaum betont 15 . Der Materialismus der gefühllosen Umwelt macht beide heimatlos auf dieser Erde, so daß es notwendig für sie ist, auf „jene höhere Welt" ( I I I , S. 62) zu hoffen. I n seiner letzten Vision, in der er die Seele der soeben von Vasthi ermordeten Esther auf ihrem Weg zum Himmel erspäht 16, findet der Majoratsherr die ersehnte Bestätigung seines Glaubens. Wie in ,Isabella von Ägypten* sterben die Liebenden auch hier fast zur gleichen Zeit. Nachdem der Majoratsherr den Sinn von Esthers Tod erschlossen hat, kann er seinem eigenen Ende mit Zuversicht entgegensehen: „auch ich werde meinen Himmel, die Ruhe und Unbeweglichkeit des ewigen Blaus finden, das mich aufnimmt in seiner Unendlichkeit, sein jüngstes Kind, wie seine Erstgeborenen alle in gleicher Seligkeit!" ( I I I , S. 64). Während Arnim die bisher besprochenen Motivbereiche gewissermaßen nur unter Vorbehalt verwendet, benutzt er eine andere Motivgruppe immer wieder nachdrücklich, um den versöhnlichen Abschluß seiner Geschichten sicherzustellen. Das Thema der Rettung durch und für eine jenseitige Welt liegt nämlich nicht nur den soeben diskutierten Sterbeszenen zugrunde, sondern auch den zahlreichen strukturbildenden Momenten der Reue und der Gnade. Gegen Ende der ,Kirchenordnung' z. B. löst Arnim mehrere Figuren aus ihrer Schuldverstrickung und stellt sie ausführlich in Situationen der Reue und Buße dar. Entsprechend fühlt sich der dem Teufelsreich des Wahnsinns entrissene Invalide „als ein reuiger Christ" (II, S. 753), was eine wichtige Vorbedingung für das untragische Ende dieser Geschichte ist 17 . 15 Die bisher umfassendste Deutung dieser komplexen Geschichte stammt von Heinrich Henel (Achim von Arnims ,Majoratsherren 4, in: Weltbewohner und Weimaraner. Ernst Beutler zugedadit, Zürich u. Stuttgart 1960, S. 73 - 104). 16 In ähnlicher Weise hatte Hoffmann, der im allgemeinen mehr als Arnim auf den Schrecken des Todes verweilt, schon in seiner 1817 erschienenen Erzählung vom ,Rat Krespel4 der Todesstunde Antoniens durch Krespels harmonisierende Vision die tragische Schärfe genommen. 17 Weitere Beispiele für das Motiv der Reue: ,Die drei liebreichen Schwestern* (II, S. 609 ff.); ,Der Pfalzgraf 4 (III, S. 650). Vgl. auch den Exkurs über die Buße in der ,Gräfin Dolores4 (I, S. 307 f.).

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Lediglich die bereits erwähnte kleine Gruppe von Schurken macht solche Wandlungen nicht durch. Während Hoffmanns Nathanael und Tiecks Eckbert unerlöst zugrunde gehen, verdanken viele Figuren Arnims ihre Rettung dem Eingreifen göttlicher Gnade. Philander im ,Wintergarten' schreibt sein Überleben in den Kriegswirren der Hilfe Gottes zu: „Gottes Gnade ist groß und wacht über alles!" (II, S. 239) — ein harmonischer Abschluß, der sich Migges Kommentar zufolge (II, S. 873) nicht in Arnims Vorlage findet. Cosmus in ,Angelika, die Genueserin' nimmt freudig entgegen, „was ihm ein ewiges Geschick bestimmt hatte" (II, S. 681), und seine Mutter dankt „der Vorsehung . . . welche die Verirrungen ihrer Jugend alle zu ihrem Besten gelenkt" (II, S. 683) 18 . Mit der auffälligen Betonung des Motivs der Gnade in Arnims Werken hängt es zusammen, daß er in einigen seiner bekanntesten Novellen Figuren gestaltet, hauptsächlich übrigens Frauen, deren wichtigste Funktion darin besteht, daß sie ihren Mitmenschen die Gnade Gottes vermitteln. Sowohl Benedetta in ,Raphael' als auch Rosalie im ,Tollen Invaliden' werden nicht schuldig und sind daher besonders geeignet, anderen mit Hilfe Gottes beizustehen, den sie bezeichnenderweise häufig anrufen. So kann Raffael beruhigt sterben, nachdem die ätherische Benedetta — „das Brot der Gnade" ( I I I , S. 272) — sich des sündigen Künstlers angenommen hat. Die tiefgläubige Rosalie ist sogar dazu bereit, ihr Leben aufzuopfern, um ihren tobenden Mann zu heilen und die Stadt Marseille vor ihm zu schützen. Selbst in tödlicher Gefahr bewahrt sie „die Ruhe eines gottergebenen Gemütes" (II, S. 751), betet inständig und rettet nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre in Prag lebende Mutter. Die Erlöserrolle Isabellas, der „ein ganz umfassender Glaube" (II, S. 531) auch in vielen Widrigkeiten Zuversicht verleiht, ist noch bedeutender, denn durch ihre Vermittlung erlangt das seit Jahrhunderten büßend umherziehende Zigeunervolk endlich die Verzeihung der Muttergottes 19. Trotz ihres Liebesverhältnisses zu Karl bewahrt sie ihre Unschuld, wie der Erzähler hervorhebt (II, S. 555); es gehört nämlich zu ihrem Erlösungsauftrag, von Karl ein Kind zu bekommen 20 . 18 Siehe auch die Momente der Gnade in folgenden Geschichten: ,Die drei liebreichen Schwestern1 (II, S. 620, 624); Juvenis' (II, S. 842); ,Die Kirchenordnung4 ( I I I , S. 167); ,Der Pfalzgraf' ( I I I , S. 650) usw. 19 Es handelt sich bei der ,Isabella von Ägypten4 (1812) um eine Erlösungsgeschichte, in der eine interpolierte Mythe ihre Erfüllung findet. Hoffmanns ab 1814 erscheinende Märchen basieren auf einer ähnlichen Strukturformel, nur verfeinert er dieses Schema, indem er im Gegensatz zu Arnim die Mythe nicht gleich zu Beginn der Geschichte erzählt. 20 Neben diesen Figuren könnte man noch Lenchen in den ,Drei liebreichen Schwestern' und Achats in der ,Kirchenordnung', ferner Klelie in der »Gräfin Dolores' anführen.

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Selbst in Arnims wenigen tragisch endenden Erzählungen, welche ausnahmslos seinem Frühwerk zuzuredinen sind, lassen sich noch Spuren seines Harmoniestrebens finden. Anders als Tieck im ,Blonden Eckbert' oder im ,Liebeszauber' beendet er diese Geschichten nicht mit Szenen der Vernichtung, sondern weist z. B. kurz auf Figuren hin, die vom Untergang verschont bleiben und denen die Tröstungen des christlichen Glaubens einen Halt geben. In ,Melüdt' entkommen die Gräfin und ihre Kinder dem Revolutionsgemetzel, und „durch Gottes Barmherzigkeit" (II, S. 584) werden die letzteren dann noch von einer schweren Krankheit geheilt. Ähnlich wie die Gräfin erfahren die Überlebenden in ,Seltsames Begegnen und Wiedersehen', Julie und die Mutter ihres zugrunde gegangenen Verlobten, die „Nichtigkeit" (II, S. 584) einer durch die Französische Revolution erschütterten Welt. Sie wollen ihr Leben in einem spanischen Kloster beschließen, bringen ein von dort geraubtes Altarbild zurück und lassen die Kirche wieder aufbauen. Ferner benutzt Arnim im ,Wintergarten' sowie in seiner 1812 erschienenen Novellensammlung die Rahmenkonstruktion, um den traurigen Ausgang einiger Geschichten zu dämpfen. So erfinden die Zuhörer eine lustige Fortsetzung zu ,Eurial und Lukrezia', und der düsteren Geschichte über Melück folgen zwei versöhnliche Erzählungen, „dieses letzte heitere Zwillingspaar" (II, S. 586), wie sie der Erzähler der Novellensammlung von 1812 nennt. Arnims Harmonisierungsbedürfnis bestimmt nun nicht nur die Auswahl und Behandlung der Motive und damit die Struktur seiner Novellen. Wichtige Funktionen des Komischen in seinen Geschichten lassen sich ebenfalls aus dieser Grundhaltung ableiten. Ich möchte nun an einigen Beispielen zeigen, wie der vom Harmlos-Scherzhaften bis zum Grotesken reichende Humor dieses Autors immer wieder zur Abschwächung trauriger oder auch unheimlicher Situationen und zur Vermeidung potentiell tragischer Entwicklungen beiträgt. Schon zu Anfang des ,Tollen Invaliden', wo das in dieser Erzählung zentrale Thema des Realitätsverlusts sogleich berührt wird, verflicht Arnim Ernstes und Heiteres aufs innigste. Der von Feuerwerken träumende Kommandant bemerkt eben noch zur rechten Zeit, daß sein Holzbein am Kamin Feuer gefangen hat — eine kritische Situation, die aber sofort durch eine hektische Löscharbeit bereinigt wird, worauf alle Beteiligten in Gelächter ausbrechen. Dieser humorvoll getönte Erzähleinsatz, der ein schönes Beispiel für die von einem zeitgenössischen Rezensenten gerühmte „graziöse Naivetät" 2 1 des ,Tollen Invaliden' darstellt, bildet ein Gegengewicht zu dem nun folgenden ernst gestimmten Rückblick der Frau des labilen Invaliden. Aber selbst diesen Bericht lockert Arnim 21

Blätter für literarische Unterhaltung 1835, Bd. 2, S. 192.

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hier und da durch komische Elemente auf; z.B. reagiert der Kommandant auf die schuldbewußte Eröffnung Rosaliens, daß ihre Liebe den Teufel in Francoeur gebracht hat, bloß mit einem rauhbeinigen Kompliment, das auf ihre eigentlichen Sorgen gar nicht eingeht: „wenn doch so ein Teufel in alle unsre kommandierenden Generale führe, so hätten wir kein zweites Roßbach zu fürchten, ist Ihre Liebe solche Teufelsfabrik, so wünschte ich: Sie liebten unsre ganze Armee" (II, S. 737). In ähnlicher Weise läßt Arnim immer wieder zentrale Motive dieser Geschichte, etwa das Teufels- und das Feurmotiv, zwischen dem Komischen und dem Tragischen oszillieren 22. Während die nächtliche Kanonade des tollen Invaliden die Bevölkerung von Marseille in Panikstimmung versetzt, begeistert sich der noch immer von seinem Steckenpferd besessene Kommandant für ihre ästhetische Kühnheit. Entsprechend spielt Arnim das Motiv der Teufelsaustreibung gelegentlich ins Komische hinüber, um das Schreckliche nicht zu sehr in den Vordergrund treten zu lassen. Basset z. B. läßt sich lediglich von einer naiven Neugier an der Technik der Dämonenaustreibung leiten: „er hatte eine rechte Freude am Quacksalbern und freute sich einmal wieder: einen Teufel austreiben zu sehen" (II, S. 741). Ferner kontrastiert Arnim die erfolgreiche Rettungsaktion der gläubigen und tapferen Rosalie und den humorvoll gezeichneten Mißerfolg des ängstlichen Vater Philipp, der sich bloß auf die hergebrachten Exorzismusformeln verlassen kann: „sein Glaube, Teufel austreiben zu können, hatte sich in ihm ganz verloren, er gestand, was er bisher ausgetrieben hätte, möchte wohl der rechte Teufel nicht gewesen sein, sondern ein geringerer Spuk" (II, S. 751). Solche humoristischen Stellen lassen den Leser schon einen glücklichen Ausgang der Erzählung ahnen. In einigen Novellen geht die Arnimsche Komik ins Groteske über, welches ihre Versöhnungsstruktur allerdings nicht aufsprengt. Einige Beispiele mögen nun veranschaulichen, wie Arnim gelegentlich ein mit Grauen vermischtes Lachen im Leser erzeugt 23, wobei er jedoch das Grauen nicht vorherrschen läßt und die Deformationen der dargestellten Welt wieder aufhebt. Die aus Avignon stammende Frau von Saverne in der zu Unrecht vernachlässigten Geschichte gleichen Namens wird in ein Pariser Irrenhaus gesteckt, ohne zunächst den Grund dafür zu erkennen. Ihre Verzweiflung steigert sich zu Selbstmordgedanken, da ihre durchaus berechtigten Klagen und Erklärungsversuche vom Irrenarzt kurzerhand als Symptome ihres angeblichen Wahnsinns diagnostiziert werden. Die Darstellung dieser fast 22 Die Leitmotive in einigen anderen Geschichten Arnims übernehmen ähnliche Funktionen; vgl. dazu den Aufsatz des Verfassers , The Leitmotif in Achim von Arnim's Stories, in: German Quarterly 42 (1969), S. 343 - 351. 23 Zum Begriff des Grotesken vgl. die anregende Untersuchung von Carl Pietzcker , Das Groteske, in: DVjs 45 (1971), S. 197 - 211.

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kafkaesken Orientierungslosigkeit wird aber bereits durch einige groteske Einfälle Arnims abgemildert, etwa durch die Dummheit der Assistenten und die dogmatische Selbstgefälligkeit des Arztes, der seine Patienten immer wieder einfach in sein Drehrad steckt: „Sie konnte ihm nicht zürnen; er wäre vielleicht ein tüchtiger Vieharzt gewesen, das böse Geschick hatte ihn über Menschen gesetzt." (II, S. 706). Mit dem scheinbar erfolgreichen Heiratsantrag des Hauptschurken, „dessen hähernes Gesicht mit ungeheurem Munde ihn einem Nußknacker ähnlich machte" (II, S. 702), erreicht die Geschichte einen grotesken Wendepunkt, der zur Gegenintrige der Frau von Saverne überleitet. Dieser häßliche Materialist gibt nämlich vor, Avignon und Petrarkas Höhle zögen ihn mächtig an; er „schrie in Wonne auf: der Süden sei seine Sehnsucht, und Petrark sein Liebling" (II, S. 706). Bei der nun folgenden Vertauschung der Rollen — die ahnungslosen Preller geraten in die Falle der Frau von Saverne — tritt der groteske Humor zurück. Die Täuschung und Bestrafung des Nußknackers und des Arztes führt zu harmloser Situationskomik, welche den Lesern ein glückliches Ende der Geschichte verheißt und gleichzeitig das Aufkommen von Sentimentalität verhindert. Wohl in keiner anderen Geschichte Arnims treten das Groteske und andere Formen des Komischen so in den Vordergrund wie in ,Isabella von Ägypten' 24 . Furcht und Lachen, Dämonisches und Alltägliches verknüpfen sich in dieser phantasievollen Dichtung aufs engste. Arnim hebt die potentiell zerstörerische Macht des Dämonischen und Übernatürlichen, welche in ,Isabella von Ägypten' mehr betont wird als in seinen anderen Novellen, nun keineswegs auf; er schwächt sie vielmehr ab, wobei die teilweise Annäherung des Wunderbaren ans Menschliche und Normale und die aus diesem Spannungsverhältnis entstehenden grotesken Effekte eine wichtige Rolle spielen. Im Gegensatz zu Tiecks ,Runenberg' wird schon das Ausziehen der Alraunenwurzel zu Beginn der ,Isabella' zum Teil komisch beleuchtet, etwa durch launische Erzählerbemerkungen — „Wer kennt jetzt nicht die Bedingungen einen Alraun zu gewinnen und wer möchte sich ihnen noch unterziehen ...?" (II, S. 464) — oder durch die Unartigkeiten des Hundes Simson, der seinen Tod zu ahnen scheint und sich deshalb „in seinem Lager gegen seine Art unreinlich" (II, S. 464) aufführt und kurz vor seinem grausigen Ende noch „sehr behaglich" einige Früchte verzehrt, welche sich ein paar Stachelschweine „angewälzt und angestachelt hatten" (II, S. 467). 24 Vgl. die eingehende Interpretation von Peter H. Neumann (Legende, Sage und Geschichte in Achim von Arnims ,Isabella von Ägypten', in: Jahrbuch der Dt. Schillergesellschaft 12 (1968), S. 296-317), welche die Einheit dieser Geschichte zu erweisen sucht, ohne das Groteske ausführlicher zu diskutieren.

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Der Alraun Cornelius ist die wichtigste Quelle des Komischen in dieser Erzählung. Ohne die bizarre Bildungsgeschichte dieser Kreatur und die immer neu variierte groteske Diskrepanz zwischen der dämonischen Natur des Alrauns, seiner zwerghaften Erscheinung und seinem Anspruch auf eine sozial gehobene Menschenexistenz würden seine unheilvollen Einwirkungen auf die Liebe zwischen Isabella und Karl und auf Karls Regierungszeit krasser hervortreten, was der Geschichte sicher einen viel traurigeren Anstrich geben würde. Seine dämonische Selbstsucht und Arroganz und sein Materialismus gefährden zwar andere Personen, lassen ihn aber zugleich lächerlich erscheinen. Auf Isabellas Frage, ob er ein Geist oder ein Mensch sei, antwortet dieses unheimliche Wesen in Fichtescher Terminologie: „ich bin ich und ihr seid nicht ich" (II, S. 483). Später sieht er sich aus beruflichen Gründen allerdings doch dazu genötigt, sich bescheinigen zu lassen, daß er ein Mensch sei, wobei er über die ironischen Vorbehalte des Zeugnisses ehrlich erstaunt ist. Auch den Beziehungen des Alrauns zu Isabella und Golem Bella, welche einen komischen Kontrast zu den ernsteren Verwicklungen in Karls Liebesleben bilden, liegt die groteske Spannung zwischen dem Unheimlichen und dem Normalen zugrunde. Da diesem Kobold die Gefühle des Eifersüchtigen oder des verlassenen Ehemannes fehlen, drückt sich seine „gekränkte Eitelkeit" jeweils „nach den Vorschriften seines rhetorischen Lehrers" (II, S. 510) zu diesen Themen aus, also in pathetischem Redeschwall. Schließlich ist er doch froh, durch die Heirat linker Hand des näheren Umgangs mit Frauen enthoben zu werden: „Habe ich mein eignes Schlafzimmer, so werde ich ruhig liegen; ich weiß so nicht, wozu das Schlafen soll" (II, S. 545). Neben dem Alraun bereichert auch der gewissermaßen seiner Geschichte entstiegene Bärenhäuter diese Erzählung um manche groteske Situation. Man denke an seine unheimlichen und zugleich komischen Hinweise auf die Grabeswelt — „ich habe den Totenwürmern allerlei Kleinigkeiten versetzt, die ich wieder einlösen möchte" (II, S. 482) — oder an den „Streit zwischen dem lebenden und verstorbenen Körper in ihm" (II, S. 495), der ohne seinen gewaltigen Appetit nicht entstanden wäre und der sogar dazu führt, daß sich die Aussagen seiner beiden Leibesteile vor Gericht gegenseitig völlig aufheben. Auch die mit ihm verbundenen grotesken Momente dienen wiederholt zur humoristischen Auflockerung trauriger Entwicklungen in der Isabella-Karl-Handlung. In ihrem Jammer über den Betrug der Golem Bella hängt sich Isabella weinend an den Bärenhäuter, der jedoch als besessener Materialist in ein Nachrechnen seiner finanziellen Situation verfällt: „so ließ er die Tränen an sich vorübergehen, wie eine Mühle den schönsten Wasserfall, sie ist zufrieden, daß nur ihr Rad dabei gehen kann" (II, S. 529). Ähnlich wie im ,Tollen Invaliden' und in Raphael' treten die

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komischen Elemente gegen Ende der ,Isabella', nämlich nach dem Verschwinden des Bärenhäuters und der Verwandlung des Alrauns, völlig zurück. Die religiösen Assoziationen verdichten sich, und eine Aufhöhung der Stimmung ins Erhabene bahnt sidi an, welcher die Beibehaltung einer komischen Erzählhaltung natürlich zuwidergelaufen wäre. Von diesem Punkt an bedient sich Arnim ausschließlich der früher beschriebenen Motivkomplexe, also der Reue, der Buße und der Spiritualisierung des Todes, um das Tragische abzuwenden. Anders als in den ,Nachtwachen des Bonaventura', wo die Wirklichkeitsverzerrung auf tiefe Disharmonien in der Weltanschauung des Autors verweist, geben die vergleichsweise harmlosen Formen des Grotesken bei Arnim nie der Verzweiflung am Sinn der Existenz Ausdruck, sondern sie stellen eine Befreiung von inneren Spannungen, eine Methode der Bewältigung seiner gelegentlichen, auch in seinen Briefen bezeugten weltschmerzlichen Anwandlungen dar 25 . Er bannt in seinen Novellen das Unheimliche, indem er es ins Groteske transformiert, welches somit in die Versöhnungsstruktur seiner Geschichten eingebettet ist 26 . Arnim verbannt das Abgründige und Unheimliche also keineswegs aus seinen Werken, er grenzt es vielmehr ein und hebt die Verfremdung der Welt gewöhnlich wieder auf. Wichtige Aspekte der das Tragische meidenden Novellenkunst dieses Autors, etwa seine harmonisierenden Todesdarstellungen, seine Betonung der Reue und Gnade, auch sein Interesse an christlich aufgefaßten Erlöserfiguren und an der Eingrenzung des Dämonischen lassen sich auf seinen festgegründeten Christenglauben zurückführen. Er vermochte sich ein areligiöses Leben und Dichten nicht vorzustellen: „zur Dichtung wie zum Leben gehört ein guter Glaube, ohne diesen ist es freilich ein jämmerlich Ding mit allem menschlichen Leben" 27 . Während bei Tieck und Hoffmann öfter ein tragischer Pessimismus hervorbricht 28, spricht sich in den Erzählungen Arnims ein tiefes Vertrauen auf eine letztlich sinnvoll geordnete Welt aus, dem er durch 25 Vgl. z. B. den Brief vom 10. 3. 1821 an die Brüder Grimm, in dem er darlegt, daß er seinen „Glauben zur Zukunft" manchmal verliere, dann aber wieder zu seiner Hoffnungsfreudigkeit zurückfinde (Steig I I I , S. 487). 28 Hertel (a.a.O., S. 100 f.) macht gegen die in W. Kaysers Buch über das Groteske enthaltene Interpretation der ,Majoratsherren 1 wohl zu Recht geltend, daß Kayser den Begriff des Grotesken zu eng an die moderne Erfahrung der Bodenlosigkeit und der nihilistischen Verzweiflung bindet und so früheren Autoren wie Arnim nicht gerecht wird. Vgl. auch Rasch (a.a.O.), der zeigt, wie Arnim in der ,Einquartierung im Pfarrhause' das Groteske dem Sinngefüge der Erzählung einordnet. 27 Ludwig A. v. Arnim, Unbekannte Aufsätze und Gedichte, hrsg. v. Ludwig Geiger (Berliner Neudrucke, 3. Serie, 1. Bd.), Berlin 1892, S. 92. 28 Auf diesen wichtigen Zug in Hoffmanns Werk hat neulich Horst Daemmrich nochmals hingewiesen (Hoffmann's Tragic Heroes, in: Germanic Review 45 (1970), S. 94 - 104).

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gelegentliche Erzählerbemerkungen zusätzlichen Nachdruck verleiht: „Aber so gut oder so schlecht, als es der Mensch in seinem Jammer und in seiner Freude sich denkt, kommt es nie in der Welt, und wenn die Not am größten, ist der Retter am nächsten" ( I I I , S. 407). Der hier zugrunde liegende Glaube Arnims an eine gütige Vorsehung bestimmt auch seine Geschichtsanschauung, welche einen wenn auch nicht ohne weiteres einsehbaren göttlichen Plan hinter den historischen Erscheinungen annimmt: „Die Geschicke der Erde, Gott wird sie lenken zu einem ewigen Ziele" (I, S. 519). Aus dieser religiös fundierten, optimistischen Sicht erscheint die Macht des Bösen relativ beschränkt: „Die Welt ist aber in ewiger Fortschreitung und das Laster endigt früher und geht unter, während die dauernde Tugend mit allen Hindernissen ihrer Entwicklung kämpft." (I, S. 314). Die von solcher Zuversicht inspirierte Lehrhaftigkeit Arnims durchdringt fast alle seine Erzählungen. Sie veranschaulichen meistens, daß den Guten die Erde doch noch gehört. Das Böse zwingt seine Figuren gewöhnlich dazu, sich zu bewähren und zu läutern. Fast alle seine Novellen sind somit zweiteilig strukturiert: zunächst beunruhigt Arnim den Leser durch die Darstellung einer Zeit der Prüfung und Entzweiung, die allerdings schon Elemente der Versöhnung in sich birgt, und dann erbaut er ihn durch ein harmonisches Ende. Wir wollen uns nun kurz einigen Romanen und Dramen Arnims zuwenden, um nachzuprüfen, ob er auch hier tragische Katastrophen vermeidet oder zumindest abschwächt. In seinem ersten Roman, ,Hollins Liebeleben', stellt Arnim, ähnlich wie Tieck im ,Lovell', die verfehlte Existenz der Hauptfigur dar. Hollins begeht Selbstmord, und die von ihm verführte Maria stirbt im Kindbett. Aber im Gegensatz zu Tieck, der seinen Roman mit dem Duelltod Lovells und dem Lebensüberdruß Wilmots endigen läßt, versucht Arnim durch die angefügte »Beilage' ein Gegengewicht zum Untergang von Hollins zu schaffen 29. Der Wissenschaftler Saussure gestaltet nämlich trotz widriger Umstände aus seinem Leben „ein harmonisches Ganzes" (II, S. 84) und begründet als Gatte und Forscher und im Dienst an der Gemeinschaft eine erfüllte Existenz. Schon der Titel von Arnims zweiten Roman, ,Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores', deutet auf ein harmonisierendes Ende hin. Nach einer Periode scheinbarer Ruhe führt der Ehebruch der Gräfin eine tiefe Entfremdung zwischen ihr und Karl herbei. Wie ernst hier im Gegensatz zur ,Lucinde' traditionelle Ansichten von der Ehe genommen werden, zeigt sich u. a. darin, daß dieser Bruch trotz der jahrelangen Buße der Dolo29 Vgl. Heinz Härtl , Ludwig Achim von Arnims kleiner Roman ,Hollins Liebeleben4. Zur Problematik seines poetischen Erstlings um 1800, in: W Z U H 18 (1969), S. 171-181.

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res erst endgültig geheilt wird, als sie im Sterben liegt. Ähnlich wie das Sterben Isabellas wird ihr Tod nachdrücklich als erhebendes und tröstliches Erlebnis dargestellt. Dagegen wendet sich der Erzähler bald vom Sterbebett der reuelos vergehenden Fürstin ab: „Ihre letzten jammernden Ausrufungen wollen wir nicht aufzeichnen; sie gehörten ihr wohl nicht mehr, sie sind der bloße Schrei der allgemeinen menschlichen Natur, die sich von dem gewohnten Lebenskreise mit Mühe trennt" (I, S. 508). Der Roman kommt zu einem versöhnlichen Ende, zumal es Karl gelingt, ein sinnvolles Leben im Dienst des von Napoleon bedrängten Vaterlandes aufzubauen. Wie Ernst Ludwig Offermanns gezeigt hat, handelt es sich bei den grotesken Partien dieses Romans, welche fest in sein kompliziertes Bezugssystem eingegliedert sind, nicht um willkürliche Phantasieprodukte, sondern um einen Versuch Arnims, „das im Grotesken ansichtig gewordene Böse, Dämonische, Heillose und Zerstörerische zu bannen und zu beschwören" 30. In einer Brief stelle vom 2. November 1810, die sich auch auf viele andere Werke Arnims übertragen ließe, weist er W. Grimm ausdrücklich auf die christlich-didaktische Grundlage dieser Bußgeschichte hin, die ja auch im Untertitel als „lehrreiche Unterhaltung" gekennzeichnet wird: „das ist der Zweck und Inhalt meines Buches, daß kein Mensch auf Erden verloren, der den Willen in sich zum Guten gewinnen kann, denn jeder, auch der verzerrteste, trägt noch eine Spur vom Ebenbilde Gottes, der im Zufälligen ihm lehrt, auf ihn wirkt und nimmer verloren giebt, jeder Sünder trägt in sich ein verlornes Paradies . . ." 3 1 . Die Vermeidung des Tragischen bestimmt auch die Struktur der meisten Dramen Arnims 32 . In ,Halle und Jerusalem' vollendet Cardenios Tod seine von der Vorsehung gelenkte Errettung. Vivigenius in den ,Appelmännern' wird nach seiner Enthauptung wieder zum Leben erweckt, worauf er sich mit seinem Vater aussöhnt. Diese Abweichung von seiner tragisch endenden Quelle rechtfertigt Arnim mit den folgenden bezeichnenden Worten: „ich wünschte manchen scheinbaren Widerspruch in dem Gemüthe der Menschen zu einer wohlthuenden, befriedigenden Einheit zu bringen" 33 . Solche Harmonisierungstendenzen kennzeichnen allerdings, wenn man von der Schicksalstragödie absieht, ganz allgemein das ernste, von 30 Der universale romantische Gegenwartsroman Achim von Arnims. Die ,Gräfin Dolores' — Zur Struktur und ihren geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, Diss. Köln 1959, S. 171 f. 81 Steig I I I , S. 86 f. 32 Gerhard Falkner, Die Dramen Achim von Arnims. Ein Beitrag zur Dramatik der Romantik, Zürich 1962, S. 102, Zürcher Beiträge zur dt. Literatur- und Geistesgeschichte Bd. 20 (1962). 33 Ludwig Achim von Arnims Sämmtliche Werke, hrsg. v. Wilhelm Grimm, 6. Bd., Berlin 1840 (,Anmerkungen zum fünften und sechsten Bande').

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Calderon beeinflußte Drama der Romantiker, welches man als Erlösungsdrama charakterisiert hat 84 . Was die Haltung zum Tragischen anbetrifft, besteht also nur in dieser Gattung eine engere Verwandtschaft zwischen dem oft einfach den Romantikern zugerechneten Arnim und seinen Zeitgenossen, wohingegen er in dieser Hinsicht zumindest in den ersten zwei Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts auf dem künstlerisch wichtigeren und zukunftsträchtigen Gebiet der Prosaerzählung eine Sonderstellung einnimmt. Nach 1820 veröffentlichen allerdings auch andere wichtige Autoren zahlreiche Geschichten, zu deren wesentlichen Merkmalen die Vermeidung oder Dämpfung des Gräßlichen und Tragischen gehört 85 . F. Sengle hebt die auffällige Affinität dieser gewöhnlich als Biedermeier bezeichneten Literaturströmung zum Idyllischen36 nachdrücklich hervor: „ M i t Störungen der Ordnung rechnet der Biedermeierdichter von vornherein, sie dürfen nur nicht absolut erscheinen, sondern müssen am Ende zurückgenommen werden 37 ." Bisher hat man noch nicht versucht, Arnims Novellenproduktion mit dieser literarischen Richtung in Beziehung zu setzen38, obwohl ihn doch zentrale Aspekte seines Werks, nämlich seine abwehrende Haltung dem Tragischen gegenüber und seine daraus entspringende Erzählstrategie als einen wichtigen Vorläufer des Biedermeier erscheinen lassen. Wir wollen diese Verbindung kurz skizzieren, und zwar im Hinblick auf zwei Hauptvertreter des Biedermeier, den späten Tieck und Stifter. Um 1820 zeichnen sich in Tiecks Novellenschaffen bedeutende Veränderungen ab, die schon öfter diskutiert worden sind 39 , ohne daß man bisher auf wesentliche Ähnlichkeiten zwischen den nun entstehenden Gesellschaftsnovellen Tiecks und dem Erzählwerk Arnims eingegangen ist. Viel öfter als in seinen früheren Geschichten löst Tieck nun potentiell tragische Situationen meist harmonisch auf. Während er im ,Runenberg' und im ,Liebeszauber' Paare auseinanderreißt, läßt er jetzt, wie Arnim schon vor ihm, viele seiner Novellen, z. B. ,Die Gemälde', ,Die Reisenden', und ,Die Gesellschaft auf dem Lande' in Verlobungen oder Hochzeiten ausklingen, 34 Robert Ulshöfer, Die Theorie des Dramas in der deutschen Romantik, Berlin 1935, S. 171. 35 Paul Kluckhohn, Biedermeier als literarische Epochenbezeichnung, in: DVjs 13 (1935), S. 35 f.; Jost Hermand, Die literarische Formenwelt des Biedermeiers (Beiträge zur dt. Philologie 27), Gießen 1958, S. 89. 36 Biedermeierzeit, 1. Bd., Stuttgart 1971, S. 134. 37 Ebd. S. 132. 38 Abgesehen von Hellmuth Himmel, der z. B. Raphael' zum Biedermeier rechnet (Geschichte der deutschen Novelle, Bern und München 1963). 39 Hermand, a.a.O. S. 94 ff.; Rolf Schröder, Novelle und Novellentheorie in der frühen Biedermeierzeit, Tübingen 1970, S. 20 ff., Studien zur deutschen Literatur Bd. 20 (1970).

7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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denen bezeichnenderweise Läuterungsszenen vorausgehen. Auf die zentrale strukturbestimmende Funktion des Besserungsschemas in den meisten späten Erzählungen Tiecks hat R. Schröder zu Recht aufmerksam gemacht40. Weitere Parallelen zu Arnim ergeben sich daraus, daß Tieck ab 1820 tragische Auswirkungen des Wahnsinns generell vermeidet. Die Verrückten in den ,Reisenden' werden entweder geheilt oder stellen sich, wie Caspar von Birken, als harmlose Irre heraus. Tieck wendet dieses Motiv nun sogar ins Komische. So verwandelt in der eben genannten Geschichte ein unfreiwilliger Aufenthalt im Irrenhaus Adlerfels in einen reuigen Gatten, und die oft skurrilen Gespräche unter den Insassen dieser Anstalt sollen uns eher amüsieren als Entsetzen einflößen. Wie bei Arnim trägt also das Komische in den Diskussionsnovellen Tiecks zur Vermeidung des Tragischen und Abschwächung des Unheimlichen bei, was schon auf die Verklärungsfunktion des Humors im Realismus vorausweist. Selbst zweifelhafte Figuren wie der Kunstfälscher Eulenböck in den ,Gemälden' und der Schwindler Römer in der Gesellschaft auf dem Lande' werden mit humorvoller Nachsicht geschildert. In seinen gelegentlichen grotesken Passagen neigt Tieck ähnlich wie Arnim zur Bändigung des Grauenhaften und er kritisiert die französischen Romantiker, weil sie seiner Ansicht nach »in der Verwesung des Lasters schwelgen und vom Ekelhaften trunken sind" 41 . Wie Arnim führt der gleichfalls didaktisch veranlagte Stifter die meisten seiner Geschichten zu einem versöhnlichen Ende, das oft erst im Durchgang durch schwere Krisen erreicht wird. Auch er schildert Künstlerfiguren relativ selten und schreckt dabei vor der Darstellung einer tragisch zerrissenen Künstlerexistenz zurück. Darüber hinaus gibt es bei Stifter „geradezu eine Methode der Vermeidung des tödlichen Ausgangs"42, z. B. im ,Condor', den ,Feldblumen' und in der ,Mappe meines Urgroßvaters', wo der Selbstmord des Obristen und des Doktors in letzter Minute verhindert wird und der letztere Margarita nach dreijähriger Prüfungszeit heiraten kann. Diese auch bei Arnim häufige Motivkoppelung der Todesvermeidung und Wiedervereinigung wirkt ferner entscheidend auf die Struktur in ,Brigitta' ein. Die lange entfremdeten Ehepartner finden infolge einer zweifachen Todesdrohung, die erst Brigitta und dann ihrem Sohn gilt und die jeweils überwunden wird, wieder zueinander. In den relativ wenigen Geschichten, in denen Stifter sich auf die Darstellung endgültig verfehlten und dem Tode verfallenen Lebens einläßt, z. B. in der ,Narrenburg' und im »Hagestolz', bemüht er sich, solchen Einbrüchen des Chaos optimistischere Schilderungen 40

A.a.O. S. 46. Schriften, 24. Bd., Berlin 1853, S. 141. Werner Kohlschmidt, Leben und Tod in Stifters ,Studien', in: W. K., Form und Innerlichkeit, Bern 1955, S. 233. 41

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Achim von Arnims Harmonisierungsbedürfnis

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einer maßvolleren jungen Generation entgegenzusetzen, wobei in der ,Narrenburg 4 wie auch in anderen Werken Stifters dem Rahmen die Aufgabe zufällt, das Tragische einzugrenzen. Im Unterschied zu Arnim besitzt Stifter nur wenig Veranlagung zum Komischen, und so liegt es ihm fern, das Motiv des Todes humoristisch abzuschwächen; andererseits poetisiert er es auch nicht als Übergang zum Jenseits, vielleicht weil er das Leben stärker als Arnim unter dem Gesichtspunkt der sittlichen Bewährung im Diesseits sieht. In seinem 1839 erschienenen Vorwort zu Arnims ,Sämmtlichen Werken' charakterisiert Wilhelm Grimm das Streben seines Freundes nach Harmonie folgendermaßen: „Er war kein Dichter der Verzweiflung, der an der Pein innerer Zerrissenheit sich ergötzt: über Verwirrung und Dunkel erhob er sich, wie die Lerche, zur Abendröthe, um die letzten Sonnenstrahlen mit Gesang zu grüßen, und auf den kommenden Tag zu hoffen." 43 Was Grimm hier über Arnim sagt, ließe sich sinngemäß auf Stifter und andere Biedermeierautoren übertragen, die ebenfalls an eine sinnvolle göttliche Weltordnung glauben44, wenn ihnen auch die Erhebung über das dunkle Chaos des Lebens schwerer fällt als Arnim 4 5 .

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1. Bd., Berlin 1839, S. V I I f. Kluckhohn, a.a.O. S. 13, 27; Sengle, a.a.O. S. 74, 78, 81. Mit Recht haben Hermand (a.a.O. S. 10, 13 f.) und Lee B. Jennings (The Ludicrous Demon. Aspects of the Grotesque in German Post-Romantic Prose, Berkeley 1963) auf Krisensymptome im Biedermeier aufmerksam gemacht. Vgl. auch Sengle (a.a.O. S. 1 ff.) zum weltsdimerzlichen Hintergrund der Epoche. 44

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V O N DER NATURPHILOSOPHIE ZUR CHRISTLICHEN KUNST Zur Funktion des Venusmotivs in Tiecks,Runenberg' und Eichendorffs ,Marmorbild' Von Klaus Lindemann I.

Zwei für die frühe, bzw. späte Phase der deutschen Romantik repräsentative Werke, Tiecks ,Runenberg' und Eichendorffs ,Marmorbild', greifen auf das alte Motiv der bannenden Liebe der schönen Frau Venus zurück, um es mit jeweils aktuellen Problemen verknüpft, mit neuem Leben zu erfüllen. Beide Märchennovellen haben z. T. auffallend parallel gestaltete Einzelzüge, die, obwohl teilweise der Überlieferung entstammend, doch einen direkten Einfluß der älteren auf die jüngere Bearbeitung wahrscheinlich machen1, aber auch charakteristische Unterschiede, die die Diskrepanz zwischen der älteren und jüngeren Generation der Romantiker verdeutlichen. Beide Helden, Christian im ,Runenberg' und Florio im ,Marmorbild', werden bei ähnlicher Anlage zum Melancholischen, bzw. Schwärmerischen scheinbar durch Zufall, in Wirklichkeit aber durch ihnen zunächst unbewußte innere Bestimmung in den magischen Bereich einer geheimnisvollen Schönen gezogen. Beiden Helden begegnet diese da, wo der „gemeine Verstand" nur einen geheimnisvollen, in erster Linie aber ungastlichen Ort sieht, bei Tieck innerhalb einer Burgruine, die sich bei Anwesenheit des Helden für diesen in einen prächtigen Saal verwandelt, bei Eichendorff in einem zerfallenen Palast, der sich für Florio im entscheidenden Moment in ein Prunkgebäude verwandelt. Gleich nach der Begegnung verwandeln sich beide Schauplätze wieder in das, was sie auch für den „gemeinen Verstand" immer geblieben waren. Beiden Helden begegnet die geheimnisvolle Schöne 1 Zu den Vorbildern: Walter Pabst, Venus und die mißverstandene Dido — Literarische Ursprünge des Sibyllen- und Venusberges. Hamburg 1955; die romantische Tradition: Paul Franklin Baum, The Young Man Betrothed to a Statue, in: PMLA 34 (1919), S. 523-579 und 35, S. 60-62; aus der Perspektive der Eichendorff-Forschung: Friedrich Weschta, Eichendorffs Novellenmärchen „Das Marmorbild", Prag 1916; Robert Mühlher, Der Venusring — Zur Geschichte eines romantischen Motivs, in: Aurora 17 (1957), S. 50 - 62.

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auch danach wieder. Allen anderen Personen bleibt sie dagegen unsichtbar, sie registrieren nur die Wirkungen ihrer Existenz bei den Betroffenen. I m ,Runenberg' wie im ,Marmorbild' versuchen Verwandte oder Freunde, den Helden vor der geahnten Gefährdung zu bewahren, und in beiden Fällen geschieht das von der Basis des christlichen Glaubens her. Bei Christian bemühen sich seine Frau, die er bezeichnenderweise in der Dorfkirche kennenlernt, und sein alter, frommer Vater um seine Rettung vor der „heidnischen" Verführung. Bei Florio sind es die zunächst verlorene Geliebte Bianca und vor allem der Freund Fortunato, die sich darum bemühen, Florio in die Gesellschaft und damit in den Bereich christlichen Denkens zurückzuführen. Ihnen arbeiten die Gehilfen des jeweiligen dämonischen Bereichs, der „Fremde" im ,Runenberg', der Ritter Donati im ,Marmorbild', entgegen. Hier liegt dann ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Märchen: bei Tieck gelingt der Rettungsversuch nicht, der Held erliegt schließlich den geheimnisvollen Verlockungen des Runenbergs, während Eichendorffs Florio trotz gleicher Gefährdung am Schluß von seiner dämonischen Sucht geheilt wird. II. In beiden Dichtungen scheint auf den ersten Blick auch die Natur und ihre Beziehung zum Helden ähnlich gestaltet zu sein. Die Natur steht in einer geheimnisvollen Wechselbeziehung mit dem „Innern" des Helden. Aber gerade an dieser Stelle wird die Untersuchung einen entscheidenden Unterschied der beiden Gestaltungen des Venusmotivs aufzeigen. Hier liegt ein Problem, vor dessen Hintergrund die Elemente der Entsprechung, die sicher auch noch einer exakteren Untersuchung bedürften, zweitrangig werden. Schon Haym hatte Tiecks Märchen etwas unbestimmt als einen „ eigentümlichen Nachhall naturphilosophischer Anschauungen" bezeichnet2. Gerade diese Äußerung gilt es aber zu präzisieren. Wir wollen also zunächst aufzeigen, wie Tieck die Natur und ihre Beziehung zum Helden im ,Runenberg' gestaltet und dann den naturphilosophischen Hintergrund dieser Gestaltung näher bestimmen. Tieck setzt die vororganische Welt des Gebirges, bestimmt von Steinen und Erzen, in Kontrast zur vom organischen Leben bestimmten Ebene3. Der dem Menschen fremde, oder besser fremd gewordene, vom Anorgani2

Georg Haym , Die Romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Berlin 1870, S. 633; zum Folgenden vgl. auch die Interpretation des Verfassers: Klaus Lindemann , Geistlicher Stand und religiöses Mittlertum. Ein Beitrag zur Religionsauffassung der Frühromantik in Dichtung und Philosophie. Frankfurt 1971, S. 254 ff.

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sehen bestimmte Bereich des Gebirges dringt vornehmlich akustisch, vom „gewöhnlichen Verstand" nicht eindeutig fixierbar, an das Bewußtsein des Eindringlings. Christians erster Eindruck im Gebirge macht das deutlich: „ . . . aus der Tiefe redeten ihm Gewässer und rauschende Wälder zu . . . " (221)4, oder „ . . . die kahlen Wände riefen ihn wie mit zürnenden Stimmen an, und ein einsam klagender Wind jagte ihn vor sich her" (222), oder „über vorragendes Gestein", zentrales Element der Gebirgsnatur 5, versucht die Welt des Anorganischen auch schon akustisch mit dem Helden in Verbindung zu treten, ohne daß diesem eine Deutung ihrer Äußerungen gelänge: „Vögel sangen aus Gebüschen und ein Widerschall antwortete ihnen. Er stieg langsam den Berg hinunter, und setzte sich an den Rand eines Baches nieder, der über vorragendes Gestein schäumend murmelte. Er hörte auf die wechselnde Melodie des Wassers, und es schien, als wenn ihm die Wogen in unverständlichen Worten tausend Dinge sagten, die ihm so wichtig waren, und er mußte sich innig betrüben, daß er ihre Reden nicht verstehen konnte" (214). Verschlossen bleibt dem Helden auch noch eine andere Äußerung der Gebirgsnatur, die ihre unergründlichen Tiefen und das erst später zutage tretende Geheimnis des Kampfes zwischen der anorganischen und der organischen Natur andeutet: „Gedankenlos zog er eine hervorragende Wurzel aus der Erde, und plötzlich hörte er erschreckend ein dumpfes Winseln im Boden, das sich unterirdisch in klagenden Tönen fortzog, und erst in der Ferne wehmütig verscholl. Der Ton durchdrang sein innerstes Herz, er ergriff ihn, als wenn er unvermutet die Wunde berührt habe, an der der sterbende Leichnam der Natur in Schmerzen verscheiden wolle" (216). Als Christian später vorübergehend in der „frommen Ebene" eine endgültige Heimat gefunden zu haben scheint, lockt ihn das „heimliche Liebeswort" (234) des Goldes, des ihm von dem „Fremden" aus dem Gebirge anvertrauten Schatzes, in die Wildnis des Runenbergs zurück. Auch bei der entscheidenden Begegnung Christians mit der Schönen im „innersten Gebirge" steht mit deren geheimnisvollem, wieder nicht rational deutbarem Gesang das akustische Element im Mittelpunkt der Kommunikation. Im Gegensatz dazu ist die Ebene, deren organische Natur dem Menschen eine dauernde Heimat bietet, nicht hintergründig und unerklärlich akustisch erfahrbar, sie wird gerade als visuell faßbar dargestellt. Christian erinnert 3 Hier verarbeitet Tieck auch Elemente des Schauerromans, der seine Helden einem steten Wechsel der Umgebung aussetzt. Vgl. dazu: Hansjörg Garte, Kunstform Schauerroman, Diss. Leipzig 1935, S. 21. 4 Seitenangaben der Stellen in ( ) , zitiert nach: Ludwig Tieck, Schriften, 28 Bände, Berlin 1828 -34, hier Band VI, das Konventionelle wird in heutiger Schreibweise wiedergegeben. 6 Zur Bedeutung dieser Stelle innerhalb der Märchennovellen bei Tieck: Paul Gerhard Klussmann, Die Zweideutigkeit des Wirklichen in Ludwig Tiecks Märchennovellen, in: ZfdPh 83 (1964), S. 444.

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sich im Gebirge: „ . . . wenige Bäume schmückten den grünen Plan, aber Wiesen, fruchtbare Kornfelder und Gärten zogen sich hin, so weit das Auge reichen konnte, ein großer Fluß glänzte wie ein mächtiger Geist an den Wiesen und Feldern vorbei" (218). Die Ebene ist durch ihre Oberschaubarkeit und Vertrautheit von den unergründlichen Tiefen des Gebirges abgehoben. Bilder des Kreises, der vorauszubestimmenden Wiederholung und Entwicklung, charakterisieren sie und ihre friedlichen Bewohner, allerdings auch deren Begrenztheit, die jeglicher geheimnisvollen Tiefe entbehrt. Das Vertraute, „Normale", ist für Tieck nicht auch unbedingt das Wertvollere 6. Christian hat mit der angestammten Heimat in der Ebene den „Kreis der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit" (214) verlassen, der näher durch den „Kreis der Eltern und Verwandten" (217) und durch „den kleinen beschränkten Garten meines Vaters mit den geordneten Blumenbeeten, die enge Wohnung" (216) charakterisiert wird. In den gleichen Zusammenhang fügt sich auch die Predigt des Priesters, des Gegenspielers der geheimnisvoll verführerischen Schönen vom Runenberg, ein. So sind seine Worte über das Abendmahl als „Teilhabe am Brot" und damit Teilhabe am organischen Bereich in eine Predigt anläßlich des Erntedankfestes eingegliedert (227), das als typische Manifestation des beschränkten bäuerlichen Fleißes der Gesellschaft der Ebene bei Christians Ankunft im Dorf und bei seiner Rückkehr ins Gebirge einen entscheidenden Markierungspunkt abgibt. Die Abendmahlspredigt anläßlich dieses Festes, das die ökonomischen Vorstellungen und die dieser Arbeitswelt verbundenen sittlichen Werte der Ebenenbewohner spiegelt, transzendiert die Symbolik des Erntefestes ins Religiöse und gibt so der Lebens- und Glaubenswelt, dem täglichen Leben und den begrenzten Idealen der ländlichen Gesellschaft die höchste Form ihres Selbstverständnisses. Die Ebene ist so in jeder Hinsicht als der vertraute Lebensraum des Jedermann gezeichnet. Er ist mit dem Erntefest und der Predigt des Geistlichen durch seine gesellschaftlich-wirtschaftlichen und die damit verbundenen geistig-religiösen Lebens- und Bewußtseinsformen charakterisiert. Dieser „Kreis der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit" weiß nicht um die tiefen, ans Dämonische grenzenden Beziehungen des Menschen zu dem im Gebirge verborgenen anorganischen Bereich der Natur, oder besser, er hat die Erinnerung daran in der täglichen trivialen Geschäftigkeit verdrängt. Christians verhängnisvoller Weg und Rückweg in die Gebirgsnatur bekommt so mehr und mehr auch eine positive Komponente: er bedeutet Flucht aus dem Beschränkten, vorweg Bestimmten in ein — wenn auch geheimnisvolles — Unbeschränktes. 6

Vgl. dazu auch die grundsätzlichen Ausführungen bei Klussmann.

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Im Gebirge, dem Zentrum der für die Menschen der Ebene versunkenen anorganischen Natur, wird der Eindringling aus der Welt der „wiederkehrenden Gewöhnlichkeit" vom Dichter folgerichtig immerzu mit ganz unerwarteten Ereignissen und Begegnungen konfrontiert: „ . . . und plötzlich hörte er erschreckend ein dumpfes Winseln im Boden" (216), oder : „ . . . plötzlich sah er ein Licht, das sich hinter dem alten Gemäuer zu bewegen schien" (222). Genau so plötzlich taucht der geheimnisvolle „Fremde", der Christian über das Wesen des Gebirges erste Aufklärung gibt, auf, um ebenso unvermittelt wieder zu verschwinden (216 ff.). In dieser Welt, die sich für den Eingedrungenen zunächst als das stets Unerwartete manifestiert, kommt auch ohne realen Anlaß immer wieder das Gefühl der „Unheimlichkeit" auf, hervorgerufen durch die unerklärliche Steinnatur des Gebirges, dem in der Ebene gerade die bewußte Bemühung um ein Heimischwerden mit Familie, Haus und Gewerbe entgegensteht. Die vororganische Natur wird im Märchen allmählich zum übermächtigen Gegenspieler des Menschen, der seine tiefsten Beziehungen zu ihr vergessen hat. Jedes prometheisch-subjektive Naturgefühl ist hier zerstört. Die dem Menschen unbekannte und unbegreifliche Bergwelt als Verkörperung der anorganischen Stufe der in einem steten Werdeprozeß befindlichen Natur wird vom Dichter zugleich durch die Sprengung der in der Ebene gewohnten Zeit-Raum-Relation charakterisiert. Der Erzählbogen der Begegnung mit dem Gebirge beginnt in der Dämmerung, in der das visuelle Aufnahmevermögen ohnehin zugunsten der akustisch bestimmten Aufnahmefähigkeit nachläßt, und verläuft so bewußt gegen das gewöhnliche Zeitempfinden. Die Erzählung, solange sie im Gebirge verweilt, verläuft zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Sie wirkt im Vergleich zu dem breit geschilderten Verlauf der Jahreszeiten, der in der Ebene nach der „gewöhnlichen" Ordnung mit der Hochzeit im Frühling beginnt, ungewöhnlich gedrängt. Das Geschehen innerhalb des knappen Zeitraums des Aufenthalts im Gebirge ist für das „gewöhnliche" Zeitempfinden — und damit verbindet Tieck nun auch das Raumempfinden — nicht mehr nachvollziehbar. Auch in diesem Zusammenhang werden die dem Menschen fremd gewordenen Bedingungen seiner ursprünglichen Herkunft unheimlich. Christian kann am frühen Morgen den Runenberg nur noch am äußersten Horizont erkennen, obwohl er um Mitternacht noch auf ihm verweilte (225). Genauso erweitert sich die Ruine auf der Spitze des Berges zu einem „geräumigen", prächtigen Saal, als der Held hinzutritt (222). Mit all den auf eine Nacht zusammengedrängten Begegnungen Christians im Bereich des Runenbergs will Tieck eine gesteigerte Welt der Fülle der anorganischen, dem Menschen verlorengegangenen Natur zur Darstellung bringen, die alle festen gesell-

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schaftlichen Zustände als unangemessen erscheinen läßt und an der der unvorbereitete Mensch audi schließlich zerbrechen muß. Auch die „Bewohner" des Gebirges und der Ebene sind in die gegensätzliche Charakterisierung einbezogen. Da die Bewohner des Berges denen der Ebene unerklärlich sind, werden sie als „Fremde" bezeichnet. Das Fremdartige wird unterstrichen durch ihr unvorhersehbares, abruptes Aufund Abtreten. Der „Fremde" steht nach dem Schrei der Wurzel plötzlich hinter Christian und verschwindet genauso geheimnisvoll wieder in der Tiefe des Berges. Christian sieht die Schöne des Runenbergs völlig unvermittelt, als er durch ein Fenster der Ruine blickt, und genauso plötzlich erscheint ihm am Schluß das „Waldweib". Als Verkünder der vororganischen Natur verstehen diese „Fremden" die Dinge, die dem neuen Eindringling Christian verschlossen bleiben. Der „Fremde", dem Christian zuerst begegnet, weiß, was die Wasser und die Tiefen des Gebirges ausdrücken — Christian hatte daran herumgerätselt — er steht mit ihnen in enger Nachbarschaft, ja tritt als ihr Vertrauter auf: „ . . . ich gehe in diese Tiefe hinunter, dort bei jenem alten Schacht ist meine Wohnung: die Erze sind meine Nachbarn, die Bergwässer erzählen mir Wunderdinge in der Nacht" (221). So werden die Bergbewohner, die im Unterschied zu den die Einsamkeit fliehenden Menschen der Ebene immer isoliert auftreten, auch zu Mittlern der unbekannten Geheimnisse, die sich den ihnen entfremdeten Mensdien gegenüber nicht direkt äußern können. Diese scheinbar stumme Natur ist aber doch mächtig genug, sich für ihre Vernachlässigung durch den Menschen zu rächen. Der zuerst auftretende „Fremde" erweckt in Christian die Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Runenberg, der zweite, der ihn „wie ein alter Bekannter" in der Ebene besucht, hinterläßt ihm die verhängnisvolle Sehnsucht nach dem Gold. Diese „Fremden" verkörpern dabei das doppelgesichtige Wesen der Urnatur, die im Gebirge ihren Ausdruck findet: das Schöne, Anlockende und zugleich Dämonisch-Bedrohliche der vororganischen Naturstufe. Von Christian heißt es bei der ersten Begegnung mit dem „Fremden": „er erschrak . . . von neuem vor dieser freundlichen Gegenwart" (217). Im Gegensatz zu diesen geheimnisvollen Vertretern des Gebirges, die wie sie selbst sagen, nicht „einheimisch" sind, sehnen sich die Ebenenbewohner nach der schützenden Gemeinschaft. So sucht Christians Vater nach dem Tode seiner Frau eine neue Gemeinschaft, Christian heiratet in eine große Familie und wird Mitglied der Dorfgesellschaft. Immer wieder wird von der Gemeinschaft berichtet, z. B. wenn sich die Dorfgemeinde in der Kirche und auf dem Erntefest trifft oder den scheinbaren Tod des ins Gebirge zurück-

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gelockten Christian betrauert. Die Bewohner der „frommen Ebene" fürchten sich vor dem dämonischen Gebirge und seinen verführerischen Schätzen und warnen Christian vor der Sucht nach dem im Gebirge verborgenen Gold. Aber so sehr die Menschen der Ebene vor der dunklen, anorganischen Natur des Gebirges fliehen, sie können ihr doch letztlich nicht ausweichen. Der Vater stirbt aus Gram, und die Frau Elisabeth verzweifelt schließlich, als Christian zum Schluß den Lockungen der Gebirgsnatur und der Sehnsucht nach dem Ursprung der Natur im Vororganischen erliegt und ins Gebirge zurückkehrt. Genauso muß die von Christian mit dem aus dem Gebirge beschafften Gold aufgebaute Wirtschaft in der Ebene verfallen. Die Menschen der Ebene sind ganz auf die friedliche, beeinflußbare organische Natur ihrer Umwelt ausgerichtet. Elisabeths Gesicht z. B. wird wie eine Blume beschrieben: „ . . . ihr Antlitz war wie durchsichtig und in den zartesten Farben blühend" (227). In einer Blume sieht der Vater die höchste Verwirklichung und Erfüllung seiner unbestimmten Wünsche, und er findet diese Blume, die er das ganze Leben hindurch suchte, charakteristischerweise nicht im Gebirge, wo auch er das Geheimnisvolle, das mit dieser Blume verbunden ist, vermutet, sondern dort, „ . . . wo schon die schöne Ebene sich ausstreckt" (231). Aus dieser Blume, die für die organische Natur steht, erfährt er alles, was ihn bewegt: die Möglichkeit des Wiedersehens mit dem Sohn, der sich, da er der Gebirgsnatur schon verfallen ist, nicht mehr von einer Pflanze, sondern vom Gold „heimlich ein Liebeswort ins Ohr sagen" läßt (234). Mit dieser dämonischen Sehnsucht nach den Metallen verbindet der Dichter offensichtlich die Sehnsucht nach einem Unvergänglichkeits- und Ewigkeitswert, der vom Helden auf der anorganischen Seite der Natur im Gegensatz zu der von „Verwesung" bedrohten organischen vermutet wird. Die polare Gestaltung der beiden Welten mißt nicht einer Seite nur Negatives zu. In Christians Ringen um die Entscheidung für eine der beiden Seiten der Natur kommt das zum Ausdruck. Dabei wird das Leben der Ebene als „vergängliches und zeitliches Glück" auch in seinen negativen Zügen charakterisiert: „ . . . so habe ich mutwillig ein hohes ewiges Glück aus der Acht gelassen, um ein vergängliches und zeitliches zu gewinnen" (238). Letztlich verständlich wird die Bedeutung der beiden Welten im ,Runenberg' und ihr der Naturphilosophie Schellings entstammender Hintergrund 7 aber erst, wenn wir den zwischen beide Bereiche gestellten Helden in die Betrachtung einbeziehen. Zum Verständnis der Funktion des Helden sind 7 Schellings Naturphilosophie fand der frühromantische Kreis um Tieck in den für diese Gruppe der Romantiker besonders einflußreichen Schriften: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) und: Von der Weltseele (1798).

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hier allerdings schon einige, das bisher Gesagte vertiefende Feststellungen zu machen. Tieck verarbeitet in seiner Märchennovelle einen Grundgedanken der romantisch-idealistischen, vor allem von Schelling formulierten Naturphilosophie, nach der die Natur als Stufenleiter des noch unbewußten Geistes und Geist als sich bewußt gewordenen Natur gedeutet wird. Danach steht der Mensch — auch wenn das für sein Bewußtsein längst versunken ist — mit allen Stufen und Stoffen der Natur in geheimnisvollem, allmählich erst durch das philosophische Bewußtsein des Idealismus wieder zu enträtselndem Zusammenhang. Ja, er ist selbst ein vollständiges Abbild der Universalnatur, wobei in ihm die dem entwicklungsgeschichtlich früheren, dem anorganischen Bereich zugehörigen Elemente durch die Herrschaft der entwickelteren und differenzierteren Formen der Natur, besonders der menschlichen Vernunft, nur unterdrückt und verdrängt werden. Schließlich rückt die Naturphilosophie innerhalb der Identitätsphilosophie die Bedeutung dieser verdrängten Stufen aber wieder ins Licht. In Tiecks dichterischer Gestaltung dieses Problems melden im Kampf des Gebirges und seiner Bewohner, besonders der hier angesiedelten schönen Venus, mit der Ebene, dem Priester und den anderen Bewohnern des „Kreises der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit", um den zwischen beiden Welten schwankenden Helden die vom menschlichen Bewußtsein verdrängten Seiten der Natur ihre Rechte und ihre Bedeutung an. Damit verändert Tieck einen Grundgedanken der Sdiellingschen Naturphilosophie. Im ,Runenberg' kommt die Natur nicht wie in der idealistischen Naturphilosophie als System stufenweisen Selbstbewußtwerdens des in ihr latent vorhandenen Geistes zur Gestaltung, sondern der Dichter setzt zwei Phasen dieses Prozesses antithetisch gegeneinander: die anorganische, bzw. vororganische Naturstufe, dargestellt im „wilden Gebirge", seinen „Fremden" und „Geheimnisvollen", versucht, die höheren „Bewußtseinsstufen" der Natur, wie die organische Natur der Ebene — Acker und Landwirtschaft Christians veröden schließlich — und die höchste Form der Naturgeschichte, den Menschen und sein Bewußtsein, auf ihre „wilde", vormals auch ihnen gemeinsame Urform zurückzuziehen. Von hier aus wird der mächtige und stets wachsende Einfluß der vom Anorganischen bestimmten Gebirgsnatur auf Christians scheinbar noch freie Entscheidung zwischen beiden Lebensbereichen verständlich. Es handelt sich schon gar nicht mehr um einen Entschluß, sondern vielmehr um ein dämonisches Gezogenwerden. So erblickt sich Christian „mit einer Art von Verwunderung" plötzlich im Gebirge (214), oder er gesteht: „ . . . es hat mich wie mit fremder Gewalt aus dem Kreise meiner Eltern und Verwandten hinweggenommen, mein Geist war seiner selbst nicht mächtig . . . " (217). Er geht ins Gebirge „wie ein Trunkener" (219), oder es heißt immer wieder:

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„der Weg führte mich" oder „es zog mich". Bei seiner Sehnsucht nach dem Gebirge und dessen Schätzen muß es sich um einen schicksalhaften Drang handeln, denn von der ersten Besinnung nach seinem atemlosen Lauf zum Gebirge heißt es: „er bedachte sein Schicksal" (214). Dieser innere Drang und das Gezogenwerden in die geheimnisvollen Tiefen des Gebirges überwinden im Helden allmählich die sich zunächst noch behauptende Gegenkraft des Strebens nach der bequemen und überschaubaren, aber nur durchschnittlichen, bürgerlichen Lebensweise in der „frommen Ebene". Auch der menschliche Versuch, beide Sphären, die der anorganischen und der organischen Natur, miteinander zu verbinden, ist zum Scheitern verurteilt. So vergrößert das Gold, das ihm, dem Pächter in der Ebene, ein „Fremder" als Repräsentant des Gebirges schenkt, nur seine Sucht nach dem Geheimnisvollen. Als er es endlich in Ländereien anlegen will, also das dämonische Element in den „Kreis der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit" bannen und so überwinden will, beschleunigt er nur den Zusammenbruch seiner Wirtschaft. Von nun an führt der menschliche Kräfte übersteigende Versuch der Vereinigung beider Sphären zum allmählichen Wahnsinn und zur völligen Verfallenheit Christians an die Unheimlichkeit der anorganischen Natur des Gebirges. Seine erhitzte Phantasie erkennt schließlich sogar im Gold menschliche Züge. Das Gold sagt ihm „heimlich ein Liebeswort ins Ohr", und in diesem Metall findet der Held etwas, das ihm „zublinzelt" und „zuraunt" (234). Der Verblendete maßt sich schließlich an, als gleichberechtigter Partner mit diesen unermeßlichen Kräften der anorganischen Natur eine Ehe eingehen zu wollen: „Wer die Erde so wie eine geliebte Braut an sich zu drücken vermöchte, daß sie ihm in Angst und Liebe gern ihr Kostbarstes gönnte!" (241) Anders als in den oft ähnlich klingenden Fragmenten von Tiecks Freund Novalis muß eine solche, dem Menschen nicht angemessene Partnerschaft den Helden notwendig zum Wahnsinn führen. Immer häufiger wird davon berichtet, wie Christian „irre redet" oder „wild lacht". Der Wahnsinn, das Ergebnis der dämonischen Sucht, ist die durch diesen blinden Trieb erfolgende Zerstörung des Geistes und die daraus resultierende Vernichtung alles Menschlichen. Die vom „gewöhnlichen" Bewußtsein vergessenen Naturstufen nehmen fürchterliche Rache an der höchsten Stufe der Natur, dem menschlichen Geist. Christian verwildert im Gebirge, in das er schließlich endgültig zurückkehrt, und erweckt bei seiner Frau und seinen Kindern, als diese ihn noch einmal wiedertreffen, Grauen (243). Im Hinblick auf die immer stärker auftretende Sehnsucht nach dem anorganischen Bereich im Gebirge spricht der Held in Erinnerung an eine ihm von der Schönen des Berges übergebene geheimnisvolle Tafel von der

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„wahren Gestalt meines Innern" (236) oder es ist die Rede von der „Figur in seinem Innern" (236). Hier öffnet sich ein Weg zu einem tieferen Verständnis des Märchens vom ,Runenberg'. Die im Äußeren der Natur wirksamen Kräfte des anorganischen Bereichs enthüllen sich als im Menschen selbst verschüttete Elemente, die, vom Verstand unterdrückt, plötzlich und unkontrollierbar hervorbrechen und sich für ihre Mißachtung rächen. Mit deutlichen Hinweisen des Dichters findet das Märchen in dieser Problemstellung erst seine endgültige Verankerung und Rechtfertigung. Die bisher als Sinnbilder und Verkörperung der beiden Welten des ,Runenbergs' unabhängig von Christian charakterisierten Naturelemente stehen in Wirklichkeit in einem Zusammenhang mit den unbewußten Kräften im Helden und mit seinen Wünschen und Gedanken, ja, das Äußere wird als vom Inneren abhängig und auf dieses hingeordnet gezeichnet. So befindet sich etwa die Natur bei seiner Ankunft im Gebirge in einer Art stürmischer Gemütsbewegung zu ihm hin: „ . . . die Waldströme rauschten mir entgegen, Buchen und Eichen brausten mit bewegtem Laube von steilen Abhängen herunter . . . " (219). Der junge Jäger verwandelt die Gebirgsnatur in sein Eigentum: „Ich nahm von der Gegend, in der ich meinen Aufenthalt hatte, wie von einem Königreiche Besitz . . . " (220). Noch enger werden die anorganischen Elemente der Gebirgsnatur mit dem inneren, ihm selbst zunächst verborgenen Wesen des Helden verknüpft; besonders das dämonisch wirksame Gold und sein Geheimnis wird als Element auch seines eigenen Inneren offenbar: „ . . . ich kann auf lange Zeit, auf Jahre, die wahre Gestalt meines Innern vergessen, und gleichsam ein fremdes Leben mit Leichtigkeit führen: dann geht aber plötzlich wie ein neuer Mond das regierende Gestirn, welches ich selber bin, in meinem Herzen auf, und besiegt die fremde Macht, . . . oft schläft und ruht die magische Figur, ich meine sie ist vergangen, aber dann quillt sie wie ein Gift plötzlich wieder hervor, und regt sich in allen Sinnen. Dann kann ich sie nur denken und fühlen, und alles umher ist verwandelt, oder vielmehr von dieser Gestaltung verschlungen worden" (236). In dieser Stelle liegt der Schlüssel zum tieferen Verständnis des Märchens. Die geschilderten dämonischen Formen der Außenwelt sind objektiv gewordenen Stufen der Selbstbewußtwerdung des Geistes, die im Menschen ihre höchste Ausprägung findet. Als übergroße Mächte müssen sie so lange empfunden werden, als der Objekte schaffende Akt der unbewußten „produktiven Einbildungskraft" des „Ich" von diesem noch nicht in auf die Bedingungen des „Ich" gerichteter Reflexion durchschaut wird. Der Held vermag diese Zusammenhänge, die die romantische Natur- und Transzendentalphilosophie darstellte, nicht zu erkennen und muß daher an der Vor-

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Stellung eines zugleich lockenden und gefährdenden, scheinbar unabhängigen Gegenüber zerbrechen. Er durchschaut nicht, daß die Begegnungen im Gebirge immer dann stattfinden, wenn auch seine Sehnsucht, jemanden zu treffen, unendlich groß ist, ja, daß er diese Begegnungen dadurch geradezu hervorruft. Er kann die geahnten Beziehungen zwischen sich und der Bergwelt nur undurdischaut konstatieren, wenn es immer wieder heißt, daß ihm bei der Wanderung im Gebirge alles „fremde und doch so wohlbekannte Gegenstände...» (219) begegneten. Vor allem überhört er bis zum Schluß den Hinweis des von ihm selbst herbeigesehnten „Fremden", den wir jetzt auch als das ihm Fremde in ihm selbst einordnen können — denn auch „der Fremde dünkte dem Jüngling bald ein alter Bekannter zu sein" (217) — als dieser ihn gleich zu Anfang auf die tiefe Beziehung von Innen- und Außenwelt verweist: „ . . . wer nur zu suchen versteht, wessen Herz recht innerlich hingezogen wird, der findet uralte Freunde dort und Herrlichkeiten, alles, was er am eifrigsten wünscht" (221). Bezeichnenderweise sieht auch Christian allein alles Wunderbare und Dämonische. Die Bewohner der Ebene sehen in dem „Fremden", der Christian in seinem Hause besucht, keinen „Bekannten", im Wald sehen sie keine „Schöne", in den Trümmern des Runenbergs keinen „herrlichen Glanz". III. Ähnlich wie bei Tieck scheint auch das, was wir in Eichendorffs ,Marmorbild' über die Natur erfahren, in einer geheimnisvollen Wechselbeziehung zur Seelenstimmung des Helden zu stehen, scheint die Natur die Seelenregung des Helden zu verobjektivieren. Beller hat in seiner die literarischen Hintergründe und die im Novellenmärchen wiederkehrenden Topoi detailliert aufdeckenden Analyse diese Zusammenhänge schon angesprochen8. Wie er gehen auch wir von der Analyse der folgenden Stelle aus: „Er sprang aus seinem Bett und öffnete das Fenster. Das Haus lag am Ausgange der Stadt, er übersah einen weiten, stillen Kreis von Hügeln, Gärten und Tälern, vom Mondlicht klar beschienen. Auch da draußen war es überall in den Bäumen und Strömen noch wie ein Verhallen und Nachhallen der vergangenen Lust, als sänge die ganze Gegend leise, gleich den Sirenen, die er im Schlummer gehört" (1156)9. Beller kommt hier zu dem Ergebnis: „Der Blick aus dem Fenster führt zur Übertragung des Bildes in die Land8 Manfred Beller, Narziß und Venus. Klassische Mythologie und romantische Allegorie in Eichendorffs Novelle ,Das Marmorbild', in: Euphorion 62 (1968), S. 117-142. 9 ( ) Seitenzahl nach der Ausgabe: Joseph von Eichendorff, Werke, hrsg. von Wolfdietrich Rasch, Darmstadt 1966.

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schaft, die die Vertauschbarkeit und zugrundeliegende ,Einheit von Außen und Innen' bezeugt"10. Nach dieser Interpretation entspräche das Verhältnis von Innen und Außen im ,Marmorbild' der Problemlage bei Tieck und wäre als ein weiterer poetischer Nachklang der Identitätsphilosophie Schellings zu deuten. Daß damit eine nicht zutreffende Charakterisierung der Naturdarstellung im ,Marmorbild' vorgenommen würde, hat Beller wohl selbst gespürt, wenn er seine Aussage einige Zeilen später so wieder einschränkt: „Der Dichter schildert weiterhin aus der Perspektive des Florio und stattet die Ereignisse der Erzählung mit den Spiegelungen der Phantasie seines jungen Helden aus 11 ." Hier wird aus der vorangehenden Konstatierung objektiver Identität ein Problem der Erzählperspektive. Sieht man genauer auf die Aussagen der zitierten Stelle bezüglich der „Vertauschbarkeit" von Innen und Außen, so fällt auf, daß der Dichter gerade dafür kaum einen Anhaltspunkt liefert. Der erste Satz schildert, wie das Subjekt das Objekt, das zudem „klar beschienen" ist, „übersieht", erkennt, auch wenn es sich dabei schon um einen auf das Kreissymbol hingeordneten und formalisierten Ausschnitt handelt, dessen Hintergrund Beller überzeugend herausgearbeitet hat. Der zweite Satz macht dann aber deutlich, daß es sich bei dem „übersehenen Äußeren" keineswegs um eine objektiv nachprüfbare Einheit mit dem Inneren handelt, sondern lediglich um die Wiederbelebung eines Traumes im Helden, den die in ihrer Eigenart gerade ganz undurchschaubare Natur allerdings anregt. Ausdrücklich betont der Dichter durch die Verwendung des Irrealis und des Vergleichs, daß der Betrachtende seine eigenen Empfindungen in der Natur, bzw. Landschaft wiederentdeckt, daß aber diese Natur keinesfalls die Träume und Empfindungen objektiviert, sondern im Gegenteil ihre objektive Existenz hinter den subjektiven Projektionen der aufgeregten Seele des Helden verborgen hält. Dieses grundsätzliche Verborgenbleiben der „objektiven" Natur beherrscht im ,Marmorbild' charakteristischerweise alle Stellen, an denen der Held mit ihr in Berührung zu treten scheint. Die Natur in ihrer Objektivität bleibt immer ausdrücklich „unermeßlich" und „ungewiß". So ist die Rede von „dem unermeßlichen Sternenhimmel" (1154), oder „der Mond sah seltsam zwischen den Wolken hervor" (1158), und es ist einfach von „der ungewissen Beleuchtung" (1168) die Rede. Deutlicher wird das Problem noch, wenn der Dichter Aussagen über die prinzipielle Nichterkennbarkeit 10 Beller, S. 122. Zitat im Zitat nach Werner Kohlschmidt, Die symbolische Formelhaftigkeit von Eichendorffs Prosastil — Zum Problem der Formel in der Romantik, in: W. K., Form und Innerlichkeit, München 1955, S. 201. 11 Beller, S. 122.

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dessen, was „Natur" objektiv ist — ihre Unsichtbarkeit, Unkenntlichkeit, Scheinhaftigkeit — mit dem Versuch des Helden verbindet, die Natur in Form von Vergleichen zu erfassen. Diese Vergleiche ziehen aber immer unspezifische menschliche Kategorien, die meist Spiegel eigener Gemütsbewegungen der Protagonisten sind, zur „Beschreibung" der Natur heran und finden diese inneren Bewegungen aber gerade im Unterschied zu Tieck in der Natur nicht objektiv bestätigt, noch wird hier im Hintergrund die idealistische Natur- und Identitätsphilosophie greifbar. Mehrere Stellen verdeutlichen das Gesagte: „ . . . denn auch das Rauschen der Bäume kam ihm nun wie ein verständiges, vernehmliches Geflüster vor, und die langen gespenstischen Pappeln schienen mit ihren weitgestreckten Schatten hinter ihm dreinzulangen" (1158/59), oder: „der Mondschein hatte mit seinen unsichtbaren Fäden alle die Bilder wie in ein goldenes Liebesnetz verstrickt" (1169) und schließlich: „Die Gegend draußen lag unkenntlich und still wie eine wunderbar verschränkte Hieroglyphe im zauberischen Mondschein" (1173). Bei Tieck war die Natur eine Hieroglyphe, die schließlich von der Naturphilosophie enträtselt und deren Enträtselung auch im Märchen dem Leser, wenn er nur richtig zu lesen verstand, vermittelt werden konnte. Bei Eichendorff ist die „Hieroglyphe" Natur nicht mehr als unbewußter Geist aufzulösen, ja, wie sehr Eichendorff die Natur jedem objektiven Erkennen immer wieder entrückt, zeigt sich auch darin, daß er die verglei(1173). Bei Tieck war die Natur eine Hieroglyphe, die schließlich von der chende Aussage, die sich der Sache ja nur unvollkommen nähert, zugleich durch unpräzise Zeitangaben zurücknimmt, die untereinander im Sinne einer Reduktion gekoppelt sind und die Aussage damit in ihrem Realitätsgehalt noch zusätzlich einschränken: „Nur hin und wieder erwachte manchmal eine Nachtigall und sang wie im Schlummer fast schluchzend" (1161). Ihren Höhepunkt erfährt diese Problematik bezeichnenderweise bei der entscheidenden Umkehr des Helden. Scheinbar formuliert der Dichter nun doch die Entsprechung, bzw. die „Vertauschbarkeit" von subjektivem Inneren und objektivem Äußeren, wenn es heißt: „Selbst die letzten Worte der Dame, die er sich nicht recht zu deuten wußte, beängstigten ihn sonderbar — da sagte er leise aus tiefstem Grunde der Seele: ,Herr Gott, laß midi nicht verlorengehen in der Welt! 4 " und nun überträgt sich dieser Kampf scheinbar nach außen; wenn der Erzähler fortfährt: „Kaum hatte er die Worte innerlichst ausgesprochen, als sich draußen ein trüber Wind, wie von dem herannahenden Gewitter, erhob und ihn verwirrend anwehte. Zu gleicher Zeit bemerkte er an dem Fenstergesimse Gras und einzelne Büschel von Kräutern, wie auf altem Gemäuer. Eine Schlange fuhr zischend daraus hervor und stürzt mit dem grünlichgoldenen Schweife sich ringelnd in den Abgrund hinunter" (1178). 8 Literaturwissensdiaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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Neben den erneut verwendeten Vergleichen reduziert der Dichter den Wirklichkeitsgehalt des über die „Naturvorgänge" Gesagten an dieser Stelle noch durch einen anderen Kunstgriff: Eichendorff gibt im entscheidenden Moment die objektive Erzählperspektive auf, und das wunderbare Geschehen der Veränderung der Umwelt und der Natur wird aus der subjektiven Perspektive des dazu noch aufgeregten Helden berichtet. Entscheidender ist aber noch, daß der Dichter diese Mitteilungen über die „Naturereignisse" in ihrem Objektivitätsgehalt durch den Freund Fortunato weiter aufhebt, als dieser später die Situation der „geheimnisvollen" Nacht auf Florios Frage ganz unterschiedlich beschreibt: „,Und habt Ihr nichts Erschreckliches gesehen?' — ,Nidits', sagte der Sänger, ,als den stillen Weiher und die weißen rätselhaften Steine im Mondlicht umher und den weiten unendlichen Sternenhimmel darüber'" (1184). Abgesehen davon, daß auch Fortunato die Natur nicht objektiv erfassen kann — er verwendet wie Florio gerade unpräzise Charakterisierungen, wie „rätselhaft" und „unendlich" — hebt der Dichter den Widerspruch zwischen beiden Erlebnisschilderungen keineswegs auf und deutet auch nicht an, daß es sich bei Florios Erlebnis nur um eine subjektive Haluzination handelte. „Alle schwiegen, . . . " (1184), heißt es weiter. Wir erfahren nichts darüber, wer von den beiden die Natur in jener entscheidenden Nacht objektiv erlebt hat, nur eins ist jetzt deutlich: ohne daß sich die Natur selbst entschleierte, wird sie zum Projektionshintergrund der Seele und ihrer Bewegungen12. Eichendorff hat sich im ,Marmorbild' also von der Natur- und Identitätsphilosophie, die die Werke der Frühromantiker entscheidend mitprägte, und damit auch von einer Art der Naturdarstellung, wie wir sie bei Tieck fanden, entfernt. Waren dort die objektiven Entwicklungsstadien der Natur und des Geistes und ihr Verhältnis zueinander durchaus auch hinter dem den Menschen verwirrenden Konflikt, den Tieck im ,Runenberg' darstellt, als objektiv vorhanden und erkennbar vorausgesetzt worden, so werden bei Eichendorff sowohl die Seite des Objekts, der Natur, wie die des Subjekts, der Seele des Helden, verunsichert und ins bloß Vergleichbare, Gespiegelte, das sich präziser Erfassung entzieht, entrückt. Ein objektiv nachprüfbares Entwicklungsgesetz zur Beschreibung der Natur oder ein Erkenntnisprinzip des sich selbst in der Natur objektiviert findenden Geistes, das als Maßstab auch hinter dem Tieckschen Märchen mit seinen oft das Schaurige in den 12 Das „Naturbild" als „gleichzeitig Spiegelbild der Seelenlage des Betrachters" bei: Alfred Riemen , Eichendorffs Garten und seine Besucher, in: Aurora 30/31 (1970/71), S. 23 - 33. Zu ähnlichen Ergebnissen unter dem Aspekt der Rezeptionstheorie kommt neuerdings auch Paul Mog, Aspekte der ,Gemüterregungskunst' Joseph von Eichendorffs. Zur Appellstruktur und Appellsubstanz affektiver Texte, in: Gunter Grimm (Hg.), Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke, Stuttgart 1975, S. 196 - 207.

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Vordergrund stellenden Elementen immer noch greifbar blieb, ist für Eichendorff nicht mehr verbindlich. Gerade dadurch wird bei ihm aber Natur so häufig mit Bildern aus dem Bereich des Psychischen und umgekehrt die Seele und das Gemüt des Helden mit Bildern aus der Natur gezeichnet. Sicher liegt hier ein Grund für den trotz oder gerade wegen aller „Formelhaftigkeit" der Naturdarstellung immer wieder von der Forschung herausgestellten Reiz der Dichtung Eichendorffs, die sich gerade der allzu voreiligen spekulativen Auflösung und präzisen „Sinndeutung" immer wieder entzieht 13 . Eichendorff ging es auch gar nicht in erster Linie um das, was noch für Tieck das entscheidende Problem war, nämlich die von der damals aufblühenden Naturphilosophie aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Geist und Natur. Für ihn wird die Beziehung von Seele zu Natur oder Landschaft schon zur Konvention, ohne dem tiefen, der idealistischen Philosophie verbundenen Hintergrund noch verpflichtet zu sein. Der Bereich der Natur hat im ,Marmorbild' in erster Linie Verweischarakter für das wesentliche Problem, das Beller in Florios Venus-Idol als der „Allegorie der romantischen Göttin Dichtkunst" überzeugend nachgewiesen hat 14 . Der Bereich der Natur ist für ihn, ganz anders als für Tiecks Bearbeitung des Venus-Motivs, zur Funktion für Probleme geworden, die nach 1810 in Eichendorffs Umgebung mehr und mehr in den Vordergrund treten und dem Grenzbereich von Religion, Ethik und Ästhetik verbunden sind. IV. Lag bei Tieck der entscheidende Konflikt hinter dem mehr im Vordergrund stehenden erotischen Venus-Motiv in der Problematisierung des Verhältnisses von Natur und Geist, so steht hinter Eichendorffs Bearbeitung des gleichen Motivs ein Problem aus dem Bereich der Kunst und des Künstlertums. Auch er setzt — ähnlich wie Tieck das unter Aufspaltung der Schellingschen Naturphilosophie in zwei konkurrierende Bereiche getan hatte — zwei Epochen der Kunst — die der klassischen Mythologie verpflichtete und eine mehr von christlichen Anschauungen bestimmte Welt des Poetischen — im Kampf um den Helden gegeneinander15. Das Problem der Schönheit hatte bei Tieck im Zusammenhang mit dem Venus-Motiv noch keine sehr entscheidende Rolle gespielt. Hier hatte sich dieser Bereich in der mehr formelhaften, an der Uberlieferung orientierten 13 Hier sei vor allem an die Arbeiten von Kohlschmidt, 1. c. und Richard Alewyn, Eine Landschaft Eichendorffs, in: Euphorion 51 (1957), S. 42-60, jetzt in: R. A., Probleme und Gestalten. Essays, Frankfurt 1974, S. 203 - 231, erinnert. 14 Beller, S. 136. 16 Dazu Beller, S. 137-141.

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Beschreibung der Schönen vom Runenberg erledigt. Die Sehnsucht des Helden richtet sich, den entscheidenden Tendenzen der Novelle entsprechend, auch mehr auf die Schätze der anorganischen Welt. Die Schöne ist nicht wie Eichendorffs Venus narzistisch in ihr eigenes Bild verliebt; Spiegel-, Echomotiv und Selbstdarstellung in den sie umgebenden Bildern fehlen. Ihre Rolle liegt eindeutig in der mit priesterlichen Worten — „Nimm dies zu meinem Angedenken" (224) — charakterisierten Mittlerfunktion zwischen vororganischer Welt und dem Helden, wie es ihr betörendes, magische Kräfte evozierendes Lied über die herrlichen Steinwelten und der Höhepunkt der Begegnung, die Überreichung der magischen Tafel mit edlen Steinen an Christian, verdeutlichen 16. Die Sehnsucht nach den Steinen und Metallen, nicht so sehr nach der Schönen, ist von da an der entscheidende Antrieb bei Christian. Ganz anders liegt das Problem bei Eichendorff. Hier rückt gerade die Darstellung der schönen Venus und ihrer Umgebung in den Mittelpunkt. Das Motiv der narzistisch in sich selbst verliebten Schönheit ist hier beherrschend. Die Herkunft und die Funktion dieses Topos in der Märchennovelle sind vor allem seit der Arbeit Bellers, die die ältere Literatur zu diesem Problem aufgearbeitet hat, hinreichend geklärt 17 . Motive des Spiegels, des Kreises, des Echos (1175), des Schleiers (1176), der Selbstdarstellung in der Kunst (1177), die die Venus-Figur umgeben, charakterisieren immer wieder den Bereich dieser Schönheit, die sich selbst genug, jede Frage nach einer über sie selbst hinausweisenden Bedeutung kategorisch an den Fragenden zurückgeben muß: „Kühn und vertraulicher bat er sie nun, sich nicht länger zu verbergen oder doch ihren Namen zu sagen, damit ihre liebliche Erscheinung unter den tausend verwirrenden Bildern nicht wieder verlorenginge. ,Laßt das4, erwiderte sie träumerisch, ,nehmt die Blumen des Lebens fröhlich, wie sie der Augenblick gibt, und forscht nicht nach den Wurzeln im Grunde, denn unten ist es freudlos und still 444 (1170). Ständig hebt der Dichter die tödliche Gefahr einer Bindung an diese verführerische Schönheit hervor, vor allem durch Hinweise auf ihren proteushaften Charakter, der bei Ermangelung einer erkennbaren tieferen Beziehung, wie von der Schönen schon selbst angedeutet, jederzeit als hinter aller Pracht erscheinende, bedrohlich empfundene Leere, ja Todverfallenheit, begegnen kann. So heißt es z.B.: „Als er wieder aufblickte, schien auf einmal alles wie verwandelt . . . das Venusbild, so fürchterlich weiß und regungslos, sah ihn fast schreckhaft mit den steinernen Augenhöhlen aus der grenzenlosen Stille an. Ein nie gefühltes Grausen überfiel da den Jüngling44 (1158), oder: „ . . . denn es war ihm, als stände die Dame starr, mit geschlossenen Augen und ganz 16 17

Dazu auch Lindemann , S. 267 - 271. Beller , pass.

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weißem Antlitze und Armen vor ihm — " (1178), um nur einige Stellen herauszugreifen. Diesem zwar immer blendenden und zauberischen, aber doch jeder ins Transzendente verweisenden Bedeutungserklärung sich entziehenden Schönheitsideal steht im Kampf um die Seele des Helden ein durch dessen Freund Fortunato verkündetes „frommes" Ideal entgegen, ähnlich wie auch bei Tieck die fromme Ebene und der wilde Berg um die Seele des Helden ringen. Schon in seiner äußeren Erscheinung ist Fortunato als Gegenbild zur verführerisch schönen Venus konzipiert. Mit den strahlenden, allerdings sich auch immer wieder ins Leblose verwandelnden Augen der Venus kontrastieren seine „großen, geistreichen Augen" (1147), oder seine „frommklaren Augen" (1151) 18 , die auf tiefere Dimensionen in diesem Menschen schließen lassen. Entsprechend tritt er als der besonnene Warner vor dem Bereich der schönen Venus seinem verblendeten Freund Florio gegenüber (1148, 1156, 1160 usw.). Sein Gesang, der Florio schließlich rettet, ist im Unterschied zu den verwirrenden und verführerischen Gesängen aus dem Garten der Venus als „ein klarer, kühler Strom" (1178) charakterisiert. Seine Kunst ist nicht im Rausch erzeugt und verwirrend, sondern von der „spröden Lustigkeit des Sängers" (1151) ist die Rede, und selbst auf dem Maskenball wird ausdrücklich von seinem Tiefsinn hinter all dieser äußerlich bleibenden „Lustigkeit" gesprochen: „Besonders hatte Fortunato sich diesen Abend mehreremal verkleidet und trieb fortwährend seltsam wechselnd sinnreichen Spuk, immer neu und unerkannt und oft sich selber überraschend durch die Kühnheit und tiefe Bedeutsamkeit seines Spieles, so daß er manchmal plötzlich still wurde vor Wehmut, wenn die anderen sich halbtot lachen wollten" (1169). Seine Warnungen an den gefährdeten Florio im Gespräch und in Liedern, die Eichendorff stets an entscheidenden Punkten ausspricht, machen ihn zum durch Rationalität, Reflexion und Tiefsinn ausgezeichneten Gegenspieler der gefühlhaft bannenden und magisch verführerischen Schönheit und Erotik der Venus und ihres Gefolges. Diese Charakterisierung Fortunatos ist auch die überzeugende Basis für seine Theorie des Poetischen und der Funktion der Kunst, die dem letztlich vordergründig und flach gezeichneten, trotz aller Magie ohne faßbare Tiefe bleibenden Schönheitsbereich der Venusgesellschaft entgegengesetzt ist. Formuliert wird dieses Kunstideal gegen Ende der Märchennovelle, als Fortunato mit Florio über dessen Erlösung durch sein in der Nacht der entscheidenden Ereignisse im Garten der Venus gesungenes frommes Lied spricht: „Ich sang ein altes, frommes Lied, eines von jenen ursprünglichen Liedern, die wie Erinnerungen und Nachklänge aus einer heimatlichen Welt durch das 18

Ähnliche Stellen auch noch: S. 1155 und 1166.

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Paradiesgärtlein unserer Kindheit ziehen und ein rechtes Wahrzeichen sind, an dem sich alle Poetischen später in dem älter gewordenen Leben immer wiedererkennen. Glaubt mir, ein redlicher Dichter kann viel wagen, denn die Kunst, die ohne Stolz und Frevel, bespricht und bändigt die wilden Erdengeister, die aus der Tiefe nach uns langen" (1184). Hier mischen sich zunächst verschiedene, vor allem aus der Epoche der Eichendorff wohlbekannten Frühromantik 19 stammende Motive. Die Idee des Goldenen Zeitalters — „die heimatliche Welt" und das „Paradiesgärtlein unserer Kindheit" — das zwar für die Gesellschaft, und mit der Kindheit auch für jedes Individuum in seiner naiven Form verloren ist, aber doch immer zugleich auch Ziel für das Denken und Handeln der Menschen bleiben muß, war ein Hauptthema in der Poesie des Novalis gewesen. Auch das Motiv des Dichters, als des „Poetischen", des berufenen Vermittlers des Goldenen Zeitalters in der Gegenwart, war vor allem in den fragmenten' und im ,Ofterdingen' des Novalis, besonders aber auch in den ,Ideenc-Fragmenten Friedrich Schlegels vorgeprägt. Die Idee des Christlich-Frommen als Leitschnur für das Schaffen des Künstlers und die Vorstellung von einer Kunst, durch die über sie hinausweisende, an der Religion orientierte Werte vermittelt werden sollen und die sich daher auch „ohne Stolz und Frevel" — ohne die Ansprüche eines zum Selbstzweck gewordenen Ästhetizismus und Klassizismus — vor ihrer höheren und eigentlichen Aufgabe stets zu bescheiden habe, stammen aus den Malerviten der ,Herzensergießungen' Wackenroders und den Reflexionen und Gesprächen Franz Sternbalds und der Äbtissin in Tiecks Roman 20 . Von hier ausgehend entwickelte sich über Friedrich Schlegels Aufsätze in der ,Europa' und die religiösen Aktivitäten des Wien der Napoleon-Ära das synkretistische Programm der von dem Kreis um Friedrich Schlegel in Wien propagierten symbolischen Kunst, die jetzt die der Frühromantik entstammenden Elemente einer an einem durchaus offenen Religionsbegriff orientierten Kunst auf christliche, besonders katholische Überzeugungen übertrug und einengte. Der Einfluß dieses Kreises und seiner Kunsttheorie, unter deren bestimmenden Einfluß Eichendorff nach 1810 geriet, hat Fortunatos Erlösung verheißendes „Kunstprogramm" entscheidend geprägt 21. 19 Von Eichendorffs intimer Kenntnis der Frühromantiker und ihrer Werke zeugen seine späteren Studien zur Literaturgeschichte sowie seine biographischen Aufzeichnungen. Vgl. besonders seine Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands von 1857. 20 Zur Herkunft dieser Motive und zu ihrer Bedeutung in der Frühromantik vgl. Lindemann , pass. 21 Erinnert sei hier an den Einfluß der Konvertiten und der Vertreter der Restauration in der Wiener Gesellschaft; so etwa Friedrich und Dorothea Schlegel, Görres, Kreutzer, Müller, Hofbauer, Loeben, um nur einige zu nennen, unter deren Einfluß der junge Eichendorff nach 1810 geriet. Vgl. dazu immer noch: Her-

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Von hier aus wird auch die leicht mißzuverstehende Selbsteinschätzung des Künstlers innerhalb der Gesellschaft, die Fortunato am Anfang der Novelle gibt, deutbar: „,Welches Geschäft führt Euch nach Lucca', fragte endlich der Fremde. ,Ich habe eigentlich gar keine Geschäfte', antwortete Florio ein wenig schüchtern. ,Gar keine Geschäfte? — Nun, so seid Ihr sicherlich ein Poet!' versetzte jener lustig lachend. ,Das wohl eben nicht', erwiderte Florio und wurde über und über rot. ,Ich habe mich wohl zuweilen in der fröhlichen Sangeskunst versucht, aber wenn ich dann wieder die alten großen Meister las, wie da alles wirklich da ist und leibt und lebt, was ich mir manchmal heimlich nur wünschte und ahnete, da komm ich mir vor wie ein schwaches, vom Winde verwehtes Lerchenstimmlein unter dem unermeßlichen Himmelsdom.' — Jeder lobt Gott auf seine Weise', sagte der Fremde, ,und alle Stimmen zusammen machen den Frühling'" (1147). Wieder wird die gegenwärtige Kunst an der Vorstellung einer idealisierten — den „alten großen Meistern" verpflichteten — Vergangenheit orientiert und wird zum Schluß wieder die Aufgabe des Künstlers in einer priesterlich vermittelnden Funktion gesehen. Darüber hinaus findet mit der zweimaligen Abgrenzung des Künstlers von den „Geschäften" aber eine Reflexion der Funktion und Position des Künstlers in der Gesellschaft der Entstehungszeit des ,Marmorbildes' statt. Deutlich wird hier das Ringen des Künstlers um ein neues Selbstverständnis in einer sich umformenden Gesellschaft, bei der er nicht mehr in ein ständisch orientiertes System und als höfischer Auftragskünstler eingeordnet war, ein Problem, das schon bei K. Ph. Moritz und im Berglinger-Roman Wackenroders eine entscheidende Rolle gespielt hatte 22 . Bei Eichendorff spiegelt die Antwort auf das Problem wieder den Einfluß und den im Grunde schon anachronistischen Lösungsversuch des Wiener Kreises um Friedrich Schlegel, der den Künstler zwar nicht mehr im erschütterten System des Ancien Régime als Auftragskünstler eingeordnet wissen wollte, sein Werk andererseits aber auch noch nicht als eines unter vielen anderen „Geschäften" in der bürgerlichen Gesellschaft entschlossen profanisieren und damit in die gesellschaftliche Wirklichkeit stellen wollte, sondern einen letzten Versuch unternahm, dem Künstler ein mann von Eidjendorff, Joseph Frhr. von Eichendorff. Sein Leben und seine Schriften. 3. Aufl., neu bearb. von Karl Frhr. von Eichendorff und Wilhelm Kosch, Leipzig 1923. Zur späteren Kunsttheorie: Eugen Thurnher, Eichendorff und Stifter. Zur Frage der christlichen und autonomen Ästhetik, Graz - Wien - Köln 1961, in: österr. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. KL, Sitzungsberichte 236, 5. Zur ersten Information über diesen Komplex auch: Paul Stöcklein, Eichendorff, rowohlts monographien 84, Reinbeck 1963. 22 Vgl. dazu: Hans Joachim Schrimpf, W. H . Wackenroder und K. Ph. Moritz. Ein Beitrag zur frühromantischen Selbstkritik, in: ZfdPh 83 (1964), S. 385 -409; Elmar Hertrich, Joseph Berglinger. Eine Studie zu Wackenroders Musiker-Dichtung, Berlin 1969.

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erhabenes Selbstverständnis zu retten und ihn, wenn schon nicht zum Priester einer neuen „Kunstreligion" 23 , wie es der frühe Schlegel noch geplant hatte, so doch immerhin noch zum Verkünder einer symbolischen Kunst im Dienste der christlichen Religion zu stilisieren 24. „Jeder lobt Gott auf seine Weise", formuliert auch Fortunato zum Schluß der kurzen Diskussion über den Künstler. V. Von hier aus ergibt sich noch ein Blick auf den Ausgang der beiden Märchennovellen. Tieck, der das Venusmotiv unter dem Einfluß des Schauerromans sowie der Ende des 18. Jahrhunderts einflußreichen Naturphilosophie konzipiert hatte, versuchte mit diesen Elementen und ihrer eigenwilligen Verknüpfung zum tragischen Ende des ,Runenbergs', den aufkommenden Tendenzen des Rationalismus und der empirisch nachprüfbaren und verfügbaren Wirklichkeitsbewältigung, sowie dem damit heraufziehenden, von ihm immer wieder als leer und flach charakterisierten und parodierten bürgerlichen Zeitalter 25 eine Welt der Innerlichkeit, sowie des Wunderbaren und Dämonischen entgegenzusetzen. Die in Verbindung mit dem Venus-Motiv vorgetragene spekulative Naturphilosophie und der von hier aus begründete Sieg, bzw. die Rache der Natur am „vernünftigen" Menschen, kann unter dieser Perspektive durchaus als verzweifelter Ausbruch aus der rationalen, damit für den Romantiker Tieck verarmten Welt des Bürgertums gesehen werden. Wenn dagegen Eichendorff hinter der Aufnahme des Venus-Motivs auch das Programm der symbolischen, an christlichen Uberzeugungen orientierten Kunst glaubhaft machen wollte, mußte sein Held den verführerischen Venusbereich und die damit in Verbindung propagierte „stolze" und sich selbst genügende, in einem bloßen Ästhetizismus aufgehende Kunstanschauung schließlich überwinden. Für ihn war das Dämonische aus der Perspektive eines inzwischen von der Spätromantik erreichten „christlichen" Standpunktes jedes positiven Aspekts entkleidet worden. Wie ein Nachklang der von den späten Romantikern längst nicht mehr verstandenen Naturphilosophie werden zum Schluß „die wilden Erdengeister, die aus der Tiefe nach uns langen" (1184), noch einmal beschworen, ohne daß das damit Gemeinte vom Dichter an einer Stelle des ,Marmorbildes' genauer charakterisiert würde, und sie, die bei Tieck noch unbestritten Sieger waren, wer28

Vgl. Lindemann. , S. 51 - 70. Unter diesem Aspekt ergäbe sich vielleicht auch eine Erklärung für das Problem der stets dem Adel entstammenden, ihm und seinen aristokratischen Lebensformen zumindest aber verpflichteten Künstler, nicht nur im ,Marmorbild 4. 25 Vgl. etwa die durchgehende Kritik des Bürgertums im ,Peter Lebrecht' und vor allem des „aufgeklärten" bürgerlichen Theaterpublikums im ,Gestiefelten Kater*. 24

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den ohne weiteres durch Fortunatos „frommes Lied" „besprochen" und „gebändigt". Bei Eichendorff wirkt die Naturphilosophie nur noch formelhaft nach. Dagegen war für Tieck, der im Kreise der Frühromantiker bis 1800 vom konfessionell gebundenen Christentum noch ganz unberührt war, das Dämonische in Verbindung mit den Spekulationen der Schellingschen Naturphilosophie noch ein unverbrauchtes, von jeder christlichen Verdammung freies Element, um zunächst einmal nur den Ausbruch aus der beengend erscheinenden, aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft, wie er sie im Berlin des ausgehenden 18. Jahrhunderts erlebte, noch ohne den Seitenblick auf das Eingehen einer neuen Bindung in der Kirche, zu gestalten. Bei den oft verblüffend ähnlichen, vom Venus-Topos mitbestimmten Motiven haben so beide romantischen Dichter die Gestaltung und Funktion des zentralen Motivs in ihren Märchennovellen völlig anders konzipiert und unter dem Einfluß jeweils aktueller Tendenzen der zeitgenössischen Philosophie, bzw. Theologie und Ästhetik, allerdings auch vor dem Hintergrund einer beiden Romantikern suspekten, sich etablierenden bürgerlichen Gesellschaft, zu neuem Leben erweckt.

ZUR „ T R I V I A L I T Ä T " I N EICHENDORFFS ,MONDNACHT* Von Friedrich Nemec Mondnacht Es war, als hätt' der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blüten-Schimmer Von ihm nun träumen müßt*. Die Luft ging durch die Felder, Die Aehren wogten sacht, Es rauschten leis die "Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.

Theodor W. Adorno erinnert in seinem Vortrag ,Zum Gedächtnis Eichendorffs' ein Erlebnis aus seiner Gymnasialzeit: „wie ein Lehrer, der auf mich bedeutenden Einfluß ausübte, mich bei den Zeilen ,Es war, als hätt' der Himmel / Die Erde still geküßt', die mir so selbstverständlich waren wie Schumanns Komposition, auf die Trivialität des Bildes aufmerksam machte. Ich war unfähig, der Kritik zu begegnen, ohne daß sie midi doch recht überzeugt hätte, wie denn Eichendorff allen Einwänden preisgegeben ist" 1 . Daß das „Gedächtnis Eichendorffs" Bilder der Trivialität zum Vorschein bringt, führt Adorno zur Feststellung, Eichendorff sei nicht „immun gegen sein Schicksal". In dieser Wendung ist noch ungesdiieden, wo denn der Grund solcher Aussage zu suchen ist, am Gegenstand selber, am Kritiker oder am geschichtlichen Status, in dem Gegenstand und Kritiker einander konfrontiert sind. Ist die Trivialität des hier kritisierten Bildes dem Mißbrauch geschuldet oder der Abgebrauchtheit, die sich im Zuge der Rezeption romantischer Lyrik einstellte; oder dem rezipierenden Kritiker selbst, der fremdes Mißverständnis nicht vom eigenen Verständnis des Gegenstands zu trennen in der Lage ist; oder ist sie eine Eigenschaft des Gedichtes selbst, 1

Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur I. Frankfurt: Suhrkamp 1958. S. 108 ( = Bibliothek Suhrkamp 47).

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durch die es sich der Kritik aussetzt, oder durch die es wenigstens falsche Aufnahme nahelegt? Woran vor allem wäre Trivialität mit Bestimmtheit wiederzuerkennen? Handelte es sich um eine Vorstellung, wie sie alltäglich produziert, auf dem Marktplatz öffentlicher Meinungen verhandelt und dann zum privaten Genuß zubereitet würde? Oder wäre es die exklusivere Ware der mythologischen Vorstellung des hieros gamos, durch die hier der einfache Naturvorgang seiner Alltäglichkeit überhoben würde; wäre hier an die Stelle der konventionellen Floskel der konventionelle Tiefsinn des esotherischen Genießers getreten? Wenn überhaupt, dann ist sein Verhältnis zur Trivialität am Gegenstand selbst zu bestimmen. Versuchen wir deshalb, uns auf eine Diskussion seines Zusammenhangs einzulassen. Das Gedicht scheint eine musterhafte Vorstellung dessen abzugeben, was dem gesunden Menschenverstand als das unmittelbar Verständliche gilt. Der philologisch Vorgebildete könnte dies auch noch poetologisch legitimieren und mit der Intention romantischer Dichtung überhaupt zu verknüpfen suchen, etwa durch den Hinweis auf Hellingraths Überlegungen zur Technik der glatten Fügung 2. Ein Blick auf die Handschrift würde freilich dem oberflächlichsten Betrachter sagen, daß die Fügung dieses Gedichts gegen den Anschein dem Dichter bei der Abfassung nicht so problemlos von der Hand ging; und ein zweiter Blick könnte ihm bei der Lektüre auch des gedruckten Gedichts eröffnen, daß es eine Reihe von, wenn nicht harten, so doch erstaunlichen Fügungen enthält, die es als Zusammenhang von Vorstellungen und Gedankengängen dem unmittelbaren Verständnis sperren. Da ist das „So" am Ende der zweiten Strophe, das die einfache Reihe der vorangehenden Zeilen grammatisch paradox abschließt, — der Wechsel von Konjunktiv und Indikativ und die damit verbundene zeitliche Doppeldeutigkeit, — der dem Metrum widersprechende Beginn des zehnten Verses, — sowie die Strophenfolge selbst, die sich nicht selbstverständlich erklärt; zuerst aber die Oberschrift, deren Vorstellung nicht unmittelbar im Gedicht wieder aufgenommen wird. Der Titel ,Mondnacht' zeigt als dem Gedicht vorausgesetzter allgemeiner Rahmen die Zusammensetzung zweier Vorstellungen; sie sind allgemein, d. h. von besonderen Zusammenhängen absehend. Als solcher ist der Titel zunächst Grundlage und thematisches Material der im Satzzusammenhang des Gedichts hergestellten Bedeutungen. Insofern er für sich ohne differenzierte Bedeutung ist, gibt er zunächst den vom Gedichtzusammenhang noch unabhängigen Vorstellungen des Lesers die allgemeinste Fassung. Das Zufällige subjektiver Assoziationen und Erfahrungen ist in ihm aufgehoben. 2 Vgl. Norbert Hellingrath: zu einer Erstausgabe. Jena 1911.

Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena

Zur „Trivialität" in Eichendorffs ,Mondnacht4

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Er stellt sich sozusagen als der Wechselrahmen dar, dem jeder seine besonderen Vorstellungen einfügen kann. In seinem Fortgang gibt das Gedicht freilich der Subjektivität des Verfügens immer weniger Raum, sein Fortschritt besteht geradezu darin, diesen Raum immer mehr einzuengen und schließlich aufzuheben. Sehen wir dem genauer zu. Wie eine einfache Erzählung oder ein Märchen beginnt das Gedicht mit „Es war", kündigt den Bericht eines wirklichen oder fingierten Ereignisses an, eine Erinnerung. Erinnert werden freilich nicht Gegenstände der Wahrnehmung oder Vorstellung, sondern was weder wahrgenommen noch vorgestellt, nur im Irrealis mitgeteilt werden kann („als h ä t t , u ) 3 ; es hat nicht die objektive Gewißheit von Wahrnehmung und deren Vorstellung, sondern nur die einer vermittelt sich Ausdruck verschaffenden Empfindung; sie wird übertragen (Metapher) in das Bild zweier als Personen vorgestellter, vergeistigter Naturerscheinungen (Himmel und Erde), die in ihrer Zuordnung noch der allgemeinen Vorstellung nach das Verhältnis von Geist und Materie versinnlichen. Daß sie sich „still" vereinigt haben sollen, unterstützt die Bedeutung des Konjunktivs: was wirklich geschah, war der Wahrnehmung entzogen. In den beiden folgenden Zeilen wird neben der inhaltlichen die zeitliche Bestimmung des Vorgangs verdeutlicht: die erinnerte Empfindung („war") wird als gegenwärtig vorgestellt („nun"). Dies ist bedeutsam für die Auffassung des „Daß" als konsekutiv, eine Folge zeitigend, oder final, eine Absicht anzeigend. Der gegenwärtigen Empfindung („nun") der Erinnerung („war") erscheint das Ereignis „träumen" als Folge, „Daß" scheint konsekutiv; während die Vorstellung eines vergangenen Ereignisses das „träumen" als beabsichtigt erscheinen läßt, die Folge ist Folge einer Absicht: „müßt'" 4 . „Blüthen-Schimmer" stellt als Wortverbindung die Einheit von Deutlichkeit der Erinnerung und Irrealität des Erinnerten vor. Die zweite Strophe zeigt zunächst die Erinnerung den Vorstellungen von Naturbewegungen folgend. Nicht der Traumvorgang, der „nun" eingeleitet und dessen Vorstellung erwartet wird, sondern die wirkliche, gleichzeitig vor sich gehende Bewegung des Träumers (Erde) wird vorgestellt. Die Erinnerung folgt dem Erinnern der Bewegung. Die Reihe der Bewegungen, die hier vorgestellt werden, zeigt sich unmittelbar bestimmt durch einzelne Subjekte (Luft, Ähren, Wälder), mittelbar — als Reihe — durch deren erstes veranlaßt: die Luft, die die Felder und Ähren bewegt und die 8 Unterstellte man hier einen Bezug auf die geschichtsmythologischen Vorstellungen der Romantik, dann wären diese durch den Irrealis kritisiert. 4 Die Ungeheuerlichkeit der Konstruktion mag man sich vor Augen halten in der Aufhebung der durch den Vers bedingten Elision des e: eine beiläufige Unterschiebung des Indikativs „mußt'" wäre unmöglich.

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Wälder leis rauschen macht; schließlich aber, am erwarteten Abschluß der Reihe, scheint sich unerwartet das letzte, unbewegte Subjekt, die starnklare Nacht, als die eigentliche Bedingung der Bewegungen zu erweisen: „So sternklar" — daß. Die letzte Zeile ist der ideelle Anfang der Strophe. Die Emphase dieser Zeile durch die sie offensichtlich aus dem syntaktischen Zusammenhang hervorgehoben ist, widerspricht dem nicht etwa: gerade durch das Hervorheben der Unmittelbarkeit der Empfindung ist auf die vermittelte gegenständliche Bedingung des Vorgangs der Erinnerung verwiesen. In diesem wird die natürliche Metaphorik der sich selbst bewegenden Naturerscheinungen (sie erscheinen personifiziert) rückgängig gemacht (Rückübertragung). Der Vorgang der Bewegung erscheint als Rückgang zum eigentlichen Anlaß. Aber auch dieser, die sternklare Nacht, mit der auch der Titel eingeholt scheint, ist es nicht, sie gibt vielmehr nur die äußerliche Bedingung der Wahrnehmung. Das wirkliche Subjekt ist in der ersten Strophe vorausgesetzt: die Erde zeigt sich bewegt, weil sie bewegt träumt, sie träumt bewegt, w e i l . . . Was als reale Ursache erscheint, ist nur als Folge der vorausgesetzten, aber der Wahrnehmung entzogenen Bewegung des Geistes zu denken. In der dritten Strophe bringt sich das Subjekt der Erinnerung selbst in Erinnerung. Was es nun vorstellt, sind nicht die Äußerungen der in die Erinnerung ,träumend' versunkenen Erde, sondern geistige Reaktion auf die Erfahrung des erinnerten Naturvorgangs, das Verständnis des Vorgangs der Erinnerung. Als geistige Reaktion auf die ,gleichsam' der Physiognomie der Natur abgelesene Bewegung des Geistes ist sie Handlung im übertragenen, metaphorischen Sinn. Als solche steht sie auch der natürlichen Bewegung, wie sie der metrischen Bewegung des Rhythmus bisher entsprach, entgegen: das anfängliche Fehlen der Akzente in der ersten Halbzeile der dritten Strophe und die beiden leichten, einander steigernden in der zweiten bereiten die entschieden gegenmetrische Anfangsbetonung des „Weit" vor; die „Seele" hebt hier dem Gestus nach die natürliche' Bewegung auf, wie sie die natürlichen' Grenzen des Verses im Enjambement „spannte — Weit" übergreift. Daß in den Rahmen dieses Bildes nun die Vorstellung der beflügelten Seele eingeführt wird, damit ist ausdrücklich auf die Nähe des hier vorgestellten Zusammenhangs von Gedanken zur platonischen Mythologie verwiesen. Die den Anfang zitierenden und wiederholenden Schlußzeilen des Gedichts lassen vollends die Bedeutung der dieses Gedicht beherrschenden Metaphorik klar werden: „Flog" meint den Weg zurück durch die Vorstellungen der in der zweiten Strophe dargestellten Wahrnehmungen und die Bilder der ersten Strophe (dabei zeigt „stillen Lande" die Umkehrung von „Erde still", „Haus" verweist auf den „Himmel"); „Als flöge" bezeichnet die eigentliche Rückkehr zur Bestimmung der ersten Strophe.

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Werden mit dem ans Ende gesetzten Konjunktiv Wirklichkeit und Traum wieder geschieden, deren Einheit das Gedicht als wirklichen Traum vorstellt, — so daß sich der Traum als unwirklich erwiese? Oder soll damit umgekehrt die Wirklichkeit als Täuschung gegenüber der höheren Realität des Traums denunziert sein? Wäre es die Enge der in der Scheinwelt der Erde zum Verweilen gezwungenen Seele, die hier beklagt würde? Aus dem, was sich hier im Gedicht als der Vorgang der Übertragung darstellt (die konkrete Metapher im Gegensatz zu der aus dem Arsenal der Rhetorik stammenden Formel oder aber dem abstrakten Archetypus des hieros gamos) wird deutlich: der Konjunktiv ist nicht etwa nur Ausdruck des in seinen Vorstellungen befangenen Skeptikers, dessen positive Tätigkeit hier im Gebrauch des Unsagbarkeitstopos bestünde5, er ist Ausdruck einer genauen metaphysischen Konzeption und hat den Charakter der Bejahung. Ihr entsprechend befolgt der Autor in seiner Dichtung, deren besonderer Gegenstand der Gegenstand der Religion, d. h. ein Reich ,niciit von dieser Welt', sein soll 6 , das Gebot des alten Testaments: „Du sollst dir kein Bildnis und Gleichnis machen"; und zwar dadurch, daß er die Vorstellung des Kusses, den der Himmel der Erde gibt, als übertragene Vorstellung durch den Konjunktiv kennzeichnet und aufhebt. Die wirklichen Erscheinungen der Natur (Str. II) und die Vorstellung des Verhaltens von Himmel und Erde (Str. I), sowie diejenige des geistig reagierenden Dichters (Str. I I I ) sind wie die Schattenbilder von Piatons Höhlengleichnis nur die negative Darstellung dessen, was als das Positive im Bild nicht geschaut werden kann. Wesentliches Kriterium für die Einschätzung des Gedichts ist die Erkenntnis seiner Metapher. Sie allein erlaubt den Ansatz eines Urteils über seinen Umgang mit trivialen Vorstellungen. Ehe wir uns nun eingehender mit dem zu Anfang zitierten Vorwurf der Trivialität beschäftigen, sehen wir uns die Handschrift dieses Gedichts genauer an. An ihr wird, freilich erst auf Grund der Erkenntnis des fertigen Gedichts, deutlich, daß die Kritik der Trivialität nicht nur ein Moment der Rezeption, sondern eines des Gedichtes selbst ist 7 . 5

Der Konjunktiv wäre dann Potentialis. Indem Eichendorff dies Gedicht in eine Folge geistlicher Lieder einreiht, bezieht er sich auf die spezifische Gegenständlichkeit des Gedichts. 7 Konventionelle Motive und sprachliche Klischees sind, wie erst kürzlich von Wolf gang Frühwald dargestellt wurde (in seinem Vortrag: „Der Philister als Dilettant. Anmerkungen zu den satirischen Texten Joseph von Eichendorffs", gehalten auf der Jahresversammlung der Eichendorff-Gesellschaft vom 26. - 28. September 1974 in Regensburg), stoffliche Voraussetzung und Gegenstand von Eichendorffs Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Kritik der subjektivistisdien bzw. dilettantischen Kunstrezeption und Kunstproduktion der Philister. Mit der Verwendung solcher Vorstellungen in der ,Mondnacht* hat sich u. a. Klaus-Dieter Krabiel beschäftigt, dessen Deutung weiter unten zur Debatte steht. 6

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Der erste Eindruck, den die Handschrift gibt, ist nicht der trivialer Problemlosigkeit, sondern der mühevoller Arbeit; aber nicht etwa die Bemühung, Probleme beiseitezuschaffen oder zu umgehen, sondern sie zu überwinden, haben die Spuren an diesem Werkstück hinterlassen. Was ist das Besondere der Problematik, der Grund der Schwierigkeiten, die dem Resultat des Gedichts vorgelagert waren? Die zu oberst stehenden8, mit 1. und 2. nummerierten Strophenentwürfe, von denen „Mond" (Uberschrift), „Ich" (letzte Strophe), „Träume" und „Land" direkt und leicht verändert in die Endfassung übernommen wurden, haben zum Inhalt, was allgemein auch Gegenstand der zweiten Strophe ist: die Erinnerung an wahrgenommene Naturerscheinungen (1) und -bewegungen (2), die durch konventionelle Vorstellungen (Metaphern) verbunden („versunken") und triviale Reime („Funken/trunken") einander angepaßt werden sollen. Die ausgeführte und bewußt als Vergleich vollzogene Metapher („als finge") geht aus diesen konventionellen, den gewöhnlichen Umgang mit Naturerscheinungen charakterisierenden Bildern hervor. Die metaphorische Bedeutung ist der Wahrnehmung sozusagen dekorativ vom Subjekt angehängt worden, dessen Stimmung nach diesem Ausdruck verlangt. Dies erscheint im Konjunktiv „finge" noch reflektiert: nicht das Land fängt zu singen an, sondern der Dichter. Die Strophe, die offensichtlich der beschwerlichsten Arbeit unterworfen war, ist die zweite der Endfassung: davon zeugt die Unentschiedenheit der Nummerierung von 1 bis 3 — sie könnte also sowohl als Fortsetzung der verworfenen Strophen wie als deren Neufassung aufgefaßt werden —, darauf verweist auch, daß der Autor hier an der Arbeit blieb, um endlich zu einer seiner Intention genügenden Fassung zu kommen. Auch hier ist vom Prinzip der Darstellungsweise der verworfenen Strophen zunächst nicht abgegangen worden: von der zweiten wurde das Moment der Bewegung aufgenommen sowie der Vergleich („wie ein Singen"), von der ersten das Zuständliche, der Mond und sein natürlicher' Kontext, der Himmel, sowie das betrachtende Subjekt (das später allein als aktives in der dritten Strophe erscheint): also eine Synthese der verworfenen Strophen. Die Korrekturen reduzieren die Strophe auf die der gewöhnlichen Sprache eingeprägte Bildlichkeit, sie nehmen den Vorstellungen die sekundären symbolischen Verknüpfungen durch einfache Reihung, wobei sie die letzte paradox („so") anschließen. 8 Da eine detaillierte Darstellung der Handschrift (Berlin 14 b) in der von Wolfgang Krön besorgten kritischen Ausgabe der Gedichte erscheinen wird, kann ich mich hier auf die Wiedergabe der für die Deutung wichtigen Stellen beschränken. — Vgl. zum folgenden das Faksimile der Handschrift (Titelbild).

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Die Lösung des in dieser Strophe verborgenen Problems, die es schließlich ermöglichte, die letzte Strophe ohne Zögern niederzuschreiben, muß sich für den Autor aus der Konfrontation mit dem Problem der fast ebenso störungsfrei niedergeschriebenen Strophe, die schließlich die erste wurde, ergeben haben. Sie liegt in der Umkehrung des gewohnten Verhältnisses von Bild und Bedeutung, von deren Intensität es zeugt, wie die zunächst energisch vorgenommene Verwandlung des „Vielleicht: 2" in ein „Ja! Ja!" schließlich entschieden zurückgenommen wurde mit dem Vorsatz des Titels und der Nummer 1, sowie der Beifügung von „Geistl:[iches Lied]". Zeigte sich in der trivialen Form der ersten Entwürfe die Bedeutung nur als Unterstellung des Subjekts, so ist sie hier durch die erste Strophe als objektive Voraussetzung der Vorgänge vorangestellt. Der letzte Versuch (es ist zugleich der erste größere), den Zusammenhang dieses Gedichts darzustellen, stammt von K.-D. Krabiel 9 . Er legt wie es scheint nicht zufällig besonderen Wert darauf, hier im Uberschreiten verbrauchten Bildmaterials der Romantik (S. 45) Trivialität als getilgt zu erweisen10. Krabiel bemerkt zuletzt: „Nichts könnte nun für ein romantisches Gedicht fataler sein als die alltagssprachliche und völlig triviale Wendung ,nach Haus*. Wenn von ihrer Trivialität hier in der letzten Zeile der Mondnacht' nichts mehr zu spüren ist, so deshalb, weil die semantische Umgebung diese ,Heimkehr' eindeutig auf eine andere als die in der Sprache des Alltags gemeinte Heimat bezieht" (55/56). Sehen wir davon ab, daß etwa die alltägliche Wendung „heimgegangen" noch enthält, was Krabiel dem „nach Haus" absprechen möchte, und davon, daß das „immer nach Hause" von Novalis als vermittelte Vorstellung hier nicht mitgedacht ist, sowie davon, daß für eine Kritik der Trivialität nicht die Häufigkeit oder Alltäglichkeit der Verwendung eines Ausdrucks das entscheidende Kriterium sein kann (Erlesenheit wäre dann der Beweis des Gegenteils), verdienen die wesentlichen Argumentationen, die diesem Resultat vorausgesetzt sind, unsere Aufmerksamkeit; scheint er doch die „literarhistorischen Klischeevorstellungen vom subjektiven Gefühl" (S. 45) durch Erkenntnis des Gegenstands widerlegen und damit auch die solche 9 K.-D. Krabiel, Tradition und Bewahrung. Zum sprachlichen Verfahren Eichendorffs, Stuttgart: Kohlhammer 1973, S. 44-56 ( = Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur Bd. 28). 10 Im ,Schluß4 der ,Geschichte der Poetischen Literatur Deutschlands4 weist Eichendorff darauf hin, wie Heine mit dem gleichen Problem umging: „Die Zeit hat allgemach den Romantikern hinter die Karte geguckt und insgeheim Ekel und Langeweile vor dem hohlen Spiel überkommen. Das sprach Heine frech und witzig aus, und der alte Zauberbann war gelöst.44 (Neue Gesamtausgabe. Werke und Schriften in vier Bänden, Stuttgart: Cotta. Bd. IV. S. 405.)

9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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Einstellungen treffende Kritik der Trivialität, wie die von Adorno erwähnte, vom Gedicht abwenden zu wollen 11 . Wir richten unser Augenmerk besonders auf jene Stellen, an denen Krabiel die Aufhebung des Trivialen unmittelbar abhandelt, und auf jene, die sidi auf die entscheidende Umkehr der gewohnten Vorstellungen durch die ersten beiden Zeilen beziehen. Krabiels Erklärung dieser Stelle ist doppeldeutig. Durdi das Gedicht selbst zum Gebrauch des Konjunktivs verleitet, sagt er: „Das Bild im Irrealis tritt an die Stelle der sprachlichen Vermittlung erlebbarer Wirklichkeit, als sei der erlebte Augenblick unmittelbar nicht aussprechbar" (S. 45). Daß er es nach der Darstellung des Gedichts nicht ist, wird hier im analogen Konjunktiv gerade bestritten. Krabiel fährt fort: „Mit dem ,Es war, als hätt" verzichtet das Gedicht auf die direkte Benennung des empirisch Erfahrbaren", womit die Bemühung des Autors, seiner Darstellung die Form der Notwendigkeit zu geben, in subjektive Willkür („verzichtet") aufgelöst scheint, um freilich sogleich dagegenzusetzen, daß damit die „Möglichkeit" geschaffen sei, dasjenige, „dem keine Erfahrung entsprechen kann", „das nicht Sagbare, dennoch zu sagen". Daß mit diesem Hinweis der wesentliche Vorgang des Gedichts nicht ergriffen ist und in der Folge auch unbegriffen bleiben wird, machen uns die weiteren Ausführungen deutlich, sie machen uns zugleich die Doppeldeutigkeit begreiflich: „ M i t diesem bildhaften Vergleich im Irrealis ist gleichsam (!) noch einmal eine Ebene der Vermittlung zwischen die Wirklichkeit und ihre sprachliche ,Darstellung' eingeschaltet, die jede sprachliche Darstellung immer schon ist, (...) Sie ist im Inhalt des Bildes insofern faßbar, als dieser auf mögliche reale Vorgänge keine Rücksicht nimmt, sondern einen Vorgang setzt, dem außerhalb der Sprache in der Realität nichts entsprechen kann." Vermittlung als sprachliche Darstellung ist, wie uns hier zu verstehen gegeben werden soll, nicht das Aufheben einer unmittelbar vorgegebenen Trennung von Bewußtsein und Wirklichkeit, sondern als „sprachliche Darstellung" ist sie „zwischen" sich und die Wirklichkeit „eingeschaltet": die 11 Daß hier die Kritik eines den Gegenstand betreffenden wissenschaftlichen Textes nicht in die Anmerkungen versetzt, sondern im Text der Analyse des Gegenstands in aller Ausführlichkeit angeschlossen wird, ist also darin begründet, daß Krabiel das durch den Gegenstand gegebene Thema Trivialität gefunden und aufgegriffen hat, und darin, daß in seiner Darstellung verkehrte Romantikrezeption sich selbst zum Gegenstand hat: sie ist exemplarisch, weil in der Kritik der kritisierte Fehler wiederholt wird. Ihre Aufnahme in den Text empfiehlt sich aber auch deshalb, weil Krabiels Umgang mit dem Gegenstand für viele Interpretationen steht, die gegen ihre ausdrückliche Absicht willkürlich mit dem Gegenstand verfahren.

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Vermittlung ist abstraktes Mittel, das sich von dem was es vermitteln soll, und dem, wozu es vermitteln soll, trennend absetzt. Der Irrealis soll nun eine Verdoppelung dieses Abrückens von der Wirklichkeit sein. Damit verbindet sich das zweite Mißverständnis: die Wirklichkeit, von der die sprachliche Darstellung sich absetzt, ist in eins gesetzt mit der empirischen Realität („reale Vorgänge"), von der der Konjunktiv den entscheidenden Vorgang des Gedichts abgrenzt. Die Konsequenz dieser Verwechslung ist das dritte Mißverständnis: wenn Krabiel meint, dem hier dargestellten Vorgang entspräche nichts „außerhalb der Sprache", so macht er den als objektiv vorausgesetzten geistigen Vorgang zum Produkt der subjektiven Sprechtätigkeit des Autors. Die drei Mißverständnisse charakterisieren eine Vorstellungsart, gegen die der Autor mit dem Gedicht sich gerade abzusetzen versucht. Daß Krabiel sich über die Grundsätze seiner Deutung nicht mehr hinausbewegen kann, ohne sie zu widerrufen, wird auch an seinem Umgang mit den übrigen Teilen des Gedichts deutlich. Er läßt zwar, sieht man vom „Daß" und „nun" der ersten Strophe ab, keine Einzelheit des Gedichts unbesprochen, bleibt aber grundsätzlich bei der bloßen Feststellung beschränkter Assoziationen. Das Gedicht an die Stelle des Wirklichen setzend, kommt er nicht über das Fortlaufen an dessen Vorstellungen hinaus. Er sieht sich als Interpret dieses Gedichts auf der Suche nach der Bedeutung der Teile, aus der die des Ganzen zusammengesetzt sein soll, gezwungen, in den Vergleich mit benachbarten Gedichten oder in den lexikalischen, nach dem Kriterium der Häufigkeit erhobenen Sprachgebrauch bei Eichendorff überhaupt auszuweichen; er muß aber gleichzeitig feststellen, daß der Sinn sich nur im „Kontext der Mondnacht" (S. 48) erschließe. Ebenso mischt er die Beurteilung der Handschrift in seine Deutung des Gedichts mit ein, im Glauben, sie könne „bestätigen" (S. 46), was als bestimmter Sinn des Gedichts noch gar nicht hervorgearbeitet ist. Der einfache Grundsatz der Wissenschaft, daß Vergleich nur auf Grund vorangegangener Bestimmung des Gegenstands sinnvoll ist, kommt hier nicht zur Geltung. An den auf die Aufhebung des Trivialen bezogenen Stellen machen sich diese Fehler noch nachdrücklicher bemerkbar. Daß „,Himmel' und ,Erde'" nicht umgangssprachlich ,trivial' sind, verdanken sie der nicht bestimmten, wohl aber beschworenen „Klarheit und Durchsichtigkeit des mythologischen Bildes" (S. 47). „Blüthen-Schimmer" ist als „Neuprägung" (lexikalisch-quantitatives Argument) der Trivialität enthoben und durch die „Neigung Eichendorffs, an die Stelle der dinglichen Lichtquelle den verselbständigten, von seiner Quelle losgelösten Lichtreflex zu setzen" (S. 47) legitimiert; das Naturalistische der Hinweise auf die 91

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sachliche „,Unkorrektheit'" wird durch die die poetische Lizenz andeutenden Anführungszeichen dabei nicht getilgt, da die „Tendenz zur Entstofflichung", die er im Vergleich mit anderen Werken auch hier beobachten zu können glaubt, das Bild auf einer Vorstellungsebene beläßt, auf der Korrektheit durchaus angebracht wäre; zudem ließe sich mit gleichem Recht von einer ,Tendenz zur Verkörperung' sprechen. Aber auch auf der von Krabiel bezeichneten Ebene wäre Eichendorff noch Genauigkeit und Detailrealismus zu bestätigen, insofern das Phänomen „Blüthen-Schimmer" an mondhelle Nächte gebunden ist. Die Beurteilung der zweiten Strophe im Zusammenhang mit den handschriftlichen Veränderungen bewegt sich, was die Seite der Bedeutung betrifft, auf der Ebene der bloßen Versicherung, daß das Geschehen der ersten Strophe hier „doch in bestimmter Weise" fortwirke (S. 48); die wesentliche Kategorie ist dabei die der Intensität (50, 54 u. ö.) 12 . Was die gesondert vorgestellte Seite der sprachlichen Veränderungen betrifft, so versichert er uns hier einer „kaum zu überbietenden Schlichtheit" (er beobachtet sogar, wie Eichendorff um eine solche „geradezu ringt"), wobei uns als vorherrschende Absicht der Korrekturen durch den Dichter die ,Vermeidung' (S. 51) von „Monotonie" (S. 49), ,Unoriginalität' (S. 49) und »Banalität' (S. 51) durch grammatische (!) Raffinesse plausibel gemacht werden soll. Daß die wesentliche Tätigkeit eines Dichters nicht im Vermeiden von Trivialitäten bestehen und sein Werk aus der Bemühung um Erkenntnis resultieren könnte, davon scheint der Autor dieser Darstellung keine Idee zu haben13. Das Auseinanderfallen von Bedeutung und Sprachmaterial, wie das von Vorstellung des Wirklichen und Wirklichkeit des Vorgestellten, deren realer Zusammenhang im Gedicht Gegenstand der Darstellung ist, zeigt sich schließlich in einer Wendung, die sich auf die Uberschrift bezieht und bezeugen soll, daß das Gedicht über alle Trivialität hinaus sei: „Geistigkeit und Gewähltheit des Bildes der ersten Strophe" (S. 53) geben seiner Meinung nach erst dem „versatzstückhaften Motiv" des Mondscheins, wie den 12 Der einzige fruchtbare Ansatz für die Erkenntnis des Vorgangs dieser Strophe: die Feststellung der Verschiedenheit von wirklichem und grammatischem Subjekt in der zweiten Zeile (S. 49), wird wieder fallen gelassen. 13 Wozu überhaupt solch äußerliches Hantieren mit dem Material nötig sein soll, da die Veröffentlichung der kritischen Ausgabe der Gedichte bevorsteht, ist unerfindlich. Daß Krabiel gerade an der Stelle, an der er hätte textkritischen Scharfsinn beweisen können (Fixierung der endgültigen Strophenordnung) „guten Gewissens" (S. 52) voraussetzt, daß die „letzten Korrekturen nach der Niederschrift der dritten Strophe vorgenommen worden sind", statt zu erkennen, daß das Verständnis des Vorgangs Voraussetzung der Veränderungen sein mußte, gleichgültig was zuerst niedergeschrieben wurde: dritte Strophe oder Korrekturen der zweiten, macht seine Einbeziehung der handschriftlichen Fassung vollends überflüssig.

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„formelhaften Bildelementen" des Gedichts (zu denen wie gezeigt auch das Bild der ersten Strophe gehört) das Gepräge. Daß die ,Mondnacht* einer solch abstrakten Beteuerung nicht bedarf und für sie die erlesene Phrase ebensowenig Realität hat wie die konventionelle, haben wir deutlich gemacht. Dagegen muß sich auch die Analyse Krabiels die mit dem Gedicht gesetzte Kritik der Trivialität gefallen lassen. Ist das Gedicht gegen die Kritik seiner Trivialität als Kritik der Trivialität gerechtfertigt, so ist die Kritik des Gedichts selbst hier erst an ihrem Anfang, nachdem das seinen Zusammenhang bestimmende Kriterium, die Umkehrung der üblichen subjektivistischen Vorstellung, zur Erkenntnis gebracht ist. Erst an dieser Stelle läßt sich beurteilen, wie das Gedicht seinen Gegenstand als erkannten gefaßt hat. Als Substanz der Naturbewegungen und als das bewegende Subjekt des zur Darstellung gebrachten Naturvorgangs hat sich der im Bildnis und Gleichnis vorgestellte und im Konjunktiv der Vorstellung entrückte Geist erschlossen, und zwar erinnernd an das Höhlengleichnis Piatons, sowie entsprechend dem biblischen Verbot der Bilder. Gegenstand des Gedichts ist nicht die Trivialität, diese ist vielmehr nur Moment der Umkehrung und in der positiven Bestimmung des Gegenstands ausgeschlossen (so wie der Prozeß der platonischen Dialektik bloße Voraussetzung des Resultats ist). Dem entspricht, daß sich das Gedicht nicht unmittelbar als Kritik darstellt und von den möglichen Adressaten, den in trivialen Vorstellungen Befangenen (den Bewohnern der Höhle), als solche auch nicht aufgenommen würde. In der Form der Gesellschaftskritik als Philisterkritik äußert sich Eichendorff direkt in seinen zeitkritischen Aufsätzen. Daß diese Ausschließung der Trivialität in der Folge der trivialen, bildungsphilisterhaften Romantikrezeption umgekehrt zum gesellschaftlichen Ausschluß des im Gedicht manifestierten Wahrheitsgehalts führte (was zuletzt noch an Krabiel deutlich wurde), wird deshalb nicht verwundern; ja es kann sogar als Moment der Kritik an der Konzeption des Gedichts verstanden werden. Was sich hier als das Allgemeine, d.h. einfache und allen natürlichen Bewegungen, sowie der Gegenbewegung des einzelnen Menschen Gemeinsame am Material trivialer gesellschaftlicher Vorstellungen darstellt, hat selbst noch an sich, wozu es in negativem Verhältnis steht, die gesellschaftliche Partikularität: einmal insofern das Allgemeine in naturmythologischer und zugleich vom Mythos abstrahierender, abstrakter Form erscheint und dessen Beziehung zum Einzelnen als nur individuelle dargestellt wird, sodaß sie als gesellschaftliches Verhältnis von Allgemeinheit und geschichtlicher Situation außer Betracht bleibt; zum andern insofern auch die Umkehrung der subjektivistischen Vorstellungsart und Denkform in ihrer

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Einzelheit selbst noch den allgemeinen gesellschaftlichen Charakter erhält. Emil Staigers an Brentanos wie Eichendorffs Gedichten gewonnene Bestimmung des Lyrischen in den Grundbegriffen der Poetik': das Gedicht setze den vereinzelten, individuellen Leser seiner Intimität nach voraus, trifft auch hier, trotz des kritischen Moments des Gedichts, zu. Das Gedicht sperrt sich zwar der Einfühlung zunächst im „Es war, als hätt'" etc., produziert sie aber im Ganzen des Gedichts als spezifische, reflektierte Stimmung. In dieser Stimmung kann sich, ebenfalls im Sinne Staigers, der reflektierende vereinzelte Leser mit dem Autor eins wissen14. Adorno bemerkt in Anlehnung an Benjamin, Eichendorffs dichterischer Habitus stünde „,ostentativ im Gegensatz zu den Maximen, die er im öffentlichen Leben unnachsichtig vertritt'", und er fragt, ob sich darin „die Transzendenz zu einer bürgerlichen Gesellschaft ausdrücke, in der der Konservative nicht ganz domestiziert ist" 1 5 . Ein Gleiches würde auch für den Leser des Gedichts gelten. Nur daß sich in diesem Gegensatz ein immanentes Transzendieren, also immer noch das Wesen der Gesellschaft darstellt, auf die sich Eichendorff bezieht.

14 Daß Literaturkritik von einzelnen Gedichten nur selten versucht wird, ist ein empirisches Indiz für die Triftigkeit der Staigerschen Bestimmung und ein Verweis auf die Grenzen von Lyrik. 15 Adorno , S. 116.

ZUR GENETISCHEN STRUKTUR U N D POETOLOGIE DER PROSAENTWÜRFE EICHENDORFFS 1 Von Dietmar Kunisdi Jede Beschäftigung mit der Entstehungsgeschichte eines dichterischen Werkes, jede Arbeit an Handschriften, ihrer Entzifferung und Transkription, bis hin zur Konstituierung eines Textes und seiner kritischen Edition, führt — will man sich nicht von einem kritiklosen Positivismus, bzw. einem überhistorischen Genie- und entsprechend aufgewerteten Werkstattbegriff leiten lassen — zu der entscheidenden Frage nach dem Erkenntniswert solches in manchen Fällen schier unübersehbaren Materials. Ein Freiraum bezugsloser Selbstverständlichkeit der editorischen Hilfs-Wissenschaft — sollte es ihn je gegeben haben — läßt sich nicht mehr behaupten; die Frage nach dem Interpretationswert des überlieferten Befundes liegt bereits vor jeder editionstechnischen Überlegung, sie bestimmt diese und zugleich damit die notwendige Orientierung an den rezeptiven Interessen und ökonomischen Möglichkeiten der Gesellschaft. Die Erkenntnis der besonderen genetisch-strukturellen Merkmale des zu edierenden Werkes oder Werkbereichs, die Erkenntnis der dichter- bzw. gattungsspezifischen Qualitäten 2 des jeweiligen Entstehungsprozesses muß der Festlegung der Grundsätze einer adaequaten Transkriptionsform vorausgehen, damit im Hinblick auf die Effektivität einer solchen Ausgabe das Ziel der größtmöglichen „Kongruenz von Apparatmethode und ihrem Gegenstand" erreicht werden kann 3 . Ein Blick auf einige jüngst abgeschlossene oder erst begonnene Editionen mag diese einleitenden Überlegungen auf ihre realistisch-pragmatische Bedeutung zurückführen und zugleich einen exemplarischen Rahmen für eine erste abgrenzende Kennzeichnung der Merkmale Eichendorffsdier Prosa1 Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit editionstechnischen Vorüberlegungen zur Herausgabe der Novellen- und Memoirenfragmente im Rahmen der historisch-kritischen Eichendorff-Ausgabe (HKA). 2 Zu den Begriffen „dichterspezifisdi", „dichtungsspezifisch", „gattungsspezi^ fisch" vgl. Henning Boetius, Textqualität und Apparatgestaltung. In: Texte und Varianten (T. V.), hg. von Gunter Martens und Hans Zeller, München 1971, S. 223 ff. 3 Henning Boetius in: T.V., S. 223 u. Anm. 2.

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entwürfe abgeben. Die Herausgeber der ,Dichtungen und Briefe' Georg Trakls begründen ihr auf „vollständige Auskunft über die Entstehung seiner Gedichte" gerichtetes editorisches Verfahren damit, daß die bislang unbekannten Vorarbeiten zu den Gedichten „ein wesentlicher Teil des Werkes" seien4. Man hat — und auch das wird im ,Vorwort' begründendrechtfertigend zitiert — von Trakls gesamtem Werk als e i n e m Gedicht gesprochen. Idealfall einer historisch-kritischen Edition also: sie vermittelt einen Einblick in den komplexen inneren Zusammenhang eines Werkes, dessen Wachstumsprozeß vom Beginn an im Bereich intensiven poetischen Gestaltens liegt und einen entsprechend differenzierten editorischen Aufwand rechtfertigt. Ganz anders, nahezu entgegengesetzt, liegt der Fall der Frankfurter Brentano-Ausgabe, deren jetzt gedruckt vorliegende Editionsgrundsätze mit beachtenswerter Konsequenz dem unausweichlichen Spannungsverhältnis von Befund und Erkenntnis, von historischem und kritischem Interesse Rechnung tragen 5. Bei Brentano liegt offenbar eine so verfeinerte oder schon übersteigerte produktive Disposition vor, daß der schöpferische Prozeß vielfach „bereits nach der Niederschrift einzelner Buchstaben oder Wörter" einen Grenzwert erreicht, der sich dann in einer Häufung von Varianten, einem „Variantenlabyrinth" niederschlägt; Brentano ist ein „Dichter der Sofortkorrektur". Diese Erkenntnis wurde konsequent auf das editorische Verfahren angewandt. Da sich Brentanos überkonzeptionelle, nervös gesteigerte, atomistische Variantenbildung weitgehend der Interpretation entzieht, zugleich aber ein bändefüllendes Material darstellt, entschloß man sich zu einer reduzierten Wiedergabe des Befundes und verweist für ein weitergehendes Interesse auf das Brentano-Archiv des Freien Deutschen Hochstifts „als Bestandteil der historisch-kritischen Edition". Mit dieser Skizzierung zweier polarer Ausprägungen einer an Befund und Erkenntnis zugleich orientierten Editionspraxis bietet sich die Möglichkeit, die genetisch-strukturelle Kontur der Prosaentwürfe Eichendorffs unterscheidend hervorzuheben. Die Prosaentwürfe Eichendorffs — die „dichtungsspezifische" Einschränkung dieser Kennzeichnung, besonders im Gegensatz zu Entwürfen der Lyrik, muß noch einmal betont werden — sind weder poetisch-intensiv (Trakl), noch überkonzeptionell-impulsiv (Brentano), sie liegen vielmehr deutlich darunter in einem eher pragmatischen Werkstattbereich: sie sind einerseits inhaltlich-stofflich, andererseits 4

Georg Trakl, Dichtungen u. Briefe. Hist.-kritische Ausgabe, hg. von Walther u. Hans Sklenar, Salzburg 1969, Bd. I I , Vorwort S. 7 f. Clemens Brentano. Sämtliche Werke und Briefe. Editionsprinzipien und Abkürzungsverzeichnis. Stuttgart 1975 (Beilage zu Bd. 9,1 der FBA).

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Struktur und Poetologie der Prosaentwürfe Eichendorffs

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konzeptionell-planerisch bestimmt. Das Werk, das poetische Ganze, erscheint in ihnen allenfalls annäherungsweise in den beiden genannten Bereichen, nicht jedoch in einer schrittweise gesteigerten, gestalterisch-sprachlichen Ausformung, also einem wie auch immer gearteten, unmittelbar poetischen Prozeß. Wenn sich die Editoren der historisch-kritischen Mörike-Ausgabe „für die jeweils letzte Fassung" (vollständiger Druck oder vollständige Handschrift) eines Werkes als Textgrundlage entschieden, konnten auch sie sich auf eine „Eigenart der Entstehungsgeschichte" von Mörikes Dichtung berufen, die „durch ein auf Einzelheiten gerichtetes Ausfeilen des poetischen Ausdrucks charakterisiert" ist, das schon mit den frühesten Textzeugen einsetzt und, „wenn überhaupt, erst in den jeweils letzten Fassungen ein Ende findet" 6 . In der Arbeitsweise Eichendorffs spielt eben dieser immer wieder zu beobachtende Vorgang eine erstaunlich untergeordnete Rolle. Selbst in zusammenhängenden Niederschriften von Kapiteln oder Werkteilen, vor allem aber auch in den Entwürfen finden sich relativ wenige Korrekturen der sprachlichen Gestalt, jedenfalls nicht vergleichbar mit den hier herangezogenen Beispielen, zu denen als ein besonders markanter Fall auch die Arbeit an Stil und Ausdruck zu zählen ist, wie sie sich an Stifters handschriftlicher Druckvorlage zum ,Nachsommer' abzeichnet. Für den Erkenntniswert der Apparate zu Eichendorffs Prosaentwürfen ergibt sich daraus immerhin eine erste Priorität: das konzeptionelle, wie auch das stoffliche Moment wird stärker hervortreten, als das für viele Ausgaben maßgebliche sprachlich-gestalterische. Konzeption und Stoff sind die variablen Faktoren einer eher horizontalen Entwurfbewegung, die es durch typisierende Hervorhebung ihrer Merkmale und im Hinblick auf ihre apparattechnische Wiedergabe nun zu charakterisieren gilt. Zunächst zum Stellenwert des Erzählerisch-Stofflichen: die Skizzierung von Fabeln und Erzählmotiven, die Bereitstellung von Inhalten und Material für ein bestimmtes Projekt zeigen die bei Eichendorff hinlänglich bekannten und oft oberflächlich kritisierten Merkmale von Motiv- und Stoffarmut, von einem Mangel an Realitätssättigung und Erfindungsgabe. Der Eindruck von Unbeholfenheit, ja Inspirationslosigkeit und fehlender Originalität läßt sich nicht verleugnen: literarische Vorbilder werden mit epigonaler Häufigkeit und Direktheit herangezogen („wie in Vossens Louise"; „rührend-ironisch k la Brentano"; „wie Yorick mit Phutatorius in Tristram Shandy p. 440-443"); ein begrenzter Vorrat an Requisiten wird immer wieder aufgeboten, Motive, Bilder, ganze Szenen treten in 6 Eduard Mörike, Werke und Briefe. Hist.-krit. Gesamtausgabe, hg. von HansHenrik Krummacher, Herbert Meyer, Bernhard Zeller. Editionsgrundsätze S. 3.

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verschiedenen Ansätzen wenig verändert auf; fertige Teile und Passagen werden als Versatzstücke verschoben („alle fertigen guten Stellen . . . benutzen"; „das Paßende"; „die Kraftstellen"). Doch wieviel Mühe dem Stofflichen auch zugewandt wird, wieviel Anteil am Wachstumsprozeß — besonders in Form von Textergänzungen — ihm auch zukommt, es bildet, verstanden als inhaltlich konsequenter Erzählzusammenhang, nicht „die organisierende Mitte" der Entwürfe 7 . Im Gegenteil: die relative Selbständigkeit der Textelemente, ihre Vertauschbarkeit und Verfügbarkeit in wechselnden Textmontagen und -konstellationen, ihre mögliche Funktion als Versatzstücke, die in einigen Fällen rein strukturelle Stützfunktion von Erzählzusammenhängen („Durch's Gantze eine Art Novelle"; „in das Gantze eine durchgehende, einfache, idyllische Handlung einflechtend") lassen mehr oder weniger eine Tendenz hervortreten, die in einem „vom Stoff her organisierten" Text undenkbar wäre. Wenn man in Bezug auf Eichendorffs vollendete Werke mit Recht von einem dichten System von Symbolen gesprochen hat 8 , so handelt es sich hier um die ersten Anzeichen und Vorstufen dazu. Der bloße Erzählstoff besitzt im Hinblick auf das poetische Ganze nur Annäherungswert; sein möglicher Symbolgehalt liegt bereits formal in seiner Variabilität; die Entwurfspraxis verrät eine strukturelle Tendenz zur Entstofflichung. Die Erzählinhalte der Prosatexte Eichendorffs haben besonders in den anfänglichen Stadien ihrer Entstehungsgeschichte weitgehend nur einen vorläufigen und unvollkommenen Annäherungswert an das Ganze als poetischer Vorstellung, das sich erst in dem endgültigen, vom Entwurfstadium deutlich abgehobenen, durch einen unvermittelten genialen Sprachakt zu einem symbolischen Erzählzusammenhang entstofflichten Textzustand ganz verkörpert. Daher — und darin liegt eine frappierende Parallele zur Schaffensweise C. F. Meyers — „experimentiert der Dichter mit seinen Stoffen" 9 , variiert und verschiebt sie und schafft so ein horizontales Geflecht von Querverbindungen, das die Ordnung und Gruppierung etwa der autobiographisch-dichterischen Fragmente so schwierig gemacht hat. Doch auch unter diesen Texten gibt es schon Beispiele, in denen die Bedeutungsstruktur bereits so weit ausgebildet ist, daß sich ihr erzählerisches 7 Vgl. Gedichte von C. F. Meyer. Wege ihrer Vollendung. Hg. von Heinrich Henel. Deutsche Texte 8, Tübingen 1962, S. 150 f. Dem Nachwort von Henel verdanken diese Ausführungen wichtige Anregungen. 8 Vgl. etwa die Arbeiten von Richard Alewyn, Eine Landschaft Eichendorffs und Oscar Seidlin , Eichendorffs symbolische Landschaft. In: Eichendorff heute, hg. von Paul Stöcklein , München 1960, auch Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1966. 9 Vgl. Heinrich Henel , a.a.O., S. 143.

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Moment allein aus einer Abfolge symbolischer Situationen entfaltet; so in dem bedeutenden ,Vorwort' zu einem Einsiedlerroman 10. Der hier zunächst unter dem Aspekt des Stofflichen und seiner Tendenz zum Symbolischen erörterte Charakter der Prosaentwürfe Eichendorffs erlaubt schließlich, in einer letzten Ausdeutung, eine überzeugende Bestätigung der zuerst wohl von Adorno und Seidlin gesehenen11, auf Baudelaire und Verlaine vorausweisenden Ansätze zum Symbolismus im Werk dieses Dichters. Im Entwurf zu der autobiographischen Novelle ,Unstern' notiert Eichendorff in einem Abschnitt „Tenor des Gantzen" einen Satz, der in einer äußersten Formulierung eine grundlegende Tendenz seiner Poetologie offenlegt: „Das Gantze muß fast gar keinen Inhalt haben, bloß gantz einfachste Ereignisse? — I n einem solchen Grenzbereich tritt die poetische Vorstellung, hier selbst das dichterisch-autobiographische Anliegen, in eine extreme Spannung zur sprachlich-inhaltlichen Verwirklichung und erzwingt eine äußerste Reduktion des Stofflichen auf eine abstrakt-symbolistische Ausdruckswelt. Hat sich also das Element des Stofflich-Inhaltlichen nicht als die organisierende Mitte der Entwurfdynamik erwiesen, muß sich das Interesse bei der Suche nach einem sinngebenden Bezugspunkt der Entwürfe auf die Äußerungen zur Planung, Organisation und Konzeption richten, die das zweite bestimmende Moment dieser Texte ausmachen. Audi hier setzt sich, deutlicher noch und strukturell ausgeprägter als im Bereich des Stofflichen, die horizontale, d. h. nicht unmittelbar und intensiv auf poetische Steigerung gerichtete Entwurfbewegung fort. Sie ist zurückzuführen auf ein spezifisches Merkmal der Arbeitsweise Eichendorffs, das wiederum die grundsätzliche Offenheit und Veränderbarkeit der Entwurfsituation bestätigt. Es zeigt sich nämlich, daß Eichendorff vielfach der ersten Skizzierung eines Projektes in einer folgenden Überarbeitung eine alternative Konzeption entgegenstellt, mit der eigentümlichen Konsequenz, daß jene nicht getilgt und aufgehoben wird, sondern neben der Alternative, zwar in ihrer Gültigkeit relativiert, bestehen bleibt. Eine Notiz aus den frühesten Entwürfen zum ,Incognito' — sie wurde gewählt, weil sie hier den Versuch einer typisierenden Hervorhebung von strukturellen Merkmalen erleichtert und vereinfacht — läßt diese Koppelung von Planung und Alternativenbildung in einer möglicherweise symptomatischen Verkürzung als simultanen Vorgang erscheinen: „Lustspiel in 1 Act, vielleicht gantz in Prosa, 10 HKA, Bd. X , Historische, politische und biographische Schriften (1911) S. 379 -383. 11 Theodor W. Adorno , Zum Gedächtnis Eichendorffs. In: Noten zur Literatur I, Frankfurt/M. 1973, S. 105 ff., bes. S. 122-129. Oscar Seidlin, Eichendorffs symbolische Landschaft. In: Eichendorff heute, Darmstadt 1966, S. 218 ff., bes. S. 240 f.

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vielleicht in Knittelversen, oder auch gemischt in Versen und Prosa". Der hier nur auf die Form bezogene Akt der Projektfestlegung konkretisiert sich zugleich in einem Gegenakt der Selbstrelativierung durch Bereitstellung von Alternativen. Wenig später, auf dem gleichen Handschriftenblatt, wird auch die Gattungsbestimmung „Lustspiel" durch eine inzwischen gewandelte Vorstellung des Dichters in ihrer Gültigkeit wieder eingeschränkt: „ V i e l l e i c h t ist es ein Puppenspiel." Um das Gesetzmäßige dieses konzeptionellen Verfahrens nachzuweisen, müssen noch einige weitere Fälle von Planverschiebungen und Intentionswechseln herangezogen werden, die sich auf verschiedene Einzelbereiche der Werkprojektierung erstrecken: GattungsWechsel werden geplant ( „ E i n L u s t s p i e l machen aus meiner entworfenen Novelle"), Umgruppierungen vorgesehen („Vielleicht dieß in die quästionierte Idylle?"), Änderungen der Erzählperspektive werden erwogen („Oder dieß doch mit: „Ich" erzählen!") und Erzählstoffe umdisponiert ( „ O d e r v i e l l e i c h t spielt die Geschichte in der französischen Revolution?!"). Anhand dieser wenigen Beispiele wird der planerische Vorgang der Alternativenbildung als eine durchgehende, charakteristische Möglichkeit der Schaffensweise Eichendorffs greifbar, die vermutlich den gängigen, mit diesem Autor verbundenen Erwartungen und den Vorstellungen von Entstehung und Wachstum eines Kunstwerkes aus einer „inneren Form" im Sinne der auf Plotin und Shaftesbury zurückgehenden organischen Aesthetik der Goethezeit entgegensteht. Nicht die Gesetzmäßigkeit eines einmaligen, unverwechselbaren, notwendig aus einem Kern sich entfaltenden Wachstumsprozesses läßt sich beobachten, sondern als strukturelles Merkmal der Entwurfspraxis die Alternativenbildung bei der Planung von poetischen Vorhaben. Die Entwurfsituation stellt sich häufig so dar, daß zwei oder mehrere konzeptionelle Möglichkeiten der Gestaltung eines Werkes nebeneinander in einer offenen Entscheidungssituation bestehenbleiben. Diese ist, wie schon die letzte Notiz aus der oben angeführten Beispielreihe zeigen konnte, in ihren Auswirkungen nicht auf den Bereich der Projektierung beschränkt. Die noch nicht endgültig ausgeprägte, wechselnde Autorintention bedingt im Stofflich-Inhaltlichen, selbst bei unverändertem Wortlaut, wechselnde Werkphasen und Textzustände, und es zeigt sich darüber hinaus, daß die Entwurfkritik auch der Erzählinhalte — besonders bei zentralen Werkteilen wie etwa Novellenschlüssen — sich ebenfalls in alternativen Fassungen niederschlagen kann. Für die Frage nach dem sinngebenden genetischen Organisationspunkt der Entwürfe ergibt sich aus dieser Analyse des Merkmals der Alternativenbildung — im Bereich der Werkplanung wie auch überhaupt als Eigen-

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art der Arbeitsweise Eichendorffs —, daß auch das Konzeptionelle nicht grundsätzlich als die organisierende Mitte eines Entwurfes gelten kann. Beide Bereiche, Konzeption und Stoff, erscheinen in einem werkstattmäßigen Zustand der Variabilität, der das Werk, die poetische Vorstellung, noch nicht eingeholt hat. Ein zuweilen unbeholfen und romantisch-stereotyp wirkender Bestand an Stoffen, Formen und konzeptionellen Vorstellungen wird im Blick auf das poetische Ganze verschoben, versuchsweise angepaßt, experimentierend angenähert: „mutatis mutandis". Die scheinbar nur horizontale Entwurfbewegung, das, was man etwa als Entwurfproteismus bezeichnen könnte, wird sinnvoll allein in dem Moment der Annäherung an „das Ganze", das die eigentliche, immer wiederkehrende Leitvokabel der Texte darstellt. Die nähere Bestimmung des Ganzen als produktiver, poetischer Bezugsbereich und Inbegriff des Poetischen bei Eichendorff, kann in dem begrenzten Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden; auf die umfangreiche Sekundärliteratur zu diesem zentralen Problem muß hier pauschal verwiesen werden. Aus der Substanz der Entwürfe läßt sich als Vermittlung zwischen dem Bedeutungs- und Aussagebereich des Poetischen im Sinne Eichendorffs und dem, was sich in den Entwürfen in Sprache und Form annäherungsweise konkretisiert, immerhin eine dichterisch-biographische Blickrichtung angeben, die in dem Einsiedler als Hauptfigur der autobiographischen Fragmente am augenfälligsten angelegt ist: die „Vogel-Perspektive". Für den Dichter-Eremiten, der sich vor den turbulenten Zeitläufen auf einen abgelegenen Berg oder eine wüste Insel zurückgezogen hat ( „ . . . daß ich Alles ohne alle Rücksicht auf die gewöhnliche Weltmeinung . . . aus der Vogel-Perspektive betrachte und beurtheile".), stellt sich die Welt nicht in ihrer unmittelbaren, konkret-individuellen, chaotisch-vielgestaltigen Wirklichkeit dar, es sind nur die großen Bewegungen und Konturen, die abstrakt-repräsentativen, symbolischen Umrisse der Weltereignisse erkennbar. In einem Brief aus Danzig vom 28. Januar 1844 an seinen Gönner und Freund Theodor von Schön dankt Eichendorff für die ihm „gnädigst mitgeteilten Nachrichten, die mich um so mehr interessieren, da ich hier so ziemlich wie auf einer wüsten Insel lebe, wo ich den Wellenschlag der Zeit nur als ferne Brandung vernehme. Eigentlich kein unangenehmer Zustand, da diese Zeitbewegungen in unmittelbarer Nähe oft konvulsivisch- widerwärtig sind und erst in ihren großen und massenhafteren Erfolgen wieder poetisch werden" 12 . Daß aus dieser Perspektive nicht unbesehen eine reaktionäre Einstellung zu den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Zeitgeschichte 12

HKA, Bd. X I I , Briefe von Eichendorff (1910) S. 78.

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abzuleiten ist, zeigt Eichendorffs Charakterisierung des revolutionären Philanthropen Graf Schlabrendorf 13, „der in seiner Klause die ganze soziale Umwälzung wie eine große Welttragödie unangefochten, betrachtend, richtend und häufig lenkend, an sich vorübergehen ließ. Denn er stand so hoch über allen Parteien, daß er Sinn und Gang der Geisterschlacht jederzeit klar überschauen konnte, ohne von ihrem wirren Lärm erreicht zu werden" 14 . Der symbolische Standort des dichterisch-biographischen Selbstverständnisses Eichendorffs, von dem aus sich der distanzierte Blick auf die Zeitgeschichte und die Wirklichkeit überhaupt richtet, entspringt nicht einem weltschmerzlichen Bedürfnis nach Flucht und Abkehr, sondern dem ihm möglichen Willen zur Erkenntnis. Die Poesie, das, was in den Entwürfen „das Ganze" genannt wird, ist ein medialer Bereich der vermittelnden Erkenntnis des Höchsten und der Wirklichkeit zugleich. Poesie ist mediale Erkenntnis: „Denn, nach meiner Art, mußte mir alles Hohe p. nur durch das Medium der Poesie kommen"; im Blick auf die Wirklichkeit bedarf sie der vermittelnden Perspektive: „da diese Zeitbewegungen . . . erst in ihren großen und massenhafteren Erfolgen wieder poetisch", d. h. erkennbar und darstellbar werden. Die Tendenz zu Entstofflichung und alternativen Konzeptionen in den Prosaentwürfen Eichendorffs wird von hier aus erkennbar als ein angespannter Vorgang der Annäherung an das hohe Postulat dieser symbolischen Kunst. Zum Schluß dieser Überlegungen muß die Frage nach der editionstechnischen Wiedergabe dieser Entwürfe und Fragmente noch einmal aufgegriffen werden. Eine erste Konsequenz der Analyse ihrer genetischen Struktur betrifft den Textteil der Ausgabe, d. h. die Definition dessen, was als T e x t bezeichnet werden soll. Da sich der größere Teil der hier gemachten Beobachtungen im inhaltlichen Befund der Entwürfe abzeichnet, wird der Editor dieses weitgehend handschriftlichen, nachgelassenen Materials adaequat reagieren, wenn er den Begriff möglichst weit und umfassend auslegt. Als Text gilt, was sich nicht direkt und ohne wesentliche Abweichungen auf einen Leittext beziehen läßt; weiterhin jeder integrale Textzustand, der für Chronologie und Gattungs- bzw. Werkgruppenentwicklung konstitutiven Stellenwert besitzt. Die zweite Konsequenz betrifft die Hauptaussage des Apparats: sie liegt in der Darstellung der jeweiligen Entstehungsgeschichte eines Werkes oder einer Werkgruppe; nicht jedoch in der differenzierten Wiedergabe sprachlich-gestalterischer Veränderungen oder der Dokumentation der Überlieferungsgeschichte mit einer nur daraufhin 13 Vgl. bereits Th. Adorno , Zum Gedächtnis Eichendorffs, a.a.O., S. 114 f. s. Anm. 10. 14 HKA, Bd. X , Historische, politische und biographische Schriften (1911) S. 398.

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sinnvollen Orientierung am „Überlieferungsträger als grundlegender editorischer Einheit" 16 . Der Apparat sollte mit einer durch Exponenten differenzierten Siglierung die wechselnden Textzustände, Werkphasen und Gattungszuordnungen kennzeichnen und hervorheben. So wäre es möglich, die vielfachen Intentionswechsel, Textverschiebungen und Entwurfalternativen von einander abzuheben und zugleich ihrem jeweiligen genetischen, gattungsmäßigen und chronologischen Zusammenhang zuzuordnen.

15

Vgl. Gunter Martens, Textdynamik und Edition. In: T. V., S. 178 f.

DER RISS D U R C H D I E W I R K L I C H K E I T Versuch einer philosophischen Deutung von Adalbert Stifters Erzählung ,Der Kondor* Von Hans Unterreitmeier

Die folgende Darstellung verdankt ihre Entstehung einer Anregung von Max Müller. Bei einer Feier zu seinem 65. Geburtstag wurde sie zuerst vorgetragen. Ihm sei sie als nachträglicher Gruß zugedacht. Sie ist die Folge einer langen Beschäftigung mit Stifters Werk und erhielt von ihr her den Verständnis-Hintergrund, der die kurze Erzählung vor willkürlicher Deutung schützt. Stifters ,Kondor* hat gelegentlich die Auslegung erfahren, daß in ihm die Auflösung der Liebe junger Menschen in einer Unversöhnlichkeit dargestellt werde, wie sonst nicht im Werke des Dichters. Demgegenüber soll hier versucht werden, das scheinbar Unmotivierte motiviert zu finden, das Gewaltsame notwendig, die unerhörte Zumutung als anzunehmende Wirklichkeit, die mit der herkömmlichen Vorstellung von Glück oder Unglück nichts zu tun hat. 1840 erschien die Erzählung in der ,Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Moden*; es liegt also nahe, den harten Schluß im ,Fruchtstück', der keine versöhnliche Deutung zuzulassen scheint, mit dem bitteren Scheitern der Jugendliebe des Dichters zu Fanny Greipl in einen begründenden Zusammenhang zu bringen. Der ,Kondor' würde demnach zu einer Rechtfertigungsschrift des Dichters für seine Berufung als Künstler, der seine Existenz gerade auf das Zerbrechen der Liebe gründe. In einer Formel hieße das: mißglückte Liebe — geglückte Kunst. Wirklich schwingt durch die ganze Erzählung das Verhältnis von Kunst und Liebe, verdichtet in der Gestalt des Malers und seiner Geliebten, aber in einer paradoxen Unauflöslichkeit, die dieser Versuch aufzeigen soll. Gehen wir von dem so anstößigen vierten Stück der Erzählung aus„Manches Jahr war seit dem Obigen verflossen, allein es liegt nichts davon vor. — . . . Nur ein ganz kleines Bild aus späterer Zeit ist noch da, welches ich gerne gebe." In der „Urfassung** (in der Ausgabe von Max Stefl, Adam Kraft Verlag Augsburg) beginnt das , Frucht stück*: „Die Leser, welche alíenlo Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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falls einigen Anteil an den zwei sonderbaren Menschen genommen haben, die sie in den drei Bildern kennenlernten, und sie vielleicht gar ein wenig lieben, werden sämtlich wissen wollen, wie sich alles weiter begeben. Aber hier muß ich (d. h. der Referent der Erzählung) bedauern, daß ich. dem gerechten Wunsche nicht entsprechen kann, denn außer obigen Fragmenten konnte ich nichts weiter von den Beiden habhaft werden." In Kürze läßt sich „das Obige" so berichten: Ein angehender Künstler, der einer jungen Dame aus vornehmem Hause Malunterricht gab, vermerkte in seinem Tagebuch seine Erlebnisse während einer Mondnacht, in der er das Aufsteigen einer Gondel erwartete, in der sich eben jene Dame befinden sollte, die in einem männlichen Entschluß die gefährliche Höhenfahrt mit einem stolzen jungen Engländer und seinem altersgrauen Freund wagen wollte. Er hatte eine herzliche Zuneigung zu diesem Mädchen gefaßt, dessen Schönheit ihm zum Mittelpunkt seiner schwärmerisch verehrten Welt wurde. In ihrem männlichen Streben bricht diese Zuneigung und damit auch diese Welt jäh zusammen. Vierzehn Tage nach jener Fahrt, die beide verwandelt, ihn, weil sie ihn aus der Schwärmerei herausreißt, sie, weil sie bestürzt und sich bescheidend die Grenze des Weiblichen erfährt, folgt er mit einem dunklen Gefühl im Herzen, das er unwillig bekämpft, ihrer Bitte, den Malunterricht wieder aufzunehmen. Im Schutze des vertrauten Tuns, des Malens, entdecken sie aneinander die Veränderung. Es ist ein Augenblick des Sich-Findens, der für beide dasselbe bedeutet: gegenseitige Hingabe fürs ganze Leben. Ihr „einzigster Entschluß ist es, das Äußerste zu wagen, um nur einander wert zu sein, um nur sich zu besitzen, immerfort in Ewigkeit und Ewigkeit". (Studienfassung) — Und nun der anstößige, zumindest unnötig scheinende Schluß, den das kleine Bild des vierten Stücks liefert. Es führt uns in eine Ausstellung, in der zwei in ganz Paris gepriesene Mondbilder zu sehen sind, „— nein, keine Mondbilder, sondern wirkliche Mondnächte, aber so dichterisch, so gehaucht, so trunken, wie ich nie solche gesehen". (In der Urfassung: „— nein, keine Bilder, sondern w i r k l i c h e Mondnächte, aber poetische, unsäglich feenhaft gedacht und zauberisch wirkend".) Davor in einsamer Betrachtung eine Frau, die in den Bildern das Werk „ihres" Mannes erkennt, als „gleichsam leise, leise Vorwürfe einer Seele", (Urfassung: „verwundete Gefühle") „die da schweigt, aber mit Lichtstrahlen redet, die tiefer dringen, die immer da sind, immer leuchten und nie verklingen wie der Ton!" Dichterische Mondnächte? Leise Vorwürfe? I n welchem Sinn kann der Leser die in diesem merkwürdigen Zwiegespräch im Medium des Kunstwerks endende Beziehung zwischen Mann und Frau noch als Wirklichkeit verstehen? Eine späte Frucht romantischer Vorstellung vom Künstlertum sei es, so sagt man, die Stifter von Jean Paul geerbt habe, das Dichterische

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über das Wirkliche erhaben zu sehen, und jene Vorwürfe hätten einfach in seiner eigenen Enttäuschung ihren Grund. Vergessen wir aber einmal das literarhistorische und biographische Wissen und achten behutsam auf die streng ineinanderführenden Linien der Erzählung. Was sagt dann das „Fruchtstück"? „Gelassen und kalt stand die Macht des Geschehenen vor ihrer Seele und war nie und nimmermehr zu beugen —" (Studienfassung). „Das Geschehene" habe ich in der Thematik dieser Studie als „Riß durch die Wirklichkeit" bezeichnet und ich sehe in dem Wort „Riß", wenn der Ausdruck erlaubt ist, die Fuge der ganzen Erzählung. „Die Leser werden wissen wollen, wie sich Alles weiter begeben.", beginnt in der Urfassung das ,Fruchtstück'; „manches Jahr war seit dem Obigen verflossen, allein es liegt nichts davon vor" in der Studienfassung. Die Erzählung wird zurückgebogen auf jene Mondnacht, die der Leser miterlebte, deren Anlaß der Kondor war und die nun in den Gemälden, aber wirklich, das heißt dichterisch vor uns steht. Der Dichter hebt die Grenze zwischen den Gemälden und dem Betrachter gleichsam auf; er sieht die Frau vor ihnen stehend, sieht vielmehr ihre Augen: „— zwei schönere Augen in einem rührenderen Feuer sah ich nie. —" (Aus einem später angedeuteten Grund wird im folgenden, wenn nicht anders vermerkt, nach der „Urfassung" zitiert.) Aus diesen Augen sprechen in der Einsamkeit ihrer Nacht im „Flimmern, Leuchten und Glitzern der Lichter" verwundete Gefühle, die nun da durch diese Nacht schlüpfen und zittern und anklagen". Weiter wird nichts berichtet, läßt sich nichts berichten, wie der Dichter sagt; und so schließt das „Fruchtstück", noch einmal Augen und Bilder ins Spiel bringend: „Ein Strom heißer Tränen brach aus den schönen Augen — aber man wußte nicht, waren es Tränen der Reue oder Tränen der Sehnsucht, die über den Atlantischen Ozean gingen, wo nun der Künstler weilt, um in den Anden neue Stoffe für sein arbeitendes Herz zu finden! —" Also doch: „Zerbrechen einer Jugendliebe" als Thema der Erzählung? Ein Bruch geht tatäschlich durch die Erzählung, der aber nicht trennt, sondern bindet, eben aus jenem Geschehen heraus, das ich als „Riß durch die Wirklichkeit" bezeichnete, der das Ganze fügt. Daß das „Nachtstück" im rückschauenden Abstand erzählt ist, macht der Dichter in der Komposition der Erzählung deutlich zu Beginn des „Tagstücks": „Der junge Mann, aus dessen Tagebuch das Vorstehende wörtlich genommen wurde, war ein angehender Künstler, ein Maler, noch nicht völlig 22 Jahre alt, . . . " . Diese nüchterne, in drei Wendungen umrissene Kennzeichnung des Mannes: jung — angehender Künstler — 22 Jahre alt — scheint belanglos zwischen Nacht- und Tagstück zu stehen. Doch im Gesicht dieses Mannes, das als „knabenhaft", „treuherzig", „weiß und rot, 10*

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voll Gesundheit, geziert mit den Erstlingen eines Bartes" beschrieben wird, zeichnet sich ein durch die Nacht gerufener Einbruch einer neuen Wirklichkeit an, der die heimliche Dachbehausung zur idyllisch-engen Requisitenkammer werden läßt. Mit dem „Anfang einer Leidenschaft, die düsterselig in dem Herzen anbrannte und trotzig-schön in das kindliche Antlitz trat —* werden die Alltagsgegenstände zum fast lächerlichen Schein, die doch bisher — bis zum unwirklichen Vorübergang der letzten Nacht — den Umkreis seines Lebens bildeten: seine „Dachstube, die nach und nach voll warmen Morgenlichts anquoll", „die hohe Lehne eines tuchenen, altmodischen Sessels, des unzählige gelbe Nägel im Frühlichte einen gleißenden Sternenbogen um ihn spannten", und nun gar „Hinze, der Kater seiner Mietsfrau", der ihm in dieser Nacht „ordentlich bedeutsam geworden war", als „sein Nachtgenosse", der unruhig über die im Silberlicht des Mondes glänzenden Dächer streifte, mit dem er „ein trauliches Zwiegespräch" begonnen hatte. Jetzt lag er „auf dem breiten Fenstersimse, und schlief in den Strahlen der Morgensonne. Nicht weit davon auf der Zeichnung eines Cherubs lag das Fernrohr", mit dessen Hilfe er künstlich eine letzte Verbindung hielt zu jener Kugel, die sein geliebtes Wesen davontrug. Die ganze Mondnacht-Wirklichkeit wurde gleichsam zerfetzt in dem rasch hochgerissenen Glas: „ — zwei Sterne, ein Stück Mond flattern durch das Objektiv, ich achtete ihrer nicht, bis ich eine große schwarze Kugel erfaßte und festhielt". Die Tagebucheintragung, eine Beschreibung der Nacht, die im Warten auf jene Gondel vorbeizieht, hat zwei Tatsachen zur Ursache ihrer Entstehung: eben jene Gondel, die wirklich aufsteigt, und die Gewißheit, daß seine Geliebte ihren Entschluß ausgeführt hat, mit ihr zu fahren. Wozu braucht es aber diese lange Beschreibung, als wäre sie wichtiger als diese Tatsachen? Der Bezug zu den Mondbildern im vierten Stück gibt die Antwort. Sie lassen erscheinen, was das erste Stück im Wort-Bild ausführt, im rückschauenden Abstand, wie ich sagte, der entstand durch den Riß, den der „Kondor" kennzeichnet. Mit anderen Worten: Jenes „Nachtstück" ist kein unmittelbarer Erlebnisbericht, sondern buchstäblich aus der Brechung erfahren, begriffen und ins Bild gebracht, die aus dem Unternehmen des Weibes entstand. — Noch aber weiß er nicht von der Veränderung. Der anbrechende Tag läßt ihn ratlos müßig auf dem Sessel zurück. „Die Hände ruhten in dem Schöße, und die Augen schauten auf die leere Leinwand, . . . aber sie sannen nicht auf Bilder, . . . " . Die Begegnung, die den Riß sichtbar macht, ihm sagt, was er bedeutet, und zur Tat anregt — vorher war's übende Selbstaussage, die noch keine Grenze kannte zwischen sich und der Welt —, erfolgt erst im „Blumenstück", vierzehn Tage nach jener Fahrt, die auch das Leben der Gebliebten bricht.

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Nach der eingangs erwähnten Interpretationssicht ist das im vierten Stück gezeichnete Verhältnis zwischen dem Künstler und der Frau als Auflösung der Liebe zu verstehen. Das „Blumenstück" spricht ja von einem gemeinsamen Besitztum, „immerfort in Ewigkeit und Ewigkeit" (Studienfassung). Doch der Dichter begegnet „dem gerechten Wunsche", zu wissen, „wie sich alles weiter begeben", mit einem bedauernden Unvermögen, „denn außer obigen Fragmenten konnte ich nichts weiter habhaft werden". Sollte vielleicht das in den ersten drei Stücken Gebrachte alles sagen, unsere Kenntnis der „zwei sonderbaren Menschen" zufriedenstellen? Nicht ganz; denn das „Fruchtstück" erwähnt ja noch etwas, nach dem Titel die „Frucht" der Begegnung: zwei Mondbilder des zum Künstler herangereiften Mannes und die merkwürdige Beziehung der Frau zu „ihrem" Mann durch eben nichts weiter als durch jene Bilder, die für sie „leise Vorwürfe" enthalten. Welch armselige Beziehung! Und doch glaubt der Dichter dieser Armut nichts hinzufügen zu müssen und in ihr den Entschluß der beiden, einander fürs Leben wert zu sein, ans Ende geführt zu sehen. Unterstelle ich da der Geschichte nicht einen Sinn, den der Schlußsatz des „Blumenstücks" zu widerlegen scheint? „Ach, ihr Armen, kennt ihr denn die Herrlichkeit und kennt ihr die Tücke des menschlichen Herzens?" (Studienfassung). Das Stück schließt in der Urfassung: „Sie weinte leise aber selig." Dieser Schluß ist ein Beispiel dafür, wie die Studienfassung die in keinem Stück veränderte oder aufgegebene Handlungslinie durch eingefügte Reflexionen zu erläutern und abzustützen sucht, wohl aus Rücksicht auf den Leser, aber, wie mir scheint, auf Kosten des im ersten Entwurf unbekümmerter gesetzten Erzählgefüges. Die Versuchung ist groß, hinter der Armut der Beziehung, über der sich die Herrlichkeit der Bilder erhebt, die darum eine Tücke verbergen, eine Schuld zu suchen. Der Dichter begegnet dem Versuch, die Geschichte in einer menschlich begründbaren Schuld aufzulösen, durch eine offen gelassene Frage, die die „leisen Vorwürfe" zu einer hinzunehmenden Gegebenheit macht, zum „Schicksal" der Frau: „ . . . man wußte nicht, waren es Tränen der Reue oder Tränen der Sehnsucht, die über den Atlantischen Ozean gingen, Läßt sich für die Tücke, die die Frau — aber auch der Mann — nach jener glückseligen Begegnung erfährt, ein anderer Grund als der der Schuld suchen? Einfach gefragt: Warum ist die Trennung notwendig? Oder, wenn der Dichter in der Studienfassung von der „Macht des Geschehenen" spricht, die „nie und nimmermehr zu beugen" sei: Was ist geschehen, das diesen Schluß erzwingt? Die Frage wurde schon weiter oben gestellt und im Thema meines Versuchs „Der Riß durch die Wirklichkeit" zunächst mehr verschlüsselt als beantwortet. Eine andeutende Erklärung für dieses Thema

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gab aber der Hinweis auf den Schluß des „Nachtstücks" und des „Tagstücks", der Hinweis auf den abrupten Bruch im Erlebnisvorgang der nächtlichten Betrachtung und der Kondorfahrt. Von diesem Bruch her, behauptete ich, sei die Erzählung als Ganzes verstehbar, in der Komposition mit der merkwürdigen Trennung als Schlußstein. Ja, so behauptete ich weiter, in diesem Bruch vollziehe sich eine dauernde Bindung. Wie ist das zu verstehen? Sehen wir zunächst, was aus dem Bruch hervorgeht: nach vorwärts gesehen die Begegnung des dritten Stücks, des „Blumenstücks", nach rückwärts gesehen zwei den gewohnten Rahmen sprengende Bilder: der Mondhimmel der Nacht und der „Kondor"-Himmel des Tages. Dieser Tages-Himmel hebt in dem Moment an, als der in seiner ängstlichen Erwartung bestätigte Künstler in seiner schon beschriebenen Dachkammer hilflos zurückbleibt. „Während nun der Künstler so saß in seiner engen Dachstube, die ihm der Himmel mit Sonnenglanz angefüllt hatte, begab sich anderswo eine andere Szene: Hoch am Firmamente in der Einöde unbegrenzter Lüfte schwebte der Ballon und führte sein Schiffchen und die kühnen Menschen darin in den blauen Ozean mit einem sanften Luftstrome westwärts", zu einer Zeit, wo „in den Gassen bereits die Industrie . . . einer großen Hauptstadt (lärmte), sorgend für den heutigen Hunger und die heutige Üppigkeit". Einen Spuk könnte man die vorhergegangene Nacht mit ihren zerfließenden Erscheinungen nennen, der aber nur scheinbar in der laut beginnenden Tagesgeschäftigkeit zerrinnt. Ich sage scheinbar, denn diese fremdartige Nachtschönheit wird buchstäblich ausgehalten um der Tatsache willen, die der folgende Tag bringen soll, und im Bild festgehalten. Deutlicher gesagt: Es gäbe diese Nacht und den jungen Mann als Künstler nicht, wenn der Kondor mit seiner Gebliebten nicht aufsteigen würde. Die Nacht ist gleichsam das mittelbare Produkt jenes Versuchs, an dem die Frau scheitert, „die gleich ihrer altrömischen Namensschwester erhaben sein wollte über ihr Geschlecht, und gleich den heldenmütigen Söhnen derselben, den Versuch wagen, ob man nicht die Bande der Unterdrückten sprengen möge, und die an sich wenigstens ein Beispiel aufstellen wollte, daß auch ein Weib sich frei erklären könne von den willkürlichen Grenzen, die der harte Mann seit Jahrtausenden um sie gezogen hatte — frei, ohne doch an Tugend und Weiblichkeit etwas zu verlieren". Die Frage nach dem Grund der Trennung im vierten Stück, die, wie ich eingangs andeutete, historisch erklärbar wäre, uns aber ethisch bedenklich erscheinen könnte, als Zeichen einer nicht bewältigten Vergangenheit des Dichters, erhält ihre Antwort nicht aus dem faktisch isolierten Schluß. Dieser gibt vielmehr nur eine Ausdeutung des unumstößlich Geschehenen, und dies Unumstößliche ist nicht in Un- oder Mißverständnis, persönlicher Schuld oder Gewalt der Umstände zu suchen — das wäre ethisch greif-

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bar —, sondern in einem der menschlichen Erklärung entzogenen Grund, daß Mann und Frau nur im Bruch zusammenleben können, so gesetzlich, wie die Raum-Zeit — hier bei Stifter ganz deutlich als Bild des menschlichen Vollzugs — im Wechsel von Nacht und Tag getrennt wird. Von der dichterischen Absicht der Aussage abgesehen, stünde einem tatsächlichen Zusammenleben des Malers mit seiner Geliebten nichts im Wege. Was wäre aber damit gesagt? Etwa so viel wie: Jeder Nadit folgt ein Tag. Daß sich d i e s e Mondnacht aber mit d i e s e m Tag verbindet, ist ein einmaliges, endgültiges, „unumstößliches" Geschehen. Aber was ist ein nicht ethisch, nicht faktisch begründeter Bruch? In der Philosophie gibt es dafür schon lange den Begriff: Differenz von Sein und Seiendem. In dieser Differenz ist nicht der Unterschied zwischen einem und dem anderen Wirklichen gefragt, sondern jeweils die Wirklichkeit des Wirklichen. Wenn der Dichter den jungen Mann nach der Mondnacht „Künstler" nennt, so spricht er offenbar eine Existenz weise an, die von der vorherigen abgehoben ist. Das Ergebnis dieser neuen Existenzweise sehen wir am Schluß, im „Fruchtstück", in den Gemälden des Mannes. Was der Künstler schafft, nennt Stifter wirklich, nicht bloß Bild. „Künstler" steht also für „Seher der Wirklichkeit", jener Wirklichkeit, die aus dem Bruch buchstäblich geboren wird. — Doch das Brechen selbst hinterläßt nur einen Betäubten, der erst in der Begegnung im „Blumenstück", im Erkennen des Weibes zu sich kommt. Aus dem Verständnis der Erzählabsicht heraus läßt sich bewundernd die einfach sichere Entwicklung dieses Stücks erkennen: Selbstvergessen im Malen einer Landschaft stehend, die „Wärme und Zärtlichkeit" seiner Augen widerspiegelt, überrascht ihn die auffordernde Bitte seiner Dame. Mit einem Gefühl im Herzen, das er „mit Unwillen bekämpfte", folgt er ihr. Sie empfängt ihn „sonderbarer Weise . . . in einem weißen Atlaskleide", offenbar zum Fest bestimmt, fügt sich aber, da er es zu übersehen scheint, der Gewohnheit des Malunterrichts. Er scheint auch ihr Bekenntnis, mit dem sie das Malen unterbricht, zu überhören: „, ich bin doch nur ein armes Weib4 . . . Schnell wegsehend, unfähig, ein schickliches Wort zu sagen, reicht er ihr die Palette, bemerkend, daß sie ihm ja keine Rechenschaft zu geben habe." „ ich bin doch nur ein armes Weib", dieses hilflose Geständnis, mit dem sie sich ihm ausliefert, ist zu schwer für ihn. Als sie es zum drittenmal hinweisend berührt, da „stand der Jüngling auf und trat heftig gegen das Fenster, hinausstarrend und mit der Riesenschlange seines Herzens ringend. — Es war eine Pause". Er wendet sich um, sieht ihre Tränen: „Da vergaß sich das übervolle jugendliche Herz —. Er faßte sie sanft an der

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Hand, um sie abzuziehen, und sagte mit zitternder Stimme: ,Liebe, teure Cornelia!'" Und ihre „jungen engelschönen Angesichte . . . wuchsen und schmolzen in dem Kuß der ersten Liebe aneinander. Der seligste Augenblick zweier Menschenleben war gekommen — und vorüber." Seine ersten Worte nach dem Kuß könnten grob erscheinen: „Cornelia, was soll nun dieser Augenblick bedeuten?", sind aber nichts anderes als die männlich gestellte Frage nach seinem Auftrag, die in dem für ihn selbst überraschenden Entschluß endigt: „Morgen trete ich meine Reise an —." Als „anderer Mensch" sieht er sich durch die Begegnung gezwungen, die „ganze Welt", die nun „im Herzen selig und glänzend wie ein Sternenhimmel (liegt)", „in Schöpfungen durch das ganze Universum" ausströmen zu lassen. Als Wanderer in fremden, fernen Welten, aus denen er den Stoff seiner Bilder holt, schöpferisch, auf der „Reise", erfüllt er das Versprechen der ewigen Treue. Er begreift das Geheimnis der Nacht in jenem Erwachen, hinter dem „ein langer großer Schmerz" steht. Dieser Schmerz ist Geburtswehen vergleichbar, die das Werden einen neuen Lebens begleiten. In ihm zerbricht die unentfaltete Einheit von Mann und Frau. Für die Frau bedeutet dieser Bruch Selbstfindung in der weiblichen Bereitschaft zur Hingabe, für den Mann die Erkenntnis, die er durch seinen Beruf vollzieht, daß durch die Wirklichkeit ein Riß geht, dem er sich als Mann fügen muß. Den Vorgang der Fügung erzählen die zwei ersten Stücke bis zur Vermittlung im dritten, und zwar so, daß von rückwärts her, also von drei zu zwei zu eins, das vorlaufende, aber eben schon reflektiert, dichterisch erzählte Naturgeschehen zum Stehen kommt. Zwischen der Kondorfahrt und der Begegnung liegen vierzehn Tage. Dann ist die Zeit reif, um dem einstigen Freund, den das Unternehmen der Freundin in seiner kindlichen Weltsicherheit verwirrte, die Wahrheit zu sagen, gegen die er sich sträubt. „,Sie fühlen doch, daß ich es muß4, sagte s i e . . . " Was muß sie sagen, das anzunehmen ihm so schwer fällt? „ ich bin doch nur ein armes Weib." Ist das so schwer? Doppelt schwer, denn beide müssen sich erst fügen, beugen, ihre eigene Ohnmacht erfahren. Beim Mann geschieht dies früher, nach der zaubervollen Nacht, ohne daß er's versteht. Als er der Einladung des Mädchens folgte, war ihm das Geschehen der Nacht noch dunkel verschlossen, wie das Gefühl, das er im Herzen trug. In den Gemälden, die eben jene Mondnacht ins Bild heben, wird der Wandel zur künstlerischen Reife bezeugt, die in der Annahme der Frau erworben wird. In seinen Gemälden findet die Reife ihren Ausdruck. Indem der Mann das Eingeständnis der Frau annimmt, kommt er zur Erkenntnis seiner selbst. Nun steht er als voller Mann vor ihr, zu dem sie bewundernd

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aufblickt: „ . . . sie sah ihn mit Entzücken an, wie er vor ihr stand so schön, so kräftig, schimmernd schon von künftigem Geistesleben und Geistesgröße, « Auffällig ist doch, daß der Mann der weiblichen Natur der Nacht zugesellt wird, die Frau aber das männliche kühne Unternehmen des Tages begleitet. Keine Spur von Zufälligkeit ist in dieser gegensätzlichen Folge der Bilder. Während der Jüngling, dem die Natur noch ungebrochen in der Seele dämmert, die er so ungebrochen ins Bild setzen will, in seiner Dachbehausung zurückbleibt, steigt die Gondel mit dem Mädchen, seiner Geliebten, in die grausige Höhe des Himmels. Die Warnung ihres Freundes, des Künstlers, hatte für sie kein Gewicht. Der, dem sie dorthin folgt, dessen entschlossenes Handeln ihr den Mut gibt, ist „ein schöner großer Mann", der „Aeronaut", den sein altersgrauer „Famulus" begleitet. In Wirklichkeit ist dieser Famulus „sein würdevoller Lehrer", für den ein Unternehmen dieser Art fast schon zum ruhigen Handwerk zu gehören scheint, der aber, nicht wie der Jüngling aus einem bangen Ahnen, sondern aus einem erfahrenen Wissen seinem Schüler abgeraten hatte, die Frau mitzunehmen. In dieser Stufung begegnet das Mädchen dem Mann: als dem Jüngling, dem stolzen Wissenschaftler, dem reifen Lehrer; in diesem Dreieck läuft ihr Weg, doch so, daß sie den Jüngling verläßt, dem Manne im Glauben der Ebenbürtigkeit in stolzer Bewunderung folgt, der die Erfahrung des Alten mißachtet, die beim Abbruch der Fahrt ausgesprochen wird: ,„Coloman', rief er, so stark es hier möglich war, ,wir müssen niedergehen, der Lady ist unwohl/ Der alte Mann . . . zeigte ein strahlendes Antlitz, wie jene alten Magier und rief mit überraschend starker Stimme: ,Ich sagte dir, Richard, das Weib erträgt den Himmel nicht —* . . . " Die Namen der zwei Männer fallen am Schluß dieser waghalsigen Fahrt, in der Wende, die den Abschied von dem majestätischen Himmel erzwingt. Den Namen des dritten Mannes, des ersten in der Reihenfolge der Erzählung, des jungen Malers, hören wir erst, als er sich, gereift zur vollen Männlichkeit, aus der Umarmung Cornelias, wie er sie jetzt erst namentlich anredet, löst: „Gustav, lieber einziger Freund, . . . " . Wir können nun nochmals die Frage stellen, was der merkwürdige Satz, den wir zum Leitfaden unseres Versuches wählten: „Der Riß durch die Wirklichkeit", zur Sprache bringen soll. Nicht großartige Naturbeschreibung in eine schwache Liebeshandlung eingebettet macht die Erzählung aus. „Natur"-Szenen und Menschen-„Schicksal" wären damit gleich mißverstanden. Die Mondnacht ist die durch die Natur in reflektierter Erfahrung gesehene, mehr noch, geschaffene oder doch gefaßte Weiblichkeit. Ihr neigt sich der Künstler im Malen zu, oder, wenn wir's übersetzen wollen, der Mann im wissenden Sehen der Wirklichkeit. Bild ist nichts anderes als

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Sichtbarkeit in der Sprache. Die „nackte" tatsächliche Begegnung von Mann und Frau, unmittelbar dargestellt, verwirrt in ihrer schlechten, weil ungebrochenen Wirklichkeit das Bild der Frau, und verdirbt in niedriger Phantasie das Gefühl; denn der Mensch fühlt nicht einfach, am wenigsten in der Beziehung zum andern Geschlecht, noch steuert er sein Leben in Gedanken, er ist Mensch und hat die Welt immer in der Qualität seiner Sprache. So sehr meine Deutung des „Kondor" darauf angewiesen ist, daß er vorher gelesen ist, möchte ich doch durch behutsame Auswahl aus den Bildern des Nacht- und des Tagstücks, die fast der ganze Inhalt der Erzählung sind, die weibliche und männliche Natur, die der Dichter, eine durch die andere, ausspricht und verbindet, nachzeichnen. Was sieht der Betrachter der langen Mondnacht, der bisher „nie Zeit hatte, eine so recht von Herzen anzuschauen", „in diesem Harren und Sehnen nach dem Himmel"? Zuerst, wie sich „das leidige Abendgetümmel durch die Gassen schleppte und eine wundervolle Dissonanz bildete zum lieben Monde, der bereits mit rosenrotem Angesichte dort drüben zwischen zwei mächtigen Rauchfängen lag und auf meine zwei Fenster herübergrüßte". Nachdem „alles, was Mensch heißt", sich in seine „Nachthüllen eingepuppt" hatte und auch die Rufe der Schlemmer verstummt waren, „hob jene Zeit an, die die Philosophen, Dichter und Kater lieben, die Nachtstille —". Der Mond trat seinen unwirklich schönen Gang an, nachdem er „sich endlich von den Dächern gelöset" hatte und „hoch im Blau" stand. Es war ein Zauber, in dem nur zwei Wirklichkeiten fest blieben, der Betrachter und „der einzige Goldpunkt in dem Meere von Silber", „die brennende Lampe drüben in dem Dachstübchen der armen Waschfrau, deren Kind auf den Tod liegt" — der Zauber des Mondes, in dessen „Glänzen" und „Flimmern" und „Leuchten" die Stadt ertrinkt. „Ein feiner Silberrauch ging über die Dächer der weiten Stadt, wie ein Schleier, der auf den hunderttausend schlummernden Herzen liegt." Dem Silber des Mondlichts, das in unfaßbarer Lebendigkeit ins Unendliche zerfließt, in einer mehr und mehr als tödlich erfahrenen Stille schwebt, die alles Irdische mit einem Schleier überzieht, hält nur diese Lampe als winziger Goldpunkt stand. Sie beleuchtet ein Geschehen, das für den Betrachter wie ein kleiner unauflösbarer Bewußtseinssplitter im Ganzen feststeht, für den Betroffenen aber, die arme Waschfrau, ihre Welt in Frage stellt: den Todeskampf des Kindes. Der Punkt bleibt stehen, aber eben nur als Punkt in dem alles überziehenden Silberglanz. Will der Dichter damit sagen, auf welche Größe sich die Sorge des Nachbarn in der Perspektive des Außenstehenden zusammenzieht, oder will er mit dem Goldpunkt, der ein Zeichen der unbeugbaren Lebenswirklichkeit ist, als Kontrastmittel, den Eindruck der Schein-Wirklichkeit der Mondnacht erhöhen, noch stärker vermitteln?

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„So schön das alles war, so wurden doch die Stunden eine nach der andern länger —." Die Zeit selbst hatte sich mit der Wendung der Mondkugel auf die „zweite Hälfte ihres dunklen Bogens" in die „tödlichste Stille" gewandelt, der Wartende zählt nicht mehr Stunden, im Fortharren wird „jede Minute lautloser" im einförmigen Schauen, bei dem ihn nach drei Vierteilen der Nacht der Kater überraschte, als schon die am Westhimmel schlummernden und sich dehnenden Wolkenbänke vom Monde anglommen „und durch ihre Glieder ein blasses Licht (floß), als rührten sie sich leise". Da, als „im Osten bereits ein verdächtiges Lichtgrauen herum(-kroch), als sei es der Morgen", und „die Luft, bisher so warm und todesruhig", lebendig wurde, zeigte sich „in einem lichten Gürtel des Himmels, den zwei lange Wolkenbänder zwischen sich ließen, „der Kondor als dunkle Scheibe". Die Auffahrt des Kondors wurde, „um jeder unberufenen Beobachtung zu entgehen", „in frühester Morgendämmerung" veranstaltet. Am Taghimmel schwebt der von dem jungen Menschen zuletzt als „dunkle Scheibe" wahrgenommene Ballon „in dem blauen Ozean", in derselben Richtung von Osten nach Westen, die die vollglänzende Scheibe, „die silberne Mondkugel", am Nachthimmel genommen hatte. Erinnernd an den strahlenden Aufstiegsakkord der Morgensonne am Schluß der Zauberflöte hatte er die drei Menschen in dem Schiffchen losgezogen „vom mütterlichen Grund der Erde", „daß Cornelia erschrak und meinte, der ganze Ballon brenne, denn . . . seine Rundung flammte wie eine riesenhafte Sonne". Schnell verliert das „Mutterantlitz" der Erde, das für einige Augenblicke „lieblich schön errötend unter dem Strahlennetz der Morgensonne" unter ihren Blicken liegt, seine „vertraute Wohnlichkeit". Cornelia — aus ihrer Schau nur wird das folgende Naturgemälde abgelesen, das Innere der beiden Männer verbirgt sich hinter ihrer Arbeit an den Instrumenten, und nur der junge Aeronaut verrät im „majestätischen Blick in die Finsternis", wie „sein Herz dichterisch mit der Gefahr und Größe (spielte)", — Cornelia stürzt selbstvergessen in den „luftigen Abgrund" hinein. „Von ihrem Herzen gab sie sich geflissentlich keine Rechenschaft." So läßt sie sich vom Kondor in den „äußersten Äther" entführen. „Der erste Blick war wieder auf die Erde — es war nicht mehr das wohlbekannte Vaterhaus"; (Man beachte die Kontrastworte zur Fremde dieses Raums: Mutterantlitz, Heimat, Vaterhaus!) „in dem fremden goldenen Rauche lodernd, taumelte sie gleichsam zurück, . . . erschrocken wandte die Jungfrau ihr Auge zurück, als hätte sie ein Ungeheuer erblickt, — aber siehe, auch um das Schiff walleten weithin weiße, dünne, sich dehnende und regende Leichentücher — von der Erde gesehen Silberschäfchen des Himmels; — zu diesem Himmel nun floh der Blick — aber das Himmelsgewölbe, die schöne blaue Glocke unserer Erde, war ein ganz schwarzer Abgrund geworden, ohne Maß und Grenze in die Tiefe

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gehend —", die Sterne treten hervor, „winzige, ohnmächtige Goldpunkte, verloren durch die Öde gestreut — und endlich die Sonne, ein drohendes Gestirn, ohn Wärme, ohne Strahlen, eine scharf geschnittene Scheibe, aus wallendem, blähenden, weiß geschmolzenen Metalle glotzte sie mit vernichtendem Glänze aus dem Schlünde —", „auch das Reich des Klangs war hier oben aus — und wenn das Schiff sich von der Sonne wendete, — war nichts, nichts da, als die entsetzlichen Sterne, wie Geister, die bei Tag umgehen." Das Schiffchen wurde zuletzt vom Betrachter „klein wie ein Gedankenstrich am Himmel" gesehen, und dieser Gedankenstrich treibt nun — das Schriftbild markiert den inhaltlichen Vorgang in der Form — durch die fürchterliche Wirklichkeit im Nichts, „Jetzo nach langem Schweigen taten sich zwei schneebleiche Lippen auf, und sagten furchtsam leise: ,Mir schwindelt/ Man hörte sie aber nicht." Der unermeßliche Raum, der der jungen Frau die Macht über sich selbst entreißt, weckt im jungen Aeronauten das Bewußtsein seiner Mächtigkeit: In kühnem Stolz blickt er in denselben Himmel. „Nach einigen Minuten neigte er sich zu der Jungfrau und blickte ihr ins Antlitz. Sie schaute mit stillen, wahnsinnigen Augen um sich und auf den weißen Lippen stand ein Tropfen Blut." — „Ich sagte dir, Richard, das Weib erträgt den Himmel nicht —." „Der Lord hielt die ohnmächtige Cornelia in den Armen." Aus dem Taghimmel, im Zeichen des „Kondor", bridit für die Frau, die sich als „armes Weib" erkennt, die sehnsüchtig bewunderte Männlichkeit. Der Mann aber, der in den Höhen, „in den Anden neue Stoffe für sein arbeitendes Herz" sucht, schöpft auf seiner Reise nächtliche Bilder, die in ihrer „Wärme und Herzlichkeit" die Seele der Frau berühren. Mit einer Zwiesprache von Mann und Frau im ewig auf das „unumstößlich Geschehene" reflektierenden Bild endet die Erzählung und birgt darin die nicht ausgesagte Zukunft.

D I C H T U N G U N D PHILOLOGIE Zu Hugo von Hofmannsthals ,Alkestis' Von Wendelin Schmidt-Dengler Hugo von Hofmannsthal meint in seinem Essay französische Redensarten", daß die Philologen alle Sprachen so lehrten, als wären sie tot; er setzt die Philologen in Gegensatz zu den einfachen Sprachlehrern, die ihre Muttersprache lehrten, in dieser Muttersprache aber gedacht, gewünscht und geträumt hätten1. Ob nun jene kleine Bosheit Hofmannsthals zurecht besteht oder nicht, ist in diesem Zusammenhang gleichgültig, wichtig nur, daß damit der schmerzliche Konflikt angesprochen wird, der zwischen Kunst und Wissenschaft, insonderheit zwischen der Philologie auf der einen Seite und der Sprache und der Dichtung auf der anderen besteht und der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts so verschärft hat, daß der Gegensatz unüberbrückbar, die Positionen unvereinbar scheinen2. Der Gegensatz von Philologie und Dichtung ist dem Romanisten Hofmannsthal ebenso bewußt gewesen, und die Unmöglichkeit, die wissenschaftliche Laufbahn mit der des Dichters zu vereinen, führte zu der folgenschweren Entscheidung, den Versuch einer Habilitation an der Universität Wien aufzugeben 3. Trotz des tiefen Mißtrauens, das Schriftsteller den Philologen entgegenzubringen geneigt sind, verzichten jene doch ungern auf Anregungen, die von diesen kommen, und auch Hofmannsthal verdankt seiner gründlichen Schulung im Griechischen und seinen Studien an der Universität jene Grundlagen, die es ihm ermöglichten, auch Texte antiker Tragiker — des Sophokles und Euripides — im Urtext zu lesen und sich an deren Bearbeitung zu wagen4. 1 P I, S. 300. Die Werke Hugo von Hofmannsthals werden im Text in Klammern sowie in den Fußnoten nach der Ausgabe von Herbert Steiner (Frankfurt 1952- 1959) mit folgenden Siglen zitiert: Gedichte und lyrische Dramen = GLD; Dramen, 1. - 4. Bd = D I - I V ; Prosa, 1. - 4. Bd = P I - I V ; Aufzeichnungen = A. 2 Vgl. dazu Uvo Hölscher , Die Chance des Unbehagens. Zur Situation der klassischen Studien. Göttingen 1965, S. 11 f. 3 Vgl. dazu Werner Volke , Hugo von Hofmannsthal in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1967, S. 52 - 55. 4 Vgl. dazu Walter Jens, Hofmannsthal und die Griechen, Pfullingen 1955, S. 149, Anm. 47.

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Man hat bei der literarhistorischen Würdigung der Bearbeitungen Hofmannsthals einen wichtigen Umstand übersehen: er ist nach Grillparzer der erste bedeutendere deutschsprachige Autor, der sich an die Nachdichtung eines Stoffes wagt, der von einem antiken Dramatiker bereits behandelt worden war. Grillparzers Trilogie ,Das goldene Vließ 4 entstand zwischen 1818 und 1820, Hofmannsthal ,Alkestis' 1893, also rund siebzig Jahre später. In diesem Zeitraum war die Antike als Stoff- und Themenquelle keineswegs dem Blick der Autoren entrückt, nur wagte man es nicht, sich dem bereits von einem attischen Dramatiker präformierten Gebilde durch Umoder Nachdichtung zu stellen und dadurch in ein Konkurrenzverhältnis zu treten. Viel eher wird die Antike zum Reservoir des Stoffes dort, wo dieser dichterisch nicht ausgeformt ist. Die Spätzeiten der Antike werden Objekt der Behandlung; bei Figuren, welche in ihren Konturen bloß undeutlich durch die Historiographie gezeichnet sind, sind Um- und Nachdeutungen verstattet: Man denke an Stefan Georges Heliogabal, an Geibels Antinous, an die Romane Felix Dahns oder Georg Ebers'. Was jedoch in der Antike bereits dramatisch gestaltet worden war, von dem hielt man sich fern. Die Dichtung der Antike, besonders aber die attische Tragödie wurde zum beinahe ausschließlichen Betätigungsfeld der Altphilologie, deren Aufschwung in Deutschland vom Beginn des Jahrhunderts bis zu dessen Ende durch Namen — um nur wenige zu nennen — wie Carl Ottfried Müller, Gottfried Hermann, Friedrich Gottlieb Welcker, August Böckh und vor allem durch Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff gekennzeichnet ist 5 . Für die Aneignung der antiken Dichtung wird die Philologie zuständig, und um diese Aneignung auch durchzuführen, den antiken Geist in den deutschen Bereich überzuführen, entstehen nun meist von Philologen angefertigte Ubersetzungen. In der Übertragung der griechischen Tragiker ist ein wesentlicher Teil jenes Rezeptionsprozesses zu erblicken, der auch unser Bild von der antiken Tragödie bestimmt6. Diese Ubersetzungen streben weniger danach, als Dichtungen geglückt zu sein, sondern versuchen, im Vertrauen auf die Qualitäten des Originals, dessen Inhalt und Gehalt adäquat zu vermitteln, und nicht mehr. Das bedeutet freilich nicht, daß sie nur für Philologen gelten sollten; hinter alledem steht bereits der Wunsch, diese Tragödien wieder spielbar zu machen, mit ihrer Hilfe die Bühne der Gegenwart zu erobern und so auch den Nutzen der Philologie im zeitgenössischen Kunstleben zu demonstrieren. Angesichts der Vielzahl von Übersetzungen und der Verbindlichkeit, die den antiken Kunstwerken zuerkannt wurde, erstaunt allerdings die geringe Anzahl der Aufführungen 5

Vgl. dazu Hölscher (zit. Anm. 2), S. 13 f. Eine Darstellung der Rezeption der antiken Literatur im 19. Jahrhundert, vor allem eine Bibliographie der Ubersetzungen griechischer und lateinischer Texte ist ein Desiderat. 6

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antiker Dramen auf deutschen Bühnen. Die hödist aufschlußreiche Geschichte der antiken Tragödie auf der modernen Bühne hat als erster Wolfgang Schadewaldt in einer instruktiven Studie aus dem Jahre 1955 dargestellt. Schadewaldt verweist auf den Umstand, daß Goethe als Leiter des Weimarischen Staatstheaters in der Zeit von 1791 bis 1817 nur zwei Dramen des Sophokles — ,Antigone' und ,ödipus Rex* — zur Aufführung brachte7, daß einer Aufführung der ,Antigonec auf dem königl. Schloßtheater in Sanssouci im Jahre 1841 zwar bei der Aufführung Erfolg, aber keine nachhaltige Wirkung beschieden war. Es war die Tat Adolf Wilbrandts, durch die sich das antike Drama auf der deutschen Bühne einen festen Platz erobern konnte. Wilbrandt selbst hatte mehrere Dramen des Euripides und Sophokles übersetzt, 1866 konnte er auf der Meininger Bühne mit dem ,König ödipus' und der ,Antigone' Erfolge verzeichnen, der Durchbruch gelang ihm aber auf dem Wiener Burgtheater, wo in dem Zeitraum von 1886 bis 1899 der ,König ödipus' mit großem Erfolg dreißigmal aufgeführt wurde. Wilbrandt war kein Philologe, bemühte sich aber, dem Original so nahe wie möglich zu kommen, wobei er aber die Treue nicht in der Wörtlichkeit sah, sondern in der lebendigen Aneignung des Originals für die Bühne. Schon die formalen Prinzipien sind wichtig: Er entfernt im allgemeinen den jambischen Trimeter, den er als „spröden Fremdling" bezeichnet, und ersetzt ihn durch den Blankvers 8. Ebenso verzichtet er auf die langen Agone, die in Stichomythien abgewickelt werden, und verteilt die Chöre auf einzelne Sprecher, in „schickliche I n d i v i d u a l i t ä t " , wie er es nennt. Damit wird dem Chor jene fragend-kommentierende Funktion zugedacht, wie sie vom Volk in den Massenszenen der Dramen Shakespeares durch die Aufteilung auf einzelne Sprecher wahrgenommen wird. Das statische Element des Chores wird aufgelöst. Doch entspricht dem Gewinn an dramatischer Dynamik ein Verlust an ideeller Aussage. Doch darum geht es Wilbrandt nicht. Diese Aussage ist für ihn „ein blasses Theorem", voll „abgestorbener Symbolik" 9 . Hofmannsthal hat Wilbrandts Übersetzungen wahrscheinlich gekannt, ja für seine Bearbeitung des ,Oedipus Rex' vielleicht auch benutzt 10 . Zudem werden ihm diese wohl von den Aufführungen auf dem Wiener Burgtheater bekannt gewesen sein, und somit auch jene Prinzipien der Umgestaltung, 7 Wolfgang Schadewaldt, Antike Tragödie auf der modernen Bühne, in: W. Sch. y Antike und Gegenwart. Uber die Tragödie. München 1966, S. 69 f.; auch in: Hellas und Hesperien, 1. Aufl. 1960; 2. Aufl. in zwei Bänden 1970. 8 Drei Tragödien des Sophokles mit Euripides' Satyrspiel. Mit Rücksicht auf die Bühne übertragen von Adolf Wilbrandt. Nördlingen 1866, S. V I I I . 9 Wilbrandt, ebda., S. X V I I I . Vgl. auch Schadewaldt (zit. Anm. 7), S. 79 f. 10 Schadewaldt (zit. Anm. 7), S. 83, Anm. 1 spricht von deutlicher Abhängigkeit Hofmannsthals von Wilbrandt. Das scheint mir unzutreffend. Vgl. dazu auch Karl G. Esselborn, Hofmannsthal und der antike Mythos, München 1969, S. 9.

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von denen zuvor die Rede war. Und damit erweist sich der Verweis auf Wilbrandt wichtig als Voraussetzung für das Verständnis der Bearbeitung der griechischen Vorlagen durch Hofmannsthal, besonders für die ,Alkestis' (1893) und den ,König ödipus* (1906), also für jene Texte, in denen sich Hofmannsthal enger an das griechische Original hielt als in der ,Elektra c (1903) oder gar den späten Griechendramen. Denn dort, wo Wilbrandt und auch Hofmannsthal in den Formcharakter der antiken Dichtung — Zerstörung der Stichomythie und Auflösung des Chores — eingegriffen haben, ergeben sich notwendigerweise in gehaltlicher Hinsicht Leerstellen, die der Auffüllung bedürfen. Wie Hofmannsthal diesen Verlust der Tiefendimension, der durch die Umgestaltungsprinzipien eintritt, auszugleichen sucht, davon soll später die Rede sein11. Bevor wir jedoch versuchen wollen, anhand der jAlkestis' den Typus jener frühen Griechendramen Hofmannsthals zu erläutern, sei ein Blick auf das ,Vorspiel zur Antigonec (1900) gestattet, in dem der Autor über seine Position zur Antike sowie über die Möglichkeit der Realisation antiker Dramen auf der Bühne seiner Zeit reflektiert hat 12 . Dieser Text wird kaum beachtet, obwohl er implizit Wesentliches zur Antikenrezeption Hofmannsthals aussagt. Der äußere Inhalt ist rasch erläutert: Zwei Studenten verlassen eine Probe für die ,Antigone' des Sophokles; den einen hält eine seltsame Erscheinung zurück, ein Genius, der ihm das Wesen der Tragödie enthüllen soll, daß nur auf der Bühne „Wirklichkeit" (D I, S. 281) ist: Hinter alledem steht, obwohl verschlüsselt, der Topos von der Welt als Bühne, oder besser die Umkehr dieser Topik: Die Bühne als Welt 1 3 . Wirklichkeit kann nur im Spiel der Bühne erfahren werden. Durch den Hauch des Genius wird der Student sehend14. Er erfährt die Wirklichkeit des Dramas und fühlt sich Antigone, der „schwesterlichen Seele" (D I, S. 284), nah. Das Vorspiel führt uns in die Problematik ein, in der Hofmannsthal die Übertragung der antiken Tragödie auf die moderne Bühne sehen mußte. 11 Vgl. dazu auch Schadewaldt (zit. Anm. 7), S. 84 f. in bezug auf den ,König ödipus4 in der Bearbeitung Hofmannsthals: » [ . . . ] eine Art Gläubigkeit, die auch wieder einen Zug ins Sensualistisch-Mystische mit sich führt, ist bei Hofmannsthal inzwischen aufgelebt, aber indem sie sich bekennt, zieht sie sich auch wieder in sich selbst und ins Unbestimmte zurück." 12 Vgl. dazu vor allem die rätselhafte Stelle aus dem Jahre 1894 in A, S. 109: „Unser Leben gegen das der Antike gehalten: [...]." 13 Die Worte Jacques* in Shakespeares ,As You Like It 4 (2. Akt, 7. Szene) sind der bekannteste Exponent dieses Topos. Zu dessen Bedeutung bei Hofmannsthal vgl. Hinrich C. Seeba, Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik und Moral in Hofmannsthals ,Der Tor und der Tod4. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1970, S. 16 f. 14 Vgl. Rolf Tarot, Hugo von Hofmannsthal. Daseinsform und dichterische Struktur. Tübingen 1970, S. 290, Anm. 136.

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Der Student versucht, sich dem schweigenden Genius, den er für ein Fräulein hält, zu nähern: Die Griechen, sie sind doch recht fern — doch Sie, Sie tragen dies Gewand, als wärs das Ihre — ja, Sie sind hier im Täuschenden zu Haus, und das geheimnisvolle Element umgibt und nährt Sie; wie beneidenswert! (D I, S. 277)

„Die Griechen, sie sind doch recht fern" — darin zeigt sich das Ungenügen, das Hofmannsthal in bezug auf jene Transpositionen im Sinne Wilbrandts empfunden haben muß. Die Möglichkeit, sich des antiken Dramas zu bemächtigen, erfolgt durch die Epiphanie eines Genius. Hofmannsthal sieht die Antike gebrochen durch eine Form ihrer Rezeption 15 : Der Genius ist das vieldeutigste, zugleich auch das zentrale Mythologem der Goethezeit, jenes Mythologem, das den in der Literatur dieser Epodie vollzogenen Synkretismus antiker und christlicher Vorstellungen ermöglichte 16. Wie in der Literatur der Goethezeit ist der Genius auch hier Mittler: Er vermittelt die Erfahrung der Antike und damit die Teilhabe „an etwas Furchtbarem" (D I, S. 283), Bedrohung durch die „übermäßigen Gesichte" (D I, S. 284), eine Erfahrung, die nicht konkret nachvollziehbar ist, eine Mischung aus Angst, Staunen und Schrecken, das in der Auflösung der Person zu münden scheint: Denn dem Hauch des Göttlichen hält unser Leib nicht stand, und unser Denken schmilzt hin und wird Musik! (D I, S. 284)

Mit diesen Worten schließt das Vorspiel: Sie sind zugleich programmatisch für Hofmannsthals frühe Dramen. Das Denken wird zur „Musik", d. h. daß die Sprache nicht in der Lage ist, jene Erschütterung zu fassen, die durch die Tragödie vermittelt werden kann. Hier ist in nuce bereits der Ansatz zu jener Sprachskepsis vorhanden, die für die spätere Dichtung Hofmannsthals konstitutiv wird (vgl. D I, S. 261) 17 . Wie sich das in der Transposition der antiken Tragödie realisiert und bereits in der ,Alkestis' vollzogen wurde, soll in einem anderen Zusammenhang zur Sprache kommen. Auf jeden Fall lehrt das ,Vorspiel zur Antigone', daß eine einfache Transposition, eine Übertragung für die Bühne nicht jenes Wesen vermitteln könne, von dem nach Hofmannsthal die Dichtung erfüllt ist. Dies ergibt 15

Vgl. dazu Esselborn (zit. Anm. 10), S. 8, Anm. 4. Meine noch unpublizierte Habilitationsschrift ,Genius. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit4 befaßt sich mit diesem Fragenkreis. 17 Vgl. dazu vor allem Lothar Wittmann, Sprachthematik und dramatische Form im Werke Hofmannsthals. Stuttgart 1966. 16

11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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sich nicht zuletzt auch auf Grund der völlig unterschiedlichen Umwelt: Der Student weiß, daß er unter ganz anderen historischen Bedingungen aufwächst. Auf die Frage des Genius „Und wer bist du?" meint der Student, er wäre „ganz Wirklichkeit" und fährt fort: Dies ist die Bühne, eh probierten wir ein griechisch Trauerspiel; die draußen gehn und Türen schließen, die sind meinesgleichen; und draußen ist die Stadt mit vielen Straßen: auf Viadukten dröhnen Züge hin durch schwefelfarbne Luft hinaus ins Land; dort stehen Wälder, und die suchen wir zuweilen — doch umgibt uns hier wie dort Geschick und schlummerlose Wirklichkeit, und nichts ist leer —, (D I, S. 279) 18 .

Die Wiederholung der ,Antigonec auf der Bühne wird als Vorgang begriffen, der sich in der Gesellschaft, im Hic et Nunc des Autors abspielt, doch der Genius kommt aus seinem „Drüben" und will den Studenten entrücken. Die Forderung der erschütterten Teilhabe erhebt sich aus diesem Vorspiel an die Zuschauer, doch muß der Autor auch für sich die anspruchsvolle Förderung ableiten, durch seine Transposition dem Zuschauer jene Erschütterung mitzuteilen. Diese Überlegungen, die sich aus dem ,Vorspiel zur Antigone' ergeben, eröffnen eine neue Perspektive für die Analyse der frühen Griechendramen Hofmannsthals und lassen sich bereits für eine Betrachtung der ,Alkestis' fruchtbar machen. Doch zunächst zurück zu Wilbrandt; ihm ist mit Hofmannsthal gemeinsam, daß er für die Bühne schreibt. Hofmannsthal hat das im Zusammenhang mit der Arbeit an der ,Alkestis' betont und auch vorgefühlt, ob eine Aufführung im kleinen Münchner Rokokotheater möglich wäre 19 . Dieser Umstand ist für eine gerechte Beurteilung der Leistung Hofmannsthals als Bearbeiter antiker Tragödien Voraussetzung. Daß jedoch Hofmannsthals Verhältnis zur dramaturgischen Realisation der antiken Vorlage problematisiert war, wird aus dem ,Vorspiel zur Antigone' überdeutlich. Er spricht nicht mehr naiv wie Wilbrandt vom „Bedürfniß des Publikums, unsrer Gebildeten" 20 , setzt also nicht seine Gegenwart absolut gegen das Antike, sondern versteht sich bereits historisch in seiner Relation zur Vergangenheit. Die Figur des Genius ist ein Beweis dafür. Kennzeichnend etwa, daß er die Kostüme im Entwurf für eine Pentheus-Tragödie nach Euripides* 18 Kennzeichnend für die fast centonenhafte Sprechweise der Figuren Hofmannsthals ist der deutliche Anklang an Goethes ,Faust', V. 523: „Ihr last gewiß ein griechisch Trauerspiel?" 19 Vgl. Esselborn (zit. Anm. 10), S. 9. 20 Wilbrandt (zit. Anm. 8), S. I X .

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,Bacchae< aus dem Jahre 1904 im „Geist Aubrey Beardsleys" haben will (D I I , S. 523). Das bedeutet Sicht der Antike unter einer bestimmten Stilform, die verfügbar ist, nicht aber den Versuch, das eigene Werk als Originaltreue beanspruchende Übertragung zu verstehen, es bedeutet auch nicht, den Urtext adäquat zu präsentieren. Die Bearbeitung, die Hofmannsthal vornehmen will, ist durchwegs Neugestaltung, die nicht die Absicht hat, mit der Vorlage in Konkurrenz zu treten. Doch ist es nur billig, Vorlage und Bearbeitung zu vergleichen, um die Eigenart Hofmannsthals zu bestimmen. Dies ist gerade in bezug auf die jAlkestis' mehrfach vorgenommen worden. Durch diese Untersuchungen wurde auch die Leistung Hofmannsthals klarer umrissen; wir können nun das Eigene vom Übernommenen abheben. Die eingehendste Untersuchung zur ,Alkestis' in der letzten Zeit hat Eva-Maria Nüchtern 1968 vorgelegt. Sie geht von den Vorwürfen aus, die gegen Hofmannsthals Bearbeitung der jAlkestis4 erhoben wurden und versucht, erstens Abweichungen und Entsprechungen zur Vorlage zu bestimmen und zweitens die Frage „nach der eigenen Struktur und spezifischen Qualität der Hofmannsthalschen Dichtung" zu stellen21. Wir möchten die hier angedeutete Fragestellung erweitern, und zwar im Sinne der Literaturgeschichte, als Rezeptionsgeschichte. Wir wollen uns nicht damit begnügen, das Werk Hofmannsthals allein an der euripideischen Vorlage zu messen, sondern die Leistung Hofmannsthals vor dem Hintergrund des Antikenverständnisses seiner Zeit untersuchen. Denn Hofmannsthal kann schwerlich als Erneuerer des Euripides oder Sophokles angesehen werden, wohl aber als ein Autor, der bemüht ist, das Verhältnis seiner Epoche zur Antike zu korrigieren, zu erneuern, zu wandeln. Noch 1921 erwähnt Hofmannsthal seine ,Alkestisc als ersten „Vorversuch Antik-Mythisches neu zu gestalten" (A, S. 370). Das ist der Anspruch, der im ,Vorspiel zur Antigone des Sophokles* zu erkennen war; nicht das AntikMythische zu deuten, sondern neu zu gestalten hätte er sich als Aufgabe gestellt. Zugleich ist dies die Maxime auch für die späteren Griechendramen. 21

Eva Maria Nüchtern , Hofmannsthals ,Alkestis'. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1968, S. 12. Darin auch eine übersichtliche Bibliographie der Literatur zu diesem Werk Hofmannsthals. Als Ausgangspunkt dient Nüchtern die Untersuchung von Kurt von Fritz , Euripides ,Alkestis' und ihre modernen Nachahmer und Kritiker, in: K. v. F., Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962, S. 256 - 321. Zu ergänzen sind vor allem die Arbeiten von Esselborn (zit. Anm. 10) und Ortwin Kuhn , Mythos — Neuplatonismus — Mystik. Studien zur Gestaltung des Alkestisstoffes bei Hugo von Hofmannsthal, T. S. Eliot und Thornton Wilder, München 1972. In dem ,Vortrag von Albin Lesky vor der Leseaufführung von Hugo von Hofmannsthals ,Alkestis' anläßlich der 40. Wiederkehr seines Todestages' (Almanach der österreichischen Akademie der Wissenschaften, 119. Jahrgang, 1969) sind die Unterschiede zwischen Euripides und Hofmannsthal scharf an drei Punkten herausgestellt. 11*

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Wie sieht nun dieser erste „Vorversuch" aus? Es ist heuristisch empfehlsam, hier nicht nur im Werk Hofmannsthals zu bleiben, sondern sich zu fragen, wie sich jenes „Antik-Mythische" anderswärtig zur Zeit Hofmannsthals präsentieren konnte. Im Gegenbild einer Übersetzung mit Erläuterungen soll dies nun erfolgen. Dabei ist eines vorauszuschicken: Von den philologischen Grundlagen, die Hofmannsthal zur Verfügung hatte, wissen wir leider wenig. Wir wissen nicht, warum Hofmannsthal für seinen ersten Versuch gerade auf Euripides' ,Alkestis* verfallen ist 22 . Hier ist man, solange es keine historisch-kritische Ausgabe beziehungsweise die Möglichkeit, den Nachlaß einzusehen, gibt, auf Spekulationen angewiesen. Ob und welche Übersetzung, welche Kommentare Hofmannsthal benutzt hat, wird aus dem bis jetzt publizierten Material nicht völlig klar, so daß eine Präzisierung der Aussagen zum Text in Einzelfällen nicht möglich ist 23 . Für den nun unternommenen Versuch, den Charakter des „Antik-Mythischen" in der , Alkestis* zu bestimmen, sei zum Vergleich die Übertragung des wohl hervorragendsten Repräsentanten der deutschen Altphilologie um die Jahrhundertwende herangezogen, und zwar die Übertragung von Ulrich Wilamowitz-Moellendorff, deren erste Auflage 1906 erschien, und die Hofmannsthal im großen und ganzen für seine Bearbeitung der ,Alkestis* nicht gekannt haben kann. Spätere Interpolationen, die unter Umständen auf diese Übersetzung zurückzuführen sind, sind nicht auszuschließen24. Wilamowitz hat seine Übersetzung mit einem ausführlichen 22 Der Plan, die ^acchen' des Euripides neu zu gestalten, war vorausgegangen (vgl. A, S. 100). 23 Am meisten bietet dazu Walter Ritzer, Hofmannsthals Bearbeitungen griechischer Dramen / Alkestis und König ödipus. Diss. Wien 1935 (masch.), worin auf die Parallelen zu der Übersetzung von Alfred Bernstädt (Reclams UB, Nr. 1337) sowie auf die Benutzung der Nacherzählung des Alkestis-Stoffes durch Gustav Schwab in ,Die schönsten Sagen des klassischen Altertums' aufmerksam gemacht wird (vgl. vor allem S. 75 - 90). — Der Spielplan des Wiener Burgtheaters und die Bearbeitungen antiker Dramen, welche auf dieser Bühne gegeben wurden, ist folgenden Wiener Dissertationen zu entnehmen: Gottfried Alexander Lorenz, Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters. Diss. Wien 1959 (masch.); Alfred Scbleppnikj Grundlagen und Entwicklungen der Repertoiregestaltung im Wiener Burgtheater zwischen 1881 und 1914. Diss. Wien 1969 (masch.); Gerhard Köhler, Adolf Wilbrandts Dramen am Burgtheater. Diss. Wien 1970 (masch.). Eine unmittelbare Beeinflussung Hofmannsthals durch diese Aufführungen ist aus den angeführten Arbeiten nicht zu erschließen. 24 Wilamowitz verweist in der Einleitung besonders auf den für das antike Drama seltenen Fall, daß die Bühne nach dem Abgang des Herakles, der Alkestis dem Tod entreißen will, leer bleibt. (Griechische Tragödien. Ubersetzt von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, 3. Bd., 3. Aufl., Berlin 1910, S. 95; vgl. ebda S. 139 sowie Hofmannsthal, D I, S. 41.) Da dieses Faktum in anderen Ubersetzungen nicht hervorgehoben wird, scheint die Bemerkung zur Regie eine Anregung durch Wilamowitz nahezulegen. In der Übersetzung von Bernstädt (zit. Anm. 23), S. 30, die als Vorlage für Hofmannsthal von Ritzer namhaft gemacht wird, heißt es sogar zum Unterschied von Wilamowitz in der Regieanmerkung: „Indem er abgeht, kommt Admet mit Gefolge."

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Vorwort versehen, indem er sowohl den mythologischen Hintergrund darzutun sucht, also auch die Dichtung des Eurípides in ihrer literarhistorischen und gesellschaftlichen Bedingtheit wie in ihrer Struktur zu erfassen sucht. Wilamowitz hat für seine Bewertung antiker literarischer Werke stets das historische Denken gefordert. Im Vorwort zu seiner Übersetzung der ,Medea' des Eurípides verweist er auf Theodor Mommsen, der der Philologie „die nächste Aufgabe" zugewiesen hätte, nämlich „sich auf ihre Pflicht zu besinnen und nicht zu ruhen, bis sie ihr Ziel erreichte, geschichtlich zu verstehen, um gerecht zu urteilen". Im Zusammenhang mit diesem Drama des Eurípides führt er dann aus: „ ( . . . ) ein wirkliches Kunstwerk trägt sein eigenes ewiges Licht in sich. Durch die Zeit und die Teilnahmslosigkeit und Verkehrtheit der Menschen ballen sich Dünste und Nebel zusammen und lassen die Strahlen höchstens noch gebrochen und getrübt hindurch. Das kann nicht anders sein; aber diese zu vertreiben ist die Philologie da; dann wird das Licht schon selbst leuchten"25. Philologisches Selbstbewußtsein erhebt den Anspruch, den Kunstcharakter eines Werks allein sichtbar zu machen, es bedürfe keiner Adaption. Daß Wilamowitz sich selbst durch die Form der Rezeption, die sich vor allem in der Übersetzung niederschlägt, als Kind seiner Zeit erweist, wird ihm freilich nicht bewußt. Schadewaldt, ein Schüler von Wilamowitz, und heute selbst als einer der besten Übersetzer anerkannt, urteilt über dessen Übersetzungen, deren Stil er als ein „seltsames Gemisch von Schiller, Geibel, protestantischem Kirchenlied, spätgoetheschen Rhythmen, Hebbelschem Dialog mit seltsamen Abstürzen in den Alltagsjargon" bezeichnet, und meint, daß „dies alles zusammen, völlig ungewollt und darum um so innerlich notwendiger, auf den mit den Skandinaviern und dem jungen Hauptmann auf dem Theater Otto Brahms inzwischen heraufgekommenen Naturalismus hin entwickelt" sei26. Das historische Verständnis wird aber für den Philologen Wilamowitz auch zum Maßstab für die neuere Dichtung. Das oberste Prinzip ist die Rückkehr zum „Ursprung", wobei dieser Ursprung als solcher immer unscharf im Begrifflichen bleibt. Dies ist nach Wilamowitz' Meinung ganz wenigen gelungen. In einer Fußnote im Vorwort zur ,Medea* führt er aus: „Kleist hat es mit Alkmene, Goethe mit Iphigenie und Helena, Schiller mit dem Mädchen von Orleans so getroffen; ich ziehe die Parallele mit den Modernsten nicht, denn ich gönne jedem, der wirklich ein Dichter ist, gern seinen Willen. Aber ich wünschte, sie wollten anderes 27." Gewiß mag Milamowitz aus der Überzeugung handeln, daß nur die Philologie den Zugang zur Dichtung der Antike eröffne, er übersieht aber, daß eben er selbst auch 25

Wilamowitz (zit. Anm. 24), S. 165 f. Schadewaldt (zit. Anm. 7), S. 81. Zur Übersetzungspraxis von Wilamowitz vgl. auch Hölscher (zit. Anm. 2), S. 22 - 27. 27 Wilamowitz (zit. Anm. 24), S. 178, Anm. 1. 26

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seine Leistung historisch relativieren müßte, um ihr gerecht zu werden. Auf der einen Seite „strahlt das ewige Licht" des Kunstwerkes, auf der anderen bedarf es der Wissenschaft, die ebenso als eine absolute Größe genommen wird, um das Kunstwerk in seiner historischen Relativität zu sehen. Die Ablehnung der Modernsten — wen mag er mit dieser Bemerkung aus dem Jahre 1906 meinen? — gründet eben auf dem historischen Bewußtsein, das glaubt, alle Perioden sich verfügbar gemacht zu haben und damit auch deren Kunstwerke. Wilamowitz versagt sich auch nicht manches harte Urteil über die von ihm übersetzten Autoren. Euripides wirft er vor, daß die Komposition der ,Alkestis' unharmonisch wäre 28 , das Werk zerfiele in lauter einzelne Stücke von sehr verschiedenem Ton, der Dialog wäre primitiv. Der apodiktische Freimut ist Wilamowitz oft angekreidet worden, trifft aber im Falle der ,Alkestis' ins Schwarze insofern, als wir auch, bei Hofmannsthal und beinahe zu allen anderen Bearbeitern des Stückes auf eben jene Disparität der einzelnen Teile stoßen, auf eine Inkonzinnität der Handlungselemente, die zugleich den Zauber des Stückes wie dessen intrikate Problematik ausmachen. Wilamowitz hat das Hauptskandalon, das bis zum heutigen Tag die Interpreten wie Bearbeiter irritiert und das auch für das Verständnis der Bearbeitung Hofmannsthals einsehbar gemacht werden muß, in seiner Einleitung zu eskamotieren gesucht. Ich setze hier noch einmal kurz den Inhalt der ,Alkestis' des Euripides vor und verknüpfe damit zugleich die Darstellung des zentralen Skandalons: Admet muß, weil er ein Opfer versäumte, sterben. Der Gott Apollon, der bei Admet infolge einer Verfehlung Dienste leisten mußte, hat den Herrn lieb gewonnen und versucht, sein Leben zu bewahren. Er überlistet die Moiren, Admet müßte nicht sterben, wenn sich ein anderer Mensch dafür bereit fände. Niemand nimmt das Opfer auf sich, nicht die alten Eltern des Admet, keiner der Freunde. Nur die junge Gattin, Alkestis, will für ihren Mann sterben. Das Drama setzt ein, als der Tod Alkestis holen will. Dies liegt freilich einige Jahre nach dem Gelübde. Das Drama zeigt das Sterben der Alkestis; Herakles erscheint im Hause des Admet. Dieser will seinen Gast freundlich empfangen und verheimlicht, daß es seine Frau ist, die starb, und gibt vor, es wäre eine andere Frau gestorben, die zwar nicht blutsverwandt, doch dem Haus sehr verbunden gewesen wäre. Herakles meint, sich durch diesen Todesfall nicht betroffen fühlen zu müssen, und zecht fröhlich in dem Trauerhaus. Ein Diener klärt ihn auf; als Herakles den Sachverhalt erfahren hat, eilt er zum Grabmal und ringt dem Tod seine Beute ab. Er führt Alkestis zurück, verschleiert. Nur widerstrebend will Admet diese Frau aufnehmen. Er ahnt nicht, daß es sich hier 28

Ebda, S. 93.

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um Alkestis handelt. Er hat seiner Frau gelobt, sich nie mehr zu vermählen, und meint, schon die Nähe einer Frau, die der Gestalt nach zudem noch Alkestis gleicht, meiden zu müssen: Somit hat er die Probe bestanden, Alkestis ist ihm wiedergegeben. Was sich als Märchen erzählen läßt, in dem zuletzt der starke Hans triumphiert, verliert auf der Bühne seine Harmlosigkeit. Die Form des Dialogs, vor allem die agonale Auseinandersetzung in der Stichomythie bringt für die wichtigsten Handlungen der Akteure das Für und Wider und will es somit auch überprüfbar machen. Die Problemlosigkeit, mit der im Märchen ein Opfertod erfolgen kann, ist auf der Bühne nicht mehr gegeben, schon gar nicht zur Zeit des Euripides, der sein Stück eben in jenem Moment beginnen läßt, in dem sich die Frage jedem rational denkenden Zuschauer am stärksten aufdrängen mußte: Wie konnte dieser Admet das Opfer seiner Frau so einfach annehmen? Wie konnte er es zulassen, daß sie, gerade sie für ihn sterben sollte? Das Problem ist zu verschiedenen Lösungen geführt worden 29 . Zunächst der Lösungsversuch von Wilamowitz. Er versteht Admet als „Grandseigneur"; Euripides hätte thessalische Verhältnisse gekannt. In Thessalien, so Wilamowitz, hätte es noch den „Landadel großen Stils" gegeben. „Admetos ist Majoratsherr oder doch alleiniger Anwärter: das macht sein Leben für die Standesanschauung und zumal seine eigene besonders wertvoll" 3 0 . Wilamowitz findet es zudem wunderbar, daß „Euripides für diese so sehr wenig athenische Lebensauffassung ein feines Verständnis gehabt hat". Der Tragiker wird von Wilamowitz im Sinne des Realismus und auch Naturalismus als Porträtist tatsächlicher gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen. Der Deuter unterstellt dem Gedeuteten, daß dieser die von ihm in Angriff genommene Aufgabe geleistet hätte. Zugleich hat Wilamowitz damit auch die Crux, die sich bei der Bewertung der Handlungsweise des Admet ergibt, beseitigt und in einem die Treffsicherheit der euripideischen Charakterzeichnung gewürdigt. Durch das Bewußtsein, über die Komplexität der hellenischen Welt wie über das einzelwissenschaftliche Detail verfügen zu können, scheint das Ainigmatische der Dichtung behoben: Jegliche Ambiguität schwindet im Lichte der wissenschaftlichen Analyse. Die Distanz zum Griechentum ist aufgehoben insofern, als es sich durch die Erkenntnismittel der Gegenwart als völlig verstehbar erweist. Parallelisierung des Antiken mit Gegenwärtigem macht die Figuren des Dramas zu Zeitgenossen. Für den preußischen Junker Wila29 Ubersicht bei Kurt von Fritz (zit. Anm. 21). Diskussion des Problems bei Albin Lesky, Der angeklagte Admet. In: Gesammelte Schriften. Aufsätze und Reden zu antiker und deutscher Dichtung und Kultur. Hrsg. von Walther Kraus, Bern und München 1966, S. 281 - 294. 30 Wilamowitz (zit. Anm. 24), S. 89.

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mowitz 3 1 mußte der Vergleich Admets mit einem „Majoratsherren" naheliegen. Es geht in dieser Wertung der Wilamowitzschen Deutung nicht um die Frage, inwieweit diese Vergleiche förderlich, inwieweit die Beobachtungen zutreffend sind, sondern darum, daß der wissenschaftliche Erkenntnismodus und die Interpretationsweise des Philologen ebenso historisch bedingt sind wie das damit verglichene Werk Hofmannsthals. Bei Wilamowitz kommt hinzu, daß seine Deutung und Übersetzung aus der souveränen Kenntnis des Griechischen geschaffen sind. Das Begriffliche ist für ihn in beiden Sprachen fest umrissen, das Faktische wie das Abstrakte ist in der Sprache festlegbar, die als eindeutiges Mittel der Kommunikation angesehen wird. Durch die hier allgemein wie im besonderen hervorgehobenen Punkte soll auch die Bearbeitung Hofmannsthals Profil gewinnen. Es ist von vornherein klar, daß die Intentionen des Dichters anders sein müssen als die des Philologen, doch gilt es nunmehr, eben auf Grund dieser Andersartigkeit die Eigenart Hofmannsthals zu erkennen. Als Angelpunkt dazu dient die Figur Admets. Von dem Admet, der in den konkreten Gegebenheiten als thessalischer Majoratsherr sowie in seiner mythologischen Herkunft von Wilamowitz gedeutet32 wird, ist der König Hofmannsthals weit entfernt. Alles, was an Admets Handlungsweise bedenklich erscheinen könnte, soll durch die von Hofmannsthal intendierte Rückführung in den Mythos aufgehoben werden 33 . Admet wird wieder zum Märdienkönig. Die zentrale Partie hat Hofmannsthal präzise in den Mittelpunkt des Dramas gesetzt: Eben ist Alkestis gestorben, und ehe sie noch begraben werden konnte, erscheint Herakles. Admet will dem befreundeten Heroen die Gastfreund81 Vgl. dazu die Autobiographie von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848 - 1914. Leipzig 1918, S. 11 - 61. 82 Zu dieser Deutung vgl. vor allem Albin Lesky, Alkestis, der Mythus und das Drama. Wien und Leipzig 1925, S. 6. Nach Wilamowitz handelt es sich bei Admet ursprünglich um einen Unterweltsgott, der Alkestis in sein Reich entführt; Wilamowitz (zit. Anm. 24), S. 69. 88 Dabei ist zu beachten, daß Hofmannsthal die antike Mythenerzählung nicht im Detail rekonstruieren will. Im Gegenteil; alles, was zu sehr an mythographische Einzelheiten erinnert, wird getilgt. Zwei markante Beispiele: Apoll hat (Euripides, Alkestis, V. 12) die Moiren überlistet, indem er sie betrunken machte. Bei Hofmannsthal (D I, S. 10) hingegen heißt es: »[...] so ging ich zu den Schicksalsgöttinnen / und bat für ihn." Die Ankündigung Admets, er wolle sich eine Plastik seiner Frau machen lassen (Euripides, Alkestis, V. 348 - 354), wird bei Hofmannsthal zur Vision künftiger Träume: „Und manches Mal schlaftrunken wähn ich dann,/ du stündest da, und strecke meine Arme/ nach ihr [ . . . ] " (D I, S. 22). Zu dieser Stelle bei Euripides vgl. Euripides' Alkestis. Edited with introduction and commentary by A. M. Dale, Oxford 21961, S. 79. Was für die Griechen nichts Anstößiges enthält, kann in der Welt des fin de siècle peinlich wirken. Wilamowitz (zit. Anm. 24), S. 91 behilft sich damit, daß er auf die Parallele zur thessalischen Sage von Protesilaos und Laodameia verweist und den Ursprung dieses Bilderkultes als Totenbeschwörung auslegt. .

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schaft nicht verweigern und gewährt ihm Aufnahme. Bei Euripides tadelt der Chor Admets Verhalten; Wilamowitz übersetzt burschikos: In solcher Lage nimmst du einen Gast ins Haus, Admet? Bis du denn ganz von Sinnen?34

Im griechischen Drama zieht sich Admet geradezu spitzfindig aus der Affäre: Er hätte Herakles alles verheimlicht, um ihm nicht die Tür weisen zu müssen. Das Argument wirkt, und der Chor preist die Gastfreundschaft des Königshauses. Ganz anders Hofmannsthal. Admet beugt jedem möglichen Vorwurf selbst vor, nachdem er Herakles in seinem Haus aufgenommen hat: Wer mich hier nicht versteht, wer fragen will, wie dieses Tun zu solcher Trauer stimmt, wem alles dies unziemlich scheint und hart, der schweige und bedenk: der König tats. (D I, S. 30)

Zunächst eine Kleinigkeit: Die Sprecherangabe ist in der Edition Steiners mit „Der König" überschrieben. Der Umstand, dem bis dato meines Wissens keinerlei Beachtung geschenkt wurde, ist um so auffallender, als diese Rede zwischen zwei Reden Admets zu stehen kommt und ein Sprecherwechsel gar nicht angezeigt wäre 35 . Selbst wenn es sich nur um ein Versehen Hofmannsthals oder gar um einen Fehler im Abdruck handelt, ist der Umstand aufschlußreich. An dieser Stelle nämlich weicht Hofmannsthal am entschiedensten von seiner Vorlage ab und macht mit den Worten des „Königs" aus der Not eine Tugend. Admet ist nun vor allem König. Sollte die Sprecherangabe von Hofmannsthal beabsichtigt sein, so könnte sie darauf zielen, daß hier der König sich als unvergängliches Wesen ausspricht und nicht mehr der im Gegensatz dazu in seinem individuellen Schicksal verstrickte Admet 86 . Eine Klärung der Frage durch eine textkritische Ausgabe wäre höchst wünschenswert und für die Interpretation von Belang. Admet verfährt hier nicht wie bei Euripides argumentierend, sondern setzt sich und seine Handlungsweise emphatisch durch die Berufung auf sein Königtum ins Recht. Es wird nicht nur die Aufnahme des polternd fröhlichen 34

Wilamowitz (zit. Anm. 24), S. 126. So auch nicht in allen vor der Ausgabe Steiners erfolgten Abdrucken, sofern sie bibliographisch erfaßt sind. Im fehlerhaften Abdruck in der Wiener Rundschau 3 (1898/99), S. 55 - 6 2 heißt es zwar einmal — allerdings in anderem Zusammenhang — in einer Sprecherangabe „Der König Admet" (S. 57). — Hingegen ist D I, S. 29 noch einmal als Sprecherangabe „Der König" gesetzt. In den darauf folgenden Worten tut Admet seine Absicht kund, Herakles bei sich aufzunehmen. Durch diesen zweiten Beleg wird unsere Hypothese gestützt. 36 Zum Doppelwesen des Königs vgl. Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957. 35

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Herakles i n das Haus zu gerader dieser Stunde gerechtfertigt, sondern auch das Verhalten des Königs, der den Opfertod seiner Frau zuließ. V o n dieser Stelle her ist m. E. die Bearbeitung Hofmannsthals zu verstehen, wenngleich sie i m K o n t e x t der H a n d l u n g isoliert dasteht 3 7 . Durch die Isolation soll die H a n d l u n g als solche transzendiert werden. Nicht mehr das Geschehen als solches ist relevant, sondern der Hintergrund, der sich durch die Worte des Königs auftut: Admet w i r d dadurch zur Zentralfigur. D a es i h m „auferlegt" ist, „so k ö n i g l i c h z u s e i n " , daß er sein eigenes Leid darüber vergessen könnte ( D I , S. 31), verliert die Opfertat der Alkestis ihren ursprünglichen ethischen W e r t 3 8 : I h r T o d erweist sich als notwendige Voraussetzung für ein neues Leben. Admet entwirft eine Sozialutopie, deren Grundlage der T o d der K ö n i g i n ist: Der schöne Leib der jungen Königin ward in die Erde eingesenkt als Same: Nun sollen Wunderbäume Zweige spreizen, von Taubenschwärmen rauschend; alle Flüsse in meinem Lande sollen kühner rollen in lauterem Triumph und rollend spiegeln den Schatten wundervoll erhöhten Lebens; und Zaum und Zügel aller dieser Wunder will ich wie diesen Stab in meiner Hand beherrschend halten und mein Leid vergessen!39 (D I, S. 31) 37 Esselborn (zit. Anm. 10), S. 97 verweist mit Recht auf die isolierte Stellung dieser Worte, zieht aber daraus für seine Interpretation keine Schlüsse. Nüchtern (zit. Anm. 21) registriert trotz genauen Textvergleichs den Sprecherwechsel nicht. Ihr unterläuft auch ein Hysteronproteron in der Interpretation: „Admet ist durch Alkestis* Opfer aufgeschlossen für das Wunder der Wandlung." (S. 28) Nicht das Opfer, sondern sein Königtum macht Admet aufgeschlossen. Vgl. dagegen auch die Interpretation von Walter Jens (zit. Anm. 4), S. 39: „Aber die Vorstellung dauert nicht lange, denn was Admet erahnte, tritt nun ein. Das Ende von Traum, Trance und visionärer Zukunftsphantasie stößt den Erwachenden um so unerbittlicher in die Realität seines Leidens zurück." Vgl. dazu auch William H. Rey, Weltentzweiung und Weltversöhnung in Hofmannsthals Griechischen Dramen. Philadelphia 1962, S. 55: „So fällt Admet wieder in die Erstarrung des ,Todes' zurück, in die ihn seine Treue zu der Toten versetzt hat, und es bedarf der Wiederbegegnung mit der von Herakles dem Tode entrissenen, um die zweite Phase der Verwandlung, die Wiedergeburt, herbeizuführen." Vgl. auch Ernst Hladny, Hugo von Hofmannsthals Griechenstücke. X I I . (XLVIII.) Jahresbericht des K. k. Staatsgymnasiums in Leoben 1909/1910, S. 20, der allerdings nur von der in der Wiener Rundschau veröffentlichten Textgrundlage (zit. Anm. 35) ausgeht. 38 Vgl. Jens (zit. Anm. 4), S. 43 und Nüchtern (zit. Anm. 21), S. 29. 39 Völlig verfehlte Deutung der Stelle bei Ortwin Kuhn (zit. Anm. 21), S. 35: „Als Admet nach dieser ersten Erfahrung dem grölenden Herakles königliche Gastfreundschaft zuteil werden läßt, hat er sich als fleckenlose Idealgestalt bewährt; denn er ist zur Selbsterkenntnis gelangt und hat sich als Todgeweihter in seinen höheren Bezügen als göttlicher König erkannt." Das ist dem Text nicht zu entnehmen. Gewiß ist in den Worten Admets D I, S. 41, welche den stärksten Widerspruch zu der zitierten Stelle enthalten, jene Utopie bereits in sich zerfallen; doch tut dies dem Umstand keineswegs Abbruch, daß Admet bei Hofmannsthal seinem

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Die meisten Interpreten der Hofmannsthalschen ,Alkestis' haben hervorgehoben, daß es dem Autor in erster Linie darum ginge, jegliche Möglichkeit, Admet wegen seines Verhaltens Vorwürfe zu machen, zu beseitigen40. Dies scheint jedoch nur ein Nebeneffekt jener Intention zu sein, die Hofmannsthal mit der Gestaltung seiner ,Alkestis' verfolgte. Nicht die Figur Admets sollte — wie etwa bei Wieland 41 — durch Retuschen als untadelig erscheinen, sondern es ging darum, auf der Bühne die Atmosphäre der Verwunderung, des Erstaunens herzustellen, des Wunderbaren. In einer Notiz vom Anfang 1894 (?) heißt es: „Grundstimmung der , Alkestis': das unsäglich Wundervolle des Lebens tö [¿evftou^id^eiv jtQCptov [ ! ] xai ^leyiOTOv eivai (alter Philosoph) Verwunderung der Grundakkord erwachender Epochen." (A, S. 106 f.) Man hat die Dichtung Hofmannsthals immer wieder an der des Euripides gemessen und auch von dort her versucht, das Eigene Hofmannsthals zu ergründen. Das führt jedoch dazu, Hofmannsthal als tendenziösen Bearbeiter zu verstehen. Viel eher trat Hofmannsthal mit seiner Konzeption des Wunderbaren, das sichtbar gemacht werden sollte, an den Text heran und wollte damit nicht das Seltsame der Vorgänge erklären, sondern das Seltsame an sich herausstellen. Am härtesten hat der Altphilologe Kurt von Fritz über Hofmannsthals Bearbeitung geurteilt: „Was bei der Umarbeitung der Euripideischen Tragödie herausgekommen ist, ist ein traumhaftes Spiel, bei dem man nicht allzugenau nachprüfen darf, wie die einzelnen Teile menschlich und moralisch zusammenpassen. Mit der harten Tragik der Tragödien nicht nur des Euripides, sondern auch seiner großen attischen Vorgänger hat all das nicht das geringste zu tun." 4 2 Kurt von Fritz bemüht noch das Wort „Talmitiefsinn" 43 . Erkennt man aber, daß es Hofmannsthal weder um Interpretation des Euripides ging, noch darum, um das, was Kurt von Fritz als „harte Tragik" versteht, herauszustellen, wird der Blick für die Eigenständigkeit der Leistung des jungen Autors frei. Die Teile des Dramas sollen nicht „menschlich und moralisch" zusammenpassen. Hofmannsthal will diese Märchenwelt dem nachrechnenden Kalkül so weit als möglich entrücken. Es bleibt das Erstaunen über das Wunderbare, das sich in der Bearbeitung an drei Punkten zeigen soll, und zwar am Opfermut der Alkestis, an der Rettung durch Herakles und an der königlichen Haltung Admets.

Wesen nach den König schlechthin repräsentiert, er sich dessen erst bewußt wird, als Alkestis stirbt. Hierin ist auch eine eindeutige Motivparallele zu ,Der Tor und der Tod' zu erblicken. 40 So vor allem Esselborn (zit. Anm. 10), der bis ins Detail der Deutung von Kurt von Fritz folgt. 41 Vgl. Kurt von Fritz (zit. Anm. 21), S. 265 f. 42 Ebda, S. 285 f. 43 Ebda, S. 320.

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Der Opfertod der Alkestis wird durch den König umgedeutet zur Tat, durch welche ein neues Leben möglich wird. Hofmannsthal strebt nicht die moralische und psychische Konzinnität der Handlung an, sondern das ftaund^eiv. Ob freilich dafür gerade diese Tragödie des Euripides ein geeignetes Objekt der Demonstration war, bleibe dahingestellt. Daß es hier zu Kollisionen kommen mußte, die der Intention Hofmannsthals abträglich waren, sei vor allem an einem Punkt herausgestellt: Der Tod der Alkestis ist bei Hofmannsthal nicht so sehr Opfer für Admet wie Grundlage eines neuen Lebens. Ähnlich ist ja auch der Tod in „Der Tor und der Tod" nicht „schauerlich", er ist kein Gerippe, sondern ein „großer Gott der Seele" (GLD, S. 209). Von Euripides war nun eine Todesallegorie vorgegeben, die keineswegs jener Todeskonzeption entsprechen konnte, wie sie für die Umformung Hofmannsthals erforderlich war. Das „kalte, zynische Machtbewußtsein" des Todes stellt sich dem entgegen, was der Tod gerade bei Hofmannsthal zu leisten hat: Verwandlung, und dadurch erst Erfahrung der Sinnhaftigkeit des Lebens44. Zwar erscheint Alkestis nach ihrer Rückkehr als Verwandelte 45, doch wird die Art dieser Verwandlung nie konkret nachvollziehbar: „ausschöpfen kannst du nie den Sinn davon" (D I, S. 50) erklärt Herakles zu Ende: Alkestis schweigt, ihre Erfahrung kann nicht Wort werden. Doch dieses Verschweigen und Schweigen ist symptomatisch für die Figuren der „Alkestis": Sie befinden sich stets an der Grenze des Sagbaren, für sie wird alles unsäglich. Hofmannsthal meinte damit sicher auch, besonders griechisch zu fühlen, da er frühgriechisches Gedankengut wiedergab. Herakles' Worte „ausschöpfen kannst du nie den Sinn davon" sind freie Paraphrase eines Heraklitsatzes über den Logos und die Psyche46. So wird alles, was uns widerspruchsvoll erscheinen mag, aufgehoben angesichts der Unmöglichkeit, es auch aussprechen zu können. Das Fürchterliche wie das Wunderbare sind jeweils daran erkennbar, daß sie nicht aussprechbar sind. So Admet, als er Alkestis erkennt: Was ist da Fürchterliches um sie her, daß sie so steht und schweigt und daß sich lechzend dk Seele aus weitoffnen Augen legt? (D I, S. 50) 47 44

Vgl. Jens (zit. Anm. 4), S. 43. Vgl. Nüchtern (zit. Anm. 21), S. 38; Esselborn (zit. Anm. 10), S. 96 f. Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch von Hermann Diels, 11. Aufl. hrsg. von Walther Kranz. Zürich / Berlin 1964, S. 150 und S. 161. Heraklit, fr gm. B 1: „Für der Lehre Sinn aber, wie er hier vorliegt, gewinnen die Menschen nie ein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch so bald sie ihn vernommen." Heraklit, frgm. B 45: „Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du jegliche Straße abschrittest, so tiefen Sinn hat sie." 47 Es ist bezeichnend, daß Hofmannsthal mit diesem Abschluß nicht zufrieden war. Zu den Varianten für das Opernlibretto vgl. D I, S. 432 f.; in diesem Text läßt der Dichter Alkestis bereits sprechen. Die Handlung der ,Alkestis* sollte für 45

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Das Wortfeld „Wunder" bestimmt vor allem jene Partien, die Hofmannsthal in seiner Bearbeitung hinzugefügt hat. Er hat damit meist eben jene Leerstellen genutzt, die durch die Weglassung der einzelnen Chorpartien entstanden sind. Das Prinzip der Auflösung des Chores in einzelne Sprecher ist nicht durchgehend befolgt wie bei Wilbrandt, doch wird versucht, eben dort, wo dramaturgisch die Möglichkeit der Realisation auf der modernen Bühne nicht gegeben ist, „das unsäglich Wundervolle des Lebens" zu besprechen. Das schlägt sich in der Wortwahl nieder: Es soll der Anschein erweckt werden, daß alles in Träumen erfolge. Keine Empfindung wird direkt ausgesprochen. Die Formel des „als ob" dominiert, die Natur wird anthropomorphisiert 48. Es ist freilich legitim, jene Lösung Hofmannsthals zu kritisieren, mit der er durch den Ausweg in die Sprachlosigkeit eben das Unsägliche zu erfassen sucht49. Die Frage bleibt, ob er es sich nicht doch zu leicht gemacht hatte, wenn er nur vom „Wunderbaren", „Füchterlichen" und vom „Schauder" spricht, und zugleich meint, auch den Leser oder Hörer bloß durch die Nennung dieser Begriffe und Worte auch an den damit verbundenen Empfindungen teilhaben zu lassen. Es bleibt die Frage offen, warum dies alles so „wunderbar" wäre, worin denn jener Abstand zum Gewöhnlichen, über das man sich nicht mehr zu verwundern brauche, bestünde50. Entscheidend ist, daß mit diesem Drama bereits ein Vorklang jener im berühmten Hofmannsthal später jedoch noch Sinn gewinnen, obwohl er ihr diesen im Text gerade durch seinen Herakles absprechen ließ. In einer in jedem Falle späteren, aber sonst nicht näher datierten Notiz (1899?) heißt es über die ,Alkestis' des Euripides, wobei auch die eigene Bearbeitung gemeint ist: „Allegorischer Sinn: junge Ideale schwinden uns aus dem Sinn wie Tote, dann bringt sie ein starker genialer Gott aus den Armen des Todes zurück und legt sie vor uns hin; wir sind bewegt, die Fremde scheint uns an eine geliebte Tote zu erinnern und wir können nicht fassen, daß sie es selbst ist." (A, S. 129.) 48 Vgl. D I, S. 12 f.; „Stumm, als ob die Luft / den Atem einhielte." „Mich graut. Mir ist, als wär die Luft voll Stöhnen / und voll Geräusch von Händen, die sich regen." Vgl. ferner die Worte Admets D I, S. 43: „Das Land ist fürchterlich! die Wiesen reden / von ihr, die Teiche sehnen sich nach ihr! / Die Bäume sind, als ob sie weinen wollten." Vgl. Nüchtern (zit. Anm. 21), S. 42. 49 Vgl. dazu die Zusammenstellung des Materials bei Wittmann (zit. Anm. 17), S. 55 - 59. 60 Vgl. gegen diese Auffassung des Wunders Max Lühti , Das Wunder in der Dichtung, in: M. L., Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen 1962, S. 116- 128. — Ähnlich beschwört der Tod mit seinem Epilog in ,Der Tor und der Tod' auch das Wundervolle im Zusammenhang mit dem Leben des Menschen (GLD, S. 220). Hinrich C. Seeba (zit. Anm. 13), S. 124 versteht diese Worte in Verbindung mit seinem Konzept des „ästhetischen Menschen". Dieser sei nach den Worten des Todes „wundervoll", weil er das Niditgeschriebene so lesen und deuten könne, als ob es geschrieben wäre. Im Kontext von ,Der Tor und der Tod' ist diese Deutung zutreffend. Es scheint jedoch verfehlt, sie auf die ,Alkestis' übertragen zu wollen, wo der ästhetische Mensch nicht im Mittelpunkt steht. Vgl. zu diesen Fragen auch: Günter Erken , Hofmannsthals dramatischer Stil. Untersuchungen zur Symbolik und Dramaturgie, Tübingen 1967, S. 152 f.

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Chandos-Brief explizit werdenden Sprachskepsis zu erkennen ist 51 . Die Begriffe, die Hofmannsthal einsetzt, sind in ihrem Sinngehalt keinesfalls scharf umrissen. Im Gegenteil: Die Anordnung derselben soll diesen vielmehr als unsicher, schwankend erscheinen lassen. Der semantische Kern wird überwölbt, mitunter überdeckt durch das Lautbild. Beispiel dafür ist bereits der Prolog der ,Alkestis', in dem die Klanggestalt den Sinngehalt verhängnisvoll zu überspielen droht. Doch auch hier erweist sich Hofmannsthal als konsequent in der Technik der Bearbeitung: Dort, wo der Chor zu Wort kommt, wird auch versucht, für dessen komplexe rhythmische Struktur im Griechischen ein klangliches Äquivalent im Deutschen zu schaffen, das beim Hörer die Wirkung der Entrückung hervorrufen soll 52 . Damit erweist sich aus formanalytischer Sicht Hofmannsthal als Verwerter der durch den Typ des antiken Dramas vorgegebenen Eigenheiten, indem er dessen schwer übertragbare Chorpartien nicht mehr in Gespräche mit einem beinahe banalen Inhalt auflöst, sondern die Leerstellen zur Mitteilung jener diffusen Stimmung nutzbar machen will, durch die das Wunderbare des Lebens und im besonderen der Handlung der „Alkestis" mitgeteilt werden soll. Hofmannsthal hat nicht nur versucht, ein antikes Drama für die Bühne der Gegenwart brauchbar zu adaptieren, er hat vielmehr diesem Werk eine mythische Unmittelbarkeit verleihen wollen, die nicht einmal der antiken Tragödie, und schon gar nicht einer Tragödie des Euripides zukommen konnte. Sich verwundern zu können, ist nach Hofmannsthal der „Grundakkord erwachender Epochen". In den Zustand jenes Wunderns soll der Zuschauer geführt werden. Ihm soll alles, was auf dieser Erde geschieht, zum Rätsel werden. Die Welt wird fragwürdig, sie wird wiederum fragwürdig, weil wir uns der Sprache, mit der wir sie erfassen, nicht sicher sein können. Nahezu alle jene Tagebuchaufzeichnungen Hofmannsthals, die aus den Jahren 1892 bis 1893 mitgeteilt sind, lassen sich auf die ,Alkestis' beziehen. Entscheidend ist darunter die Stelle: „Zwei heilige Arbeiten: das Auflösen und das Bilden von Begriffen; letzteres heißt einen Zauber üben, Gott näherwerden. — Dienst des Orpheus." (A, S. 104) Und an einer anderen Stelle: „Worte sind versiegelte Gefängnisse des göttlichen Pneuma, der Wahrheit" (A, S. 105) 53 . Das bedeutet wiederum mit einer für Hofmannsthal seltenen Eindeutigkeit, daß diese Worte nicht entschlüsselt werden können und daß das göttliche Pneuma nicht innersprachlich erfahren werden kann. Ob es aber jenseits der Sprache noch Mitteilung dieses Pneumas gibt, 51 Vgl. Wittmann (zit. Anm. 17), S. 60 - 66 und vor allem Seeba (zit. Anm. 13), S. 107- 109. 62 Vgl. Fritz (zit. Anm. 21), S. 285. 58 Vgl. auch A, S. 104: „Wonnen des Denkens. Sich loswinden aus den Banden der Begriffe."

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wird nicht in Erwägung gezogen. Somit wird alles, was sprachlich vermittelt wird, zum Rätsel. Dichtung ist Rätsel: Die Umgestaltung der euripideischen ,Alkestis' ist begründet in der Sprachreflexion Hofmannsthals. Das „Wunderbare" im Sinne Hofmannsthals kann die Sprache nicht transzendieren, sie bleibt daher das einzige Medium, dieses mitzuteilen. Die Übersetzung und die Erläuterung von Wilamowitz dienten uns als Folie für die Bearbeitung der ,Alkestisc durch Hofmannsthal. Der grundlegende Unterschied liegt darin, daß für Wilamowitz das Rätselhafte der Dichtung aufgehoben wird durch die Gewinnung eines rationalistisch konstruierbaren Sinngefüges. Umgekehrt wird für Hofmannsthal das rationale Sinngefüge aufgehoben durch das Ainigmatisdie der Sprache oder des Lebens schlechthin. Dichtung und Wissenschaft zeigen sich hier als These und Antithese: Die Kollision beider am selben Gegenstand wird am Paradigma der ,Alkestisc evident. Die Absicht Hofmannsthals, das „unsäglich Wundervolle des Lebens" auf die Bühne zu bringen, verdankt ihre Entstehung keinem willkürlichen, vom Autor selbst gesetzten Akt, sondern ist ebenso geistesgeschichtlich erklärbar, wobei der Individualität des Dichters keineswegs Abbruch getan werden muß. Hofmannsthals RückverWandlung des Alkestis-Stoffes auf eine Stufe, die Voraussetzung für die euripideische Fassung ist 54 , ist nicht zuletzt einer neuen Sicht des antiken Mythos zu verdanken, die auf Autoren wie Johann Jacob Bachofen, Nietzsche und Erwin Rohde zurückzuführen ist. Einflüsse der beiden Erstgenannten sind bereits für die ,Alkestis' nicht auszuschließen55, jedoch ist Vorsicht gerade mit dem Begriff des „Einflusses" geboten. Hofmannsthal bietet im allgemeinen ja nicht eine dichterische Umgestaltung von Einsichten Bachofens oder Nietzsches, sondern errichtet seine fiktionale Welt in dem vorhistorischen Raum, der Gegenstand der Spekulationen der genannten Gelehrten ist. Die ,A1kestis* Hofmannsthals ist nicht für das athenische Publikum bestimmt, sondern für das Bildungspublikum des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das sich für das Archaische zu interessieren begann. Zugleich ergab diese archaische Welt auch für die Autoren die Möglichkeit eines Freiraums, dessen man sich weniger durch wissenschaftliche Durchdringung als durch Einführung bemächtigen zu können meinte. Hier konnte man dem Ursprünglichen näher sein; ob dies auch jeweils mit den Einsichten der Wissenschaft in Einklang zu bringen war, berührte weniger. Die Auffassung, daß Hofmannsthals ,Alkestisc den „bezeichnenden Tendenzen der Zeit bei der Übersetzung und Interpretation griechischer Tragi54 Vgl. dazu Rudolf Borchardt , Über Alkestis, in: R. B.: Prosa II. Stuttgart 1959, S. 235 - 294. Vgl. dazu auch Nüchterns Ausführungen über Borchardt (zit. Anm. 21), S. 47 - 52. 55 Vgl. Esselborn (zit. Anm. 10), S. 7 - 24.

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ker entsprach" 66, ist nur mit Einschränkungen gültig; dies wird durch, den Vergleich mit Wilamowitz deutlich. Nietzsche, Bachofen, zum Teil auch Rohde stehen mit ihren Werken außerhalb der streng wissenschaftlichen Altertumskunde und Philologie. Das Reizvolle, sich über jene Zeit Gedanken zu machen, über die wir kaum Zeugnisse besitzen, sie aus den Zeugnissen späterer Epochen spekulativ zu erschließen, hat einen Philologen wie Wilamowitz oft irritiert 67 . Mehr freilich noch hätte ihn das Unscharfe, Zweideutige der Dichtung Hofmannsthals irritieren müssen. Sein Grundsatz, daß durch die Philologie die Dichtung des Altertums erst zur Geltung kommt, daß sie verstehbar gemacht werden müsse, steht in schärfstem Gegensatz zu Hofmannsthals Rückführung auf das (vermeintlich) Mythische. Die Übertragung von Wilamowitz diente uns zunächst als Folie zum besseren Verständnis Hofmannsthals; sie kann aber auch verstanden werden als Paradigma eines Wissenschaftsbewußtseins, das meint, über die Dichtung und damit auch über das darin Ainigmatische verfügen zu können. Hier erfolgt der Einbruch in die Domäne des Dichters. Jenem zu wehren, wird im Drama eine Welt des Zauberhaften, des Wundervollen konstituiert. Während der Philologe zu enträtseln meint, meint der Dichter zu verrätsein. Uns scheint heute diese Verrätselung mitunter ein wenig gewollt, mitunter die Sprache und ihre Klangwerte allzu strapaziert. Hofmannsthal selbst dürfte mit seiner ,Alkestis' nicht zufrieden gewesen sein58. Doch ist gerade dieses Stück in mehrfacher Hinsicht wertvolles Paradigma, und zwar nicht nur für Hofmannsthal, sondern auch für jene tiefe Kluft von Wissenschaft und Dichtung, von der wir eingangs sprachen. Man könnte auch geneigt sein beim Vergleich zwischen dem preußischen Gelehrten und dem österreichischen Dichter einige jener Vergleichspunkte heranzuziehen, die Hofmannsthal selbst in seiner Vergleichung von Preußen und Österreicher herangezogen hat, wäre die Gefahr nicht so groß, hier in beliebte und verhängnisvolle Klischees zu verfallen 59 . Wir wollen uns jedoch lieber von jenen verführerischen Termini, die Hofmannsthal zur Interpretation seiner Werke bereitstellt, ferne halten, um so seiner Leistung gerechter zu werden. Seine ,Alkestisc zeigt sich, als erstes Beispiel für eine neue Möglichkeit der Transposition antiker Mythen. Die intendierte Verlagerung des Geschehens in das Traumhafte 60 weist voraus auf die Umdeutung der Mythen im Sinne der Psychoanalyse, die für Hofmannsthals ,ödipus und die Sphinx' (1905) so bedeutend werden sollte. Das Staunen über das Wunderbare soll durch 56

Ebda., S. 97. Vgl. Wilamowitz, Erinnerungen (zit. Anm. 31), S. 287. Vgl. Nüchtern (zit. Anm. 10), S. 9. 59 P I I I , S. 407 - 409. 60 Vgl. dazu besonders D I, S. 44 f. Über die Stellung Hofmannsthals zur Psychoanalyse informiert Bernd Urban, ,Die Wunscherfüllung unserer Kindheit4. 57 58

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die Dichtung erneut beschworen werden, was durch eine Wissenschaft, die im positivistischen Sinne alles erklären will, zu schwinden droht. Es wäre jedoch verfehlt, hier Hofmannsthal als unsauberen Mysten zu sehen, der absichtsvoll Dunkel um sich verbreitet, um im Finstern seinen Geschäften als Poet nachzugehen. Die Rückwendung zum Mythos ist Reaktion auf ein Weltverständnis, das alles durchschaut zu haben meint, und erfolgt aus dem Bewußtsein, daß dieses positive Weltverständnis nicht ausreichend ist. Hofmannsthals ,Alkestis' signalisiert den Beginn einer im deutschen Sprachraum literarhistorisch und damit auch geistesgeschichtlich relevanten Bewegung, die man als neuerliche Aneignung des Mythos in der Literatur erfassen könnte. Hofmannsthal gebührt mit seiner ,Alkestis' in literarhistorischer und somit auch geistesgeschichtlicher Hinsicht ein Ehrenplatz. Wenngleich nicht von Hofmannsthal abhängig, so doch in ideeller Hinsicht mehrfach mit ihm verbunden, zeigt sich die deutsche Literatur von der Neurezeption des Mythos bestimmt. Man denke etwa an Autoren wie Thomas Mann, Hermann Broch, Alfred Döblin und auch noch Hans Erich Nossack61. Für sie wird das Modellhafte des Mythos verbindlich, nicht dessen rationalistische Auslegung. Hofmannsthal wähnt sich im Besitz einer Fähigkeit, den Mythos und damit auch das Fremde als Zauber zu erfassen. Hofmannsthals ,Alkestis' im Konflikt zwischen Dichtung und Philologie anzusiedeln, war nicht Willkür meinerseits. Der Konflikt ist, wie der eingangs herangezogene Essay ,Französische Redensarten' belegt, von Hofmannsthal mitgedacht worden: Der Zugang zum „Geheimnisvollen" und „Unübertragbaren" — eben dem, was in der ,Alkestis' mitgeteilt werden sollte — ist nach Hofmannsthal dem Philologen verwehrt. Hofmannsthal hat durch seine ,Alkestis' das „unsäglich Wundervolle" vermitteln wollen. Er mußte sich — anders als in ,Der Tor und der Tod' — mit einer Vorlage auseinandersetzen, die in ihrem Formcharakter die für die griechische Tragödie spezifischen Elemente aufwies. Die Umwandlung der griechischen Tragödie in ein lyrisches Dramolet wurde durch formal höchst verschiedene Voraussetzungen behindert, zugleich durch die Möglichkeit, den Chor zu erneuern, gefördert. Der Transpositionsversuch in der „Alkestis" bestätigt somit eine Einsicht, die Hofmannsthal selbst später aphoristisch festgehalten hat: „Die Formen beleben und töten" (A, S. 47). Psychoanalytisch-archivalische Notizen zu Hugo von Hofmannsthals Tragödie ,ödipus und die Sphinx4, in Johannes Cremerius (Hrsg.): Psychoanalytische Textinterpretation, Hamburg 1974, S. 284 - 302. 61 Wichtige vorbereitende Studien zu diesem Komplex: Gerhard Schmidt-Henkel, Mythos und Dichtung. Zur Begriffs- und Stilgeschichte der deutschen Literatur im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1967; Willy R. Berger, Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder 1, Köln - Wien 1971. 12 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

HUGO V O N HOFMANNSTHALS BEETHOVENBILD Von Magda Marx-Weber „Der gerade Weg zu Beethoven führt durch seine Werke" — so beginnt Hofmannsthal seine Zürcher Beethovenrede von 1920 — „ . . . das einsame Zimmer, der Flügel und die Geige, die vier Instrumente des Quatuor — ein Mensch, zwei Menschen für sich spielend, oder die Versammlung, das Orchester", sie fühlen, so glaubt Hofmannsthal, Beethovens direkte Gegenwart 1. Hofmannsthal schildert die musizierenden Menschen hier wie auch an anderen Stellen2 aus der Perspektive des Abseitsstehenden — er konnte sich nicht zu denjenigen rechnen, die auf dem geraden Wege zu Beethoven fanden. Auch gehörte er wohl nicht zu den ausdauernden Hörern von Beethovens Musik. Er respektierte zwar den hohen Rang dieser Musik 2a , seinem Herzen viel näher war jedoch Mozart. In Mozarts Musik erlebt Hofmannsthal eine zweite, eine christliche Antike, ja, ein Paradies3. Mozart ist für ihn ein volkstümlicher Komponist, mehr noch, ein österreichischer Komponist in einer besonderen Bedeutung des Wortes 4. Die österreichische Musik — damit meint Hofmannsthal die Musik Haydns 5 , Mozarts, Schuberts wie auch des Walzerkomponisten Johann Strauß — vermittelt ihm ein Glücksgefühl 6, von dem er in Zusammenhang mit Beethoven niemals spricht. Darum erhält Beethoven auch nicht den Ehrentitel eines 1

Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Herbert Steiner, Prosa I - I V (Frankfurt/Main 1950 - 1955), abgekürzt als P I - IV, P IV, 14. 2 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Briefe an Marie Herzfeld, hrsg. von Horst Weber, Heidelberg (1967), 29 f.; Hugo von Hofmannsthal, Carl J. Burckhardt, Briefwechsel, Frankfurt/Main 1956, 57; dazu Martin Erich Schmid, Symbol und Funktion der Musik im Werk Hugo von Hofmannsthals, Heidelberg 1968 ( = Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 3. Folge, Bd. 4), 16 und 20. 2 a Hugo von Hofmannsthal, Eberhard von Bodenhausen, Briefe der Freundschaft (Berlin 1953), 161: „ . . . daß Du mir einmal in einem Brief aus Wiesbaden, diesen begabten Mann Strauß mit Beethoven vergleichen konntest, Du Uberschätzer Deiner Zeitgenossen — mir stiegen die Haare zu Berge!", vgl. auch S. 103; Hugo von Hofmannsthal, Helene von Nostitz, Briefwechsel (Frankfurt/Main (1965), 20: „ . . . worin Beethoven ungeheuer ist, die innere Seelenbewegung . . 3 P I, 41; P IV, 16. 4 P I I I , 257. 5 Bezeichnend ist, daß sich Hofmannsthal in seinen Aufzeichnungen (hrsg. von Herbert Steiner, Frankfurt/Main 1959, 154) die bekannte Anekdote über Haydns fröhliche Messen notiert hat. 12*

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österreichischen Komponisten, was immerhin nicht unmöglich gewesen wäre. Diese geheime Reserve gegenüber Beethovens Musik, die sich aus Hofmannsthals Äußerungen vermuten läßt, wird uns durch das Zeugnis eines Zeitgenossen bestätigt. Der Komponist und Musikwissenschaftler Egon Wellesz hat Hofmannsthal persönlich gekannt und zwei Ballette von ihm komponiert. Wellesz schreibt über Hofmannsthal: „ . . . der Kreis dessen, was er an Musik hören wollte, war begrenzt auf jene Musiker, die Vollkommenes gaben. Darum stand ihm Mozart am höchsten . . . Er bewunderte Beethoven, aber gerade das, was den Musiker seiner Zeit an Beethoven so sehr fesselte, das Durchbrechen der Form, das Aufreißen des Abgrundes, verstand er, aber ließ es sich nicht zu nahe kommen. Daher auch seine innerliche Abneigung gegen Mahler, in dem das rhetorische Element von Beethovens Musik eine weitere Steigerung erfahren hat, und sein Vorbeigehen an Schönberg, der das Zerklüftete der Zeit in seiner Musik zu deutlich aussprach."7 Wellesz deutet außerdem an, daß Hofmannsthal in der Musik vor allem Erholung gesucht habe; Hermann Broch geht noch weiter, wenn er vermutet, die Musik sei für den Dichter ein „ruhender Pol" im allgemeinen Chaos gewesen8. Sollte die Musik, die Hofmannsthal hörte, diese Funktion erfüllen, so durfte sie von den Abgründen allenfalls eine Ahnung vermitteln, eine Ahnung aber ohne Grauen, und das tat für ihn die Musik Mozarts 9. Bei Beethoven jedoch erschreckten ihn diese Abgründe, wie sie schon Hofmannsthals Vorbild Franz Grillparzer erschreckt hatten. Gerhart Baumann hat in seinem Grillparzerbuch ausgeführt, wie dieser Beethoven „mit Schrecken bewundert" hat 10 , so wie Goethe und Zelter es schon taten 11 . Nun hat Hofmannsthal zum Beethovenjubiläum 1920 zweimal das Wort ergriffen. In einem kürzeren Aufsatz, der in der „Neuen Freien Presse" erschien12, und in einer großen Rede, gehalten in der Zürcher Ton6 P I I I , 257; gelegentlich konnte ihm auch die Musik von Richard Strauss ein solches Glücksgefühl vermitteln; vgl. den oben genannten Brief an Helene von Nostitz. 7 Egon Wellesz, Hofmannsthal und die Musik, in: Helmut A. Fiechtner, Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde, Wien (1949), 227. 8 Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie, 2. Ausgabe (Frankfurt/Main 1974), 112. 9 P IV, 16. 10 Gerhart Baumann, Franz Grillparzer. Sein Werk und das österreichische Wesen, Freiburg / Wien 1954, 25; für Grillparzers Beethovenauffassung sind nicht nur die beiden Trauerreden und die Eintragungen in Beethovens Konversationshefte wichtig, sondern auch die späteren kurzen Äußerungen über Musik. In ihnen beklagt sich Grillparzer über formauflösende Tendenzen in der Musik, die ihm von Beethoven auszugehen scheinen; vgl. Grillparzers Sämtliche Werke in 20 Bänden, hrsg. von August Sauer, 15. Band, Stuttgart o. J., 124 f. 11 Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832, hrsg. von Friedrich Wilhelm Riemer, 2. Theil, die Jahre 1812 bis 1818, Berlin 1833, 28.

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halle, die eine ausgearbeitete Fassung des ersten Textes darstellt 13 . Beide Texte sind getragen von einer Begeisterung, die sich aus dem doch etwas distanzierten Verhältnis zu Beethovens Musik nicht ganz erklären läßt. Freilich hatte Hofmannsthal eine Vorliebe für Jubiläen und festliche Anlässe; sie konnten für ihn zu „erhöhten Augenblicken" werden, in denen es gelang, eine geschichtliche Gestalt sichtbar zu machen14. Und als geschichtliche Gestalt, mehr denn als Musiker, hat Beethoven Hofmannsthal zweifellos fasziniert. Beethoven tritt damit neben andere Gestalten, die Hofmannsthal verehrte, wie Maria Theresia, Napoleon, Prinz Eugen, auch Lessing, Schiller, Grillparzer 15 . Die Art und Weise, wie er diese Gestalten lebendig werden läßt, haben Walter Naumann, Richard Exner und zuletzt Peter Christoph Kern aufgezeigt; auch an seinen Beethoven-Reden können wir sie beobachten16. Hofmannsthal bewundert die Einheitlichkeit, Geschlossenheit der Gestalt Beethoven: „Ganz war er: was ihn traf, das traf den ganzen Menschen."17 Zum ganzen Menschen gehört die äußere Erscheinung, die Hofmannsthal wie bei Maria Theresia oder bei Napoleon 18 mit wenigen Strichen umreißt. Er betont das Kraftvolle, fast Derbe des Körpers, das breite Gesicht, den breiten Nacken, die brennenden Augen. Diese äußeren Züge bilden mit dem Geist, mit dem Ausdruck der Werke eine Einheit. „Sein Leib und Geist waren eins, schließlich blickte sein gewaltiges, störrisches Antlitz genau wie seine Werke . . ." 1 9 . Mit der Person Beethovens ist sein Schicksal eng verknüpft, Taubheit und Einsamkeit treffen ihn nicht zufällig. Die Einheit von Wesen und Schicksal hat uns Hofmannsthal in seinen Essays von Se12 Hugo von Hofmannsthal, Bibliographie. Werke. Briefe. Gespräche. Vertonungen, bearb. von Horst Weber, Berlin - New York 1972, Nr. 166. 13 Weber, loc. cit. Nr. 167; die Zürcher Rede wurde erstmals hrsg. von Willi Schuh, Hugo von Hofmannsthal, Beethoven, 1. Aufl. Wien - Leipzig - Zürich 1937, 2. Aufl. Zürich 1949. 14 Peter Christoph Kern, Zur Gedankenwelt des späten Hofmannsthal. Die Idee einer schöpferischen Restauration, Heidelberg 1969 ( = Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 3. Folge, Bd. 6), 78 f. Die folgenden Ausführungen über Beethoven als geschichtlicher Gestalt sind dieser Arbeit verpflichtet. 15 Vgl. hierzu Herrmann Kunisch, Hugo von Hofmannsthal als europäische Gestalt, in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung, hrsg. von Clemens Bauer, Laetitia Boehm, Max Müller, Freiburg / München (1965), 94. 16 Walter Naumann, Hofmannsthals Verhältnis zur Tradition. Zum 30. Todestag am 15. Juni, in: Deutsche Rundschau, 85. Jg. 1959, 612 ff.; Richard Exner, Zur Essayistik Hugo von Hofmannsthals, in: Schweizer Monatshefte, 41. Jg. 1961/ 62, 182 ff.; Kern, loc. cit. 17 Prosa IV, 11. Diese Geschlossenheit rühmt Hofmannsthal auch an Lessing (Prosa IV, 484). 18 Prosa IV, 296 und 58. 19 Prosa IV, 11.

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bastian Melmoth bis Gotthold Ephraim Lessing immer wieder bekräftigt 20 . Die Taubheit Beethovens setzt — wie Hofmannsthal es sieht — einen „unerklärlichen Prozeß" in Gang, durch den schließlich alles an Beethoven symbolisch wird, „Gestalt, Gesicht, Einsamkeit, Behausung"21; er wird — um hier Worte Hofmannsthals aus anderen Prosastücken zu gebraudien — zum „ungeheuren Sinnbild", zum „repräsentativen Individuum", zur „mythischen Gestalt" 22 . Hofmannsthal sieht Beethoven im Zusammenhang mit der, wie er es nennt, „ungeheuren geistigen Situation der Jahrzehnte von 1770 - 1800" 23 ; er sieht ihn als Zeitgenossen Schillers und Goethes und weist ihm in dieser Epoche eine einzigartige Stellung zu. Einzigartig ist Beethoven in den Augen Hofmannsthals durch die unerbittliche Konsequenz, mit der er seine Aufgabe als Stellvertreter der Menschen vor Gott erfüllt hat. Immer wieder bezeichnet Hofmannsthal den Komponisten als Propheten, als Adam, als Moses, als Sprecher der Menschen vor Gott. Beethoven ist ein Wortführer, der das Unsägliche zu sagen versucht in einer „Sprache über der Sprache" 24. Das Gespräch mit Gott ist „stockend", oft „erhaben verwirrt" 2 5 , wie Moses der Stammler leidet Beethoven an einer Behinderung, seiner Taubheit. Während der Prophetendrang des jungen Schiller, auch des jungen Goethe erlischt, hält Beethoven durch in der „Gebärde des Menschen vor Gott" 2 6 . Wie war das möglich? Hofmannsthal nennt zwei Gründe: einmal Beethovens Leiden 27 und dann sein Medium, die Musik als Sprache über der Sprache. Schon der junge Hofmannsthal nennt Beethoven einen Rhetor 28 , der mit dem Wort ringende Dichter beneidet den Musiker um seine — wie er es nennt — „magische Redegewalt"29. Über die Herkunft dieser Vorstellungen von Beethoven als einem Priester und einem Redner wird noch zu sprechen sein. Wo Hofmannsthal von dem Priester und dem Redner vor Gott spricht, bedient er sich biblischer Wendungen. Als ein Beispiel von vielen nenne ich nur die Passage: „ . . . wo ihrer [der Beethovenhörer] nur zwei oder drei beisammen sind, da ragt über ihnen ein Haupt . . . Beet20

Prosa I I , 117 f., dazu Exner, loc. cit. 192 f. Prosa IV, 27 f. Prosa IV, 64, Prosa I I I , 388, Prosa IV, 26; dazu Kern, loc. cit. 47 ff. 23 P IV, 16. 24 P IV, 27. 25 P IV, 10. 26 P IV, 10. 27 P IV, 22 „ . . . denn der höchste Geist ist immer dort, wo die größte innere Bedrängnis ist . . . " ; P IV, 11 „Sein Leib war stark und ausgestattet zu leiden wie eines Propheten und Mittlers Leib." 28 P I, 41. 29 P IV, 22; vgl. dazu auch Wellesz loc. cit., 227: „Hofmannsthals Verhältnis zur Musik war das des Dichters, der aus dem Ringen mit dem Wort Erholung in jenem Medium fand, das er in der Rede über Beethoven ,Sprache über der Sprache* nennt." 21

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hovens Haupt" 8 0 . Freilich geht Hofmannsthal nicht so weit, Beethoven direkt mit Christus zu vergleichen; andere waren da weniger zurückhaltend. Auch hier greife ich nur ein Beispiel heraus: nämlich Alfred Kalischers Vorwort zu einem berühmten Beethovenbuch, der Studie von Wilhelm von Lenz. Kalischer beschließt dieses Vorwort mit einer Anrufung der „heiligen Trias der ethischen Weltgenien Sokrates, Jesus und Beethoven"31. Beethoven ist nicht die einzige Gestalt bei Hofmannsthal mit erlöserhaften Zügen, nur treten diese hier besonders stark hervor 32 . Hofmannsthal hat nun offensichtlich Schwierigkeiten, die Wirkung dieser fast übermenschlichen Gestalt auf die Nachwelt und seine, des Dichters eigene Zeit zu beschreiben. Denn er begnügt sich ja nicht mit der einfachen Feststellung, daß Beethovens Musik unangefochten weiterlebe. Maria Theresia und Prinz Eugen waren volkstümliche Gestalten, die durch ihr Vorbild direkt auf ihr Volk oder ihre Nation wirkten 33 . So einfach kann die Wirkung Beethovens nicht sein, denn er ist keine volkstümliche Gestalt wie etwa Mozart 34 und ein einheitliches Volk oder eine Nation sind nach dem ersten Weltkrieg nicht mehr da. Wirken kann Beethoven also nach Hofmannsthals Meinung nur auf einzelne, ausgewählte Menschen, denen seine Nähe Kraft gibt in ihrer einsamen Suche nach Halt, nach Gott. In biblischen Formulierungen spricht Hofmannsthal hier von einer Wirkung, die der des Heiligen Geistes nahekommt. So endet Hofmannsthals Beethovenrede in einem Gebet — ich zitiere: „Er ist ein Geist, und wir gedenken seiner in dieser Stunde, die wir Geister sind. Möge er in der gleichen Stunde unser gedenken und durch uns hinziehen mit dem Wehen seiner Kraft und Reinheit." 35 Hofmannsthal hat Beethoven einen Platz in seiner „europäischen Mythologie" 36 zugewiesen, hat ihn als geschichtliche Gestalt lebendig gemacht und in den Zusammenhang seiner Zeit gestellt. Darin besteht Hofmannsthals eigener Beitrag zum Thema Beethoven. Die tragenden Vorstellungen und alle Details mußte er natürlich aus seiner Lektüre schöpfen. Hofmannsthal las wohl in erster Linie Dichtung 37 , und so sind auch als Hauptquellen für 30

P IV, 13 und 31. Wilhelm von Lenz, Beethoven. Eine Kunststudie, Cassel 1855, Neudruck mit Ergänzungen und Erläuterungen von Alfr. Chr. Kalischer, Berlin und Leipzig 1908, V I I . 82 Naumann, loc. cit. 618. 38 Zur Wirkung der geschichtlichen Gestalt vgl. vor allem P IV, 113, 307, 481, dazu Kern, loc. cit. passim. 34 P I I I , 287. 35 P IV, 31. 36 P IV, 193, dazu Kern, loc. cit. 68 f. 87 Michael Hamburger, Hofmannsthals Bibliothek. Ein Bericht, in: Euphorion, 55. Bd. 1961, 15 ff.; Hamburger nennt leider keine Bücher über Musik. Selbstverständlich muß Hofmannsthal auch ein musikwissenschaftliches Nachschlagewerk benutzt haben, dazu wahrscheinlich auch eine Zusammenstellung wie: Die Erinnerun31

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seine Beethoventexte nicht Musiker oder Musikgelehrte zu nennen sondern Dichter: nämlich Bettina von Arnim, E. T. A. Hoffmann und Franz Grillparzer. Wir wissen, daß Hofmannsthal Bettinas Schriften — mindestens „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" und „Die Günderode" — gut kannte 38 . In ihren Briefen und Schriften verstreut, finden sich bei Bettina zahlreiche Äußerungen über Beethoven, den sie ja persönlich gekannt hat. Im Jahre 1927 hat Arnold Schmitz diese Äußerungen erstmals untersucht und festgestellt, daß sie, zusammen gesehen, ein abgerundetes Bild von Beethoven ergeben39. Beethoven ist für Bettina ein genialisches Naturkind, ein Revolutionär, ein Zauberer, ein Priester. Die Vorstellung vom genialischen Naturkind, vom naiven Menschen Beethoven greift Hofmannsthal kurz auf, nennt auch den Namen Jean-Jacques Rousseau; den Revolutionär Beethoven, der in Teplitz die kaiserliche Familie brüskiert haben soll 40 , unterdrückt er bezeichnenderweise ganz. Auch der Magier Beethoven, wie Bettina und, in etwas anderer Schattierung, E. T. A. Hoffmann ihn gesehen haben, findet bei Hofmannsthal kein Interesse. Entscheidend für Hofmannsthal und auch für Bettina ist die Vorstellung von Beethoven als einem Priester. Bettina vertritt die in der Romantik geläufige Idee vom engen Zusammenhang zwischen Kunst und Religion 41 . Daher kann sie auch sagen, daß das Genie — wie ein Prophet — „mit Gott spricht" 42 . Hier knüpft Hofmannsthal an, wenn er sagt, Beethoven führe ein Gespräch mit Gott 4 3 . Als Prophet führt Beethoven eine Sprache, die, so nennt es Bettina „nicht auf Erden sondern im Äther Muttersprache ist" 4 4 , Hofmannsthal sagt „Sprache über der Sprache". Diese Sprache beginnt bei Bettina gerade da „wo der Verstand nicht mehr ausreicht" 45, bei Hofmannsthal ist sie fähig, das Unsägliche zu gen an Beethoven, gesammelt und hrsg. von Friedrich Kerst y 2 Bde., Stuttgart (1913); hier finden sich auch die Erinnerungen des Baron de Tremont, auf die Hofmannsthal anspielt (P IV, 17). 38 Vgl. Hofmannthals Hinweise auf Bettina P IV, 376 und 501 sowie Aufzeichnungen, 39 f. 39 Arnold Schmitz, Das romantische Beethovenbild. Darstellung und Kritik, Berlin und Bonn 1927, 1. 40 Zur Unechtheit des dritten Beethovenbriefes an Bettina, in dem die Teplitzer Szene geschildert wird, vgl. Schmitz, loc. cit., 23 f. 41 „So vertritt die Kunst allemal die Gottheit und das menschliche Verhältnis zu ihr ist Religion." (Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, zitiert nach: Bettina von Arnim, Werke und Briefe, 2. Bd. hrsg. von Gustav Konrad, Frechen 1959, 248); vgl. auch: Elmar Hertrich, Joseph Berglinger. Eine Studie zu Wackenroders Musiker-Dichtung, Berlin 1969 ( = Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Neue Folge, 30 [154]), 161. 42 Bettina von Arnim, loc. cit., 283. 43 P IV, 10 und 27. 44 Bettina von Arnim, loc. cit., 340. 45 Bettina von Arnim, loc. cit., 283.

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sagen46. Durch diese Sprache kann Beethoven den Menschen etwas Einzigartiges geben. „Wer könnte uns diesen Geist ersetzen? Von wem könnten wir gleiches erwarten?", so fragt Bettina, und für Hofmannsthal wird Beethoven zu etwas, „dessengleichen nie da war" 4 7 . Wenn ich diese Anklänge an Bettinas Texte, diese mehr oder weniger wörtlichen Übernahmen zitiere 48 , so könnte man einwenden, Bettina referiere ja nur geläufiges Gedankengut aus ihrer Zeit, das Hofmannsthal auch aus anderen Quellen geschöpft haben könnte. Auffällige Wendungen aber, die sich in Hofmannsthals Text etwas fremd ausnehmen, verraten uns, daß ihm Bettinas Briefe unbedingt vorgelegen haben müssen. Ich zitiere Bettina: „ . . . aber wenige verstehen, welch ein Thron der Leidenschaft jeglicher einzelne Musiksatz ist — und wenige wissen, daß die Leidenschaft selbst der Thron der Musik ist". Diese Worte legt Bettina Beethoven in den Mund 4 9 ; daraus wird bei Hofmannsthal: „Jeder Musiksatz war ein Thron der Leidenschaft" 50 bzw. „Da erbaut er in jedem Musiksatz den Thron geistiger Leidenschaft." 51 Neben Bettinas Namen nennt Hofmannsthal in seiner Beethovenrede den Namen E. T. A. Hoffmanns, ohne freilich wichtige Aspekte von Hoffmanns Beethovenanschauung zu übernehmen. Das liegt vielleicht daran, daß E. T. A. Hoffmanns Beethoven-Rezensionen bei aller Betonung des Romantischen und Zaubrisdien 52 stark von des Dichters musikalischer Sachkenntnis geprägt sind. Aber auch hier verraten uns einige textliche Übereinstimmungen, daß Hofmannsthal die Rezension der 5. Symphonie Beethovens von Hoffmann oder aber ihre Bearbeitung in den Kreisleriana gelesen haben muß. Der Exkurs über Mozart in der Zürcher Rede ist offensichtlich einigen Passagen E. T. A. Hoffmanns über Haydn und Mozart nachgebildet. 48

P IV, 26. Bettina von Arnim, loc. cit., 247; P IV, 28. 48 Hofmannsthals bekannte Art und Weise, sich fremde Texte anzueignen und mit Eigenem zu verschmelzen, läßt sich hier besonders gut beobachten; vgl. hierzu Constantin Hilpert, Eine stilpsychologische Untersuchung an Hugo von Hofmannsthal, 1908, zitiert nach: Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Hugo von Hofmannsthals in Deutschland, hrsg. von Gotthart Wunberg, Frankfurt/Main 1972 ( = Wirkung der Literatur Bd. 4), 205 sowie Michael Hamburger, loc. cit., 17 und 75. 49 Brief an den Fürsten Pückler-Muskau, Bettina von Arnim, Werke und Briefe, Bd. 5, hrsg. von Joachim Müller, Frechen (1961), 209. 50 P IV, 10. 51 P IV, 27. 52 Zu Hoffmanns Auffassung von Beethoven als Zauberer vgl. Schmitz, loc. cit., 6 ff.; dazu Hans Heinrich Eggebrecht, Zur Geschichte der Rezeption Beethovens. Beethoven 1970, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1972 Nr. 3 (Mainz 1972), 14, sowie Klaus Kropfinger, Wagner und Beethoven. Untersuchungen zur BeethovenRezeption Richard Wagners, Regensburg 1975 ( = Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts Bd. 29), 54 ff. 47

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Ich kann hier leider nur kurze Ausschnitte zitieren: Zunächst E. T. A. Hoffmann über Mozart: „ I n die Tiefen des Geisterreichs führt uns Mozart. Furcht umfängt uns: aber, ohne Marter, ist sie mehr Ahnung des Unendlichen. Liebe und Wehmut tönen in holden Stimmen, die Nadit der Geisterwelt geht auf in hellem Purpurschimmer..." 53 ; dann Hofmannsthal, ebenfalls über Mozart: „ . . . die Abgründe sind geahnt, aber ohne Grauen, das Dunkel noch durchstrahlt von innigem Licht, dazwischen die Wehmut w o h l . . ." 5 4 . Zahlreiche Anklänge im Text verweisen uns auch auf Franz Grillparzer, und zwar auf dessen Reden am Grabe Beethovens und zur Enthüllung eines Denksteines für Beethoven. Freilich nennt Hofmannsthal nicht den Namen Grillparzers, wie er überhaupt wenig Namen und Daten nennt, wohl um in einer festlichen Rede den Anschein der Gelehrsamkeit zu vermeiden. Die auffälligste Übereinstimmung zwischen Grillparzers und Hofmannsthals Texten ist ein seltener Vergleich: Grillparzer sagt von Beethoven: „Wie der Behemot die Meere durchstürmt, so durchflog er die Grenzen seiner Kunst." 55 Diesen Satz finden wir fast wörtlich bei Hofmannsthal 56 . Darüber hinaus ist viel von der gedrückten Stimmung, die aus Grillparzers Reden spricht, in Hofmannsthals Texte eingegangen. Beide sind verzweifelt über die Zustände in ihrer eigenen Zeit; beide suchen Trost in der Kunst und glauben an eine stärkende Kraft, die von einer Gestalt wie Beethoven ausgehen kann 57 . Wie Baumann gezeigt hat 58 , hat Grillparzer in seinen Gedenkreden für Beethoven verhüllt auch über sich selbst gesprochen; Hofmannsthal seinerseits hat in diesen Reden viel von seinem eigenen Denken erkannt. Ob Hofmannsthal neben diesen drei Autoren noch andere, jüngere herangezogen hat, läßt sich nicht nachweisen. Die genannten Vorstellungen waren noch zu Hofmannsthals Zeit so verbreitet, daß literarische Abhängigkeit nicht immer angenommen werden muß, oft nur unwillkürliche Übereinstimmung herrscht 59. In Frage kämen noch das für Frankreich so wichtige 63 E. T. A. Hoffmann, Schriften zur Musik, Nachlese, hrsg. von Friedrich Schnapp, München (1963), 35 (Rezension der 5. Symphonie von Beethoven). 54 P IV, 7. 55 Grillparzers sämtliche Werke, 20. Bd., Stuttgart o. J., 214. 56 P IV, 27. 67 „Wenn noch Sinn für Ganzheit ist in dieser zersplitterten Zeit . . . " (Grillparzer, loc. cit., 216); „Wir aber sind gewohnt, im Zusammengesetzten zu leben, das ist unsere Schwäche" (P IV, 15); „Darum sind ja von jeher Dichter gewesen und Helden, Sänger und Gotterleuchtete, daß an ihnen die armen zerrütteten Menschen sich aufrichten, ihres Ursprungs gedenken und ihres Ziels" (Schluß von Grillparzers Denksteinrede, loc. cit., 216). 68 Baumann, loc. cit., 26 und 189. 59 Schmitz, loc. cit., 8.

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„Leben Beethovens" von Romain Rolland 60 und das verbreitete Beethovenbuch von Paul Bekker 61 . Eine Abhängigkeit von Wagners Beethovenauffassung brauchen wir bei Hofmannsthals Antipathie gegen Wagner nicht anzunehmen62. Weiterer Quellen hat Hofmannsthal auch nicht bedurft, denn bei Bettina und E. T. A. Hoffmann ist er auf die wichtigsten Urheber der Beethovenauffassung des 19. Jahrhunderts und noch seiner Zeit gestoßen. Erst in den zwanziger Jahren begannen einige Einzelne, das bis dahin unumstrittene Bild von Beethoven anzuzweifeln 63. Zu den Feiern des 100. Todestages Beethovens 1927 — also sieben Jahre nach Hofmannsthals Beethovenreden — erschien das grundlegende Buch von Arnold Schmitz über das romantische Beethovenbild, das die geläufige Beethovenauffassung zum ersten Mal als Produkt der Romantik erkannte. Schmitz verfolgt die Ausgestaltung des von ihm so genannten romantischen Beethovenbildes von E. T. A. Hoffmann über Schumann bis Wagner und setzt sich ganz besonders kritisch mit Bettinas Äußerungen auseinander64. Er kommt zu dem Schluß, daß die „romantische Auffassung den wirklichen Beethoven und seine geschichtliche Größe verfehlt" habe, und unternimmt auch selbst die Korrektur der von ihm als verzeichnet angesehenen Züge. Ein neues Bild des ganzen Beethoven glaubt er aber noch nicht entwerfen zu können 65 . Ein neues Bild des ganzen Beethoven ist — trotz weit vorangetriebener Detailforschung — auch heute noch nicht in Sicht. Auch die erhoffte Distanzierung vom romantischen Beethovenbild ist bisher nicht gelungen66. Zum Beethovenjubiläum 1970 hat Hans Heinrich Eggebrecht eine große Fülle von Äußerungen über Beethoven neu zusammengestellt und untersucht. Eggebrecht versucht nicht mehr, wie seinerzeit Arnold Schmitz, dem romantisierten Beethoven einen sogenannten „wirklichen" Beethoven gegenüberzustellen. Für ihn ist „das uferlose Material der verbalen Äußerungen über Beethoven . . . Entfaltung und Bestätigung des historischen Phänomens selbst. Die verbale Rezeption bringt die begriffslose Musik zum Begriff." 67 Eggebrecht hält es also nicht für nötig, Beethovens Musik von „ihrer bisherigen Rezep60 Romain Rolland, Vie de Beethoven, Paris 1903; vgl. dazu Leo Schrade, Das französische Beethovenbild der Gegenwart, in: Beethoven und die Gegenwart. Festschrift des Beethovenhauses Bonn Ludwig Schiedermair zum 60. Geburtstag, hrsg. von Arnold Schmitz, Berlin und Bonn, 1937. 81 Paul Bekker, Beethoven, Berlin 1911. 82 Vgl. P IV, 221; Aufzeichnungen, 59; dazu Broch, loc. cit., 112; Hans Mayer, Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, in: Sinn und Form, 13. Jahr (1961), 889. 83 Hans Heinrich Eggebrecht, loc. cit., 7 f. 84 Uber Oehlke hinausgehend betont Schmitz vor allem die Unechtheit von zwei der drei Beethovenbriefe an Bettina, loc. cit., 23 f. 85 loc. cit., V I I f. 66 Eggebrechty loc. cit., 23. 87 loc. cit., 23.

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tion abzutrennen", da die Rezeption ja etwas über die Musik selbst aussage. In den zahllosen Äußerungen über Beethoven findet Eggebrecht eine Reihe immer wiederkehrender Begriffe und Begriffsfelder. Hierzu gehört das Begriffsfeld des „Heiligen, des Märtyrers, des Erlösers" 68, vor allem aber dominiert das Begriffsfeld „Leiden — Wollen — Uberwinden". Als eine der frühesten Quellen gerade des Begriffsfeldes „Leiden — Wollen — Überwinden" stellt Eggebrecht Grillparzers Reden heraus 69. Das romantische Beethovenbild war also zu Hofmannsthals Zeit noch allgemein verbreitet und unangefochten gültig. Deshalb braucht es uns nicht zu wundern, daß Hofmannsthal dieses Beethovenbild — bei all seiner Reserve gegenüber den „genießenden Romantikern" 70 — vorbehaltlos übernahm. Dieses Beethovenbild, von Dichtern geschaffen, war dem Nichtmusiker Hofmannsthal ohne weiteres zugänglich. Auch war Hofmannsthal aufgrund seiner ganzen Veranlagung viel eher disponiert, sich eine solche Beethovenauffassung zu eigen zu machen, als sich kritisch von ihr zu distanzieren. Wollte er doch, daß eine große geschichtliche Gestalt — und eine solche war Beethoven für ihn — nicht „gedankenhaft-analytisch" sondern durch Sympathie und Einfühlung lebendig gemacht würde 71 . Was er bei anderen Gestalten vermißte, ja, wie für den Prinzen Eugen erst schaffen wollte 72 , hier traf er es an, in lebendiger, reich ausgestalteter Form: eine Legende. Diese Legende verwob er mit seiner eigenen Gedankenwelt. Die Beethovenrede ist somit ein Beispiel von Hofmannsthals „außerordentlicher Fähigkeit, das von anderen Geborgte mit Eigenem zu verschmelzen — einer durchaus dichterischen Fähigkeit" 73 .

68 69 70 71 72 73

loc. cit., 35. loc. cit., 33. P IV, 22; Kern, loc. cit., 102. P I I I , 233; vgl. Kunisch, loc. cit., 94. P I I I , 185 und 292. Hamburger, loc. cit., 75.

MUSIL U N D D I E „ N Ä H T E DER ZEICHEN" Von Claudio Magris Der erste Roman Musils ,Die Verwirrungen des Zöglings Törless* (1906) beginnt mit einem Zitat aus Maeterlincks ,Tresor des Humbles* (1896), das ideell als Motto über der Problematik dieses erzählerischen Anfangs Musils steht. Maeterlinck spricht an besagter Stelle von der Entwertung der Dinge, die jedem Versuch, sie auszusprechen, innewohnt, von der jedem Aussageakt eigenen Entropie; der aus dem tiefsten Abgrund an die Oberfläche gebrachte Tropfen gleicht dem Meer nicht mehr, dem er entstammt, und er zerfließt an den bleichen Fingern des Perlenfischers; die ans Tageslicht gebrachten Schätze der Schatzgrube verwandeln sich in „falsche Steine und Glasscherben"1. Die passive Bilanz des Ausdrucks verletzt jedoch nicht die Substanz des unterirdischen Reichtums, der jeder verlorengehenden Sprachoperation zum Trotz unerschöpflich bleibt: „ . . . trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert" 2. ,Törless* ist auch und vor allem die romanhafte Parabel von der Unzulänglichkeit des Zeichens gegenüber der undefinierbaren und amorphen (wie der Abgrund, das Leer, die Unterwasserhöhle, die Dämmerung, das Gefunkel), im wesentlichen aber unangreifbaren Totalität der realen Gegenstände, ihrer vielfältigen Bedeutungen und Merkmale. Wie später — und in Skizzenform in jenen Jahren selbst — der ,Mann ohne Eigenschaften* bietet auch ,Törless* ein extrem bewegliches Bild von der Wirklichkeit, deren Gliederung von Mal zu Mal verschiedenen Zeichensystemen folgt, angesichts derer jeder Wert funktionell erscheint, d. h. als eine einzig durch den Kontext bestimmte Variable. Die Tätigkeit des Geistes, der Intelligenz, besteht darin, fortwährend neue Korrelationen und neue Bezüge zu entdecken, innerhalb derer die Daten der Erfahrung neue Funktionen gewinnen, neue durch die Konstellation des Augenblicks festgesetzte Werte. Jedes Element ist eine abhängige Variable: Selbst die chemische Substanz ist ein Gift oder eine Medizin, je nach der Dosis, in der sie verabreicht wird, je nach dem Zustand des Körpers, welcher sie zu sich nimmt; auch die Eigenheiten, Leidenschaften und Tugenden werden be1

Zitat in R. Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törless, in Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa, Dramen, Späte Briefe, hrsg. v. A. Frise y Hamburg 1957, S. 15. 2 Törless, a.a.O., S. 15.

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zeichnet durch ihren Kontext, durch jene besondere Struktur, die sie in jener Situation organisiert. Es gibt nichts definitiv Großes, Demütiges oder Heiliges, denn alles ist beweglich, die Kontexte verändern sich laufend, und die Werte treten in stets neue gegenseitige Beziehungen; die Systeme verwandeln sich und fügen sich ohne Unterlaß. Musil betont also den veränderlichen und abhängigen Charakter der Bedeutungen: Seine Größe besteht genau darin, die Schnelligkeit zu bezeigen, mit der sich ein Gegenstand von einem System zum andern verlagert und so seinen Sinn wandelt. Die Metamorphose liegt begründet in der Komplexität der Struktur der Welt, in der veränderlichen Vielfältigkeit der Systeme, die jene hervorbringen in einer dauernden und prekären gegenseitigen Überlagerung: Die Bedeutung eines antiken Bronzegegenstandes variiert, je nach dem ob man ihn aus der Sicht seiner ästhetischen Qualität betrachtet, seines Dokumentarwertes, seines Aufbaustoffes, seiner Bewertung auf dem Antiquitätenmarkt, seiner möglichen Verwendung als Hiebgegenstand und so weiter. Wenn Musil der große Dichter dieser universellen Zweckbestimmung ist, dieser Metamorphose der Bedeutungen, wäre es zulässig, in ihm eine besondere Sicherheit gegenüber der semiologischen Organisation zu vermuten, ein festes Vertrauen in den Gebrauch der Lautzeichen. Musil aber verkündet nicht nur die Veränderlichkeit der Bedeutungen, er betont zugleich die Unzulänglichkeit der Bezeichnungen und allgemeiner noch das Versagen oder zumindest das unbefriedigende Resultat der Zeichenoperation. Die Perle bleibt auf dem dunklen Meeresgrund verborgen oder aber sie wird zu einer gewöhnlichen kleinen Glasperle: Diese beiden Pole des expressiven Versagens scheinen eine dritte Alternative nicht zuzulassen. Musil unterstreicht in einer wohlbekannten Episode des ,Törless* sogar die Irrealität des Zeichens: Die imaginäre Zahl i> mittels der man die Quadratwurzel von minus Eins angibt, ist ein konventionelles und willkürliches Zeichen, das für etwas steht, das nicht ist, denn es gibt keine Zahl, die zum Quadrat erhoben minus Eins ergäbe. Dem Zeichen-Lautzeichen (Bezeichnung) entspricht weder ein Bezugsobjekt, ein Referent, noch ein präziser Begriff: es entspricht ihm eine Leere, ein konfuses Geistesbild von etwas, das es nicht gibt, das vorauszusetzen aus einer rein praktischen Erfordernis heraus aber notwendig oder zumindest nützlich ist. Doch dieses „etwas (...), das es gar nicht gibt" 3 , verbindet zwei Gruppen wirklicher Zahlen; das Zeichen-Bezeichnungs-System erweist sich also als „eine Brücke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind und die man dennoch so sicher überschreitet, als ob sie ganz dastünde"4. Eine solche fehlende bzw. 3 4

Törless, a.a.O., S. 81. Törless, a.a.O., S. 81.

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funktionelle Brücke ist im gesamten Werk Musils das Wort. Die Reise an den Rand des Möglichen, von der im ,Törlessc gesprochen wird, ist die Erkundungsfahrt eines Odysseus nach der Natur und um die Möglichkeit des Wortes, an den Rand jener Leere, die für Musil das Wesen des Zeichens ausmacht, des Lebens überhaupt, das nicht vorhandene Zentrum, das nur von seinen eigenen Grenzen umschrieben wird, wie der Trauring, den sich Ciarisse vom Finger streift, oder aber wie die nicht existierende Parallelaktion. Das unablässige Ausprobieren Musils, sein Sichvorwärtstasten, indem er die verschiedenen Möglichkeiten des Wirklichen 5 auslotet, ist auch ein Tappen auf der Suche nach der Bestimmung des Profils des stets vielseitigen Gegenstandes und des stets fließenden und sich rasch ausbreitenden Ausdrucks, auf der Suche nach der „Form" der Wahrheit, die sich mit jedem neuen Wort, mit jedem neuen Gedanken wandelt, wie, so schreibt Musil, die Form eines Sacks, der ständig mit neuen Inhalten nachgefüllt wird. Auch das Zeichen nimmt bei Musil einen fortlaufend variablen Bedeutungswert an. Im Zitat Maeterlincks kommt dieses dem Sprachzeichen gleich, dem Wort, doch dieses Wort wird in erster Linie als akustisches Bild verstanden, als Lautzeichen; in der zitierten Episode des ,Törless' spricht man von wirklichen Zahlen, die der Protagonist als etwas Solides und Greifbares „fühlt", die aber letzten Endes stets Zahlen bleiben, d. h. Zeichen, Zeichen par excellence, die nicht Dinge benennen, sondern Realitäten, Anwendungen, Operationen des Verstandes (seien es Kurzhinweise für direkte intuitiv erfaßte Bezüge der Erfahrung, wie sie Brouwer versteht, Angaben für Verwendungs- und Kombinationsmöglichkeiten, wie im Formalismus Hilberts, oder aber tautologische Relationen, die logischen Konstanten entsprechen, wie für Bertrand Russell). Wenn die Zahl die Willkürlichkeit und die Konventionalität, die jedem Zeichentyp zu eigen sind, überspannt, erhebt die imaginäre Zahl i diese Eigenschaften zum Quadrat insofern als sie das Zeichen eines seinerseits nicht existierenden Zeichens ist, das Zeichen, das für eine Zahl steht, die es nicht gibt. Das Zeichen verliert fast jede Beziehung zum Ding: dieses harrt im Abgrund unerreichbar oder entschwindet aus dem Kontext der Bezüge. Und doch spricht man an derselben Stelle im jTörless* vom außerhalb der Zeichendimension stehenden Moment, welches den Reiz-Antwort Mechanismus lenkt: Zwischen den Lichtschwingungen, die das Bild des Apfels vor das Auge führen, und den Nerven, welche die Hand, die ihn stiehlt, in Bewegung setzen, liegt „etwas 5 Vgl. G. Müller, Dichtung und Wissenschaft. Studien zu Robert Musils Romanen ,Die Verwirrungen des Zöglings Törless' und ,Der Mann ohne Eigenschaften', Uppsala 1971, S. 115 ff., 212 ff., und F. Masini y Aporie e progetto utopico ne L'uomo senza qualitä. di R. Musil, in Aporie della filosofia contemporanea, Parma 1970, S. 117 ff.. 148 ff.

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und bringt" die einen aus den andern „hervor", liegt „die unsterbliche Seele, die dabei gesündigt hat" 6 . Ebenso liegt der Ursprung des sprachlichen Ausdrucks in einem präverbalen Element, welches dem Worte vorausgeht. Wenn für de Saussure das akustische Bild den Begriff vor Augen führt, entstammt, entspringt für Musil das Wort der „Seele": und Seele ist für Musil „ein großes Loch" 7 , eine Leere, eine konkave Dimension, konfus und dunkel, die jeder Definition widerstrebt. Man kann höchstens ihre Ränder, ihre Grenzen bestimmen, jenseits derer ihre unartikulierte Dunkelheit aufhört, nicht aber wird man jenes Dunkel zergliedern und eine endgültige Form an ihm erkennen können. Die fließende Logik der Seele zwingt den Schriftsteller zur Aufstellung von Ähnlichkeitsbeziehungen, zur Anwendung der Metapher, des Gleichnisses, zum uneigentlichen Wortgebrauch, um auf das hinzudeuten, was direkt nicht darzustellen ist; sie zwingt ihn zur Periphrase, zur Umschreibung. Um diese Wirklichkeit aus der Erstarrung der Gewohnheitssprache herauszulösen, muß der Schriftsteller rhetorische Bilder und Figuren als Zeichen im technischen Sinne des Wortes verwenden, als Zeichen, die nicht irgendetwas besagen, sondern etwas anderes, etwas, das sie direkt nicht sagen können, und so stehen sie anstelle des wahren, unsagbaren Gegenstandes des Ausdrucks. Mag das Zitat Maeterlincks auch von „Dingen" sprechen, die sich dem Ausdruck entziehen, so setzt die Sprache bei Musil nicht auf die Gegenstände, auf die Bezugsobjekte, auf die Referenten, auf das Denotatum — wie in der Novelle ,Ein Brief' von Hofmannsthal —, wohl aber auf deren Begriffe, Geistesbilder, Bedeutungen, Merkmale oder wie man sie sonst noch nennen mag. Die Entropie des Ausdrucks betrifft nicht die Dinge, sondern ihre Geistesbilder, ihre Bedeutungsfülle, die wunderbar und düster im Hohlraum der Seele leuchtet und die — ganz oder teilweise — schwindet, wenn sie an die Oberfläche der Sprache gebracht wird. Törless spricht fürwahr auch vom „zweiten, geheimen, unbeachteten Leben der Dinge", von „einem Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist" 8 . Als Kind, in der Dämmerung, fühlt er sich beschaut vom Schweigen der Dinge, das wie „eine Sprache" ist, „die wir nicht hören" 9 . Doch die Wirklichkeit, die ihm unendlich scheint, bietet ihm keine Gegenstände dar, sie übermittelt ihm vielmehr Signale, anzeigende, zwingende Zeichen, die ihm ein Verhalten vorschreiben müßten, die er aber nicht zu deuten weiß. Der „sechste Sinn" des Törless ist abgestorben, er kann ihm lediglich zu ver6

Törless, a.a.O., S. 81. R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in G. W., hrsg. v. A. Frisé, Hamburg 1952, S. 191. 8 Törless, a.a.O., S. 143. 9 Törless, a.a.O., S. 31. 7

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stehen geben, daß die Wirklichkeit spricht und daß er sie nicht fassen kann; die Worte sind hier nicht Epiphanien der Dinge, sondern Befehle oder Hinweise: sie übermitteln dunkle, unpersönliche Botschaften des Lebensflusses, nicht aber scharfe Profile von Gegenständen. Törless' Interesse für den Ausdruck und sein Bemühen um ihn bleiben ausgerichtet auf die Sphäre des geistigen Bildes, und genau in dieser Ausrichtung muß er im Ausdruck versagen: von Anfang an sucht er in seiner sehnsuchtsvollen Einsamkeit im Konvikt vergeblich, sich das Bild seiner Eltern ins Gedächtnis zurückzurufen, einzig ein unbestimmtes objektloses Leiden vermag er heraufzubeschwören. Bei Törless geht es nicht um das Problem, die Dinge zu sagen, sondern, wie bei Leopardi, das zu sagen, „was ich im Busen fühlte" 10 . Die Themenstellung bei Musil spannt ihren Bogen vom unaussprechlichen Bereich der Seele zur Zweckbestimmung der Zeichensysteme, von der Linguistik zur Mathematik. Die Worte wenden sich nicht nur ab von den Gegenständen, sondern, auch wenn sie sich der Sphäre der Bedeutung zuwenden, vermögen sie diese nur in dem Maße auszudrücken, wie sie das Seelenleben, die innere Gedankenwelt modifizieren und entstellen. Wenn Törless sich selbst das düstre Aufwallen seiner Sinnlichkeit zu klären sucht, entdeckt er, daß „es die Worte nicht sagten; so arg, wie es die Worte machen, ist es gar nicht; es ist etwas ganz Stummes —, ein Würgen an der Kehle, ein kaum merkbarer Gedanke, und nur dann, wenn man es durchaus mit Worten sagen wollte, käme es so heraus; aber dann ist es auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht da sind . . . " n . Das Geschlecht, das Musil fast immer als ein dunkles Chaos undeutlicher und objektloser Triebe darstellt, ist die Chiffre der Seele schlechthin, die Chiffre ihrer unergründeten Tiefen; geradezu in der Folge der Logik der UnschärfeRelation ist der Ausdruck als Analyse und Zergliederung des Erlebten gleichermaßen Änderung und Entstellung des letzteren: die Registrierung korrigiert und kompliziert die Eindrücke, setzt ihnen etwas hinzu allein dadurch, daß sie sie ans Licht befördert und sie so ihren status ändert; sie rückt in den Vordergrund, was vor dem Ausdruck, vor der Analyse nicht deutlich war. Wenn Törless seine „Verwirrungen" zu erforschen sucht, wird seine Situation immer gewundener, gewiß nicht eindeutiger, wie es symbolisch das Bild der Straße anzeigt, die sich verzweigt. Nicht immer also wird die aus der Tiefe hervorgeholte Perle zu Tand, doch selbst wenn sie größer, wenn sie geheimnisvoller erschiene, ist sie stets eine andere Perle, verschieden von der leuchtenden in der Grube. Die differenzierte Analyse und der Aus10 G. Leopardi, An Silvia, in Canzonen, übertr., erläutert und eingeleitet von E. Schaffran, Bremen 1963, S. 78. 11 Törless, a.a.O., S. 26.

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druck ermitteln schließlich die Ränder der Seele, ihres nicht auf eindeutige Bezüge reduzierbaren Territoriums, sie vergrößern jene Ränder wie ein Vergrößerungsglas, wodurch diese noch dicker und noch unüberschreitbarer werden. Der Ausdruck muß seine passive Bilanz auf die Spaltung zurückführen, zu der er es im Innern des Ich kommen läßt, zwischen dem Ich und seinen Trieben. Das Gefühl des allen Phänomenen anhaftenden Rätsels und ihrer Verwandtschaft erscheint Törless derart stark, daß es sich nicht „restlos in Worte und Gedanken auflösen läßt. Zwischen den Ereignissen und seinem Ich, ja zwischen seinen eigenen Gefühlen und irgendeinem innersten Ich, das nach ihrem Verständnis begehrte, blieb immer eine Scheidelinie, die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam" 1 2 . Je mehr er das eigene Innenleben umschreibt, desto fremder wird es ihm; Ausdrücken ist gleich Sichentfernen. Die Objektivierung endet in einer Art Entfremdung, einer Art Reifikation, wie der Aussageakt für das Subjekt Lacans: Das Ich entfremdet sich in den Worten, die sich ihm wie ein Anderssein darstellen; in den Worten (auch nur denen des Geistes, wie in diesem Fall) findet es seine Gefühle als etwas Fremdes vor, als etwas, das, sobald es zum Ausdruck gelangt, sich von ihm löst und befreit. Wie auch bei Maeterlinck, stimmt das Ich mit seinen Gefühlen, mit seinen Impulsen nicht überein: Es bleibt trotz dieser anhaltenden Spaltung seiner Komponenten unversehrt und unverändert; es bleibt unerschöpflich. Unerschöpflich bleibt seine globale Bedeutung, der dunkle und grenzenlose Gehalt seiner selbst und der Welt; die Artikulierung der Zeichen, die hier mehr denn je zu bloßen Bezeichnungen geworden sind, ist eine unbefriedigende, wenn auch notwendige Operation. Um zu bestehen, muß Törless sein Dasein in eine Zeichenkette gliedern, es irgendwie in die Wirklichkeit stellen. Das Zeichen-Lautzeichen scheint überdies nicht kodifizierbar zu sein, scheint keine klar definierte Form auf der Basis einer Konvention zu haben. Der Roman spielt fast ausschließlich auf der Ebene der Metasprache: Musil spricht mit den Zeichen einer kodifizierten und verständlichen Sprache von der Unmöglichkeit für Törless, Zeichen zu formulieren, die solche kraft differenziell-exklusiver und oppositioneller Bezüge sind. I n der Welt des Törless schließen die Lautzeichen einander nicht aus, und die Bedeutungen unterscheiden sich nicht voneinander; das akustische Bild der von Musil verwendeten Ausdrücke hebt sich selbstverständlich von allen anderen ab, sonst hätten wir kein Buch, sondern ein unartikuliertes Gestammel, das sich nicht einmal graphisch übertragen ließe. Es gibt für Törless, der bei seinem Bemühen um Erkenntnis das eindeutige Wort nicht zu finden ver12

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mag, kein eigentliches Zeichen, das akustisches Bild und Begriff eindeutig miteinander verbindet; nie gelangt er zum Ausdruck, und Musil berichtet eben davon, wie ihm das Zeichen immer wieder entflieht, gleich dem vom Dunkel verschlungenen Blatt, daß er vom Innern der Konditorei heraus verfolgt: „Aus dem verlassenen Garten tanzte hie und da ein Blatt an das erleuditete Fenster und riß auf seinem Rücken einen dunklen Streifen in das Dunkel hinein. Dieses schien auszuweichen, sich zurückzuziehen, um im nächsten Augenblicke wieder vorzurücken und unbeweglich wie eine Mauer vor den Fenstern zu stehen."18 Ungewiß und fluktuierend ist die Demarkationslinie zwischen dem Unausgesprochenen und der Artikulierung, zwischen dem Unaussprechlichen und der Form; das Zeichen schwindet dahin, bleibt ohne Definition wie eine Meduse. Giuseppe Bevilacqua hat von der „Komplexität und von der Ungenauigkeit" 14 des Gefühls gesprochen, von der nicht geklärten noch klärbaren Innerlichkeit im Ausdruck. Dem Nichtvorhandensein eines klar differenziellen Charakters des Lautzeichens (konkretem Nichtvorhandensein für Törless, indirektem Nichtvorhandensein für Musil, der darauf anspielt, indem er offensichtlich echte Zeichen verwendet) entspricht ein analoges Fehlen der Bedeutung für beide: Auf beiden Ebenen, auf der des Autors und auf der des Protagonisten, fehlt die Möglichkeit, einige Bedeutungen anderen gegenüberzustellen, sie wahrzunehmen in ihren Beziehungen mit den letzteren, in deren Gegenüberstellung und Opposition sie allein einen Wert 1 5 haben. Im Törless gibt es einfach kein System von Bedeutungen, nicht einmal einen präzisen Kontext für sie. Die Sprache ist also für Törless eine Reihe von „Versagen" 16, die Worte sind „zufällige Ausflüchte für das Empfundene" 17 ; die einheitliche Bedeutung einer Erfahrung wird zersetzt durch den Ausdruck: „ . . . das, was wir in einem Augenblick ungeteilt und ohne Fragen erleben, wird unverständlich und verwirrt, wenn wir es mit den Ketten der Gedanken zu unserem bleibenden Besitze fesseln wollen" 18 . Die ungeteilte Kenntnis seiner selbst und der Welt — eine Art intransitiver semantischer Vorstellung, bei der sich intuitiv, als unmittelbare Totalität, nicht das Ding, sondern die Bedeutung offenbart, der Bewußtseinszustand, der Sinn, das Designatum — wird zersplittert durch die sprachliche Zergliederung (auch die Gedanken sind hier innere Aussprache, Wort, in Ketten zusammengefaßte Worte). Der 18

Törless, a.a.O., S. 32. G. Bevilacqua, I turbamenti del giovane Törless, in II romanzo tedesco del Novecento, , v. G. Baioni, G. Bevilacqua, C. Cases u. C. Magris, Torino 1973, S. 19. 15 Vgl. G. Morpurgo-Tagliabue, Semantica, Vorlesungstext der Philosoph. Fakultät an der Universität Triest, Stud.jahr 1968 - 69, S. 105 ff. 16 Törless, a.a.O., S. 72. 17 Törless, a.a.O., S. 72. 18 Törless, a.a.O., S. 72. 14

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Augenblick kann nicht festgehalten werden, die augenblickliche Erleuchtung kann kein dauerhafter Besitz werden: Die Linearität, die Zeitenfolge des Lautzeichens ist unvereinbar mit der mystischen Zeitlosigkeit der Epiphanie. Besitzen bedeutet Verlieren. Mach hatte gelehrt, daß es keinen Gegenstand für das Nachdenken geben kann, denn sobald sich das Nachdenken einstellt, ist jener Gegenstand, ist jene Empfindung schon entschwunden, schon eine andere 19. Ausdrücken bedeutet bereits Nachdenken; es zieht gegenüber der geistigen Darstellung (dem inneren Bild, das sich von dem artikulierten Gedanken unterscheidet) eine zeitliche, wenn auch minimale Verzögerung nach sich. In der Tat: „Es war ihm nur so durch die Grenzen des Bewußtseins geschossen — blitzschnell oder undeutlich weit — am Rande — nur wie im Fluge gesehen — kaum ein Gedanke zu nennen. Und hastig war darauf eine Reihe von Fragen gefolgt, die es verdecken sollten. [ . . . ] Aber alle diese Fragen waren nicht das Eigentliche. Berührten es kaum. Sie waren etwas Sekundäres; etwas, das Törless erst nachträglich eingefallen war. Sie vervielfältigten sich nur, weil keine das Rechte bezeichnete. Sie waren nur Ausflüchte, Umschreibungen der Tatsache, daß vorbewußt, plötzlich, instinktiv ein seelischer Zusammenhang gegeben war, der sie vor ihrem Entstehen schon in bösem Sinne beantwortet hatte." 20 Die Sprache stellt sich also spät ein, wenn das Wesentliche schon geschehen ist, wie die Polizisten, die Arsène Lupin nachstellen; wie die Polizei, kann die Sprache wohl ein Gebiet umschreiben, von dem man mit Sicherheit weiß, daß sich dort der Verfolgte verbirgt, dessen Zufluchtsort aber nicht mit größerer Präzision spezifiziert werden kann: Man kennt sein Flächenausmaß und seinen Umfang, aber nicht den genauen Punkt, dem er entspricht. Das Wort ist Periphrase, Umschreibung, ein um die Fakten herum gezogenes Zeichen, nicht aber ein Zeichen des Faktums; der Ausdruck ist eine Umsegelung, eine Umschiffung mit fliehendem bzw. nicht existierendem Zentrum, eine spiralförmige Bewegung, die unablässig zu sich selbst zurückkehrt und sich aufhebt in einer „Steigerung ohne Fortschritt" 21 . Die psychische Phänomenologie vor der Dimension des Wortes ist eine frenetische und zuckende Wellenbewegung der Tiefe, die von der Seele nicht zu trennen ist und doch nicht übereinstimmt mit ihr, denn vor ihr „erzitterte die Seele verhalten mächtig" 22 ; sie ist ein unaussprechliches Erdbeben in der Tiefe, das sich an der Oberfläche des Ausdrucks ganz einfach wie „harmlose Kräuselungen"23 ausnimmt. Um diese Phänomenologie des Unaussprechlichen 19

Vgl. G. Wunberg, Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur, Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz, 1965, S. 23 ff. 20 Törless, a.a.O., S. 40-41. 21 Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 1242. 22 Törless, a.a.O., S. 97. 23 Törless, a.a.O., S. 97.

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anzudeuten, besteht Musil auf wiederkehrenden Figuren, die das Gefühl der Kreisbewegung ohne Fortschritt und des krampfhaften Zuckens vermitteln: frenetisches Gewirbel, Kontraktionen, Verzerrungen, Schwindel, Wirbel, ein verrückt gewordener Kreisel, Wogen, Wellenschläge. Die Bilder, die jener Sturm auf Törless* Gewissen projiziert, sind Momentaufnahmen, die blitzartig ins Formlose zurückfallen, noch bevor sie wirklich erfaßt werden, sind eine derart schwindelerregende und ununterbrochene Bombardierung von Reizen, ja so schwindelerregend als existiere diese nicht, da sie es unmöglich macht, die Entität der einzelnen Reize zu selektieren, zu unterscheiden, zu graduieren und festzuhalten: „so wie wenn von einer unendlich sich in die Finsternis hineinerstreckenden Dünung nur einzelne losgelöste Teilchen an den Felsen eines beleuchteten Ufers in die Höhe spritzen, um gleich darauf hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken" 24 . Es handelt sich vielleicht um die schönste und wirkungsvollste Metapher, die Musil im Zuge seines expressiven Prozesses darbietet. Vor allem das Nichtvorhandensein eines Kodexes nimmt die Möglichkeit einer Bedeutung und verwandelt den Prozeß in einen Reiz-Antwort-Prozeß (Eco) 25 , der sensitive Reaktionen hervorruft, ohne daß irgendeine präzise Zeichenersetzung stattfände. Das vorübergehende Bild hat kein spezifisches Profil noch eine eigene autonome Existenz; es stellt keine Einheit, keine authentische Form dar, die aus dem Fließen des Unförmigen herausgeschnitten wäre: Es ist ein Fragment, das in Wirklichkeit gegenüber dem continuum des Lebens kein unabhängiges Dasein aufweist, das aber vom Lichtbündel, welches es einen Augenblick lang — nur dem Anschein nach — von der dunklen Totalität isoliert, eine illusorische und unbestimmte Individualität erhält. Ein Teilchen Schaum ist kein Atom, ist keine Einheit, ist keine geformte Form; überdies sinkt es gleich darauf in die undifferenzierte und amorphe Wassermasse zurück. Der Ausdruck schafft keine unteilbaren Formen, wohl aber ungewisse und unstete Profile; einen Augenblick lang stellt die Lautbildung in den Bereich der Wahrnehmung einige labile Erscheinungen, die kurz darauf wieder eingehen ins All-Nichts. Ein Wortgefüge kommt nicht zustande, denn jedes soeben ausgesprochene Wort fällt zurück ins Unartikulierte; es gibt keine Dichtung, denn hinter jedem illusorischen Zeichen schließt sich der Kreis des Vergessens: Das Wort taucht wieder ein in das unablässige und undifferenzierte Gemurmel, die Dichtung löst sich auf in der reinen potentialen poetischen Gegebenheit des Lebensflusses; nicht einmal das Gedächtnis vermag die Rede zu retten und zurückzuhalten, denn diese ist in Wirklichkeit ohne Ende und ohne Ende wird sie verschlungen. „— auch diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt und strahlte blasse 14 25

Törless, a.a.O., S. 97. U. Eco, Segno, Milano 1973, S. 23.

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Schatten aus" 26 . Die Linearität des Lautzeichens ist ein Rennen ohne Rast, deren Linie ununterbrochen in genau dem Augenblick ausgelöscht wird, da sie vorrückt: Tatsächlich besteht auf jener Linie nur ein Punkt, der abstrakte Punkt der reinen Gegenwart. Wenn die einzige Wirklichkeit des Ausdrucks dieses augenblickliche Lautzeichen ist, ist es nicht möglich, einen Satz, eine Rede abzugrenzen: Der Ausdruck spannt sich zwischen den beiden entgegengesetzten Polen des kleinsten Teilchens und der potentialen, aber unmöglichen totalen und ununterbrochenen Rede; zwischen diesen beiden Extremen wählt der Schriftsteller eine empirische Zwischenlösung, den unverbindlichen Ausschnitt eines Bezeichnungssegments, dessen Grenzen und Enden ohne irgendeine Rechtfertigung gezogen werden. Jedes Lautzeichen wird bedrückt und bedrängt von anderen, die es vertreiben und ersetzen wollen: „ . . . immer war es [...]> a l s s e i soeben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm im Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhaschen. [ . . . ] , wie [ . . . ] vor einem Kinematographen . . . , wenn man neben der Illusion des Ganzen doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das man empfängt, Hunderte von — für sich betrachtet ganz anderen — Bildern vorbeihuschen" 27. Musil besteht mit Nachdruck auf dem präverbalen Impuls des Ausdrucks und auf seiner Verhinderung: „Törless vermochte nichts zu denken; er sah . . . Er sah hinter seinen geschlossenen Augen wie mit einem Schlage ein tolles Wirbeln von Vorgängen, . . . Menschen; Menschen in einer grellen Beleuchtung, mit hellen Lichtern und beweglichen, tief eingegrabenen Schatten; Gesichter, . . . ein Gesicht; ein Lächeln,... einen Augenaufschlag,... ein Zittern der Haut; er sah Menschen in einer Weise, wie er sie noch nie gesehen, noch nie gefühlt hatte: Aber er sah sie, ohne zu sehen, ohne Vorstellungen, ohne Bilder; so als ob nur seine Seele sie sähe; sie waren so deutlich, daß er von ihrer Eindringlichkeit tausendfach durchbohrt wurde, aber, als ob sie an einer Schwelle haltmachten, die sie nicht überschreiten konnten, wichen sie zurück, sobald er nach Worten suchte, um ihrer Herr zu werden." 28 Was Musil in diesem Abschnitt darstellt, ist ein A k t der Anschauung, ohne daß irgendein Akt des Ausdrucks folgte, wobei diese Termini in der Bedeutung zu verstehen sind, die Husserl ihnen gibt. Musil las Husserl mit Aufmerksamkeit zwischen 1902 und 1904, und auf 1906 geht seine diesbezügliche ,Notiz zu Husserl* 29 zurück. Das gesamte Hauptgeschehen im Törless, die exstatische Erfahrung des Unendlichen im Park des Konvikts, 26 27 28

Törless, a.a.O., S. 146. Törless, a.a.O., S. 97. Törless, a.a.O., S. 62/63.

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folgt dem Husserlsdien Begriff Anzeichen, das auf andere Gegenstände, auf andere Zustände verweist, ohne deren Existenz beweisen zu können, wie es hingegen die Ausdrücke tun. Das Anzeichen steht als Motivierung für die Überzeugung, daß andere Gegenstände, andere Sachverhalte existieren, nicht aber als Beweis (Törless wird bei oben beschriebenem Akt der Anschauung auf die Überzeugung verwiesen, daß das, was er mit dem Worte zu beherrschen nicht in der Lage ist, besteht). Das Anzeichen gibt nie die Ursache oder den Grund eines Phänomens an, sondern ist ein Zeichen, das auf die Existenz des letzteren verweist, es ist ein Index für seine Existenz, das Anzeigen eines Zusammenhangs ohne die Angabe allerdings weder seiner Prämisse noch seiner Konklusion. Guido Morpurgo-Tagliabue hat die Zweideutigkeit dieser Husserlschen Bedeutung des Zeichens unterstrichen, wobei Ersetzung und Hinweis verwechselt werden, das „Stehen für" und das „Verweisen auf", die konventionelle, willkürliche Institution des Zeichens und die Existenz von als Zeichen aufgenommenen Dingen. Der Verweisprozeß, so bemerkt Morpurgo-Tagliabue, stützt sich auf eine semantologische Folgerung (Inferenz), die eine Bedeutung als Zeichen annimmt 30 . Musil, von der Zeichenkenntnis unbefriedigt und unerfüllt, wie wir gesehen haben, skeptisch hinsichtlich des Wertes und der Funktionsfähigkeit der semiologischen Kodifizierung, zielt gerade auf den Verweis ab, enttäuscht auf der Suche nach einem Beweis; er baut auf ein Kriterium semantologischer Inferenz, indem er Bedeutungen bzw. Bedeutungserfahrungen als Anzeichen annimmt, die auf die Existenz dessen verweisen mögen, was jenseits, außerhalb derselben steht — im Falle der Parkepisode, auf das Unendliche. Die Existenz des Unendlichen kann durch das Zeichen nicht bewiesen noch ausgedrückt werden; dieses kann nur eine Motivierung für die Überzeugung stellen, daß es besteht: Es kann anzeigen, daß es existiert. Die mystische Erfahrung beginnt mit dem Kontakt zwischen der Konkavität der Seele und der Leere des „verblichenen, leidenden Blau(s)" 31 des Herbsthimmels: Es ist der Musilsche Raum der Leere und des Ungewissen, des Offenen und des Absoluten, jener Raum, der anderswo die weiche und nachgiebige Dunkelheit der Nacht ist, der „flüssige Feuerkern der Schöpfung" 32 , der „weiche, warme, unübersichtliche Widerstand" 33 des Fliegenpapiers, „die Leere der unvollendeten Schöpfung" 34, „der weiße Morgen29 Vgl. R. Musil, Tagebuch-Heft 24, in Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. A. Frisé; Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, Hamburg 1955, S. 103. 80 G. Morpurgo-Tagliabue y a.a.O., S. 54 ff. 81 Törless, a.a.O., S. 69. 82 R. Musil, Prosa, Dramen, Späte Briefe, hrsg. v. A. Frisé , Hamburg 1957, S. 392. 88 R. Musil, Nachlass zu Lebzeiten, in Prosa, Dramen, Späte Briefe, a.a.O., S. 450. 84 Nachlass, a.a.O., S. 460.

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schäum"35, der „Stoff, den es . . . nicht gibt, ein schwarz durchsichtiger und schwarz zu durchfühlender Stoff" 36 , aus dem die Höhlung der Seele und die Leere des Zimmers besteht, die „erbarmungslos offene Unendlichkeit des Wassers und des Himmels" 37 , die Anders und Agathe in der ,Reise ins Paradies' umgibt. Die Epiphanie, die semantische Vorstellung erfolgt augenblicklich und unerwartet: „plötzlich" 38 . Nicht ist es eine verbale Darstellung (Repräsentation), wohl aber die — globale und von der sprachlichen Artikulation nicht wissenden — Vorstellung (Präsentation) nicht eines Gegenstandes, sondern einer mit besonderer Intensität, mit „Erschrecken" 39 aufgenommenen Bedeutung: die unglaubliche Höhe des Himmels. Törless sieht mit totaler und unmittelbarer, intuitiver Wahrnehmung das blaue Loch des Himmels zwischen den Wolken und neigt sich ihm entgegen. Doch die Intensität des Wahrnehmungsaktes zerbricht die Vorstellung, verwandelt sich in eine Ausrichtung auf eine Bedeutung, die durch die Anstrengung selbst bei dieser Ausrichtung gespannt und abgebrochen wird. Törless hat den quälend „heftigen Wunsch", jenen blauen, leuchtenden Grund mit den Blicken aufzuhalten, er will mit einer Leiter zu ihm hinaufsteigen, doch dieser zieht sich zurück, seine „aufs äußerste gespannte" Sehkraft schleudert die Blicke wie Pfeile zwischen die Wolken, doch der Schuß ist stets „zu kurz" 4 0 . In dieser Spannung zergliedert sich die globale Bedeutung, und die semantische Einheit spaltet sich in die semiologische Dualität: Törless beginnt zu denken und zu sprechen, um jener Erfahrung Herr zu werden, aber „die Worte sagten nichts, oder vielmehr sie sagten etwas danz anderes, so als ob sie zwar von dem gleichen Gegenstande, aber von einer anderen, fremden, gleichgültigen Seite desselben redeten" 41 . Törless greift auch auf das Beschwörungswort zurück, auf das Zauberwort („Das Unendliche!") 42 , aber auch diese lyrisch-magische Funktion bleibt ohne Erfolg. Das Zeichen ist nicht nur unzulänglich, sondern auch trügerisch, es ist ein Trick, um durch „die Arbeit irgendwelcher Erfinder" 43 „etwas über den Verstand Gehendes, Wildes, Vernichtendes" 44 zu zähmen, einzuschläfern und zu fesseln. Wie für Nietzsche hat auch für Musil die institutionalisierte Sprache, das konventionelle und erstarrte Zeichen der Begriffsklassifizierung die Natur 85

Nachlass, a.a.O., S. 524. Nachlass, a.a.O., S. 525. 37 Der Mann ohne Eigenschaften, in Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. A. Frisé y Hamburg S. 1453. 38 Törless, s.o., S. 69; I. Drevermann spricht vom „Aufbrechen der Dinge" (S. Bauer / 1. Drevermann , Studien zu Robert Musil, Köln - Graz 1966, S. 159). 39 Törless, a.a.O., S. 69. 40 Törless, a.a.O., S. 70. 41 Törless, a.a.O., S. 70. 42 Törless, a.a.O., S. 70. 43 Törless, s.o., S. 70. 44 Törless, s. o., S. 70. 36

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und das Leben fossilisiert, es hat sie einbalsamiert in den Mechanismus der sozialen und sprachlichen Institution, in das mumifizierende und skierotisierte Räderwerk der bestehenden Herrschaft (G. Baioni) 45 . Jede Revolution muß daher für Nietzsche, den Musil mit Leidenschaft liest und vermerkt, mit dem Bruch der Form und des Ausdrucks beginnen, mit der Zersplitterung des Zeichens. Törless, sicherlich kein Übermensch, aber auch kein Mann ohne Eigenschaften, vielmehr ein Durchschnittsbürger seiner Zeit, fühlt sich durch die Vitalität, die das Zeichen entfesselt und freigibt, nicht befreit, sondern gefährdet; dieses etwas „stand nun da, in diesem Himmel, lebendig über ihm und drohte und höhnte" 46 , und sein Anblick quält ihn so sehr, daß er hinabsinkt in eine Erschöpfung an der Grenze zwischen Schlaf und Ohnmacht. In dieser Richtung geht dann die deutsche Avantgarde, ins besondere aber die österreichische — zum Beispiel in der „Verbesserung von Mitteleuropa" Oswald Wieners (1969) — im Frontalangriff gegen die sprachliche Lüge an, um sie in einer rasenden Anstrengung zu zerstören und — jenseits des Zeichens — die Unmittelbarkeit des Lebens wiederzufinden. Wie nach einer Nervenkrise wacht Törless ermattet wieder auf, und noch immer fühlt er den Himmel „riesig und schweigend"47 auf sich herunterstarren, aber jetzt verweist ihn dieser Anblick auf frühere Erfahrungen, auf „Beziehungen, in die er sich eingesponnen fühlt" 4 8 (er läßt ihn sie „durchgehen"49). Der Himmel ist für ihn kein Zeichen, sondern eine Bedeutung, und so stellt er für ihn die Quelle eines semantologischen Hinweises dar, er verweist ihn — wie ein Anzeichen — auf andere Bedeutungen. Dieses Hinweiszeichen ist allerdings alles andere als eindeutig: Es ist zweideutig, vielfältig. Die Dinge, die Zustände, deren Existenz es begründen müßte, erweisen sich als verworren, als miteinander austauschbar: als verschiedenartige und flüchtige Erinnerungen, als unbestimmte Entitäten. Der Himmel müßte auf die Uberzeugung von der — unbeweisbaren — Existenz des Unendlichen verweisen, doch die Vorstellung der Unendlichkeit gerät in eine „ungeheure Verwirrung" 50 , ins „Doppelsinnige" 51 , in ein „verwirrend enges Aneinander" 52 ; das „harmlose, erklärende Wort" 5 3 , das jene Doppel45 G. Baioni, Introduzione (Einführung) zu G. Benn, Poesie statiche (Statische Gedichte), Übers, u. Einf. v. G. Baioni, Torino 1972, S. V I I ff.

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Törless, a.a.O., S. 70.

Törless, a.a.O., S. 70. Törless, a.a.O., S. 70. Törless, a.a.O., S. 70.

Törless, a.a.O., S. 71. Törless, a.a.O., S. 71.

Törless, a.a.O., S. 71.

Törless, a.a.O., S. 71.

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deutigkeit durch „eine Kraft irgendwelcher Erfinder" 54 an sich gefesselt hat, kann sich jeden Augenblick von jener Doppeldeutigkeit selbst losreißen. Das Zeichen, die Konvention der ratio, löst sich wie eine Hülle vom Leben: Törless zerstört mit seinen „unnatürlich gewordenen Augen" 55 die Harmonie des Lebens und des Verstandes, denn überall sieht er Zeichen, unzulänglich und unzureichend, die das Leben der Vernunft nicht abzugewinnen vermögen, es vielmehr verlieren in der Erstarrung der Formalisierung. Der Bezug zwischen Leben und Verstand ist derart, daß „sie sich verwirrend eng aneinander schließen"56; ein Chaos von freischwebenden Assoziationen überkommt den Geist Törless', und sobald er versucht, sie mit den Worten in den Griff zu bekommen, verwirren die der „unteilbaren" Erfahrung überlagerten Zeichen — wie wir gesehen haben — ihre Kenntnis, verwehren deren Besitz. Nach der Erfahrung des schon genannten „Versagens der Sprache" sucht Törless nach einer „Brücke" 57 (einem Bild, wie schon gesagt, von der Kenntnis) zwischen sich und dem Unausgesprochenen, zwischen seinem Ich und dem Irrationalen. Doch die Brücke wird immer kleiner, sie zerfällt bis ins Unendliche wie der Dividend einer unaufhörlichen Division, die „einen hartnäckigen Rest" 58 zu beseitigen nicht imstande ist: Die Brücke, anstatt zur Vorstellung der Unendlichkeit zu führen, wird zu einem bloßen leeren Zeichen, zur imaginären Bezeichnung i. Das Scheitern des Zeichens stürzt Törless dann schließlich in die fürchterliche Unmittelbarkeit einer nunmehr einzig negativen Epiphanie, ins Schweigen des Himmels, einer „riesigen, durchsichtigen Leiche59, in das blendende Licht, das wie ein „milchiger Schimmer" und „ein bleicher kalter Nebel" 60 vor seinen Augen tanzt. Der helle Tag ist ein „unergründliches Versteck", die Wand des Parks scheint belebt von einem „unheimlichen Leben" 61 : abbröckelnde kleine Steinchen, wuchernder Huflattich, Schnecken und Würmer. Das entsetzte Staunen Törless', das Ziolkowski mit dem „infant sense of wonder" des Stephen Hero 62 vergleicht, ist die wehrlose Trägheit des Menschen angesichts der von den Zeichen befreiten Dinge, die schutzlose Aussetzung des Aristokraten angesichts des „Einbruchs von unten", von der Broch spricht, nichts anderes 64

Törless, a.a.O., S. 71. Törless, a.a.O., S. 71. Törless, a.a.O., S. 71. 57 Törless, a.a.O., S. 72. 58 Törless, a.a.O., S. 73. 69 Törless, a.a.O., S. 73. 60 Törless, a.a.O., S. 73. 61 Törless, a.a.O., S. 73. 62 Th. Ziolkowski, James Joyce's Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt in der modernen deutschen Prosa, in D. Vierteljahrh. f. Litwiss. u. Geistesgesch., 35. (1961), S. 610. 65

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als, wie es in der Theorie des Romans (1916) Lukacs heißt, die Unfähigkeit einer untergehenden Klasse (wie der, die die Gesellschaft Österreich-Ungarns trägt), der Welt Regeln und Werte aufzuerlegen und damit feste Zeidiensysteme. Das Hinweiszeichen findet sein Objekt nicht, der Himmel zeigt etwas an, nicht aber weiß man, was. Die einzige Brücke der Kenntnis ist die des Vergleichs, des Gleichnisses, das zwischen den verschiedenen Sphären Verbindungen herstellt. Doch der Vergleich, den Törless zwischen „Nahem und Fernem" 63 aufzustellen suchte, wird gestört durch Interferenzen und Geräusche, durch eine Dystonie, die die Synchronie der Begegnung zwischen den beiden Sphären verhindert: „die Tätigkeit des Vergleichens drängte sich vor den Gegenstand des Vergleiches, es gab einen kaum fühlbaren Ruck, — und alles stand still" 6 4 . Die Einsetzung eines Vergleichsinstruments, einer Sprache, die Nahes und Fernes in Beziehung zu versetzen vermag, überlagert sich dem Vergleichsgegenstand selbst: Das Zeichen ist ein Geräusch, eine Störung der Kommunikation oder auch nur des Ausdrucks, nicht aber ihr Vehikel. Wenn der Vergleich dann gelingt, enthüllt er lediglich die Unbeständigkeit des Wirklichen: alles ändert sich in der Bedeutung, tritt in eine neue Beziehung, die es verwandelt und verdreht 65 . Die Verwirrungen rühren eben von der Vergleichstätigkeit her, die Törless vor die Polivalenz des Daseins stellt und eine fortwährende Funktion der Entfremdung übt. Fest entschlossen, von diesen Verwirrungen zu heilen, verzichtet Törless auf sein Doppelleben, darauf, gleichzeitig mit verschiedenen Augen zu schauen: „Und ich werde nich mehr versuchen, dies miteinander zu vergleichen."66 Um sich in die geordnete Normalität des erwachsenen Bürgers einzugliedern, verzichtet Törless auf die Metapher, das auf die fortgesetzte Metamorphose der Wirklichkeit hinweisende Zeichen. Die beiden Erzählungen der »Vereinigungen* (1911), die Musil selbst als fast ekelerregend unverständlich bezeichnete und die das radikalste seiner Formexperimente darstellen, bauen fast ganz auf die Logik der Metapher. Es geht vorwiegend um lexikalische (plastische Ausdrücke, die auf die Herausstellung expressiver Effekte abzielen) und um verbale Metaphern (Ausdrücke, die auf verschiedenartige und mehrfache Bedeutungen hinwei63

Törless, a.a.O., S. 112. Törless, a.a.O., S. 112. Vgl. z.B. Ü. Karthaus, für den die Metapher die zweite Wirklichkeit der Dinge offenbart (U. Karthaus, Der andere Zustand. Zeitstrukturen im Werke Robert Musils, Berlin 1965, S. 71) und J. Kühne, der das Verhältnis zwischen Gleichnis, Vergleich und Fiktion untersucht (J. Kühne, Das Gleichnis. Studien zur inneren Form von Robert Musils Roman ,Der Mann ohne Eigenschaften', Tübingen 1968, S. 86 ff. 66 Törless, s. o., S. 144. 64

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sen, die auf die Doppeldeutigkeit der Bezüge bauen). Dem gegenüber tritt in der Zweideutigkeit und Unbestimmtheit des Textes die begriffliche Metapher, der parallele Bezug proportionaler Begriffe in den Hintergrund 67 . Das Kriterium der Ähnlichkeit erfährt analog eine derartige Ausdehnung, daß es zu einer extremen Verschwommenheit gelangt, daß sich die Ersetzung entfesselt, anscheinend hemmungslos und unbegründet. Daher die Unverständlichkeit der Erzählungen, auf die Musil hindeutete, wo jede Dimension des Raums und der Zeit zerbricht; es gibt in den Novellen weder Ende noch Anfang, sondern einzig eine psychische tranche de vie, die ohne Rechtfertigung in der Erzählung ihren Anfang nimmt und unterbrochen wird; vor allem aber fehlt der Erzählung ein Fortschreiten, ein Verlauf; sie wird gefangengehalten von einem kreisförmigen Rhythmus, der in spiralförmiger Bewegung unaufhörlich auf den Ausgangspunkt zurückkommt. Eine allumfassende Versinnlichung läßt das Dasein zu einem ungestümen Gewimmel von Eindrücken und Empfindungen werden; das Ende wird zum Anfang, denn im Zwischenstück gab es keine Geschichte, keine Entwicklung, keine wesentliche Veränderung, sondern einzig einen nicht wahrnehmbaren und steten Wechsel von Gefühlsreaktionen und Empfindungszuständen. Wie bei den Erzähleinheiten, gibt es auch bei den sprachlichen keine Wertehierarchie: alles und so also nichts ist wesentlich, jedes Element scheint ersetzbar oder unersetzbar, genau wie jedes andere, unterschwellige Schattierungen enstprechen den auffälligsten Erscheinungen, die Konjunktionen und die Fortführungspunkte sind innerhalb des Satzgefüges ebenso bestimmend wie das Subjekt oder das Verb. Die Dinge entschwinden dem Horizont der Erzählung, welcher die äußere Wirklichkeit nicht zu kennen scheint: es entsteht ein Bezug zwischen dem Subjekt und seiner Interpretation der Welt, die sich ihm wie ein fremdes Gespenst offenbart, zwischen dem Lautzeichen und der Referenz (dem Sinn, dem Begriff, dem designatum, dem Geistesbild); das Bezugsobjekt existiert praktisch nicht, hat kein Gewicht. Die Erzählung wird zum Diagramm einer Reihe von Bezugnahmen, an deren Ende der vom Lautzeichen heraufbeschwörte Bewußtseinszustand rätselhaft und entfremdet dasteht, dem Lautzeichen selbst gegenüber autonom; drohend und fremd begehrt er auf gegen das Subjekt. In der Erzählung ,Die Vollendung der Liebe' trägt die „Philosophie des Als Ob" — anderswo mit der Mathematik identifiziert, die mit Fehlern und Fiktionen so verfährt, als ob sie Wahrheiten seien, mittels eines Zeichensystems par excellence also68 — dieses Universum objektloser Bezugnahmen: „Es war jenes Stillstehen und dann leise Senken, wie wenn sich plötzlich ®7 Vgl. G. Morpurgo-Tagliabue , Linguistica e stilistica di Aristotele, Roma 1967, S. 239 ff. 88 Vgl. M. L. Roth , Robert Musil. Ethik und Ästhetik, München 1972, (bezüglich des Buches von H . Vaihinger) S. 367.

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Flächen ordnen und ein Kristall sich bildet . . . Um diese beiden Menschen, durch die seine Mitte lief und die sich mit einemmal durch, dieses Atemanhalten und Wölben und Um-sie-Lehnen wie durch Tausende spiegelnder Flächen ansahen und wieder so ansahen, als ob sie einander zum erstenmal erblickten [ . . . ] sie dachten gemeinsam an jenen Dritten, Unbekannten, an diesen einen von den vielen Dritten, als ob sie miteinander durch eine Landschaft gingen: . . . Bäume, Wiesen, ein Himmel und plötzlich ein Nichtwissen, warum alles hier blau und dort voll Wolken ist; . . . sie fühlten alle diese Dritten um sich stehen, wie jene große Kugel, die uns einschließt und uns manchmal fremd und gläsern ansieht und frieren macht, wenn der Flug eines Vogels eine unverständlich taumelnde Linie in sie hineinritzt." 69 Die Analogiehinweise sind verworren, vergänglich und beunruhigend: Die Seele kehrt mit einem unerforschlichen Gesicht zu sich selbst zurück, jedes Zeichen ist zweideutig und flüchtig wie die Fluglinie eines Vogels. Auch in Vereinigungen ist das Zeichen vorherrschend nicht Ersatz, Substitution, sondern Hinweis: Hinweis auf die vor dem Verb und vor dem Objekt bestehende Welt der Seele, auf einen finsteren Grund der Seele, die einzig die Totalität ihrer selbst fühlt, mit einer narzißtischen und undifferenzierten Libido, die nur auf sich selbst gerichtet ist, entfremdet in einem Prozeß, der sie zwingt, sich ihrer selbst zu entfremden, wie ein Narziß, der sich mit Liebe im Wasser spiegelt, ohne sich selbst aber wiederzuerkennen: „alles, was sie tat, berühre sie im Grunde nicht und habe im Wesentlichen nichts mit ihr zu tun. Wie ein Bach rauschte dieses Treiben einer unglücklichen, alltäglichen, untreuen Frau von ihr fort, und sie hatte noch nur das Gefühl, reglos und in Gedanken daran zu sitzen" 70 . Diese ProjektionPerzeption seiner selbst erweist sich als konfus und verschwommen, nicht kann sie durch die Zeichenkonvention vermittelt werden; der Peircesche Prozeß einer unbegrenzten Semiose (die unendliche Regression des Interpretanten zur Darstellung und wieder zurück zum Interpretanten undsoweiter, das geistige Zeichen, das das vorhergehende Zeichen überträgt) ist bar eines Ausgangspunktes, eines ersten Zeichens; ihm fehlt eine Erwiderung in der Praxis, denn hier geht das Zeichen nicht in die Aktion ein, wird von dieser nicht verbraucht, von keiner spezifischen Aktion, von keinem spezifischen Verhalten. In der Vollendung der Liebe fehlt jeder Kodex, jede szenische Entsprechung, die konventionalisiert und sozialisiert wäre; die Verfassung der Worte ist ungewiß, ihre Valenz labil und provisorisch; jegliche Repräsentativbewertung bleibt aus, denn es fehlt das Kriterium, auf Grund dessen 69 R. Musil, Die Vollendung der Liebe, in Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa, Dramen, Späte Briefe, hrsg. v. A. Frisé , Hamburg 1957, S. 163 - 164. 70 Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 166.

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Klassen eingesetzt werden könnten. Musil seinerseits verwendet offensichtlich solche Lautzeichen, die ihre Existenz dem Differenzialverhältnis verdanken, den Differenzen, die jedes einzelne von allen anderen trennen; zwischen diesen Lautzeichen der gemeinen Spradie und den Bedeutungen, die sie unauflöslich erzeugen müßten, tut sich aber ein Hiatus auf, eine ungenaue und unausfüllbare Leere. Das Zeichen spaltet sich. Die Bedeutungen werden im Unklaren zunichte, denn unklar ist der Kontext, der sie umgibt. Die Sprache scheitert, weil sie sich die Totalität der Lebensgehalte zu eigen machen will, die der Erfahrung vorstehen, die hingegen eine Tiefe birgt, welche sich als dunkel, kaum wahrnehmbar und nicht artikulierbar erweist. Das Sprachsystem vermag sich bei seinen Differenzen des continuum des Lebens nicht zu bemächtigen, den Grund des vitalen Gefüges nicht zu erfassen, aus dem der Ausdruck vergeblich Bilder herausschneidet, Schemen und Begriffe, die dem Verfließen und dem Sichvervollständigen der Erfahrung nicht gerecht werden. Die komplexe Hierarchie der Nebensätze beutet so ironisch auf das Nichtvorhandensein einer Ordnung hin; die unmittelbare semantische Vorstellung bleibt unter der Wasseroberfläche und verborgen: sie wird wohl dunkel wahrgenommen, nicht aber in vollem Maße erfahren. „Ihr Tun riß sich in Stücken von ihr los und wurde von den Gedächtnissen fremder Menschen davongetragen, nichts hatte jenen Ansatz von Furcht in ihr zurückgelassen, der eine Seele leise zu schwellen anfängt, wenn die andern glauben sie völlig entblättert zu haben und sich satt von ihr abwenden; . . . und doch lag blaß bei allem, was sie litt, ein Schimmer wie von einer Krone, und in dem dumpfen, summenden Weh, das ihr Leben begleitete, zitterte ein Glanz. [ . . . ] . manchmal war es nur ein fernes kreisendes Singen in ihrem Kopf . . . [ , . . ] . . . und dahinter rief noch immer dieser unbestimmt schwankende Ton, den sie nicht fassen konnte, fern, vergessen, wie ein Kinderlied, wie ein Schmerz, wie sie, . . . in weiten schwankenden Kreisen zog er ihre Gedanken nach sich und sie konnten ihm nicht ins Gesicht sehn. [ . . . ] etwas hinter den Sinnen wollte still sein, sich dehnen, die Welt über sich hingleiten lassen . . .* 7 1 . In diesem vergeblichen Streben der Epiphanie nach Klarheit und Form verneint sich das Ausscheiden von Zeichen selbst, seine Fähigkeit, Schemen, Begriffe und Bilder festzuhalten: Die Dinge (stets über ein Hindernis hinweg gesehen, das Zugfenster für Claudine, die Fensterscheiben des Hauses für Veronika) werden zu Zeichen, unverständlich, weil ihnen ein Kodex fehlt: „ . . . , waren ihre Schatten nur ganz dünn gefärbt und hingen so locker an ihrem Schritt, als vermöchten sie ihn nicht an die Erde zu binden, und der Klang des harten Bodens unter ihren Füßen war so kurz und versinkend und kahle Sträucher starrten so in den Himmel, daß es [ . . . ] war, als ob sich mit 71

Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 168 - 169.

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einemmal die stummen, folgsamen Dinge von ihnen losgemacht hätten und seltsam würden, und sie waren hoch und aufgerichtet in dem halben Licht, wie Abenteurer, wie Fremde, wie Unwirkliche, von ihrem Verhallen ergriffen, voll Stücken eines Unbegreiflichen in sich, dem nichts antwortete, das von allen Gegenständen abgeschüttelt wurde und von dem ein zerbrochener Schein in die Welt fiel, der verworfen und ohne Zusammenhang da in einem Ding, dort in einem entschwindenden Gedanken aufleuchtete" 72. Die als Zeichen angenommenen Dinge (doch in Wirklichkeit handelt es sich um psychische Projektionen auf die Dinge) spotten jedes hermeneutischen und pansemiotischen Mystizismus', angefangen bei den Metaphysikern des Mittelalters bis hin zur Theorie Pasolinis von der Wirklichkeit als Sprache ihrer selbst mit sich selbst. In den beiden Erzählungen Musils fehlt jeglicher Schlüssel und jegliche Konvention zur Entschlüsselung dieser Dinge als Zeichen, die bezugslose und absolute Zeichen bleiben, anstatt als Einheiten eines semiologischen Systems aufzutreten. Der Analogienexus, der allein Verbindungen und damit Erkenntnisschlüssel hervorbringen könnte, wird derart überspannt, daß er zum Ausbleiben der Verbindungen selbst führt, zumindest aber zur Unmöglichkeit, dieselben zu ermitteln: In den Tumult zu schauen, tut weh; die Dinge zerbröckeln vor den Augen Claudines; der unantastbare Gedanke löst sich auf in zusammenhangslose Bilder; die Referenz geht in Stücke wie ein gestörter Fernsehschirm, die Person selbst entfremdet sich und verliert sich: „Und da befiel sie allmählich ein leises, verwehtes, ungreifbares Gefühl von sich; aufgelöst und zerfetzt, wie blasser, flockender Schaum glaubte sie in der Dunkelheit vor ihm zu schwimmen73." Jedes Zeichen in den Vereinigungen hat lediglich einen ikonischen Charakter, es ist sich selbst analog bzw. demjenigen, das es in seiner Eigenschaft als Lautzeichen materiell ersetzt ( / Schaum / steht für Schaum); nie hat es einen ikonologischen Wert, der uns zu verstehen gäbe, was jener Schaum bedeutet, ob leuchtendes Weiß, Reinheit, Auflösung oder schlammiger Brei, denn es fehlt ihm der Kontext zu seiner Bestimmung. Wie schon des öfteren gesagt wurde, hat die Struktur der Vereinigungen einen Tantalus-Charakter; sie strebt nach einer vergeblich transitiven Ausrichtung, stets bemüht, etwas Fliehendes darzustellen. Dieses „Etwas" ist, wie wiederholt hervorgehoben wurde, der Grenzpunkt zwischen Realem und Irrealem, zwischen Realem und Möglichem, zwischen dem, was vorher nicht existiert und dem, was in jenem Augenblick zu existieren beginnt. I n einem Essay hat Jürgen Schröder 74 einen Abschnitt der Vollendung der 72

Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 171. Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 176. J. Schröder t Am Grenzwert der Sprache. Zu Robert Musils »Vereinigungen', in Euphorion, 60. (1966), S. 311 - 334. 78

74

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Liebe analysiert, wobei der Schriftsteller den Ubergangspunkt zwischen dem physischen und dem nicht körperlichen Element umkreist, „jenem anderen, beinahe Körperlichen" 75 ; das Element weist keine körperliche Dimension auf, aber beinahe besitzt es sie, d. h. der Abstand zwischen ihnen ist so klein, daß er fast nicht existiert. Die Vereinigung ist der Augenblick dieses Übergangs, dieses nicht wahrnehmbaren Übergehens, dieses Zusammenschlusses: daher die Bedeutung, die im Satz bei Musil die herkömmlich nebensächlichen Teile annehmen, wie Konjunktionen und Adverbien, oder Vorgänge wie die Unterbrechung zur Bezeichnung dieses fließenden und unbestimmten Zustandes (z. B. beinahe, kaum, ein wenig, etwa: AusweichPartikel, die die winzigsten Werte einer unsteten Bedingung zu ergreifen suchen)76. Diese Charakteristik stellt das Problem, zu ermitteln, welches die Grundeinheit der Sprache Musils ist. Ausgehend vom Atomismus Machs (der dann wiederaufgenommen wird von Wittgenstein mit dem Bezug zwischen Elementarfakten und Elementarsätzen) findet Musil in Husserl (wie Marie-Louise Roth in ihrer Untersuchung der geistigen Quellen Musils unterstreicht) 77 klar das Primat des Satzes über das Wort bestätigt, des Satzes über die Elemente, aus denen er besteht und die einzig in ihm und aus ihm Bedeutung schöpfen. Dieses Primat wurde sicherlich bekräftigt durch die Prinzipien der Gestalttheorie, mit denen Musil vertraut war, besonders durch die Werke von Stumpf, Koffka, Wertheimer, Köhler, Johannes von Allesch und Christian von Ehrenfels 78. Der Gestalttheorie entnahm Musil die Vorstellung vom Ganzen als vor den Teilen bestehende Form, als intuitiv erfaßte Totalität gesehen, als unmittelbarer Bezug eines Teils zum Ganzen und nicht als Addition von Teilen. In diesem Sinne wird nach Husserl der Satz als Ganzes vor den Teilen gegeben, die ihn ausmachen und die erst in der Folge durch die Zerlegung jener Einheit erhalten werden. Bei selbst oberflächlicher Betrachtung der Struktur der Vereinigungen allerdings gewinnt man schwerlich den Eindruck, sich vor einem Sprachgefüge zu befinden, das sich auf die organische Einheit des Satzes stützt; das Sprachgefüge, die Rede scheint hingegen ein fortgesetztes Fließen zu sein, in dem die progressive Addition kleinster Einheiten in einer aalförmigen Bewegung versteckt zu liegen scheint. Es ist geradezu unmöglich, die Einheit des Satzes intuitiv und global zu erfassen: Die Aufmerksamkeit gilt den einzelnen Partikeln, ihrem Schlängeln, das sich über Seiten und Seiten 75

R. Musil, Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 162. G. Baumann, Robert Musil. Zur Erkenntnis der Dichtung, München 1965, S. 102 ff. 77 L. M. Roth, a.a.O., S. 207 ff. 78 Vgl. M. L. Roth, a.a.O., S. 207 ff.; vgl. bes. R. v. Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman ,Der Mann ohne Eigenschaften*. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken, Münster 1966. 76

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durch die ganze Erzählung zieht, und fast erfaßt sie die Satzeinheit nicht deutlich. Das bemerkenswerteste Beispiel wird von einem Passus gegeben, der mehrfach von der Kritik analysiert wurde und die Erinnerung an einige Träume betrifft, die sich im Geiste Claudines einstellen. Es ist ein Satzgefüge von siebenundzwanzig Zeilen, das in einen einzigen riesigen Satz zerfällt und zerbricht in eine Reihe wuchernder Untereinheiten: Das Gefüge baut, indem es sich so windet, auf die Postposition, auf die variierende Wiederaufnahme des Subjekts (fortwährend präzisiert und abgeändert durch Appositionen, Attribute oder durch ganz einfache Variationen); Unterbrechungen, Nebensätze und ein überaus häufiges zweideutiges Auftreten des unpersönlichen Pronomens zeichnen im Innern der ausgedehnten Rede Verbindungen zwischen verschiedenen und fernen Wortgruppen bzw. Redesegmenten, wobei das grammatikalische Subjekt eines Nebensatzes mit dem logischen Subjekt eines anderen verbunden, ein Subjekt nach einer Weile wieder aufgenommen und variiert wird, einige Zeilen zurück fallengelassene bzw. in der Schwebe gelassene Motive wiederaufgegriffen werden. Man könnte Verbindungslinien ziehen, die das Gefüge durchschneiden (z. B. das Motiv der statischen Zeit und das der dynamischen, das Thema der räumlichen Ausdehnung der Zeit und so weiter) und sich um Wortfelder legen würden, die die wahre Grundeinheit der Rede darstellten, welche ihrerseits wohl ein eigenes Gravitationszentrum aufweist, nicht aber klar umrissene Grenzen. Die Verbindung zwischen den verschiedenen Wortfeldern, die im wesentlichen einem Assoziationsverfahren überlassen wird, ist unbeständig und diskontinuierlich: der dichterische Discours stellt sich schwankend und unpräzise in ein gegenseitiges Bedingen seiner Elemente, fast als ließe es sich leiten von der Unschärfe-Relation, die Musil so sehr faszinierte. In die Einheit des Satzes, die die Notwendigkeit seiner Bestandteile postuliert, tritt ein tastendes Sprechen ein, dessen Aufbau bestimmt wird von der Wahrscheinlichkeit als vielmehr von der eisernen und notwendigen Folgerichtigkeit. Das Wortfeld bezeichnet einen fließenden und momentanen Zustand, „nichts Fixiertes" 79 : „eine Stunde später ist es nichtssagend"80, denn „das Siegel auf einem lockeren Pack von Vorstellungen" 81 , das bedeckt wird vom Wort, ist schon versteinert, hat sich schon verflüchtigt. Die große Einheit, die unter dem Wortgefüge liegt, die präverbale des vitalen continuums, bleibt jenseits des Horizonts des Ausdrucks und auch jenseits der Fortsetzungszeichen. Die Sprache bleibt rigoros phänomenalistisch (nie wird gesagt, daß etwas ist, nur, daß im Wahrnehmungsbereich 79 R. Musil, Geist und Erfahrung, in G. W., a.a.O., Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, S. 659; vgl. M. L. Roth, a.a.O., S. 222. 80 Ibidem. 81 R. Musil, Literat und Literatur, in G. W., a.a.O., Tagebücher, usw., Bd. I I , S. 707. Vgl. M. L. Roth, a.a.O., S. 443 und G. Baioni, a.a.O., S. X X X .

14 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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des Subjekts etwas ist), und jedes soeben umrissene Phänomen schwindet dahin: „ I m nächsten Augenblick aber war es nur mehr ein verlöschender Streif des Verstehens im Dunkel und nur in ihrem Innern schwang etwas nach, [ . . . ] leise sausend, verwirrt und fremd." 82 Wird das Innerste des Ich sprachlich übertragen und objektiviert, so entfremdet es sich, wie das Subjekt Lacans, begriffen, das Ausgesprochene zu formulieren: „ . . . sie hatte eine große, unbewegte Empfindung von sich, über der Vergangenheit und Gegenwart wie kleine Wellen sich wiederholten. [ . . . ] . . . , wie Punkte fremd im Raum einander ansehn, die irgendetwas Ungreifbares zu einem zufälligen Gebilde vereint. Sie schrumpfte darunter ein, es drückte sie zusammen, als wäre sie selbst solch ein Punkt" 8 8 . Die Punkte und ihr zeichnerisches Gebilde (wie z. B. bei der Übertragung eines Fernsehbildes) sind die Metapher einer Bedeutung, die als eine Reihe von Bezugnahmen verstanden wird, sie sind der Umriß einer Referenz: „Da war ihr mit einem Schlag einen Augenblick lang, als ob tausend zu ihrem Körper aneinandergefügte Kristalle sich sträubten; ein umhergeworfenes, unruhiges, zersplittert dämmerndes Licht stieg in ihrem Leib empor und der Mensch, den es traf, sah darin mit einemmal anders aus, alle seine Linien kamen auf sie zu, zuckend wie ihr Herz, alle seine Bewegungen fühlte sie von innen über ihren Körper gehn." 84 Diese Zerstäubung des Bildes in einen Wirbel von Korpuskeln geht einher mit dem Gefühl des Sichselbstverlierens (die Meereswellen, die dem Menschen alles entreißen, ihm einzig die reine und immaterielle Gegenwart hinterlassen) und mit der plötzlichen Entdeckung, daß die illusorisch der Zufälligkeit auferlegte Lautzeichenkette hinfällig ist: „Sie dachte, man gräbt eine Linie ein, irgendeine bloß zusammenhängende Linie, um sich an sich selbst zwischen dem stumm davonragenden Dastehn der Dinge zu halten; das ist unser Leben; etwas wie wenn man ohne Aufhören spricht und sich vortäuscht, daß jedes Wort zum vorherigen gehört und das nächste fordert, weil man fürchtet, im Augenblick des abreißenden Schweigens irgendwie unvorstellbar zu taumeln und von der Stille aufgelöst zu werden; aber es ist nur Angst, nur Schwäche vor der schrecklich auseinanderklaffenden Zufälligkeit alles dessen, was man t u t . . ." 8 5 . Die Linearität des Lautzeichens ist gegenüber der untergründigen Welt, der Dimension des Primärprozesses, gegenüber dem Es, in dem die Gegen82 Die Vollendung der Liebe, s. o., S. 177. H. W. Schaffnit unterstreicht, daß man von ,Rotem4 spricht anstatt von ,rot', usw. Vgl. H. W. Schaffnit, Mimesis als Problem. Studien zu einem ästhetischen Begriff der Dichtung aus Anlass Robert Musils, Berlin 1971, S. 57. 83 Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 186 - 188. 84 Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 188. 85 Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 191.

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sätze koexistieren (für Claudine Treue und Untreue, Zerstörung und Glückseligkeit: „in ihr selbst taumelte zu gleicher Zeit ein wegloses Empfinden" 86 ), eine eingebildete Ordnung (Folge, Wahl, Ausschließung), denn jene Einheit des Tiefen kommt vor jeder Sprach- und Erkenntnisoperation, welche sich auf Kontradiktionen, Gegensätze, Widersprüche, Oppositionen und Unterscheidungen gründet. „Die notwendige Linearität der Rede — hat Cesare Segre in einem berühmten Buch geschrieben — zieht durchaus keine analoge Linearität des Gedankens nach sich." 87 Bei seinem Versuch, jene präverbale Wirklichkeit mit Periphrasen und Umsdireibungen zu umreißen, sucht Musil die Simultaneität ihrer Phänomenologie zu entfalten, indem er die zeitliche Dimension der sprachlichen Darlegung aufs Minimum reduziert. Er sucht sozusagen, jene innere Welt ohne Zeit, jenes Chaos unklarer Impulse und objektloser Libido räumlich zu reproduzieren: „dieses zwischen zwei Spiegeln Gleitende der Liebe, hinter denen man das Nichts weiß . . . 8 8 . Nicht einmal von Narzißmus kann sprechen, denn selbst die eigene Person — für Claudine ihre Hand und ihr Knie — bleibt fremd und unerreichbar. Auch die zweite Erzählung, Die Versuchung der stillen Veronika, handelt von einem Prozeß, nicht von einem Zustand; vom Akte des Zusammenfließens gelöster Stücke auf eine eventuelle Vereinigung zu. Die Umgebung — das dunkle Haus, die Fensterscheiben, die Höhle des Ichs — ist der leere Raum, wo sich diese reinen Geistesoperationen abwickeln. Jedes Zeichen erweist sich als unentzifferbar, wie die Schnörkel auf den Steinen, in den Wolken, in den Wasserstrudeln, die etwas deuten, von dem „niemand weiß, wo das lebst, [ . . . ] und wie es in seiner vollen Wirklichkeit sein mag" 89 . Jeder Hinweis ist vollkommen unbegründet, es ist das Hergekommene „von etwas noch Abwesendem wie jene seltenen Mienen in Gesichtern, die gar nicht mit diesen, sondern mit irgendwelchen anderen, plötzlich jenseits alles Geschehenen vermuteten Gesichtern zusammenhängen"90. Die Zeichen sind also da, sie stehen für etwas, das jedoch nicht idenfizierbar ist, oder aber sie verweisen auf etwas, das nicht einmal vorstellbar ist. Die Worte sind dann „Geräusche", d. h. Störungen, die die „Melodien" 91 verhindern, die Übertragung einer Botschaft; wie etwas „waagrecht Endloses"92 will der Raum jede Differenz in einer verschwommenen Einförmigkeit 86

Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 192. C. Segre, Verso una critica semiologica, in I segni e la critica. Fra strutturalismo e semiologia, Torino 1969, S. 47. 88 Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 194. 89 R. Musil, Die Versuchung der stillen Veronika, in G. W., Prosa, Dramen, Späte Briefe, S. 201. 90 Die Versuchung, a.a.O., S. 201. 91 Die Versuchung, a.a.O., S. 201. 92 Die Versuchung, a.a.O., S. 206. 87

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(Schnee, Licht) auflösen. Das Zeichen umfaßt ein leeres Zentrum, „die Innenseite von vier fensterlosen Wänden, [ . . . ] den Wirbel, [ . . . ] einen Saum von tastender Zärtlichkeit" 93 ; diese totale Polyinterpretierbarkeit läßt die Zeichen ganz aufgehen in ausgedehnte Räume, Lichter, in nach oben gerichteten Glanz, in leichte und flüchtige Eindrücke von Formen auf Schleiern. Die Erzählung schildert höchst eindrucksvoll dieses Sichauslöschen der Unterschiede, das zur Aufhebung der Zeichen und des Lebens selbst führt: drohende Verschlafenheit, herabgelassene Schleier, in Flocken fallender Schnee, das letzte Zucken eines gebrochenen Lichtes, gleich darauf beschwichtigt in einer sanften Indifferenz, das diffuse Licht des Meeres unter den eingeschlafenen Augenlidern, die Stimmen, die sich auflösen in einem wirren Rauschen. Mit souveräner Beherrschung der Sprachmittel erzählt Musil eine Parabel vom Erlöschen der Sprache: Sich hinablassen in die Tiefe des Gewissens, hinabsteigen in jenes Licht, das man dort schimmern sieht, bedeutet hinabsteigen in die „ungenau gestaltete Dunkelheit" 94 , die unterhalb der Sprache liegt, unterhalb des Gedankens, unterhalb des individuellen Lebens. In den zeichenlosen Abgrund hinabsteigen heißt in den Tod hinabsteigen, in die konkave Seele der Kinder und der Verstorbenen, in das schreckliche Vergessen, das in den Augen der Tiere Platz findet, die von Geschichtlichkeit, Kultur, Reflexion und semiologischer Spaltung nichts wissen. Das Problem des Zeichens fällt für Musil immer mit dem Problem des Ich zusammen. Ohne Zeichen gibt es kein Ich, fehlt seine Beziehung zur Welt und damit die Einführung seiner individuellen Identität. Das Ich Veronikas kennt keine Grenzen, es ist fluktuierend und unsicher, es dehnt sich aus und zieht sich zusammen, indem es in seinen Atem Millionen von mikroskopischen ausgestoßenen oder einverleibten Kreaturen verwickelt, es spaltet sich in Teile, die es wieder findet und dann als ein Anderssein empfindet, es ist eine wuchernde Masse, die sich sowohl in die physiologischen Sekretionen als auch in die kulturellen Objektivierungen der äußeren Wirklichkeit ergießt; seine Grenzen sind nachgiebig wie die einer „weichen wunden Schnecke"95, oder die eines „runden, gespannten"96 Tropfens, der auseinanderfällt in eine schlaffe Lache, oder aber wie eine Spur im Sande, die verwischt wird von einem „matten, dauernden" 97 Wind. Das Ich erscheint unsicher und schwach, weil es sich schwer tut, ein festes Zeichensystem zu errichten, das seine Beziehung zur Welt organisiert und artikuliert. Die Handlungen des alltäglichen Lebens sind die zarten „Zeichen eines im fla93 94 95 96 97

Die Die Die Die Die

Versuchung, Versuchung, Versuchung, Versuchung, Versuchung,

a.a.O., S. 207, 208, 225. a.a.O., S. 221. s. o., S. 215. s. o., S. 212. s. o., S. 212.

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chen Kieselgeflecht des Bodens sonst nicht sichtbaren Weges"98, sind das Netz einer „ganz dünnen, seidenen Maske . . . , hell und silbergrau und bewegt wie vor dem Zerreißen" 99 . Die Leichtigkeit dieser Zeichen steht der Unordnung und der Einförmigkeit nahe, zu der die Natur hinneigt. An einer Stelle seines Tagebuchs aus dem Jahre 1929 sprach Musil vom allgemeinen Gesetz, nach dem die Molekularmengen dahin tendieren, sich in immer unförmigeren und gleichförmigeren Aggregaten aufzustellen, indem sie progressiv übergehen „von der Ordnung zur Unordnung" 100 . Dieser natürlichen Tendenz zur einförmigen Unordnung auferlegen und überlagern die Kultur und die Tätigkeit der Menschen, wie Umberto Eco 1 0 1 bemerkt, die Konvention mit ihrer eisernen inneren Logik: Die Laute neigen zum Geräusch hin, doch die Sprache artikuliert und disponiert sie auf der Basis von Ketten scharfer Wahrscheinlichkeit; der Sand zerstreut sich und breitet sich aus in ein gleichförmiges Chaos, doch die Sohle der serienhergestellten Schuhe drückt diesem Sand eine geordnete und voraussehbare Form ein. Die Kunst wiederum führt ins Innere dieser nunmehr allgemeingültigen Ordnung die Unordnung und die Überraschung ein, sie durchkreuzt die Voraussehbarkeit der Konvention, doch ihre Verfremdung hat nur im Innern dieser letzteren eine Funktion. Bei den Versuchen der radikalsten Avantgarde, so stellt Eco fest, nähert sich die Kunst ihrer Annullierung, denn die Unordnung, die sie in die Ordnung der Kultur bringt, nähert sich jener Scheidelinie, jenseits derer die Einförmigkeit und das Chaos anheben, jenseits derer das Sprachsystem aufhört und das Durcheinander der geräuschwerdenden Laute beginnt, das die Dissonanz und die Disharmonie nicht mehr registriert 102 . Die Zweideutigkeit, die Unbestimmtheit und die Undeutlichkeit zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit stellen die Bereinigungen* auf diese Ebene der Mimesis chaotischer Elementeaggregate, die zuweilen erhellt werden von einem Lichtbündel, das nur einen Augenblick lang einen Teil der Welt dem Dunkel des Unförmigen und des Einförmigen entreißen, wie es in einem kennzeichnenden Bild der Novelle ,Tonka* angestellt wird: „Zwischen Ancona und Fiume oder wohl auch zwischen Middelkerke und einer unbekannten Stadt steht ein Leuchtturm, dessen Licht allnächtlich wie ein Fächerschlag übers Meer blinkt; wie ein Fächerschlag, und dann ist nichts, und dann ist wieder etwas." 103 98

Die Die 100 R. 101 U. 102 U. 103 R. 99

Versuchung, s. o., S. 217. Versuchung, s. o., S. 217. Musil, Über Bücher, 1929, zit. nach M. L. Roth, a.a.O., S. 349 - 350. Eco, Opera aperta, Milano 1967, S. 92 ff. EcOy a.a.O., S. 114-116. Musil, Tonka, in G. W., Prosa, Dramen, Späte Briefe, a.a.O., S. 290.

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Eine noch stärkere Skepsis betrifft auch das mathematische Zeichen, eben deswegen, weil es seinen Bezeichnungscharakter übersteigert, der radikal anders ist gegenüber der möglichen Bedeutung oder den möglichen Bedeutungen. Die mathematischen Zeichen bändigen das Unendliche, eine wohl in der Formel einzufangene, nicht aber an sich faßbare Bedeutung; sie sind die illusorisch aseptische Form „fürchterlicher Dinge" 1 0 4 und beunruhigend genau deshalb, weil sie eine eigenständige und sich selbst innewohnende Welt sind, hinter der Törless vergebens etwas Natürliches sucht und aus der zurückzutreten er sich umsonst bemüht. Auch die eigentliche Sprache erscheint im ,Mann ohne Eigenschaften' wie die Evolution der Affen in den Zweigen, perfekt, stets aber losgelöst von der Erde. Das Anderssein der Zeichen gegenüber den Dingen bringt gleichzeitig das Anderssein der Lautzeichen gegenüber den Geistesbildern mit sich: In beiden Fällen erweist sich die — objektive bzw. psychische — Realität als unerreichbar. Die Ökonomie jedes Zeichensystems — schreibt Musil in seinem Essay Der mathematische Mensch (1913) — offenbart sich am Ende als unökonomisch, denn sie richtet sich auf das Innere ihrer Struktur aus und ignoriert dabei stolz ihre praktischen Anwendungen, sie ist ein Luxus der reinen ratio, die stolz ist auf ihre Selbstgenügsamkeit, wie das Studium seit Jahrtausenden toter Sprachen. Wenn sich die Mathematiker, deren Operationen allen technischen Anwendungen zugrunde liegen und damit dem gesamten Aufbau des Realen, plötzlich ob der Fundamente ihrer Wissenschaft befragen, werden sie deren Mangelhaftigkeit feststellen und somit entdecken, daß das gesamte Gebäude der Wirklichkeit in der Luft hängt, sich auf ein Nichts stützt. Die große Debatte über die Grundlagen der Mathematik bietet Musil die Gelegenheit, eine Diskussion über die Grundlagen jedes Zeichensystems einzuleiten, wenn die Sprache — deren Strukturen jede Konstruktion (geistiger und folglich praktischer Natur) der Welt bedingen — sich selbst analysiert, entdeckt sie, daß nichts die Willkürlichkeit ihrer Prämissen und damit aller entsprechenden Konsequenzen derselben rechtfertigt. Die Mathematik ist nicht nur das Symbol der moralischen Neutralität (im Stück ,Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer', 1924, dient sie dazu, sowohl die Bank zu sprengen als auch das Kasino stets gewinnen zu lassen) oder aber der Unvoreingenommenheit der wissenschaftlichen Forschung. Sie ist gleicher maßen der Ausdruck der Kluft zwischen Kenntnis (die immer zeichengebunden ist) und Leben: Sie ist damit also die ironische, untaugliche und perfekte Universal-,Detektivistik' in dem Stück ,Die Schwärmer' (1921), die als eine auf die Statistik gegründete Wissenschaft an sich eine Verletzung der Lebensunmittelbarkeit ist. Die Mathematik zerstört die menschlichen Eigenschaften, denn sie quantifiziert und nivelliert alle Werte: Die quan104

Törless, a.a.O., S. 83.

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titative Zerlegung in Energieteilchen annulliert die qualitativen Unterschiede zwischen dem Mut eines Helden, der Intuition eines Dichters und dem Losschnellen eines Sportlers oder eines Tiers: Ein Pferd kann auf der Ebene einer quantitativen Summe von zunächst in kleinste Einheiten zerlegten und dann addierten Begabungen rechtmäßig als genial gelten. Wenn die Zahlen konstante Zeichen für die verschiedensten Objekte sind, ist die Mathematik ein Wagnis, ein zynisches und nihilistisches Abenteuer 105 , das den Inhalten gleichgültig gegenüber steht, ein reines Formenspiel. Nicht entspricht sie der logischen Universalsprache, die Frege als Grundstruktur jeder Sprache postulierte, sondern einer operativen Konvention, wie zuletzt für Wittgenstein. Sie steht also in keinem Bezug zur Wahrheit. Und Musil ist ein Schriftsteller, der alles auf die Wahrheit setzt und deswegen hin und her geworfen wird angesichts der Alternative zwischen der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit, der Wahrheit Ausdruck zu geben. Moosbrugger und Ciarisse, die beiden „Grenzfälle" des Menschlichen, schwanken zwischen der Pansemiose („alles ist Zeichen" 106 , sagt Walter, während er von seiner Frau spricht) und der totalen Annullierung der Zeichen. Es sind zwei Fälle des Wahnsinns, der letzten Möglichkeit des Menschen, der Dilatation des individuellen Ich. Moosbrugger, kollektiver Traum der Menschheit, ignoriert die Rede, den Discours, das Sprachgefüge, die perspektivische Hierarchie des Satzes, d. h. die Organisation der Zeichen und der Dinge: Er kennt nur die entgegengesetzten Extrempunkte des isolierten Zeichens (oder des bezugslosen Objekts) und des fortwährenden Lebensflusses. Er löst jede Kategorienklassifizierung auf in den Analogieverweis (ein Eichhörnchen kann eine Katze oder auch ein Fuchs sein, denn es wird Eichkatze oder Baumfuchs genannt, es kann ein Fuchs sein und vielleicht ein Hase oder anderes mehr); danach befragt, wieviel vierzehn mehr vierzehn sei, antwortete Mosbrugger „so ungefähr achtundzwanzig bis vierzig" 107 , denn jede Zahl ist bis ins Unendliche teilbar, und nicht kann dieser Infinitesimalreihe durch den klaren Rand der ganzen Zahl Einhalt geboten werden; überdies ist jede Zahlenlogik eine operative Konvention, die gültig ist, solange sie dient, die also zurückgewiesen werden kann, wenn sie nicht mehr funktionell ist. Moosbrugger glaubt an das Zauberwort, an das Wort, das mit dem Objekt zusammenfällt, ein Wort, das seine Charakteristik als Substitutionszeichen demnach verliert; die Unmittelbarkeit dieses „lebenden Gedankens" (Livy-Brühl und seinen Ausführungen entlehnt, 105

E. Wilkins und E. Kaiser sprechen von »Abenteuer' in Bezug auf die Genauigkeit. Vgl. E. Wilkins! E. Kaiser, Musil und die Quadratwurzel aus minus Eins, in Robert Musil, Leben Werk Wirkung, hrsg. v. K. Dinklage, Hamburg 1960, S. 168. 106 Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 948. 107 Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 247.

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die die den sogenannten Primitiven eigenen Erfahrungen einer Identifizierung von Subjekt und Objekt behandeln)108 verwandelt sich in einen aggressiven wütigen raptus: Wenn Moosbrugger zu einem Mädchen „Rosenmund" sagte, „ließ das Wort in den Nähten nach" 109 , und das Gesicht des Mädchens wurde zu einer Rose, die man mit einem Messer abzuschneiden versucht war. Wenn das Zeichen das Ding ist, verliert das Ich jegliches Vermögen, das Wirkliche zu organisieren, weil es sich der Zeichen nicht bedienen kann; das Ich zerreißt also sich selbst. Worte und Dinge sind zerfallen, sie gehen über jede Struktur hinaus: Der Psyche Moosbruggers offenbart sich das Wirkliche als „lauter einzelne Vorfälle, die nichts miteinander zu tun haben" 110 , konfus und verwickelt, weil die sie haltenden Bänder plötzlich gesprungen sind. Organisation bedeutet für Moosbrugger Erstarrung, Zerstörung des Individuellen im Generellen der Kategorienklassifizierung: Das rissige Ich Moosbruggers trachtet nadi der vollständigen Analytizität der primitiven Sprachen, die potentiell an der Mannigfaltigkeit der Phänomene festhalten. Doch in dieser Zerstreuung zerbricht seine Persönlichkeit. Die Schwierigkeit, ein Wort zu artikulieren oder es auch nur zu finden, verbindet physiologische Dystonie (angeleimte Zunge, Worte, die wie Gummi am Gaumen kleben) und psychische Störung; die Dissoziationen der Sprache decken sich mit der pathologischen Phänomenologie der Psyche, und Moosbrugger ist es versagt, die Sprache zwischen sich und die Dinge zu stellen: Er verwechselt objektive Wahrnehmung und subjektive Projektion, entwikkelt seine Rede auf jenem dämmrigen Rand des Bewußtseins, wo, nach der Musil wohlbekannten Symptomatologie Kretschmers 111, tyrannisch die Assoziationsketten und die Mechanismen der Traumbilder, der mythischen Verdichtung bzw. der Verdrängung vorherrschen. Die Suche nach der Wahrheit über den Versuch, das Gespenst der Sprache zu verdrängen, führt Moosbrugger ins Delirium des Autismus, in jenen zügellosen Solipsismus, der die objektive Wirklichkeit durch eine solche ersetzt, die einzig und allein durch die Gefühlsstörungen bestimmt wird (Bleuler) 112 . Moosbrugger hat keine Identität, er bricht aus ins Äußere, lebt zwischen zwei klaren Wassermassen, die allein durch eine durchsichtige Glaswand voneinander getrennt sind, wie ein Fluß, der eine Wasserfläche durchfließt 108

Vgl. M. L. Roth, a.a.O., bes. S. 418 ff. Der Mann ohne Eigenschaften, s. o., S. 247. Dem Zerreissen der Worte, so bemerkt D. Kühn, entspricht das der Dinge oder besser noch der menschlichen Bedingung, der Daseinsweise. Vgl. D. Kühn, Analogie und Variation; Zur Analyse zu Robert Musils Roman ,Der Mann ohne Eigenschaften', Bonn 1965, S. 52. 110 Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 77; vgl. G. Müller, a.a.O., S. 185 ff. 111 E. Kretschmer y Medizinische Psychologie, Leipzig 1926. 112 E. Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 1916; vgl. G. Müller, a.a.O., S. 185 ff. 109

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und hinter sich, seinen Lauf verwischt. Moosbrugger wendet sich nach außen wie die Haube eines Polyps, er lebt sein Leben ganz auf der Ebene und nach der Logik des Primärprozesses, der von Worten, von der Unvereinbarkeit zwischen Gegensätzen, von Hierarchien nichts weiß: Dieselben Worte kehren für Moosbrugger überall mit gleich betonten Silben wieder. Moosbrugger ist ein Ich, das zum Es wird oder es wieder wird, das wieder eintaucht ins Es durch die schon genannten zerplatzten „Nähte" der Zeichen, indem er so ideal den Weg einer psychoanalytischen Therapie invertiert. Nicht zufällig ist er der Wanderer, der „theoretische Anarchist" und der „Theaterbrandstifter" 113 , der vor der Soziabilität zurückschreckt und damit auch vor der Revolution; er ist das Emblem eines großen reaktionären Anarchismus, eines erlittenen und verzweifelten Nihilismus, der, indem er die Zeichen des Verstandes und der Gesellschaft und so sich selbst zerstört, zu einer absoluten reaktionären Daseinshaltung gelangt. Nietzsches schmerzliche und stürmische Wiederentdeckung des Lebens jenseits des Zeichens mündet in die Selbstverdinglichung: Moosbrugger fühlt sich von den Dingen bedroht, enthauptet sie und tritt an ihre Stelle, indem er mit ihnen einen Tanz im Einklang anhebt. Wenn auch die Zeichen das Leben nicht vermitteln, so führt ihre Verwirrung zu dessen Zerstörung: Die Geschichte Moosbruggers ist zugleich eine Parabel von der irrationalen Ablehnung des Kodexes, der Kommunikation, der Soziabilität der Sprache. Wohl ist Moosbrugger das Opfer eines abgenutzten sozialen Räderwerks, das ihn verdinglicht in der fetischistischen Zerstreuung des bürokratischen iter, von dem sein qualvolles Schicksal abhängt, doch er ist das Opfer, das — in absoluter und ahistorischer Rebellion — am eigenen Untergang mitarbeitet. Auch Ciarisse, der deutlichen Personifizierung Nietzsches, „antwortete etwas hinter ihr von allen Seiten" 114 , während sie ihrerseits „in fast stofflosen Ubereinstimmungen [ . . . ] einen Sinn fand" 1 1 5 . Auf den genialen Seiten der Kapitel über die Reise von Ciarisse, die mit brennender und unerträglicher Transparenz den Wahnsinn der kleinen Ciarisse wiedergeben, hat Musil in dieser angespannten Ausrichtung auf die Vernichtung der Zeichen einen Höhepunkt der modernen Dichtung erreicht. Zunächst erprobt Ciarisse gleichzeitig ein Zeichen in allen möglichen Kontexten, die man sich vorstellen kann: Ein Kreuz auf einem weißen Blatt kann so unendlich viele Bedeutungen annehmen. Auch hier befinden wir uns auf der Ebene des bezugslosen Zeichens, das jeder Konvention trotzt und sich so weitet zu einem Zeichen, das universal zur Verfügung steht und sich von 113 114 115

Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 74, 73. Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 946. Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 947.

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Mal zu Mal einem privaten, rasend schnell veränderlichen Kodex beugt. In dieser Nietzscheanischen „Neurose der Gesundheit" denkt Ciarisse in Farben, doch auch die Farben beschwören antithetische Bedeutungen herauf, sind explosive Bezeichnungen, die mit keiner Bedeutung, höchstens aber mit irgendeinem semantischen Nimbus verbunden sind: der Rationalität des Grüns, dem Wahnsinn des Schwarz, der Isolierung des Weiß, dem Offenen des Blau. Doch der Nimbus umfaßt auch seinen Gegensatz: Das Rot ist die christliche Mortifikation und die Fülle des Lebens zugleich. In ihrem „hellen Wahnsinnseinfall" 116 auf der Insel der Gesundheit bildet Ciarisse zunächst eine Zeichensprache (mit Steinen, Federn, Zweigen), die Ulrich zu entziffern weiß, danach weitet sich das semantische Feld dieser Zeichen so sehr aus, daß es ein unendliches Feld von Analogien umfaßt, während Ciarisse selbst fühlt, wie sie sich spaltet und vervielfältigt. Diese Zeichen sind Dinge, keine abstrakten Symbol werte: Es sind kleine Stückchen Holz, Kohle oder Band, und als solche sind sie der Korrosion durch den Regen oder durch den Wind oder durch die Tierfährten ausgesetzt, es sind Zeichen, die „Welt, Erde geworden" 117 sind. Es ist eine stoffbezogene Sprache, ein reiner Wortschatz ohne Syntaxbezüge: Jede Botschaft besteht aus allein einem Zeichen. Später verordnet Ciarisse Regeln, um zu verhindern, daß die Worte in grammatikalischen Beziehungen zueinanderfinden, und sie wiederholt die Worte, indem sie deren Anordnung fortwährend ändert. Auf der einen Seite wird die analytische Tendenz derart übersteigert, daß sich am Ende für jede Situation ein autonomes Zeichen einstellt, andererseits bezieht das als Zeichen angenommene Objekt die Bedeutung in die fieberhafte Abnützung der Dinge mit ein. Die zu Dingen gewordenen Worte werden von den Unbilden des Lebens zerfressen und verwischt, wie die Dinge selbst. Jede menschliche Kultur, „von den Göttern bis zu den Nadeln des Schmucks"118, (jedes Zeichensystem), ist ein vom Winde geblasener und verwehter Sandberg. Doch das zeichengewordene Ding ist kein Substantiv, sondern ein Verb; es ist kein Wesen, sondern ein Zustand, ein Sein oder ein Werden; das Zeichen ist „ein fortwährendes Zeichenaustauschen"119, die Seerosen auf dem Wasser sind keine Seerosen, sondern ein „sanftes Daliegen" 120 . Ciarisse ist reines und totales Unbewußtes, ein Wirrwarr von 116

Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 1558. Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 1560. 118 Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 1564. 119 Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 1566; E. Albertsen betont, wie man bei dieser Hinwendung zu einem ^eilnahmswilligen' (oder sogenannten primitiven) Gedanken das Subjekt aus dem Satz auszuschalten sucht (E. Albertsen, Ratio und ,Mystik' im Werk Robert Musils, München 1968, S. 132), während F. Masini die absolute Metapher als totale Partizipation an der Bedeutung herausstellt (F. Masini, L'„altro stato* come metafora assoluta, in Dialettica dell'avanguardia. Ideología e utopia nella letteratura tedesca del 900, Bari 1973, bes. S. 244, 246, 248, 256. 120 Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S. 1568. 117

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Antithesen und Gegensätzen, die sich auf einer klaren Oberfläche auflösen. Die Farben sind psychische Farben, sie färben die Welt in Dunkelrot oder in „hartgebranntes Braun"; sie sind ein Flecken, der sich zu verbreiten sucht, um ein einziges, globales Zeichen- oder besser um eine Bezeichnung — der Wirklichkeit zu werden, totalitär und unbestimmt offen zugleich. Es ist ein Zeichen ohne Objekt, wie die Schizophrenie eine Krankheit sine materia ist: Dem Nietzscheanischen Verfolger des Lebens verbrennt jede Substanz, jedes Leben zwischen den Fingern. Auch Ulrich und Agathe suchen in den Gesprächen über die Liebe, die den letzten Teil des von Musil überarbeiteten Textes abschließen, das Objekt der Sprache zu präzisieren, „etwas Liebeliges, Liebseiendes und Liebeartiges" 121, das dem Lieben, gelte es einer Frau, einem Freund, dem Vaterland, dem Erfolg, dem Tabak, gemeinsam ist. Aber auch jene Rede hält in der verdünnten mystisch-erotischen Spannung an im Schweigen, im reinen Beben der „Atemzüge eines Sommertags" 122, hält an vor dem „markbetäubten Anhauch des Stillebens" 123 , dem Stilleben, das sich abzeichnet am Horizont des eintönigen Meeres und seiner „glücklichen unersättlichen Traurigkeit" 124 , als ob es am sechsten Schöpfungstage gemalt worden wäre, „wo Gott und die Welt noch unter sich waren, ohne den Menschen"125, ohne die Sprache.

121 122 123 124 125

Der Der Der Der Der

Mann ohne Eigenschaften, Mann ohne Eigenschaften, Mann ohne Eigenschaften, Mann ohne Eigenschaften, Mann ohne Eigenschaften,

a.a.O., S. 1161. a.a.O., S. 1169. a.a.O., S. 1167. a.a.O., S. 1167. a.a.O., S. 1168.

DER KRIEGSROMAN ALS OPTIMISTISCHE TRAGÖDIE Über A r n o l d Zweigs ,Der Streit u m den Sergeanten Grischa'

V o n Friedrich Carl Scheibe

V o r einigen Jahren ist der Versuch gemacht worden, den Zyklus „ D e r große Krieg der weißen Männer", dessen zuerst erschienener Teil der Grischa-Roman ist, vorzustellen und i n seinen prinzipiellen Zielsetzungen zu beschreiben 1. Daß der A u t o r es gegenüber den einzelnen Romanen bei interessanten Skizzierungen belassen mußte, erklärt sich aus dem begrenzten Umfang des Aufsatzes. Die folgenden Erörterungen wollen sich daher auf den Grischa-Roman konzentrieren. ,Der Streit u m den Sergeanten Grischa' erschien 1927 als Vorabdruck i n der Frankfurter Zeitung, ein Jahr später als Buch und wurde ein Welterfolg. Kindlers Literaturlexikon verzeichnet Übersetzungen i n 17 Sprachen. I n der D D R ist er Pflichtlektüre der höheren Schulen. 1 H . A. Walter, Auf dem Wege zum Staatsroman. Arnold Zweigs GrischaZyklus, Frankf. Hefte (1968), S. 564 - 574. Eine Darstellung der deutschen Exilliteratur von H. A. Walter erscheint im Verlag Luchterhand. — Die Romane Der Streit um den Sergeanten Grischa und Junge Frau jetzt bei S. Fischer: TB 1275 und 1335. Eine zuverlässige Werkausgabe mit gesicherter Textgrundlage ist ein dringendes Bedürfnis. Die beim Aufbau-Verlag Berlin erschienenen „Ausgewählten Werke in Einzelbänden" enthalten keine wichtigen Arbeiten Zweigs. Wichtige Arbeiten über A. Zweig: G. Lukdcsy Arnold Zweigs Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914-18 (aus dem Jahre 1939) in: Schicksalswende, 2. Aufl. Berlin 1956, S. 162189. Sinn und Form (1952), Sonderheft Arnold Zweig u. a. mit dem vollständigen Werkverzeichnis. Eva Kaufmann, Arnold Zweigs Weg zum Roman. Vorgeschichte und Analyse des Grischa-Romans, Berlin 1967. Johanna Rudolph, Der Humanist Arnold Zweig, Berlin 1955. Hans Mayer, Arnold Zweigs Grisdia-Zyklus, in: H . M., Deutsche Literatur und Weltliteratur. Reden und Aufsätze. Berlin 1957, S. 590 - 607. Hellmuth Nietsche, Die Bedeutung des Grischa-Zyklus von Arnold Zweig (Diss. masch.) Leipzig 1959. Jürgen Rühle, Literatur und Revolution, Köln 1960, S. 263 - 274. M. Reich-Ranickiy Deutsche Literatur in West und Ost, München 1963, S. 305 342.

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1927/28 ist in der Geschichte des Kriegsromans ein wichtiges Datum, beginnt doch von diesem Jahr an eine wirkliche Flut jener Literatur zu erscheinen, deren Thema der Weltkrieg ist 2 . Sowohl die hohen Auflagen wie auch eine erregte öffentliche Diskussion verweisen auf den bedeutenden Stellenwert des Kriegsromans innerhalb des sich mehr und mehr polarisierenden politisch-gesellschaftlichen Kräftefeldes des Weimarer Staates. Die Darstellung des Krieges im Roman reicht zurück ins 19. Jahrhundert. Offenbar hängt die Geschichte des „Kriegsromans" eng zusammen mit der Einbeziehung der bürgerlichen Gesellschaft in militärisches Geschehen, mit der Politisierung der Massen in den Nationalstaaten und der ideologischen Annahme, daß sich die Ordnung dieser Welt im Konkurrenzkampf der Nationalstaaten verwirkliche, daß dieser Kampf sich auch als Völkerkrieg vollzieht, dem überdies für die Formung nationalen Bewußtseins eine unentbehrliche Rolle zugewiesen wird; denn nicht zufällig sind die bekanntesten Kriegsromane des 19. Jahrhunderts Darstellungen eines nationalen Zusammenbruchs oder einer nationalen Geburt. Das gilt für Tolstois ,Krieg und Frieden' ebenso wie für Zolas ,La debacle' und für den heute vergessenen, aber vor dem ersten Weltkrieg vielgelesenen Roman ,Das eiserne Jahr' (1912) von Walter Bloem, den die Kritik gelegentlich als deutsches Gegenstück zu Zolas Sedan-Roman verstanden wissen wollte. Die Erscheinungszeit von Zweigs Zyklus deckt sich fast vollständig mit der Zwischenkriegszeit. Der Grisdia-Roman geht auf ein Schauspiel zurück, das noch während der letzten Kriegsmonate konzipiert worden ist. Mit ,Erziehung vor Verdun' (1935) und ,Einsetzung eines Königs' (1937) führt Zweig die Tradition des pazifistischen Kriegsromans über die Schwelle des Jahres 1933 im literarischen Sonderraum des Exils fort 3 . Ebenso sichtbar wie die chronologische und geschichtliche Zugehörigkeit des Zweigschen Kriegsromans zu seiner Gattung ist jedoch auch die Distanz, die der Grischa-Roman zum üblichen, bis zur Formelhaftigkeit wiederholten Ereignisaufgebot der populären Kriegsromane von Barbusse über Beumelburg bis zu Remarque und Renn hält. Zweig sucht den Krieg auf an der Ostfront des Jahres 1917, d.h. an einem Ort und zu einem Zeitpunkt, da der Krieg eigentlich schon zu Ende 2

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Remarque, Im Westen nichts Neues, 1928. Schuwecker, Aufbruch der Nation, 1929. Renn, Krieg, 1930. Beumelburg, Gruppe Bosemüller, 1930. Wehner, Sieben vor Verdun, 1930. Zu dem Zyklus gehören noch: Junge Frau von 1914 (1931). Die Feuerpause (1954). Die Zeit ist reif (1960).

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ist, wo es jedenfalls keine Gelegenheit mehr gibt zu Sturmangriff und Nahkampf, Spähtrupp, Trommelfeuer, blutigen Lazarettszenen und makabrem Soldatenhumor. Aber die Zeitwahl hat noch eine andere Konsequenz. Das kriegerische Deutschland ist in diesem einen, bald vorüberfliegenden Moment eine siegreiche Macht, die einen starken Gegner niedergerungen hat. Während der völkische Kriegsroman — z. T. aber auch Remarques ,1m Westen nichts Neues' — die Niederlage Deutschlands schildert, d. h. das Nachlassen der deutschen Kräfte, das Wachsen der alliierten Übermacht, den „Dolchstoß" und seine Vorbereitung, stellt Zweig die Frage nach den Ursachen des Zusammenbruchs unter dem Aspekt des im Osten siegreichen, bis zur Hypertrophie selbstbewußten Deutschland. Das Literaturlexikon von Kindler begreift den Grischa-Roman deshalb auch weniger als Kriegsroman denn als „Staatsroman". Nach der Ansicht von M. Kluge, der den Grischa-Artikel — wohl in Anlehnung an H . A. Walter — verfaßt hat, geht es Zweig um den Verfallsprozeß, dem das Ethos des preußischen Staates im Zeitalter des Imperialismus unterworfen ist. Diesem Verfallsprozeß wird Widerstand entgegengesetzt: von dem altpreußischen General, von dem deutschen Frontoffizier, von zwei jüdischen Intellektuellen. Deren vergeblicher Kampf lasse „die kommende Katastrophe schon vorausahnen". Ohne die zentrale Bedeutung des ethisch-politischen Verfallsprozesses zu bestreiten, soll hier die Frage nach der Funktionalität dieses Handlungselementes in einem größeren, noch zu erschließenden Zusammenhang hinzugefügt werden. Rolf Geißler 4 nennt es einen „genialen Kunstgriff", daß Zweig „durch einen passiven und einfältigen Helden gleichsam die Mitte seines Romans leer läßt und von dieser Mitte aus die Vielfalt der Kriegsmaschinerie und der Menschen, die ihr dienen und dienen müssen, darstellen kann". Das hier verwendete Bild vermag täuschend an zwei wesentlichen Merkmalen der Grischa-Gestalt vorbeizuführen. Grischa ist durchaus nicht von Anfang an passiv. Seine Passivität im zweiten Teil des Romans ist Ergebnis einer Entwicklung und — wie noch zu zeigen sein wird — Ergebnis einer Einsicht. Denn der Grischa, der gegen Schluß der Handlung jegliche Aktivität aufgegeben hat, hört damit keineswegs auf zu denken. Und zweitens: der passiv gewordene Grischa ist nicht nur durch sein eigenes Denken Bedeutungsträger geworden. Weil die Gedanken vieler um ihn kreisen, von ihm aus, von seinem Schicksal her eine geschichtliche Situation zu begreifen 4 Rolf Geißler, Dekadenz und Heroismus, Zeitroman und völkisch-nationalsozialistische Literaturkritik. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 9 (1964), S. 20.

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versuchen, weil Grischa — ohne persönliches Zutun — eine Menge von Denkprozessen in Gang setzt, verliert er zwar den Charakter eines zentralen Handlungsträgers, gewinnt aber die Dimension und das Profil einer wirklichen Symbolfigur. Das Leserpublikum, dem der Fall Grischa zur Betrachtung vorgetragen wird, ist in den Personengruppen des Romans, die den Fall miterleben, bereits präfiguriert. Sie — „die Deuter" (Titel des 1. Kapitels des letzten Buche-s) — kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, sind dem Fall in sehr verschiedener Weise intellektuell gewachsen und für seine Bedeutung zugänglich. Das reicht von der rechtsphilosophischen Durchschau Posnanskis und Bertins bis zu dem „Ich hab den Krieg nicht gewollt" (S. 374)5 des Fahrers vor der Leiche Grischas, wozu der Erzähler bemerkt: „Es war der erste Ausbruch dieser tief verschütteten und verstumpften Seele, erzogen in der Knechtschaft des platten Landes" (S. 374). Lychow, Posnanski, Winfried, Bertin sind an dem Fall als Handelnde beteiligt, versuchen seinen Ablauf mitzubestimmen, in ihn einzugreifen. Mit der Annäherung der Handlung an ihr Ziel werden sie mehr und mehr aus dieser Position hinausgedrängt, können nur noch zuschauen, werden ganz auf die Möglichkeit der Deutung zurückverwiesen. Außerdem hat Zweig eine Gestalt geschaffen, die sich selbst von Anfang an auf diese Betrachterrolle reduziert: den jüdischen Sargtischler Täwje, zunächst scheinbar nur zufällig in Grischas Nähe geschoben. Dieser Mann, der so bedürfnislos und gleichgültig dahinlebt, erwacht am Abend zu einem anderen Menschen, zu seiner eigentlichen Existenz; da gewinnt er eine neue Dimension, wenn er mit Glaubensgenossen die Schriften des Alten Testaments und des Talmud liest und das, was in dieser Welt geschieht, den Verheißungen der Schrift gegenüberstellt. Dazu gehört auch Grischas Schicksal: „ A l l das hat für ihn sein merkwürdiges, bedeutsames Durchscheinen" (S. 154). Schon die kleinsten Ereignisse sind für Täwje Bedeutungsträger. Ihren Sinn sichtbar zu machen, ist Aufgabe des Betrachters der Dinge. „Es steht ein Sinn hinter allem. Man muß ihn verstehen, wenn man richtig leben will. Ich werde in der Gemara suchen, er findet sich schon" (S. 226); und wenig später: „Die Welt ist voller Bedeutung jeden Augenblick" (S. 227). Je klarer die Wahrheit, die für Täwje in Grischas Fall verborgen ist, „hindurchscheint", um so mehr hört Grischa für ihn auf, Individuum zu sein, an dessen Unglück man mitleidig Anteil nehmen muß. Ob Grischa gerettet wird, ist für den Juden schließlich nur noch eine geschichts6 Zitiert wird — wegen ihrer allgemeinen Zugänglichkeit — nach der FischerAusgabe.

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theologische Fragestellung, kein Gegenstand mehr von Hoffen und Bangen. „Ich will dir aber sagen: wie es dir geht, gut oder schlecht, das ist für die Deutschen viel wichtiger als für dich. Ich mein, entschuldige, das Leben, was gibt es wichtigeres für dich; aber du siehst doch, die Reiche und großen Völker, die Russen, die Deutschen, sie wiegen doch mehr als ein Sergeant" (S. 229). Keinen Zweifel läßt A. Zweig an der Beschränktheit von Täwjes Perspektive; sie ist umstellt von Mystizismen, verengt durch die autoritäre Abhängigkeit und die jüdische Heilserwartung. So sind nicht die Betrachtungsergebnisse interessant, wohl aber die Methode ist es, mit der hier Wirklichkeit erschlossen wird. Sie wird im ganzen Roman immer wieder praktiziert, von den handelnden und betrachtenden Personen wie vom Erzähler. Auf diese Weise ist die Lektüre auch für den Leser eine Einübung darin, die Dinge nicht mehr nur in ihren groben Umrissen anzusehen, sondern als Zeichen, die über sich hinausweisen, durch sich selbst und durch den Zusammenhang, in den sie gerückt sind. Was ist der Krieg? Dieser Frage hat sich jeder Kriegsroman zu stellen, der Frage nach seinem Wesen und nach seinem Sinn. An den Antworten scheiden sich die Geister. Bertin, Landwehrmann, Intellektueller, Dichter, Jude, schon in Friedenszeiten einer, der es in Deutschland nicht leicht hatte, versucht eine Antwort: „Es geht überhaupt längst nicht mehr um Krieg und Sieg . . . es geht längst um Politik, um Machtkämpfe für den Klassenstaat, um die Herrschaft der wenigen über alle. Das militarisierte Volk ist nur der reine Ausdruck des modernen Volkes überhaupt. Siebzig Millionen ins Gutdünken von dreitausend eigenmächtigen Herren gestellt! Heute erfassen sie die Frauen, morgen machen sie mit den Schulen, was sie wollen. An fünf, sechs Punkten, von denen drei in Deutschland liegen, zwei im Westen und einer hier, bewegt man mit Hebeln eine widerstandslose Menschenwelt, deren Verzweiflung man entweder schlau überhört oder kühl besieht. Wie es weitergeht, weiß niemand" (116 f.). Die Welt des Krieges ist also eine Welt der Unterdrückung, die zivile Welt dagegen das Ziel heftiger Sehnsucht, Ort der Freiheit. Sie war immer voller Beschwernisse, hartem Leben, Verzicht; sie gewährte nur kleine Freuden, aber jetzt im Kriege ist sie eine heiß begehrte Alternative, Inhalt der Träume (S. 17, S. 14). In Amerika ist sie vielleicht freier als in Deutschland (S. 20). Doch auch ein Frieden in Deutschland ist für den Soldaten eine schöne Erinnerung. Erst der Krieg gibt die Möglichkeit, ohnehin bestehende Zwänge zu perfektionieren, unter dem Anschein von Legitimität und Notwendigkeit beinahe lückenlos zu machen. Was früher die Höfe waren, sind im 20. Jahrhundert die Stäbe (S. 150). Unterdrückung, historisches Schicksal der Menschheit, ist im 20. Jahrhundert mit der nun zur Verfügung stehenden Technik voll ent15 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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wickelt (S. 149). Den hier abgesteckten Rahmen füllt der Roman mit einer Menge von Detailbelichtungen, Beobachtungen, Bildern, Ereignissen, Rejektionen. Da ist etwa das Kriegsrecht. Es stammt aus dem 18. Jahrhundert, es war für Landsknechte gemacht. Sinnlos erscheint zunächst dieses Festhalten aii einer überholten Rechtsform. Aber dann zeigt Zweig: gerade das Überholte des Gesetzes schafft Spielraum für autoritäre Willkür, aus der heraus bestraft werden kann nach Zweckmäßigkeitserwägungen, die nichts mehr mit Gerechtigkeit zu tun haben. Unterdrückung ist nicht das Schicksal eines Landes. Die Russen haben das besetzte Polen genau so geknechtet wie es die Deutschen jetzt tun. Auch die Russen bauten ihre Eisenbahnen nicht, um dem Menschen zu dienen, sondern nach den Notwendigkeiten des Krieges und der Herrschaft. Eine Hierarchie von Repressionen entsteht. Sie reicht vom Soldaten über die Zivilbevölkerung zum Kriegsgefangenen und zum Haustier (23/24), „das sich von den gefangenen Männern nicht etwa durch Arbeit unterscheidet — arbeiten müssen beide — sondern dadurch, daß es eßbar ist". Bertin erkennt die Tradition der Unterdrükkungsmechanismen an der gesellschaftlichen Rolle der Frau, die eigentlich nur als dekoratives Element dazugehört oder als Arbeitstier und Sexualobjekt (S. 113). Die Sprache des Erzählers wird noch deutlicher bei der Schilderung eines Sommerfestes der Offiziere: „Bereits mischten sich Pflegerinnen und Krankenschwestern, soweit man sie hatte einladen können, zwischen die Offiziere: als Nachtisch gewissermaßen gereicht wurde die Gegenwart dieser zwar mißlich gekleideten, aber immerhin mit weiblichen Organen ausgerüsteten Frauen" (S. 175). Höchster Repräsentant dieses Systems, Garant seines sorgfältigen Vollzugs, seiner phantasievollen Weiterentwicklung im Raum zwischen Ostsee und Karpathen ist der Generalmajor Schieffenzahn. Für ihn ist die Beherrschung des besetzten Gebietes längst kein rein militärisches Problem mehr. Er hat erkannt, daß sich die Währung, das Kreditwesen, Gesundheitswesen, aber auch Schulen und Buchhandlungen für die Kontrolle und Unterdrückung des Ostraumes verwenden lassen. Das Wohl der Bevölkerung geht ihn dabei nichts an. Ihn interessiert nur die Macht. Hier werden in Zweigs Darstellung nun wirklich die Stäbe das, was früher die absolutistischen Höfe waren. „Ganz von oben, wie aus ruhig schwebendem Fesselballon, übersah er sein Reich, seine Städte, Waldungen, Feldstriche, Menschenherden hier und dort und blieb dabei im Dunkeln" (S. 158). Die Welt und die Menschen sind da, um beherrscht zu werden: für Unternehmer und Generale — nach Schieffenzahns Ansicht vor allem für Generale seines Formates, weil die die besseren Unternehmer sind. „Ehre, Ruhm, Anerkennung behauptete er nicht zu bedürfen. Ihm genügte Macht" (S. 158). Doch was über weite Strecken des Romans als eine gut funktionierende

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Maschine erscheint, als ein nahtloses Gefüge von Machtanspruch und Intelligenz, entlarvt sich bald als ein durchaus widersprüchliches und fragiles Gebilde. In der Gestalt des Generals und in dem System, das er vertritt, steht neben dem leistungsfähigsten Gedächtnis, der strengsten geistigen und arbeitstechnischen Disziplin, neben der perfekten Leistung die perfekte Fehlleistung: ein lächerlich-krasses Mißverhältnis zur Realität. „Er hatte niemals auch nur eine Stunde in westlichen oder südlichen Ländern verbracht; daher sah er sie alle unter den Winkeln seiner Lektüre, die er allerdings auf Wunscherfüllung hin, ohne es zu merken, auswählte. Eben jetzt kreuzte er befriedigt die Meinungen von Zeitungen und Geheimberichtern an, die als Auslandsnachrichten des Auswärtigen Amtes in solchen Druckblättern den eingeweihten Stellen zugingen, für Bestätigungen haltend, was doch nur, um Hoffnungen seiner Gesinnungsfreunde zu streicheln, berichtet wurde. Denn die Übersender unerwünschter Nachrichten fielen schnell in Ungnade, sie wußten nicht, bei wem, und sie wurden beiseitegeschoben, zurückberufen, oft ins Heer eingestellt, sie wußten nicht, auf wessen Fügung" (S. 157). Schieffenzahn unterrichtet sich also aus Quellen, deren Informationswert gleich Null ist. Seine Informanten sind gezwungen, ihn nach seinen eigenen Vorurteilen zu unterrichten, d. h. nur derjenige erfüllt seine Pflicht, der sie der Sache nach nicht erfüllt. Das gleiche Fehlverhalten zur Realität zeigt sich in Schieffenzahns Umgang mit anderen Menschen. Weil er grundsätzlich an seine Überlegenheit glaubt, ist es mittlerweile sinnlos geworden, ihm zu widersprechen. Deshalb widerspricht man ihm auch nicht mehr, aber man verhält sich der Realität entsprechend, ohne Schieffenzahn noch Anteil nehmen zu lassen. Für einen Realisten wie den Industriellen Schilies ist Schieffenzahn schon längst kein gleichwertiger Partner mehr, höchstens noch das Werkzeug eigener Pläne (S. 161). Als Groteske enthüllt sich Schieffenzahns mangelnder Realitätssinn vor dem Holländer van Rijlte. Für den sinkt die Weltkenntnis des Generals auf das Niveau eines Gemüsemanns (S. 241). Die Perfektion des Schieffenzahnschen Machtapparates verwandelt sich plötzlich in die schreckliche Hilflosigkeit eines gigantischen Mcxntrums, das von der Natur zum Untergang bestimmt ist. Schließlich erweist sich, daß Schieffenzahn selbst Opfer des gleichen Repressionssystems ist, dem er auf so vollkommene Weise vorsteht. Auch er ist ein Unterdrückter. Sein ungeheurer Ehrgeiz entpuppt sich als verzweifelter Emanzipationsversuch gegenüber einer hierarchischen Ordnung, deren Druck er in Kindheit und Kadettenzeit als ein Bürgerlicher schmerzhaft ausgesetzt war (S. 257). 15*

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Das erste Kapitel des Romans mit seiner Vielzahl anscheinend divergierender Elemente hat schon Tucholsky® gewisse Verständnisschwierigkeiten verursacht. Er wußte nichts anzufangen mit jener seltsamen Betrachtung des Erdballs aus kosmisch-planetarischer Perspektive. Hinzu kommt noch die Bedeutung des Frühlings, die naiv-verfremdende Beschreibung des wachestehenden Soldaten, die Sehnsucht nach Hause. Dann wird eine halbe Seite den revolutionären Ereignissen in Rußland gewidmet. Dazwischen bereitet Grischa seine Flucht vor, sucht er in den Besitz einer Zange zu kommen, des letzten, aber entscheidenden Instrumentes, das ihm den Weg in die Freiheit öffnen soll. Man hat nach dem integrierenden Moment des Kapitels zu fragen, einem Begriff, einem Bild, das imstande wäre, so Verschiedenartiges zusammenzuhalten. Das Kapitel beginnt mit Bewegungen, Veränderungen, die sich unter dem Zwang von Naturkräften vollziehen. Die Erde wendet ihre nördliche Hälfte stärker den Strahlen der Sonne zu. Und auch die Wildgänse sind Objekt äußerer Kräfte: sie werden durch die Luft geworfen: „ . . . über die Wälder hin reißt der Frühling das Geschwader" (S. 14). Objekt sind auch die Menschen dieses Kapitels, Objekte ihrer eigenen Sehnsucht, der „Schwerkraft gewissermaßen ihrer Herzen, nach der sich alles in ihnen regelt" (S. 14). Den Menschen aber hindert etwas, der Natur zu gehorchen. „Seine Gedanken strömen ununterbrochen nach Westen, dorthin, wo in einigen würfeligen Räumen eines ummauerten Hauses Frau und Kind auf ihn warten. Er steht hier, sie hocken dort. Es drängt ihn heftig zu ihnen, aber da ist etwas zwischen sie geschaltet, unsichtbar, sehr mächtig: ein Befehl" (S. 8). Aus der Spannung zwischen dem natürlichen Trieb und seiner Unterdrückung entsteht in den Soldaten eine Leere, eine melancholische Gleichgültigkeit. Die Männer leiden, aber woran sie leiden, wissen sie nicht. Um es zu wissen, bedarf es eines Anstoßes, etwa des Flugs der Wildgänse, oder einer „leidenschaftlichen Seele", wie sie in Grischa „arbeitet" (S. 14). Doch auch bei ihm wirkt ein äußeres Ereignis mit, stößt ihn an: die russische Revolution und damit die Erwartung, daß die Welt aus ihren Bahnen gerät, daß ihre entsetzlichen Gewohnheiten ein bißchen durcheinander kommen. Bezugspunkt der Ereignisse und Bilder dieses Kapitels ist somit ein bestimmter Begriff von Natur. Natürlich ist die Sehnsucht der Deutschen, die Sehnsucht der Russen, natürlich sind der Zug der Vögel, die Bewegungen der Erde, der Frühling. Natur ist auch in der Schwerkraft, die da in den 6 Vgl. Tucholskys Besprechung des Grischa-Romans in der Weltbühne 50/1927. Jetzt wieder abgedruckt in K. Tucholsky , Literaturkritik, FisdierTB 1539, 1972, S. 59 - 66.

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Menschen wirkt, als ein Gesetz, das nach seiner Verwirklichung drängt, dem sich aber der Befehl entgegenstellt, Instrument eines umfassenden Unterdrückungsapparates, den der Roman dann — wie gezeigt werden konnte — mit aller Ausführlichkeit schildert. Den großen Bewegungen der Natur im Bereich des Kosmischen, der Jahreszeiten, in Pflanze und Tier entspricht der menschliche Trieb zurück zu den Bedingungen eines menschenwürdigen Daseins. Seine Unterdrückung ist immer mit Leid und Unwürdigkeit verbunden. Ein unbefriedigter Trieb macht den Menschen nicht besser, sondern krank. Das gilt auch für die Sexualität. Deshalb stellt sich für Zweig Grischas Begegnung mit der Partisanin Babka als ein weiterer Schritt zurück in die Menschlichkeit dar, die sich mit dem Vollzug des sexuellen Aktes wiederherstellt: „ . . . unter seinen Augen standen nicht mehr die hoffnungslosen Falten der sinnlichen Begierde und der Verzweiflung" (S. 41). Grischa ist ein erneuerter Mensch. In seinen Gedanken fehlt jede Spur eines obszönen Vergnügens, fehlen aber auch Erwägungen über eheliche Treue. Die Eingliederung der Natur in das politisch-moralische Spannungsfeld des Romans wird auch da unübersehbar, wo sie sich als die Weite des russischen Waldes formt. Hier wird sie zu einem echten Bündnispartner des Aufstandes gegen die deutsche Unterdrückung. Wo der Wald anfängt, hört deren Wirksamkeit auf, denn hier sind die von Menschen angelegten Verkehrswege zu Ende, die Straßen und Eisenbahnen. Und auf den von der Natur selbst geschaffenen Kommunikationswegen, den Flüssen und Pfaden, läßt sich das Kontrollsystem unterlaufen (S. 59). Zwar müssen sich die Menschen, die sich im Walde dem Zugriff der Deutschen entziehen, den Lebensgesetzen der Wildnis anpassen und wie Grischa auf einer gleichsam früheren Kulturstufe zurechtfinden: „Er war, aus der Kulturzeit längst ausgeschieden, zum Jäger geworden gleich dem wilden Litauer oder Weißrussen eines längst vergangenen Jahrtausends" (S. 30). Aber das bedeutet nicht, in eine menschenunwürdige Situation zurückzusinken. Im Gegenteil! Zwar bereitet die wilde Natur Grischa Mühen und Schwierigkeiten, aber keine Niedergeschlagenheit: „ . . . er fürchtete sich nicht; wie überhaupt noch keine Minute lang Furcht oder Reue seine Seele überwältigt hatte. Dumpfer Grimm gegen die Schwierigkeiten, die sich ihm widersetzten und darunter die unbiegsame Entschlossenheit eines Menschen, der ein Ziel hat, gaben seinen Stimmungen den Grundton" (S. 30). Und noch mehr! Von seiner neuen Existenzform gehen moralisierende Wirkungen aus. Grischa, der seine Befreiung „Auferstehung" nennt, gewinnt zu seiner neuen Umwelt, in der er sich behaupten muß, trotz aller Mühsal und Gefährdung ein humanes Verhältnis: „ . . . strahlte so viel guter Wille und Lebenlassen von ihm, daß er, von seinen Kaninchenbraten abgesehen, zum Umbringen lebendiger Dinge aus Übermut völlig unbrauchbar

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gewesen wäre" (S. 34 f.). Um so verwunderlicher ist es, wenn diese gleiche Natur, die hier zum Bundesgenossen der Freiheit gemacht wird, Grischas Schicksal später auf eine wahrhaft verhängnisvolle Weise in den Weg tritt, zu einem Zeitpunkt, da seine Rettung schon beschlossen ist, nämlich nach dem Gespräch Schieffenzahns mit Lychow; dabei hatte der bürgerliche Militärbürokrat den alten Lychow, den Soldatenpapa aus preußischem Uradel zurechtgewiesen, hatte Schieffenzahn seine eigene überlegene Dialektik genossen, den Moralisten in die Ecke gedrängt, ihn geschlagen mit seinen eigenen Grundsätzen, den preußischen, der berühmten Disziplin, der großen Tradition, die der Alte so gern vor sich her trägt. Doch danach muß er mit Erstaunen feststellen: „Vielleicht hatte ihn der Alte gar mit Höllenfurcht verpestet! Angst vor Vergeltungen! Alles verschwor sich gegen ihn . . . Etwas im Menschen stank nach Aberglauben" (S. 254). Die Menschlichkeit, die sich hier als Bedenken, als eine Unsicherheit schaffende Belastung meldet, ist ihm lästig. „Daß die Sache nicht abgetan war! Zögernd erkannte Schieffenzahn, daß er seinen Geist diesmal nicht mit einem Ruck herumzuwerfen verstand, los auf die Verwaltungsfrage der Ukraine" (S. 252). Was sich in Schieffenzahn bewegt, ist nicht eigentlich die Stimme des Gewissens, sondern mehr ein körperlicher Reflex, eine Regung der Natur, das Zucken eines vergessenen, schon lange unbenutzten und fast unbrauchbar gewordenen Organs, aber eben lästig spürbar und nicht zu verleugnen. Um es zum Schweigen zu bringen, weil es ihn bei der Arbeit stört, befiehlt er schließlich, die Verbindung nach Merwinsk herzustellen, um seinen Befehl zu widerrufen. „Man war frei, zum Glück und Beispiel, Herr seiner Entschlüsse; man winkte und der Russe fiel, winkte und er blieb leben. Und leben lassen war gleichviel mit Ruhe haben" (S. 255). Schieffenzahn stößt wieder einmal mit der Natur zusammen, mit seiner eigenen Natur, auch einem Stück Wirklichkeit. Im Gespräch mit den deutschen und niederländischen Industriellen schob er die Realität der weltpolitischen Entwicklungen mit ein bißchen Rabulistik beiseite. Die Stimme aus seinem eigenen Unterbewußtsein läßt sich jedoch nicht unterdrücken. Er muß ein Zugeständnis machen, das den Gang der Dinge — sicherlich in einem schrecklich unwichtigen Bereich — ändert. Grischas Todesurteil soll nicht vollstreckt werden. Hier nun tritt die Natur in Gestalt eines gewaltigen Sturmes dazwischen, mit der Kälte des russischen Winters, seinen Schneemassen, von Zweig sorgfältig in das Handlungsgeflecht des Romans eingefügt. Da werden die natürlichen Abläufe mit der Akribie eines naturwissenschaftlichen Lehrbuchs geschildert, da erfährt der Leser, was mit Bäumen, Tieren, Menschen geschieht — und mit den Drähten der Telephonleitungen: „ . . . und so fügt sich der Draht den Gesetzen des physikalischen Wesens. Er hält scharf gespannt bis zu dem Dehnpunkt, der seine Grenze i s t . . . " (S. 206 f.).

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Schieffenzahns Aufhebung des Erschießungsbefehls kommt nicht nach Merwinsk durch, weil ein Schneesturm die Leitungen zerstört hat. Damit formiert sich der Handlungsfaktor Natur auf einer neuen Ebene. Die Natur ist offenbar nicht mehr Bündnispartner, Helfer der Unterdrückten; sie greift als eigenwillige Macht in das Gesamtgeschehen ein und leitet es in einer über Glück und Leid des Einzelmenschen weit hinausgreifenden Weise, macht ihn zum Funktionselement ihres Planes, dessen Sinn und Ziel jenseits des unmittelbar einsehbaren Einzelinteresses liegt. Grischas Verhalten ist — ohne daß er sich dessen bewußt sein kann — schon früher auf diese Linie eines gesteuerten Geschehens eingeschwenkt. Nachdem er erfahren hat, daß das Todesurteil, welches einem Soldaten namens Bjuschew gegolten hatte, nun doch an ihm vollstreckt werden soll, wird er plötzlich ein anderer. Da ist keine Spur mehr von seinem naiven Optimismus, von dem fast religiösen Vertrauen in das Gelingen seiner Heimkehr zu Frau und Kind. Der Trieb nach Freiheit ist erloschen. Babkas Pläne zu einer neuen Flucht interessieren ihn nicht mehr. Seine Gedanken konzentrieren sich auf die Frage nach dem Sinn seines Schicksals, das unabwendbar vor ihm liegt. Zweig gibt dem schlafenden Grischa das Aussehen „eines grübelnden Gottes" (201). Im gleichen Maße wie er sich an seiner Rettung immer weniger interessiert zeigt, wachsen neue gedankliche Schichten gegenüber der Sinnfrage. Zunächst kommt er zu dem Ergebnis, er werde getötet, weil er selbst getötet hat (S. 278). Mit der wachsenden Nähe des Todes schiebt sich der Auferstehungsgedanke in den Vordergrund, nicht in den bekannten Bahnen der orthodoxen Religion. „Auferstehung verstand sich von selbst. Ein Wesen, einmal vorhanden, so stark wie er, konnte durch keinen Tod zum Verstummen gebracht werden. Mit seinen Worten und auf seine Art hielt er sich seiner Ewigkeit gewiß; die Unzerstörbarkeit des lebendigen Plasmas und die Überzeitlichkeit der sittlichen Gesetze, die beide sich im Menschengeiste einheitlich spiegeln, kam ihm solcherart zu Bewußtsein" (S. 304). Was hier in der Bildersprache von Grischas Individualreligion erscheint, ist im Roman selbst als ein weitverzweigtes Geflecht von Aktionen und Reaktionen unter Beteiligung einer Vielfalt von Personen und Personengruppen angelegt. Und schon lange vor Grischas Hinrichtung erweist sich, daß sein Tod notwendig ist, wenn sein Fall im Gedächtnis weiterleben soll. Mit der Gefangennahme des Flüchtigen begann der Streit um den Sergeanten Grischa. Er vollzog sich im Briefwechsel zwischen den militärischen Dienststellen, im Gespräch der beteiligten und mit dem Amtsvorgang befaßten Personen, in der Auseinandersetzung zwischen Schieffenzahn und Lychow und an anderen Orten, von denen noch zu sprechen sein wird. I n den Denkprozessen, die der Fall anregt, stellt sich das System, welchem man

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dient, dem man im Krieg unter Umständen sein Leben zu opfern hat, zur Diskussion und auf eine ernsthafte Probe. Wäre Grischa tatsächlich von der Laune Schieffenzahns gerettet worden, so hätte sich damit der Fall selbst verfälscht, denn an der Rettung Grischas durch einen unmittelbaren Eingriff der höchsten militärischen Instanz hätten viele die grundsätzliche Redlichkeit und Gerechtigkeit des deutschen Staates und des deutschen Militärs abgelesen; es wäre der wahre Charakter des Militarismus nur vernebelt worden. Wir sahen, wie sich einer solchen, schon greifbar nahen Entwicklung die Natur selbst in den Weg stellt. Sie hört damit zwar auf, Bündnispartner eines flüchtigen Soldaten zu sein, der nichts als die Freiheit ersehnt; aber sie wendet damit den Fall gegen das System, das ihn zugelassen hat und sich dabei in seinem wahren Charakter zum Ausdruck brachte. Denn nun vereinigen sich viele Menschen, die sich zum Teil gar nicht persönlich kennen, zu einer heimlichen oder auch offenen Soliarität der „Deuter", der Nachdenkenden, gelangen zu prinzipiell gleichen Ergebnissen, formuliert in den verschiedensten Sprachen, in den Begriffen und Bildern unterschiedlichster Weltanschauungen. Georg Lukacs meinte7, Zweig sei es gelungen, die „Kapillarität" einer geschichtlichen Wandlung darzustellen, Geschichte also gleichsam von unten her, dort, wo ihre Entwicklungen zwar anfangen, aber nur schwer oder gar nicht bemerkt werden. Man kann dieses Bemühen Zweigs als einen in das Geschehen sorgfältig eingelassenen Handlungsstrang von Anfang an verfolgen. In den Seufzern des Landsturmmannes Heppke im ersten Kapitel des Romans artikuliert sich nur die Ausweglosigkeit einer hilflosen Kreatur: „ . . . natürlich trauen wir uns nicht. Die oben haben uns nicht schlecht an der Kandare . . . " (S. 18). Welche Wirkungen dann der Fall auszulösen imstande ist, zeigt sich, als der Erschießungsbefehl zum erstenmal ergeht. „Eine schwer lastende Luft von Verlegenheit liegt über dem Wachtgelaß — nicht die einzelner Menschen, sondern die einer runden Gruppe gleichartigen Seins, die sich verantwortlich und gelähmt in einem fühlt ob eines unabänderlichen, sinnlosen und nichtswürdigen Tuns. Hermann Sacht, der Landser, sagt in die allgemeine Lahmheit mit unnatürlicher Entschlossenheit hinein: „Ich erschieß ihn nicht. Ich melde mir krank" (S. 103). Aus dem in der Einsamkeit seufzenden Soldaten ist hier die Solidarität der Gruppe geworden. Eine Menge Menschen ist verbunden durch „gleichartiges Sein". Sie fühlen sich „verantwortlich und gelähmt". Da ist zunächst noch etwas von Heppkes Resignation. Doch sie wird von Sacht durchbrochen mit einem Entschluß, der sich zwar tarnt, um nicht mit Meuterei identifiziert werden zu können, aber unter dem tödlichen Zwang von Befehl und Gehorsam die einzig mögliche Form des Widerstandes ist. 7

Lukacs, a.a.O., S. 174 f.

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Als sich die Szene bei der tatsächlichen Erschießung Grischas wiederholt, wird die Stimmung der Soldaten so ernst eingeschätzt, daß der Feldwebel durch eine taktische Maßnahme der Kraftprobe aus dem Wege geht. Der Gefreite Sacht ist an diesem Morgen wieder krank (S. 334). Inzwischen ist die provokative Wirkung des Falles in noch ganz andere Bereiche hineingewachsen. Die kartenspielenden Soldaten in Kapitel IV, 5 reagieren nicht mehr nur emotional auf die Ungerechtigkeit; sie argumentieren in ihrer Sprache wie der Rechtsanwalt Posnanski und der General von Lychow, indem sie das Ereignis aus seiner individuellen Gebundenheit an die Person Grischas lösen: „Dann ist doch kein Recht mehr in der Welt. Wie's dem geht, kann's etwa dir nicht gehn oder mir? Gericht muß sein aber richtiges. Staat muß wie'ne Waage sein . . . und was er sagt, gilt so selbstverständlich, daß keiner auch nur nickt" (S. 216). Bald durchbricht die Wirkung die Region der Front. Man beschließt, die Information an Arbeiter in den Kohlengruben und bei den Borsigwerken weiterzugeben. „Was zum Nachdenken ist immer was zum Nachdenken. Die mögen ruhig wissen, was hier gespielt wird" (S. 216). Und was danach stattfindet, als sich die ganze Kantine zusammenfindet in der obszön-revolutionären Poesie von Büntjes Sturmlied, das ist ein Aufstand, vor allem wenn man die in dieser Szene deutlich herausgearbeitete, fast selbstmörderische Rücksichtslosigkeit hinzunimmt, mit der sich die Soldaten über alle Warnungen hinwegsetzen (S. 217). Mit der Verlagerung der Diskussion auf eine andere soziale Ebene verstärkt sich einerseits beim Leser der Eindruck einer breiten Bewegung, andererseits schafft sich Zweig damit die Möglichkeit einer immer schärferen Präzisierung des Konflikts. Da sagt etwa Bertin zu Schwester Bärbe: „ . . . das ist unser Untergang. Sie versteht ihn. Als moralische Existenz, meint er, als sittliches Gemeinwesen, als christliches, wie sie es ausdrückt" (S. 271). Parallel zur Hierarchie der militärischen Ränge entwickelt sich gleichsam eine Hierarchie der Argumente, die sich alle auf die gleiche Substanz zurückzuführen lassen. Ganz im Sinne dieser Erzählstruktur ist es deshalb, wenn Zweig dem General von Lychow die konsequenteste und einprägsamste Formulierung überläßt. Die Szene mit Schieffenzahn, Kernstück des ganzen Romans, wird in der Ausgestaltung der Lychow-Figur sorgfältig vorbereitet. Der altpreußische Offizier repräsentiert moralische Grundsätze, die er in seiner Umwelt immer weniger praktiziert sieht. Doch rettet er sich zunächst noch in die Vorstellung, daß es sich dabei um einzelne Entgleisungen handle, von denen aus man nicht am Wert des ganzen Systems zweifeln darf (S. 77). Auch die erste Verurteilung Grischas unter dem Namen Bjuschew bringt dieses grundsätzliche Vertrauen in die Ordnung nicht ins Wanken. Posnanski macht den General zwar auf die Fragwürdigkeit des Urteils aufmerksam

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und bietet sich zum Widerstand an, aber mit einer solchen „Revolution von oben" will Lychow nichts zu tun haben. Er durchschaut Schieffenzahns Anordnung, sieht, daß es dabei nicht um Spionage geht, sondern um die Abschirmung des deutschen Heeres gegen Einflüsse aus dem revolutionären Rußland. Gerade das respektiert er als notwendige Maßnahme. Die Art, wie er Posnanskis Argumente verdrängt, zeigt ihn in altbekannten Bahnen und Denkgewohnheiten des preußischen Junkers: ein bißchen traditioneller Antisemitismus wird mobilisiert, um Posnanskis Gedankengänge zum Dokument einer ganz interessanten, aber im Grunde doch absonderlichfremden Welt zu machen, der man eine gewisse Aufmerksamkeit entgegenbringen kann, die aber für die eigene Lebenspraxis nichts bedeutet (S. 92). Schnell ist der Weg der leisen Diffamierung beschritten, der dann mit einem die nachteiligen körperlichen Eigenschaften Posnanskis benutzenden Kalauer zu Ende gegangen wird. „Und mit diesem Kalauer, leise kichernd, entschlummerte der alte Mann friedlich, sein weißes Haar und die rötlichen Backen in die weichen Falten seines schwarzseidenen Kissens kuschelnd . . . " (S. 92). Der Verdrängungsvorgang ist geleistet, das Gefühl, einer recht fragwürdigen Ordnung zu dienen, schnell eingeschlafen. Lychow wird also in die Beengungen und Beschränkungen seiner Herkunft, seines Standes, seiner Erziehung gestellt. Andererseits läßt der Roman keinen Zweifel an der moralischen Substanz des Generals. Sein Hauptquartier ist eine Insel der zivilen Menschlichkeit in einer trostlosen Kriegs- und Militärlandschaft. Als Lychow beim Gartenfest von der Bestätigung des Urteils benachrichtigt wird, weitet sich für ihn der Fall Grischas von einer Ressortfrage zu einer grundsätzlichen Ordnungsfrage mit moralischen Dimensionen. Vom Kämpfer für die Unantastbarkeit seiner Kompetenzen als Divisionsgeneral entwickelt er sich zum verantwortlichen Verteidiger einer sittlichen Ordnung, die durch Schief fenzahns Methoden gefährdet scheint (S. 187 f.). Als er von politischen Plänen der obersten Heeresleitung erfährt, die die Abtretung Belgiens gegen politische Widerstände des Reichstages eventuell mit einem staatsstreichähnlichen Verfahren durchsetzen will (S. 221), sieht er das Prinzip des Nationalstaates aufgegeben. „Aber er empfand Angst vor frevelhaftem Übermute, der Hybris des Belsazar. Die Geschichte der großen Reiche hauchte ihm durch den Kopf. Sie alle zerplatzten, weil sie sich zu sehr aufblähten" (S. 231). Im Gespräch mit Schieffenzahn wird Lychows Verdacht bestätigt, daß der Begriff des Rechts für Schieffenzahn eine ganz andere Bedeutung hat als für ihn selbst. Der Konflikt zweier Rechts- und Staatsauffassungen wird überdies als Generationenkonflikt gestaltet, wobei Schieffenzahn als Vertreter einer neuen Generation von Offizieren das Recht von seinen objektiven Bindungen löst und es allein als Mittel der Machtpolitik benutzt wissen will. „Er habe das Heer straff zu halten.

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Nichts sei gleichgültiger in einem so großen Zusammenhange als Haarspalterei über Recht und Unrecht (S. 248). Dem kann Lychow nur seine eigene Staats- und Rechtsauffassung entgegensetzen, in der es gerade das Reclit und das Rechttun der Staaten ist, das sie „dem Geiste Gottes" dienen läßt. Wenn sie diese Verbindung auflösen, können sie keinen Bestand mehr haben (S. 249). Grischas Schicksal provoziert einen weitverzweigten Widerstand. Aber darüber hinaus setzt es einen geistigen Prozeß in Gang, in dem sich wiederum ein Stück Natur, ein Stück menschlicher Natur befreit. In einem der ersten Kapitel des Buches stellt Wodrig, der Bursche Lychows dem Krieg gegenüber die entscheidende Frage: „ . . . ich wüßte halt gerne, was es für einen Sinn hat, daß man das alles noch erleben muß". Posnanski gibt die für das Buch wegweisende Antwort: „ . . . der Sinn des ganzen scheint schleierhaft, glauben Sie mir's. Was aber viel sonderbarer bleibt: der Mensch ward eingerichtet, ohne einen Sinn nicht gut auskommen zu können. Sie verlangen danach, und die Leute in den Büchern verlangen danach. Und wenn der Mensch ohne ihn nicht auskommt, wird er sich vielleicht eines Tages heraus- und einstellen" (S. 87). Grischas Tod eröffnet das verworrene und scheinbar sinnlose Ereignisgeflecht des Weltkrieges für eine metaphysische Perspektive; nicht nur für Täwje, dem ein solches Durchschauen von Anfang an Berufung und religiöse Pflicht ist, der auf seine Weise und in den Formen seiner religiösen Gebundenheit zu den gleichen Ergebnissen kommt wie Lychow. Im Kapitel ,Die Deuter' faßt sich das Resultat des im Roman dargestellten Entwicklungsprozesses auf mehrfache Weise zusammen. Da sitzen Winfried und Bertin, die beiden Krankenschwestern und Posnanski zusammen bei der Einübung einer Bachsdien Kantate. Der Sinn des Kriegsgeschehens ist Thema ihres Gesprächs, und bald führen ihre Gedanken über Lychows Untergangsvision hinaus. Von den unterschiedlichsten Positionen her vereint man sich in einem am Fall Grischa neu gewonnenen Gleichklang, erfährt man die gemeinsame Substanz: daß das Gefühl für Recht und Unrecht, daß die Menschlichkeit Grundlage aller politischen Existenz werden müsse. Auch Grischas Auferstehungsglaube, die Messias-Hoffnung Täwjes finden im Zukunftsoptimimus Bertins, Winfrieds und Posnanskis eine Entsprechung. Posnanski ahnt eine neue Frömmigkeit, die sich vom Kirchenglauben abgelöst hat. Wie die Summe einer vollzogenen, erfüllten Entwicklung, wie der Befund, daß hier etwas auf den Weg gebracht worden ist, klingt das, was Posnanski zum Abschluß der Szene sagt: „ . . . wenn Rechtlosigkeit als Zustand allgemeine Billigung und ein Siegerbehagen fände, sähe es etwas schlimmer aus. Aber da werden immer Leute sein, die ihre Hand zwischenlegen. So

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kleine Cliquen wie wir hier; und wenn sie sich Mühe geben, können sie den ganzen dicken Kloß, soweit als lebensnotwendig, wieder durchsäuern" (S. 335). Bertin wird beauftragt, das Ereignis als Schriftsteller in eine spätere Zeit hineinzutragen. Zweigs Roman wächst damit über die gewohnten Dimensionen des Kriegsromans der Weimarer Zeit weit hinaus. Er begnügt sich nicht damit, zu zeigen, wie es wirklich gewesen ist — mit diesem Anspruch treten Remarque wie auch Beumelburg auf — er hat auch nicht allein das Ziel, zu zeigen, welch ein unmenschliches System der deutsche Militarismus war. Hauptgegenstand des Romans ist der geschichtliche Prozeß, der durch den Militarismus im Krieg in Gang gesetzt wird, seine Gesetzmäßigkeit, deren optimistischer Aspekt darin besteht, daß ein Unterdrückungssystem gerade in seiner Perfektion seine eigenen Schwächen offenbart und den Widerstand gegen sich selbst provoziert, weil es mit Grundgegebenheiten des Lebens selbst zusammenstößt. Damit aber gewinnt Zweig eine neue Antwort auf die so oft an den Krieg gestellte Sinnfrage. Sie wird vom völkischen Roman ebenso gestellt wie vom pazifistischen Antikriegsroman; und sie wird vom völkischen Kriegsroman oft eindeutiger und klarer beantwortet, weil der Antikriegsroman dazu neigt, das Kriegsgeschehen in seinen zerstörerischen und nihilistischen Wirkungen zu sehen und darzustellen, wobei der Krieg zu einer sinnlos-törichten Leerstelle im Prozeß der Geschichte wird. Zweig lehrt in seinem Roman eine Sehweise, die imstande ist, die Oberflächen der Wirklichkeit zu durchschauen und bis zur optimistischen Struktur der Geschichte durchzudringen, einer Geschichte, die sich letzterdings auf eine den Menschen wie den Kosmos bewegende Natur zurückführen läßt. Er rettet diese optimistische Struktur vor dem Nihilismus, in den das Entsetzen des Krieges den Menschen zu führen droht. In Zweigs Geschichtsbild hat der Krieg wieder seinen Platz, in einem Bild vom Gang der Geschichte, die ihre Ziele mit tragischen Mitteln anstrebt, wobei eine leidende Menschheit das Opfer ist, so wie Grischa ein Opfer war und nur als solches einen neuen Geist schaffen konnte.

BERICHTE

THEORETISCHE ANSATZPUNKTE EINER LITERATURBETRACHTUNG BEI TH. W. ADORNO Von Winfried Kreutzer VORBEMERKUNG

Zu den wichtigsten Publikationen des Soziologen und Philosophen Th. W. Adorno (1903 - 1969), dessen Soziologie stark von Hegel und Marx geprägt ist, gehören die zusammen mit seinem Freund Horkheimer verfaßte D i a lektik der Aufklärung' (1947), Jargon der Eigentlichkeit' (1964) und Negative Dialektik' (1966). Ebenso umfangreich aber dürften die mit Literatur und vor allem Musik befaßten Schriften Adornos sein. Die wichtigsten Äußerungen Adornos zur Literatur finden sich in den ,Noten zur Literatur' 1 zusammengefaßt, die auch der vorliegenden Untersuchung zugrundeliegen. Die ,Noten zur Literatur' sind eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen zu literarischen Themen, die zwischen 1943 und 1964 entstanden sind. Naturgemäß enthalten diese keine zusammenhängende Darstellung seiner Auffassungen über Literatur und ihre Deutung. Eine solche muß aus Einzeläußerungen zusammengestellt werden. Von der speziellen Schwierigkeit, Adornos Werk zu systematisieren, wird immer wieder gesprochen. Sie besteht vor allem darin, daß das Denken Adornos, wie er es selbst auch theoretisch ausführte, weitgehend von der Eigenstruktur seines jeweiligen Anlasses oder Inhalts geprägt ist 2 . Andererseits hindert jedoch auch die vermeintliche Standpunktlosigkeit des Adornoschen Denkens3 nicht, aus seinen Schriften gewisse immer wiederkehrende Gedanken und Begriffe aufzuzeigen und sie in Gegenüberstellung und Vergleich innerhalb des Kraftfeldes des Adornoschen Denkens zur Literatur gleichsam als Zentren zu deuten. 1 3 Bände, Frankfurt/M., 1958-1965. Der vorliegende Aufsatz wurde 1971 abgefaßt. Damals lag der 1974 zusammen mit den drei ersten in Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. X I : Noten zur Literatur, ed. Rolf Tiedemann , Frankfurt/M. veröffentlichte vierte Teil der ,Noten1 noch nicht vor. 2 Vgl. A. Schmidt , Adorno, ein Philosoph des realen Humanismus, Neue Rundschau, 80 (1969), S. 654. * Vgl. H. Kudszus , Die Kunst versöhnt mit der Welt, in: Über Theodor W. Adorno, ed. K. Oppens, H . Kudszus , J. Habermas u. a., Frankfurt, 1968, S. 32.

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Berichte

I. L i t e r a r i s c h e s K u n s t w e r k u n d gesellschaftliche Wirklichkeit 1. D i e A l l g e g e n w a r t d e r

Gesellschaft

Für den an Hegel und Marx geschulten Denker Adorno ist die Gesellschaft von Wichtigkeit. Jede auf den Menschen abzielende Überlegung muß ihn als gesellschaftliches Wesen sehen. „Der Mensch, das ist d i e W e l t d e s M e n s c h e n , Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein v e r k e h r t e s W e l t b e w u ß t s e i n , weil sie eine v e r k e h r t e W e l t sind." 4 Die Gesellschaft hat nicht nur die Religion geschaffen, sie hat den Staat selbst als Werkzeug der sie beherrschenden Klasse erzeugt, und mit ihm die Rechtsnormen, Sitten, Moral, Ethik usw. Mit materiellen Zwängen und vermittels des fugenlosen ideologischen Uberbaus5 beherrscht die Gesellschaft auch bei Adorno alles, obwohl sie nicht der Ursprung von allem ist. Die Frage nach ihm — der Natur — versagt sich, und wo immer die Gesellschaft sich auf Natur beruft, ist es ein Täuschungsmanöver „der vergesellschafteten Gesellschaft, die, eben weil sie nichts duldet, was von ihr nicht geprägt ward, am letzten dulden kann, was an ihre eigene Allgegenwart erinnert, und notwendig als ideologisches Komplement jene Natur herbeizitiert, von der ihre Praxis nichts übrig läßt" 6 . Die Gesellschaft selbst ist „thesei", zusammen mit der von ihr getragenen Kultur 7 . So widersetzt sich Adorno logischerweise jeder ontologischen Erklärung bestehender Verhältnisse, und selbst dort, wo er Züge entdeckt, die vermutlich weit hinter die bürgerliche Gesellschaft zurückreichen — etwa die Einsamkeit des Menschen — verwahrt er sich scharf gegen jede ontologische Deutung8. Wo aber in der Moderne archetypenhafte Bilder begegnen, etwa bei den Surrealisten oder in gewissen Darstellungen Prousts, sind es nicht imagines eines geschichtslosen Inneren, sondern solche, „in denen das Innerste des Subjekts seiner selbst als dessen Auswendiges, als Nachahmung eines Gesellschaftlich-Geschichtlichen innewird" 9 . Zur Beschreibung eines Theaterabends in Le Coté de Guermantes, wo der Zuschauerraum als ein von Nymphen und Tritonen belebtes Unterwasserreich erscheint10, heißt es 4 K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung, MarxEngels Studienausgabe, ed. I. Fetscher, Frankfurt/M., 1966, 1, 17. 6 Valérys Abweidlungen, Noten zur Literatur, I I (1961), 52. Hinfort zitiert als Noten I, I I oder I I I . 6 Der Essay als Form, Noten I, 25. 7 Ibid., 41. 8 Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 170 f. 9 Rückblickend auf den Surrealismus, Noten I, 161. 10 Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, ed. P. Clarac et André Ferré (Paris, 1954), I I , 40 ff.

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etwa: „Was wir um uns erblicken, blickt vieldeutig, rätselhaft auf uns zurück, weil wir in nichts das Erblickte mehr als Unseresgleichen wahrnehmen [ . . . ] Die gesellschaftliche Entfremdung der Menschen voneinander in der hochliberalen bürgerlichen Gesellschaft, wie sie im Theater sich zur Schau stellte [ . . . ] , verleiht dem Unverständlichen zweite Bedeutung [ . . . ] Durch die vollendete Entfremdung hindurch enthüllt sich das gesellschaftliche Verhältnis als blind naturwüchsiges, so wie die mythische Landschaft es war." 1 1 Lukacs wird wegen seiner häufigen Verwendung des sozialdarwinistischen Terminus „Dekadenz" von Adorno bitter getadelt, der in dieser Erklärung von gesellschaftlichen Vorgängen als Naturvorgänge eine wie auch immer durch Lukacs' geschichtliche Situation bedingte Flucht — in die Ontologie — sieht12. Der ontologische Seinsgrund — wenn es ihn gibt — ist auch nicht durch unmittelbares Erleben des Subjekts zu erreichen. Das gesellschaftlich vorgeformte Subjekt wird bei der „Illusion des Unmittelbaren als des schlechterdings sicheren Ersten" 13 stehenbleiben. Automatisches Schaffen — etwa bei Joyce — muß, will es den Rückfall in eingeübte Anschauungsweisen vermeiden, durch Reflexion kontrolliert werden, um nur solches Zufällige zu tolerieren, dessen Notwendigkeit zugleich einleuchtet14. Auch ein Durchbrechen gegebener Tradition in Form eines — vermeintlichen — „radikalen, gleichsam naturhaften Neubeginns" verfällt in Geschichtshörigkeit, indem die Tradition nicht gebrochen, weil nicht mehr gespürt wird. Die wahren avantgardistischen Künstler nehmen die Tradition als ihresgleichen wahr, wissen sich in ihrer Durchbrechung als Vollstrecker ihres geheimen Willens und werden wahrhaft „Entronnene und Befreite" 15 . Freilich finden sich auch Bemerkungen Adornos, die das Individuum weniger präkonditioniert erscheinen lassen. Schon die Anwendung des Hegelschen Satzes über das Durch-einander-Vermitteltsein von Allgemeinem und Besonderen auf die Gesellschaft läßt an eine gewisse Gleichwertigkeit der beiden Faktoren Individuum und Gesellschaft denken. Adorno geht einmal sogar noch einen Schritt weiter. Nach dem offenbaren Verlust des Glaubens an die automatisch wirkende Sprengkraft des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen — diese haben sich erheblich elastischer gezeigt als Marx es voraussehen konnte — hängt für ihn „die Änderung der Produktionsverhältnisse selber weithin ab von dem, was sich in der ,Konsumsphäre', der bloßen Reflexionsform der Produktion und dem 11 12 18 14 15

Kleine Proust-Kommentare, Noten I I , 101 f. Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 158. Val£rys Abweichungen, Noten I I , 47. Voraussetzungen, Noten I I I , 146. Zum Gedächtnis Eichendorffs, Noten I, 106 f.

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Zerrbild wahren Lebens zuträgt: im Bewußtsein und Unterbewußtsein des Einzelnen. Nur kraft des Gegensatzes zur Produktion, als von der Ordnung noch nicht ganz Erfaßte, können die Menschen eine menschenwürdigere herbeiführen" 16. Welches sind nach Adorno die Instrumente, vermittels deren die Gesellschaft den Einzelnen geistig steuert? Zwei sollen wegen ihrer besonderen Wirkung auf das Gebiet der Literatur und Literaturwissenschaft angeführt werden. Zum einen sind es Begriffe und vor allem Begriffssysteme, das heuristische und darstellerische Ritual organisierter Wissenschaft und Theorie. Angeblich „objektive" Fixierung von Inhalten nach dem Urbild von Protokollsätzen bei Unterdrückung jeder subjektiven Regung der Darstellung, die somit nicht der Sache, sondern einem auferlegten Gedankenschema folgt 17 , das „gewalttätige Unwahre einer subsumierenden, von oben her aufgestülpten Form" 18 , steht, in bewußter oder unbewußter Negierung des Unterschieds zwischen Begriff und Ding, im Dienste der gesellschaftlich herrschenden Anschauung; sie verfälscht die — im Grunde undarstellbare — wahre Ordnung der Dinge in ihrem Sinne, indem sie vorgibt, „es sei, nach dem Satz des Spinoza, die Ordnung der Dinge die gleiche wie die der Ideen" 19 . Exemplarisch für die Verfahrensweise bürgerlicher Wissenschaft stehen die vier Regeln Descartes', in denen der Gedanke gewissermaßen den Gegenstand vergewaltigt und entstellt. So sei die Forderung der zweiten Descarteschen Regel, die Elementaranalyse, bei Artefakten ohnehin nicht möglich, da die zugrundeliegende Idee mehr sei als die Einzelteile; die Forderung der dritten Regel, vom Einfachen zum Komplizierten fortzuschreiten, sei illusorisch, da es im Grunde nichts „Einfaches", nur „Vereinfachtes" gebe; und der vollständigen Behandlung eines Gegenstands stehe entgegen, daß dieser immer mehr Aspekte als Begriffe zu seiner Beschreibung habe20. Ähnlich verhält es sich mit der „vorkritischen Verpflichtung zu definieren" 21 . Das Verlangen nach strikter Definition hält, nach Adorno, längst dazu her, „durch feststehende Manipulation der Begriffsbedeutungen das Irritierende und Gefährliche der Sache wegzuschaffen, die in den Begriffen leben" 22 .

16 17 18 19 20 21 22

Minima Moralia, Berlin/Frankfurt, 1951, S. 7 f. Der Essay als Form, Noten I, 14. Kleine Proust-Kommentare, Noten I I , 95. Der Essay als Form, Noten I, 23. Ibid., 30 - 34. Ibid., 27. Ibid., 28.

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Adorno führt diese Gedanken vor allem in seinem Essay ,Der Essay als Form' aus, in dem eine idealtypische programmatische Bestimmung wohl seines eigenen Essaykonzepts — in keiner Weise jedoch eine Beschreibung der in der Literaturgeschichte nachgewiesenen Essays — gegeben wird. Gegenüber dem fixierten Wissenschaftsritual verfahre der Essay nur scheinbar unsystematisch, da er sich formal eben der Sache anschmiege und die Form sich aus deren Erfordernissen ergebe. „Der geläufige Einwand gegen ihn [den Essay], er sei stückhaft und zufällig, postuliert selber die Gegebenheit von Totalität, damit aber Identität von Subjekt und Objekt, und gebärdet sich, als wäre man des Ganzen mächtig." 23 In entsprechender Weise verweigere der Essay auch die Definition seiner Begriffe „und führt Begriffe umstandslos, ,unmittelbar* ein, so wie er sie empfängt. Präzisiert werden sie erst durch ihr Verhältnis zueinander" 24. Man kann Adorno entgegenhalten, daß dieses Verfahren sich ebensogut zu ideologischer Verfälschung eignet wie das von ihm angegriffene. Ebensowenig wie gewisse Epik des 19. Jhds. dadurch „objektiv" wurde, daß man durch einen Erzähltrick den Erzähler „verschwinden" ließ, vielmehr dieser, und sei es nur in der Auswahl des Darzustellenden, versteckt anwesend blieb und nur der Sdiein der Objektivität erweckt wurde, ebensowenig gewinnt der Essay z. B. durch Präzisierung der Begriffe durch ihr Verhältnis gegeneinander und Ablehnung von Definitionen an Sachgerechtheit: die Manipulation wird lediglich dadurch besser verschleiert, daß man etwa einen Begriff A mit einem Begriff B, der durch den Kontakt zu ersterem diesen in unerwünschter Weise erhellen könnte, von vorneherein nicht zusammenbringt. Der Leser wird B kaum vermissen. Das andere Machtmittel der Gesellschaft ist die Sprache. Im marxistischen Denken nimmt sie eine gewisse Sonderstellung ein. Rechnet man sie, wie der sowjetische Linguist Marr (1864- 1934), gemäß ihrer Gedanklichkeit zum Oberbau, so muß man, wenigstens in der antagonistischen nichtsozialistischen Gesellschaft, ihren Klassencharakter und ihre Entwicklung in sich rasch vollziehenden Umwälzungen anerkennen 25. In der Tat aber ist die Sprache unlösbar in den Produktionsprozeß verwoben, bedingt das Denken und ihr Klassencharakter tritt gegenüber dem gesellschaftsverbindenden Charakter zurück. Trotzdem ist sie nicht Basis. Stalin hat das Problem in seinen Linguistikbriefen (1950), wenn auch wohl mit politisch-taktischen Hintergedanken, in der Weise gelöst, daß die Nähe der Sprache zur Basis zwar anerkannt, die Sprache aber aus dem Basis-Überbau-Schema über-

23 24 23

Der Essay als Form, Noten I, 24. Ibid., 27. Vgl. Gustav A. Wetter, Der dialektische Materialismus, Freiburg, 51960, S. 231.

16 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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haupt herausgenommen wird 2 6 . Für Adorno ist die Sprache „ein Doppeltes" 27 . Sie ist Verbindung und Umschlag zwischen Subjektivem und Objektivem; sie formt die subjektiven Regungen und stellt das Beziehungsmedium zur Gesellschaft dar. „Ohne zur Sprache sich zu entäußern, wäre die subjektive Intention überhaupt nicht. Das Subjekt wird erst durch die Sprache."28 Einerseits nun sind gesellschaftliche Herrschaft und der ihr nachgebildete gewaltsam klassifizierende Gedanke29 verantwortlich für „die Unwahrheit aller Rede" 30 , die der Verkehrtheit der Gesellschaft entspricht. Das Negative sprachlicher Intentionalität, die begriffliche Manipulation der Gegenstände31 — im Grunde möglich durch die Identifizierung von Begriff und Sache, deren Ontologismus höchstens durchs Fremdwort entlarvt wird 3 2 — wirkt vor allem in der Syntax. „Der Logik dicht geschlossener und notwendig ins Nächste mündender Perioden eignet eben jenes Zwanghafte, Gewaltsame."33 Andererseits nähert sich die Sprache in der „intentionslosen" Abschilderung und Beschreibung im Rahmen epischer Naivität oder in der parataktischen Tendenz etwa des Spätstils Hölderlins wieder der Objektivität an. Partikeln wie das sinnentleerte homerische „nämlich", „freilich" usw., die sich auch bei Hölderlin und Trakl finden, sind nach Adorno Zeichen der logisch-intentionalen Sprache im Zusammenstoß mit dem Geist der reinen Darstellung 34 . Die Sprache wird selbst ein „Objektives", „Objektivität des Geistes"35. Indem sich das Subjekt ihr anheimgibt, was nach Adornos Auffassung etwa in der Lyrik Eichendorffs der Fall ist, hebt es sich selbst dialektisch auf 36 . 2. D a s l i t e r a r i s c h e K u n s t w e r k als d i a l e k t i s c h e A n t i t h e s e z u r W i r k l i c h k e i t Doch die Gesellschaft ist nicht allgegenwärtig im Sinne des ontologischen Seins. Schon die Rolle der Sprache zeigt, daß es etwas gibt, das wider ihren Willen ihr „entspringt". Die falsche Gesellschaft ist bestimmend nur in dem Sinne, in dem auch in der Dialektik die These „bestimmend" ist. Wie Adorno das Verhältnis der These zur Antithese denkt, wird an einer Äuße26 27 28 29 80 81 82 88 84 85 86

Wetter, S. 231. Rede über Lyrik und Gesellschaft, Noten I, 85. Parataxis, Noten I I I , 193. Uber epische Naivität, Noten I, 53. Ibid., 55. Ibid. Wörter aus der Fremde, Noten I I , 116. Parataxis, Noten I I I , 191. Vgl. Uber epische Naivität, Noten I, 58; 59. Rede über Lyrik und Gesellschaft, Noten I, 85; 88. Zum Gedächtnis Eichendorffs, Noten I, 119 - 121.

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rung über das nach marxistischer Auffassung dialektische Verhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen deutlich: „Zuzeiten werden die technischen Produktivkräfte gesellschaftlich kaum gehemmt, arbeiten aber in fixierten Produktionsverhältnissen ohne viel Einfluß auf diese. Sobald die Entfesselung der Kräfte von den tragenden Beziehungen zwischen den Menschen sich sondert, wird sie nidit weniger fetisdiisiert als die Ordnungen; auch sie ist nur ein Moment der Dialektik, nicht deren Zauberformel." 37 Mag also auch die Antithese aus der These hervorgegangen sein, sie ist ihr insofern gleichwertig, als sie beide Momente der Dialektik sind. Dieser Gedanke bestimmt auch Adornos Vorstellung vom Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kunst bzw. Kunstwerk. Dabei ist festzuhalten, daß Gesellschaft, wenigstens in Funktion zur Kunst, nicht als eine Anzahl sich bekämpfender Gruppen — mindestens aber zwei fundamentaler Klassen, nämlich der Unterdrücker und der Unterdrückten — gesehen wird, von denen jede ihre eigene Kultur hat, deren Produktionen ihre Klasseninteressen widerspiegelten. Adorno, der die Gesellschaft als Ganzheit und Einheit — wenn auch Einheit von Widersprüchen — betrachtet, steht damit in scharfem Gegensatz zu der sich auf Lenins Formulierung von den zwei Kulturen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stützenden und im wesentlichen noch heute gültigen sowjetmarxistischen Auffassung, die dann auch eine eklektische Übernahme ganz bestimmter, vornehmlich die Klasseninteressen des Proletariats widerspiegelnder Werke befürwortete und andere Werke nur insofern gelten ließ, als sie als Waffen gegen den Klassenfeind dienen konnten 38 . Adorno distanziert sich deutlich von dieser Auffassung der Literaturdeutung: „Dieser Gedanke aber, die gesellschaftliche Deutung von Lyrik, wie übrigens von allen Kunstwerken, darf danach nicht unvermittelt auf den sogenannten gesellschaftlichen Standort oder die gesellschaftliche Interessenlage der Werke oder gar ihrer Autoren zielen. Vielmehr hat sie auszumachen, wie das Ganze einer Gesellschaft als einer in sich widerspruchsvollen Einheit, im Kunstwerk erscheint; worin das Kunstwerk ihr zu Willen bleibt; worin es über sie hinausgeht."39 Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kunstwerk ist im wesentlichen eines von These und Antithese. „Kunst findet sich in der Realität, hat ihre Funktion in ihr, ist auch in sich vielfältig zur Realität vermittelt. Gleichwohl aber steht sie Fall ist." Damit wird Kunst zwar nicht radikal von der Realität getrennt, doch wird die Eigenständigkeit ihres „Gehalts" unterstrichen. „Auch Lukdcs" — der den Wert des Kunstwerks nur allzugern daran maß, wieweit es „objektive Wirklichkeit" widerspiegelte — „wird kaum überspringen 87

Negative Dialektik, Frankfurt, 1970, S. 300. Vgl. z.B. A. Bistrifianu §i C. Boroianu, Introducere in Studiul Literaturii, Bucure?ti, 1968, S. 21 - 25. 39 Rede über Lyrik und Gesellschaft, Noten I, 76. 38

1*

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können, daß der Gehalt von Kunstwerken nicht in demselben Sinn wirklich ist wie die reale Gesellschaft" 40. Sosehr die Distanzierung des Werkes von der empirischen Realität auch durch diese vermittelt sein mag, sowenig die Phantasie eines Künstlers eine creatio ex nihilo darstellen mag 41 , sowenig ist Kunst nur ein Sekundäres gegenüber dieser Realität: „Daß aber die Kunst von der unmittelbaren Realität, in der sie einmal als Magie entsprang, qualitativ sich sonderte, ihr Scheincharakter, ist weder ihr ideologischer Sündenfall noch ein ihr äußerlich hinzugefügter Index, so als wiederholte sie bloß die Welt, nur ohne den Anspruch, selber unmittelbar wirklich zu sein. Eine solche subtraktive Vorstellung spräche aller Dialektik Hohn. Vielmehr betrifft die Differenz zwischen empirischem Dasein und Kunst deren innerste Zusammensetzung."42 Gerade indem das Kunstwerk antithetisch die gesellschaftlich vermittelte und vorgeprägte Realität verneint, protestiert es gegen sie. „Auch autonome Kunstwerke wie dies Bild [Picassos jGuernica'] negieren bestimmt die empirische Realität, zerstören die zerstörende, das, was bloß ist, und als bloßes Dasein die Schuld endlos wiederholt." 43 Freilich muß dabei das Kunstwerk, das ja als Negation der ganzen Gesellschaft gegenübersteht, ebenfalls als Ganzheit gesehen werden. Die Isolierung von Einzelzügen wird dem Kunstwerk in seiner eigentlichen Funktion nicht gerecht. Anhand von Äußerungen Lukacs* über ein Gedicht Benns und Thomas Manns ,Zauberberg c zeigt Adorno, wie Lukdcs' nur inhaltsbezogene Deutung einen die unmittelbare Aussage so bestimmt relativierenden Faktor wie die Ironie übergeht. Neben dem Inhalt muß also die Form in der Deutung berücksichtigt werden 44 . Getreulich kann das Kunstwerk, „in wortlos polemischer Darstellung" 45 , durch scheinbar unrealistische Manier gegen die Realität protestieren: „Selbst bei Becket, wo scheinbar alle konkreten historischen Bestandteile eliminiert, nur primitive Situationen und Verhaltensweisen geduldet sind, ist die unhistorische Fassade das provokative Gegenteil des von reaktionärer Philosophie vergötzten Seins schlechthin."46 Je schwerer aber der gesellschaftliche Zustand lastet, „desto unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es keinem Heteronomen sich beugt und sich gänzlich nach dem eigenen Gesetz konstituiert". Dieses eigene Gesetz freilich ist dem Wesen der 40 41 42 43 44 45 48

Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 163. Engagement, Noten I I I , 128. Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 163. Engagement, Noten I I I , 128. Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 176 - 180. Ibid., 166. Ibid.

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Wirklichkeit antithetisch verbunden. Die Idiosynkrasie des lyrischen Geistes etwa gegen die Übergewalt des Dinglichen ist nur eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, nicht etwa allgemeines Kriterium von Lyrik 4 7 . Das Kunstwerk ist somit in seinem Entstehen wie in seinem rechten Verstandenwerden Erkenntnisakt 48 . 3. D a s K u n s t w e r k i n s e i n e m V e r h ä l t n i s zu Wesen u n d E r s c h e i n u n g der G e s e l l s c h a f t Die These vom Kunstwerk als dialektischer Negation der Gesellschaft erfährt bei Adorno noch eine Präzisierung: Große Kunst zielt auf das Wesen der Gesellschaft bzw. der gesellschaftlichen Vorgänge, sei es, daß sie es darstellt, sichtbar macht, sei es, daß sie protestierend sich ins Gegenteil rettet. Diese Funktion der Kunst ist — nach Adorno — offenbar das Ergebnis einer historischen Entwicklung, die im Zusammenhang mit der Entfremdung des Menschen von Mitmensch und Gesellschaft sich vollzogen hat: „Denn je fremder die Menschen, die Einzelnen und die Kollektive, einander geworden sind, desto rätselhafter werden sie einander zugleich, und der Versuch, das Rätsel des äußeren Lebens zu dechiffrieren, der eigentliche Impuls des Romans, geht über in die Bemühung ums Wesen, das gerade in der von Konventionen gesetzten, vertrauten Fremdheit nun seinerseits bestürzend, doppelt fremd erscheint. Das antirealistische Moment des neuen Romans, seine metaphysische Dimension, wird selber gezeitigt von seinem realen Gegenstand, einer Gesellschaft, in der die Menschen voneinander und von sich selber gerissen sind. In der ästhetischen Transzendenz reflektiert sich die Entzauberung der Welt." 4 9 Freilich muß hier die Frage angemerkt werden, ob nicht dem denkenden Menschen von jeher seine Mitmenschen und das Leben der Kollektive rätselhaft, also undurchschaubar erschienen sein mögen. Soweit die Geschichte in Dokumenten faßbar ist, bestätigen diese jedenfalls das Phänomen der Fremdheit und Rätselhaftigkeit, aber auch das Bemühen des Menschen, hinter die äußere Erscheinung zu blicken. Das Kategorienpaar Wesen und Erscheinung hat Hegelianismus und Marxismus schon immer beschäftigt. Ihr Verhältnis zueinander wird dabei fast immer als „Einheit von Widersprüchen" gesehen. Unterschiede treten auf, wo es um eine genauere Bestimmung ihrer Widersprüchlichkeit geht. Ein sowjetisches philosophisches Wörterbuch schreibt z.B.: „ . . . Doch die 47 Rede über Lyrik und Gesellschaft, Noten I, 78 - 80. Vgl. Der Essay als Form, Noten I, 18. 48 Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 167. 49 Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, Noten I, 65.

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Einheit von Wesen und Erscheinung ist zuinnerst widersprüchlich, sie erscheinen selbst als Aspekte eines Widerspruchs. Das Wesen tritt als das Bestimmende auf, die Erscheinung dagegen als das Bestimmte; die Erscheinung ist unmittelbar gegeben, das Wesen jedoch ist verdeckt (verborgen); die Erscheinung ist reicher an Kennzeichen als das Wesen, aber das Wesen ist tiefer als die Erscheinung; in einem Gegenstand ist immer nur e i n Wesen, es erscheint aber in einer Vielzahl von Erscheinungen; die Erscheinung ist bewegter als das Wesen; ein und dieselbe Erscheinung kann die Manifestation verschiedener und auch entgegengesetzter Wesen sein; die Erscheinung kann das Wesen verkehrt, inadäquat ausdrücken" 50. Die Widersprüchlichkeit zwischen Wesen und Erscheinung, die in diesen Beispielen bald als konträrer, bald als kontradiktorischer, bald als privativer Gegensatz oder einfach als Anderssein erscheint, wird von Adorno in einer bestimmten Richtung zugespitzt. Das Wesen der Gesellschaft ist das, was die Fassade verbirgt, es ist grundsätzlich das Andere: „Wie das Hegeische muß auch dies Wesen erscheinen: vermummt in seinen eigenen Widerspruch. Nur am Widerspruch des Seienden zu dem, was zu sein es behauptet, läßt Wesen sich erkennen." 51 Und: „ I n einer Gesellschaft, deren Totale sich fugenlos zur Ideologie abgedichtet hat, kann wahr nur sein, was der Fassade nicht gleicht." 52 Das Kunstwerk ermöglicht den Zugang zu dieser Wahrheit. „Kunstwerke haben ihre Größe einzig daran, daß sie sprechen lassen, was die Ideologie verbirgt. Ihr Gelingen selber geht, mögen sie es wollen oder nicht, übers falsche Bewußtsein hinaus." 53 W. Mittenzwei wirft Lukdcs die Überbetonung von Wesen und Form — das ist wohl: Erscheinung — vor: „Die marxistische Dialektik geht aber von dem widersprüchlichen Charakter der Einheit von Wesen und Erscheinung aus." 54 So ist wohl auch die Zuspitzung des Wesen-ErscheinungVerhältnisses zum antithetischen Widerspruch bei Adorno im Zusammenhang mit dem sich in den letzten Jahren wieder verstärkenden Interesse an der Dialektik auf Kosten der Abbild- bzw. Widerspiegelungstheorie zu sehen. Daß sich diese Renaissance dialektischen Denkens ausgerechnet bei westlichen Marxisten vollzieht 55 , ist aus deren Sein in einer zu verändernden Gesellschaft erklärbar. Auch Adorno kann nur über den dialektischen Gegensatz von Wesen und Erscheinung das tiefinnerst verderbte Wesen einer 60 Filozofskij slovar', pod redakziej M. M. Rozenmalja i P. F. Judina , Moskva, 1963. Stichwort: „Suschtschnost, i javljenije" [Wesen und Erscheinung]. 51 Negative Dialektik, S. 167. 62 Vaßrys Abweichungen, Noten I I , 51. 63 Rede über Lyrik und Gesellschaft, Noten I, 77. 64 Die Bredit-Lukdcs-Debatte, Das Argument 10 (1968), 31. 65 Vgl. R. Garaudy , Statt eines Nachwortes zu „D'un realisme sans rivages", in: Marxismus und Literatur, ed. Fritz J. Raddatz , Reinbek bei Hamburg, 1969, I I , 227.

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sich als freiheitlich, sozial und gerecht präsentierenden Wohlstandsgesellschaft erreichen. Dem orthodox kommunistischen Intellektuellen — z. B. Lukdcs — im kommunistischen Staat, welcher in „spontanen" Manifestationen seiner Bürger, in „freiwilligen" Sollüberfüllungen usw. ungetrübten Einklang von Individuum und Gesellschaft zeigt und dessen Selbstdarstellung die einer heilen Welt ist, kann unmöglich am allzuheftigen Insistieren auf der Antithese von Wesen und Erscheinung gelegen sein56. Wie ist nun dieses Wesen, das — nach Adorno — große Kunst darstellen soll, bestimmbar? „Sie [die Wesensgesetze der Gesellschaft] sind wirklicher als das Faktische, in dem sie erscheinen und das über sie betrügt. Aber sie werfen die hergebrachten Attribute ihrer Wesenhaftigkeit ab. Zu benennen wären sie als die auf ihren Begriff gebrachte Negativität, welche die Welt so macht, wie sie ist." 5 7 An anderer Stelle spricht er ähnlich allgemein vom „Prinzip, das alle verhext" 58 . Konkreter erscheint das Wesen der Gesellschaft als die Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen 59 oder als das Tauschgesetz60. Die Abstraktheit avantgardistischer Kunst ist Reflex der Abstraktheit dieses Gesetzes61. „Wesen ist, was nach dem Gesetz des Unwesens selber verdeckt wird; bestreiten, daß ein Wesen sei, heißt sich auf die Seite des Scheins, der totalen Ideologie schlagen, zu der mittlerweile das Dasein wurde." 62 Die Darstellung des Wesens im Kunstwerk scheint um so verpflichtender, als Adorno — wenigstens in den letzten Jahren — bisweilen daran zu zweifeln schien, ob der philosophische Gedanke überhaupt noch ernsthaftes Interesse für sich beanspruchen könne, ob er nicht hilflos abgleite an dem, was er auf seinen Begriff bringen will. Seine Zweifel scheinen diesbezüglich nicht einmal vor Marxens ökonomischer Analyse haltgemacht zu haben63. Er schreibt: „Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm. Denn sie hat diese mittlerweile zum alten Eisen geworfen und virtuell durch unmittelbare Verfügung ersetzt." 64 Angesichts der Schwierigkeit, das Wesen der Realität zu treffen, verirrt sich Kunst leicht ins gegenständliche Detail. In Unkenntnis darüber, daß Realität 66 67 58 69 60 61 62 63 64

Adorno zur Abbildtheorie vgl. Negative Dialektik, S. 203. Ibid., 169. Der Essay als Form, Noten I, 41. Ibid., 18. Vgl. Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, Noten I, 64. Engagement, Noten I I I , 117. Ibid., 129. Negative Dialektik, S. 169. Vgl. A. Schmidt , S. 662. Eingriffe (Frankfurt, 1963), S. 23. Zit. bei Schmidt . S. 662.

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längst „ins Funktionale gerutscht ist" 6 5 , ein abstraktes Gesetz die Gesellschaft beherrscht, glaubt man, Wirklichkeit in unmittelbarer, „realistischer" Gegenstandsdarstellung zu treffen. „Konkretion ersetzt jene reale Erfahrung, die nicht bloß dem großen Dichter des industriellen Zeitalters fast unvermeidlicher Weise mangelt, sondern dessen eigenem Begriff inkommensurabel wird." 6 6 „Realismus aus Realitätsverlust. Epik, die des Gegenständlichen, das sie zu bergen trachtet, nicht mehr mächtig ist, muß es durch ihren Habitus übertreiben, die Welt mit exaggerierter Genauigkeit beschreiben, eben weil sie fremd geworden ist, nicht mehr in Leibnähe sich halten läßt." 6 7 Dieses Verfahren, das sich schon beim späten Goethe und Stifter findet und bei den Naturalisten, z. B. Zola, zu voller Ausbildung kommt, ähnelt als Restitutionsphänomen — so Adorno — dem Verfahren Schizophrener. „Darum ist es so töricht, realistische Stilprinzipien der Literatur einem — nach dem Cliche des Ostbereichs — gesunden, nicht dekadenten Verhältnis zur Wirklichkeit gleichzusetzen."68 Realismus, der sich darauf beschränkt, die Fassade zu reproduzieren, bestätigt und unterstützt die falsche Gesellschaft 69. Doch auch die Darstellung des Wesens hat ihre Tücken. Brecht, der ebenfalls verstand, daß die Oberfläche der Gesellschaft ihr wahres Wesen verbarg, der aber gleichzeitig ästhetischer Individuation, d. h. Sichtbarmachung dieses Wesens durch Personen und Bilder hindurch, mißtraut, versucht, das Wesen als solches auf die Bühne zu bringen, „indem er es kahl nach außen zerrt. Die Menschen auf der Bühne schrumpfen sichtbar zusammen zu jenen Agenten sozialer Prozesse und Funktionen, die sie mittelbar, ohne es zu ahnen, in der Empirie sind" 70 . Doch das Wesen bedarf der Erscheinung, der Vermittlung: „Hegels Logik hat gelehrt, daß das Wesen erscheinen muß. Dann aber ist eine Darstellung des Wesens, welche dessen Verhältnis zur Erscheinung ignoriert, auch an sich so falsch wie die Substitution der Hintermänner des Faschismus durchs Lumpenproletariat." 71 Die Aussage wird letztlich verstellt, bei Brecht als politische Aussage sogar verfälscht. Wo aber das Wesen in der Vermittlung dargestellt wird, ist die Schwierigkeit, wenigstens soweit es sich um das Wesen der modernen Gesellschaft handelt, nicht minder tückisch. Ausgehend von der Erkenntnis, „daß die Gesellschaft des eigenen Zeitalters nicht länger an Menschen und Sachen unmittelbar greifbar ist", braucht Brecht das wilde Zeitalter des Dreißig65 66 67 68 69 70 71

Zitat von Brecht, vgl. Balzac-Lektüre, Noten I I , 29. Ibid. Ibid., 30. Balzac-Lektüre, Noten I I , 30. Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, Noten I, 64. Engagement, Noten I I I , 117. Ibid., 121.

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jährigen Krieges, um an seiner Mutter Courage und ihren Kindern belegen zu können, daß der Krieg nicht den Krieg ernährt. Doch „weil die Gesellschaft des Dreißigjährigen Krieges nicht die funktionale des modernen ist, kann dort auch poetisch kein geschlossener Funktionszusammenhang stipuliert werden, in dem Leben und Tod der privaten Individuen ohne weiteres durchsichtig wären aufs ökonomische Gesetz"72. So ist auch der Tod der Kinder der Mutter Courage eher ein zufälliger. Wesenssuche und -darstellung sind Funktion der großen Kunst. „Mittlere Produktion" entzieht sich dieser Aufgabe. Sie verrät „die Freiheit, weil sie nicht zeugt von dem, was dem Individuum in der liberalen Ära widerfuhr" 7 3 . Was aber ist mittlere Produktion? Man tut Adorno sicher Unrecht, wenn man die Unterscheidung von großer und mittlerer Kunst in wohl unzulässiger Deutung des obenzitierten Satzes auf die dogmatische Formel bringt: Große Kunst ist die, die das verderbte Wesen unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Kunst, die uns die Welt als im großen und ganzen akzeptabel darstellt, ist eo ipso schlecht. Akzeptiert man diese Bestimmung nicht, bleibt als Richtmaßstab der bürgerliche Kanon großer Literatur, dessen Wohlfundiertheit aber eben durch sein Vermitteltsein aus einer „verkehrten Welt" fraglich sein sollte. 4. L i t e r a r i s c h e s K u n s t w e r k u n d

„Weltgeist"

Im vorhergehenden Abschnitt wurde dargelegt, daß das Kunstwerk auf das Wesen der Gesellschaft abziele. Werckmeister schreibt dazu: „ I n Adornos Werk stehen Kunstwerke direkt, dialektisch, aber nicht historisch vermittelt, für das, was er mit Wahrheit bezeichnet und was seine gegen Hegel gerichtete antisystematische Tendenz ihn absoluten Geist zu nennen hindert." 74 Es ist richtig, daß Adorno den Begriff „absoluter Geist" in diesem Zusammenhang nicht verwendet, doch wie nahe er seinem Denken steht, zeigt das Auftauchen des Wortes „Weltgeist" in der hier intendierten Bedeutung75. Freilich kann „Wahrheit" im Sinne Adornos nur die Wahrheit „jener dem Individuum und seinem Bewußtsein vorgeordneten Objektivität" sein, die Wahrheit „der Einheit der total vergesellschafteten Gesellschaft" 76 . Und der Weltgeist Hegelscher Provenienz wird bei Adorno in nächsten Zusammenhang mit der Gesellschaft gebracht: „Durch den Welt72

Engagement, Noten I I I , 123. Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, Noten I, 72. 74 W. Werckmeister , Das Kunstwerk als Negation. Zur Kunsttheorie Th. W. Adornos, Neue Rundschau 73 (1962), 114. 75 Balzac-Lektüre, Noten I I , 34. 76 Negative Dialektik, S. 307. 73

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geist darf die Gesellschaft sich bestätigt finden, weil sie tatsächlich all die Attribute besitzt, welche sie dann im Geist anbetet." 77 Doch dieser „Weltgeist" manifestiert sich im Kunstwerk und durch es hindurch jeweils in einem konkreten historischen Moment, in einem bestimmten Stadium seines Fortschreitens. Im literarischen Kunstwerk stellen sich „verschiedene Stufen eines widerspruchsvollen Grundverhältnisses der Gesellschaft" dar, das Gedicht — und das literarische Kunstwerk allgemein — „hält [ . . . ] den geschichtlichen Stundenschlag fest", ist „geschichtsphilosophische Sonnenuhr" 7 8 . Wie vollzieht sich nun der eigentliche dichterische Vorgang im Hinblick auf diesen „Weltgeist" und seine — bzw. der Gesellschaft — Objektivität? Ein Element, das dem Aufzeigen der Objektivität durch das Kunstwerk hindurch vor allem zu widerstehen und zu widersprechen scheint, ist das der subjektiven Intention des Dichters, obwohl dieser natürlich schon Teil der präkonditionierenden Gesellschaft ist. Doch diese Intention ist für Adorno nur Teil eines Prozesses, in dem sie „an anderen Momenten sich abarbeitet" 79 . Das wichtigste dieser „anderen Momente" ist das Material, das Problem, die Sache. Indem künstlerische Arbeit „ihrem Material sich anvertraut" 80 , der Künstler „zum Vollzugsorgan dessen wird, was das Gebilde w i l l " 8 1 , erreicht das Kunstwerk seine Objektivität 82 . „Die Regungen der Autoren erlöschen in dem objektiven Gehalt, den sie ergreifen" 83, die Intention des Autors wird „im Gestalteten aufgehoben" 84. Damit wird erreicht, daß das Produzierende nicht mehr der subjektive Künstler in seiner Zufälligkeit ist, sondern ein latentes Gesellschaftliches — und Historisches —, als dessen Stellvertreter der einzelne Künstler agiert 85 . Freilich bleibt der innerste Kontakt des Künstlers mit dem „Material" dunkel, das Ergebnis der Dialektik, das „Gestaltete", ist nicht aufgrund irgendeiner Gesetzmäßigkeit aus Intention und Material vorherbestimmbar 86. Es ist verständlich, daß unter diesem Gesichtswinkel die Form des Kunstwerks, die auf objektiven Anforderungen beruht, „wie es zu fügen sei" 87 , für Adorno von kapitaler Wichtigkeit ist. Ein gut Teil seiner Animosität 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Ibid., 308. Rede über Lyrik und Gesellschaft, Noten I, 91 f. Parataxis, Noten I I I , 157. Balzac-Lektüre, Noten I I , 31. Valerys Abweichungen, Noten I I , 76. Ibid., 77. Der Essay als Form, Noten I, 12. Parataxis, Noten I I I , 157. Valerys Abweichungen, Noten II, 76. Vgl. Balzac-Lektüre, ibid., 34. Valerys Abweichungen, Noten I I , 77. Engagement, Noten I I , 114.

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gegen Lukics beruht auf der Tatsache, daß dieser nach Adornos Auffassung eben der Form zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt und sich allzusehr nach inhaltlichen Kriterien orientiert habe. Die vom Material bestimmte Form macht die Kunst eben zu jenem untrüglichen Spiegel der Wahrheit, der nicht lügen kann, selbst wenn er wollte. Sie ist „intentionslose Sprache". An diesem Punkt der Darstellung könnte man den Einwand erheben, ob denn nicht doch, neben den objektiven Anforderungen des Materials, auch ein Teil subjektiver Intention in der Synthese, dem Gestalteten, enthalten sei, was der schließlichen Objektivität doch Abbruch täte. Diesem Einwand könnte mit einem Hinweis auf die Wirkungsweise der Dialektik begegnet werden. Synthese ist nicht Mittleres zwischen These und Antithese, sondern beide sind in ihr „aufgehoben", in der dreifachen Bedeutung des Wortes. Zwar bewahrt die Antithese Elemente der These, die auch in die Synthese eingehen, doch diese Bewahrung ist Bewahrung alles „durch die bisherige Entwicklung erreichten Positiven im Neuen" 88 . Es bleibt also von der These nur das in der Synthese erhalten, was nach Maßgabe der Antithese — in unserem Falle des Materials, Problems usw. — „positiv" ist, d. h. erhalten bleiben soll 89 . Diese Form aber ergibt sich nicht automatisch, nicht als écriture automatique. Nicht nur die Essayform fordert vom Künstler, daß er „an der Form der Darstellung emphatisch arbeitet" 90 . Das Material zeigt seine Objektivität erst, indem die dichterischen Intentionen sich an ihm abarbeiten; wo immer aber dieses Abarbeiten unterbleibt, ist Mißtrauen am Platze. Häufungen bestimmter Satzzeichen etwa zeigen, daß die Objektivität des Gestalteten nicht aus der Sache sich ergibt, sondern „übergestülpt" und somit nicht wahre Objektivität ist. Drei Punkte etwa suggierieren Unendlichkeit und tiefere Gedankendimensionen, die nicht aus der „Logik der Sache" resultieren, sondern durch das Schriftbild angezeigt werden, ähnlich wie die Autoritätsgebärde des Ausrufezeichens. Selbst „die gehäuften ironischen Anführungszeichen bei Marx und Engels sind Schatten, welche das totalitäre Verfahren vorauswirft über ihre Schriften, die das Gegenteil meinten". Wo immer Gleichgültigkeit gegen den Ausdruck und Schludrigkeit der Sprache sich manifestieren, wittert Adorno Stillegung der Dialektik. „Dort, wo es überhaupt etwas zu sagen gibt, weist allerorten Indifferenz gegenüber der literarischen Form auf Dogmatisierung des Inhalts." 91 88

Formulierung aus Grundlagen der marxistischen Philosophie, Berlin, 1960, S. 309. 89 Das Vorhandensein eines Restes von Subjektivität wird von Adorno an anderer Stelle jedoch angemerkt. Vgl. unsere Arbeit S. 253, Anm. 103. 90 Der Essay als Form, Noten I, 38. 91 Satzzeichen, Noten I, 170.

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Der Dichter aber, der sich dem Material, dem Problem anheimgibt, wird zum Sprachrohr des Kollektivs. Aus der Sprache des Dichters spricht „der Allmensdi, das transzendentale Subjekt" 92 . Seit jener Balzac-Interpretation in Engels' Brief an Margaret Harkness (18 8 8) 93 , in der Balzac als das Werkzeug einer sich durch und gegen seine Subjektivität verkündenden Objektivität gezeichnet wurde, hat Balzac die marxistischen Literaturkritiker immer wieder beschäftigt, wobei man jedoch kaum je über die Feststellung hinauskam, Balzac habe „die Realität", d. h. den Klassenkampf seiner Zeit, dargestellt. Adornos Balzac-Interpretation versucht, diesen Vorgang, der meist nur festgestellt wurde, zu erklären 94 : Der Blick auf die Fremdheit der Großstadt bzw. die Intention, diese darzustellen, erzeugt vermittels des Bestrebens, hinter die Fassaden zu blicken — sich am Material abzuarbeiten — jene „kompensatorische Phantasie" und deren Beziehungswahn, die, vergleichbar dem System des Paranoikers, das Richtige, die vielfältige Verflochtenheit dieser Gesellschaft und andere Merkmale, treffen. Die Marionettenhaftigkeit ihrer Gestalten zeigt, daß die Menschen zu „Charaktermasken", zu gesellschaftlichen Funktionen und bloßen Figuren im rationalen tableau économique geworden sind. Doch wiederum: „Vor dem Hintergrund der erschütterten, aber fortbestehenden vorbürgerlichen Ordnung nimmt die losgelassene Rationalität etwas Irrationales gleich dem universalen Schuldzusammenhang an, der jene ratio bleibt; in ihren ersten Beiträgen präludiert sie die Irrationalität ihrer Spätphase [ . . . ] Wovor Hegels Spekulation in der Rechtsphilosophie ebenso erschrak wie der Positivist Comte, die sprengenden Tendenzen des Systems, das die naturwüchsigen Strukturen verdrängt, das flammt Balzacs hingerissener Betrachtung als chaotische Natur auf." 95 Faszination und Phantasie schaffen eine Gestalt wie Gobseck, den Wucherer, der, infantil mit seinem Schatz sich umgebend, die ökonomische Unsinnigkeit seines Verhaltens in seiner Welt ahnen läßt. „Solche blinde Physiognomik, nicht theoretisch orientierte Dichtung genügt der dialektischen Theorie und trifft die Tendenz [ . . . ] Erkenntnis wird sie [die Kunst], wo sie ohne Vorbehalt der Arbeit an ihrem Material sich anvertraut. Das war aber bei Balzac die Anstrengung einer Phantasie, die nicht rastet, bis ihre Produkte so sehr sich selbst gleichen, daß sie auch der Gesellschaft gleichen, vor der sie retirieren." 96 Selbst dort, wo Balzac zu irren scheint, in der ,Legende vom raffenden Kapital', entdeckt Adorno Wahrheiten: die Wahrheit vom größeren Gewicht des Kapitals in der kapi92

Balzac-Lektüre, Noten I I , 24. K. Marx / F. Engels, Uber Kunst und Literatur, hrsg. M. Kliem, Berlin, 1967, I, 159. 94 Balzac-Lektüre, Noten I I , 19 - 41. 95 Ibid., 26 f. 96 Ibid., 31. 93

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talistischen Aufbauphase, und die Wahrheit von der Unerzählbarkeit des Wesentlichen, des Produktionsprozesses, in dem Helden und Charaktere keinen Platz mehr haben97. Ein weiteres Beispiel ist Marcel Proust. Er löst, ohne es zunächst zu wollen, und in einem Geist, der dem positivistischen verwandt ist, das Subjekt auf. Im Bestreben der „Parteinahme gegen die Lüge der Darstellung" 98 , dem Versuch, den Allwissenheitsanspruch des Autors auszuweisen, wird die Erzähldistanz eingeholt, die Welt in den Innenraum, das Bewußtsein, hineingezogen99. Dabei aber lösen sich Charakter und individuelles Bewußtsein auf. „Diese Auflösung jedoch ist gar nicht sosehr psychologisch als eine Flucht der Bilder [ . . . ] Was an den Menschen sich ändert, entfremdet wird bis zur Unkenntlichkeit, und wie in musikalischer Reprise wiederkehrt, sind die imagines, in die wir sie versetzen. Proust weiß, daß es ein An sich der Menschen, jenseits dieser Bilderwelt, nicht gibt." 1 0 0 Zum Programm gemacht ist dieses Sich-dem-Material-Anheimgeben beim Essay, wie Adorno ihn idealtypisch beschreibt. Auch hier ist die Form Ergebnis und Zeichen des Sich-Abarbeitens der Intention am Material. „Er [der Essay] denkt in Brüchen, so wie die Realität brüchig ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet. Einstimmigkeit der logischen Ordnung täuscht über das antagonistische Wesen dessen, dem sie aufgestülpt ward." 1 0 1 Kunst ist objektive Form, wie sie aus der Hingabe der Intention an die „Logik der Sache" sich ergibt. Freilich scheint hier ein Denkmechanismus sich einzuschalten, der bei Adorno häufig in Aktion tritt und sich wohl aus der Übung der Dialektik ergibt: das Oszillieren des Denkens zwischen dem „So" und dem „Aber-doch-nicht-ganz-so". Die Form, die Konstruktion des Werks, wie sie sich aus der „Logik der Sache" ergibt, ist, wie Adorno an anderer Stelle betont, doch nie ganz geschlossen, „ . . . nie gehorchen Kunstwerke in sich derselben Kausalität wie Natur und Gesellschaft" 102. Das Element des Zufälligen, „des nicht gänzlichen Dabeiseins des Subjekts im Werk" 1 0 3 zeugt davon, daß die vollkommene Versöhntheit des Subjekts und des Objekts nur Schein ist.

97

Balzac-Lektüre, Noten I I , 36 f. Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, Noten I, 68. 99 Ibid., 67. 100 Kleine Proust-Kommentare, Noten I I , 99. 101 Der Essay als Form, Noten I, 35. 102 Voraussetzungen, Noten I I I , 150. 103 Ibid., S. 149. 98

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5. D i e E i g e n g e s e t z l i c h k e i t des literarischen Kunstwerks Auszugehen ist bei Adorno von dem dialektischen Sich-Gegenüberstehen von Kunst und Gesellschaft, die durch dieses Verhältnis getrennt und gleichzeitig verbunden sind. Die Frage nach der Abhängigkeit der Kunst von der Gesellschaft ist somit jeweils gleichzeitig die Frage nach ihrer Autonomie. Das literarische Kunstwerk bildet Realität nicht ab, sondern protestiert gegen sie, kann sich aber gerade deshalb nicht von ihr trennen. Avantgardistische Abstraktheit z. B. trägt, wo sie auf die Spitze getrieben wird, die Gefahr des Scheiterns in sich 104 . „Was in Malerei und Musik an den von gegenständlicher Abbildlichkeit und faßlichem Sinnzusammenhang sich entfernenden Gebilden als Spannungsverlust beobachtet wurde, teilt vielfach auch der nach abscheulichem Sprachgebrauch Texte genannten Literatur sich mit. Sie gerät an den Rand von Gleichgültigkeit, degeneriert unvermerkt zur Bastelei, zum in anderen Kunstgattungen durchschauten Wiederholungsspiel, zum Tapetenmuster; [ . . . ] Grenzfall ist eine Literatur, die undialektisch mit Wissenschaft sich verwechselt und vergebens der Kybernetik sich gleichschaltet."105 Das Wesentliche an diesem Argument, Kunst könne sich mit etwas anderem verwechseln, gleichschalten, identifizieren und dadurch qua Kunst scheitern, liegt auch seinem Vorbehalt gegenüber der sogenannten engagierten Literatur zugrunde. Gegenüber Sartre, der Engagement in der Literatur mit einem Hinweis auf deren begriffliches Wesen, mithin die Bedeutungsebene der Sprache, stützt, weist Adorno darauf hin, daß die Bedeutung, die die Wörter „draußen" haben, im Kunstwerk nicht unverwandelt bleibt, und daß sich diese Verwandlung auch in die „höheren Bedeutungsschichten" fortsetze 106. So wehrt sich Adorno gegen die „sture Antithese von engagierter und reiner Kunst" 1 0 7 : das Part pour Part leugne „jene unauslöschliche Beziehung auf die Realität"; die sogenannte engagierte Kunst aber, „als Kunst notwendig von der Realität abgesetzt", streiche die Differenz von dieser durch 108 — werde, denkt man den Gedanken Adornos weiter, Ideologie bzw. Propaganda, Abhub dieser — verrotteten — Realität. So beargwöhnt Adorno auch „die Unheilsdichter, von denen man schon manchmal nicht mehr weiß, ob ihnen nicht die Konzentrationslager als Begegnung mit dem Nichts ganz recht sind" 1 0 9 . Zweifel an der Allmacht dieser Alternative von engagierter und „reiner" Kunst und Beruhigung entstehen Adorno aus einem Blick auf die zeitgenössische 104

105 108 107 108 109

Engagement, Noten I I I , 130.

Ibid.

Engagement, Noten I I I , I I I . Der Artist als Statthalter, Noten I, 177. Engagement, Noten I I I , 110. Der Artist als Statthalter, Noten I, 177.

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Literatur: „Die Sartreschen Böcke, die Valiryschen Schafe lassen sich nidit scheiden."110 Eigengesetzlichkeit eignet jedoch dem Kunstwerk noch in anderer Beziehung. Das Kunstwerk ist der legitime Ausdruck der von wissenschaftlicher Objektivität abgesetzten Objektivität der — etwa bei Proust — „in Hoffnung und Desillusion zusammengehaltene[n] einzelmenschliche[n] Erfahrung". „Aber ihre individuell zusammengeschlossene Einheit, in der doch das Ganze erscheint, wäre nicht aufzuteilen und wieder zu ordnen unter die getrennten Personen und Apparaturen etwa von Psychologie und Soziologie. Keinem jedoch wäre es beigekommen, die Mitteilungen eines Erfahrenen, weil sie nur die seinen sind und nicht ohne weiteres wissenschaftlich sich generalisieren lassen, als unbeträchtlich, zufällig und irrational abzutun." 1 1 1 Wie in der Erfahrung „das Ganze erscheint", so auch im Kunstwerk, das man mutatis mutandis als einen Mikrokosmos bezeichnen könnte, in dem Spannungen „sedimentiert", Prozesse „zur Objektivität geronnen" sind 112 , der „Kristallisation" ist 1 1 3 , und der, indem er nicht „unmittelbar Wirkliches zum Gegenstand hat", nie sagt, wie Erkenntnis sonst: „das ist so, sondern: so ist es". „Seine Logizität ist nicht die des prädikativen Urteils, sondern die der immanenten Stimmigkeit: nur durch diese hindurch, das Verhältnis, in das es die Elemente rückt, bezieht es Stellung. Seine Antithese zur empirischen Realität, die dodi in es fällt und in die es selber fällt, ist gerade, daß es nicht, wie geistige Formen, die unmittelbar auf die Realität gehen, diese eindeutig als dies oder jenes bestimmt. Es spricht keine Urteile: Urteil wird es als Ganzes." 114 Weil Wirklichkeit im einzelnen Urteil nicht adäquat faßbar ist, weil das Urteil die Welt zurechtstutzt, zumindest etwas „wegschneidet", rekonstruiert Kunst gewissermaßen die Welt im Mikrokosmos des Kunstwerks. „Nur in der Kristallisation des eigenen Formgesetzes, nicht in der passiven Hinnahme der Objekte konvergiert Kunst mit dem Wirklichen." 115 Und: „Zur Erkenntnis wird das Kunstwerk erst als Totalität, durch alle Vermittlungen hindurch, nicht durch seine Einzelintentionen." 116 Selbst vom Essay, der wohl noch am direktesten „auf die Realität geht", heißt es an einer Stelle: „Er konstruiert das Zusammengewachsensein der Begriffe derart, wie sie als im Gegenstand selbst zusammengewachsen v o r g e s t e l l t w e r d e n . " 1 1 7 Die Vernachlässigung der 110 111 112 113 114 115 116 117

Engagement, Noten I I I , 110. Der Essay als Form, Noten 1,19 f. Voraussetzungen, Noten I I I , 138. Engagement, Noten I I I , 134. Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 175. Ibid., 164. Ibid., 175. Der Essay als Form, Noten I, 48. Sperrung von mir.

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Frage, ob man unter diesen Umständen den Gehalt eines Kunstwerks am Begriff der „Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit" messen könne, macht Adorno Lukács zum Vorwurf, ebenso wie die völlige Verkennung der formalen Elemente als integrale Bestandteile der „Totalität" des Kunstwerks, und nicht etwa als Akzidentien 118 ; eben durch diese Momente konstituiere sich Kunst als Erkenntnis im Gegensatz zur wissenschaftlichen 119 , und nur in Einbeziehung dieser Elemente könne ein Kunstwerk angemessen verstanden werden; „indem nämlich der im Vollzug von Erfahrung ergriffene Gehalt in seiner Beziehung zur Formensprache und den Stoffen des Gebildes, reflektiert und benannt w i r d " 1 2 0 . II. Das l i t e r a r i s c h e K u n s t w e r k P r ä f i g u r a t i o n der U t o p i e

als

Ein wesentlicher Aspekt der Geschichtsphilosophie Adornos, sofern man angesichts der etwas unklaren historischen Begriffe bei ihm von einer solchen sprechen kann, ist die Deutung der Urgeschichte der Subjektivität, wie sie in der ,Dialektik der Aufklärung' dargestellt wird. Subjektivität bzw. subjektiver Geist spaltet sich als deren Negation von der Natur ab und versucht von nun an, diese zu beherrschen bzw. auszuplündern, bleibt jedoch in ebendieser Haltung unbewußt naturverhaftet. Diesem in gewisser Weise zivilisatorisch-aufklärerischen Prozeß, dem diese Abspaltung entspringt und der eben durch sie getragen wird, ist eigen, daß Freiheit mit Herrschaft über jedwedes Objekt verwechselt wird. Im Verlauf dieser Entwicklung bildet sich, unterstützt durch die Verhältnisse des bürgerlichen Zeitalters, die „instrumentelle Vernunft" heraus, die tyrannisch alles und jedes beherrschend, verfügend und klassifizierend auf den Menschen, das Subjekt selbst, zurückschlägt und in positivistischer Dummheit als eine Art bloßes „know how" sich des ihr selbst innewohnenden verderblichen Herrschaftsprinzips, jener Rache der geknechteten Natur, nicht bewußt wird. Die Utopie nun bringt die dialektische Synthese der beiden getrennten Faktoren, die Anamnesis der unterdrückten Natur durch den Geist, wodurch dieser auf seine absolute Geltung verzichtet, die Natur aber ihrerseits ihre grenzenlose Gier und Grausamkeit ablegt. Dieser neue Zustand, die „Versöhnung", ist Übernatur, doch nicht jenseits der Immanenz, sondern in der sich als Natur durchschauenden Natur. Es eröffnet sich die Perspektive einer Welt ohne Herrschaft 121 . 118

Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 155. Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 154. 120 Voraussetzungen, Noten I I I , 138. 121 Zusammenfassung dieser Gedanken Adornos bei A. Schmidt auch Parataxis, Noten I I I , 206. 119

y

S. 670 ff. Vgl.

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Freilich bleibt dieses letzte Stadium, die Versöhnung und „Aufhebung" von Geist und Natur in der Synthese, abstrakt. Es ist nur bestimmbar aus dialektischer Negation des vorhergehenden, die gegenwärtige Welt beherrschenden Zustandes. Aus dieser Geschichtskonstruktion lassen sich übrigens zwei Grundgedanken ableiten, die immer wieder in Adornos Literaturkritik durchscheinen: der Gedanke, daß wahre Unmittelbarkeit, Versöhnung von Geist und Natur, von Subjekt und Objekt, nicht in einem verflossenen goldenen Zeitalter, sondern als Ergebnis eines verwickelten Prozesses in der Zukunft zu suchen sind 122 ; und zum andern, daß das Alte, auch Vorrationale, Statthalterfunktion ausübt für das, was kommen wird 1 2 3 . Inwieweit ist nun für Adorno das Kunstwerk in unserer Zeit Präfiguration der Utopie? Lyrik nimmt durch ihre besonders intime Bindung an die Sprache in Adornos Kunsttheorie eine gewisse Sonderstellung ein. Sprache ist, wie schon ausgeführt, sofern sie sich nicht im Dienste der Intention des herrschenden Geistes bewegt, eine kollektive Größe, ein in gewissem Sinne Objektives, dem das dichterische Ich, das in seiner Vereinzelung der Gesellschaft in Opposition gegenübersteht, sich anheimgibt: „Die höchsten lyrischen Gebilde sind darum die, in denen das Subjekt ohne Rest von bloßem Stoff in der Sprache tönt, bis die Sprache selber laut wird. Die Selbstvergessenheit des Subjekts, das der Sprache als einem Objektiven sich anheimgibt, und die Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit seines Ausdrucks sind dasselbe: so vermittelt die Sprache Lyrik und Gesellschaft im Innersten. [ . . . ] Der Augenblick der Selbstvergessenheit, in dem das Subjekt in der Sprache untertaucht, ist nicht dessen Opfer ans Sein. Er ist keiner der Gewalt, auch nicht der Gewalt gegen das Subjekt, sondern einer von Versöhnung: erst dann redet die Sprache selber, wenn sie nicht länger als ein dem Subjekt Fremdes redet, sondern als dessen eigene Stimme [. . . ] Im lyrischen Gedicht negiert, durch Identifikation mit der Sprache, das Subjekt ebenso seinen bloßen monadologischen Widerspruch zur Gesellschaft, wie sein bloßes Funktionieren innerhalb der vergesellschafteten Gesellschaft." 124 Beispielhaft für ein solches Untertauchen des Subjekts in der Sprache ist für Adorno die Lyrik Eichendorffs. „Seine Lyrik ist gar nicht ^ubjektivistisch', so, wie man von der Romantik es sich vorzustellen pflegt: sie erhebt, als Preisgabe an die Impulse der Sprache, stummen Einspruch gegen das dichterische Subjekt." 125 Besonders deutlich wird diese Mittler- und Versöhner122

z. B.: Valérys Abweichungen, Noten I I , 48. Vgl. Wörter aus der Fremde, Noten I I , 119; Zum Gedächtnis Eichendorffs, Noten I, 113; 116. 124 Rede über Lyrik und Gesellschaft, Noten I, 85 - 87. 125 Zum Gedächtnis Eichendorffs, Noten I, 121. 123

17 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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funktion der Sprache dort, wo Lyrik teilhat an einem „kollektiven Unterstrom", so wie etwa schon im volksliedhaften Dichten der Romantik „eine Art Transfusion des Kollektiven ins Individuelle" stattgefunden hatte. Dieser „kollektive Unterstrom" dränge heute, da der individuelle Ausdruck durch die Krise des Individuums erschüttert sei, in Dichtungen wie denen Brechts oder Garcia Lorcas an die Oberfläche, „doch auch vielleicht als Vorwegnahme eines Zustandes, der über bloße Individualität positiv hinausgeht" 126 . Noch in anderer Weise ist das literarische Kunstwerk Präfiguration der Utopie. Die Intention des Dichters, die sich dem Material gegenübersieht und sich ihm es verfälschend überstülpt, gleicht jener instrumentellen Vernunft, die, indem sie Natur beherrscht, doch immer von ihr düpiert wird. Erst indem sich die Intention am Material abarbeitet, vollzieht sich die Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt. Adorno vergleicht das Verhältnis von Ausdruck und Konstruktion, das dem von Intention und „Logik der Sache" entspricht, mit dem von Es und Ich in der Psychoanalyse. Das Ich ist von seiner Kardinalsünde, dem verfügenden Herrschaftsanspruch, nur zu heilen, „indem es mit dem Es sich versöhnt, wissend und aus Freiheit es dorthin begleitet, wohin es will. Wie der richtige Mensdi nicht der wäre, welcher den Trieb unterdrückt, sondern einer, der ihm ins Auge sieht und ihn erfüllt, ohne ihm Gewalt anzutun und ihm als einer Gewalt sich zu beugen, so müßte das richtige Kunstwerk heute zu Freiheit und Notwendigkeit modellhaft sich verhalten" 127 . Im gelungenen literarischen Kunstwerk sieht Adorno die Versöhnung der beiden sich feindlich gegenüberstehenden Prinzipien subjektiver Geist und Natur. Indem Geist sich als subjektive Abspaltung vom Objektiven erkennt und sich ihm als „Logik der Sache" anheimgibt, protestiert das Kunstwerk gegen den gegenwärtigen Zustand und weist auf die Utopie. Freilich ist sich Adorno einer Problematik solcher Gedankengänge durchaus bewußt. Geht man von der Abspaltung des subjektiven Geistes von der Natur aus und sieht man ersteren als Antithese zu letzterer, so wird deutlich, daß diese Spaltung nicht nur Sündenfall, sondern auch Fortschritt, nämlich Befreiung aus „mythischer" Dumpfheit, war. In diesem Sinne sind die besorgten Äußerungen Adornos zur Ich- Schwäche zu verstehen und auch jene oft mißverstandene Bemerkung aus den ,Minima Moralia', bei manchen Leuten sei es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie „ich" sagten128. In der Tat, was geschieht, wenn wir den Sprung, der den Geist zur Versöhnung mit der Natur führen soll, zu knapp ansetzen? Wir fallen in ebenden 126 127 128

Rede über Lyrik und Gesellschaft, Noten I, 90. Voraussetzungen, Noten I I I , 151. a.a.O., S. 57.

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Graben, aus dem wir uns — in der Subjektwerdung — mühsam herausgearbeitet haben. Wer garantiert, daß das Ich, das in der Lyrik durch Versenkung in sich selbst zur Natur, zum Authentischen, zum noch Unentstellten, Unerfaßten, nicht Subsumierten durchzustoßen versucht, nicht im gesellschaftlich Vermittelten, nur scheinbar Unmittelbaren steckenbleibt?129 Wer garantiert, daß die Tendenz, die in den modernen Epen das Individuum sich selbst liquidieren läßt, wirklich eine neue Uberindividualität herbeiführen wird — und nicht Rückfall in Barbarei ist? 180 Ist der neue hervordrängende „kollektive Unterstrom" wirklich Aufhebung des dichterischen Individuationsprinzips in einem Höheren, oder ist sein Grund einfach Regression, Schwächung des Ich? 131 Mit Besorgnis spricht Adorno von „den Schatten der drohenden Regression des europäischen Geistes [ . . . ] , jenen Schatten, die die unterentwickelten Länder über die entwickelteren werfen, die bereits beginnen, an jenen sich auszurichten". Ist „die bei Lukics spürbare Rückbildung eines Bewußtseins, das einmal zum fortgeschrittensten rechnete", Symptom dieser Regression?132 Adorno wußte um „das Bittere, daß zur gegenwärtigen Stunde der philosophische Schritt übers Subjekt hinaus ins Vorsubjektive zurückfällt und einer kollektiven Ordnung zugutekommt, in der Subjektivität nicht aufgehoben ist, sondern bloß niedergehalten von heteronomem Druck" 1 3 3 . Man sollte den Pessimismus Adornos und das Gewicht solcher Äußerungen nicht überschätzen. Abgesehen von möglichen Urteilen über die Weltsicht Adornos zeigt sich hier jedoch die Problematik eines dialektischen Denkens, das nur allzuleicht zwar nicht falsch, aber nichtssagend wird, dann nämlich, wenn nicht mehr feststellbar ist, wo und als was ein bestimmtes Phänomen innerhalb des dialektischen Fortschreitens zu lokalisieren bzw. zu bestimmen ist.

129 180 181 182 188

17*

Rede über Lyrik und Gesellschaft, Noten I, 75. Ibid., 71. Ibid., 90. Erpreßte Versöhnung, Noten I I , 178 f. Blochs Spuren, Noten I I , 145.

ÄSTHETIK U N D D R A M A T I K Zu den Prolegomena der ,Theodramatik' von Hans Urs von Balthasar Von Volker Kapp Es kommt nicht häufig vor, daß sich ein Philologe das Recht nehmen darf, eine theologische Neuerscheinung zu besprechen, ohne damit die Grenzen seines Faches zu verlassen. Es gibt aber auch wenige theologische Werke, in denen so viele, gewichtige Aussagen über zentrale Fragen der Literatur und des Theaters enthalten sind wie in diesem ersten Band der ,Theodramatik' von Hans Urs von Balthasar 1. Der Autor nennt sein Buch, sich bei seinen Fachkollegen entschuldigend, ,Prolegomena', weil er „hier in recto noch gar keine Theologie treibt, sondern vorerst nur Materialien zu einer solchen sammelt" (9), um dann in dem weiteren geplanten Teil damit im engeren Bereich der theologischen Wissenschaft operieren zu können. Wenn hier von P r o l e g o m e n a die Rede ist, so heißt das nicht, daß diese umfangreiche „Stoff- und Motivsammlung" (9) nur theologisch Marginales enthält, sondern daß hier theologisch Fundamentales in einem Bereich gesichtet wird, mit dem die christlich-abendländische Theologie bisher kaum etwas anzufangen wußte: im Bereich der Literatur und insbesondere in dem des Theaters, das nicht nur in seiner schriftlichen Fixierung als Text verarbeitet, sondern in der ganzen Skala der Realisierungsmöglichkeiten bis hin zur Aufführung und zu den Interpreten bedacht wird. Vergleicht man Balthasars Ansatz mit dem Schema, das M. Pagnini in seinem ,Versuch einer Semiotik des klassischen Theaters' entworfen h a t l a so erkennt man, daß in dem vorliegenden Werk die Elemente bedacht werden, die im Text und dessen szenischer Präsentation eine Aussage über die Sinnfrage des Menschen enthalten, während andere Elemente wie z. B. das Bühnenbild oder die Kostümierung, die keinen solchen Aussagewert besitzen, unberücksichtigt bleiben. Dieser Vergleich ermöglicht eine erste Umschreibung von Balthasars Entwurf: er läßt sich zwar nicht mit der traditionellen Opposition von Form und Inhalt erfassen, hat aber dort seine Grenze, wo einzelne Elemente des Dramatischen nicht mehr mit einem sehr weit gefaßten Wahrheitskriterium gemessen werden können. 1

Hans Urs von Balthasar, Theodramatik, Bd. I. Prolegomena. Einsiedeln 1973, 622 S. la In: Volker Kapp (Hrsg.), Aspekte objektiver Literaturwissenschaft. Die italienische Literaturwissenschaft zwischen Formalismus, Strukturalismus und Semiotik, Heidelberg 1973, S. 85.

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Auch beim Philologen entschuldigt sich Balthasar, daß er „aus der uferlosen Dramen- und Theaterliteratur nur dürftige Stücke herausgebrochen" (9) und Auswahl wie Interpretation nach seiner theologischen Fragestellung ausgerichtet hat. Da er eine ungewöhnliche Form des Umgangs mit Literatur wählt, muß er auch die gewohnten Bahnen der Fachdisziplinen verlassen. Deshalb kann man dieses Buch auch weder der Theologie noch der Literaturwissenschaft, sondern nur den Humanwissenschaften zuordnen, wie sie unsere größte humanistische Tradition verstanden wissen wollte. Daher werte ich die Entschuldigung des Verfassers als einen Ausweis für sein klares methodologisches Bewußtsein, keineswegs jedoch als eine Schwäche seines Ansatzes, der eine Spannweite besitzt, wie sie heute nur wenige vorweisen können. Hier wird die ganze abendländische Tradition aus einem unmittelbaren Umgang mit den Texten von den griechischen Tragikern über Shakespeare und Calderón bis hin zu Brecht und lonesco von einem mächtigen Strom des Denkens zusammengebunden, das nicht nur die großen Theologen aus erster Hand kennt, sondern auch die Philosophie von den Vorsokratikern bis Nietzsche und Blondel mit der Psychologie von Freud bis Adler und der heutigen Soziologie zusammenführt. Daß zu einer solch gewaltigen Leistung die Reife des Alters gehört, wird niemand bezweifeln. Doch überrascht Balthasar gerade den Kenner seines weitverzweigten Werkes dadurch, daß auch in diesem neuen Buch nicht nur keinerlei Ermüdung zu spüren, sondern eine Fülle neuer Gedanken zu finden ist, die gerade auch dort Eigenständiges sagen, wo wie z. B. bei den Bemerkungen zum Strukturalismus von R. Barthes (42) oder bei den vielen Überlegungen zum Verhältnis von Theater und Politik (68 f., 282 f. u. ö.) Theologisches nur noch marginal im Spiele ist. Angesichts dieser Weite des Horizontes wäre es ein Mißverständnis, wenn man die vorliegende Arbeit als ein Produkt unserer Wissenschaftsspezialisierung deklarieren und unter die Rubrik Grenzfragen einordnen würde. Balthasar geht es gerade nicht um theologische Spezialfragen des Theatralischen, sondern um die Sinnbestimmung des Dramatischen als solchen. Deshalb ist auch die Auseinandersetzung mit dem Argument seines Werkes für den Literaturwissenschaftler nicht lediglich deswegen notwendig, weil hier auch das Objekt der Literaturwissenschaft, die Literatur, tangiert wird, sondern ganz im Gegenteil deswegen, weil hier ein zentrales Moment des Literarischen, das Dramatische, zur Debatte steht. Die Sinnbestimmung des Dramatischen impliziert ihrerseits das Mitbedenken des Literaturbegriffs als solchen und mündet damit schließlich in die Grundlagendiskussion der Literaturwissenschaft, in der es um Sinn und Stellenwert des Ästhetischen überhaupt geht. Die ,Theodramatik' reicht in ihrer Bestimmung des Ästhetischen weit über das hinaus, was die neuere literaturwissenschaftliche Methodendiskussion mit ihrem Bemühen um eine Legitimation als Wissenschaft und ihrer Sorge um die Standortbestimmung innerhalb der Gesellschaft überhaupt noch zu denken wagt. Die beiden Fixpunkte dieser Diskussion, die logisch-mathematische Objektivierung und die soziologisch-politische Interpretation, sucht

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Balthasar im dritten und letzten Teil seiner Arbeit mit dem Titel,Übergang: von der Rolle zur Sendung* (453 - 603) in ihrer Relativität zu verstehen. Er geht dabei wiederum von der Sinnfrage des Menschen aus, die für ihn nicht lauten kann: „Was für ein Wesen ist der Mensch", sondern „Wer bin ich?" Die erste Frage wird ödipus von der Sphinx gestellt; ihr Rätsel zu lösen, hat etwas Spannendes und, wenn die Lösung gefunden ist, Heiteres. Wenn aber ödipus später nach dem Schuldigen sucht, der Theben verseucht, und alle Finger immer unerbittlicher auf ihn deuten, bis er sich die Augen ausreißen muß und in die vollkommene Isolierung verstoßen wird, ist es mit der Heiterkeit vorbei. Es ist kein „Fall von", jeder Rückgriff auf irgendein Gemeinsames (vielleicht den „Ödipuskomplex", in dem er mit andern solidarisch wäre?) ist verwehrt. „Er ist mit seinem Schicksal allein" (454 f.). Im Horizont dieser Sinnfrage deutet Balthasar die Literatur, von ihm her sucht er das Wesen des Dramatischen zu bestimmen. Bei der Lösung dieser Frage geht er von zwei einander entgegengesetzten Denkrichtungen aus. „Die Stoa legt den Akzent auf die Ausgliederung der Einzelperson aus der Totalität, mit den oben entwickelten theatralischen Kategorien gesprochen: auf die vernunftgemäße Ausführung der beschränkten, m i r zugewiesenen Rolle, während der Neuplatonismus das Schwergewicht auf die Rückbesinnung zum Einen hin legt, bei welcher das äußere Rollenspiel — wie sich bei der Benützung des Theatergleichnisses durch Plotin zeigte — zu einem wesenlosen Schattenspiel herabsinkt" (462). In der Nachfolge der Stoa sieht er die Deutungen der Rolle des Menschen durch die Psychologie von Freud bis Adler und durch die Soziologie, während er dem Piatonismus die Lösungsversuche von Fichte, Schelling und Hegel zurechnet. Als Wege, die in die Richtung seiner eigenen, im geplanten Teil der ,Theodramatik' zu entwickelnden Lösung deuten, nennt er aus vorchristlicher Zeit die orientalische Gestalt des Königs und die griechische Vorstellung vom Genius, aus nachchristlicher Zeit G. Simmeis „individuelles Gesetz", das mit seinem „Zug zur Integration ins Ganze, Gegenzug zur Zentrierung im Einzelnen" (586) in abstracto ebenso einen Grundzug von Balthasars Dramatik enthält wie „das dialogische Prinzip" von F. Rosenzweig, M. Buber und F. Ebner, wobei vor allem die Bestimmung des Ich-Du-Verhältnisses durch Ebner die theologische Grundlage dieser Dramatik erkennen läßt: „alles wurzelt im Gottverhältnis und seiner Einsamkeit, in einem ursprünglichen Glauben, der zum vollen Glauben erst wird angesichts des Verlassenheitsschreis des Christus und von Gott und Christus her die christliche Nächstenliebe ermöglicht" (602). Balthasars Konzept zielt also auf eine Christologie hin, deren theologisches Denken sich in einer innerweltlichen Handlungslehre niederschlägt, die die Eingliederung des Individuellen in ein Allgemeines, wie sie in der Vorstellung von der „Rolle" sichtbar wird, mit der Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit des Individuums versöhnt, wie sie der Begriff der „Person" beinhaltet. Die ,Theodramatik' bildet den zweiten Teil eines Ästhetik, Dramatik und Logik umfassenden Triptychons, dessen Plan der Verfasser 1961 kühn ent-

B endite

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worfen und seither unbeirrt fortgeführt hat, obgleich er schon seit 1965 nicht mehr hoffen durfte, daß er seine Trilogie jemals „vollenden werde, weil deren erster Teil, die ,Theologische Ästhetik', selbst schon vier starke Bände beansprucht, hinter denen die theologische Dramatik und Logik gewiß umsonst auf mich warten werden" 2 . Daß Balthasar nun vor der Veröffentlichung des letzten, der Ökumene gewidmeten Bandes seiner Ästhetik 3 mit der Dramatik beginnen konnte, hängt, wie er selbst sagt (15), damit zusammen, daß er in den beiden letzten Bänden ,Alter Bund' und ,Neuer Bund' schon die christliche Offenbarung als „Theo-praxie" (15) behandelt und somit Ästhetik in Dramatik überführt hatte. Er tat gut daran, diese Linie im vorliegenden Band weiterzuführen, denn seine Ästhetik war immer dem Verdacht ausgesetzt, etwas Statisches zu sein und als restaurative Sehnsucht nach der heute von den meisten Denkern historisch relativierten Metaphysik des Schönen fehlgedeutet zu werden. Wie sehr sein Standort, „der höchste Kommunikation nach überallhin erlaubt, aber jeden geistigen Kompromiß vermeidet" 4 von dieser falschen Interpretation bedroht war, zeigt Balthasars Polemik gegen den Versuch, ihn auf einen christlichen Neuplatonismus zu reduzieren 5. Er mag diesem Irrtum seiner Interpreten insofern Vorschub geleistet haben, als das Niveau seiner Gedankengänge in der ,Herrlichkeit' manche Leser nur mit Mühe die Intention wiedererkennen ließ, auf die in ,Die Gottfrage des heutigen Menschen'6 umrissene heutige religiöse Situation zu antworten. Was sich an der Entwicklung seiner kleinen Programmschriften ablesen ließ, das bestätigt nun die ,Theodramatik': Balthasar schafft in ihr nicht nur, wie in der ,Herrlichkeit', ein die ganze abendländische Tradition sichtendes Gegenstück zu den vielen Verkürzungen heutiger Weltentwürfe, gerade auch in den Wissenschaften, sondern er bemüht sich überdies, an die Zielvorstellungen der konkurrierenden Theorien anzuknüpfen und sie in einem umfassenderen Ganzen, dem Christentum, untereinander im Rahmen des Möglichen zu versöhnen. Der Zuwachs an Konkretheit in diesem neuen Werk bedeutet dabei keineswegs ein Nachlassen der Intensität des Denkens. Vor ähnlichen Versuchen sich progressiv verstehender Theologen zeichnet sich Balthasars Vorgehen dadurch aus, daß er nicht nur Denkanstöße aus dem außerchristlichen Raum ins Christentum hineinholt, um nachträglich innerchristliche Entsprechungen zu konstruieren, die aber letztlich nicht über das Innerchristliche hinausreichen, sondern daß er die von außen kommenden Tendenzen aus der besonders in seiner Ästhetik entwickelten Sicht beurteilt, das Brauchbare integriert und künftige Denkund Handlungsmodelle entwirft. Ein brillantes Beispiel für seine Art der 2 Hans Urs von Balthasar, Rechenschaft 1965, mit einer Bibliographie der Veröffentlichungen Hans Urs von Balthasars zusammengestellt von Berthe Widmer, Einsiedeln 1965, S. 27. 3 Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, 3 Bde. in 7 Bde., Einsiedeln 1961 - 1969. 4 Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit, Bd. I I I , 1, S. 16. 5 Vgl. a.a.O., S. 17. 6 Wien 1956.

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Auseinandersetzung mit vorhandenen Zielvorstellungen ist das Kapitel ,Tendenzen der heutigen Theologie' (23 - 46), in dem Hauptrichtungen heutiger Weltdeutung in ihrer Rezeption durch die verschiedenen Strömungen moderner Theologie auf die Dimension des Theodramatischen durchsichtig gemacht werden. Nach all dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, worin die Bedeutung von Balthasars Bestimmung des Ästhetischen für die Literaturwissenschaft zu suchen ist: ähnlich wie die auf dem Boden des Marxismus gewachsenen ästhetischen Entwürfe eines Lukács und Adorno auch von den Nicht-Marxisten beachtet worden sind, so verdient es Balthasars Konzept, ein Bezugspunkt literaturwissenschaftlicher Reflexion zu werden. Balthasar geht es darum, das Auseinanderbrechen von Ästhetik und Praxis durch die Deutung des christlichen Offenbarungsereignisses als Theodramatik zu verhindern. Ästhetik ist dabei „wesentlich Wahrnehmungslehre" (18), „Dramatik ist Agogik, Vorgangslehre, und wie im Verhältnis zwischen Leben und Bühne die Grenzen zwischen beiden verwischt sind, so ist im Handeln Gottes mit der Menschheit die Grenze zwischen dem Handelnden und dem „Zuschauerraum" aufgehoben, der Mensch ist nicht Zuschauer, sondern Mitspieler im Drama Gottes, oder Zuschauer nur sofern er auch Mitspieler ist, sich nicht bloß auf der Bühne erblickt, sondern wirklich auf ihr agiert" (18). Das Bild vom Welttheater erhält dabei eine zentrale Bedeutung, wobei Theater verstanden wird als „Projektion der menschlichen Existenz auf eine Bühne, die die Existenz jenseits ihrer selbst für sich selbst auslegt. Weil die Existenz sich in dieser Projektion ausgelegt erkennt, kann sie sich selbst — in einer Grenzerfahrung — als R o l l e in einem umgreifenden Spiel erkennen" (20). Eine solche Bestimmung des Dramatischen muß mit dem Erzvater heutigen Denkens, mit Hegel, in Konflikt geraten. Flankiert von einem vorbereitenden Abschnitt, in dem Rudolf Kaßners Entgegensetzung des Theatralischen und des Christlichen diskutiert wird, und gefolgt von einer Übersicht über die neuere Entwicklung des Dramas, die dem Ende des Theaters zuzustreben scheint, bildet die Auseinandersetzung mit Hegel das Zentrum des Kapitels der Einleitung', in dem Bedenken gegen das ganze Unterfangen einer Theodramatik erwogen werden. Doch bleibt Hegel auch in späteren Kapiteln (zusammen mit Brecht) als Gegenspieler präsent, dessen Argumente ernst zu nehmen und auf einer höheren Ebene zu widerlegen sind. Hegel hält das Drama für den Gipfelpunkt der Poesie, den er in der griechischen Tragödie und Komödie in einem einmaligen Kairos verwirklicht sieht. Im Helden der Tragödie tritt die Wahrheit des Göttlichen handelnd in Erscheinung. Um diese Idealität des Göttlich-Heroischen darstellen zu können, braucht der Schauspieler die Maske, die seine eigene Subjektivität hinter dem Selbstbewußtsein des Helden zurücktreten läßt. Diese Idealität des Ästhetischen wurde nach Hegel durch die Offenbarung Gottes in einem Einzelnen zerstört: „Insofern

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nun aber in dieser Erscheinung der Akzent darauf gelegt ist, daß Gott wesentlich ein einzelnes Subjekt mit Ausschluß anderer sei und nicht nur die Einheit göttlicher und menschlicher Subjektivität im allgemeinen, sondern dieselbe als d i e s e r Mensch darstelle, so treten hier in der Kunst, des Inhalts selbst wegen, alle Seiten der Zufälligkeit und Partikularität des äußeren endlichen Daseins wieder hervor, von welchen sich die Schönheit auf der Höhe des klassischen Ideals gereinigt hatte. Was der freie Begriff des Schönen als unangemessen aus sich entfernt hatte, das Nichtideale, wird hier als ein aus dem Inhalt selbst entspringendes Moment notwendig aufgenommen und zur Anschauung gebracht" 7. Die christliche, von Hegel als romantisch' bezeichnete Kunst bewegt sich in der Welt des prosaischen' und verlegt das Drama in die subjektive Innerlichkeit des Helden. Balthasar gibt Hegel „im tiefsten recht" (62), wenn er gegen das christliche Drama Bedenken erhebt, „weil die personale Christologie mit ihrem Gedanken realer Stellvertretung und realer partizipierender Sendung in der Neuzeit" (62) nicht ernst genommen wurde, und soweit das christliche Drama keine anderen „Situationen als die von Hegel im Mysterienstück, im Rittertum und seinem bürgerlichen Zerfall aufgezeigten" (62) kannte. Doch hält er diesem Einwand entgegen, daß „gerade die bleibende Spannung zwischen der totalen verweltlichten Welt und der Universalität christlicher Sendung in dieser Welt eine Dramatik lebendig erhalten" (62) kann, die er in fünf Punkten umreißt: 1. durch die „Sendung" (63), in der der Christ „eine Realität [ . . . ] zu seiner Subjektivität [ . . . ] machen soll" (63); 2. durch die Differenz zwischen dem „Substantiellen" der Kirche im ganzen dem „Einzelauftrag -gegenüber" (63); 3. durch die Spannungen und Konflikte der partikulären christlichen Sendungen mit ihrem „universalen Gehalt" (63); 4. in einem „(nach-)christlichen Mythos" (64), der „das große Weltgeschehen als Ausdruck und Elongatur des Christusereignisses" (64) deutet; 5. in dem Grundproblem, das Balthasar in die Frage faßt: „in welchem Sinn ist das theologische Drama ein Drama Gottes selbst?" (64). Diese fünf möglichen Perspektiven öffnen auch in der Zeit nach Hegel dem christlichen Drama noch ungeahnte Möglichkeiten. Sie bilden gleichzeitig einen Schlüssel, mit dem der Autor die abendländische Dramentradition neu überdenkt. Bevor Balthasar einen positiven Sinnentwurf christlicher Dramatik geben kann, muß er sich der schweren Hypothek stellen, die die Übernahme der Theaterfeindlichkeit der antiken Philosophen durch die christliche Theologie bedeutet (81-102). An dieser Stelle spürt man, wie der Verfasser auf die Zukunft setzt, wenn er angesichts der Misere heutigen Theaters, das „als eine traditionelle und immer deutlicher kommerzielle Einrichtung für Publikumsunterhaltung ohne letzte Notwendigkeit" (5) eine äußerst fragwürdige Institution ist, die säkulare Fehlentscheidung des Christentums gegen das Theater mit ihrem „beschämenden Widerspruch zwischen Duldung 7

Hegel, Ästhetik, hrsg. von F. Bassenge, Frankfurt o. J., Bd. I, S. 515 f.

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und Förderung einerseits, rigoristischer Verurteilung andererseits" (81) rückgängig zu machen sucht, ohne bei der heute üblichen Neutralität und damit letztlich weiterbestehenden Abstinenz der Kirche in diesem Bereich stehen zu bleiben. Balthasars Vorschlag zur Versöhnung zwischen Kirche und Theater hat epochale Bedeutung, auch wenn man sich fragen muß, ob seine Überlegungen zu einer restlosen Bejahung alles kulturellen Schaffens durch die Theologie ausreichen. Da sein Ansatz auf dem Prinzip der Mimesis aufbaut, nimmt er letztlich eine ähnliche Hypothek auf sich wie die marxistische Ästhetik, die mit nicht-mimetischer Kunst nichts anzufangen weiß. Wie soll man in diesem Rahmen etwa das Ballett einordnen, wenn man Erklärungen wie die von J. Lotman nicht akzeptieren will, der den Zweck des Tanzes darin sieht, „die Bewegung aus dem praktischen Leben zu reproduzieren" 8. Auch die Musikästhetik ist in diesem Rahmen nur durch Literarisierung faßbar 9. Vielleicht sollte man das Argument der Ästhetik weiterverfolgen, daß den Toren „ein Glanz von unbewußter, ungewollter Heiligkeit (umwittert) [ . . . ] Der ,klassische Mensch* in nachchristlicher Zeit ist in seiner Schönheit immer irgendwo sdiwermütig. Der rechte Narr ist es nicht" 9 . Um ein Werk wie den Orlando Furioso von Ariosto zu begreifen, genügt das Rekurrieren auf die „elementaren Anlagen und Bedürfnisse der menschlichen Geselligkeit aller Kulturen nach Unterhaltung" (409) nicht, es ist aber auch, gemessen an den übrigen Ausführungen Balthasars, zu wenig, wenn er das Komische als Produkt der „geistigen Einbildungskraft, die immer auch eine Antenne für die Qualität des Daseins im ganzen besitzt" (409), erklärt. Es scheint mir dem Christentum keinen Abbruch zu tun, wenn man das Ästhetische und somit auch die Literatur nicht nur aus dem Ernst metaphysischer Repräsentation versteht, sondern ihm auch etwas von der unbeschwerten Heiterkeit beläßt, deretwegen Balthasar den Narren in die Nähe des Heiligen rückt 10 . Dann verliert Hegels Einwand, „die eigentliche Tiefe, in der christlich der theologisch-dramatische Knoten sich schürzt" (102), und „die verborgene Ankunft des Neuen Äons" (102) ließe sich theatralisch nicht darstellen, etwas an Gewicht, auch wenn man sich ihm stellen muß, wie Balthasar dies tut, indem er auf vier Möglichkeiten christlicher Dramatik verweist: Zunächst nennt er den Wert der Sichtbarmachung der „Heilsdramatik" (103), wie sie die mittelalterlichen Geistlichen Schauspiele anstrebten 11. Eine weitere Möglichkeit ist die der spanischen Autos 8

Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, München 1972, S. 33. Dies zeigt sich an Balthasars feinsinnigem Artikel über Mozart Das AbschiedsTerzett (in: H. U. von Balthasar , Spiritus Creator, Einsiedeln 1967, S. 462-471), in dem allerdings auch Mozarts Musik als „das unverkürzt Irdische jeweils schon im raumgebenden Medium des Jenseitigen" (S. 468) bezeichnet wird. 10 Herrlichkeit, Bd. I I I , 1, S. 494. 11 Ergänzend könnte man hier hinweisen auf die Analyse des Osterspiels von Klosterneuburg bei Richard Blank , Sprache und Dramaturgie, München 1969, S. 69 - 129, die mit Balthasars Ausführungen übereinstimmt, aber von einer Unterscheidung zwischen „semantischem" und „rationalem" Sprechen ausgeht, die zwei völlig verschiedene Dramaturgien, nämlich die des Mysterienspiels und die des Dramas, konstituiere. 9

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Sacramentales, in denen alles Geschehen „auf das eucharistische Geheimnis hin durchsichtig" (105) wird. Auch das historische Drama bietet eine Möglichkeit, sofern in ihm „eine große gesellschaftliche oder politische Situation zu einem Transparent des christlichen Urdramas wird, das zwischen Gott und Welt in der Zentralgestalt Jesus Christus sich abspielt" (108). Als letzte Möglichkeit wird schließlich im Anschluß an R. Schneider das Zeugnis im Untergang genannt, wie es Christus vor Pilatus ablegte. Zu allen vier Möglichkeiten kann Balthasar Beispiele anführen; er konstatiert aber ebenfalls, daß diese von der theologischen Wissenschaft ignoriert worden sind. Mit diesen Bemerkungen zum Thema ,Theologie und Drama' endet die ,Ortsbestimmungen' betitelte ,Einleitung'. Der zweite, ,Dramatisches Instrumentar' überschriebene Teil enthält die meisten den Literaturwissenschaftler unmittelbar angehenden Aussagen. Er beginnt mit der Diskussion des Topos „Welttheater", die an Beispielen aus der Literatur der Antike, des Christentums und der Moderne, besonders in Einzelanalysen des Schaffens von Calderon, Grillparzer, Hebbel, Ibsen, Hofmannsthal, Nietzsche, Shaw, Pirandello u. a., ein Instrumentar zusammenstellt, das dem Autor zu einer mehr formalen, an semiotische Analysen erinnernden Bestimmung des Welttheaters dient: die dramatische Aktion, so lautet die Schlußfolgerung, entspringt aus der Differenz zwischen endlichem Spiel und unendlicher Bedeutung, zwischen Ich und Rolle, sowie zwischen Eigenverantwortung des Spielers und Fremdverantwortung dem Spielleiter gegenüber. Auf diesem Grundgerüst baut der Verfasser dann seine ,Elemente des Dramatischen' auf. Ähnlich wie neuere kulturpolitische Überlegungen zur Rolle der Literatur im Schulunterricht sieht Balthasar das Drama als „zentrale Existenzerhellung" (239), wobei er es aus der Spannung zwischen Personkern und Rolle in der Gesellschaft entspringen sieht. „ I m Schauspiel werden Modelle der Selbstentwerfung vorgeführt, innerhalb einer Interaktion von Personen; diese Modelle sind in irgendeiner Weise belangvoll für den Zuschauer, der sich im Spiel in bestimmte, ihm fremde Rollen hineinspielen kann und von ihnen zugleich einen Spiegel vorgehalten bekommt, auf welche Art er sich selber im Dasein herauszuspiegeln hat" (244). Damit rettet er das Theater vor dem Absinken in die Vart pour l'art Haltung, von der es als Institution des Bildungsbürgertums immer bedroht ist. Da für ihn aber der Personkern letztlich rational nie einholbar ist, schließt diese Zweckorientierung des Theaters gerade nicht die Reduktion auf die bloße Lernfunktion ein, wie sie bei Brecht zunehmend beabsichtigt wurde. „Das Drama, das das rechte oder verkehrte Handeln freier Menschen vorführt, wird gewiß durch positive oder negative Modelle das persönliche und soziale ,Sollen' anrufen. Aber die eigentliche Erwartung des Zuschauers richtet sich nicht auf das Herzustellende, sondern auf eine darüber hinaus umsonst sich schenkende, den letzten Sinn spendende Ordnung. Alle personalen und sozialen Selbstentwürfe wollen von einer entgegenkommenden Offenbarung aufgefangen und

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eingeordnet werden" (246). Die Bestimmung des Dramas als Existenzerhellung intendiert also das Gegenteil von Manipulation der Wirklichkeit; sie erinnert den Menschen an seine Freiheit und appelliert an ihn, diese zu gebrauchen. Konsequenterweise geht Balthasar hinter die Trias der Produzierenden (Autor, Schauspieler, Regisseur) auf die Erwartung des Publikums auf ein Etwas zurück, dem es „in dieser Aufführung zu begegnen hofft" (247). Unter den Produzierenden spricht Balthasar dem Autor vor Schauspieler und Regisseur, ersterem wiederum vor letzterem, den ontologischen Primat zu, um den heutigen Versuchen der völligen Reinterpretation von Stücken durch die Regisseure ihre Berechtigung abzustreiten. Für alle drei Produzenten ergibt sich in gleicher Weise das Problem, wie ihre Gestalten Ich des Schaffenden und doch nicht mit diesem identisch sein können. Balthasar führt hier eine eindrucksvolle Reihe von Zeugnissen der Betroffenen an, die alle darauf hinauslaufen, daß der Autor seine Gestalten aus sich holt, in den umgreifenden „Sinnhorizont" (258) der Welt stellt und dem Schauspieler zur Darstellung auf der Bühne übergibt, daß der Dichter somit „in seinem Werk ausdrücklich und notwendig Raum offen läßt" (262) für die Vergegenwärtigung des Textes durch den Schauspieler. Der Schauspieler wiederum steht in der paradoxen Situation, Kunst mit dem vollen Einsatz seines ganzen Ich machen zu müssen. Balthasar kommt es bei der Erhellung dieser Paradoxons weniger wie Diderot und dem diesem zustimmenden Brecht auf die Betonung der Distanz zwischen Rolle und Schauspieler, sondern im Anschluß an Stanislawskij auf die „Disponibilität" (267) des Schauspielers an, die aus dem „Glauben an die Wahrheit (der Rolle)" (267) entspringt. Für ihn fällt Schauspielerkunst „unter das allgemeine Paradox der Kunst [ . . .], daß höchste Technik sich in der vollkommenen Inspiration aufheben kann und muß" (269). Dabei übersieht er nicht, daß der Schauspieler in seinem Schwanken „zwischen Durchgabe höherer Wahrheit des Daseins und deren Verhinderung durch die sich aufspreizende Selbstbehauptung" (274) immer doppeldeutig bleibt. Mittler zwischen Autor und Schauspieler ist schließlich der Regisseur, der „für die Gegenwärtigkeit" (280) des Dramas zu sorgen hat. Nach der ,Trias der Produktion* behandelt Balthasar die ,Trias der Realisation'. Zunächst geht es dabei um die D a r b i e t u n g , in der der Schauspieler auf die aktive Resonanz des Publikums angewiesen und die Erwartung des Publikums über die Bewunderung für die künstlerische Leistung des Darstellers hinaus auf das Dargestellte gerichtet ist. Dementsprechend charakterisiert der Verfasser die Haltung des Publikums als „gespannte Bereitschaft" (287), in der er den „vom Publikum gelieferte(n) Beitrag zur Spannung der dramatischen Handlung" (287) sieht. Die Spannung lebt aus dem H o r i z o n t , in dem Darsteller wie Zuschauer vom Geschehen betroffen werden. Hier unterstreicht Balthasar „die Einzigartigkeit der christlichen Konzeption des Horizontes" (297): im christlichen Verständnis

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Gottes als Trinität tritt der Horizont „in einer aus dem Absoluten selbst ausbrechenden Dramatik dem menschlichen Spiel entgegen und verleiht diesem, von innen her mitspielend, ein letztes Woraufhin" (297). Diese Dramatik läßt sich „auf dem Theater nur fragmentarisch und gebrochen widerspiegeln" (297). Als Fragment auf einen solchen Horizont hin bezeichnet der Verfasser alles nachchristliche Drama, „auch wenn der Stoff, an dem diese Differenz aufbricht, ein rein innerweltlicher, scheinbar ganz unreligiöser ist und der Horizont ganz ins Anonyme vermummt wird" (298 f.). Angesichts einer solchen Hinordnung des Dramas auf den Sinnhorizont tritt die Problematik heutigen Theaters als öffentlicher Anstalt einer pluralistischen Gesellschaft mit neuer Schärfe zutage. Balthasars Antwort zielt trotz dieser Divergenz der weltanschaulichen Standpunkte auf einen Konvergenzpunkt ab, den er in der Frage nach der Identität des Menschen und in der gemeinsamen dramatischen Lage in der Welt sieht. „Es ist kein kultisches Ereignis, da die ,Frage Mensch* keinen der Zuschauer auf eine bestimmte Antwort verpflichtet. Aber es ist ein öffentlicher Akt, in dem, durch die Teilnahme des Saales, so etwas wie eine jCommunio' entsteht. Man könnte von einer Art Ökumene des Theaters sprechen, die, keiner Konfessionsform zu nahe tretend, auch nicht bloß einen verwaschenen Durchschnitt anzielend, die verschiedenen Glauben nach vorwärts und aufwärts auf eine jetzt unerreichbare Einheit hin orientiert. Diese liegt, als überschwenglicher Gehalt, im aufgeführten Stück selber" (300). Ein Exkurs (301 - 320) über Brecht und Ionesco setzt sich mit dem „rein horizontalen Drama" (312) Brechts und mit dem „rein vertikalen" (312) von Ionesco als den der in dieser ,Theodramatik' entwickelten konträren Konzeptionen auseinander. Dann wendet sich der Autor der E n d l i c h k e i t in der Frage nach Zeit, Situation und Tod zu. Ausgehend vom Gegensatz Brecht—Ionesco, der eine Opposition zwischen Leugnung des Ich und Leugnung der Fabel bildet, und im Anschluß an das Theorem von Aristoteles, daß das Drama eine vollständige und ganze Handlung nachahmt, deutet er das Drama als ein „Konzentrat des Gesamtsinnes" (322) einer Handlung, wobei das Dramenende zugleich „Weltende" (322) ist. „Jedes wirkliche Drama ist eine ,Menschenfalle'; die Absolutheit seines Raumes und seiner Zeit fordert unerbittlich, daß die unter bestimmten gegebenen Vorzeichen begonnene Handlung durchgespielt wird" (322 f.). Das Spannungsgefüge nimmt er zum Zeugen dafür, daß es beim Drama, im Unterschied zum Kriminalroman, um „die immer gültigen, nie überwundenen Spannungen der Existenz überhaupt" (325) geht, weshalb die mehrmalige Lektüre kein Nachlassen der Spannung bedeutet. Wenn also die dramatische Handlung die Situation des Ausgangspunktes verändert, so sind diese Situationen nur begrenzt schematisierbar, womit, so muß man als Literaturwissenschaftler ergänzen, die Grenze jeder paradigmatischen Semiotik des Theaters sichtbar wird, da die Situation „wesentlich durch Antinomien zwischen verschiedenen Personen, ihren freien Entscheidungen gemäß ihren Wertbildern, Weltanschau-

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ungen, individuellen Sendungen bedingt" (333) ist. A n dieser Stelle rückt wieder das religiöse Moment ins Blickfeld, da in den Konfliktsituationen „die Koordination zweier antinomischer Freiheitsentscheidungen — derer keine als überholt und untragbar abgewertet werden kann — [ . . . ] eine über beide erhobene, sie richtende, anerkennende oder verwerfende Instanz" (334) fordert. Dabei ist es unwesentlich, wie diese letzte Instanz benannt wird, wichtig ist allein, daß alle große Dramatik in einen „noch hinreichend erkennbaren Horizont des Göttlichen gestellt" (334) wurde. Da Calderon diesen Horizont nach Ansicht des Verfassers in der größten „Spannungsbreite" (337) entwickelt hat, wird ihm ein diesbezüglicher Exkurs gewidmet (337 - 345). Das Paradigma des T o d e s wird in acht Unterabschnitten und einem Exkurs über das ,Generationsdrama' behandelt (345 - 387). Damit sollen die vielen Möglichkeiten des Theaters, den Tod im Spiel präsent zu setzen und zu deuten, aufgeschlüsselt werden: das Drama kennt den Tod als „Verhängnis" (347) oder als „Deuter des Lebens" (350). Es kann die „Immanenz des Todes" (352) im Leben oder auch das Leben als Situation „an der Grenze" (355) darstellen. Es bringt ihn mit „Sühne" (359) oder mit „Liebe" (362) in Zusammenhang. Es interpretiert ihn als „stellvertretende^) Tod" (366) für andere oder als „Entmachtung der Könige" (375). Alle diese Möglichkeiten veranschaulichen das Sterben als persönlichsten und doch öffentlichen, einsamen und doch sozialen Akt. Dies wird besonders im Generationsdrama deutlich, wo der individuelle Tod „nicht überspielt" (386) und doch das Weitergehen des Lebens demonstriert wird. Wie in der ,Trias der Produktion' und der Realisation' geht es dem Autor auch in diesem Abschnitt über die »Endlichkeit' um den Aufweis, daß im Theater das Individuelle nie unter das Allgemeine aufgerechnet werden muß, um Zeugnis für ein Über-Individuelles, Sinngebendes zu sein. Als letztes dramatisches Element wird das „Woraufhin der Entscheidung" (387), nämlich das G u t e , behandelt. Wie beim Tod wird auch hier eine Grenzerfahrung sichtbar gemacht, nämlidi „daß menschliches Handeln unter ein letztes richtendes Licht gestellt ist, und dieses Gericht keinem Menschen zusteht" (397). Die dramatische Handlung lebt davon, „daß jedes als verwirklichbar angestrebte Gute von andern Gütern und Werten umgeben, angefochten und relativiert wird" (388). Auch hier lehnt Balthasar eine Entgegensetzung von rein-subjektiver und rein-objektiver Wertordnung ab und sucht eine Lösung „in jener Verflechtung beider Gesichtspunkte, die sich aus der Mitmenschlichkeit, dem dialogischen Charakter des Daseins ergibt" (389). I n diesem Zusammenhang wird eine Bestimmung des Tragischen möglich, die auf der zuvor entwickelten Funktion des Sinnhorizontes aufbauen kann: ausgehend von Leskys Unterscheidung zwischen „tragischer Situation", „geschlossen tragischem Konflikt" und „geschlossen tragischer Weltsicht" verwirft Balthasar letztere als „Selbstaufhebung des Tragischen" (399), deutet den zweiten Begriff in seiner Ausformung im Barockdrama und im Idealismus bis hin zu Hebbel als Ausweglosigkeit auf einer Ebene, aber Darstellung des Untergangs „als Weg zu einer Versöhnung" (399), und

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akzeptiert die „tragische Situation" als Grundlage seiner eigenen Begriffsbestimmung, die er im Anschluß an E. Przywara mit der Todesnacht Christi am Kreuz in Verbindung bringt, um so die Frage, ob es auch im Christentum Tragik gibt, entschieden positiv zu beantworten. M i t dieser Antwort steht er, wie seine Belege zeigen, keineswegs alleine da, doch hat keiner vor ihm eine so solide Basis gefunden, auf der dieser Begriff des Tragischen im Christentum aufbauen kann. An dieser Begriffsbestimmung wird auch die Literaturwissenschaft nicht mehr vorbeigehen können. Die knappen anschließenden Bemerkungen zur Komödie dienen vor allem dem Nachweis der Nähe des Tragischen zum Komischen und zur Erklärung der Entwicklung der Tragikomödie von der Romantik zur Moderne mit dem „Verlust der metaphysischen Dimension" (417). Hier wendet sich der Autor auch gegen die Meinung, das Gericht in den antiken Tragödien baue auf der Ungeschiedenheit „zwischen objektiver und subjektiver Schuld" (425) auf, während „die Moralisierung des Dramas nachklassisch" (427) sei. Dieser Meinung hält er viele Beispiele der Vergegenwärtigung des Gerichts auf der Bühne entgegen, in denen es „auch im christlichen Raum einen umgreifenden Weltzustand (gibt), der etwas mit Schuld überhaupt und somit auch mit der Schuld des Einzelnen zu tun hat, welcher hier mit allen Schuldigen solidarisch ist und seine Schuld und Sühne nicht reinlich aus dem allgemeinen Schicksal herausheben kann" (427). Ein Exkurs über das Verzeihen bei Shakespeare (436 - 449), bei dem „im christlichen Prinzip der verzeihenden Gnade das Gute überwiegt" (449), ohne daß „das Weltgeschehen im ganzen auf eine übersehbare Formel" (449) gebracht würde, schließt den zweiten Teil des Buches. Es konnten hier nur Grundzüge von Balthasars ,Theodramatik' skizziert werden; eine eingehendere Auseinandersetzung mit den Interpretationen der Texte mußte aus Raumgründen unterbleiben. Diese Interpretationen sind in ihrer Gesamtperspektive wie in den Einzeldeutungen so bedeutsam, daß sie zu einem erneuten Lesen der Texte anregen. Sie haben insgesamt eine zweifache Funktion: sie sind Belege, die für die Auffassung Balthasars stehen und somit als Zeugnisse für die Ansicht des Verfassers jenseits aller Diskussionen über die Richtigkeit der Textinterpretation; sie sind aber auch Beispiele für die Rezeption der jeweiligen Texte durch den Interpreten Balthasar und als solche Gegenstand der Auseinandersetzung, die jede Textdeutung bei andern Lesern entfachen kann. Als Theorie wie als Interpretation verdienen Balthasars Gedanken die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft. Es sei abschließend noch ein Wort zur Rolle des Dramatischen innerhalb der Ästhetik und zu dessen Bedeutung für die heutige literaturwissenschaftliche Methodendiskussion gesagt. Was eine Kategorie wie die des Dramatischen in Verbindung mit der Ästhetik bedeutet, kann man vielleicht am ehesten dann ermessen, wenn man sich vor Augen hält, daß es ein Kennzeichen modernen Dichtens seit Baudelaire ist, Poesie und poetologische

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Reflexion miteinander in der Weise zu verbinden, daß große Dichter in der Regel auch große Theoretiker und Kritiker waren. Diese Produktionsund Rezeptionsästhetiken waren nicht nur antiromantisch, sondern vor allem realitäts- und gesellschaftsfeindlich; die Sphäre des Ästhetischen wurde so in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts weithin als Gegen-Welt zur vorhandenen Realität entworfen. Die literaturwissenschaftlichen Schulen vom Russischen Formalismus über die deutsche, von Vossler kommende Stilistik bis hin zu den amerikanischen New Critics sind ein Reflex dieser poetologischen Konzeption der Moderne. Dies hat schon Leo Spitzer klar ausgesprochen: „Les trois mouvements critiques suivent en somme l'esthétique des poètes antérieurs qui semblent s'insérer dans une ligne qui conduit de Poe à Baudelaire, à Mallarmé et à Valéry: l'antiromantisme de ,comment le manteau de Gogol a été fait* suit, en somme, à presque un siècle de distance, l'antiromantisme de Poe expliquant comment il avait fait son ,Corbeau' 12. " Als Reaktion gegen das Artistische modernen Dichtens und als Protest gegen die Schaffung von reinen Artefakten entstand, wohl besonders unter dem Eindruck des zweiten Weltkrieges, eine politisch engagierte und mit sozialer Thematik beschäftigte Literatur, deren Breitenwirkung sich an Brechts Aufstieg messen läßt. Diese Tendenzwende unter den Literaturschaffenden zeitigte ebenfalls Wirkungen auf die wissenschaftliche Rezeption von Literatur. Der Erfolg der soziologischen Methoden verschiedenster Schattierungen, die Auseinandersetzung um den Strukturalismus und die Semiotik sowie die Wiederentdeckung der Rhetorik scheinen mir solche Parallelerscheinungen zu sein. Begnügten sich die vorher erwähnten Schulen damit, das Ästhetische zu betonen und mit der Erklärung des Aufbaus eines Werkes die Deutung abzuschließen, ohne weiter darüber nachzudenken, welche Beziehung dieses jeweilige Werk zur gesellschaftlichen Praxis hat, so besteht heutzutage die umgekehrte Tendenz, das Ästhetische in der gesellschaftlichen Praxis aufgehen zu lassen. Einen vorläufigen Höhepunkt hat diese Entwicklung bei einigen marxistisch orientierten Theoretikern gefunden, die das Phänomen des Ästhetischen mit dem Theorem der Marxschen Religionskritik anzugehen und als falsche Form des Bewußtseins zu entlarven suchen. Auf dem Sektor der Kulturpolitik sei nur noch an die Bestrebungen z. B. der heftig umstrittenen Hessischen Rahmenrichtlinien erinnert, die Literatur einer Form von Praxis unterzuordnen. Angesichts dieser Situation gewinnt Balthasars Versuch, Ästhetik und Dramatik aufeinander zu beziehen, höchste Aktualität. Er stellt das Christliche als eine Möglichkeit hin, ästhetische Qualität des Daseins mit politisch engagierter Mitmenschlichkeit zu verbinden. In seiner Konzeption schließen sich Ästhetik und Dramatik nicht aus, wie heute allenthalben zu hören ist, sondern ergänzen sich.

12 Les études de style et les différents pays, in: Langue et Littérature. Actes du 8e Congrès de la Fédération internationale de langues et littératures modernes, Paris 1961, S. 35.

BUCHBESPRECHUNGEN Traugott Stählin. Gottfried Arnolds geistliche Dichtung. Glaube und Mystik. Veröffentlichungen der Evangelischen Gesellschaft für Liturgieforschung. Herausgegeben von Oskar Söhngen, Heft 15. Göttingen o. J. [1966], Vandenhoeck & Ruprecht. 147 S. Indem Stählin einen Beitrag zur hymnologischen Forschung leisten will, wendet er sich einem Arbeitsgebiet zu, dessen eigentümlicher Reiz und dessen besondere Schwierigkeit darin liegen, daß es mehreren Disziplinen zugehört. Ihr Gegenstand beschäftigt die Theologie wie die Musikwissenschaft, und sie bietet der Germanistik nicht nur literarische, sondern auch vielfältige sprachliche Probleme. Stählins Themenstellung rechtfertigt den Verzicht auf eine Untersuchung der musikalischen Seite. Der germanistischtheologischen Doppelaufgabe aber stellt sich der Verfasser bewußt. Das erweist schon die Formulierung des Titels: „geistliche Dichtungsteht hier für den Gegenstand einer theologischen Dissertation geradezu programmatisch. Es kommt ihrem Autor darauf an, daß er es nicht mit zufällig in Verse gebrachten theologischen Verlautbarungen, sondern mit künstlerischen Gebilden zu tun hat: „Oft ist bisher in den hymnologischen Arbeiten der Tatsache nicht genügend Rechnung getragen worden, daß die theologische Aussage geistlicher Lyrik dichterische Aussage ist, die es nicht theologisch abzuurteilen, sondern in der Bemühung um klare theologische Interpretation und adäquates literaturwissenschaftliches Verständnis zu hören gilt" (8) 2 . Mit dieser Einsicht ist zugleich die besondere Kompliziertheit, die in diesem Grenzgebiet zwischen Germanistik und Theologie waltet, gekennzeichnet: Ist das geistliche Lied für den Germanisten zunächst Gegenstand historischer und ästhetischer Betrachtung, an die sich gewiß auch eine Wertung in aller Vorsicht anschließen mag, so interessiert den Theologen das Kirchenlied vor allem in seiner gottesdienstlichen und frömmigkeitsprägenden Funktion. Damit wird es zum Objekt einer Wertung, deren Maßstäbe die der theologischen Angemessenheit oder gar Richtigkeit, deren Ergebnisse Brauchbarkeit oder Gefährlichkeit sind. Eine solche Einstellung ist gewiß für die praktische Arbeit — etwa die Liedauswahl für ein Gesangbuch — unerläßlich; bestimmt sie aber darüber hinaus weitgehend die Forschung, so sind die Verständnismöglichkeiten von vornherein eingeengt. Demgegenüber stellt Stählins Ansatz, den er offensichtlich seinem theologischen Lehrer und Doktorvater Martin Doerne dankt 3 , eine entscheidende Wendung zum 1 2 3

Die Auszeichnung stammt von mir. Die Auszeichnung stammt vom Verfasser. Vgl. 18, Anm. 9.

18 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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Besseren dar: „Theologische ,Verhöre' ohne Einfühlungsvermögen in die literarisch-dichterischen Zusammenhänge führen nur zu leicht zu Fehlurteilen" (18, Anm. 9). Diese methodische Einsicht wendet Stählin im besonderen auf die Epoche, der der von ihm betrachtete Autor zugehört, an: „Die Dichtung der Barockzeit erfordert ein hohes Maß an Behutsamkeit im Urteil und ein differenziertes Einfühlungsvermögen" (7). Wer sich in den evangelischen Darstellungen zur Geschichte des Kirchenlieds auskennt, merkt, daß hier mehr gesagt ist als eine Selbstverständlichkeit, daß in aller Unauffälligkeit die uneingeschränkte Geltung einer geläufigen Konzeption angetastet sein könnte. Stählin stellt fest, daß die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts sich entfaltende hymnologische Forschung die geistliche Lyrik des 17. und 18. Jahrhunderts auffallend vernachlässigt hat. Er leitet daraus die Wichtigkeit seiner eigenen Untersuchung ab (7), fragt aber nicht nadi dem Grund für die beobachtete Tatsache. Dabei könnte es sein, daß die Feststellung dieses Grundes zugleich den Schlüssel für jene Art theologischen Aburteilens bietet, gegen die Stählin sich mit Recht wehrt. Es fällt nämlich auf, daß derartige negative Gutachten nie dem reformatorischen Lied gelten, sondern recht eigentlich bei der Betrachtung des barocken Liedguts einsetzen. Es tritt folgende Grundanschauung zutage: das Lied der Reformatoren erscheint als unantastbare Norm, was sich dann in der Geschichte des Kirchenliedes vollzogen hat, ist der „Weg eines Abfalls von der Reformation" 4 . Karl Barth sieht die „verborgene Häresie" 5 in dem zunehmenden Gewicht, das der menschlichen Erfahrung mit Gott, dem Gespräch der Seele mit Gött, mit sich selbst oder auch bereits mit einer anderen Seele zugestanden wird 6 . An die Stelle der Anbetung und sachlichen Mitteilung, die das Lied Luthers kennzeichnen7, tritt die sich entfaltende Subjektivität und Innerlichkeit. Diese Beobachtungen sind nach Barth symptomatisch für eine Entwicklung der Frömmigkeit, die er mit tiefer Sorge betrachtete und der sein theologischer Neuansatz entgegentritt. Entsprechende Beobachtungen gelten für andere Objektivierungen der Frömmigkeit, insbesondere für das Gebets- und Erbauungsschrifttum, das seinerseits die geradezu unerschöpfliche Quelle für das barocke Kirchenlied darstellt. Es ist vor allem das Verdienst von Paul Althaus 8 , den Zugang zu diesem fast unübersehbaren Gebiet eröffnet und einen ersten Überblick vermittelt zu haben. Er ist es zugleich, der der Beurteilung die Richtung gewiesen hat: „Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zieht das subjektive Element in die Erbauungsliteratur der evangelischen Kirche ein und beherrscht fortan ihre Gebete . . . Eine bisher unbekannte Christusmystik 4 Karl Barthy Die Kirchliche Dogmatik I, 2, Die Lehre vom Wort Gottes4, Zollikon - Zürich 1948, 280. 5 a.a.O., 280. 6 a.a.O., 276. 7 a.a.O., 275. 8 P. Althaus d. Ä., Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur, Gütersloh 1927.

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breitet sich in den Erbauungsbüchern aus und wird in schwärmerischen Zwiegesprächen mit dem Schönsten unter den Menschenkindern eifrig gepflegt. Die Bilderwelt des Hohenliedes liefert die Elemente dazu . . . Daß diese neuen Gattungen von Gebeten kein bodenständiges Erzeugnis der evangelischen Erbauungsliteratur darstellen, leuchtet unmittelbar ein. Sie sind ihr von außen zugeführt, ihr künstlich eingepflanzt. Es ist mit einem Worte die augustinisdi-bernhardinische Mystik des Mittelalters, die ihren Einzug in die evangelischen Gebetbücher hält 9 ." Hand in Hand mit der richtigen Einsicht in die geschichtlichen Zusammenhänge geht bei Althaus die einseitig negative Wertung des Prozesses, wobei sich — anders als bei Barth — die Mitwirkung einer auch emotional bedingten konfessionellen Vorentscheidung nicht ausschließen läßt. Wie sehr solch verengter Ansatz noch in der jüngeren hymnologischen Forschung nachwirkt, zeigt ebenso erschreckend wie primitiv das 1957 erschienene materialreiche Buch von Ingeborg Röbbelen: ,Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelischlutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts' 10. Da kann man etwa lesen: „Die angeführten Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, wie die Gesangbücher des 17./18. Jahrhunderts in ihrem mystisch gefärbten Liedgut auch die Gottesanschauung nicht ,rein c erhalten haben, sondern an ihrer Stelle ein reichhaltiges Repertoire von scholastischen und mystischen Gottesbildern darboten 11 ;" damit offenbart jene Gesangbuchdichtung — in gleicher Weise wie ihre Vorbilder — ihre bedenkliche Nähe zu römisch-katholischem Denken und römisch-katholischer Lebensfrömmigkeit überhaupt 12 ." Das Stichwort, unter dem der bedrohliche Vorgang zusammengefaßt wird, heißt »„Rekatholisierung* des evangelischen Glaubens und Lebens"13. Dem wird „das reformatorische Erbe in Form einer umfassenden, lebendigen Rechtfertigungsanschauung" 14 als die preisgegebene Norm entgegengehalten. Gegenüber einer derart verfestigten Tradition bedeutet es ein Wagnis, wenn eine Dissertation die Frage nach Glauben und Mystik im Blick auf das Werk eines der ausgeprägtesten barocken Dichter stellt und sich bemüht, diesem Werk als Dichtung und als theologischer Aussage ohne Vorurteil gerecht zu werden. Diese Absicht führt in die historische Betrachtung, zu der ein Gottfried Arnold, der selbst vor allem als Historiker seine Zeit erregt hat 15 , besonders verlockt. ® a.a.O., 60 f.; Die Auszeichnungen des Verfassers wurden nicht übernommen. Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Band 6, Göttingen. Vgl. Stählins Kritik 18, Anm. 9. 11 a.a.O., 281. 12 a.a.O., 384. 13 a.a.O., 399. 14 a.a.O., 304. 15 Vgl. dazu v. a. Hermann Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisdi-historische Klasse Dritte Folge, Nr. 51, Göttingen 1963. 10

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Arnolds wechselvolle Lebensgeschichte16 hat in ihren jähen Wendungen seine Zeitgenossen überrascht, schockiert oder zu begeisterter Zustimmung veranlaßt, wobei die Fronten keineswegs gleichbleibend verlaufen 17. Während der aufsehenerregende Verzicht auf die Professur in Gießen als ein Akt radikaler Weltabkehr von den separatistischen Spiritualisten begrüßt wurde, hat sich Spener besorgt darüber geäußert; die Rückkehr in ein öffentliches Amt mit der Übernahme einer Pfarrstelle hat — zusammen mit seiner Eheschließung — die warme Zustimmung des Kreises um Spener und heftigste Kritik der Spiritualisten von der Art Gichteis hervorgerufen. Dieses Leben hat auch die Forschung vor Rätsel gestellt und Seeberg zu seiner These von einem dreifachen „Bruch" in Arnolds Entwicklung veranlaßt 18 . Dagegen wehrt sich — nicht zuletzt angeregt durch die Ergebnisse von H . Dörries 19 — Stählin: „Dieses These verkennt die Grundstrukturen des Wesens und Lebens Arnolds als eines Menschen der Barockzeit. Antithetik und Paradoxie bestimmen nicht nur die Formgebung und inhaltliche Substanz der Werke dieser Zeit, sondern auch die Existenz und damit den Lebensgang der einzelnen Dichter. Kennzeichen dieser Antithetik ist es aber, daß sie sich durch das ganze Leben hindurchzieht. Es gibt keine Brüche, sondern nur Neuformierungen derselben paradoxen Lebensstruktur. Konkret auf Arnold bezogen heißt das: Radikaler Spiritualismus und gemäßigter Pietismus, humanistische Gelehrsamkeit und mystische Absage an alle weltliche Wissenschaft, evangelischer Glaube und quietistische Vereinigungsbemühung mit der Gottheit bleiben immer dicht zusammen. Es geht nie um völlige Ausschaltung, sondern um das wechselnde Vorherrschen des einen oder andern. Man muß dieses entscheidende Phänomen beachten: wie es in der Barockdichtung . . . nicht um Neuschöpfung, sondern um das Neusetzen von Akzenten geht, so sind das Leben und das Werk Arnolds gekennzeichnet von einem Wechsel im Überwiegen bestimmter antithetischer, paradoxer Grundzüge, die aber in der Struktur immer erhalten bleiben" (23 f.). Seine Einsicht verdankt der Verfasser nicht zuletzt dem Bemühen, Arnold im Zusammenhang seiner Zeit zu begreifen, dem das erste Kapitel ,Zur Dichtung und Theologie im Barockzeitalter' gilt. 16 Unrichtig ist Stählins Angabe: „Im Kirchenbuch der Gemeinde Perleberg ist Arnolds Tod . . . unter dem Datum des 30. Mai 1714 eindeutig eingetragen" (20, Anm. 17). Dazu teilte mir Herr Pfarrer Schneidermann, Krampf er, mit: „Wie Prof. Delius in seinem Beitrag ,G. A. in Perleberg4 (Jb. f. Berlin-Brandenburgische Kg. 43/1968) bemerkt, ist der Tod Arnolds ,nicht in das Kirchenbuch eingetragen* (S. 155), nicht aber als Zeichen einer Nichtachtung, sondern ganz einfach, weil damals in Perleberg kein Sterberegister geführt wurde. Nach einer Pause von 45 Jahren wurde ein solches erst wieder 1640 angelegt, offenbar grollend und wegen der angedrohten 10 Taler Strafe, wie die Eintragung bemerkt. Der Vorsatz hat dann aber nur bis 1653 Wirkungen gehabt, dann setzt wieder eine Lücke ein. Erst 1719 beginnt dann wieder ein Beerdigungsregister, das offenbar vom Küster geführt wurde." 17 Vgl. Stäbliriy 20-26: Zur Beurteilung von Leben und Werk Arnolds. 18 Gottfried Arnold, In Auswahl herausgegeben von Erich Seeberg, München 1934, 6. 19 Vgl. dort S. 24, Anm. 31.

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Nicht minder verdienstvoll ist es, daß eine theologische Untersuchung die beiden folgenden Kapitel der „Literarischen Analyse der poetischen Werke Arnolds" und dem „Problem von Sprache und Mystik bei Gottfried Arnold" widmet, um von dort aus eine methodisch sichere Grundlage für die theologische Deutung zu gewinnen. Man wird es dem Verfasser gewiß nicht verübeln, wenn er sich hier, außerhalb seines eigentlichen Arbeitsgebiets, nicht selbständig bewegt, sondern sich auf die zuständige Fachliteratur verläßt — nicht anders, als es der Literaturwissensdiaftler tun muß, wenn er theologische Voraussetzungen zu klären hat. Besonders erfreulich ist es, daß Stählin die große Bedeutung der Sprache für den Gesamtbereich mystischer Aussagen erkannt und sich deshalb — angeregt durch die Wortschatzuntersuchungen zur Sprache der mittelalterlichen und barocken Mystik — zu einem kurzen Uberblick über den charakteristischen Wortgebrauch in Arnolds Lyrik entschlossen hat. In aller Knappheit gelingt hier eine erste Einordnung in die mystische Tradition. Um das verarbeitete sprachliche Material nutzen zu können, wünscht man sich freilich vergeblich die Angabe von Belegstellen. Daß in diesem für den Verfasser noch fremderen Bereich die Problemstellungen allgemein bleiben, die Behauptungen gelegentlich vereinfacht wirken, kann kaum überraschen. Bedenklicher ist es, wenn aus sprachlichen Befunden unrichtige oder doch voreilige Folgerungen gezogen werden. So heißt es etwa: „Die Sprache Sudermanns steht in engem Zusammenhang mit dem 16. Jahrhundert und trägt noch ganz die Merkmale der voropitzischen Literaturepoche" (63). Unter den Beispielen dafür taucht auf: „Die Konjugation weist alte Formen auf, z. B. statt ,willst': ,wilt'" (63). Ohne es zu bemerken, entkräftet Stählin selbst sein Argument durch ein Zitat aus dem dagegen als sprachlich modern gekennzeichneten Arnold: „Dein Heyl ist nahe / so du es glauben willt" (71). Hat man etwa Mörikes „Herr, schicke, was du willt . . . " im Ohr, so wird einem der ganze Ansatz zweifelhaft. Und tatsächlich hätte sich Stählin durch einen Blick in das ihm geläufige ,Deutsche Wörterbuch' darüber informieren können, daß für die besprochene Zeit wilt noch die allgemein vorherrschende Form ist 20 . Wenn freilich der Titel ,Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm" abgekürzt als ,Das Deutsche Wörterbuch Grimms' (31, Anm. 12) verwendet wird, deutet das zumindest darauf, daß sich der Verfasser in der germanistischen Zitierweise nicht auskennt — wenn nicht eine ähnliche Unbedachtsamkeit vorliegt wie bei der häufig benutzten Namensform Silesius für den Dichternamen Johannes Schefflers; kann man doch schlechterdings nicht annehmen, daß ein lateinkundiger Theologe im Ernst Angelus für einen Vornamen, Silesius für den Familiennamen gehalten habe. Über eine Formulierung wie „Daß Arnolds Substantivgebrauch ganz in der Tradition mystischen Sprachgebrauchs auf Bewegung hinzielt, wird daraus deutlich, daß die Wörter auf -ung substantivierte Infinitive sind" 20

DWB 14, I I , Leipzig 1960, Sp. 1329.

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(32) wundert sich nicht nur der, der in sprachwissenschaftlicher Terminologie zuhause ist. Es handelt sich hier vielmehr um Verbalabstrakta. Das Zitat selbst und der Zusammenhang, in dem es steht, enthalten ein schwierigeres sprachliches Problem. Von J. Quint 2 1 übernimmt Stählin die Beobachtung einer unterschiedlichen Nuancierung der Verbalabstrakta auf -ung und -heit, wobei die Endung -ung insbesondere dem konkreten Einzelgeschehen, dem Gestalt-Werden gelten soll (32). Selbst wenn man berücksichtigt, daß Arnold der Sprache der mittelalterlichen Mystiker, vor allem Taulers und Ruysbroecks, stark verpflichtet ist (32), bleibt doch fraglich, ob eine differenzierte Bedeutung der Suffixe, die sich für das Spätmittelalter, in dem sie eine weithin neue Möglichkeit darstellten, nachweisen läßt, ohne weiteres auf eine so viel spätere Epoche übertragen werden darf, für die sie eine durchaus geläufige und bereits abgegriffene Bildungsweise waren 22 . Sicher wäre es ungerecht, dem Verfasser einen Vorwurf daraus zu machen, daß er hier an die Grenzen seiner Kenntnisse und Übersicht gerät. Vielleicht aber darf man — für diesen wie für parallel gelagerte Fälle — wünschen, es wäre ein kundiger Berater aus dem anderen Fachgebiet um eine Durchsicht des Manuskripts gebeten worden. Ein solcher hätte auch verhindert, daß Meister Eckhart noch nach der längst überholten Ausgabe von Franz Pfeiffer zitiert wird (39, Anm. 40 und Literaturverzeichnis). Freilich zeigt sich, daß es sich Stählin auch dort, wo er sich auf vertrautem Boden bewegt, mit dem Zitieren merkwürdig leicht macht. So geht es z. B. nicht an, eine Textstelle aus Bernhards Predigten über das Hohe Lied ungeprüft in der fast 100 Jahre alten Ubersetzung aus Ritschis ,Geschichte des Pietismus' zu übernehmen und dabei nicht einmal die von Ritsehl genannte Belegstelle anzugeben (28, Anm. 3) 23 . Ein zweiter Teil der literarischen Analyse beschäftigt sich mit den „Hauptlinien der literarischen Beeinflussung Arnolds". Untersucht werden die Einwirkung der Bibel und des von Arnold verehrten und edierten Macarius. Besonders am Herzen liegen dem Germanisten die Verbindungslinien zur mittelalterlichen Mystik, die sich bei Arnold gut erfassen lassen, weil er Ruysbroeck und Thomas a Kempis herausgegeben hat 2 4 und sich über sein Verhältnis zur Mystik des Mittelalters geäußert und es mit seiner lutherischen Rechtgläubigkeit in Einklang zu bringen gesucht hat 25 . Auch 21

Mystik und Sprache. Ihr Verhältnis zueinander. In: DVjs 27, (1953), 72 f. Audi August Langen, der in seiner umfangreichen Untersuchung Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 1968, 381 - 384 auf die Häufigkeit dieser bereits für die Mystik charakteristischen Bildungsweisen aufmerksam madit, geht auf dieses Problem nicht ein; entsprechend in Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Wortgeschichte herausgegeben von Friedrich Maurer und Heinz Kupp , Band I I , 3. Aufl., Berlin 1974 (Grundriss der germanischen Philologie 17/11), 71. 23 Vgl. Albrecht Ritsehl , Geschichte des Pietismus I, Bonn 1880, 49. 24 Eine gute Übersicht über die von Arnold veranstalteten Ausgaben findet sich im Quellen- und Literaturverzeichnis 141. 25 Vgl. 42. 22

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in der weiteren Abhängigkeit von der Mystik des 17. Jahrhunderts, insbesondere Johann Arnds, kann Arnold als beispielhaft für die ganze Epoche der barocken Kirchenlieddichtung gelten, während er die Beeinflussung durch Jakob Böhme nur mit einem Teil der geistlichen Dichter — etwa Angelus Silesius oder Quirinus Kuhlmann — teilt. Die Einordnung in die zeitgenössische Dichtung befriedigt aufs Ganze gesehen. Dagegen ist Stählin in seiner Entdeckerfreude ein wenig waghalsig, wenn es gilt, unmittelbare Abhängigkeiten einzelner Gedichte herauszufinden. So ist die Anknüpfung von Arnolds vielleicht bekanntestem Lied , 0 Durchbrecher aller Bande' an Jakob Böhme nicht überzeugend, und vielleicht hat sie auch Stählin selbst mehr gereizt als überzeugt, wenn er einräumt: „Mag man auch diese ,Zusammenschau' der Sätze Böhmes mit der Dichtung Arnolds verschieden beurteilen" (48). Erst recht gilt der Zweifel der „Abhängigkeit bzw. literarischen Entsprechung", die Stählin für ein Gedicht Dilherrs und eines Arnolds nachweisen will, die beide einem entsprechenden Kupferstich in Dilherrs ,Göttlicher Liebes-flamme' und Arnolds ,Göttlichen Liebes-Funcken' zugeordnet sind (67). So gewiß eine Beziehung der beiden Werke besteht, so wenig läßt sich für die vorgeführten Einzelgedichte eine Beeinflussung nachweisen. Vielmehr ergeben sich die Übereinstimmungen zwanglos aus der ausgedeuteten Stelle des Hohen Liedes26. Wie gut Stählin es versteht, literarische Vergleiche durchzuführen und dem Text seine Nuancen abzulauschen, zeigt sich überraschend aus den in den Anhängen 27 untergebrachten Besprechungen späterer Umdichtungen Arnoldscher Lieder durch Albert Knapp (127) und im Herrnhuter Gesangbuch von 1735 (135 f.). Wie hier beobachtet ist, daß man „sozusagen dem Tier erst die Zähne ausgebrochen" hat, „bevor man es ins eigene Gehege hereinließ", was einem Substanzverlust des Originals gleichkommt (135 f.), ist vorbildlich und anregend für die rechte Nutzung der bisher noch kaum in Anspruch genommenen Möglichkeit, aus den späteren Umdichtungen von Kirchenliedern Material zur Geschichte der Frömmigkeit zu gewinnen. Angesichts des Verständnisses, das Stählin für die typisch barocke „paradoxe Lebensstruktur" Gottfried Arnolds zeigt (23), nimmt es wunder, daß er dort, wo er das eigentliche Thema seiner Arbeit aufnimmt, von einer inneren Einheit der scheinbar auseinanderfallenden geistlichen und theologischen Äußerungen in Arnolds Dichtung doch nicht auszugehen wagt: „Den 26

Das folgende Beispiel ist auch nicht zwingend, aber doch einleuchtender. Anhang I : Die Ausgaben der Dichtung Gottfried Arnolds. Untersuchungen und Notizen zur Bibliographie ist angesichts der schweren Zugänglichkeit der Originalausgaben sehr hilfreich und bietet interessante Einzelergebnisse zu Fragen der Verfasserschaft. Anhang I I : Zur Aufnahme der Lieddichtung Arnolds in die Gesangbuchausgaben seit 1700 ist nicht weniger wertvoll, vor allem, wenn man das gebotene Material für die Geschichte der Frömmigkeit auswertet. Angesichts dieser überaus sorgfältig geleisteten Kleinarbeit wundert man sich, daß der Verfasser nicht auch ein Register beigefügt hat, das die Benutzung seines Buches erleichtert hätte. 27

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Abschluß bildet eine zusammenfassende Besinnung über den Widerspruch in Gottfried Arnolds Denken, der in seiner Übereinstimmung mit den Grundstrukturen der Mystik des Barockzeitalters auf der einen und in seiner tief verwurzelten evangelischen theologia crucis auf der anderen Seite begründet ist" (8), so kennzeichnet Stählin im Vorwort das entscheidende letzte Kapitel seiner Arbeit. Soweit hier mit dem Vorhandensein von zwei Traditionsströmen, die sich mannigfach begegnen, zusammenfließen, dann wieder gesondert erscheinen, zu redinen ist, hat Stählin fraglos recht, und es ist bereits darauf hingewiesen worden, wie die Einwirkung mystischer Gedankengänge auf lutherisch geprägte Frömmigkeit an Arnold geradezu exemplarisch beobachtet werden kann. Wichtig ist auch der Hinweis darauf, daß Luthers Stellung zur Mystik bis heute von der Forschung noch keineswegs geklärt ist (42, Anm. 61). Aber offensichtlich meint Stählin, wenn er vom „Widerspruch" redet, mehr, als daß zwei historisch zu trennende Linien in Arnold zusammenlaufen und nicht zur völligen Deckung gekommen sind: er hält eine innere Einheit von Glauben und mystischer Denk- und Erfahrensweise für objektiv unmöglich, er erkennt einen Gegensatz, der ausschließlich ist und auch nicht in der Weise der Paradoxie zusammenstimmen kann. Und mit dieser Voraussetzung verbindet sich eine abschließende Wertung. Von daher kommt anscheinend die innere Anteilnahme und Unruhe, die man den Überlegungen des Verfassers abspürt: „Jedoch ist die Gefahr eines Abgleitens in eine mystische Relativierung des Schriftwortes zugunsten einer inwendigen Erleuchtung, die letztlich unabhängig von diesem ist, bei Arnold ständig gegeben. Schon allein der ständig wiederkehrende Begriff des göttlichen Funkens in der Seele kann zu einer geistlichen Selbstgenügsamkeit und Überhebung der Seele über das ,äußere' Schriftwort führen, die gnostisch-mystisdien Grundzügen weitaus näher steht als biblischer Lehre. Doch wird man nicht urteilen können, daß Arnold dieser Gefahr ganz erlegen sei, wenn er auch die Akzente nicht nur anders als die Orthodoxie, sondern auch anders als Luther setzt" (73); oder noch radikaler: „vor einer konsequenten Theologie der mystischen Selbsterlösung unter Ausschluß des Christus extra nos hat Arnold [ . . . ] eine theologia crucis bewahrt, die auf der Linie der Theologie Luthers liegt" (100); „Sicher ist er mit seiner Theologie der ,Herwiederbringung' — besonders da, wo er sich auf die Sophia- oder Nichts-Spekulation einließ — [ . . . ] von den Ursprüngen des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens zuweilen weit abgekommen, jedoch ohne sich durchweg von ihnen zu lösen" (114 f.). A l l diesen Feststellungen, die sich leicht vermehren ließen, ist zweierlei gemeinsam: der Autor nimmt eine Art Anwaltstellung für seinen Dichter ein: indem er bemüht ist, ihm ein zutreffendes und gerechtes Urteil widerfahren zu lassen, versucht er zugleich, seine Verwurzelung im rechten Glauben zu betonen. Dabei gibt den Beurteilungsmaßstab die Theologie Luthers, insbesondere die reformatorische Rechtfertigungslehre, ab. Dieser Maßstab hat für den Verfasser absolute Geltung; er wählt ihn also nicht aus historischen Grün-

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den, weil Arnold sich ihm selbst unterworfen wußte und als lutherischer Theologe von seinen Zeitgenossen danach beurteilt wurde. Dabei scheint Stählin zu entgehen, daß diese Art der Ablehnung der Mystik, vor allem wie sie sich aus dem ersten Zitat ergibt, keineswegs allein aus dem theologischen Ansatz der Reformation abgeleitet werden kann, sondern vielmehr der Kritik der mittelalterlichen Kirche etwa an Meister Eckhart gar nicht fernsteht. Aus alledem ergibt sich die Frage, ob, wenn der Verfasser schon Arnold Gerechtigkeit angedeihen läßt, er dasselbe auch mit der Mystik tut. Wenn davon die Rede ist, daß „konsequent mystische Gedankengänge die Substanz der evangelischen, schriftgebundenen Theologie im Pietismus von innen her auszuhöhlen begannen" (13), wenn von „einer der Offenbarung Gottes in Jesus Christus indifferent gegenüberstehenden mystischen Spekulation" (114) gesprochen wird, scheint die Unvereinbarkeit mit dem Glauben evident. Am deutlichsten und zugleich aufschlußreichsten ist die Formulierung: „Versteht man unter Mystik das Streben nach Vereinigung mit der Gottheit unter Verzicht auf die Erlösungstat Jesu Christi und die Offenbarung des göttlichen Wortes in der Schrift . . . " (113). Das Ganze läuft also auf eine Frage der Definition heraus: ist Mystik das, als was sie hier bestimmt wird, bleibt die Folgerung unentrinnbar. Aber ist sie das wirklich, und ist sie ausschließlich das28? An dieser Stelle zeigt sich, daß der Verfasser ungeachtet seines Neuansatzes in der Beurteilung geistlicher Dichtung darauf verzichtet, einen eigenen Versuch der Begriffsbestimmung vorzunehmen, vielmehr mit einem vorgeprägten Verständnis an sein Problem herangeht. Es ist eben ein anderes, mit guten, wissenschaftlich anerkannten Gründen die Einbeziehung literaturwissenschaftlicher Betrachtung für den einzelnen geistlichen Dichter zu verwirklichen, und ein anderes, ein von starken Autoritäten gestütztes, herkömmliches theologisches Urteil allgemeiner Art zu modifizieren. Daß mit diesem Vorverständnis und dem daraus resultierenden Gegensatz zum christlichen Glauben eine sehr ernste theologische Problematik ins Auge gefaßt ist, zeigt etwa Emil Brunners von ihm selbst als „Kampfschrift" 29 deklariertes Buch ,Die Mystik und das Wort'. Die ganze Tragweite der Fragestellung wird deutlich, wenn es dort heißt: „Mystik ist unerlaubte Grenzüberschreitung. Sie überschreitet die Grenze zwischen Kreatur und Schöpfer, zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Ich und Du, zwischen Gott und Seele. Sie überschreitet vor allem jene Grenze, die von dem Cherubim mit dem flammenden Schwert bewacht wird: die Grenze zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen. Die tiefste Tendenz der 28 Unzweifelhaft lassen sich alle hervorgehobenen Züge in mystischem Schrifttum nachweisen. Es fragt sich nur, ob hier nicht eine einseitige Auswahl zugrunde gelegt worden ist, die der sehr viel komplexeren Erscheinung nicht entspricht. 29 Emil Brunner , Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen 21928, I I I .

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Mystik ist die Selbstvergottung. Das ist ihr Frevel und zugleich ihre Phantastik, ihre Trunkenheit. Das ist ihr Mangel an Ernst 30 ." Daß für diese sehr grundsätzliche und beeindruckende Auseinandersetzung der Begriff der Mystik gewaltsam festgelegt worden ist, ergibt sich etwa aus Brunners Überlegung, daß im Neuen Testament der Schein mystischer Züge durch die Verwendung mystischer Terminologie entstehe, daß diese aber etwas ganz Antimystisches meine 31 . Wenn von der „katholischen Glaubenserweichung" gesprochen wird, die das „Mischprodukt: ,christliche Mystik'" in einer Umformung der Rechtfertigungslehre ermöglicht habe 32 , dann zeigt sich, wie auch hier der Ansatz der Reformation zum Maßstab für das, was christlich möglich und nicht möglich sein soll, gemacht wird. Zugleich ergibt sich, daß Stählins Auffassung von der Mystik und ihrer Gefährlichkeit nun doch ganz nahe bei der eingangs gekennzeichneten Haltung etwa von Althaus liegt. Sein unübersehbarer Fortschritt liegt in dem Versuch, Dichtung als Dichtung ernst zu nehmen, ihre mystischen Elemente einzuordnen, den einzelnen Dichter nicht einer Art Lehrzuchtverfahren zu unterwerfen. Gerade gegenüber solchem Fortschritt aber erweist sich, wie stark die Barriere der herkömmlichen Auffassung ist. Es kann hier — von nicht theologischer Seite — gewiß nicht der Versuch gemacht werden, zum Problem selbst etwas beizusteuern, geschweige denn, eine weitherzigere Definition zu finden, die etwa die Tatsache einbezöge, daß christliche Mystiker immer zutiefst darum besorgt gewesen sind, mit dem Glauben in Einklang zu sein. Es können allenfalls Fragen gestellt werden, die sich dem an historischem Denken Geschulten ergeben: ob es etwa angemessen ist, eine Tradition, die viel älter ist als die reformatorischen Gesichtspunkte, allein an diesen zu messen; ob es nicht eher nötig wäre, die ja immer wieder unerläßliche Bestimmung des christlich Möglichen an der ganzen Breite biblischer Aussagen anzusetzen. An der grundsätzlichen Beurteilung der Mystik dürfte sich nicht zuletzt entscheiden, welchen Weg die hymnologische Forschung und die mit ihr verbundene Wertung im Blick auf das barocke und pietistische Liedgut, das den zahlenmäßig größten Bestand darstellt, einschlagen werden. Stählins Untersuchung dokumentiert, was zur Zeit erreichbar ist und welche Grenzen überkommener Einschätzung ein unbefangenes und sachgerechtes Urteil nach wie vor erschweren, wenn nicht gar verhindern. Waldtraut

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a.a.O., 396.

a.a.O., 386 f. a.a.O., 388.

Ingeborg Sauer-Geppert, Köln

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Gottfried Benn. Den Traum alleine tragen. Neue Texte, Briefe, Dokumente. Hrsg. v. Paul Raabe und Max Niedermayer. Wiesbaden 1966, Limes Verlag. 252 S. 1 Benn schrieb am 31. Januar 1956 einen Brief an die Akademie der Künste in Berlin, um seine Mitgliedschaft niederzulegen. Er wollte dadurch den zu seinem 70. Geburtstag am 2. Mai geplanten Feierlichkeiten entgehen. „Ich finde diese zur Gewohnheit gewordene Feierei aller Geburtstage vom 60. bis 90. Lebensjahr im Abstand der Lustren ganz absurd . . . " (S. 248)1. In gleichem Sinne bat er seinen Verlag (Limes), von einer Festschrift Abstand zu nehmen. Gegen solche Huldigungen hatte Benn seine Einwände: „ . . . diese Festschriften, die ja doch nur Familienherbarien und Poesiealben sind, vielfach persönlichprivat bis zur Peinlichkeit" (S. 248). Sein Verlag nahm auch 1966 Abstand von einer Festschrift zum 80. Geburtstag und 10. Todestag des Dichters. ,Den Traum alleine tragen' 2 ist weniger ein Buch ü b e r Benn als eines v o n Benn. Es enthält vor allem unbekannte Briefe 8 aus verschiedenen Phasen seines Lebens, insbesondere aus den Jahren 1933 - 1937, Erinnerungen von Personen, die ihm in einem bestimmten Lebensabschnitt nahestanden, und verstreute, bisher nicht wieder veröffentlichte Texte. Vorgestellt werden die „Neuen Texte, Briefe, Dokumente" durch erläuternde Beiträge oder einleitende Anmerkungen von verschiedenen Autoren. Gegen die Edition des Sammelbandes lassen sich verschiedene Einwände erheben. Uber Auswahl, Anordnung und Drucklegung des im wesentlichen biographischen Materials und über die Absicht der Herausgeber, mit der Zusammenstellung „Zug um Zug ein Portrait Gottfried Benns" (S. 5) entstehen zu lassen, informieren „Geleitwort" und Editionsbericht. Methodisch durchgeführt wird diese Absicht — wie die Herausgeber ausdrücklich vermerken — durch chronologische Anordnung der Zeugnisse, was jedoch bei der spezifischen Art des Sammelbandes, der weder eine Festschrift noch eine gewöhnliche Sammlung von Selbstzeugnissen sein will, sehr problematisch erscheinen muß, um so mehr, als die zeitliche Reihung nicht konsequent durchgeführt wurde. Die chronologische Anordnung der Zeugnisse ist nur im äußeren Aufbau der Sammlung in eine frühe, mittlere und späte Lebensphase Benns weitgehend erreicht, aber nicht in der Folge der einzelnen Dokumente. In dieser Darbietung ist das Material nur schwer als Arbeits1

Die Seitenangaben beziehen sich auf das vorliegende Buch. Der Titel ist ein Vers aus Benns Gedicht „Auf deine Lider senk ich Schlummer" von 1936, in: Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. Dieter Wellershoff, 1958 61, Bd. I I I , S. 138. Es besteht ein inhaltlicher Bezug von diesem Gedicht zu den hier vorgelegten Selbstzeugnissen, vor allem zu Benns Briefen an die ihm nahegestandenen Frauen. 3 u. a. an Else Lasker-Schüler (5 Briefe), Tilly Wedekind (32), Käthe von Porada (33), Ellinor Büller-Klinkowström (37), Marguerite Schlüter (34). 2

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grundlage zu verwenden, sondern mehr als eine anregende Lektüre zu lesen. Vermerkt sei auch, daß für den späten Benn eine gewisse Beliebigkeit in der Auswahl der Zeugnisse, die nur des Datums wegen ihren Platz einzunehmen scheinen, festzustellen ist. Die vorgebrachten Einwände sind um so mehr berechtigt, als die Herausgeber auf die Edition ausdrücklich Wert legen: „Diese Folge der Dokumente läßt die Biographie des Dichters deutlicher werden als in irgendeiner bisherigen Veröffentlichung" (S. 6). Der Band ist mit wichtigen Fußnoten von Marguerite Schlüter versehen4. Außerdem sind ein Namensverzeichnis und verschiedene Faksimile beigefügt. 2 Wer sich von dem Sammelband eine Sensation erwartete, ist enttäuscht. Er erhellt weder die Hintergründe von Benns Verhalten zu Beginn des Dritten Reiches5 (wahrscheinlich gibt es keine weiteren Hintergründe), noch finden sich in den Briefen wesentliche Äußerungen Benns über sein dichterisches Werk, über poetologische Fragen der Kunst und des Künstlers 6. Dankenswert ist der Band dennoch als Ergänzung und Bestätigung des schon weitgehend Bekannten. Hinzuweisen ist auf einen Brief an K. v. Porada, in dem sich Benn gegen das „Machen" eines Gedichts wendet: „Eine meiner Lieblingsstellen von mir ist jenes Sopransolo im 1. Teil des Oratoriums 7 . . . So was kann man nicht machen, so was entsteht " (S. 121 f.). Diese Aussage steht im Gegensatz zu den meisten, mehr provokativ-überspitzten Äußerungen Benns wie z. B. in ,Probleme der Lyrik': „Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten — ein Gedicht wird gemacht."8 In einem anderen Brief beruft sich der Dichter auf eine ihm nicht verfügbare Eingebung: „Könnte ein Gedicht werden, wenn ich noch einige Reihen weiter so dunkel u. in solcher Höhe halten könnte9. Muß abwarten" (S. 188). Wie sehr Benn unter einem inneren Zwang zum Schöpferischen, dem er sich bereitwillig auslieferte, ja den er sogar förderte, stand, geht aus einem Brief hervor, in dem er sich zu seinen expressionistischen Dichtungen äußert: „Stehe vor Rätseln? Das war drin in mir? Mußte raus, Wort werden, galt als Schöpfung. Was für ein Inferno! . . . Vernichtung, weil man selbst vernichtet würde. Was für ewige Gereiztheiten in meinem Kopf, Spüren nach Kunst, Ausdruck, Spannung, 4

Die Fußnote 12a zu S. 127 steht auf S. 148. Siehe S. 14 ff. dieser Besprechung. Über seine Dichtungen: 9.7.33 (S. 121 f.), 22.2.36 (S. 180 f.), 2.2.37 (S. 187 f.) und die Briefe an M. Schlüter (S. 224-245). Über Formprobleme: 24.4. 35 (S. 164 f.), 22. 2. 37 (S. 192 f.). Über Nihilismus: 22. 2. 37 (S. 192 f.). 7 Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. Dieter Wellershoff (1958 - 61), Bd. I I I , S. 142 ( = GW). 8 GW I, S. 495. 9 Bezieht sich auf ein bisher nur in ,Zweiundzwanzig Gedichte' 1943 als Privatdruck erschienenes Gedicht ,Die Gefährten' (1937). 5

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Uberspannung bis zum Lächerlichen . . . mein Gott, was habe ich midi gepreßt u. massakriert u. erniedrigt u. gepeitscht, um Kunst zu machen, um zum letzten erfühlbaren Ausdrude zu kommen. Die Sonntage mit Hunger u. Kaffeetrinken bis zum Taumeln, die Nächte vielfach verbummelt, um noch müder, depressiver, mürber zu sein" (S. 180). Für Benns Beurteilung anderer Künstler und ihrer Werke, ist der Sammelband eine instruktive Quelle. (Siehe Namenverzeichnis, S. 250 f.). Er äußert sich u. a. über Stifters ,Nachsommer' („Darin [ . . . ] ist Harmonie und Ruhe", S. 47), über Goethe, Kleist, Fontane, Storm („Die Prosa war immer sehr sentimental, verschwimmend deutsch", S. 169), Gottfried Keller („Hat mich bezaubert . . . " , S. 197), Nietzsche, Heinrich Mann, A. Mombert, Wilhelm Lehmann („Kein konstruktiver, sondern ein ethischer Geist. Nichts Formales, also nichts Geniales"10, S. 127), Valery („Dann ist seine Lyrik etwas überraschend u. geistvoll, kapriziös u. enthüllt eigentlich nur altmodische Seelenrestbestände", S. 129), über Tolstoi's »Krieg und Frieden' („Ein großartiges Werk", S. 193), über Thomas Wolfe, Faulkner, Perse und Max Beckmann. Man erfährt auch aus einem Brief an Marguerite Schlüter vom 4. 2. 55 (S. 233 f.), daß Benn sich in dieser Zeit für eine Schillersendung im Stuttgarter Rundfunk mit einer Arbeit über „Schiller als Lyriker" beschäftigte, die jedoch unvollendet blieb 11 . Aufs Ganze gesehen ist der poetologische Ertrag aus den vorliegenden Selbstzeugnissen gering. Die Sammlung unterscheidet sich dadurch von den „Ausgewählten Briefen" von 1957. Auch was an „Neuen Texten" — es sind keine Erstveröffentlichungen 12 — vorgelegt wird, ist nicht gewichtig, da auch sie nur das schon Bekannte ergänzen. Harald Steinhagen stellt ein vergessenes frühes Gedicht,Herbst' (S. 7 - 1 0 ) vor, das vermutlich vor dem ,Morgue'-Zyklus entstanden ist, da es noch ganz dem traditionellen Typus stimmungshafter Naturlyrik, entsprechend den beiden bekannten Gedichten ,Raureif' und ,Gefilde der Unseligen'13 von 10

Um diese sdiarfe Beurteilung in ein milderes Licht zu rücken, haben die Herausgeber noch einen Brief Benns an Lehmann vom 8. 5. 56 (S. 148) dem Band hinzugefügt. In diesem Brief ist mit der Bezeichnung der beiden Lyriker als „Antipoden" der grundlegende Unterschied zwischen Ausdruckskunst und Gegenstandskunst gut gekennzeichnet. Vgl. dazu H . Kunisch, Die deutsche Gegenwartsdichtung. Kräfte und Formen, München 1968, S. 76 - 86; 98 - 104. 11 Näheres darüber zu erfahren, wäre wünschenswert. Zu Benns Verhältnis zu Schiller vgl. noch seine Antwort auf eine Umfrage nach „drei Lieblingsgedichten" (1953), in: GW IV, S. 320 - 328. Er zählt dort zu den Gedichten, „die ich während meines Lebens immer wieder gelesen und immer wieder bewundert habe, zu denen meine Gedanken und Studien in den verschiedensten Situationen zurückkehrten" Schillers Gedicht Das Glück. Siehe auch H. Kunisch, Erinnerung und Besinnung, in: Dank an Werner Bergengruen, Zürich 1962, S. 32, wo von einem gemeinsam von so verschiedenen Dichtern wie Benn und Bergengruen geäußerten Bekenntnis zu Schillers Lyrik berichtet wird. 12 Ein erstveröffentlichter Text ist das Brief gedieht auf S. 130. 13 GW I I I , S. 349 - 50.

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1910, angehört. Das Gedicht erschien am 1. 12. 1912 in der Sonntagsbeilage der Königsberger Hartungschen Zeitung (Nr. 564) in einer Sammlung Junge Dichtung* von Walther Heymann mit weiteren Gedichten von neun Autoren u. a. von Max Dauthendey, Oskar Loerke, Reinhard Johannes Sorge, Hans Carossa und Wilhelm von Scholz. Auf eine Kindheitserinnerung Benns an seine „über alles zärtliche und treue Mutter" macht Wulf Segebrecht aufmerksam. Die kleine Skizze, ,Die liebe Fremde* (S. 149- 155) betitelt, erschien am 26.11. 1933 zum Totensonntag im Berliner Lokal-Anzeiger unter der Gesamtüberschrift „Das Bild meiner Mutter" mit weiteren Beiträgen von Peter Dörfler, Werner Beumelburg und Gustav Frenssen. Sie gehört in den Zusammenhang von Benns Aufzeichnung ,Erbmasse*14 im ,Lebensweg eines Intellektualisten* (1934), in die er auch einige Passagen daraus übernahm (Vgl. Fußnote 15, S. 154). Ein Hinweis Benns auf die Erinnerungsskizze findet sich in einem von Segebrecht erwähnten und teilweise abgedruckten Aufsatz ,Das deutsche Pfarrhaus. Eine >erbbiologische< Studie* vom 30.3.34 in der genannten Zeitung. Nach Segebrecht stellt diese Studie ein „Konzentrat" des vorangegangenen Essays ,Der deutsche Mensch. Erbmasse und Führertum* 15 dar. Dieter Wellershoff stützt sich bei seinem Abdruck dieses Essays einzig auf den Erstdruck, den er jedoch ungenau wiedergibt. Segebrecht hat in Anmerkungen zu einem Vorabdruck 16 von ,Die liebe Fremde* auf verschiedene Varianten hingewiesen und außerdem zu einem Textvergleich mit Benns Pfarrhaus-Studie aufgefordert. Dies veranlaßte ihn jedoch nicht, die ,Neuen Texte* mit einem vollständigen Abdruck der Studie zu bereichern. 3 Es ist für das Buch ,Den Traum alleine tragen* kennzeichnend, daß die Herausgeber nicht einfach eine Edition von unbekannten Texten und Briefen beabsichtigten, sondern eine Sammlung von Selbstzeugnissen und Erinnerungen vorlegen wollten, die einen Beitrag zum Leben und zur Person des Dichters liefern. Es ist gerade das Besondere des Sammelbandes, daß auf Grund von unbekanntem Material und durch dessen Anordnung ein Gesamteindruck von der Persönlichkeit Gottfried Benns vom Beginn seines künstlerischen Aufstiegs bis kurz vor seinem Tode vermittelt wird. Das Leben des Dichters wird durch Zeugnisse belegt, die von seinen ersten dichterischen Versuchen bis zu einem späten Brief des Autors von 1956 reichen. Der frühe

Benn

Für Benns früheste dichterische Zeugnisse macht H . Steinhagen mit dem Gedicht ,Herbst* bekannt, das gerade durch seine Traditionsgebundenheit 14 15 16

GW IV, S. 19 - 29. G W I , S. 223-231. Der Monat Jg. 17, H. 205, Okt. 1965, S. 90 - 93.

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den revolutionären Durchbruch des Künstlers zu einem eigenen Stil mit den ,Morgue'-Gedichten (1912) deutlich hervorhebt. Diese neun Gedichte17, die den Ruhm des Lyrikers begründeten, lösten beim Publikum einen Sturm der Entrüstung aus, was die Veröffentlichung von Benns frühen Werken bei einem größeren Verlag erschwerte. Über Benns Verhältnis zu seinen Verlegern in der Zeit des Expressionismus berichtet Paul Raabe Einzelheiten in dem Beitrag ,Der frühe Benn und die Veröffentlichung seiner Werke 4 (S. 11 - 38) 18 . Er stützt sich dabei auf verschiedene Briefe des Dichters, vor allem an A. R. Meyer, Kurt Wolff und Albert Ehrenstein, der vorübergehend im Kurt Wolff-Verlag als Lektor tätig war. Wie aus einem Brief an Albert Ehrenstein vom 22. 4. 16 hervorgeht, wandte sich Benn nach der Veröffentlichung der ,Morgue' bei A. R. Meyer mit einem „Manuskript Gedichte"19 an Kurt Wolff. Dieser sandte es ihm „mit 3 kühlen Zeilen, daß jedes Interesse für meine Person ihm fernläge" (S. 24) zurück. Eine Begründung für die Ablehnung gibt der Verleger später selbst: „ . . . diesen Benn durfte ich hier nicht zwischen Kafka und Trakl einreihen" 20. Er war ihm vermutlich zu ungestüm. Mißmutig übergab Benn das Manuskript A. R. Meyer: „Hier ist der Schund. Taugt nichts. Gibt eine Pleite" (S. 18). Einzig mit den Novellen ,Gehirne' (1916) 21 gelang es, vor allem durch die Fürsprache Ehrensteins, Kurt Wolff für Benn zu gewinnen. Ein Brief an den Verleger vom 6. 1. 17 (S. 27) läßt darauf schließen, daß es jedoch zwischen beiden erneut zu Unstimmigkeiten wegen des frühen ,Morgue'-Gedichts ,Blinddarm' 22 kam, was Benn dann veranlaßte, sich nicht mehr an den Verleger zu wenden. Benns Radikalität, mit der er seine geistige Position schon zu Beginn seines dichterischen Schaffens künstlerisch zu verwirklichen suchte, brachte ihm stets Ablehnung und Angriffe ein und bestimmte weitgehend ein Bild von der Person des Autors als eines zynischen Menschen- und Lebensverächters. Wie anders war der Eindruck von Benn in der persönlichen Begegnung! Ein besonders aufschlußreiches Dokument für die Persönlichkeit des Dichters in den zwanziger und anfang der dreißiger Jahre stellen ,Meine Begegnungen mit Gottfried Benn' (S. 39 - 60) 23 von Nico Rost dar. Der niederländische Verfasser ist Journalist, Schriftsteller und Ubersetzer und stand in der Zeit seiner Begegnung mit Benn den sozialistischen Schriftstellern Egon Erwin Kisch und Johannes R. Becher und der linksorientierten 17

GW I I I , S. 7 - 10, 14 - 16, 18 - 19, 351 - 52. Angemerkt sei, daß Wellershoffs (sowie Lohners u. Wodtkes) Angabe der Erstveröffentlichung von ,Die Phimose* ( = ,Querschnitt') in Die weißen Blätter V, 3, 1918 (GW I I , S. 461) durch Raabes Jahresangabe — März 1919 — korrigiert werden muß. Im März 1918 erschien gar kein Heft der Zeitschrift! 19 Es handelte sich um die Gedichtsammlung ,Söhne' (1913). 20 Kurt Wolff , Autoren. Bücher. Abenteuer. Betrachtungen und Erinnerungen eines Verlegers. Bln. 1965, S. 24. 21 GW I I , S. 13-60. 22 GW I I I , S. 351 f. 28 Die Aufzeidinung ist einer größeren, noch nicht erschienenen Arbeit über Benn entnommen. 18

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Monatsschrift ,Die neue Bücherschau' nahe. Durch Carl Einstein lernte er Benn, den er schon früh bewunderte, kennen und es ergab sich ein reger Gedankenaustausch, insbesondere über die damals aktuelle Frage nach der Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft, worüber zwischen Benn und den sozialistischen Schriftstellern ein literarischer Kampf entbrannte. Nico Rost gibt eine verständnisvolle, aber zugleich kritische Deutung der Person Benns. Ihn interessieren die menschlichen Voraussetzungen des berühmten und berüchtigten Verfassers der ,Morgue' und des Verfechters einer extremen geistigen Position in den literarischen Kontroversen. Rost kommt zu der Feststellung, Benns „brutale Offenherzigseit" in den frühen Gedichten beruhe auf „einer tief verzweifelten Widersetzlichkeit über so viel soziales Elend, dem gegenüber er sich machtlos fühlte" (S. 41 ff.). Er bezeichnet den Dichter als „Rebell", als einen im Grunde „sozialen Dichter", als einen „Humanisten im wahrsten Sinne des Wortes". Er lernte Benn als die „Freundlichkeit in Person" kennen, als einen Menschen, der im unmittelbaren Umgang mit anderen stets helfend zur Stelle war, der aber unzugänglich und abweisend wurde, wenn man an den Künstler appellierte, sein Wort in den Dienst eines außerkünstlerischen Engagements zu stellen. Benns kompromißlose Haltung, die er in Fragen der Kunst und des Künstlers einnahm, drängte ihn, wie Rost feststellte, schon vor 1933 unweigerlich in die Isolation und Einsamkeit. Auch Rost brach nach dem Skandal um Benns ,Rede auf Heinrich Mann' 2 4 1931 den Kontakt ab. Wie vorbehaltlos Benn Mensdien gegenüber war, die ihm nahestanden und die er schätzte, zeigt sich deutlich in seinem Verhältnis zu Else LaskerSchüler. Der Dichter hatte anfangs nur wenige Bewunderer, die seine künstlerische Fähigkeit spontan erkannten. Zu ihnen gehörte vor allem Else Lasker-Schüler, die Benn schon sehr früh persönlich durch seinen Verkehr mit Herwarth Waiden kennenlernte 25 und der er zeit seines Lebens große Anerkennung und Verehrung entgegenbrachte. Bekannt ist seine ,Rede auf Else Lasker-Schüler' 26 von 1952. Paul Raabe legt nun unbekannte Dokumente vor, die „Gottfried Benns Huldigungen an Else Lasker-Schüler" (S. 61 - 79) bezeugen. Es sind neben Widmungen Briefe von 1931 - 1932 an die Dichterin. Außerdem ist der einzig erhaltene Brief von ihr an Benn, vermutlich von 1918, wiedergegeben (S. 64) 27 . Der Dichter widmete „der größten Lyrikerin, die Deutschland je hatte" 28 , sein zweites Gedichtheft ,Söhne' (1913) mit den Zeilen: „Ich grüße Else Lasker-Schüler: / ziellose 24

GW I,S. 410-18. Näheres in Paul Raabes Beitrag Der frühe Benn und die Veröffentlichung seiner Werke, S. 12 ff. 26 GW I, S. 537 - 40. 27 Bekannt ist ihr Gedichtzyklus Gottfried Benn von 1917 (jetzt in Sämtl. Gedichte, Mchn. 1966, S. 121 - 131). Inzwischen sind weitere Briefe von Else LaskerSchüler an Benn bekannt geworden, s. Else Lasker-Schüler, Briefe, hrsg. von Margarete Kupper, 2. Bd., München 1969. 28 GW I, S. 538. 25

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Hand aus Spiel und Blut." Raabe verifizierte die Widmung als ein Zitat aus Else Lasker-Schülers Briefroman „Mein Herz" (1912). Dort heißt es: „Was er wohl von meiner ziellosen Hand aus Spiel und Blut denkt?" 29 Auch das Oratorium ,Das Unaufhörliche' (1931) 80 widmete Benn der Freundin: „Else Lasker-Schüler, dem großen lyrischen Genie in Freundschaft u. Verehrung." Die Briefe an sie — es sind insgesamt fünf — enthalten meist nur wenige Worte: Einen freundschaftlichen Gruß und eine Verbeugung vor dem künstlerischen Werk der Dichterin. Benn spricht sie mit „Lieber teurer Prinz" oder „Liebster Prinz, ehrfürchtig bewunderter Präsident" an. Else Lasker-Schüler nannte sich selbst „Prinz Jussuf von Theben" und galt für Benn wohl als der heimliche Präsident der Dichter. Die Briefe schließen mit: „Immer Ihr Bewunderer u. Verehrer", „Immer Ihr Genosse u. ergebener Freund u. Verehrer" oder „Ihr Diener". Der persönlichste Ausdruck für Benns freundschaftliche Verbundenheit mit der 17 Jahre älteren Frau findet sich in einem Brief vom 17.12. 31 (S. 74). Er ist ein Zeugnis sowohl für Benns menschliche Größe als auch für seinen zeitweiligen Irrtum im Hinblick auf die Ereignisse der kommenden Jahre. Der Dichter bekennt sich in der Erinnerung an die Wiederkehr von Paul Schülers31 Begräbnis mit der geistigen Weggefährtin verbunden und bietet ihr für die „kommenden Zeiten", denen die jüdische Künstlerin schon besorgt entgegensieht, seine uneingeschränkte Hilfe an: „Aber wenn Sie je in kommenden Zeiten meiner bedürfen, so wissen Sie, daß ich Tag u. Nacht zu Ihrer Verfügung stehe, auch meine Wohnung für Sie offen ist u. mein Essen u. Trinken Ihnen mit gehört." Benn versteht ihre dunklen Ahnungen und versucht die Freundin zu trösten: „Aber selbst reden ist heute schwer . . . Aber es wird bestimmt nicht so schlimm kommen, wie manche denken, seien Sie nicht unruhig." 1933 mußte Else Lasker-Schüler Deutschland verlassen und Benn legte ein Bekenntnis für die neuen Machthaber und gegen seine emigrierten Freunde ab. Es dauerte nicht lange, bis Benn selbst zu den Verfolgten gehörte und seine Form der Emigration wählte. D e r m i t t l e r e B e n n (1933 - 1945) Für diesen Lebensabschnitt Benns, insbesondere für die Jahre 1933 - 1937, sind die Briefe 32 an Käthe von Porada (von 1933) und an Tilly Wedekind und Ellinor Büller-Klinkowström (vor allem von 1935 - 1937 aus Hannover) besonders hervorzuheben. Sie sind das umfassendste und wohl auch bedeutendste Dokument des Sammelbandes, vor allem für die äußere und innere Lebenssituation des Dichters in diesen Jahren. Die Briefe sind meist spontan, tagebuchartig und in einer Sprache geschrieben, die nur selten von 29 Else Lasker-Schüler, Ges. Werke Bd. 2 „Prosa u. Schauspiele", München 1962, S. 358. 30 ' GW I I I , S. 141 ff., 476 ff. 81 Else-Lasker-Schülers Sohn (1899 - 1927). 32 Einzelbesprechung auf S. 14 ff. unter (a), (b), (c).

19 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 15. Bd.

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der „Mitteilung" in den „Ausdruck" hinübergleitet; sie sind von einer liebenswürdigen Intimität und Offenheit, ja bisweilen bis zur Peinlichkeit, nicht zuletzt dadurch, weil sie an Frauen gerichtet sind, für die Benn Zuneigung empfand. Völlig unverstellt und freimütig berichtet er von seinem Alltag, seinen Stimmungen, Gefühlen, Gedanken und Konflikten. Zum Beispiel: „Ging dann um 4 aus. Vom Vormittag an hatte es leicht geschneit . . . Ging in Gummischuhen, Pelz, langsam, vorsichtig, verfeinert" (S. 178). Diese und ähnliche Zeilen zeigen deutlich wie sich zuweilen dem Briefschreiber in einer banalen Mitteilung in der Wahl und Anordnung der Worte die lyrische Form aufdrängt, Mitteilung in Ausdruck übergeht. Man erinnert sich an das zur gleichen Zeit entstandene Gedicht ,Valse Triste' (1936) 33 mit dem Anfangsvers „Verfeinerung, Abstieg, Trauer —". Es gibt kein mit diesen Briefen vergleichbares Zeugnis von Benn für sein innerstes Bedürfnis nach einem Du gegen die ihn bedrängende Schwermut und Einsamkeit. Er spricht selbst in einem Brief von seinem „Bedürfnis nach etwas Gespräch u. Nähe" (S. 101). Wie sehr Benn in diesen Jahren an einer teils selbst gewählten teils durch äußere Umstände ihm auferlegten Isolation litt, läßt sich in fast allen Briefen den vielen Äußerungen über seine innere Verfassung entnehmen: „Ich lebe so vollkommen isoliert u. für midi . . . " (S. 123) Oder: „Die Isolierung hier, die innere u. äußere, hat Formen angenommen, die krankhaft sind u. mich auch in geistiger Hinsicht lähmen" (S. 101). In dieser Lage wünschte Benn nichts mehr als den persönlichen Kontakt zu einem Menschen, der ihm etwas bedeutete. Dies erklärt auch die Tatsache, daß der Dichter in diesen Briefen nur selten auf sein künstlerisches Schaffen oder auf Probleme der Ausdruckswelt zu sprechen kommt. Das mitteilende, informierende Wort, die inhaltliche Aussage ist entscheidend, das Ansprechen eines Du und nicht der Ausdruck eines monologisierenden Ichs. In den privaten Beziehungen gibt sich Benn sehr gesprächig, liebevoll besorgt und an allem Persönlichen interessiert; es gibt nichts, und sei es noch so banal und alltäglich, was nicht seine Aufmerksamkeit erregte: „ . . . kürzlich fiel mir ein, daß ich gar nicht wußte, was für Schuhe Sie eigentlich trugen, sonst weiß ich alles" (S. 121). Benns „großes Anmutsbedürfnis" (S. 130), von dem er selbst spricht, drückt sich vor allem in den zärtlichen Anreden und Huldigungen, in der herzlichen Teilnahme seiner Äußerungen aus. Dem Charme des privaten Benn wird man sich kaum entziehen können. K. v. Porada widmet er ein kleines Gelegenheitsgedicht, auf die Farbe ihres Kleides, das bei allem spielerischen Reiz Benns typische lyrische Diktion verrät, besonders von der fünften Zeile an. Das Gedicht ist der einzige erstveröffentlichte neue Text in dem Sammelband (S. 130).

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GW I I I , S. 72 f.

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(a) Briefe an Käthe von Porada Mit besonderer Aufmerksamkeit wird der an der politischen Vergangenheit Benns Interessierte die Briefe aus dem Jahr 1933 an Käthe von Porada lesen. Die Adressatin war anfang der dreißiger Jahre Mode-Berichterstatterin für die Frankfurter Zeitung in Paris und verkehrte in dem Kreis um James Joyce und Eugen Jolas. Jolas gab eine Zeitschrift transition u heraus, in der neben Namen wie E. Hemingway, J. Joyce, P. Picasso, P. Eluard, A. Breton, E. Lasker-Schüler auch Gottfried Benn vertreten war, der in dem Pariser Freundeskreis sehr verehrt wurde, über dessen Verbleib im Nazi-Deutschland man jedoch verwundert war. K. v. Porada wurde im Sommer 1933 beauftragt, Näheres über Benns politische Ansichten in Erfahrung zu bringen. Sie suchte den Dichter in Berlin auf. Es ergab sich eine freundschaftliche Beziehung, die in einem Briefwechsel ihren Ausdruck fand. Dreißig Briefe Benns vom 4. 7. 33 bis 9. 12. 33 und einige aus den Jahren 1952 - 1956 sind in dem Sammelband veröffentlicht. Die Adressatin berichtet in einer Einleitung von ihrer ersten Begegnung mit dem Dichter. Die Briefe sind in einer Zeit geschrieben als Benn den Nationalsozialisten in verschiedenen Aufsätzen 35 seine Zustimmung, zumindest im Grundsätzlichen, noch bekundete. Nur eine einzige Äußerung in den Briefen bezieht sich auf diese Arbeiten. Er schreibt am 24. 8. 33: „Hier gehts so so la la. Habe ein paar Aufsätze verfertigt für Zeitschriften, die gut zahlen, läppisches Zeug" (S. 136). Wie wenig er selbst von seinem Engagement zu dieser Zeit schon hielt, geht auch aus einer Äußerung hervor, die sich auf eine plötzlich untersagte Lesung seiner Gedichte im Rundfunk bezieht: „Wahre Ursache, von mir erwartet: wegen Defaitismus! Ich bin sehr froh darüber, es gehört wirklich nicht ins Aufbauprogramm!" (19. 9. 33 / S. 140). Wie einem anderen Brief zu entnehmen ist, sagte Benn eine Lesung in der Literarischen Gesellschaft in Augsburg ab; er schreibt dazu: „Hier wehte aus den Briefen so viel Bildungsdrang u. Aufbauwillen, daß mir schlecht wurde bei dem Gedanken, den Abend hinterher mit ihnen verbringen zu müssen" (9. 10. 33 / S. 141). Aus den wenigen Äußerungen, die sich auf Benns politisches Engagement beziehen, gewinnt man den Eindruck einer zunehmenden Ratlosigkeit und Unsicherheit, der er einerseits durch äußeres Taktieren und andererseits durdi Zurückwenden auf seine „innere Wirklichkeit" Herr zu werden suchte. „Ich bin weder grausam noch romantisch, nur ohne Illusionen, vor allem über mich selbst. Abschätzen von Entfernungen, Auskalkulieren jedes Milimeters, Exaktheit selbst in Wünschen u. Träumen, gerade in ihnen: dies Prinzip des Artistischen im hohen Sinn, gilt für mich seit Jahren auch im Leben" (20. 7. 33 / S. 125 f.). Und in einem anderen Brief: „ . . . aber ich bin mehr als je ganz auf die innere Wirklichkeit 54

Erschienen: Paris 1927 - 1938. Das Volk und der Dichter, GW IV, S. 249 - 250, Der deutsche Mensch. Erbmasse und Führertum, GW I, S. 223 - 231, Geist und Seele künftiger Geschlechter, a.a.O., S. 232 - 239, Zucht und Zukunft, a.a.O., S. 453 - 463, Züchtung I, a.a.O., 214 - 222. 85

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zurückgezogen, nur für sie führe ich diese äußerlich so schwierige Existenz" (3.11.33 / S. 143). Sein Aufsatz ,Bekenntnis zum Expressionismus'36 vom 5.11. 33 in der „Deutschen Zukunft" muß für Benn befreiend gewirkt haben, nachdem sich seine persönliche Lage nach dem Angriff von Börnes von Münchhausen37 immer mehr zugespitzt hatte. Er berichtet über die Arbeit am 7.11. 33: „Ich saß über dem langen Aufsatz . . . Alle Ihre Lieben sind versammelt, nur Beckm[ann] fehlt, ich vergaß ihn leider. Bitte dirigieren Sie den Aufsatz an Kokoschka, der ihn als Antwort auf seinen Brief auffassen möge. Der Aufsatz erregt hier das allergrößte Aufsehen. Er ist ja auch grundlegend" (S. 143 f.). Ohne Zweifel beweist dieser Aufsatz viel Mut, vor allem, wenn man seine Haltung einige Monate früher bedenkt. Die Briefe bestätigen Oskar Loerkes Aufzeichnungen in seinem Tagebuch38, daß Benn sidi noch im Jahre 1933 enttäuscht und in die Isolation gedrängt sah. Auf K. v. Poradas Versuche, ihn zu einer politischen Stellungnahme zu bewegen, reagierte er ausweichend ohne Rechtfertigung und Verteidigung: „Darüber reden wir ein andermal"" (S. 117). „Ich mag über alle diese Dinge nicht weiter schreiben. Sie rühren zu sehr an wirklich tiefe Dinge, menschliche, anthropologische, untröstliche Dinge, über das Verhältnis von Rang u. Macht, Geist u. Geschichte" (3.11.33/ S. 143). Benn verweigert jede weitere Stellungnahme in den Briefen und konzentriert sich ausschließlich auf die privaten Beziehungen zu der „lieben gnädigen Frau Kati": „Wollen Sie bitte allgemein, niemanden aufklären über mich. Mir liegt so absolut nichts dran . . . mir ist es ganz gleich, was man von mir hält, lassen Sie mich Ihre private Beziehung sein, das wird mich beglücken" (12. 7. 33 / S. 123). (b) Briefe an Tilly Wedekind Tilly Wedekind berichtet in ,Meine Erinnerungen an Gottfried Benn' (S. 80 - 91) über sich und ihre Beziehung zu dem Dichter, den sie 1930 in Berlin kennenlernte und mit dem sie sieben Jahre in engem Kontakt stand. Die Aufzeichnung ist mehr eine liebenswerte Selbstdarstellung der Schauspielerin als eine Darstellung der Persönlichkeit Gottfried Benns. Ihre Freundschaft mit ihm fand in der Zeit seiner Reaktivierung in Hannover neben häufigen Besuchen in Briefen von 1935 bis 1937 ihren Ausdruck. Die Briefe sind, abgesehen vom Persönlichen, interessant als Dokumentation der damaligen Auseinandersetzung Benns mit den höchsten politischen Stellen, ausgelöst durch einen gegen ihn gerichteten anonymen Artikel ,Der Selbsterreger' 39. Die Darlegungen darüber im ,Doppelleben' (1950) 40 finden in den Briefen einige Ergänzungen 41. 86 37 38 89 40 41

GW I, S. 240 - 256. Dazu Brief v. 21.10. 33, S. 142. Oskar Loerke, Tagebücher 1903 - 1939, hrsg. H . Kasack, Heidelberg 1956. Im Schwarzen Korps 7. 5.1936. GW IV, S. 91 - 106. Vor allem: 8. 5. 36-21. 5. 36 (S. 93 - 98).

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(c) Briefe an Ellinor Büller-Klinkowström Für die Jahre von Benns „innerer Emigration" in Hannover sind die Briefe 42 des Dichters an E. Büller-Klinkowström 43 der unmittelbarste Ausdruck. Die Briefe sind das umfangreichste Selbstzeugnis in dem Sammelband und auch das menschlich bewegendste. Fast täglich schrieb Benn an die Vertraute, genannt Morchen, in der Zeit von 1935 bis 1937. Max Niedermeyer hat zu den Briefen eine Einführung (S. 156 - 163) verfaßt, in der er sich mit Benns Verhältnis zu den Frauen und mit Benn als Briefschreiber auseinandersetzt. Dieser, leider im Ansatz steckengebliebene Versuch könnte eine Anregung sein, vor allem Benn als Briefschreiber eine größere Untersuchung zu widmen. Max Rychner 44 trug schon im Nachwort zu den „Ausgewählten Briefen" einiges dazu bei. Auf den Übergang vom privaten Sprechen zum künstlerisch Ausdrücken in Benns Briefen wurde schon aufmerksam gemacht45. Dazu ein Beispiel: „Denke gut u. lieb an mich, wenn ich es auch scheinbar nicht immer verdiene. Es ist nur scheinbar. Wo der Schein fällt u. nichts mehr gilt, wo kein Schein mehr ist, sondern die Einheit u. die Schatten der Nacht, bin ich nicht schlechter als die andern, die immer bürgerlich u. friedlich waren" (S. 188). Die Briefe aus Hannover bezeugen Benns klare Einsicht in die wahren Verhältnisse des totalitären Regimes. Er erteilt den Nazis unzweideutig in scharfen und hellsichtigen Formulierungen eine Absage. Uber die Literatur der Zeit urteilt er: „Was nicht direkt ins KZ-Lager führt, ist albern. Verbrennen lassen müßten sich mal wieder ein paar Denker oder Theologen, das würde was helfen, mit Papier kommt man Bestien nicht bei" (4. 4. 37 / S. 198). Oder über seinen Bekanntenkreis: „Nächst dem jüdischen ist mir ja das adlige das liebste Milieu. Auch hier etwas Überlegenes u. man könnte sagen: Unnordisches, eben: Verfeinerung" (4. 12. 35 / S. 175). Interessant ist seine Beurteilung des ,Mephistoc-Romans46 von Klaus Mann: „Nur finde ich gerade die Kritik am N . S. schwach. Zu schwach. Das sehn wir hier im jahrelangen intensiven Umgang mit ihm ja viel schärfer u. bringen viel exaktere u. grausamere Formulierungen hervor" (S. 192 f.). Man darf nicht vergessen, daß es damals für Benn, den Militärarzt in Uniform, der als Defaitist schon verdächtig war, einiges Wagnis bedeutete, Briefe mit solchen Äußerungen der Reichspost anzuvertrauen. Aber nicht nur als Zeugnis für Benns anti-nationalsozialistische Haltung in diesen Jahren sind die Briefe wichtig, sondern sie widerlegen vor allem 42 6 Briefe wurden bereits, zum Teil nur in Auszügen, in dem Auswahlband „G. B. Lyrik u. Prosa, Briefe u. Dokumente", hrsg. M. Niedermeyer, Wiesbaden 1962, S. 125 f., 134 ff. abgedruckt. 43 Schauspielerin und Verfasserin eines Theaterstücks Die Entzauberten und eines Zeitromans Spiel mit der Freude. Benn kannte sie schon in Berlin. Sie starb 1944. 44 Wiesbaden 1957, S. 320 - 337. 45 S. 290 dieser Besprechung. 46 Mephisto. Roman einer Karriere. Amsterdam 1936.

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die Ansicht, Benns Aufenthalt in Hannover, sei ein Rückzug in die Idylle gewesen. Schon im Jahr 1933 zeigte sich, wie dem Loerke-Tagebuch und den Briefen an K. v. Porada zu entnehmen ist, daß Benn immer mehr in eine doppelte Isolation geriet: „Das Ausland verhöhnt mich, weil ich Nazi u. Rassist bin u. die Nazis, weil ich undeutsch, formalistisch u. intellektuell bin" (24. 4. 35 / S. 165). Diese Situation führte in den Jahren in Hannover zu einer ihn schwer bedrängenden Vereinsamung, um so mehr als er auch seine letzten Freunde in Berlin zurücklassen mußte. „Vor allem müßte ich wohl hier fort" (S. 194), schreibt er aus Hannover. Selbst ein Gespräch mit einem Menschen, das ihn aus seiner monologischen Existenz herausgeführt hätte, war nicht mehr möglich: „Eines ist geradezu interessant zu sehen u. beschäftigt mich innerlich: daß eigentlich in Gesprächsweise gar keine Beziehungen zwischen Menschen entstehen können" (S. 171). Immer mehr verdichtete sich in diesen Jahren die Erkenntnis, daß man nur noch in „Masken", in Form von „Doppelleben" seine Existenz führen kann: „Mnachmal bin ich überhaupt der Meinung, hier bietet sich eine köstliche Gelegenheit zu Doppelleben" (S. 174). In einem anderen Brief spricht er von seiner „fremden, aufgespaltenen Persönlichkeit" (S. 185). Benn kultivierte diese Form der Aufspaltung im Umgang mit anderen so sehr, daß er selbst über sich ins Staunen geriet: „Ich bin also ein gepflegter Bonvivant u. Causeur geworden — eine meiner neuen Masken" (S. 175). „Wieviel Ichs hat man in sich" (S. 196), fragt er an einer anderen Stelle. Die Zeit in Hannover, so legen es die Briefe nahe, bedeutet für Benn Rückbesinnung und Neuorientierung auf Grund von einschneidenden Erfahrungen, Fundamentierung seiner geistigen Position, deren kennzeichnende Formen „Doppelleben" und „Statik" heißen, die für sein künstlerisches Werk und sein späteres Leben bestimmend werden. Der späte Benn Für den späten Benn stehen in dem Band neben einigen Briefen des Dichters an T. Wedekind (S. 106-114) und K. v. Porada (S. 146- 148) unter anderem eine Erinnerung an Benn von Leonharda Gescher (S. 202 bis 203) mit Briefen Benns an Julius Gescher47 und den Schriftsteller Jürgen Eggebrecht48 von 1943 bis in die Nachkriegsjahre. Benn berichtet im Doppelleben' von den gemeinsamen Stunden mit dem Ehepaar Gescher in Berlin 49 . Neben diesen Briefen sind für die fünfziger Jahre vor allem jene an Marguerite Schlüter, die Lektorin des Limes-Verlags, zur Drucklegung des Spätwerks wichtig. Sie zeigen deutlich, wie unschlüssig und unsicher 47 Vorher mit einleitendem Text u. Anmerkungen v. Norbert Hinske in: Deutsches Pfarrerblatt Jg. 61, 9, 1961, S. 218 - 220. 48 Brief vom 13.1.46 (S. 211) steht auch in dem Auswahlband G. B. Lyrik u. Prosa, Briefe u. Dokumente, Wiesbaden 1962, S. 161, jedoch um einen Schlußsatz länger. 49 GW IV, S. 107.

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Benn war, wenn es galt seine Gedichte für eine Ausgabe zusammenzustellen und zu ordnen. Er hatte kein Ordnungskonzept, „,Kann keine Trauer sein* gefällt mir nicht als Einleitungsgedicht, gefällt mir überhaupt nicht, also: so lassen oder ganz fortlassen!" (S. 243). Meist überließ er die Entscheidung großzügig der Lektorin: „Auswahl, Titel, Anordnung steht bei Ihnen u. natürlich dem Chef" (S. 234). Das persönliche Gespräch ist Benn in diesen Briefen wichtiger als „alle diese Arbeit um dies Gereime" (S. 242). Am Ende des Sammelbandes steht der Brief an die Berliner Akademie der Künste vom 31.1.56 (S. 247-49), in dem Benn seinen Austritt erklärt, weil er es für unvereinbar hält, „sein Leben lang die Meinung [zu] vertreten, die Kunst sei eine monomane, lethargische, ja bionegative Welt . . . Und dann am Schluß seiner Tage zu Pressekonferenzen u. Festivals gehen" (S. 248) 50 . Dieser Brief ist in dem ganzen Band eines der wenigen Zeugnisse, in denen Benn zu seiner Künstlerexistenz und zur Kunst eine Aussage macht. Er bezeichnet sein Weltbild als ein „lyrisches", was für Benns Denken bis in die sprachliche Darlegung zutrifft. „Andererseits habe auch ich mich mein Leben lang durchgeschlagen, ohne mich um die Öffentlichkeit zu kümmern, sie hatte ihr wissenschaftliches Weltbild', ich mein lyrisches, sofern dadurch eine Krise entstand, war es die meine, und ich überwand sie denkend und formend nach Maßgabe meiner Kräfte. Aber das geschah für mich und niemand brauchte es zu beachten" (S. 248). 4 Aus den Beziehungen Benns zu seinen Zeitgenossen, aus dem Verhältnis von Autor und Verleger, aus den Briefen und Erinnerungen ergibt sich ein lebendiges und bisweilen sehr privates Bild von der Persönlichkeit des Dichters, das im Gegensatz steht zu einem Bild von Benn als den kalten, zynischen Intellekt, als die Inkarnation des monologischen Ichs, wie es sein Werk nahezulegen scheint. „Kunst und die Gestalt dessen, der sie macht, ja sogar das Handeln und das Eigenleben von Privaten sind völlig getrennte Wesenheiten"51, schrieb Benn in seiner Autobiographie ,Doppelleben' (1950). Diese Ausschließlichkeit ist keine artistische Attitüde, sondern ist in Benns Leben begründet, in den psychischen und geistigen, zeitbedingten und schicksalhaften Voraussetzungen seiner Existenz. In einem Brief an T. Wedekind vom 30. 4. 46 schreibt er: „Ich kann auch nichts bedauern oder gar bereuen, was ich je literarisch publizierte, es war immer echt u. kam aus meinem Wesen" (S. 108). Dieses Bekenntnis wird man auch für Benns Verlautbarungen anfang 1933 geltend machen müssen, wodurch sich die Frage nach den wahren Hintergründen erübrigt. („Wenn man immer nur das publizierte u. ausspräche, was 15 Jahre später opportun erscheint, würde man überhaupt nichts publizieren" S. 108). 40 51

Benn wurde jedoch umgestimmt und blieb Mitglied der Akademie. GW IV, S. 136.

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Die nun vorliegenden Zeugnisse sind in besonderem Maße geeignet, Benns Grundproblematik von Ich und Leben, die für sein gesamtes Werk, für dessen „großartige Monotonie", für dessen thematisch „schmales Feld bei äußersten, den Blick bannenden Horizonten" 52 bestimmend ist, von der Person des Dichters her zu begreifen. Die Trennung von Leben und Kunst, von privatem Ich und schöpferisdiem Ich wie sie Benn schon vor 1933 in seinen Werken mit Nachdruck forderte und dann nach dem Scheitern seines Versuchs einer Synthese im Sinne der nazistischen Ideologie noch rigoroser mit dem Existenzmodell „Doppelleben" formulierte, ist der geistige Versuch, die Problematik der Entfremdung von Ich und Leben zu bewältigen, zugleich aber der Ausdruck für Benns Resignation vor der Unmöglichkeit, seinem Leben, das er als ein „kompliziertes System" (S. 126) bezeichnete, jene Ordnung und Eindeutigkeit zu verleihen, die er dem Kunstwerk zusprach. „Aber dann frage ich mich, ob nicht die Vorstellung des Sich-Vollendens . . . falsche Vorstellungen sind. Das Vollendete gibt es nicht. Selbst Größere, selbst die wirklich Großen sind doch so sehr problematisch, ja sie sind groß, wo u. solange sie problematisch sind, aber nie vollkommen. Für Vollkommenheit bilden wir die Vorstellung der Götter; für Künstler immer nur das Titanische und Tragische u. Unvollendete" (S. 194). Hinter der Radikalität Benns, mit der er jedes effektive Erlebnis nur soweit es ins Formale gesteigert war, und das personale Ich nur als ein im schöpferischen Prozeß verwandeltes lyrisches Ich gelten ließ, verbirgt sich, wie die vorliegenden Zeugnisse eindeutig darlegen, ein Mensch, dem die Begegnung mit dem Du und die Wahrung persönlichprivater Beziehungen viel bedeuteten, der aber zugleich an der Fragwürdigkeit und Perversion des menschlichen Glücks, ja allem menschlichen Daseins überhaupt, litt. Diese Spannung drückt sich in scheinbar widersprüchlichen Äußerungen Benns über sich selbst aus. In einem Brief spricht er von seinem „Bedürfnis nach etwas Gespräch u. Nähe" (S. 101) und eine späte Notiz lautet: „Ich habe immer das Du gesucht" (S. 161). Dagegen stehen Sätze wie: „Es gibt doch nur ein Glück: im Wesentlichen allein sein. Meine alte Melodie" (S. 103). Oder: „aber ich bin gleichgültig u. will für mich leben, — der Mönch unter Trümmern" (S. I I I ) 5 3 . Eine Lösung dieser Spannung von Ich und Leben gibt es für Benn nur im Absoluten: „Es gibt nur das Absolute. Nur das zählt" (S. 180). Oder anders ausgedrückt: „Aber nie verläßt ihn [den Menschen] die Suche nach der Transzendenz, nach dem, wo es ,hinübergeht'" (S. 132). In diesem Sinne ist Benns künstlerisches Werk, vor allem in seiner absoluten Formgestalt, ein existentielles. 62 H . Kunisch, G. Benn, in: Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur, München 21969, S. 102. 53 In diesem Zusammenhang ist auch auf das Gedicht: Kommt, reden wir von 1955 (GW I I I , S. 320) hinzuweisen, eines der ganz wenigen Gedichte, in denen ein wirkliches Du angesprochen wird. Das „Du" in fast allen Gedichten Benns ist die Objektivierung seines eigenen Ichs, es ist Ausdruck seiner monologischen Existenz.

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Die vorliegenden Zeugnisse werden unentbehrlich sein, um die geistige Problematik des Dichters in seinen Werken vom Biographischen her als eine existentielle Problematik zu verstehen. Eine gerechte Beurteilung des Künstlers und Menschen Gottfried Benn und seines Werkes wird jedoch erst eine geschlossene, chronologisch geordnete Briefausgabe, wenn möglich mit den Briefen an R. Oelze, ermöglichen. Es ist zu hoffen, daß der Verlag die hier abgedruckten Briefe mit allen übrigen, verstreut oder noch nicht veröffentlichten Briefen zu einem übersichtlichen Band vereinigt. Solange müssen wir uns, trotz des angezeigten Sammelbandes, weiterhin mit den „Ausgewählten Briefen" von 1957 abfinden. Steffen Ewig, München

N A M E N - U N D SACHREGISTER von Hans Karl Bopp (Die Zahlen bedeuten die Seiten, A. = Anmerkung. Das Register wählt aus.) Adorno, Theodor W. (,Noten zur Literatur') 237 - 259 — absoluter Geist und Weltgeist 249 f. — Autonomie der Kunst 254, 255 — Balzac, Honoré de 252 — Begriff und Ding 240 — Brecht, Bertolt 248 f. — }creatio ex nihilo' 244 — Descartes, René 240 — engagierte Literatur 254 f. — Entfremdung des Menschen 245 — Essay 241 — Form des Kunstwerks 250 f., 253 — Geschichtsphilosophie 256 f. — Gesellschaft als Ganzheit 243 — Individuum und Gesellschaft 239 f. — Intention des Dichters 250, 251, 258 — Kunst und Gesellschaft 238, 239 - 242, 243, 244 f., 254 — Kunst und Wirklichkeit 242 - 244 — Kunstwerk als Präfiguration der Utopie 257 f., 259 — Kunstwerk und Weltgeist 249 - 253 — Objektivität des Kunstwerks 250, 251 — Ontologie 238 f., 242 — Proust, Marcel 253 — Realismus 248 — Religion 238 — Sprache 241 f., 257 — Versöhnung von Geist und Natur 256 f., 258, 259 — Wesen der Gesellschaft 248 f. — Wesen und Erscheinung 245 - 247, 248

Ästhetik und Praxis s. Balthasar anorganischer Bereich s. Tieck Antike s. Hofmannsthal antike Dichtung s. Hofmannsthal Arnim, Achim von 81 - 99 — Biedermeier 97 — Brentano, Clemens 84 — Christusglaube 94 f. —Divina Commedia* 81 — Geschichtsanschauung 95 - Grimm, Wilhelm 99 - Groteske 91 f., 93, 94, 96, 98 — Harmonisierungsbedürfnis 81, 82, 83, 84-99 - Humor 82, 85, 86, 90 f. — Kleist, Heinrich von 81, 85, 86 - Komik 90, 91 - 94 — Künstlerthematik 84 — Motiv der Gewalttätigkeit 85 f. - Motiv der Gnade 88 -90, 94 — Motiv des Selbstmords 86 - Motiv des Todes 86 f., 88, 89 — Motiv der Trennung 82 f. - Motiv des Wahnsinns 84 f., 88 — Novalis 87 - Stifter, Adalbert 98 f. - Tieck, Ludwig 82 - 85, 90, 95, 97 - Werke »Angelika, die Genueserin' 83 f. - - ,Der tolle Invalide' 84, 85, 90 f. ,Die Kirchenordnung' 86, 88 ,Die Majoratsherren' 87, 88 ,Gräfin Dolores' 81, 95 f. ,Isabella von Ägypten' 87 f., 89, 92 f.

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Namen- und Sachregister

Juvenis' 83 ,Wintergarten 1 85 f., 90 Arnim, Bettina von s. Hofmannsthal Arnold, Gottfried 273 - 282 — Böhme, Jakob 279 — hymnologische Forschung 273 - 275 — Lebensgesdiichte 276 - M y s t i k 278 f., 280, 281 — paradoxe Lebensstruktur 276, 279, 280 — Rechtfertigungslehre 280, 282 — Sprache und Mystik 277 f. — ytheologia crucis* 280

Balthasar, Hans Urs von 260 - 272 — Ästhetik und Praxis 264, 272 — Begriff des Tragischen im Christentum 270 f. — christliche Dramatik 265, 266 f. — christliche Kunst 265 — christlicher Neuplatonismus 263 — Ghristologie 262, 265 — Dramen als Existenzerhellung 267 f. — ¡Drama Gottes f 264, 265 — yEndlichkeit* 269 f. — Hegel Friedrich 264 f., 266 — yHeilsdramatik f 266 — metaphysische Repräsentation 266 — Paradigma des Todes 270 — Piatonismus 262 — Produktion 268 — Realisation 268 f. — Schneid er y Reimhold 267 — Sinnfrage des Menschen 260, 262 — Stoa 262 — Theater und Politik 261, 269 — Versöhnung Kirche - Theater 266 — Welttheater 267 — Wesen des Dramatischen 261, 262, 264, 265 Balzac, Honoré de s. Adorno barockes Kirchenlied 274 Beethoven, Ludwig van s. Hofmannsthal

Benn, Gottfried 283 - 297 — Bedürfnis nach einem D