Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 1. Band (1960) [1 ed.] 9783428423477, 9783428023479

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 1. Band (1960) [1 ed.]
 9783428423477, 9783428023479

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N K U N I S C H

NEUE FOLGE/ERSTER BAND

1960

Das »Literaturwissenschaft! iche Jahrbuch' erscheint als Jahresband jeweils im Herbst im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nach vorheriger Anfrage an den Herausgeber zu senden: Prof. Dr. Hermann Kunisch, München 19, Nürnberger Straße 63. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift, einzureichen. Den Verfassern wird ein Merkblatt für die typographische Gestaltung übermittelt. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, sind an den Verlag Duncker & Humblot, Berlin-Lichterfelde, Geranienstraße 2 zu schicken. Eine Gewähr für eine Besprechung kann nicht übernommen werden.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH ERSTER BAND

Alessandro M a n z o n i

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH

N E U E FOLGE / ERSTER BAND

1960

D U N C K E R

&

H Ü M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1961 Duncker & Humblot, Berlin Gedruckt 1961 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin SW 61 Printed in Germany

VORWORT Das von GÜNTHER MÜLLER 1926 begründete Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch der Görresgesellschaft mußte 1939 sein Erscheinen einstellen. Die Pläne, es neu herauszugeben, reichen bis 1948 zurück, als die GörresGesellschaft begann, sich nach dem Verbot und der Auflösung im Dritten Reich wieder aus ihrer Grundgesinnung einer im Geistigen und Religiösen wurzelnden Wissenschaftsauffassung und den Einsichten der veränderten Zeit neu zu begründen. Mit der Zeit wurde die Überzeugung gewonnen, daß ein Wiederaufleben des Jahrbuches nur gerechtfertigt sei, wenn es eine eigene Stellung neben den anderen wissenschaftlichen Organen einzunehmen gewillt und imstande sei. Das soll nicht bedeuten, daß es in Gegensatz zu den anderen Zeitschriften treten, noch weniger, daß es sich absondern und den Blick auf die Umgebung verschließen müsse. Es möchte nur in freier Aufgeschlossenheit allem Geistigen und Echten gegenüber eine in der abendländisch-diristlichen Tradition vorgegebene Weise 'der Deutung von Sinngestalt im dichterischen und literarischen Wort verwirklichen, die mit der discretio , einer auf Erfassung geistiger Physiognomie und Bedeutung bedachten Auslegung zusammenhängt; ohne im Einzelnen der Eigenart der Forscher Vorschriften zu machen oder sie durdi Regeln einziuiengen. Das bedeutet, daß der Wissenschaftsstil und die geistige Grundhaltung dieses Jahrbuches nicht dogmatisierende Festlegung sein kann. Es sollen die verschiedenen Weisen 'der Deutung zu Worte kommen, aber nicht beziehungslos nebeneinander in einem spannungslosen Raum, sondern als lebendige Auseinandersetzung. Es geht um Stellungnahme, und wo verschiedene Standpunkte erscheinen, sollen sie als diese oder jene Haltung erkennbar sein. Unsere Aufgabe ist die Klärung der Auffassungen um der Sache willen, nicht aber eine sich als frei mißverstehende fruchtlose Liberalität und Voraussetzungslosigkeit. Geöffnetsein und der Mut zum Lebendigen ist die vornehmste Weise, die der Herausgeber verwirklichen möchte, und er hofft die Mitarbeiter zu gewinnen, die mit dem Blick für das Eigentliche in Ausdrude und Sinn des sprachlichen Gebildes den Willen zur Unterscheidung, Ordnung und Wertung haben. Das ,Literaturwissenschaftliche Jahrbuch' soll dem ganzen Kreis literarischen Schaffens gewidmet sein; vornehmlich der deutschen mittelalterlichen und neuzeitlichen Literatur, wobei namentlich für das Mittelalter auch das geistliche Schrifttum deutscher und lateinischer Sprache einzubeziehen ist. Darüberhinaus sollen die anderen europäischen Literaturen und deren

VI

Vorwort

Wechselbeziehung zur deutschen Beachtung finden, wie auch die antike Dichtung, soweit sie Verbindungen mit der deutschen hat oder allgemeinere Aufschlüsse zu geben vermag. Neben den geschichtlichen Aufgaben wird das Jahrbuch sein Augenmerk auf grundsätzliche und methodische Fragen der Literaturwissenschaft richten. Im Mittelpunkt unserer Arbeit Söll die Deutung der Dichtung als einmalige und geschichtliche Gestalt stehen. Das bedeutet zunächst, Dichtung zu begreifen als sprachliche Erscheinung, der gegenüber nicht nur Empfänglichkeit und Ehrfurcht, sondern auch Wille zur Erkenntnis möglich und notwendig ist. Der historische Zusammenhang ist dabei nicht Ziel, sondern notwendige Voraussetzung, da es Dichtung trotz aller Einmaligkeit der Gestalt immer nur als geschichtliche Offenbarung gibt. Sowenig geschichtliche Begründung fehlen darf, sowenig philologische Bemühung im genauen Sinne. Philologie als Deutung des Wortes in seinen geschichtlichen und stilistischen Ausdrucks- und Sinnformen ist das Ziel der von uns vertretenen Literaturgeschichte. Den Hauptteil des Jahrbuches sollen Aufsätze in Form der Untersuchung, der abschließenden Abhandlung oder des Berichtes über neue Funde bilden. Daneben wird in Zukunft jedem Band ein Besprechungsteil angehören, in dem es weniger auf die Fülle der angezeigten Werke als auf den Grad der Einläßlichkeit und, je nach dem Fall, auf Herausarbeitung des literarhistorischen Gewinnes oder der grundsätzlichen Stellungnahme ankommt. Die Kunst der literarischen Kritik als ein auf Verantwortung ruhendes Amt soll mit besonderer Umsicht und Liebe gepflegt werden. München, im September 1960 Hermann Kunisch

INHALT Ingeborg Schröbler

(Berlin), Fulda und die althochdeutsche Literatur

1

Herbert Seidler (Johannesburg), Schillers 'Braut von Messina*

27

H. G. Barnes (Oxford), Goethes 'Wahlverwandtschaften* vor der katholischen 53 Kritik Helmut A. Hatzfeld (Washington), Goethes Beurteilung der romanischen Klassiker und die heutige Literaturwissenschaft 67 Emmy Rosenfeld (Mailand), Goethe und Manzoni. Begegnung des alten Goethe mit dem romantischen Italien

91

Pierre Brachin (Paris), Friedrich Leopold von Stolberg und die deutsche Romantik 117 Siegfried Sudhof (Münster i. W.), Herder und der »Kreis von Münster«. Ein 133 Beitrag zur Beurteilung von F. L. Stolbergs Konversion Josef ine Nettesheim (Münster i. W.), Die geistige Welt Christoph Bernhard Schlüters und seines Kreises im 'Geistlichen Jahr* Annettes von DrosteHülshoff 149 Romano Guardini (München), 'Kindheit'. Interpretation eines Elegienfragments von Rainer Maria Rilke 185 Ingrid Strohschneider-Kohrs (München), Die Sprache in der Dichtung Georg Trakls

Entwicklung *

der

lyrischen 211

Eugen Thurnher (Innsbruck), Sprache, Denken, Sein. Zu Ferdinand Ebners Philosophie des Wortes 227 Klaus Lazarowicz (München), Herstellung einer praktikablen Wahrheit. Zu Brechts 'Die Ausnahme und die Regel' 237 Luis Diez del Corral (Madrid), Die Umkehrung des klassischen Mythos in der heutigen Literatur 259 Namen- und Sachregister

273

NACHWEISE Z U D E N ABBILDUNGEN 1. Titelbild: Alessandro Manzoni, Bildnis aus dem Jahr 1837/38 von Francesco Hayez (1791—1882); im Besitz der Pinacoteca di Brera in Mailand. 2. Nach S. 96: Konzept zum Brief Manzonis an Goethe vom 23. Januar 1821; im Besitz der Mailänder Staatsbibliothek »Braidense« (Sala Manzoniana). Bisher unveröffentlicht. 3. Vor S. 97: Widmung Goethes an Manzoni vom 18. Juli 1827 in der von Goethe besorgten Manzoni-Ausgabe ('Opere Poetische'), erschienen bei Friedrich Frommann in Jena 1827; im Besitz der Mailänder Staatsbibliothek »Braidense« (Sala Manzoniana). Bisher nur veröffentlicht in: Immagini della vita e dei tempi di Alessandro Manzoni, hg. v. Marino Parculi, Mailand 1942 (vergriffen).

FULDA U N D DIE ALTHOCHDEUTSCHE LITERATUR Von Inigeborg Schröbler Der Anteil Fuldas am althochdeutschen Schrifttum ist bedeutender als der jedes anderen deutschen Klosters. Nicht nur daß umfangmäßig dasjenige, was in Fulda selbst geschaffen ist, zusammen mit dem, was seine geistige Heimat dort hat, und dem, was anderen Ursprungs, allein durch fuldische Niederschrift oder in fuldischer Bearbeitung bewahrt ist, selbst der Hinterlassenschaft St. Gallens kaum nachsteht; gewichtiger ist der Reichtum der literarischen Formen. Für das Althochdeutsche von Reichenau sind die großen Wörterbücher und die Interlinearversionen bezeichnend, für St. Gallen die Übersetzer- und Kommentatorentätigkeit Notkers I I I . I n Fulda steht am Anfang ein Wörterbuch, am Ende ein Epos, dazwischen gelehrte Glossierungen, kirchliche Gebrauchsprosa in Taufgelöbnis, Beichte, Gebet, Ansätze zu weltlicher Prosa im Rezept, in der Urkunde, die große Ubersetzung der Evangelienharmonie, dazu Hildebrandslied, Merseburger Zaubersprüche, vielleicht Wessobrunner Gebet. Zeitlich ist das Deutsche Fuldas nicht das früheste, so wie Fulda (gegründet 744) nicht das älteste unter den deutschen Klöstern und Stiften ist. Jenes Wörterbuch, mit dem das Deutsche Fuldas beginnt, setzt man um 775 an. Das Ende des Deutschen in Fulda fällt zusammen mit dem Ende von Hrabans Abtszeit (842), mag noch etwas früher liegen; aber Otfrids Evangelienbuch, zwischen 863 und 871 in Weißenburg im Elsaß vollendet, gehört seiner geistigen Herkunft nach mit in die Schule Hrabans. Freilich ist zu bedenken, wenn man von diesem deutschen Reichtum Fuldas spricht, daß die alte Bibliothek zerstreut ist, daß die Denkmäler höchst selten, die Handschriften nicht immer die äußeren Merkmale ihrer Herkunft tragen, daß also für vieles die Zugehörigkeit zu Fulda erst in mühevoller Einzeluntersudiung erschlossen, für manches nur wahrscheinlich, für einzelnes umstritten ist. Uber knapp 70 Jahre hin sind also althochdeutsche Denkmäler in Fulda zu verfolgen. Wir fragen zunächst nach ihrer Sprache. Diese stellt sich dar als ein Spiegel der äußeren Geschichte des Klosters, der geistigen Mächte und der Gestalten, die seine innere Entwicklung bestimmt haben. Sie zeigt in einer ersten Periode, bis in die letzten Jahre des 8. Jahrhunderts, starken bairischen Einschlag, dazu kommt das Ringen mit angelsächsischem Einfluß vornehmlich in der Schreibung: so in dem Bruchstück der Lex Salica, im 3. Basler Rezept, in den zu erschließenden Vorlagen 1 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 1. Bd.

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Ingeborg Schröbler

des Hildebrandsliedes und des Wessobrunner Gebetes1. Sie zeigt in einer zweiten Periode, seit dem Ende des zweiten Jahrzehnts des 9. Jahrhunderts, eine von angelsächsischen Eigenarten freie Lautgebung, in welcher der bairische Einfluß zurückgegangen ist: die Sprache, deren vornehmstes Denkmal die Tatian-Übersetzung ist, die Paradigmen-Sprache unserer althochdeutschen Grammatik. Sie entspricht nicht der heute um Fulda gesprochenen »rheinfränkischen« Mundart und unterscheidet sich von derjenigen der »rheinfränkischen« Denkmäler althochdeutscher Zeit. Sie ist »ostfränkisch«. Im Anlaut, in der Gemination und nach m zeigt sie den p/-Laut (geschrieben ph oder pf) in Wörtern wie phending, tropfo, gilimphan, während die rheinfränkischen Denkmäler und das heutige Fulda in diesen Wörtern unverschobenes p haben; sie weist auch überwiegend die Verschiebung von d zu t auf, während das alte Rheinfränkische überwiegend d hat und das heutige Fuldische außerhalb des ¿-Gebietes liegt 2 . Diese Tatsachen sind nicht erstaunlich. Fulda ist die Stiftung des Bonifatius, und selbst wenn die Stätte nicht jene menschenleere Waldeseinsamkeit war, welche die Vita Sturmi romantisch schildert 3, sondern, wie es die archäologischen Funde nahelegen, bereits besiedelt4, so ist eine Einwirkung der Sprache dieser Siedler, für deren schon bestehendes Christentum es keine Anhaltspunkte gibt, auf die ersten Mönchgenerationen nicht wahrscheinlich. Die erste Schrift Fuldas ist die angelsächsische, seine ersten Bücher gehören in den Kreis angelsächsischer Gelehrsamkeit 5; kaum an anderem Orte auf dem Festland war der Einfluß der Angelsachsen so nachhaltig wie hier, und rund 100 Jahre lang ist er zu spüren, wenn auch allmählich zurückgehend6. Der erste Abt aber, Sturm ( f 779), und die ersten Mönche, der vierte Abt, Eigil (818/19—822), waren Bayern. So erklärt sich Sprach- und Schriftcharakter der ersten Periode. Als dann unter dem dritten Abt, Ratgar (803—817), Hraban Lehrer an der Schule wurde, zog der Ruf des Klosters Schüler aus den verschiedensten 1 Baesecke, Hrabans Isidorglossierung, Walahfrid Strabus und das ahd. Schrifttum, ZfdA 58, 1921, 276 f.; ders., Abecedarium Normannicum, Runenberichte 1, 1941, 89. Angelsächsisches: Ö in Lex Sal., Hild., Rez.; |> in Rez.; w-Rune in Lex Sal., Hild.; Runenzeichen für Präfix ga- im Wess. Geb.; § und Ligatur von a und e in Hild., Rez.; Bairisches: herrschender Lautstand im Wess. Geb.; inlautendes -p in Lex Sal.; vielleicht oo ebenda; ao in Hild., Rez. 2 Wrede, Fuldisch und Hochfränkisch, ZfdA, 36, 1892, 135—145. 3 Monum. Germ. SS I I 367—369 c. 4—8. 4 Stengel, Zur Frühgeschichte der Reichsabtei Fulda, Dt. Arch. 9, 1952, 516 ff. mit Verweis auf J. Vonderau, Die Ausgrabungen am Domplatz zu Fulda im Jahre 1941, Ein merowingischer Gutshof auf dem nachmaligen Klostergelände, Fulda 1946. 5 Baesecke, Der Vocabularius Sti. Galli in der ags. Mission, 1933, S. 98—111. 83—98; über den ältesten Katalog P. Lehmann, Fuldaer Studien, SB bayr. Ak. d. Wiss. ph.-ph. und hist. Kl. 1925, 3. Abh., S. 4 ff. 48 ff. 6 Lehmann, Fuldaer Studien N.F., ebd. 1927, 2. Abh., S. 4.

Fulda und die althochdeutsche Literatur

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Landschaften herbei. Der junge Hraban selbst, geborener Rheinfranke, war einst von seinem Abt zu Alcuin nach Tours gesandt worden, um dort seine Bildung zu empfangen; seit den 30er Jahren begegnen in Reichenau, St. Gallen, Weißenburg, Ellwangen, Ferneres Mönche, die unter ihm in Fulda gebildet sind. Das sind die Voraussetzungen, unter denen die Tatian-Sprache entstand — kaum ein Zufallsprodukt. Daß sie als eine geschriebene Ausgleichssprache oberhalb der Mundarten zu betrachten ist, glaubt man folgern zu dürfen aus der Art, wie die Vielheit der an der Ubersetzung (nicht nur am Abschreiben) Beteiligten, trotz mundartlicher Abweichungen7, zu einer Einheit gezwungen ist, wie die letzte Schreiberhand (£) die ganze Handschrift durchkorrigiert, namentlich den Anteil des dritten Schreibers (y), der am stärksten von der von £ eingehaltenen Norm abweicht8. Es ist die Ansicht vertreten worden, daß diese Sprache mit Walahfrid von Fulda nach Reichenau gewandert sei (wo sie ebensowenig eine mundartliche Basis besessen hätte wie in Fulda) und auf alemannischem Boden in der Generation von Walahfrids Schülern weitergelebt habe, bis sie gegen Ende des 9. Jahrhunderts wieder erloschen sei. Was da gewandert ist, möglicherweise auch mit anderen Schülern Hrabans von alemannischer Herkunft, ist vielleicht die Tradition einer schriftlich gepflegten Schulsprache, die sich jedoch schnell der alemannischen Umgebung assimiliert hat. Daß eine Übertragung dieser Art stattfinden konnte, bedeutet ein Zeugnis mehr neben anderen nach ganz anderen Richtungen gehenden für die Intensität der Wirkung von Hrabans Schule und Person; einen Ansatz zu einer deutschen Schriftsprache oder gar Gemeinsprache darf man darin nicht sehen9. 7 Zu den sprachlichen Verschiedenheiten: Sievers, Tatian lat. und ahd., 1892, S. X X I I I ff.; zur Möglichkeit der Abgrenzung einzelner Übersetzeranteile ebd. S. L X X I ff. ; Baesecke, Die Überlieferung des ahd. Tatian, Hallische Monographien Nr. 4, 1948, S. 18; Verschiedenheit der Schreiber: Sievers S. X I I , Baesecke, ZfdA 58, 251. 8 Die Tatian-Übersetzung gibt im allgemeinen germ. k vor ay o, u durch c wieder, vor e und i durch k im Anlaut, im Inlaut nach sonoren Konsonanten, in der Gemination; der dritte Schreiber y schreibt jedoch u. a. uuirche , folche , Sievers SS 45 ff. Gegen den von Sievers, Braune, Ehrismann, Baesecke, E. Schröter angenommenen alemannischen Charakter von y: W. R. Moulton, PMLA 59, 1944, 307 ff.; danach sei y Ostfranke und gehöre zu einer älteren Schicht fuldisdier Schreiber. Gleichsetzung von Tatian y u n d Walahfrid durch Baesecke, Überlieferung des ahd. Tatian S. 18 und E.Schröter, Walahfrids deutsche Glossierung zu den biblischen Büchern Genesis bis Regum I I und der ahd. Tatian, 1926, S. 140 ff.; dagegen aus paläographischen Gründen B. BischofF, Zentralbl. für Bibl.-Wesen 75, Beiheft ( = Festgabe G. Leyh), 1950, besonders S. 46, vgl. auch unten S. 18; Gleichsetzung des 6. Schreibers, der zugleich der Korrektor des Ganzen ist, mit Hraban: Baesecke a.a.O. S. 25 ff. 9 Über die Wanderung der Tatiansprache mit Walahfrid: zuerst (und stets mit gewissen Reserven) Baesecke, ZfdA 58, 1921, S. 258 f.; danach E.Schröter a.a.O. S. 146 f.; Baesecke, Das Nationalbewußtsein der Deutschen des Karolingerreiches (Der Vertrag von Verdun 843 ed. Th. Mayer, Leipzig 1943), S. 130 f.; Derselbe,

l'

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Ingeborg Schröbler

Das ahd. Schrifttum aus Fulda läßt drei Epochen geistigen Lebens sichtbar werden: Eine älteste Gruppe von Glossierungen und Verdeutschungen verdankt ihre Entstehung der im Gefolge der angelsächsischen Mission gekommenen angelsächsischen Gelehrsamkeit. Auf sie folgt eine kleine Gruppe von Denkmälern verschiedenen Inhalts, welche durch die Gesetzgebung Karls des Großen hervorgerufen sind. Entstehung in Fulda läßt «ich für keines von ihnen erweisen, nur ihre Uberlieferung ist über Fulda gegangen, und zwar bald nach dem erschlossenen Zeitpunkt ihrer Entstehung. Zur karlischen Zeit gehört chronologisch die erste wie die zweite Gruppe. Die erste kann man annähernd datieren auf das letzte Viertel des 8. Jahrhunderts, die zweite gehört vornehmlich in die allerersten Jahre des neunten. Aber mit Überschneidungen ist zu rechnen. Außerdem ist eine absolute Datierung der einzelnen Denkmäler trotz vielfältiger Bemühungen der Forschung nicht erreicht und selbst die relative nicht immer sicher. Das gilt auch für die Denkmäler der letzten Epoche, welche zusammengehören mit der Wirksamkeit Hrabans als Lehrer und dann als Abt (822—42). Sie sind z. T. Weiterentwicklung dessen, was die »angelsächsische« und die im engeren Sinne »karlische« Zeit an Keimen auch anderweitig in Deutschland hervorgebracht hat: gelehrte Glossierung, Bearbeitung und Abschrift von Texten praktisch-theologischen Inhalts und überhaupt von Texten der vorhergehenden Zeit, dazu Übersetzung biblischen Textes; vielleicht aber gehört in Hrabans Umkreis auch das erste Erscheinen des Epos in deutscher Sprache. Aber das ist noch nicht alles: es ist der einmalige Zug in dem Bilde Fuldas, daß die wenigen Trümmer althochdeutscher stabreimender Poesie, welche überhaupt bewahrt sind, Beziehungen zu dem Fulda des frühen 9. Jahrhunderts aufweisen oder vermuten lassen, wenn auch eine Fülle ungelöster Fragen mit ihnen verbunden ist. Hildebrandslied und Merseburger Zaubersprüche sind durch ihre Uberlieferung an Fulda gebunden; die Vorlage des Wessobrunner Gebetes könnten paläographische Eigentümlichkeiten wie auch Einiges aus dem sonstigen Inhalt der Handschrift nach Fulda weisen, innere Gründe vielleicht auch das Muspilli. Daß die Aufzeichnungen aller dieser Verse auf den gleichen Impuls, auf die »germanischen« Interessen des jungen Hraban, zurückzuführen sei, ist eine geistreiche Hypothese, jedoch zu stark bestimmt von dem Verlangen des modernen Forschers, der weitgehend durch den Zufall beherrschten Überlieferung dieser Frühzeit eine rationale Begründung zu geben. Jahrbuch der deutschen Sprache Bd. 2, 1944, S. 41; zu weitgehend: B. Schreyer, Eine ahd. Schriftsprache, Beitr. 73, 1951, S. 351—386; sehr wohlerwogene Kritik bei W.Schröder, ZfdA 87, 1957, S. 190 ff.

Fulda und die althochdeutsche Literatur

Älteste

Glossen

und

5

Verdeutschungen

Am Anfang der ahd. Literatur Fuldas steht der Vocabularius Sti. Galli, ein lateinisch-deutsches Wörterbuch von etwas über 400 Lemmata, unalphabetisch, nach Sachgruppen geordnet, Bezeichnungen für die Teile des menschlichen Leibes, für Haus und Hof, Kleidung, Gerät, Tiere, menschliche Stände, Erde, Wasser, Himmel 1 0 . Die Handschrift wird in St. Gallen aufbewahrt, hat aber sonst nichts mit St. Gallen zu tun. Blattversetzungen, Lücken, Interpretamentverschiebungen sprechen dafür, daß die Niederschrift (in insularer Halbunziale) nicht Original sondern Abschrift ist. Der Vocabularius nimmt nur das letzte Drittel des kleinen Bandes ein; aber der übrige Inhalt, so bunt er ist, weist auf die gleiche geistige Heimat wie er 1 1 : die Welt Theodors von Tarsus, in Athen gebildet, Mönch in Rom, Erzbischof von Canterbury in den Jahren 668—690, und seines Helfers Hadrian, Abt eines Klosters in der Nähe von Neapel, Abt von St. Peter in Canterbury — nach Bedas Zeugnis die Gründerheroen der Schule von Canterbury 12 . Der Vocabularius ist ein Ausläufer ihrer Gelehrsamkeit: er ist Ausschnitt, Bearbeitung, Ubersetzung der »Hermeneumata«, eines spät10 Ahd. Gl. 3, S. 1—8; 4, S. 459—461; Scherrer S. 331—333; zu allen Einzelfragen, von der eingehenden Beschreibung des Inhalts der Hs. an: Baesecke, Vocabularius; Schriftproben ebd. Tafel 1 und 2; zusammenfassend Baesecke, Frühgeschichte, S. 147 ff. 11 Z. B. die ags. Tierglossen zu Leviticus cap. 11 auf S. 139 ff. der Hs. mit wenigen deutschen Zusätzen fränkischer Lautgebung = Ahd. Gl. 4, 460, 2—78; die Beziehungen der Anhänge des Vocabularius (Ahd. Gl. 3,7,16—8,1 und 3,8,2— 8,24) zu den ags. Hermeneumata-Glossierungen. Unter den Leviticusglossen findet sich der Zusatz: adrianus dicit meum esse ,Hadrian sagt, es sei die Möwe 4 , Ahd. Gl. 4, 460, 52, seit Steinmeyer ebd. 5, 400, 37 ff. auf den oben erwähnten Abt Hadrian bezogen, desgl. ein ähnlicher Zusatz zu Reg. 4, 18, 16 im Bibelglossar des Augiens. 135; dazu würde stimmen das theodorus dixit in dem Glossar zu Eccli. 32, 20 des Leidens. Voss. lat. 4° 69. Alles dies würde zu dem erschlossenen, aus der Schule von Canterbury nach Deutschland gelangten und in Deutschland auch glossierten Bibelkommentar Rz gehören. Andererseits ist zu bedenken, daß die griechisch-lateinische HermeneumataÜberlieferung ein adrianus dicit mit sich brachte, welches mit der Schule von Canterbury nichts zu tun hat, z.B. Hermen. Leidensia CGlL 3, 31, 2 ff.:

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