Heimat - Vaterland - Europa: Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans-Gert Pöttering 9783412502171, 9783412501938

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Heimat - Vaterland - Europa: Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans-Gert Pöttering
 9783412502171, 9783412501938

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HEIMAT VATERLAND EUROPA Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans-Gert Pöttering Herausgegeben von Bernhard Vogel

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Herausgegeben von Bernhard Vogel Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik Rathausallee 12 53757 Sankt Augustin bei Bonn Tel 02241 / 246 2240 Fax 02241 / 246 2669 e-mail: [email protected] Internet: www.kas.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Hans-Gert Pöttering (Foto: Europäisches Parlament)

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Denise Lindsay/Kordula Kühlem, Sankt Augustin Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-50193-8

Inhalt

VORWORT

Bernhard Vogel Zum Geleit  ............................................................................................... 13

GRUSSWORTE

Angela Merkel Heimat – Vaterland – Europa  . . ................................................................. 19 Bartholomäus I. von Konstantinopel Grußwort des Patriarchen  .. ....................................................................... 23 Madeleine Albright Grußwort der vormaligen Außenministerin der USA  ............................... 25 Giorgio Napolitano Grußwort des emeritierten Staatspräsidenten Italiens  . . ............................. 27

HEIMAT

Władysław Bartoszewski (†) Persönlich Erlebtes unter nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur 1939 – 1989 in Polen  ....................................... 31 Franz-Josef Bode Bemüht Euch um das Wohl der Stadt. Über den Wert kommunalen und kirchlichen Engagements für die Gesellschaft  ............. 39 Fritz Brickwedde Die Schöpfung bewahren  ......................................................................... 43

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Inhalt

Christian Calderone Die CDU im Landkreis Osnabrück  .......................................................... 51 Michl Ebner Südtirol. Eine europäische Region  ........................................................... 59 Manfred Hugo Was für mich Heimat bedeutet  . . ............................................................... 67 Hans Walter Hütter Anmerkungen zur Erinnerungskultur  ....................................................... 71 Hermann Kues Ludwig Windthorst. Osnabrücker Parlamentarier und christliche Opposition für Rechtsstaatlichkeit und Minderheiten  ............. 77 David McAllister Von Niedersachsen nach Europa  . . ............................................................ 81 Hildigund Neubert Heimat  ..................................................................................................... 89 Alfons Nossol Der Fall zweier Mauern  ........................................................................... 97 Johannes und Benedict Pöttering „Europa fängt zu Hause an“  ..................................................................... 103 Reinhard Freiherr von Schorlemer Erfahrungen eines CDU-Kreisvorsitzenden  ............................................. 111 Reinhard Stuth Heimathafen Hamburg. Zusammenleben, Identität und Zuwanderung  .. ... 117 Manfred Weber Bayern und die Idee der europäischen Einigung  ...................................... 125

Inhalt

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VATERLAND

Jan Peter Balkenende Die Niederlande. Einheit in Vielfalt  ......................................................... 135 Włodzimierz Borodziej Ein Haus und viele Geschichten. Anmerkungen eines Warschauer Historikers  .  149 Hans-Adolf Jacobsen Friedenssicherung durch Dialog  .. ............................................................. 159 Tunne Kelam Can the existing realities be changed? How it succeeded in Estonia  ........ 163 Norbert Lammert Zwischen Wutbürgern und Wahlenthaltung. Parlamentarische Demokratie im Alltagstest  . . .......................................... 169 Alaksandr Milinkievič More Europe means more freedom for Belarus  .. ...................................... 175 Günter Rinsche Konrad Adenauer. Zeitlose politische Grundsätze eines Staatsmannes  .... 181 Nicolas Sarkozy La France, l’Allemagne, l’Europe  ............................................................ 191 Franz Schoser Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft  ............................................... 197 Wolfgang Schüssel Österreich und die europäische Union  ..................................................... 201 Antonio Tajani The role of Italy for a united Europe. The way forward  ........................... 205 Michael Thielen und Gerhard Wahlers Demokratie braucht Demokraten. Zur Rolle der politischen Stiftungen  .. ..  211 Matthias Wissmann Mobilität im 21. Jahrhundert  . . .................................................................. 221

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Inhalt

EUROPA

José Manuel Durão Barroso The State of the European Union  ............................................................. 231 Reinhold Bocklet Von der Gleichheit der Staaten zur Gleichheit der Bürger oder: „Was gilt das Wort eines deutschen Mannes?“  ........................................ 249 Elmar Brok Die Rolle des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments bei der Lösung von Konflikten  ........................ 259 Jerzy Buzek Experiences of a European Parliament President  ..................................... 267 Joseph Daul Le rôle du Groupe du PPE au Parlement européen dans la construction européenne  . . ..................................................................... 275 Mikuláš Dzurinda Das Wilfried Martens Centre for European Studies  ................................. 283 Markus Ferber und Angelika Niebler Hans-Gert Pöttering. Europäer aus Überzeugung  . . ................................... 285 Ingo Friedrich Die europäische Flagge. Der Ursprung einer Erfolgsgeschichte  .. ............. 291 Volker Hassemer Europa. Ein Versprechen  ......................................................................... 297 Peter Hintze Die Europäische Volkspartei  .. .................................................................. 303 Janez Janša Hans-Gert Pöttering. Ein großer Mensch und Europäer  ........................... 311 Jean-Claude Juncker Von Luxemburg nach Brüssel  . . ................................................................ 315

Inhalt

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Othmar Karas Europa und die Globalisierung  . . ............................................................... 321 Volker Kauder Religionsfreiheit als europäisches Prinzip. Einsatz gegen die Diskriminierung von Christen außerhalb Europas  .............................. 327 Horst Köhler Afrikas Moderne und Europas Chance  . . ................................................... 335 Ludger Kühnhardt Die EU und die Kultur der Minderheiten  ................................................. 341 Alain Lamassoure Du Traité Constitutionnel Au Traité De Lisbonne  ................................... 349 Werner Langen Der Euro. Triebfeder der Integration oder Sprengsatz für Europa?  .......... 361 Reinhard Marx Hoffnung und Ermutigung für Europa. Die „kleine Straßburger Europa-Enzyklika“ von Papst Franziskus  .......... 371 Íñigo Méndez de Vigo Future Development of EU Treaties  .. ....................................................... 379 Hartmut Nassauer Hans-Gert Pöttering und die CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament  .. .................................................................... 387 Beate Neuss Sicherheitspolitische Herausforderungen an ein gefährdetes Europa  ....... 393 Günther Oettinger Herausforderungen und Chancen für die digitale Gesellschaft in Europa  . 407 Doris Pack Von der Suche nach einem Fundament für alte und neue Instrumente Europäischer Kulturpolitik  ................................................... 411 Romano Prodi Erfahrungen eines Präsidenten der Europäischen Kommission  ................ 421

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Inhalt

Herbert Reul Europa braucht eine industrielle Zukunft  ................................................. 425 Herman Van Rompuy Blick zurück. Blick nach vorn  . . ................................................................ 429 Jacques Santer Erfahrungen eines Präsidenten der Europäischen Kommission  ................ 439 Wolfgang Schäuble Utopie „Großer Sprung“. Realistisch und pragmatisch: Ziel und Weg Europas formulieren und gestalten  .................................... 445 Martin Schulz Erfahrungen eines Präsidenten des Europäischen Parlaments  .................. 453 Edmund Stoiber Bürokratieabbau als Chance für Europa  ................................................... 461 Jean-Louis Tauran Geisteshaltung und Europäischer Humanismus  ....................................... 465 Donald Tusk The challenge for Europe in the years ahead. Towards a new Euro-realism  .......................................................................  469 Klaus Welle Das Europäische Parlament als europäischer Gesetzgeber  ....................... 475 Karl von Wogau Von der gemeinsamen Währung zur Europäischen Armee  ...................... 487 Christian Wulff Die bunte Vielfalt Europas ist Sache seiner Bürger  . . ................................ 493

LEBENSLAUF, PUBLIKATIONEN, AUTOREN UND HERAUSGEBER Lebenslauf  ............................................................................................... 501 Publikationen  ........................................................................................... 505 Autoren und Herausgeber  ........................................................................ 507

VORWORT

Zum Geleit Bernhard Vogel

„Heimat – Vaterland – Europa“, dieser Dreiklang charakterisiert wohl am besten Lebenslauf und Lebensleistung von Hans-­Gert Pöttering. Am 15. September 1945 in Bersenbrück bei Osnabrück in Niedersachsen geboren, hat der Sohn seinen Vater nie gekannt. Er war in den letzten Kriegstagen an der Ostfront gefallen. Das Schicksal seines Vaters wurde für den Sohn zur Richtschnur seines Lebens. „Mein europäisches Leben“, so hat er selbst einmal seinen Lebenslauf in einem Satz zusammengefasst. Und in der Tat: In der konsequenten Ausrichtung auf Europa nimmt Hans-­Gert Pöttering wohl einen einzigartigen Platz unter den deutschen Politikern ein. Nach Abitur und Wehrdienst schreibt er sich in Bonn für Politische Wissenschaft und Geschichte ein, fügt aber noch im ersten Semester die Juristerei hinzu. Bei Hans-­Adolf Jacobsen promoviert er mit einer Arbeit über ­Adenauers Sicherheitspolitik und legt auch die beiden juristischen Staatsexamen ab. Seine Berufung zum europapolitischen Sprecher der Jungen Union Niedersachsens wurde für ihn zum Beginn einer ungewöhn­lichen europäischen ­Karriere. 1979 wird Hans-­Gert Pöttering zur ersten Direktwahl des Europäischen Parlamentes nominiert und vertritt dort die Region Osnabrück und das Emsland. Er straft mit seiner Wahl als jüngster deutscher Abgeordneter mit 34 Jahren den damals populären Spottvers: „Hast Du einen Opa, dann schick ihn nach Europa“ Lügen. Als er 2014 nach 35 Jahren ausscheidet, ist er der dienstälteste Abgeordnete des Europäischen Parlaments. 2004 und 2009 war er der Spitzenkandidat der CDU Deutschlands für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Er hat die europäische Politik maßgeb­lich beeinflusst. Fast vier Jahrzehnte war er an vorderster Front am Prozess der europäischen Einigung beteiligt in all seinen Höhen und Tiefen. Besonderen Anteil hat er am Zusammenwachsen der christ­lich-­demokratischen und konservativen Schwesterparteien zur Europäischen Volkspartei. Er war zunächst stellvertretender und schließ­lich seit 1999 für nahezu acht Jahre Vorsitzender der EVP-Frak­tion, der stärksten Frak­tion des Europäischen Parlamentes. Zum Höhepunkt seiner Karriere sollte seine Amtszeit als 12. Präsident des Europäischen Parlamentes von 2007 bis 2009 werden. Er selbst hat sein Leben für die Einigung Europas in einer bemerkenswerten Autobiografie zusammengefasst. Sie trägt den Titel „Wir sind zu unserem Glück vereint“. Damit nimmt er Bezug auf die „Berliner Erklärung zur Zukunft Europas“ von März 2007, für die er sich zusammen mit Angela Merkel und José Manuel Durão Barroso wie kein Zweiter eingesetzt hat. Ein Herzensanliegen war

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Bernhard Vogel

Hans-­Gert Pöttering seine Initiative für das „Haus der Europäischen Geschichte“ in Brüssel, dessen Kuratorium er jetzt vorsitzt und das in Bälde eingeweiht wird. Sein Engagement für Europa wurzelt in seiner Liebe zu seiner niedersäch­ sischen Heimat und zu seinem deutschen Vaterland. Nicht von ungefähr entstammt er dem katho­lischen Teil Niedersachsens, wo einst Ludwig Windthorst zu Hause war, der Mitbegründer und jahrzehntelange Führer der Zentrumspartei, der große Widersacher Bismarcks. Wie er ist Hans-­Gert Pöttering in seiner ­Kirche tief verwurzelt, ohne sich als Laie je in klerikale Abhängigkeit begeben zu haben. Bis heute ist er ein treuer Sohn seiner Heimat. In Bad Iburg ist er zu Hause. Dort präsent zu sein, die Sorgen und Nöte vor Ort zu teilen und zu helfen, wo immer er kann, ist für ihn eine Selbstverständ­lichkeit. Allein schon die Tatsache, dass er trotz aller Brüsseler Verpflichtungen über zwanzig Jahre (1990 – 2010) den CDU -Kreisvorsitz im Landkreis Osnabrück geführt hat, beweist das. Er war Mitglied im niedersäch­sischen Landesvorstand sowie im Bundesvorstand der CDU und gehört ihm auch heute noch an. Und er versteht es darum auch, die deutschen Interessen aktiv in Europa zu vertreten. Bei der Einladung an die Autoren, an dieser Festgabe mitzuwirken, hat uns deren besondere Verbundenheit zu unserem Jubilar geleitet. Das musste dazu führen, dass nahezu alle europäischen Spitzenpolitiker sich unter den Gratulanten wiederfinden. Von Jean-­Claude Juncker über Romano Prodi und Jacques Santer bis zu José Manuel Durão Barroso und von Joseph Daul bis zu Elmar Brok: Wer Rang und Namen hat in Brüssel hat bereitwillig seinen Beitrag geleistet. Die Wertschätzung für Hans-­Gert Pöttering teilen auch die anderen demokratischen Parteien, wie der Beitrag von Martin Schulz zeigt. Dass dennoch Freunde aus unserer europäischen Parteifamilie der Christdemokraten besonders zahlreich sind, dürfte niemanden überraschen. Wolfgang Schüssel, Jerzy Buzek, Jan Peter Balkenende, Nicolas Sarkozy sind neben vielen anderen zu nennen. Was Deutschland betrifft, dürfen unter anderem Norbert Lammert, Volker Kauder, Horst Köhler, Wolfgang Schäuble und Edmund Stoiber natür­lich nicht fehlen. Und aus seiner Heimat zum Beispiel David McAllister, Fritz ­Brickwedde und Hermann Kues und seine beiden Söhne, Johannes und Benedict, mit denen Hans-­Gert Pöttering eine besonders enge und immer wieder unter Beweis gestellte Beziehung verbindet. Die K ­ irchen sind durch Beiträge der Kardinäle Reinhard Marx und Jean-­ Louis Tauran und durch Alterzbischof Alfons Nossol sowie den Patriarchen ­Bartholomäus von Konstantinopel vertreten. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wie Beate Neuss, Hans-­Adolf Jacobsen – seinem Doktorvater – und Ludger Kühnhardt. Dass Frau Dr. Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin und Vorsitzende der CDU, ein Grußwort beigesteuert hat, empfinden wir als besondere Auszeichnung. Als Herausgeber danke ich den über 60 Autoren dafür, dass sie als Freunde, Wegbegleiter und Kollegen diese Festschrift mög­lich gemacht haben, und ich

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danke Herrn Dr. Wolfgang Tischner und Herrn Dr. Nino Galetti, ohne die diese Festschrift nicht zustande gekommen wäre, sowie Frau Denise Lindsay M. A. und Frau Dr. Kordula Kühlem für ihre unermüd­liche Arbeit. Hans-­Gert Pöttering ist für sein „europäisches Leben“ im In- und Ausland vielfach geehrt worden. Mit Orden und Ehrenzeichen, mit Ehrendoktoraten und einer Honorarprofessur. Zu seinem 70. Geburtstag möchte ihm die Konrad-­ Adenauer-­Stiftung mit dieser Festschrift eine kleine Freude bereiten. Als Dank dafür, dass er unsere Stiftung seit 2010 mit Engagement und Hingabe leitet, und dass er durch sein leidenschaft­liches, unermüd­liches Eintreten für die Voll­ endung der Einheit Europas in unserer interna­tionalen Arbeit neue Akzente setzt. Ich selbst verdanke ihm, dass ich heute als Ehrenvorsitzender, wo gewünscht, weiter mit Rat und Tat und gelegent­lich auch mit einem kritischen Zwischenruf zur Verfügung stehen darf. Möge unsere freundschaft­liche Zusammenarbeit noch lange fortbestehen. Wir wünschen uns, dass Hans-­Gert Pöttering auch in seinem achten Lebensjahrzehnt mit seiner bemerkenswerten geistigen Frische und körper­lichen Gesundheit die Stiftung voller Optimismus und stets mit einem Lächeln im Gesicht weiter in die Zukunft führt. Wir danken ihm und wir wünschen ihm Gottes Segen für viele Jahre fruchtbarer Arbeit.

Heimat – Vaterland – Europa Angela Merkel

Mit dem vorliegenden Band ehrt die Konrad-­Adenauer-­Stiftung einen großen Europäer. Die Christlich Demokratische Union Deutschlands weiß mit Hans-­Gert Pöttering einen Politiker in den eigenen Reihen, der seit jeher leidenschaftlich für die europäische Idee eintritt. Sein 70. Geburtstag ist Anlass, sein außergewöhnliches europapolitisches Engagement in den Blick zu nehmen. Schon in frühen Jahren wusste Hans-­Gert Pöttering, dass die europäische Idee auch Institutionen und Regelungen braucht, um ihre friedensstiftende Kraft in Gänze zur Geltung zu bringen. Dabei stand von Beginn das Europäische Parlament als direkte Vertretung der Europäerinnen und Europäer im Zentrum seines politischen Wirkens. Mit gerade einmal 33 Jahren zog er bei der ersten Direktwahl als Abgeordneter in ­dieses Parlament ein. Insgesamt 35 Jahre gehörte er ihm an. Die Geschichte des Abgeordneten Pöttering ist damit eng verknüpft mit der Geschichte des Parlaments. Die Entwicklung dieser wichtigen Institution, seine Kompetenzen, sein Selbstverständnis – all dies hat Hans-­Gert Pöttering nicht nur begleitet, sondern maßgeblich mitgestaltet. Stand zu Beginn eine Versammlung mit Kontroll- und Beratungsaufgaben, so sehen wir heute ein Parlament mit Gesetzgebungskompetenz, mit dem Recht, den Kommissions­präsidenten zu wählen, mit dem Haushaltsrecht und dem Recht, Untersuchungsausschüsse einzurichten. Der überzeugte Parlamentarier Hans-­Gert Pöttering war an ­diesem kontinuierlichen Bedeutungsgewinn des Parlaments von Beginn an beteiligt. Jedoch beschäftigte ihn nicht nur die Frage, ­welche Kompetenzen dem Parla­ ment zukommen. Er stellte auch die Frage, ­welche Nationen dort vertreten sind. Für Hans-­Gert Pöttering war die Westbindung die Voraussetzung für ein geeintes Europa in Frieden und Freiheit. Aber ­dieses Europa wäre nur ein halbes Gebilde, wenn es nicht auch die Staaten Mittel- und Osteuropas umfassen würde. Bereits 1963 formulierte Robert Schuman – der erste Präsident des Europäischen Parlaments und damit ein Vorgänger Hans-­Gert Pötterings – den wegweisenden und historischen Anspruch: „Wir müssen das geeinte Europa nicht nur im Interesse der freien Völker errichten, sondern auch, um die Völker Osteuropas in die Gemeinschaft aufnehmen zu können, wenn sie von dem Zwang, unter dem sie leiden, befreit, um ihren Beitritt und unsere moralische Unterstützung nachsuchen werden.“ Diesem Anspruch fühlten sich Hans-­Gert Pöttering und mit ihm die gesamte Christlich Demokratische Union Deutschlands verpflichtet. Als jemand, der in einem auf ­diesem Zwang aufgebauten Staat aufgewachsen ist, weiß ich ­dieses Festhalten am Ziel der Deutschen Einheit in einem geeinten Europa besonders

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Angela Merkel

zu schätzen. Auch viele von uns in der DDR wussten: Die Deutsche Einheit und die europäische Einigung sind die zwei Seiten derselben Medaille. Dies in Frieden und Freiheit zu erreichen, war Zielpunkt des politischen Engagements von Hans-­Gert Pöttering. Nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war, stellte die Europäische Gemeinschaft unter Beweis, dass sie dem Anspruch Schumans gerecht wird: der Aufnahme der „Völker Osteuropas“. Wie kaum ein anderer widmete sich Hans-­Gert Pöttering den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas. Er wurde zum unermüdlichen Anwalt für ihren Beitritt zur Europäischen Union. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrendoktortitel aus diesen Staaten sind Zeugnis der bis heute anhaltenden Wertschätzung, die Hans-­Gert Pöttering genießt. Die Erweiterung der Europäischen Union konnte nur gelingen, weil sie nicht nur ein staatlicher Akt war, sondern weil sie durch menschliche Begegnung vorangetrieben wurde. Europa ein Gesicht geben, Europa erfahrbar machen, ein Europa der Bürgerinnen und Bürger bauen – all dies war und ist ein Grundanliegen von Hans-­Gert Pöttering. Für ihn gehören zum Erfolg der europäischen Idee nicht nur Verträge, Institutionen und staatliches Handeln. In seiner Antrittsrede als Präsident des Europäischen Parlaments drückte er dies folgendermaßen aus: „Die europäische Einigung ist […] nicht nur ein Anliegen, das uns unser Verstand gebietet, die europäische Einigung ist auch ein Anliegen des Herzens.“ Diese Begeisterung wird es ohne eine europäische Identität nicht geben – davon war und ist Hans-­Gert Pöttering überzeugt. Identität gründet dabei im Wissen um eine gemeinsame Geschichte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Hans-­ Gert Pöttering als Präsident des Europäischen Parlaments die Idee zu einem „Haus der Europäischen Geschichte“ entwickelte. Er trieb ­dieses Projekt voran, und wir werden voraussichtlich im kommenden Jahr diese wichtige Institution feierlich eröffnen können. Die Leidenschaft für Europa wurde Hans-­Gert Pöttering förmlich in die Wiege gelegt; seine Kindheit unmittelbar nach Kriegsende ist von einer zen­ tralen Botschaft geprägt: Nie wieder Krieg! Dies war gleichzeitig die Botschaft der europäischen Idee, als Antwort auf Leid, auf Zerstörung, auf millionen­ fachen Tod, durch den Zivilisationsbruch der Shoah. Winston Churchill brachte diese Idee in seiner Züricher Rede 1946 auf den Punkt: „Es gibt ein Heilmittel, das […] innerhalb weniger Jahre ganz Europa […] frei und glücklich machen könnte. Dieses Mittel besteht in der Erneuerung der europäischen Familie. Wir müssen ihr eine Ordnung geben, unter der sie in Frieden, Sicherheit und Freiheit leben kann.“ Ganz Europa sehnte sich danach. Diese Sehnsucht wurde von einer Generation getragen, die Schrecken und Not des Krieges am eigenen Leib erfahren hatte. Aber die europäische Idee wäre bereits in den Kinderschuhen stecken geblieben, wäre sie nicht von der jungen, heranwachsenden Generation weitergetragen worden – mit Begeisterung, Zuversicht, Tatkraft und Gottvertrauen. Wie kaum jemand anderes steht Hans-­Gert Pöttering für diese Generation.

Heimat – Vaterland – Europa

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Gleichzeitig wusste er seit jeher den Wert der Heimat zu schätzen. Heimat, Vaterland und Europa – so der Titel dieser Festschrift – sind für ihn eng aufeinander bezogen. Als er im Jahr 2009 mit der Ehrenbürgerwürde seiner Geburtsstadt Bersenbrück ausgezeichnet wurde, nannte er dies seine „größte und schönste Ehrung“ in einer an Ehrungen wahrlich nicht kleinen Sammlung. Bei der feierlichen Verleihung der Ehrenbürgerwürde zitierte er den Philosophen Karl Jaspers: „Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde.“ Vielleicht bringt dieser Satz am besten zum Ausdruck, für w ­ elche Art Europa sich Hans-­Gert Pöttering seit Beginn seines politischen Wirkens engagiert: Für ein Europa, das den Menschen Heimat ist. Verantwortung für die Heimat und für das Vaterland waren auch die Antriebskräfte bei der Gründung der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, die wie Hans-­Gert Pöttering ebenfalls in ­diesem Jahr ihren 70. Geburtstag ­feiert. 1945 fanden sich überall in Deutschland engagierte Frauen und Männer zusammen, um eine neue Partei ins Leben zu rufen – eine Partei, die die Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus zieht, indem sie den Menschen in seiner unveräußerlichen Würde zum Ausgangspunkt ihrer Politik macht und das Verbindende über das Trennende stellt. „In der schwersten Katastrophe, die je über ein Land gekommen ist, ruft die Partei Christlich-­Demokratische Union Deutschlands aus heißer Liebe zum deutschen Volk die christlichen, demokratischen und sozialen Kräfte zur Sammlung, zur Mitarbeit und zum Aufbau einer neuen Heimat. […] Voll Gottvertrauen wollen wir unseren Kindern und Enkeln eine glückliche Zukunft erschließen“, heißt es im Berliner Gründungsaufruf vom 26. Juni 1945. Dies ist der Anspruch, der die CDU über 70 Jahre hindurch getragen hat. Und dem die CDU auch in Zukunft folgt. Und dies ist der Anspruch, der über dem politischen Wirken Hans-­Gert Pötterings steht und den er in seinen zahlreichen verantwortungsvollen Funktionen nie aus den Augen verlor, ob als Stadtverbandsvorsitzender in Bersenbrück oder als Präsidiumsmitglied der CDU Deutschlands, ob als Kreisvorsitzender der CDU Osnabrück oder als Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Ich habe Hans-­Gert Pöttering stets als aufrechten Christdemokraten erlebt. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass er als Vorsitzender der Konrad-­Adenauer-­ Stiftung der CDU auch weiterhin Ratgeber und Begleiter ist. Hans-­Gert Pöttering hat sich um die Christliche Demokratie verdient gemacht. Im Namen der CDU Deutschlands möchte ich ihm von Herzen für sein Wirken und Tun danken. Der vorliegende Band spannt einen weiten Bogen – über das politische Leben des Jubilars, über die Geschichte unseres Landes und über die Entwicklung Europas. Dem Leser wünsche ich eine spannende Lektüre und dem zu Ehrenden gratuliere ich von Herzen zu seinem Geburtstag.

Grußwort des Patriarchen Bartholomäus I. von Konstantinopel

Grußwort der vormaligen Außenministerin der USA Madeleine Albright

Grußwort des emeritierten Staatspräsidenten Italiens Giorgio Napolitano

Auch ich möchte Zeugnis zum Wert und dem Engagement einer Persönlichkeit wie Hans-­Gert Pöttering leisten. Ich spreche vom politischen, kulturellen und moralischen Wert, den insbesondere sein Engagement für Europa angenommen hat; und ich spreche genau von ­diesem Engagement, das ich ganz aus der Nähe kennen und schätzen lernen konnte, seitdem ich im Jahr 1989 ins Europäische Parlament gewählt wurde, auch wenn ich in der betreffenden Legislaturperiode nur in begrenzter Weise an den Aktivitäten teilgenommen habe, da ich damals auch Abgeordneter im italienischen Parlament war. Es fiel mir leicht, im Abgeordneten Pöttering eines der besten Beispiele für Beständigkeit und Konstruktivität bei der Verkörperung dieser Institution zu erkennen. In der anschließenden Legislaturperiode von 1999 – 2004 – in der ich mich ausschließlich und intensiv mit der Rolle und den konkreten Aufgaben im Parlament von Straßburg identifiziert habe – bin ich mit Herrn Pöttering als Präsident der Europäischen Volkspartei und anschließend als Präsident des Europäischen Parlaments erneut zusammengetroffen. Das Verhältnis ­zwischen uns wurde so nicht nur zu dem einer aufrichtigen und fruchtbaren politischen Zusammenarbeit, sondern es erwuchs daraus eine starke gegenseitige Wertschätzung und Freundschaft. Er zeichnete sich durch ein absolut unabhängiges Urteilsvermögen und Objektivität aus, vor allem was ­Themen anbetraf, die in meiner Verantwortung als Präsident des Ausschusses für konstitutionelle Fragen lagen. Und er hat nicht gezögert, mich sowohl 1999, als auch 2002 bei der Wahl zum Präsidenten eben d­ ieses Ausschusses zu unterstützen, dessen Initiative und Ausrichtungen er auf jegliche Weise förderte. Die von ihm – oder von anderen zu seiner Gruppe der „Ältesten“ des Europäischen Parlaments gehörenden Personen – vertretenen Positionen und durchgeführten Tätigkeiten haben geschichtlich einen der Bezugspunkte und Stärken der pro-­europäischen Tradition der CDU und – das kann man klar sagen – der Bundesrepublik Deutschland im langen Integrationsprozess dargestellt. Er reihte sich wirklich in die Linie des Leitbildes von Konrad Adenauer ein, der Gründer der Europäischen Union und der nachfolgenden Entwicklungen war. Ich wurde in meiner Überzeugung bestätigt, dass die Kohärenz des pro-­europäischen Verhaltens, das Deutschland und Italien über Jahrzehnte an den Tage gelegt haben, den hauptsächlichen Sicherheitsfaktor und das Antriebselement beim Aufbau eines einheitlichen Europas darstellte. Diese deutsche Rolle von Herrn Pöttering, die unteilbar von einer länderübergreifenden Vision der Zukunft unseres Kontinents ist, wie sie bereits in

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Giorgio Napolitano

der Schuman-­Erklärung von 1950 schriftlich niedergelegt wurde, rechtfertigt unzweifelhaft seine Ernennung zum Vorsitzenden der internationalen Konrad-­ Adenauer-­Stiftung. Ich hatte die Gelegenheit, Hans-­Gert Pöttering auch nach meiner Wahl zum Präsidenten der Italienischen Republik und auch in der näheren Vergangenheit treffen zu können und diese Treffen haben unser Verhältnis und den Grund für meine Ehrung noch weiter verfestigt, die ich ihm heute als wichtige Persönlichkeit des öffentlichen Lebens unseres befreundeten Landes Deutschland und als engagierten Europäer entgegenbringe, der die Vision, an die wir geglaubt haben und noch immer glauben, fördert und bereichert. Eine Vision einer immer engeren Einheit und Integration unter den Staaten und den Völkern unseres Kontinents, der endlich in Frieden und Demokratie vereint ist.

Persönlich Erlebtes unter nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur 1939 – 1989 in Polen*1 Władysław Bartoszewski (†)

Mein Bericht soll den Zeitraum eines halben Jahrhunderts umfassen. Nicht für jeden Menschen an einem beliebigen Ort der Welt bedeuten in unserem Jahrhundert fünfzig Jahre dasselbe. Bei der rückblickenden Schilderung des Erlebten ist also der historische Zeitpunkt, der Ort des Geschehens und die persön­liche Posi­tion des Erzählers nicht ohne Bedeutung. Die Zeit: Es geht um die fünfzig Jahre von den ersten Schüssen am 1. September 1939 in der Danziger Bucht und dem Angriff der NS-Deutschen auf Polen bis zum Herbst 1989, dem beginnenden Zerfall der imperialen sowjetrus­sischen Macht, die in Europa infolge ­dieses Krieges aufgebaut worden ist und 45 Jahre überdauerte. Zur Person: Der Erzähler war 1939 ein ganz durchschnitt­licher junger Mann: vier Monate nach dem Abitur an einem katho­lischen Gymnasium in Warschau, 17-Jährig, in einer Bankbeamtenfamilie erzogen. Der Ort des Geschehens war am Anfang die Hauptstadt Polens, Warschau. Am 1. September 1939 sind die ersten deutschen Bomben auf Warschau gefallen. Im Schlaf sind Menschen gestorben, die nicht einmal wussten, dass der Krieg ausgebrochen war. Man vergisst oft, wenn man über die Grausamkeit des Bombenkrieges nachdenkt, wie das angefangen hat: mit der Bombardierung der offenen Stadt Warschau am 1. September 1939, frühmorgens, als die Leute noch nicht gewusst haben, dass der Krieg ausgebrochen ist. Ich war, wie alle aus meiner Genera­tion, total ratlos. Wir haben in den folgenden Wochen das hoffnungslose Ringen als Kampf um die Rettung unserer Welt verstanden. Ich glaube, wir, die jungen Leute von damals, die im E ­ rsten Weltkrieg oder knapp nach dem ­Ersten Weltkrieg geboren wurden, waren – nicht nur die Polen – die letzte europäische Genera­tion, die die humanistischen Werte der Zivilisa­tion des 20. Jahrhunderts nicht in Frage stellte. Wir waren der Meinung, Europa, Humanismus und der Fortschritt ­seien gleich. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs haben alle, nicht nur bei uns, auch in Deutschland, in Frankreich, manches anders gesehen, damals aber waren wir sehr naiv. Geboren 1922, gehörte ich zur ersten Genera­tion von Polen, die im unabhängigen Staat nach 1918 aufgewachsen sind und erzogen wurden, nach der 123 Jahre langen Nichtexistenz eines eigenen Staates. Begriffe wie der Staat, der Rechtsstaat, die Freiheit bedeuteten für diese jungen Leute alles, egal ob sie sozialdemokratisch oder katho­lisch, protestantisch oder agnostisch waren, ob sie Polen oder patrio­ tisch gesinnte polnische Juden waren – alle haben sie ähn­lich gedacht. Mög­ licherweise haben einige Minderheiten, die damals in Polen gelebt haben, die

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ukrainische, die weißrus­sische, gewisse Teile der deutschen Minderheit, damals anders gedacht, weil sie nicht unbedingt den souveränen polnischen Staat wollten. Der Krieg 1939 war ein gemeinsamer, fast heiliger Verteidigungskrieg für Polen, und, was man seltener ausspricht, auch für die polnischen Juden: Die letzte Rettung für diese Leute war der Widerstand der Polnischen Republik gegen die Nazis. Es lebten damals in Polen ungefähr 3.800.000 Juden (im Sinn der Nürnberger Gesetze), und die Chance der Verteidigung des polnischen Staates war für sie mit ihrer Existenz verbunden. Am 5. Oktober 1939 nahm Hitler die Siegesparade in der Ujazdowski-­Allee ab, auf dem alten Königstrakt Warschaus. Die Einsatztruppe der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes ist fünf Tage vorher nach Warschau gekommen und hat auf Grund von fertigen Listen sofort mehrere hundert Männer aus der Oberschicht verhaftet und ins Gestapo-­Gefängnis gebracht. Es handelte sich um Priester, Professoren, Ärzte, Rechtsanwälte, Politiker, verschiedene bekannte Persön­lichkeiten, die sofort verhaftet worden sind. Das hat man in Nazi-­Kreisen „die politische Flurbereinigung“ genannt. Dann ist Hitler angekommen. Ich habe damals, als junger Mann, zum ersten Mal in meinem schon erwachsenen Leben geweint, mich eingeschlossen in meinem Zimmer und geheult. Ich war ratlos. Niemand konnte mir etwas erklären oder helfen. Und dann, bald, nach wenigen Wochen, tauchten die roten Bekanntmachungen der Besatzungsbehörden auf, in denen von der Hinrichtung von Menschen für „Ungehorsam“ oder „das Abreißen eines Anschlags“ die Rede war. Aus anderen Städten Polens, besonders aus dem west­lichen Teil des Landes, waren schon im Herbst 1939 die ersten Transporte nach Stutthof, nach Sachsenhausen-­Oranienburg, nach Ravensbrück, nach Dachau angelaufen. Aus Warschau sind die ersten Transporte in die KZ erst nach einigen Wochen weggeschickt worden. Alle Strukturen des bestehenden polnischen Staates und der polnischen staat­lichen Ordnung wurden abgeschafft. Man hat alle polnischen und jüdischen Vereine, Verbände und alle politischen Parteien aufgelöst. Hart betroffen – das weiß man heute in Deutschland kaum – war die deutsche sozialdemokratische Partei in Lodz, die legal bis September 1939 bestand. Anfang September 1939 ist die Gestapo mit fertigen Fahndungslisten nach Lodz gekommen und hat diese deutschen Aktivisten der sozialdemokratischen Partei an Ort und Stelle in den Wohnungen niedergeschossen. Politische Gegner, auch deutscher Na­tionalität, wurden sofort, im Schnellverfahren, liquidiert, getötet. Parallel dazu hat man mit der großen Aussiedlung der Polen aus dem Posener Gebiet und aus Pommern angefangen. Das waren in wenigen Monaten über 350.000 Menschen, die binnen 15 bis 30 Minuten ihre Wohnungen verlassen mussten mit nur einem Stück Gepäck und dann in Zentralpolen angekommen sind – ohne etwas. Es entstanden natür­lich riesige ­soziale Probleme. Gleichzeitig hat man Anfang September 1939 die Juden mit dem Davidstern gekennzeichnet, noch ehe man Ghettos geschaffen hat. Die Juden wurden aller Rechte beraubt: keine Bankkonten, keine beruf­lichen

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Leistungen für Nichtjuden. Gleichzeitig kam die Unterdrückung der polnischen Oberschicht. Wie man in dem damaligen Rassenpolitischen Amt der Reichsleitung der NSDAP den Begriff der polnischen Oberschicht verstanden hat, kann man in der Schrift von E. Wetzel und G. Hecht vom November 1939 „Die Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebiete nach rassepolitischen Gesichtspunkten“ nachlesen. Darin heißt es: „Unter den Begriff der polnischen Intelligenz fallen in allererster Linie polnische Geist­liche, Lehrer, einschließ­lich Hochschullehrer, Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Offiziere, höhere Beamte, Großkaufleute, Großgrundbesitzer, Schriftsteller, Redakteure, sowie sämt­liche Personen, die eine höhere oder mittlere Schulbildung erhalten haben.“ Dies zeigt deut­lich, dass man von Anfang an etappenweise das polnische Volk völlig zerstören wollte. Es ist schließ­lich kein Zufall, dass etwa 2.850 polnische römisch-­katho­lische Priester und vier Bischöfe umgebracht worden sind. Es gibt kein anderes europäisches Land, in dem die Nazis so viele Priester ermordet haben. Ich nenne das Beispiel, um zu zeigen, ­welche Atmosphäre uns damals umgeben hat, in welcher Atmosphäre wir gelebt haben. Man hat jeden Tag überstanden, glück­lich, noch am Leben zu sein. Man hat nichts geplant, nichts gewollt, außer der Beendigung des Krieges. Wir waren damals der Meinung, der Krieg wird im Frühjahr 1940 mit dem Sieg der Alliierten enden. Den Winter 1939/40 müssen wir also überdauern. Welche Begründung hatten die Leute zu solchem Denken? Weil wir im Recht waren, und weil Hitler kein Recht hatte. Ein naives mora­lisches Denken, wie in einem Märchen; das hat uns Polen aber geholfen, alle Kriegsjahre zu überleben. Am 19. September 1940 war schon seit einigen Monaten die sogenannte ABAktion im Gange. Die Nazis haben sehr gerne verschiedene Terror-­Aktionen mit Decknamen versehen; AB -Ak­tion, das bedeutete „Außerordent­liche Befriedungsak­tion“ – nichts anderes, als einen planmäßigen Schritt auf dem Wege der Ausrottung der polnischen Oberschicht; etwa 20.000 Personen sollten in die Konzentra­tionslager gebracht und einige Tausende an Ort und Stelle erschossen werden. Man hat das auch tatsäch­lich getan. Im Sommer 1940 hat man im Raum Warschau bis zu 5.000 polnische Akademiker umgebracht und ungefähr 20.000 in Konzentra­tionslager abtransportiert. Welche? Unterschied­ liche. Der einfache Polizist, der den Befehl bekommen hat, soundso viele Polen zu bringen, war nicht instruiert worden, wie er erkennen soll, ob jemand ein Intellektueller ist. So wurden die Leute auf der Straße festgenommen; „Du, Brillenträger – komm.“ Brillen trugen damals nur wenige Leute, es waren sicher keine Arbeiter oder Bauern, sondern Intellektuelle. Also, weg ins Lager. Das kann man sich heute kaum vorstellen. Aber ich habe das selbst erlebt. Am 19. September 1940, am Ende dieser Ak­tion, umstellten bei Tagesanbruch SS -Leute mit dicken Postenketten einige Wohnblocks in verschiedenen Gegenden Warschaus. Man holte mich aus unserer Wohnung. Ich war damals beim Polnischen Roten Kreuz angestellt, aber mein Ausweis half nichts. Nach einer

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Stunde wurde ich, so wie Tausende anderer Männer im Alter von 16 bis 65, auf einen Lastwagen verladen und in die Kaserne des SS-Reiterregiments Warschau gebracht. Niemand wurde dort verhört oder irgendeines Vergehens beschuldigt. Das hat mich an die Pogromnacht vom 9. November 1938 in Deutschland erinnert, an die Verhaftung von Menschen „präventiv“, ohne etwas zu prüfen oder beweisen zu müssen. Nach drei Tagen war ich als politischer Häftling Nr. 4427 schon in Auschwitz. Von der Existenz des Lagers Auschwitz wussten wir damals in Warschau noch nichts – das KZ Auschwitz I funk­tionierte erst seit drei Monaten. Außer einigen Dutzend deutscher Krimineller, die meistens die Funk­tionen von Kapos und Blockältesten ausübten, waren damals ausschließ­lich Polen in Auschwitz inhaftiert, und zwar hauptsäch­lich Akademiker und sogenannte Intelligenzler. Es gab noch keine Gaskammer, aber der Kamin des Krematoriums qualmte schon. Hunger, Prügel, Arbeit über alle menschlichen Kräfte forderten Tag für Tag Dutzende Opfer. Zum ersten Mal in meinem Leben, wenn auch nicht zum letzten Mal, empfand ich das Gefühl völliger Hilflosigkeit angesichts der Misshandlung von Menschen. Ich kehrte im April 1941 von Auschwitz nach Hause zurück; einige hundert Personen, vorwiegend Opfer von Massenrazzien, gegen die nichts Konkretes in den Akten vorlag, wurden im Frühling und Sommer 1941 entlassen. Ich hatte meine Entlassung den intensiven Bemühungen des Polnischen Roten Kreuzes zu verdanken. Bei meiner Rückkehr lebten nach dem Winter 1940/41 aus dem Haus, in dem ich wohnte, zehn Leute nicht mehr, und nur drei waren noch am Leben. Ich habe mich ein bisschen verloren gefühlt und habe Hilfe bei einem Priester gesucht, der mir tröstend gesagt hat: „Wenn du entlassen bist, hat das eine Bedeutung in Gottes Plänen.“ Und weiter: „Du musst versuchen, das zu verstehen und den Betroffenen und Unglück­lichen zu helfen, insbesondere denen, die dich am meisten brauchen, weil du mehr weißt über menschliches Unglück, als deine Altersgenossen.“ Ich erinnere mich genau, dass ich ihm die Frage gestellt habe, wie ich diese Leute finden werde. „Sie werden sich schon selbst finden.“ Die damals – 1941/42 – besonders hart betroffenen Menschen in meiner Geburtsstadt waren die Warschauer Juden. Sie waren inzwischen schon im Ghetto eingesperrt, und Zehntausende sind infolge von Hunger und Epidemien gestorben, ehe man noch die planmäßige Vernichtungsak­tion im Sommer 1942 begonnen hat. Ab Ende Juli 1942 hat die deutsche Polizei die Menschen zum Tod in den Gaskammern in das Vernichtungslager Treblinka verschickt (so auch im August den Arzt Dr. Janusz Korczak mit seinen Waisenkindern). Meine Eltern hatten jüdische Freunde und Bekannte, die uns vor dem Kriege selbstverständ­lich besucht haben; es war für mich also ganz natür­lich, den betroffenen Bekannten ohne lange Überlegung zu helfen. Besonders denen, die auf der „arischen“ Seite der Mauer Zuflucht suchten. Ich habe aber allein

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keine entsprechenden Mittel gehabt. Nach kurzer Zeit habe ich – im Sommer 1942 – an eine katho­lische Schriftstellerin, Zofia Kossak, Anschluss gefunden. Zofia Kossak war eine bedeutende Persön­lichkeit in der polnischen Gesellschaft, literarisch und weltanschau­lich der deutschen Gertrud von Le Fort nahe; damals wurde sie schon seit einiger Zeit von der Gestapo gesucht und lebte unter falschem Namen. Sie war streng und konsequent katho­lisch, aber frei von religiösen Vorurteilen gegen Juden, was damals nicht selten vorkam. Zofia Kossak, eine Autorität für mich, älter als meine ­Mutter; sie hat mich in die Ak­tion der Hilfe für die Flüchtlinge aus den Ghettos mit einbezogen. Ihre Initiative hat sich sehr schnell entwickelt, und weil ich jung war und alle anderen Beteiligten älter als ich, hat man sich meiner gerne bedient. Sehr schnell bildete sich eine größere Organisa­tion, in der Sozialisten, Liberale, Mitglieder der Bauernpartei, Intellektuelle unterschied­licher Couleur und katho­lische Studenten zusammengearbeitet haben; der Hilfsrat für Juden (Deckname „Zegota“) wurde gegründet, und ich war einer der Mitbegründer. Heute bin ich der letzte Lebende aus dieser Gründergruppe und genieße die Anerkennung und Sympathie vieler Menschen, unter anderem als Ehrenbürger des Staates Israel. Damals (1942) konnte man selbstverständ­lich überhaupt nicht damit rechnen, dass man diesen Krieg überleben werde. Dann ist der große Warschauer Aufstand 1944 ausgebrochen (der 70. Jahrestag ­dieses Aufstandes wurde im August 2014 in Warschau gefeiert). Und dann, gegen Ende des Krieges im Winter 1945, haben wir in Polen etwas erlebt, was einem Erdbeben gleichkam: die sogenannte Zeit der Befreiung, als die Rote Armee polnische Territorien ­zwischen dem Sommer 1944 und dem Vorfrühling 1945 von der deutschen Besatzungsmacht gesäubert hat. Ich habe immer versucht, das Wort „Befreiung“ nicht zu benutzen, denn man muss etwas Grundsätz­ liches unterscheiden. Befreit wurden durch die sowjetische Offensive sicher­lich noch die armen Überlebenden in den Konzentra­tionslagern und Arbeitslagern auf dem polnischen Territorium (die meisten sind schon früher nach Dachau, nach Bergen-­Belsen, nach Mauthausen verschleppt worden). Aber der Begriff der Befreiung betrifft nur die Menschen in den Lagern und in den Gefängnissen der Gestapo. Ich möchte hier etwas bemerken, was typisch für das Denken der polnischen Genera­tion von damals war und bis heute teilweise geblieben ist. Wenn zum Beispiel die Polen in Holland die Stadt Breda befreit haben oder einige Städte in Italien oder wenn sie sich an der Befreiung Frankreichs oder Belgiens 1944 beteiligt haben (in der Normandie, bei Falaise und Chambois), dann haben sie sicher kein politisches Kalkül gehabt, irgendwelchen politischen oder wirtschaft­lichen Nutzen für sich daraus zu ziehen. Tausende dieser Befreier liegen auf den Friedhöfen in Holland, in Belgien, in Frankreich, in Italien – bis heute. Sie haben freiwillig gekämpft für die gemeinsame Sache: für die Befreiung der Völker Europas von Hitler. Wenn aber Menschen eingesetzt wurden, um ein Imperium aufzubauen, wenn sie auch unter großen Blutopfern Territorien besetzt

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haben, um sie für das rus­sische Imperium zu bekommen, wo man dann eine kommunistische Macht im Auftrag von Moskau eingesetzt hat, kann ich zwar den einzelnen betroffenen armen Soldaten als ein Opfer des Krieges sehen und als einen Menschen, der mit gutem Willen gekämpft hat, aber das war eigent­ lich eine Eroberung und keine Befreiung. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs waren die Sowjetrussen Verbündete von Hitler. Die Sowjetunion war damals – im Herbst 1939 – mit dem Deutschen Reich politisch befreundet und hat sich an der Aufteilung Polens beteiligt, indem die Rote Armee am 17. September 1939 in die polnischen Ostgebiete einmarschiert ist und diese besetzt hat. Und in dem Sinn haben die Polen bis heute ein gestörtes Verhältnis zum Problem der sogenannten Befreiung im Jahre 1945, denn die, die uns von der deutschen Besatzung befreit haben, haben uns auch von unserer Freiheit und unserer Hierarchie der Werte „befreit“, sie haben in Polen mit Gewalt die kommunistische Regierung für 45 Jahre eingesetzt. Zwei Genera­tionen lang sind die Menschen verdorben und in weitem Umfang see­lisch vergiftet worden. In dem zweiten Kapitel des unter einer Diktatur Erlebten ist viel weniger zu sagen als in dem ersten, weil es die allgemeine und ähn­liche Erfahrung der Menschen in Ostblockstaaten betrifft, gleichgültig, w ­ elchen Namen die dortige Stasi hatte. Die Schulung entsprach in jedem Fall dem Modell aus der ­Zentrale, und die gemeinsame Zentrale war in Moskau. Vollstrecker dieser Politik waren Menschen aller Na­tionalitäten im Dienst einer neuen Religion. In Polen haben wir es jetzt zum ersten Mal zu tun gehabt mit Menschen, die in dem totalitären System, im Kommunismus eine Art Religion gesehen haben; der Na­tionalsozialismus war näm­lich für die Polen keine Religion. Sogleich nach Kriegsende 1945 ist der s­ päter größte polnische Philosoph – jetzt ganz und gar auf der anderen Seite und Freund vieler von uns, Leszek Kolakowski – als 18-Jähriger begeistert Kommunist geworden und blieb es auch mehrere Jahre lang. Danach hat er präzis und scharfsinnig mit dem Kommunismus abgerechnet. Man hat gewisse allgemeine Erfahrungen und auch persön­liche Erfahrungen aus dieser Zeit; ich war noch in der stalinistischen Zeit sechs Jahre und sieben Monate in Gefängnissen im kommunistischen Polen. Insgesamt, mit der NS deutschen Zeit und mit der Verhaftung nach der Einführung des Kriegsrechts 1981, habe ich also acht Jahre „absolviert“. Eine wichtige gemeinsame Erfahrung bleibt: Die Menschen sind überall zum Guten und zum Bösen fähig. Meine Gefängniskollegen waren Offiziere und Unteroffiziere wie Bauern, Arbeiter, katho­lische Priester und Zeugen Jehovas, Beamte, Politiker, Kommunalpolitiker, 18-Jährige bis 65-Jährige, politische und kriminelle Häftlinge, Nazi-­ Kriegsverbrecher. Mit allen diesen Menschen habe ich jahrelang meinen Alltag geteilt. Ich habe mit diesen Menschen sehr viel gesprochen und versucht, Gemeinsames, Menschliches zu finden. Die Weltpolitik war weit entfernt. Der Alltag war ein Gefängnisraum. Von der Berlin-­Blockade, dem Koreakrieg, dem 17. Juni 1953 habe ich nichts erfahren. Ich war die ganze Zeit isoliert – wir haben

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auch keine Zeitungen gehabt. Ich war in einer Welt, in der eine andere Hierarchie der Werte herrschte, und man musste sich in dieser Welt auskennen und, man kann sagen, durchsetzen. „Durchsetzen“ – das kann auch bedeuten: die Situa­tion mit Würde ertragen, in Dutzenden oder in Hunderten Fällen extrem tolerant, aber in einigen prinzipiellen Sachen nie tolerant sein. Seit der Zeit bin ich, glaube ich, ein toleranter Mensch geworden, aber auch grundlegend intolerant in gewissen konkreten Sachen, die Prinzipien meines Glaubens, meiner Bestrebungen, meiner Wertvorstellungen betreffen. Ich zwinge niemanden, das zu tun, was ich tue, aber ich werde mich nicht ändern, und niemand kann mir eine Änderung meines Weges aufzwingen. Das Gefängnis hat mich gelehrt, dass freund­liches Benehmen und ein gutes Verhältnis, eine gute Beziehung zu den Menschen zählen. Wenn ich mich heute, nach Dutzenden Jahren an die größten Triumphe meines Lebens erinnere, kann ich anekdotisch sagen: Nach Stalins und Berijas Tod war ich 1954 noch in einem polnischen Gefängnis. Dann aber hat man die Wahl einer Selbstverwaltung der Häftlinge für Ordnungszwecke zugelassen (vorher wurden die Funk­tionshäftlinge ernannt, wie im Konzentra­ tionslager). Ich befand mich damals in einer sehr gemischten Gefängniszelle, in der Nazi-­Kriegsverbrecher, polnische Kriminelle, polnische politische Häftlinge verschiedener Herkunft und Weltanschauung zusammen gewesen waren. Und man hat mich einstimmig zum Stubenältesten gewählt. Ich muss sagen: Einen solchen Triumph habe ich nie wieder erlebt. Sie hatten mich selbstverständ­lich, wie immer bei den Menschen, aus unterschied­lichen Motiva­tionen gewählt. Die Kriminellen haben gedacht: Er kann gut sprechen, er wird uns schon gut bei den Wachmännern verteidigen; die Politischen haben geschätzt, dass ich mich in meinem Prozess normal verhalten habe, also nichts gestanden, niemanden belastet habe; die Deutschen waren davon angetan, dass ich mit ihnen Deutsch gesprochen habe. Und das bedeutete für alle diese Leute, der ist eine Person, die womög­lich gut vermitteln wird. Durch einen glück­lichen Zufall habe ich es – meiner Meinung nach – in der Stalin-­Zeit leichter gehabt, weil ich in Haft war. Die Leute, die nicht im Gefängnis waren, waren täg­lich verstrickt in die schwierige Notwendigkeit, Dutzende Entscheidungen fallen zu müssen. Sie mussten sich täg­lich, so wie in der DDR, entscheiden angesichts der Partei oder der Jugendorganisa­tion, angesichts der Unterdrückung der K ­ irche, angesichts verschiedener anderer Maßnahmen, die das Leben der Gesellschaft erschwert haben. Ich musste nicht. Als Häftling hatte man nur die Wahl: Spitzel sein oder normaler Mensch, dazwischen gab es kaum etwas. Die Mehrheit der Bevölkerung in den Ostblockstaaten, nicht nur in Polen, auch in der DDR und anderswo, hat jahrelang täg­lich das Problem gehabt, wie man sich arrangieren, wie man überleben soll oder darf, aber gleichzeitig auf irgendeine Weise größere Schweinereien vermeiden kann, um dann, sagen wir „mittlere“ Schweinereien doch zu praktizieren. Und bis heute habe ich so meine Zweifel bei dem Begriff „um Schlimmeres zu verhindern“ oder dem Begriff

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des „kleineren notwendigen Übels“. Die bekannte Salamitaktik hat nicht nur die sowjetrus­sische Politik angewendet, auch in der Weltpolitik ist sie bekannt. Wenn man aber gleichgültig bleibt bei dem ersten Versuch, bleibt man auch bei dem zweiten gleichgültig, das ist nun einmal eine bekannte Tatsache. Ich glaube, charakteristisch für die Nazis war, dass sie im Grunde genommen niemanden überzeugen wollten. Sie wollten hörige Vollstrecker ihrer Befehle haben. Die Kommunisten dagegen wollten die Leute überzeugen oder sie mindestens dazu bewegen, sich als ideolo­gisch überzeugt zu erklären. Die Nazis haben grausam ihre Absichten und Ziele exekutiert. Die Kommunisten aber haben viel mehr erreicht. Die Rechtsextremen von heute haben keine tiefere ideolo­gische oder philosophische Begründung ihrer Tätigkeit. Die Postkommunisten versuchen weiter ihren Weg auch philosophisch, soziolo­gisch oder historisch auf unterschied­liche Weise zu begründen. Und hier sehe ich eine Unvergleichbarkeit. Aber eines bleibt gleich: die Verpflichtung, uns mit aller Kraft der Rückkehr totalitärer Erscheinungen zu widersetzen.

*1 Der Beitrag wurde vom Autor am 29. Januar 2015 übersandt und wird posthum veröffent­ licht.

Bemüht Euch um das Wohl der Stadt Über den Wert kommunalen und kirchlichen Engagements für die Gesellschaft Franz-­Josef Bode

„Baut Häuser und wohnt darin, pflanzt Gärten und esst ihre Früchte! Nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären. Ihr sollt euch dort vermehren und nicht vermindern. Bemüht euch um das Wohl der Stadt, in die ich euch (weg-)geführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl.“ (Jer 29,5 – 7) Dieses Wort ist fast 3.000 Jahre alt. Es stammt aus dem Brief des Propheten Jeremia an die Gemeinde Israel im Exil, in der babylonischen Gefangenschaft. Der Brief will anspornen, aufrichten. Er verheißt als Perspektive und Ziel die Rückkehr nach Jerusalem. Jerusalem, der Inbegriff von „Heimat-­Stadt“. Wir leben in unseren Gemeinwesen, in unseren Städten und Kreisen nicht in der Fremde oder gar in Gefangenschaft. Und doch machen auch wir viele Erfahrungen von Entfremdung von Gemeinde, von Kommune. Die Privatinteressen der Einzelnen werden größer. An Staat, Stadt und Gemeinde werden hohe Ansprüche gestellt ohne die eigene Bereitschaft zum Engagement. Entfremdung „von oben“ und „von unten“ wird oft konstatiert – eben nicht nur in der ­Kirche. Und es gibt doch auch die Gefangenschaft – von reinen Marktinteressen und Konsumzwängen, von Eigeninteressen und von Machtstrukturen. Und es gibt die Entfremdungen vom Glauben, vom Wertefundament, von festen ethischen und mora­lischen Grundlagen und dadurch durchaus auch die Probleme im Umgang mit Fremdem samt der Fragen der Integra­tion und der Beheimatung. Das alles kann zum Verlust von Identifika­tion mit dem Ganzen führen. „Wir sind Deutschland“, ist dann ein Slogan, aber nicht die Wirk­lichkeit. Und es kann zum Verlust von Sozialkultur führen, dem „Zwischen“ ­zwischen Staat und Privat, das kommunal, bürgerschaft­lich, nachbarschaft­lich und netzwerkartig gestaltet sein will, wenn das Gemeinwesen funk­tionieren und darüber lebendig, zukunftsorientiert, nachhaltig und verläss­lich sein soll. Mitten in diese Lage ruft der Prophet nicht: Kapselt euch ab und versucht dadurch eure Identität oder gar eure eigene Haut zu retten! Er ruft vielmehr im Namen Gottes: Bringt euch ein, „baut Häuser und wohnt darin, pflanzt Gärten und esst ihre Früchte! Nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären. Ihr sollt euch dort vermehren und nicht vermindern. Bemüht euch um das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie

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zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl“ (Jer 29,5 – 7). Gestaltet die Wirk­lichkeit, lebt, lasst euch nicht nur leben. Dann werdet ihr erfahren, dass „ich (euer Gott) Pläne des Heils für euch habe und nicht des Unheils; denn ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben. Wenn ihr mich ruft, wenn ihr kommt und zu mir betet, so erhöre ich euch. Sucht ihr mich, so findet ihr mich. Wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, lasse ich mich von euch finden.“ (Jer 29,11 – 14a) – „Denn ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“, die ihr allein niemals schaffen könnt; ich schaffe sie aber auch nicht ohne euch! Wer nach Gott ruft, fragt, sucht – auf die vielfältige Weise, wie Menschen das tun, und nicht unbedingt allein auf christ­liche Weise –, der wird nicht ohne Antwort bleiben, selbst wenn er sie lange nicht wahrnimmt, geschweige denn versteht. Wo der Mensch sich nur noch um sich selbst dreht, wo er nur noch seine eigene Macht für wirksam hält, nur noch selbst das Maß ist, da wird jeder Andere letzt­ lich zum Konkurrenten, zum Verhandlungspartner oder zum Komplizen. Dann sind Menschen nicht mehr fähig zu einer wirk­lich gemeinsamen Schau auf den Größeren von einem gemeinsamen Wertefundament aus, auf dem sie stehen und gehen. Nur ein Baum mit tiefen Wurzeln und unter offenem Himmel ist so stark, dass er in aller Freiheit ausgreifen kann in die Weite und Frucht bringt zu seiner Zeit (vgl. Ps 1,3). Das gilt für Staat und Gemeinwesen ebenso wie für die ­Kirche. Wir sollten uns gegenseitig stärken, damit wir nicht einer Allmacht des Politischen, noch weniger einer Allmacht des Wirtschaft­lichen verfallen. Und schon gar nicht einer religiösen Geschmack- und Geruchlosigkeit in der Neutralität einer negativen Religionsfreiheit, sondern vielmehr Religion, Glaube, ­Kirche in den vielfältigen Ausprägungen als stärkende und haltgebende, aber ebenso auch als kritische und herausfordernde, ja provokative Kraft verstehen. Es gäbe auf den ersten Blick weiß Gott genug Gründe, sich aus dem Alltagsgeschäft der Welt zurückzuziehen, schmollend, resignierend, verletzt oder gar gleichgültig. Aber Zukunft und Hoffnung mitbauen, mitgestalten und Visionen mitentwickeln in Nüchternheit und Leidenschaft zugleich kann nur, wer bereit ist zu wählen, sich zu entscheiden, sich selbst einzubringen mit seinen Gaben und Fähigkeiten bis dahin, sich aktiv, aber auch passiv zur Wahl zu stellen. Das gilt für die Kommunen genauso wie für die K ­ irche. Und dabei geht es – ganz wichtig – auch um das Ehrenamt. Wir sind allesamt herausgefordert, nach neuen Formen des Ehrenamtes, des freiwilligen Dienstes, des bürgerschaft­lichen Engagements, der Netzwerkbildung zu suchen. Wir wissen, wie schwer Beruf und Familie in unserer komplexen und komplizierten Gesellschaft mit Ehrenamt und freiwilligem Einsatz zu verbinden sind. Wo nicht deut­lich wird, dass solcher Einsatz auch dem beruf­lichen Einsatz und der familiären Situa­tion dienen kann, da werden Menschen – gerade junge Menschen – sich nur schwer engagieren lassen. Das bedeutet: Wir brauchen Einsatzorte für überschaubare Zeiträume unter klaren Bedingungen mit vielen Mög­lichkeiten der Mitgestaltung und Beteiligung

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unter guter Begleitung und vor allem mit einer hohen Kultur der Anerkennung und Wertschätzung. Dazu mit viel Relevanz für den beruf­lichen Weg, wenn von Personalverantwort­lichen gerade auf d­ ieses Engagement auch geachtet wird. Das alles kann Menschen erfahren lassen, dass es bereichernd ist, am Netzwerk der Gesellschaft und der K ­ irche mitzuknüpfen. Auch dafür sind das enge Miteinander und die gegenseitige Herausforderung von ­Kirche und Kommune wichtig. Viele Menschen, die aus dem christ­lichen Gottes- und Menschenbild heraus leben, sind auch offen für das kommunale Engagement vor Ort. Gerade die katho­lische Soziallehre, die christ­liche Wertewelt und Werte­ kommunika­tion sind ein hoher Beitrag zur Sozialkultur: Personalität, Subsidia­ rität, Solidarität und Nachhaltigkeit bleiben wesent­liche Grundzüge unserer Gesellschaft. Sie bleiben Dimensionen einer christ­lich geprägten Kultur, die weiß, dass sie einem Größeren verpflichtet ist, die sich für die an den Rand Geratenen einsetzt und die Gemeinschaft bildet, in der der Einzelne und das Ganze sich gegenseitig befruchten. Da wird das Miteinander lebendig von Mensch und Institu­tion, von Ich und Wir, von Person und Gemeinschaft statt das Gegeneinander von Individuen und Masse. Und wenn wir heute in den Dialog mit Menschen anderer Religionen oder gar ohne Religion eintreten in unserer multikulturellen Gesellschaft, bleiben dennoch diese Grunddimensionen, um die wir zu ringen haben: den Blick nicht zu verlieren nach oben, über alles hinaus, den Blick nach unten zu den Benachteiligten, Erniedrigten, Beleidigten, Marginalisierten, und den Blick füreinander und in eine gemeinsame Richtung. Als Christen erkennen wir darin die Struktur des Glaubens an den dreifaltigen Gott. Aber auch den nicht christ­lich Glaubenden und den Atheisten werden diese Dimensionen des Lebens wichtig sein. Das entscheidende ist, dass wir aus den Krisen, die uns in vielerlei Hinsicht auch in Zukunft nicht erspart bleiben, immer neue Mög­lichkeiten nach vorne entwickeln. Wir können das, christ­lich gesehen, aus der Kraft und dem Feuer des Geistes, der sogar Schwerter zu Pflugscharen umschmieden kann (vgl. Jes 2,4). Pater Alfred Delp fragt in seinem Text: „Kirche, bist du lebendig oder bist du am Ende? Bist du fertig oder feierst du neue Anfänge?“ (ich zitiere ihn, denn es gilt auch für unser Miteinander in K ­ irche und Kommune): „Sind wir noch wissende Menschen? Haben noch viele Menschen das Wissen um die letzten Hintergründe, sodass sie sich selber Auskunft geben können und nicht vor jedem Ärgernis des Schicksals ratlos stehen? … Die noch etwas ahnen von den letzten Dimensionen, wonach alle Dinge gemessen werden? Sind wir noch entscheidende Menschen, nicht Menschen des großen Einflusses und der sichtbaren Plätze, sondern Menschen der Herzensprüfung und des schlagenden Gewissens? Wird nicht eine kommende Genera­tion uns beschimpfen ob unseres schweigenden Gewissens? Sind wir noch glühende Menschen? Ist noch irgend eine Leidenschaft in unserer Seele, für die man sich selbst einsetzt? Oder ist das alles so

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nüchtern und dürftig und schön geordnet, dass es kein Herz mehr entzündet? Der glühende Mensch! nicht der Fanatiker! Der glühende Mensch …, der an Dinge gerührt hat, die nicht auf der Straße liegen: Das ist der Mensch, auf den ­Kirche/die Gesellschaft (Anm. d. Verf.) gebaut hat. Sind wir noch erobernde Menschen? Menschen, die inmitten von tausend Untergängen stehen als ­solche, die die Welt erobern wollen?“ 1 Gern zitiere ich auch Antoine de Saint-­Exupéry: „Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Ich darf den Gedanken umformulieren: Wenn du Staat machen willst oder eine Gemeinde aufbauen willst, dann treibe nicht nur Leute auf, die zu Politik und Organisa­tion, zu Struktur und Regierung fähig sind und sich mit Markt und Geld auskennen – das alles ist notwendig –, sondern erhalte in ihnen die Sehnsucht nach dem Mehr, dem Größeren, die Sehnsucht nach dem „Mehr als alles“, was habbar, machbar, kaufbar ist. Und das ist für die, die sich Christen nennen und es sein wollen, der immer größere Gott.

1 Alfred Delp: K ­ irche in Menschenhänden. Hg. von Roman Bleistein. Frankfurt/Main 1985, S. 77 f.

Die Schöpfung bewahren Fritz Brickwedde

Hans-­Gert Pöttering stammt aus dem Landkreis, der Autor dieser Zeilen aus der Stadt Osnabrück. Wir besuchten beide das von Kaiser Karl dem Großen gegründete Gymnasium Carolinum. Wir begannen beide unsere politische Arbeit in der Jungen Union, in der wir Verantwortung übernahmen. Als der Landesvorstand der Jungen Union Niedersachsen unter meinem Vorsitz 1979 der CDU vorschlug, Hans-­Gert Pöttering auf einen vorderen Platz der niedersäch­sischen Landesliste für die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments zu nominieren, stieß das auf ein positives Echo, so dass der Einzug ins Europäische Parlament auf Anhieb gelang. Keiner von uns hatte damals ahnen können, dass hier ein zukünftiger Vorsitzender der Frak­tion der Europäischen Volkspartei und Präsident des Europäischen Parlaments als JU-Kandidat nominiert wurde. Unsere politische Verbundenheit hielt über Jahrzehnte, er als CDU-Vorsitzender im Landkreis, ich in der Stadt Osnabrück. Auch in der Politik gibt es Gott sei Dank nicht nur Beziehungen, die von Macht, Einfluss und Ämtern geprägt sind, sondern auch ­solche, die auf gemeinsamen Werten beruhen. Bei uns war und ist es das christ­liche Wertefundament, das uns über Jahrzehnte getragen hat. Politik kann mehr sein als nüchterne Beziehungen. So hat Hans-­Gert P ­ öttering meine M ­ utter 2014 auf ihrem letzten Wege begleitet, was mich sehr berührt hat. In großer Hochachtung vor seiner europapolitischen Leistung schreibe ich gerne diesen Beitrag, weil ich bezeugen kann, dass Hans-­Gert Pöttering auch schon in den 1970er Jahren von der Idee der Vereinigten Staaten von Europa fest überzeugt war und für diese Idee gebrannt hat. Mit Leidenschaft hat er sich für Vertiefung und Erweiterung der EU eingesetzt, vor allem nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs hat er mit politischer Passion Mittel- und Osteuropa mit in die europäische Familie zurückgeführt. Die Schöpfung bewahren: Als Gott, so berichtet es das Buch Genesis, sein Schöpfungswerk vollendet hatte mit einer großen Vielfalt der Arten, einem Reichtum an Natur, an Tieren und Pflanzen und natür­lich den Menschen als seinem Abbild, da zog er ­dieses Fazit: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“ Diese Wertung stellt schon einen Auftrag dar. Denn Gottes gute Schöpfung ist so voll von Schönheit, Vielfalt und Reichtum, dass es sich lohnt, sich dafür zu engagieren. Ein weiterer Satz aus der Genesis ist von zentraler Bedeutung: „Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte.“ Bebauen und hüten, entwickeln und bewahren: In dieser Spannung steht die Menschheit. Einerseits geht es um Fortschritt, um Aktivitäten der weiteren Entwicklung dieser Erde, aber

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gleichzeitig gilt es dabei das Maß zu bewahren, das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten, um damit die gute Schöpfung zu bewahren. Vor ­diesem Hintergrund der alttestamentarischen Aussagen müssen sich Christ­liche Demokraten auch kritische Fragen gefallen lassen. Haben wir nicht zu lange vorrangig auf das Bebauen gesetzt und das Hüten vernachlässigt? Ging es nicht über lange Zeit fast ausschließ­lich um Wachstum, um Mehrung des Wohlstands ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt? Gott sei Dank haben wir seit Jahrzehnten versucht d­ ieses Gleichgewicht von Bebauen und Hüten herzustellen. Ein früher Mahner vor 300 Jahren war schon Hans Carl von Carlowitz, der den Gedanken der Nachhaltigkeit in der Bewirtschaftung von Wäldern zum Prinzip erhob. Nur so viel Bäume sollten gefällt werden, wie wieder nachwachsen würden. Das Gleichgewicht des Waldes als ein Ökosystem sollte bewahrt werden. Wir mussten aber erst späte Phasen der Industrialisierung erleben, um ­dieses Prinzip der Nachhaltigkeit als gesamtgesellschaft­liches Strukturprinzip zu begreifen. Nur von den Erträgen dürfen wir leben, nicht vom Kapital. Die Natur in ihrer ganzen Vielfalt stellt unsere Lebensbasis dar. Wer Flüsse vergiftet, Böden verseucht oder die Luft verpestet, wer knappe Ressourcen so verbraucht, dass die Enkel keine Zukunft mehr haben, der befindet sich nicht mehr auf der Basis der Schöpfungsgeschichte der Bibel. Glück­licherweise haben wir in Deutschland die Gewässerreinhaltung mit einem System flächendeckender und sehr guter Kläranlagen erreichen können. Durch Grenzwerte wurde der Ausstoß an Schwefeldioxid massiv zurückgedrängt und unsere Wälder, die bedroht waren, gerettet. Die Deutsche Einheit stellte auch einen Glücksfall für den Umweltschutz dar. Wir konnten Flüsse, deren Zustand so schlecht war, dass sie nicht mehr passten in unsere Gewässergüteklassen, wieder in eine gute Qualität führen. Noch in der Schlussphase der DDR haben wir mit Erich Honecker über die Beseitigung der Schwermetalle in der Elbe verhandelt und waren bereit, dafür Mittel zur Verfügung zu stellen. Quecksilber in der Elbe? Ja, das gab es wirk­lich! Die Luftverpestung durch die massive Verbrennung der Braunkohle, die Schadstoffe durch die Chemiekombinate: All das gehört der Vergangenheit an. Auch interna­tional haben wir durch die UN-Umweltkonferenzen, vor allem in Rio de Janeiro 1992, ein Bewusstsein für die Verletz­lichkeit unserer Umwelt erreicht. So wurden interna­tionale Abkommen abgeschlossen, die z. B. durch das Verbot von FCKW den Schutz der Ozonschicht erreicht haben. Der Umweltschutz begann mit klas­sischem Ordnungsrecht, um die Gefährdung von Leib und Leben zurückzudrängen. Umweltschutz war lange eine Art Reparaturkolonne oder Krankenwagen der Industriegesellschaft. Natür­lich brauchen wir auch den reparierenden, und nachsorgenden Umweltschutz, intelligenter ist aber der vorbeugende und integrierte Umweltschutzansatz. Viele Schadstoffe können durch Kläranlagen daran gehindert werden, in die Flüsse und Meere zu gelangen. Häufig muss dann aber eine Entsorgung auf Sondermülldeponien stattfinden, weil belasteter Klärschlamm auch nicht auf

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Ackerflächen ausgebreitet werden darf. Intelligenter ist es, den Umweltschutz in alle Produkte und Produk­tionsverfahren zu integrieren, das heißt Erfinder, Ingenieure und Manager dazu zu motivieren, von vorne herein Produkte zu entwickeln, die mög­lichst wenig oder gar keine Schadstoffe enthalten und demontagefreund­lich konzipiert werden, damit man die in ihnen enthaltenen Wertstoffe nach Ableben des Produktes wieder verwenden und damit in den Wirtschaftskreislauf zurückführen kann. Das Gleiche gilt für Produk­tionsverfahren, wo auf Schadstoffe verzichtet, Abfall vermieden und Abwassermengen reduziert werden sollen, z. B. durch Kreislaufsysteme im Unternehmen. Der finanzielle Anreiz für einen solchen produkt- und produk­tionsintegrierten Umweltschutz sind z. B. Sondermüllgebühren und Abwasserabgaben, sowie Kostenvorteile durch Einsparung von Energie und Rohstoffen. Es geht also darum, externe Umweltkosten in die Preise der Produkte zu internalisieren. Wenn alle Preise die ökolo­gische Wahrheit sagen würden, könnten wir auf die Hälfte der Umweltschutzpolitik verzichten. Viele Probleme würden sich marktwirtschaft­lich lösen. Industrielle Massentierhaltung erzeugt verstärkten breitflächigen Medikamenteneinsatz. Diese Medikamente, etwa Antibiotika, gelangen über das Abwasser in unsere Kreisläufe. Auch Menschen werden direkt durch Emissionen dieser Form von Landwirtschaft geschädigt. Antibiotikaresistenzen sind die Folge. Wir finden all diese Kosten im Gesundheitssystem wieder, aber nicht in den Fleischpreisen. Ein anderes Beispiel: Die Klimakosten einer Tonne CO2 sind zehnmal so hoch wie der Preis eines Zertifikates im europäischen Emissionshandel für eine Tonne CO2. Das heißt: 10 Prozent der Kosten werden internalisiert, 90 Prozent der CO2-Belastungen, die durch Kohlekraftwerke entstehen, werden der Allgemeinheit aufgebürdet. Der Preis für Strom aus Kohleenergie müsste also deut­ lich höher sein. Wäre er das, wären die erneuerbaren Energien sofort absolut wettbewerbsfähig und bedürften nicht der Unterstützung. Ein letztes Beispiel: Müssten die Betreiber von Kernkraftwerken eine Versicherung abschließen, um die Kosten bei einem GAU zu tragen, wären die Prämien so hoch, dass Kernkraftwerke nicht mehr wirtschaft­lich wären. Wahrschein­lich würden sie aber keinen Versicherer finden, der einen Vertrag mit solchen Energieversorgern abschließen würde. Wenn zudem die wirk­lichen Kosten der Endlagerung des nuklearen Mülls über viele Jahrhunderte in die heutigen Strompreise aus Kernkraft eingehen würden, wären die Preise ebenfalls deut­lich höher. Die Befürchtung ist, dass wenn es zur Realisierung von Endlagerstätten kommt, die Energieversorgungsunternehmen nicht in der Lage sein werden, aus ihren Rücklagen die gesamten Kosten zu bestreiten und der Steuerzahler zur Kasse gebeten wird. Es geht heute im Umweltschutz nicht mehr nur darum, Schadstoffe zu reduzieren, sondern es geht auch darum, knappe Ressourcen zu schonen. Die Schöpfung bewahrt nur der, der nachhaltig wirtschaftet. Wer aber fossile Stoffe, die über Millionen von Jahren entstanden sind, in zwei Jahrhunderten

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verbrennt, handelt nicht nachhaltig und trägt dazu bei, Zukunftschancen der nächsten Genera­tionen zu beeinträchtigen. 1986 entschied Bundeskanzler Helmut Kohl, ein Bundesministerium für den Umweltschutz zu schaffen und berief mit Walter Wallmann, Klaus Töpfer und Angela Merkel drei profilierte Persön­lichkeiten, die Umweltgeschichte in Deutschland geschrieben haben. Bevor das Bundesumweltministerium gegründet wurde, ressortierte d­ ieses Thema als Abteilung im Bundesinnenministerium. Innenminister Fritz Zimmermann hat – ohne dass das heute noch viele wissen – große Fortschritte in der Luftreinhaltung und der Rettung der Wälder erreicht, nachdem vor ihm ein längeres Umweltmoratorium aus wirtschaft­lichen Gründen verfügt worden war. Insgesamt haben sich 16 Jahre lang christ­lich demokratische Umweltminister – hierzu gehören auch die für die Energiewende außerordent­lich wichtigen Norbert Röttgen und Peter Altmaier – für Natur und Umwelt engagiert. Die Union hat es ihren Umweltministern nicht immer leicht gemacht. Im Nachhinein sollte die Union erkennen, dass heute keine Partei mehr mehrheitsfähig ist, die nicht auch ein klares Profil in der Bewahrung der Schöpfung hat. Dieses Thema muss zum Markenkern der Union ebenso gehören, wie die Soziale Marktwirtschaft, die Liebe zu Deutschland oder das Bekenntnis zur Einigung Europas. Das größte unbewältigte, globale Umweltproblem stellt der Klimawandel dar. Durch Treibhausgase wie CO2 (durch Verbrennung fossiler Energien) und Methan (durch z. B. übermäßige Rinderhaltung in der Landwirtschaft) sowie durch globale Abholzungen, z. B. im Bereich der tropischen Regenwälder, erleben wir einen durch den Treibhauseffekt herbeigeführten Klimawandel. Diese menschengemachte Aufheizung der Erdatmosphäre führt durch das Abschmelzen großer Eisflächen zum Anstieg der Meere. Die Aufheizung des Meerwassers kann zu häufigeren, schweren Unwettern führen. Die Versicherer stellen eine erheb­lich größere Schadenshäufigkeit und -menge fest. Die Trinkwasserversorgung in Teilen der Erde ist gefährdet, große Städte am Meer oder Bewohner von Inseln sind bedroht. Die Beeinträchtigung der Gesundheit von Menschen durch zunehmende Erwärmung nimmt zu, die Artenvielfalt als Basis allen Lebens auf ­diesem Globus ist gefährdet. Als Gegenmaßnahmen gilt es, die Senken für Treibhausgase zu erhalten, die Menge des Energieverbrauchs zu reduzieren sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien ener­gisch voranzutreiben. Senken für Treibhausgase stellen große intakte Wälder und Moore dar. Sie sind in der Lage, CO 2 zu binden. In Deutschland haben wir durch die Waldgesetze und aktive Naturschutzpolitik dafür Sorge getragen, dass die Wälder wieder wachsen und in ihrer Substanz nicht gefährdet sind. Eine große Tat von Bundeskanzlerin Angela Merkel war es, mit der ersten großen Koali­tion das Projekt „Na­tionales Naturerbe“ auf den Weg zu bringen. 125.000 Hektar für die Natur besonders wertvoller Flächen wurden nicht verkauft, sondern den Ländern und gemeinnützigen Stiftungen zu ausschließ­lichen Naturschutzzwecken

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überantwortet. Allein die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) hat mit 60.000 Hektar einen Flächenpool, der einen entscheidenden Beitrag zum Schutz von Natur und Klima leisten kann. Auch andere gemeinnützige Einrichtungen, wie die Naturschutzstiftung Schleswig-­Holstein oder die Heinz-­Sielmann-­Stiftung, engagieren sich in d­ iesem Bereich. Zusammengeschlossen sind all diese öffent­ lichen und gemeinnützigen Einrichtungen mit Flächeneigentum an wichtigen Naturschutzflächen im Na­tionalen Netzwerk Natur, das über 250.000 Hektar im Interesse des Naturschutzes verfügt und damit eine größere Fläche im Sinne der Schöpfung bewahrt, als der „Na­tional Trust“ in Großbritannien. Von zentraler Bedeutung für das Weltklima ist es allerdings, dass wir die großen Wälder in Russland, Lateinamerika oder Indonesien bewahren und Beiträge dazu leisten, dass weitere Reduk­tionen unterbleiben. Die Energiewende ist die Antwort Deutschlands auf den Klimawandel. Ein zentrales Ziel ist neben dem Ausstieg aus der Kernenergie die Erhöhung der Energieeffizienz, das Energiesparen sowie der Ausbau der erneuerbaren Energien. Die Industrie hat bereits viele Aktivitäten entwickelt, um ihre Energieeffizienz zu erhöhen. Die Salzgitter Flachstahl z. B. hat durch Wirkungsgradsteigerungen ihres Kraftwerks und Energieeffizienzmaßnahmen 29 Prozent Energieeinsparungen erreicht und vermeidet damit 238.000 Tonnen CO 2 im Jahr. Dieser Weg muss weiter beschritten werden. Das gilt aber auch für unsere privaten Haushalte. Hier haben wir noch einen sehr großen Nachholbedarf. Die jähr­liche energe­tische Sanierungsrate liegt bei ca. 1 Prozent, das heißt es dauert 100 Jahre, wenn wir in ­diesem Tempo weiter unsere Häuser klimafreund­ lich gestalten. Wir können unseren Wärmeverbrauch in unseren Häusern und Wohnungen drastisch reduzieren, indem wir neue Heizungsanlagen einbauen lassen, die zu deut­lich weniger Energieverbrauch führen, wir können erneuerbare Wärme realisieren, z. B. durch Holzheizungen oder Solarthermie, wir können durch bessere Wärme­dämmung verhindern, dass unsere Häuser Energieschleudern bleiben. Das gilt natür­lich nicht nur für private Gebäude, sondern auch für öffent­liche und gewerb­lich genutzte. Gerade unsere Schulen sollten Vorbilder sein, wenn es um Energieeffizienz und Energiesparen geht. Inhalt des Unterrichts und das Gebäude, in dem unterrichtet wird, müssen kompatibel sein. Viele Beispiele von z. B. durch die DBU geförderten Schulen zeigen, dass wir 80 Prozent Energie einsparen können. Eine große Herausforderung stellt die Umstellung unserer Energiewirtschaft von einer fossilen und nuklearen auf eine erneuerbare Basis dar. In den letzten zwei Jahrzehnten haben wir die Realisierung umfassender Innova­tionen im Bereich der erneuerbaren Energien erlebt. 1992 war Enercon eine Manufaktur mit 100 Mitarbeitern. Mit Alois Wobben, d­ iesem genialen Ingenieur, habe ich damals über eine Förderung der halbautomatischen Fertigung von Rotorblättern verhandelt. Seinerzeit ging es um Windenergieanlagen von mehreren hundert Kilowatt. Heute haben wir eine moderne Industrieproduk­tion, die

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Windenergieanlagen mit 2,5 bis 7,5 Megawatt herstellt. Allein Enercon verfügt über tausende von Windenergiepatente, hat 13.000 Mitarbeiter und ist in der Spitze des Weltmarktes mit einem Exportanteil von zwei Drittel. Bei der Photovoltaik kostete am Beginn der Lernkurve die Kilowattstunde einen Euro, heute etwa 10 Cent. Die Forschungs- und Entwicklungskosten, die zu so großen qualitativen technischen Innova­tionen und drastischen Preisreduk­ tionen führten, verdanken wir zu einem großen Teil der Finanzierung durch die EEG -Umlage. Die Verbraucher haben diese Dynamik ermög­licht. Bei Kernenergie und Kohle hat es über viele Jahrzehnte der Steuerzahler mit Milliardenbeträgen ermög­licht. Ohne staat­liche Hilfe wäre es zur fried­lichen Nutzung der Kernenergie durch unsere Energieversorgungsunternehmen gar nicht gekommen. Es existierte sogar ein eigenes Bundesatomministerium. Der Vorschlag von Klaus Töpfer und Ilse Aigner, die erste Phase der Lernkurve über einen Altschuldenfonds zu refinanzieren und dadurch auf der Zeitachse zu strecken, war durchaus diskussionswürdig. Unser finanzielles Problem sind näm­lich nicht die erneuerbaren Energieanlagen, die jetzt ans Netz gehen, sondern die alten, deut­lich teureren. So hätte man die EEG-Umlage auf Dauer begrenzen können. Allerdings hat sich der Saldo des EEG-Umlagenkontos positiv entwickelt, die Umlage konnte zum ersten Mal leicht gesenkt werden. Der Strompreis an der Börse hat sich in den letzten zehn Jahren auch durch den Ausbau der erneuerbaren Energien glatt halbiert. Durch die fallenden Börsenstrompreise steigt allerdings die EEG-Umlage, da die Differenz z­ wischen Börsenstrompreis und der festgelegten Vergütung durch die Umlage bezahlt werden muss. Die strom­ intensiven und global orientierten Unternehmen allerdings profitieren von den deut­lich gesunkenen Börsenstrompreisen, da sie weitgehend von der EEG Umlage befreit sind. Wir wollen in Deutschland auch in Zukunft Industrieland bleiben und eine wettbewerbsfähige Chemie-, Stahl- oder Papierindustrie behalten. Deswegen ist eine Entlastung für diesen Teil der Wirtschaft richtig. Der Durchschnittshaushalt in Deutschland mit drei Personen hat monat­liche Energiekosten in Höhe von 350 Euro, davon 150 Euro für Sprit, 120 Euro für Heizung und 80 Euro für Strom. Von diesen 80 Euro für Strom entfallen 20 Euro auf die EEG-Umlage. Den Umbau unserer gesamten Energiewirtschaft finanzieren wir also mit einem relativ geringen Beitrag der Verbraucher. Der Ausbau der erneuerbaren Energien hat die Energieversorgung dezentralisiert, den Wettbewerb gefördert und den länd­lichen Raum mit Investi­tionen, Erträgen und Steuermehreinnahmen gestärkt. Vermachtete und durch Oligopole geprägte Märkte existieren nicht mehr, da inzwischen 1,5 Millionen geförderte EEG-Anlagen als Wettbewerber auftreten. 900 Energiegenossenschaften betreiben erneuerbare Energieanlagen und sind gemeinsam mit Stadtwerken eine starke Kraft des Wettbewerbs. Mit erneuerbaren Energien und Energieeffizienz schaffen wir mehr Wertschöpfung im eigenen Land und bauen Abhängigkeiten ab. Denn Deutschland muss

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98 Prozent des Erdöls, 90 Prozent des Erdgases und 87 Prozent der Steinkohle importieren. Über ein Drittel Öl und Gas kommen dabei aus Russland. Im Jahr 2000 hatten wir Importkosten für fossile Energieträger von 33 Milliarden, 2013 von 91 Milliarden Euro. Zwischen 2000 und 2013 haben wir 833 Milliarden Euro für fossile Importe bezahlt. Jede erneuerbare Energieanlage, die Strom oder Wärme produziert, verringert diese Importkosten und stärkt die deutsche Volkswirtschaft. Seit 150 Jahren ist unsere Wirtschaft kohlenstoffbasiert. Die Begrenzung für den Einsatz der Kohle ist nicht eine schon bald auftretende Knappheit. Die eigent­liche Begrenzung stellt die Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre dar. Wer erreichen will, dass die Erwärmung nicht größer als zwei Grad wird, muss einen gestalteten Kohleausstieg bis 2040 zum Ziel haben. Zurzeit haben wir aufgrund der variablen Kosten die Tatsache, dass die Kohle, vor allem die Braunkohle, auf Platz 3 nach Photovoltaik und Wind im Merit-­Order-­Effekt steht vor Biomasse und Gas. Es ist ein Unding, dass sehr alte abgeschriebene Braunkohlekraftwerke mit schlechten Wirkungsgraden und hohen Emissionen mit schwarzen Zahlen am Markt sind, während hochmoderne Gaskraftwerke mit hohen Wirkungsgraden und deut­lich geringeren Emissionen in roten Zahlen stehen oder sogar abgeschaltet werden sollen. Da der europäische Emissionshandel seine Lenkungswirkung nicht erfüllt, weil die Preise für Emissionszertifikate zu niedrig sind, bedarf es einer na­tionalen Ergänzung einer befristeten CO2-Abgabe bis der europäische Emissionshandel seine Funk­tion erfüllt. Der jetzige Zustand ist unhaltbar und extrem kontraproduktiv. Wünschenswert wäre es, dass so viele Zertifikate aus dem Markt genommen werden, dass es durch marktwirtschaft­liche Effekte zu entsprechenden Emissionsreduk­tionen kommen könnte. Zwischen 2000 und 2013 wurden 182 Milliarden Euro in Deutschland in Anlagen der erneuerbaren Energien investiert. Die größten Beiträge leisten die Wind- und Solarenergie sowie die Bioenergie, schließ­lich die Geothermie und die Wasserkraft. 370.000 Menschen arbeiten in den Branchen der erneuerbaren Energien, davon ca. 138.000 im Bereich der Windenergie, 126.000 in der Bioenergie und etwa 69.000 in der Solarenergie. Wir haben bald die 30-Prozent-­ Marke erneuerbarer Stromerzeugung erreicht, die Ausbauziele sind im Programm der deutschen Energiewende beschrieben. Als Ziel für das Jahr 2050 hat man sich auf 80 Prozent erneuerbaren Strom verständigt, das heißt Wind und Photo­ voltaik bilden dann den Kern der Energieversorgung. Auch die Bioenergie wird weiter eine wichtige Rolle spielen, weil sie ebenso wie Geothermie und Wasserkraft nicht fluktuiert, sondern regelmäßig Strom erzeugt. In den nächsten Jahren brauchen wir mehr Flexibilität in der Nachfrage nach Strom, Digitalisierung und intelligente Systeme, Überschussstrom, der zu Wärme umgewandelt wird, ein besseres Einspeisemanagement bei Wind und Photovoltaik, den Einsatz von Biogas nicht 24 Stunden am Tag, sondern als Ergänzung zu fluktuierenden Erneuerbaren, die Steigerung der Flexibilität bei Kraftwerken,

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eine Weiterentwicklung der Pump- und Batteriespeicher, erneuerbaren Strom, aus dem Gas gewonnen wird, einen Ausbau der Netze sowie eine verstärkte europäische Koppelung, eine Dynamisierung der EEG-Umlage und der Netznutzungsentgelte sowie ein ganzheit­liches Denken des Energiesystems. Ein zukunftsfähiges Energiemarktdesign muss alle Sektoren umfassen, also neben dem Strom – auch den Wärmesektor und den Mobilitätsbereich. Wir brauchen die gezielte Hebung von Speicher- und Nutzungspotenzialen erneuerbarer Erzeugung in Form von Elektromobilität sowie Wasserstoff und Biomasse als Kraftstoff. So kann Überschussstrom aus Erneuerbaren für wasserstoffbetriebene Autos verwendet werden und Elektromobile können nachts überschüssigen Windstrom aufnehmen, wenn dieser preiswert ist. Zur Versorgungssicherheit wird vielfach für die Zeit nach 2022 ein Kapazitätsmarkt gefordert. Hierzu ist festzustellen, dass wir sowohl in Deutschland als auch in Europa Überkapazitäten haben. Meiner Auffassung nach wäre es daher richtig, nur eine Kapazitätsreserve zur Absicherung von Engpässen zu schaffen. Damit hätten wir eine hohe Markt- und EU-Kompatibilität, einen Anreiz für die Integra­tion der Erneuerbaren und mehr Flexibilität sowie geringe Zusatzkosten. Ein Kapazitätsmarkt dagegen würde einen irreversiblen Marktumbau, die Förderung unflexibler Grundlastkraftwerke und hohe Zusatzkosten bedeuten. Besonders begrüßenswert ist, dass die neue EU-Kommission die Zielsetzung hat, die Europäische Union weltweit zur Nummer 1 bei den erneuerbaren Energien zu machen. Letztend­lich brauchen wir eine europäische Energiepolitik, die Grenzen überwindet und die großen Gegensätze in der EU schrittweise abbaut. Deutschland kann mit der Energiewende Schrittmacher sein und Erfahrungen und technische Innova­tionen auch für andere Länder Europas wirksam werden lassen. Als Beispiel möchte ich ein osteuropäisches Nachbarland nennen: Die Ukraine könnte mit Hilfe Deutschlands und der EU fast ihren gesamten Gasbedarf durch Biogasanlagen decken. Dies wäre ein Beitrag zur Unabhängigkeit des Landes und gleichzeitig ein erheb­licher Gewinn für den Klimaschutz.

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1972 schlägt die Geburtsstunde des Landkreises Osnabrück, eines Flächenlandkreises im südwest­lichen Niedersachsen mit aktuell gut 350.000 Einwohnern. Er entstand am 1. Juli des Jahres mit Inkrafttreten des „Gesetzes zur Neugliederung der Gemeinden im Raum Osnabrück“. Auf einer Fläche von exakt 2.121,59 Quadratkilometern, das ist nur rund 400 Quadratkilometer kleiner als das Bundesland Saarland, vereinigt der Landkreis Osnabrück die vier ehemals selbständigen Landkreise Bersenbrück, Melle, Wittlage und Osnabrück. Er orientiert sich dabei durchaus an historisch gewachsenen Grenzen, ist mit wenigen Ausnahmen räum­lich deckungsgleich mit dem seit dem Mittelalter existierenden Fürstbistum Osnabrück. Mit der Gebietsreform einhergehend erfolgte die Gründung des neuen Kreisverbandes Osnabrück-­Land der Christ­lich Demokratischen Union Deutschlands (CDU), einem der mittlerweile größeren CDU-Kreisverbände im Bundesland Niedersachsen mit rund 4.000 Mitgliedern, organisiert in 51 Stadt-, Gemeinde-, Samtgemeinde- und Ortsverbänden. Diese Reihe statischer und statistischer Aufzählungen ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen, ginge jedoch am eigent­lichen Kern vorbei. Denn die Geschichte der CDU im Landkreis Osnabrück ist keine Geschichte der Zahlen, sondern eine Geschichte der Menschen dieser Region, die gewillt waren, den christdemokratischen Gedanken der Union der Konfessionen mit Leben zu füllen und hier ein lebenswertes, wirtschaftsstarkes Umfeld zu schaffen. Heute zählt der Landkreis Osnabrück in Niedersachsen zu den Boom-­Regionen des Landes: eine starke Wirtschaft, eine leistungsfähige Infrastruktur, ein hohes Bildungsniveau, eine „gesunde“ demographische Entwicklung, eine vielfältige Ehrenamtskultur, intakte Städte, Gemeinden und Samtgemeinden kennzeichnen die Rahmendaten d­ ieses Landkreises. Natür­lich wäre diese mittlerweile über vier Jahrzehnte andauernde Erfolgsgeschichte nicht mög­lich gewesen ohne die vielen innova­tionsfreudigen und zugleich regional verwurzelten, die engagierten und tradi­tionsbewussten Bürger­ innen und Bürger des Landkreises. Und dennoch ist es auch ein Verdienst der CDU Landkreis Osnabrück ein „Osnabrück-­Land-­Gefühl“ entwickelt und die Rahmenbedingungen augenschein­lich richtig gesetzt zu haben – eine gemeinsame Basis der Menschen dieser Region. Und d ­ ieses wiederum wäre nicht mög­lich gewesen ohne prägende Persön­ lichkeiten, die auf unterschied­lichen politischen Ebenen mit Weitsicht, aber auch mit Beharr­lichkeit, Verläss­lichkeit und Beständigkeit aus den nicht immer

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leichten Anfängen der Kreisfusion heraus Großes entstehen ließen. Und eben diese Beständigkeit zeichnet den Kreisverband Osnabrück-­Land der CDU aus: Seit ihrer Gründung vor 43 Jahren im Jahr 1972 lenkten erst drei Kreisvorsitzende die Geschicke d­ ieses Verbandes! Reinhard Freiherr von Schorlemer aus Bippen-­Lonnerbecke in der heutigen Samtgemeinde Fürstenau im Norden des Landkreises kam als Gründungsvorsitzender die Aufgabe zu, aus vier für sich selbst stehenden Alt-­Kreisverbänden eine Einheit zu formen, in der jeder für den anderen einstand und sich dennoch in den alten Konturen wiederfinden und seine eigene Geschichte weiterleben durfte. Er tat ­dieses mit sehr großem Geschick, manch taktischer Finesse und der ihm eigenen edlen Gelassenheit. Reinhard von Schorlemer konnte bei Amtsantritt als Kreisvorsitzender auf einen stabilen Einfluss der Christdemokratie in allen vier Regionen des neuen Landkreises blicken: Die letzten Kommunalwahlen in den vier alten Landkreisen fanden am 29. September 1968 statt. Nur in den größeren Städten war die Kommunalwahl eine Entscheidung z­ wischen Parteien, in den vielen kleinen Dörfern und Bauernschaften stand zumeist nur eine Kandidatenliste zur Wahl, die nicht zwingend partei­lich gebunden war. War sie es, stand hinter den Kandidatenlisten zumeist die CDU. Bei den Kreiswahlen des Jahres 1968 wurden die bisherigen Mehrheiten bestätigt: Überall wurde die CDU wieder die stärkste Partei, wenn auch nicht so eindeutig wie in den benachbarten Regionen Emsland oder Oldenburger Münsterland. Die Wahlergebnisse des Jahres 1968 – sie bestimmten auch die Zusammensetzung des sogenannten Interimskreistages, bis zur ersten Kreiswahl im neuen Landkreis Osnabrück am 22. Oktober 1972. Die Mehrheiten im Kreistag und in den meisten Gemeinden stellte auch 1972 wieder die CDU – in Teilen der Nordkreiskommunen sogar zu 100 Prozent. Auf Kreisebene bewegten sich die Stimmenanteile der CDU auch bei den nachfolgenden Kreiswahlen stabil bei rund 50 Prozent, so dass die CDU entweder alleine oder in einer kommunalen Koali­tion mit der FDP im Osnabrücker Kreistag „regieren“ konnte. Erster Landrat des Landkreises Osnabrück wurde Josef Tegeler aus Georgsmarienhütte. Im Rahmen der seinerzeit in Niedersachsen bestehenden „Zweigleisigkeit“, also der Trennung der Aufgaben der politischen Repräsenta­tion und der Leitung der Kreisverwaltung, wurde erster Oberkreisdirektor Wolfgang Kreft aus dem Altkreis Bersenbrück. Die CDU-Kreistagsfrak­tion vertrat August Knemeyer aus Bad Laer. Und natür­lich spiegelten sich die kommunalen Ergebnisse auch auf nachfolgenden Ebenen wieder: Ob bei den Wahlen zum Niedersäch­sischen Landtag in Hannover, zum Deutsche Bundestag in Bonn, ­später Berlin, oder zum Europäischen Parlament in Straßburg – der CDU Osnabrück-­Land gelang es, die Mandate in den ihr zugeordneten Wahlkreisen, mit im Laufe der Zeit teils wechselndem Zuschnitt, zu gewinnen und damit auch eine enge Verzahnung

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der kommunalen Ebenen mit dem Land Niedersachsen, der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union darzustellen. Gleichwohl der klaren Mehrheitsverhältnis blieben innerpartei­liche Flügelkämpfe weitestgehend aus. Dies auch in den ersten Jahren, in denen die Umsetzung einer Gebietsreform naturgemäß nicht nur Befürworter besaß – ein wesent­ licher Verdienst des integrativen Wirkens des ersten Kreisvorsitzenden von Schorlemer. Dieses Wirken honorierten die Mitglieder seines Kreisverbandes zunächst mit seiner Nominierung zum Landtagskandidaten im Wahlkreis Bersenbrück und einige Jahre s­ päter mit der Kandidatur für den Deutschen Bundestag. Seine so gefestigte natür­liche Autorität ermög­lichte es ihm, akzeptierte Lösungen zu finden, um in immer wieder mal auftauchenden schwierigeren Situa­tionen ­zwischen handelnden Akteuren zu vermitteln und diesen nach einer angemessenen Überlegungsphase den Weg in die Programmatik der CDU zurückzuweisen. Gleichzeitig verband er seine Aufgabe als Kreisvorsitzender immer auch mit der Verpflichtung, die Parteiarbeit lebendig und nahe an Mitgliedern und Bürgern zu gestalten. Besonders Ak­tionen zur Begrüßung von neuen Bürgerinnen und Bürgern einer Kommune wurden von diesen gerne angenommen. Die CDU vor Ort stellte sich den gerade Hinzugezogenen vor, bot ihre Hilfe und Unterstützung an. Dieses dem Grunde nach selbstverständ­liche Kümmern um Menschen, die hier noch fremd sind, erlebt heutzutage eine Renaissance in jedem Handbuch zur modernen Parteiarbeit. Dadurch wird Politik authentisch, leidenschaft­lich und lösungsorientiert. Dies alles sind Eigenschaften, die sich auch in guten Ergebnissen bei den Wahlen auf kommunaler, auf Landes-, auf Bundes- und europäischer Ebene widerspiegelten. Einen krönenden Höhepunkt der Mobilisierung von Mitgliedern und Freunden der CDU bildete eine Wahlkampfveranstaltung mit Franz Josef Strauß, dem gemeinsamen Kanzlerkandidaten von CDU und CSU im Jahre 1980: Mehr als 20.000 Menschen strömten in das Fußballstadion des VfL Osnabrück an der Bremer Brücke und jubelten dem CSU-Vorsitzenden zu. Dieser Mobilisierungsgrad ist bis auf den heutigen Tag regional unerreicht bei Parteiveranstaltungen. Für den Kreisvorsitzenden Reinhard von Schorlemer begann damit ein bis 2002 andauerndes Bundestagsmandat. Für die Mitglieder der CDU im Landkreis Osnabrück begann das Jahrzehnt, das mit Diskussionen über die Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses bis hin zum Fall der Berliner Mauer und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik einen Bogen spannen ließ, an dessen Ende nicht nur das Zusammenwachsen zweier deutscher Staaten stand, sondern aktive partnerschaft­liche Zusammenarbeit mit den gerade zuvor gegründeten CDU Kreisverbänden Mecklenburg-­Strelitz und Zeitz in den neuen Bundesländern gelebt wurde. Gegenseitige Besuche von Mitgliedern und Vorständen machten das Zusammenwachsen erlebbar und halfen, in mehr als vier Jahrzehnten der Trennung aufgebaute Vorurteile abzubauen.

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In dieser Anfangsphase des gemeinsamen Deutschlands fand im Jahre 1990 die Übergabe der Funk­tion des Kreisvorsitzenden von Reinhard von ­Schorlemer auf Hans-­Gert Pöttering aus Bad Iburg statt. Zeitgleich entsandte die CDU Anfang der 1990er Jahre auch einen neuen Landrat an die Spitze des Kreises: Manfred Hugo aus Bohmte im ehemaligen Landkreis Wittlage löste Josef ­Tegeler nach seiner rund zwei Jahrzehnte währenden Tätigkeit ab. Hugo sollte nach landesgesetz­licher Abschaffung der „Zweigleisigkeit“ am 1. Juli 2002 erster (eingleisiger) Landrat des Landkreises Osnabrück werden – und damit Nachfolger seiner Person als bisheriger ehrenamt­licher Landrat und Nachfolger von Oberkreisdirektor Heinz-­Eberhard Holl. Nach dem Zusammenwachsen Deutschlands in gewisser Weise folgerichtig und mit der Funk­tion eines Abgeordneten des Europäischen Parlaments einhergehend, folgte nun eine im Trend auch „europapolitische“ Ausrichtung des CDU -Kreisverbandes Osnabrück-­Land unter Hans-­Gert Pöttering. Schließ­lich gehörte dieser dem Europaparlament seit den ersten Europawahlen des Jahres 1979 bis in das Jahr 2014 über eine beeindruckende Zeitdauer von 35 Jahren an. Dieser „europäische Blick“ – für viele Funk­tionsträger und auch Mitglieder der Kreispartei zunächst gewöhnungsbedürftig – wurde im Laufe der darauffolgenden Jahre zu einer selbstverständ­lichen Übung. Mehr noch, er öffnete Horizont und Geist christdemokratischer Politik im Landkreis – beispielsweise durch die Begründung der Partnerschaft mit dem nordostpolnischen Landkreis Olsztyn (ehemals Allenstein) im Jahr 1999. Natür­lich hatte der CDU-Kreisverband auch weiterhin eine originäre kommunale Aufgabe zu erfüllen, doch wandelte sich der parteipolitische Bedeutungsansatz hin zu einem immer größeren europäischen Denkansatz. Das Verständnis und das Wissen um das Zusammenwirken der politischen Kräfte im Europa der Großen verhalfen zu neuen Erkenntnissen bei der praktischen Umsetzung im Kleinen. Ob es Initiativen der Europäischen Union zur Einrichtung von Fauna-­Flora-­Habitat-­Gebieten oder Mög­lichkeiten zur grenzüberschreitenden wirtschaft­lichen Zusammenarbeit waren, es galt Regelungen zu finden, die zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger in ­diesem Landkreis ausgestaltet werden konnten. Durch den immer weiter an Bedeutung zunehmenden Einfluss ihres Kreisvorsitzenden auf europäischer Ebene, zunächst als Frak­tionsvorsitzender der EVP/ED-Frak­tion und ­später als Präsident des Europäischen Parlaments, kamen die Mitglieder des Kreisverbandes in den Genuss des Besuches einer Vielzahl von herausragenden Persön­lichkeiten auf ihren Parteitagen und Kongressen. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk oder dessen österreichischer Amtskollege Wolfgang Schüssel als interna­tionale Gäste, Helmut Kohl und Angela Merkel als Bundeskanzler oder aber Bernhard Vogel und Edmund ­Stoiber als Ministerpräsidenten von Bundesländern beeindruckten die Mitglieder der CDU und die Landkreisöffent­lichkeit mit ihren Ausführungen und zeigten,

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welch besonderen Stellenwert ihr Kreisvorsitzender und damit einhergehend auch der eigene Kreisverband besaß. In die Wirkungsphase Hans-­Gert Pötterings als Kreisvorsitzender fiel auch eine wesent­liche Änderung in der Beteiligungsstruktur der Mitglieder. Sie bedeutete eine nahezu vollständige Abkehr vom klas­sischen und vielerorts praktizierten Delegiertenprinzip hin zu einer stärkeren Einbindung der Mitglieder bei grundlegenden Entscheidungen. Ungefähr mit dem Ende des ersten Jahrzehnts seines Wirkens an der Spitze des CDU-Kreisverbandes entschied sich der Kreisvorstand dazu, seine Mandatsträger auf Landes- und Bundesebene fortan im Direktwahlprinzip zu bestimmen. Dieses hatte massive Auswirkungen auf die Qualität der Parteimitgliedschaft, denn erstmalig konnten die Mitglieder unmittelbar in die Entscheidungsfindung für einen Kandidaten eingreifen. Diese große administrative Herausforderung für einen Verband mit rund 4.000 Mitgliedern gab der Parteiarbeit vor Ort einen bedeutsamen Schub in der Hierarchie aber auch der Emo­tionalität politischer Entscheidungen. Denn erstmalig hatten sich Kandidaten mit ihrer Vita und ihrer Aura einem breiten Auswahlverfahren zu stellen und zu behaupten. Was heute als nahezu selbstverständ­lich angesehen wird, förderte und forderte vor gut eineinhalb Jahrzehnten einen sehr intensiven Gedankenaustausch. Doch die positiven Erfahrungen mit dem Unmittelbarkeitsprinzip führten unter der Ägide Pötterings dazu, dass d­ ieses Prinzip der verstärkten Mitgliedereinbindung heute auch bei der Aufstellung von Landrats- oder Bürgermeisterkandidaten greift. Ein besonderes Augenmerk richtete Hans-­Gert Pöttering während seiner Amtszeit auf die stärkere Einbindung medialer Mög­lichkeiten in die Parteiarbeit: „Heraus aus den Hinterzimmern, hinaus in die Öffent­lichkeit“ war ein gelebtes Motto. Nicht nur die Mitglieder sollten regelmäßige Informa­tionen über Parteiarbeit erhalten, sondern sie sollten als Multiplikator in der Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung stehen. Hierfür waren umfassende Informa­tionen notwendig. Folgerichtig war daher auch die Anregung, über selbst publizierte Bürgerinforma­ tionen die Öffent­lichkeit zu erreichen. Diese kreisweit regelmäßig in ört­lichem Anstrich erscheinenden Publika­tionen stärken die Wahrnehmung der Arbeit der CDU auf kommunaler Ebene und wurden bereits auf Landesebene prämiert. Ebenfalls prämiert wurde in der Amtszeit Pötterings die Junge Union des Kreisverbandes, die mit rund 1.000 Mitgliedern die stärkste CDU-Nachwuchsorganisa­ tion im Landesverband Niedersachsen ist. Und diese Prämierung war symptomatisch für die Auffassung Hans-­Gert Pötterings, nach der man jungen Menschen eine Chance geben müsse, sich in der Parteihierarchie zu behaupten. Mit gewissem Stolz blickt die Kreispartei aber auch auf den Kreisverband der Frauen Union, der ebenfalls der mitgliederstärkste Niedersachsens ist. Auch die kreisweiten Verbände der CDU-Mittelstandsvereinigung (MIT), der auch als CDU-Sozialausschüsse bezeichneten Christ­lich-­Demokratischen

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Arbeitnehmerschaft und der Senioren Union leben heute den Begriff der Union und vereinigen unter dem Dach der CDU verantwortungsvoll weite Teile von Landkreisgesellschaft. Über die Gliederungen gelang es der CDU in Bereichen politische Aktivität zu entfalten, die ihr als Mutterpartei weniger leicht zugäng­ lich erschienen. Und Pöttering machte keinen Bedeutungsunterschied innerhalb der Gliederungen: So war es für ihn selbstverständ­lich – von der Frauen Union naturgebunden einmal abgesehen –, dass er die Arbeit in den Vereinigungen durch seine persön­liche Mitgliedschaft zu unterstreichen suchte. So gelang es ihm in den zwanzig Jahren seines Wirkens nicht nur, die Partei europäischer, basisgebundener, ausgeg­lichener und bürgernah zu gestalten, sondern sich selber die Mög­lichkeit zu erhalten, den Zeitpunkt des Wechsels zu seinem Nachfolger selbst zu bestimmen. Dies sollte am 1. Oktober 2010 geschehen: Der Kreisparteitag der CDU wählte in Ankum auf Vorschlag Hans-­Gert Pötterings den Autor zum dritten Vorsitzenden des Kreisverbandes seit 1972. Am selben Tag und am selben Ort – formal in einer dem Kreisparteitag nachfolgenden Urwahl – erlebte die CDU im Landkreis Osnabrück die größte Mitgliederversammlung ihrer Geschichte: rund 1.000 Mitglieder hatten sich auf den Weg nach Ankum gemacht, um dort den CDU-Kandidaten für die Nachfolge von Manfred Hugo als Landratskandidaten zu nominieren. Auch d­ ieses Mal sollte der Wechsel im Kreisvorsitz einhergehen mit einem Wechsel im Amt des Landrats. Knapp setzte sich schließ­lich der bisherige Bersenbrücker Bürgermeister Michael Lübbersmann aus Belm-­Icker gegen den ehemaligen ­Ersten Kreisrat des Landkreises Osnabrück, Reinhold Kassing aus Melle-­Gesmold, durch. Schließ­lich sollte Lübbersmann bei den Kreiswahlen 2011 zum zweiten hauptamt­lichen Landrat gewählt werden. Dieses auch, weil die Partei sich am Ende der spannend-­knappen Entscheidung hinter dem Sieger versammeln konnte, so wie es Hans-­Gert Pöttering mit der Einführung des Urwahlprinzips auf Kreisebene bezweckt hatte. Dennoch verlor die CDU mit der Kommunalwahl knapp die Fähigkeit, zumindest in einer Koali­tion mit der FDP die Mehrheit im Kreistag zu stellen und ist seither – ohne das Bündnis mit der FDP aufgegeben zu haben – in einer „­Großen Koopera­tion“ mit der SPD tätig. Mehr Offenheit, mehr Dialogfähigkeit, eine schlicht sachorientierte Politik – das sind die Lehren, die die CDU aus ­diesem Wahlergebnis ziehen musste und die die CDU im Landkreis Osnabrück mit den drei neuen „Köpfen“, dem CDU -Kreisvorsitzenden Christian Calderone, dem Landrat Michael Lübbersmann und dem ebenfalls 2011 gewählten CDU-Frak­tionsvorsitzenden Martin Bäumer, seither lebt. Mit den personellen Entscheidungen der Jahre 2010 und 2011 wurde der bereits begonnene Umbau der CDU zu einer basisgestärkten Mitgliederpartei fortgesetzt. Wohlwissend, dass bei einer Stärke von rund 4.000 Mitgliedern ein

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gewisses Maß an mittelbar ausgeübter Parteidogmatik erforder­lich ist, sollten dennoch mög­lichst viele Entscheidungen unmittelbar vorbereitet werden. Hierzu ist es jedoch unerläss­lich, auch in den sogenannten vorpolitischen Raum hineinzuwirken und Beratungsbedarfe über externe Fachkompetenz abzugleichen. So wurden in den vergangenen Jahren bewusst Fachausschüsse zu vielen die Politik unmittelbar betreffenden Bereichen gebildet, die nicht nur allen Mitgliedern offen stehen, sondern auch von interessierten und fachkundigen Bürgerinnen und Bürgern zum Zwecke des Meinungsaustausches besucht werden können. Ziel ist es hier auch, über diesen Kreis der mitwirkenden Personen Mitglieder und der CDU nahestehende Personen zu finden, die bei kommunalen Wahlen bereit sind, Verantwortung für die CDU zu übernehmen. „Heraus aus den Hinterzimmern, hinaus in die Öffent­lichkeit“ – einem bereits zitierten Motto Hans-­Gert Pötterings wird der Kreisverband mit seiner weltweiten Präsenz durch Internet und s­ oziale Netzwerke ebenso gerecht, wie regional durch Kreisvorstandssitzungen in wirtschaft­lichen Unternehmen, sozialen Einrichtungen oder Bildungsstätten. Und auch heute bleiben die Vereinigungen wesent­liche Aufgabenträger einer pluralen und gleichzeitig gefestigten CDU. Durch sie wird deut­lich, dass unserer Partei als einziger Volkspartei der Mitte die Aufgabe zukommt, auf der Basis des christ­lichen Menschenbildes auch weiterhin bürgernah und integrativ zu wirken. Der „Integra­tion“ in einer Mitgliederkreispartei CDU des Flächenlandkreises Osnabrück gelten auch eine Vielzahl von „Konferenzen“, die dem Meinungsaustausch und dem Informa­tionsfluss dienen. Ob Bürgermeisterkonferenz, Ortsvorsitzendenkonferenz, Frak­tionsvorsitzendenkonferenz – auf Augenhöhe tritt der Kreisverband der CDU „seinen“ 51 Ortsverbänden tradi­tionell gegenüber. Nicht als „Besserwisser vom Kreis“, sondern als beratend, begleitend, mitunter schlichtend versteht der Kreisverband seine Aufgabe in die Ortsverbände hinein. Sie definieren am Ende ganz maßgeb­lich das Bild der CDU vor Ort, in den Städten, Gemeinden und Samtgemeinden des Landkreises. Die Zukunft der CDU im Landkreis Osnabrück wird nicht zuletzt auch davon abhängen, inwieweit es gelingt, die Menschen aber auch die Mitglieder zu öffnen für die großen Herausforderungen in einer sich wandelnden Gesellschaft, und schließ­lich davon, das Vertrauen der Menschen begründet zu erlangen. Vertrauen entsteht aus Verläss­lichkeit, und Kontinuität entsteht aus Vertrauen. In ­diesem Dreiklang wirkt die CDU in der Region um Osnabrück seit über vier Jahrzehnten. Drei Kreisvorsitzende, drei Landräte und drei CDU -Frak­ tionsvorsitzende im Kreistag zeugen davon, die jeweils nahezu zeitgleich ihre neuen Aufgaben antraten. Selbstverständ­lich ist, dass Reinhard von Schorlemer und Hans-­Gert P ­ öttering noch heute als Ehrenkreisvorsitzende Mitglieder des geschäftsführenden Kreisvorstandes sind und dabei – vermut­lich im politischen Bereich nicht immer selbstverständ­lich – dem amtierenden Kreisvorsitzenden freundschaft­lich

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Christian Calderone

beratend zur Seite stehen. Deut­lich wurde dies nicht zuletzt im Jahr 2012, in dem die CDU im Landkreis ihr 40-jähriges Bestehen unter anderem mit einem Interview der drei Kreisvorsitzenden von Schorlemer, Pöttering und Calderone feiern konnte. So bilden dann Erfahrung und Werteaustausch das Gerüst für hoffent­lich noch viele weitere Jahrzehnte christdemokratischen Wirkens in einer Union des Landkreises Osnabrück, einer Union der Menschen für die Menschen.

Südtirol Eine europäische Region Michl Ebner

1. Chronologie der geschicht­lichen Entwicklung Südtirols von 1918 bis heute Südtirol blickt auf ein sehr ereignisreiches 20. Jahrhundert zurück, welches das Land immer noch bedeutend prägt. Das heutige Südtirol gehörte, gemeinsam mit dem Trentino, bis zum Jahre 1918 zum österreichischen Kronland Tirol. Nach dem Untergang der österreichisch-­ungarischen Monarchie im ­Ersten Weltkrieg wurden im Friedensvertrag von Saint Germain die Gebiete süd­lich des Brenners Italien zuerkannt. Zu dieser Zeit waren rund 76 Prozent der Bevölkerung deutscher Muttersprache, 11 Prozent italienischer Muttersprache, 4 Prozent gehörten der ladinischen Sprachgruppe an und 9 Prozent hatten eine andere Sprachgruppenzugehörigkeit. Die deutschen und ladinischen Bevölkerungsteile Südtirols genossen im „neuen“ Staat keinerlei Minderheitenrechte. Vielmehr stieg, speziell mit der Machtergreifung durch Benito Mussolini im Jahr 1922, der Druck zur Assimila­tion an die sprach­lichen und kulturellen Gegebenheiten in Italien. Ab 1923 und verstärkt ab dem Jahr 1926 wurden durch das faschis­tische Regime die deutschsprachigen Grundschulen in Südtirol abgeschafft, die Selbstverwaltung der Gemeinden aufgehoben sowie deren deutsche Ortsnamen verboten, deutschsprachige Beamte entlassen und ganz allgemein die tradi­tionelle Kultur des Landes unterdrückt. Ab den 1930er Jahren wurde in Bozen die Industrialisierung verstärkt forciert. Von den neu entstandenen Arbeitsplätzen war die heimische Bevölkerung aber ausgeschlossen. Sie blieben Italienern aus anderen Provinzen vorbehalten, weshalb eine starke Einwanderung aus allen Teilen Italiens einsetzte. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs verschlimmerte sich die Lage der deutschund ladinischsprachigen Südtiroler im Zuge der interna­tionalen politischen Ereignisse zusehends. Im Jahr 1939 schlossen Hitler und Mussolini das sogenannte Op­tions-­Abkommen. Die deutschsprachigen Südtiroler wurden vor die Wahl gestellt, sich für das Deutsche Reich zu entscheiden und damit auszuwandern oder in Italien zu bleiben und sich zu assimilieren. Die Op­tion trieb einen tiefen Keil in die Südtiroler Bevölkerung. Sowohl „Geher“ (Deutschlandoptanten) als auch „Bleiber“ betrieben teils heftige Propaganda. Über 80 Prozent der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung entschied sich schließ­lich für die Auswanderung. Zur tatsäch­lichen und konsequenten Umsetzung des „Op­tions-­Akommens“ kam es wegen der Wirren des Krieges nie, wenngleich eine beträcht­liche Anzahl an Südtirolern das Land verließ (ca. 80.000). Als im September 1943 deutsche

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Truppen in Italien einmarschierten, und Südtirol, gemeinsam mit dem Trentino und der Provinz Belluno, die sogenannte Opera­tionszone Alpenvorland bildete, kam es zu einer kurzfristigen Wiederherstellung der kulturellen Freiheit und Identität für die deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerungsteile. Dies natür­ lich unter starkem Einfluss des Na­tionalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte Südtirol wieder unter italienische Herrschaft. Die Alliierten wollten Italien im aufkeimenden Kalten Krieg nicht schwächen und verweigerten das geforderte Selbstbestimmungsrecht. Im Pariser Abkommen von 1946, z­ wischen dem österreichischen Außenminister Karl Gruber und seinem italienischen Amtskollegen Alcide De Gasperi, wurde den Südtirolern jedoch grundsätz­lich das Recht auf Selbstverwaltung und Autonomie zugestanden („Erstes Autonomiestatut“). Bald stellte sich jedoch heraus, dass ­dieses Abkommen einen entscheidenden Schwachpunkt besaß, welcher die Selbstverwaltung stark beschränkte. Die Autonomie wurde näm­lich nicht Südtirol alleine zugestanden, sondern vom Staat Italien auch dem Trentino, mit welchem Südtirol in einer Verwaltungseinheit (der Region Trentino-­Südtirol) zusammengefasst war, gewährt. Innerhalb der Region Trentino-­Südtirol waren die deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler in der Unterzahl und umfassende Reformen zum Schutz der Sprachminderheit blieben aus. Dennoch verbesserte sich die Situa­tion beträcht­lich, beispielsweise durch das wiedererlangte Recht der Südtiroler auf muttersprach­lichen Unterricht. Durch die grundlegende Unzufriedenheit mit der zu dieser Zeit bestehenden Form der Autonomie stellte man sich in der Südtiroler Öffent­lichkeit die Frage: Verbesserung der Autonomie („Los von Trient“) oder Selbstbestimmung durch die Loslösung von Italien („Los von Rom“)? Die Südtiroler Volkspartei (SVP) als wichtigste Vertretung der deutschen und ladinischen Sprachgruppe entschied sich schließ­lich für den Kampf für eine Verbesserung der Autonomie. Doch der Druck von Seiten Südtirols auf zentralstaat­liche Gremien blieb nahezu wirkungslos. Auch Anschläge auf wichtige Infrastrukturen durch junge Südtiroler, die das „Los von Rom“ unterstützten, führten nicht zum erhofften Durchbruch (sogenannte Bombenjahre ­zwischen 1959 und 1967). Eine eindeutige Trendwende setzte mit der Behandlung der „Südtirolfrage“ innerhalb der UN-Vollversammlung ein. Österreichs damaliger Außenminister Bruno Kreisky brachte das Problem im Sinne einer „Schutzmachtfunk­tion“ Österreichs gegenüber Südtirol bei der UN-Vollversammlung vor und entzog es somit geschickt den innerstaat­lichen Souveränitätsangelegenheiten Italiens. Im Zuge des darauf folgenden „Zweiten Autonomiestatutes“ von 1972 wurden Südtirol wichtige Autonomierechte zum Schutz und zur Förderung der deutschen und ladinischen Sprache übertragen, indem Zuständigkeiten, die vorher vom Staat oder der Region verwaltet wurden, an die Provinz Bozen-­Südtirol übertragen wurden. Besonders hervorzuheben ist hierbei die sogenannte Finanzautonomie. Diese sieht vor, dass 90 Prozent der im Land eingehobenen Steuern wieder direkt

Südtirol

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nach Südtirol zurückfließen. Die weitreichenden finanziellen Gestaltungsräume Südtirols im Rahmen des Zweiten Autonomiestatutes machen es mög­lich, dass optimal auf die Besonderheiten des Landes eingegangen werden kann. Auch die Gesetzgebung des Landes kann relativ frei agieren und muss sich nur an den staat­lichen Rahmen (z. B. im Bereich Schule) bzw. an die Verfassung halten. Dieser Umstand brachte große Gestaltungsmög­lichkeiten mit sich. Mittels sogenannter Durchführungsbestimmungen wurden die einzelnen Sachbereiche schließ­lich endgültig in die Zuständigkeit des Landes übergeben. Einem sehr umständ­lichen Verfahren ist es geschuldet, dass ein weitgehender Abschluss dieser Durchführungsbestimmungen erst im Jahr 1992 erreicht werden konnte. Im gleichen Jahr wurde der Konflikt um die Belange Südtirols z­ wischen Italien und Österreich offiziell vor der UNO beendet („Streitbeilegungserklärung“). Im Jahr 1995 trat Österreich der Europäischen Union bei. Dies stellte für die Länder Südtirol und Tirol einen historischen Wendepunkt dar. In einem geeinten Europa wird auch der verstärkte ­soziale, kulturelle, politische und wirtschaft­ liche Austausch z­ wischen den beiden Ländern wieder verstärkt mög­lich. Die europäische Integra­tion hat bereits in den Jahren davor den Konflikt über die „Südtirolfrage“ ­zwischen den beiden Nachbarstaaten Österreich und Italien stark eingedämmt und kann somit als wesent­licher Faktor für die erfolgreiche Autonomie Südtirols angesehen werden. Auch waren beide Staaten, aufgrund wechselseitiger Interessen an guten Beziehungen, stets um einen guten Umgang miteinander bemüht. Mit dem Schengen-­Abkommen 1998 fielen auch die Grenzen ­zwischen den EU-Staaten, ein nicht nur symbo­lisch wichtiger Umstand. Die Südtiroler und Nordtiroler Bevölkerung ist durch den Wegfall der Grenzen merk­lich zusammengerückt. Auch der Aufbau des europäischen Binnenmarktes und die damit einhergehende Einführung der allgemeinen europäischen Grundfreiheiten (freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapitalund Zahlungsverkehr) haben sich positiv auf eine neuer­liche gesellschaft­liche und wirtschaft­liche Annäherung der Länder Tirol und Südtirol ausgewirkt. Seit dem Jahr 2002 wird mit dem Euro sogar eine einheit­liche gemeinsame Währung benutzt. Die Südtiroler Bevölkerung teilt sich heute wie folgt in Sprachgruppen auf: 64 Prozent deutscher Muttersprache, 25 Prozent italienischer Muttersprache, 4 Prozent ladinischer Muttersprache und 7 Prozent andere Muttersprachen. Die Stärke der Sprachgruppen wird alle zehn Jahre anhand einer Eigenerklärung erhoben. Das Zusammenleben ­zwischen den verschiedenen Sprachgruppen im Land ist zwar grundsätz­lich fried­lich, jedoch nicht frei von Spannungen. Der Ausgleich ­zwischen den Sprachgruppen beruht auf den Eckpfeilern Partizipa­tion, Autonomie innerhalb der Sprachgruppen und dem Prinzip der Zweisprachigkeit. Im Sinne einer gleichwertigen politischen Partizipa­tion sind alle Sprachgruppen an der Landesregierung beteiligt und bekleiden im Rota­tionsverfahren wichtige

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Ämter im Landtag. Die verschiedenen Sprachgruppen verfügen innerhalb des Landes über große Freiräume in der Bildungs- und Kulturpolitik. Die Schulen sind nach Sprachgruppen getrennt, wobei auch die jeweils andere Landes­ sprache unterrichtet wird und eine verstärkte Zusammenarbeit angestrebt wird. Des Weiteren werden öffent­liche Arbeitsplätze bei Land und Gemeinden, aber auch Haushaltsmittel (z. B. sozialer Wohnbau) im Verhältnis zur Sprachgruppenstärke vergeben. Für die Aufnahmen im öffent­lichen Dienst muss zudem ein Nachweis über die Sprachkompetenz in beiden Landessprachen erbracht werden (Prinzip der Zweisprachigkeit). Diese Grundsätze sichern ein fried­liches Zusammenleben der verschiedenen Sprachgruppen in Südtirol. 2. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Europaregion Tirol-­Südtirol-­Trentino Tirol, Südtirol und das Trentino eint nicht nur eine lange gemeinsame Geschichte. Durch die Europaregion Tirol-­Südtriol-­Trentino wird diese historische Verbindung, die von 1919 bis Ende des Jahrhunderts eine starke Trennung erfahren hat, wiederbelebt. Die Grundlage für die Bildung der Europaregion Tirol-­Südtirol-­Trentino bildet die im Jahre 1980 beschlossene „Madrider Konven­tion“. Es handelt sich dabei um ein europäisches Rahmenabkommen, welches die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ­zwischen Gebietskörperschaften verschiedener Länder regelt. Obwohl die Europaregion bereits vom früheren Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer im Jahr 1978 angedacht wurde, kam es erst im Jahr 1998 zu einer Vereinbarung zur grenzüberschreitenden Koopera­tion in Form eines Europäischen Verbundes Territorialer Zusammenarbeit (EVTZ). Wichtige Etappen in diese Richtung waren das 1993 beschlossene Rahmenabkommen zur Zusammenarbeit z­ wischen Österreich und Italien und das 1995 eröffnete gemeinsame Verbindungsbüro der Europaregion Tirol-­Südtirol-­Trentino in Brüssel. Im Zweijahrestakt finden sogenannte Dreier-­Landtage statt, an ­welchen die politischen Vertreter Tirols, Südtirols und des Trentino gemeinsam teilnehmen. Im Jahr 2009 wurde das gemeinsame Büro der Europaregion Tirol-­Südtirol-­Trentino eröffnet. Es ist an der Europäischen Akademie (Eurac) in Bozen angesiedelt und koordiniert die Tätigkeiten. Vertreten wird die Europaregion von den jeweiligen Landeshauptleuten und den Landesregierungen. Eigene Koordina­tionsstellen in den drei Ländern übernehmen die Verwaltungsaufgaben. Der EVTZ besitzt eine eigene Rechtspersön­ lichkeit und kann somit als Organisa­tion eigene Verträge abschließen. Das institu­tionelle Handeln des EVTZ ist auf seine Mitglieder, insbesondere auf die regionalen Behörden ausgerichtet. Das allumfassende Ziel des EVTZ ist es, die grenzüberschreitende, transna­tionale sowie interregionale Zusammenarbeit zu stärken und somit den wirtschaft­lichen, sozialen und kulturellen Zusammenhalt

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der Bevölkerung der Länder Tirol, Südtirol und Trentino zu fördern. Deshalb hat man es sich auch auf die Fahnen geschrieben, die territoriale Entwicklung der drei Länder zu fördern. Zu den konkreten Aufgaben des EVTZ gehören: die Festlegung und Durchführung von operativen Programmen, die Förderung der Interessen des EVTZ bei den staat­lichen und europäischen Institu­tionen, der Beitritt zu Organisa­tionen, Vereinigungen und Netzwerken, ­welche einen verstärkten Zusammenhalt erwirken können und die Durchführung anderer Aktivitäten (mit oder ohne europäische Finanzierung), die mit den Zielen des EVTZ im Einklang sind. Die Zusammenarbeit im Rahmen des EVTZ findet in vielen Bereichen statt, besonders hervorzuheben sind sicher­lich die Bereiche Wirtschaft, Landwirtschaft und Tourismus, Kommunika­tion, Gesundheit, Forschung und Innova­tion, Kultur, Bildung, Energie, Umwelt, Jugend und Europaangelegenheiten. Alle drei Länder teilen auch ihre gemeinsamen Anliegen um die Verkehrspolitik im Alpenraum. Zu konkreten Projekten gehört etwa der Fonds zur Forschungsförderung, welcher mit einer Million Euro dotiert ist. Dieser richtet sich an wissenschaft­liche Einrichtungen in der Europaregion, die interregionale Projekte mit der Laufzeit von einem bis drei Jahren durchführen. 3. Wirtschaft­liche Entwicklung: Von einer Agrargesellschaft zur Wohlstandsregion Südtirol hat sich in den letzten Jahrzehnten vom alpinen Agrarland zu einer europäischen Wohlstandsregion entwickelt. Dies spiegelt sich auch in dem Umstand wieder, dass das Land in verschiedenen Rankings stets Spitzenposi­tionen einnimmt (Beispiel Arbeitslosenquote, BIP pro Einwohner oder Lebensqualität). Der Entwicklungsprozess in diese Richtung hat vor etwa 35 Jahren begonnen. Ein überaus guter Indikator für die Attraktivität einer Region ist deren Bevölkerungsentwicklung und hierin besonders die Migra­tionsbewegungen. Südtirol war bis in die 1990er Jahre von einem negativen Wanderungssaldo gekennzeichnet. Konkret bedeutet dies, dass speziell junge Südtiroler auf der Suche nach Arbeit ins Ausland abwanderten. Diese Tendenz hat sich in den 1990er Jahren umgekehrt und ein konstant positiver Wanderungssaldo hat Einzug gehalten. Besonders wenn man Südtirol mit anderen Gebieten im Alpenbogen vergleicht, ­welche vielfach mit Abwanderung zu kämpfen haben, ist diese Entwicklung überaus erfreu­lich. Hierfür sind mehrere Faktoren verantwort­lich. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre kamen wichtige Impulse aus dem Ausland, die den wirtschaft­ lichen Aufschwung einleiteten und unterstützen. Österreich leistete neben seiner politischen Unterstützung auch bedeutenden finanziellen Beistand. Auch aus Deutschland bezog Südtirol umfangreiche Spendengelder, die besonders im Schul- und Bildungsbereich eingesetzt wurden. Südtirol profitierte aber auch

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indirekt vom wachsenden Wohlstand in Deutschland (1960 – 1970 Wachstum von ca. 54 Prozent; 1979 – 1980 Wachstum von 33 Prozent), indem es zum beliebten Urlaubsziel avancierte. Das süd­liche Flair gepaart mit der Mög­lichkeit, sich in deutscher Sprache zu verständigen, verhalfen Südtirol dazu, eine ideale Reisedestina­tion für die deutsche Bevölkerung zu werden. Von Anfang an wurde im Tourismus dabei auf eine hohe Qualität gesetzt. Die Übernachtungen haben sich dementsprechend seit den 1960er Jahren mehr als vervierfacht. Vom Tourismussektor gingen wichtige wirtschaft­liche Impulse auf andere Bereiche aus, wie beispielsweise das Handwerk. Gleichzeitig ist anzumerken, dass die touristische Kapitalbildung nicht nur die Zentren ökonomisch stärkten, sondern besonders auch länd­liche Gebiete profitieren konnten. Auch im Zuge der Industrialisierungsbemühungen ab den 1960 Jahren wurde versucht, periphere Gebiete einzuschließen. Aktiv wurden Unternehmen aus dem deutschen Sprachraum angeworben, ­welche sich nicht nur rund um die Ballungszentren des Landes ansiedeln, sondern auch Arbeitsplätze sichern sollten. Durch die Ansiedlung auswärtiger Industriebetriebe wurden nicht nur Arbeitsplätze geschaffen, auch brachten diese eine gewisse Industriekultur mit. Dies hat zur Entwicklung von wichtigen Managementkompetenzen bei den heimischen Unternehmen beigetragen und zu positivem Bildungsdruck sowie einer Ausrichtung am interna­tionalen Markt geführt. Besonders die positiven Veränderungen in Tourismus und Industrie legten den Grundstein dafür, dass die Abwanderung gebremst und die private Kaufkraft gestärkt werden konnte. Die Gesellschaft des Landes entwickelte sich dadurch von einer Agrargesellschaft zu einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Aber auch in der Landwirtschaft sind überaus positive Entwicklungen festzuhalten. Südtirols Landwirte hatten schon weitreichende Erfahrung mit dem Anbau von Obst und der Produk­tion von Wein. Dieses Know-­how wurde ab den 1960er Jahren systematisch genutzt. Dadurch konnte sich der Obst- und Weinbau zu einer äußerst erfolgreichen Branche entwickeln. Besonders im Obstbau ist es zu einer Spezialisierung gekommen, mit der Folge, dass derzeit rund 10 Prozent der Apfelerntemenge Europas in Südtirol wächst. Durch moderne Lagertechniken und neue Sorten ist es heutzutage mög­lich, auch auf kleinen Anbauflächen mit ca. vier Hektar gewinnbringend zu arbeiten. In Südtirol gab es, im Vergleich zu anderen Gebieten in den Alpen, überaus wenige Hofauf­ lassungen. Dies wirkt sich wiederum positiv auf ein flächendeckendes, gepflegtes Kultur- und Landschaftsbild aus, ein speziell für den Tourismus wichtiger Faktor, aber auch eine für die allgemeine Lebensqualität der Bevölkerung nicht unwesent­liche Beschaffenheit. Die Landwirtschaft hat somit erheb­lichen Anteil am wirtschaft­lichen Wohlstand Südtirols. All diese Faktoren haben in Summe dazu geführt, dass Südtirol im europäischen Vergleich in der obersten Liga bei BIP pro Kopf und anderen Wohlstandsindikatoren wie Arbeitslosigkeit oder Lebensqualität mitspielt. Auch

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verschiedene politische Rahmenbedingungen haben dazu beigetragen. Einerseits nimmt die Autonomie für die eigenständige wirtschaft­liche Entwicklung einen wichtigen Stellenwert ein. Dadurch konnten den wirtschaftspolitischen Eigenheiten Rechnung getragen werden und die lokalen Stärken optimal gefördert werden. Andererseits ist das „Erfolgsmodell Südtirol“ sicher­lich auch der europäischen Integra­tion zu verdanken. Südtirol hatte seit jeher eine bedeutende Vermittlerposi­tion z­ wischen Nord- und Südeuropa, vor allem natür­lich z­ wischen Deutschland und Italien. Durch die verstärkte wirtschaft­liche und politische Integra­tion der EU wurde diese Vermittlerrolle Südtirols noch wichtiger. Die Charakteristik der Südtiroler, beide Sprachen und Kulturen zu kennen, bringt dem Land auch heute noch wichtige Vorteile und macht es gleichzeitig zum europäischen Vorzeigemodell in Sachen Zusammenarbeit und Völkerverständigung. 4. Herausforderungen für die Zukunft Südtirols Südtirol hat ein sehr hohes Wohlstandsniveau erreicht, der s­ oziale Frieden im Land ist konsolidiert. Es wäre aber ein Fehler, sich auf den Lorbeeren der Vergangenheit auszuruhen und damit die Herausforderungen für die Zukunft nicht zu erkennen. Denn obwohl man in vielen Bereichen sehr gut aufgestellt ist, dürfen kritische Punkte nicht vernachlässigt werden, um den Anschluss an Europas Top-­Regionen nicht zu verlieren. Globalisierung und Interna­tionalisierung verlangen nach hoher Wettbewerbs­ fähigkeit. Alte Wirtschaftsstrukturen werden dadurch stark auf die Probe gestellt. Die Gesellschaft und Wirtschaft Südtirols darf sich insbesondere dem technolo­ gischen Wandel nicht verschließen, sondern muss diese Entwicklungen aktiv mitgestalten, um interna­tional konkurrenzfähig zu bleiben. Auch sollten die Unternehmen des Landes verstärkt in die Entwicklung technologiebasierter Produkte und Verfahren investieren. Allgemein besteht im Bereich der Forschung und Innova­tion noch Nachholbedarf. In den letzten Jahren sind mit der Errichtung der Universität Bozen, der europäischen Akademie, dem Technologiezentrum TIS und dem Forschungszentrum Laimburg große Anstrengungen in diese Richtung unternommen worden. Gleichzeitig hinkt Südtirol, auch im Vergleich mit den Nachbarländern Tirol und Trentino, bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung hinterher. Speziell bei den Innova­tionsausgaben der Unternehmen besteht großer Nachholbedarf. Südtirols Unternehmen sind weitestgehend kleinstrukturiert. Dies hat sich in Krisenzeiten zwar als Stabilitätsfaktor erwiesen. Insgesamt muss aber festgehalten werden, dass die Südtiroler Unternehmen dadurch teilweise Schwierigkeiten haben, interna­tionale Märkte zu bedienen. Auch sind die Exporte sektoral und nach Absatzmärkten sehr konzentriert. Einen zusätz­lichen Schwachpunkt stellt der Umstand dar, dass der Schwerpunkt des Exports der Südtiroler Unternehmen auf Sektoren mit niedriger Arbeitsproduktivität liegt. Die Exportorganisa­tion Südtirol (EOS)

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der Handelskammer Bozen ist seit Jahren um eine verstärkte Exportorientierung der Südtiroler Unternehmen bemüht und unterstützt die Unternehmen aktiv in ihren Bestrebungen, interna­tionale Märkte zu bedienen. In den letzten Jahren hat sich die überregionale und interna­tionale Zusammenarbeit sehr verbessert. Ein besonders gutes Beispiel dafür ist der Zusammenschluss zur Europaregion Tirol-­Südtirol-­Trentino. Gleichzeitig steht manchmal aber noch Konkurrenzdenken statt Zusammenarbeit im Vordergrund. Auch auf politischer Seite herrscht oftmals Skepsis. Die Regionen wollen Teile ihrer Kompetenzen nicht aufgeben und somit an Einfluss einbüßen. Entgegengesetzte Tendenzen, wie etwa die „Alpenstrategie“ der EU, geben aber Anlass zur Hoffnung, dass ein Umdenken stattfindet. Im Rahmen dieser Initiative sollen etwa im Bereich des Tourismus, interna­tionale Märkte angesprochen werden, für die eine einzelne Region zu klein ist. Wir befinden uns derzeit in einer spannenden Phase der gesellschaft­lichen und wirtschaft­lichen Entwicklung. Alte Strukturen werden auf die Probe gestellt und neue Ausrichtungen müssen sich erst bewähren. Südtirol hat sehr gute Chancen, gestärkt aus diesen Wandelprozessen hervorzugehen, wenn der Nutzen der europäischen Zusammenarbeit aktiv gelebt und vorangetrieben wird. Interna­tional gesehen kann die Autonomie Südtirols als Musterbeispiel für andere Regionen mit kultureller Vielfalt dienen. So unterstrich Italiens Ministerpräsident M ­ atteo Renzi kürz­lich, dass das Modell der Südtirol Autonomie als Vorbild dienen könnte, um die Konflikte in der Ukraine zu lösen.

Was für mich Heimat bedeutet Manfred Hugo

Die Beschreibung, was für mich Heimat bedeutet, schien mir zunächst eine einfache Aufgabe zu sein. Ich dachte, es genüge, die mich umgebende räum­liche Umwelt zu erfassen, sie darzustellen und mein Verhältnis zu dieser Umwelt zu thematisieren. Es wurde mir jedoch bald klar, die räum­liche Umwelt und die darauf gerichteten Gefühle sind nur ein Teil dessen, was Heimat bedeutet. Heimat umfasst erheb­lich mehr. Erstens: Zwar ist Heimat auf der einen Seite schon der mich umgebende Nahraum. Also die Gemeinde Bohmte, der Altkreis Wittlage und das Osnabrücker Land. Hier bin ich geboren, aufgewachsen, lebe hier auch jetzt noch, bin hier beruf­lich als Staatsanwalt, Richter und schließ­lich als Landrat tätig gewesen, hier habe ich geheiratet, hier sind meine Kinder zur Welt gekommen und aufgewachsen, hier haben seit mehreren Genera­tionen meine Vorfahren gelebt. Dieser Nahraum mit seinen landschaft­lichen Schönheiten, dem Wiehengebirge, dem Teutoburger Wald, dem Dümmer See, dem Venner und Hunteburger Moor, den Flüssen Hunte und Hase und mit seinen Städten und Dörfern ist für mich Heimat. Diese Heimat bedeutet für mich, dass ich einen Raum habe, in dem ich zu Hause bin. Zweitens: Heimat ist für mich aber auch ein kultureller, sozialer und geistiger Bereich. Für mich bedeutet Heimat die Iburg, der Osnabrücker Dom, die Marienkirche in Osnabrück, der sogenannte Artländer Dom, die kleine Fachwerkkirche in Arenshorst, das Varusmuseum in Kalkriese, das Felix-­Nussbaum-­Haus in Osnabrück, die Universität in Osnabrück, die vielen schönen Weihnachtsmärkte in der Region, der VfL Osnabrück, die Artland Dragons, die verschiedenen Musikfestivals, die Bundesumweltstiftung, das Stahlwerk in Georgsmarienhütte, die Firma Kesseböhmer im Altkreis Wittlage, um nur einiges Wenige zu nennen. Dabei ist Heimat nicht das jeweilige Bauwerk, die jeweilige Institu­tion, die jeweilige Firma, die jeweilige Einrichtung, der jeweilige Verein oder das jeweilige Ereignis als solches, sondern Heimat wird verkörpert durch die geistige, ­soziale und kulturelle Haltung oder durch die historische Entwicklung, für die das jeweilige Bauwerk, die jeweilige Einrichtung, das jeweilige Ereignis symbolhaft steht. Dom und Marienkirche für die lange christ­liche Geschichte und für das inzwischen gute und fruchtbare Miteinander der Konfessionen in der Region. Die Iburg, die lange Sitz der Osnabrücker Fürstbischöfe war, für die Entwicklung der staat­lichen Ordnung im Osnabrücker Land.

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Oder der VfL Osnabrück, die Artland Dragons und die Weihnachtsmärkte stehen für die Art des Zusammenlebens und der Beschäftigung der Menschen in ihrer alltäg­lichen Freizeit. Das Stahlwerk Georgsmarienhütte, die Firma Kesseböhmer zeigen die Industrialisierung der Region und ihren Wandel im Laufe der Zeit. Die Universität Osnabrück und die Bundesumweltstiftung sind Symbol für die wissenschaft­liche und geistige Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Drittens: Zu meiner Vorstellung von Heimat gehören auch die Menschen, mit denen ich zu tun habe, die ich respektiere und die mich respektieren. Die mit mir tolerant und mit denen ich tolerant umgehe. Die mit mir zur Erreichung von bestimmten Zielen offen zusammenarbeiten, über Parteigrenzen und unterschied­ lichen Weltanschauungen hinweg. Zu dem, was Heimat für mich ist, gehören auch Menschen, mit denen ich freundschaft­lich verbunden bin. Die langjährige freundschaft­liche Verbundenheit ­zwischen Hans-­Gert Pöttering und mir ist für mich Teil meines Empfindens von Heimat. Das gilt auch für eine Reihe anderer Personen aus Stadt und Landkreis Osnabrück. Gäbe es diese Menschen nicht, hätte meine Heimat Osnabrücker Land für mich nicht die jetzige Qualität. Die hier lebenden Menschen, ob „Alteinwohner mit noch plattdeutschen Sprachkenntnissen“, ob Vertriebene als Folge des Zweiten Weltkriegs, ob Spätaussiedler, ob aus den unterschied­lichsten Gründen aus allen Teilen Deutschlands und aus vielen Na­tionen Zugezogene prägen das Osnabrücker Land. Der „Schmelztiegel“ aus Bodenständigkeit und Zuwanderung gibt der Region ihr Gesicht. Viertens: Darf es in unserer globalen Welt überhaupt noch den von mir als Heimat empfundenen Raum geben? Ich denke, eine s­ olche Heimat darf es nicht nur geben, sondern es muss sie geben. Die komplizierte, unruhige, manchmal unverständ­liche und teilweise Unsicherheit bewirkende globale Welt erfordert geradezu einen überschaubaren Raum, den ich verstehe, in dem ich festen Boden unter den Füßen habe und mit dem ich mich identifizieren kann. Das gibt Sicherheit und Vertrauen. Dort finde ich Verläss­lichkeit und Geborgenheit, aber auch Rückzugs- und Regenera­ tionsmög­lichkeit. Dort kann ich „die Seele baumeln lassen“. Fünftens: Globale Welt und Heimat müssen übrigens keine Gegensätze sein. Ich kann gleichzeitig ein guter Weltbürger, ein guter Deutscher und ein guter Osnabrücker sein. Hans-­Gert Pöttering ist für mich durch seine Persön­lichkeit, durch die Ämter, die er innehatte und wie er sie ausführte, der beste Beweis für diese These. Er hat an vielen interna­tionalen und na­tionalen Projekten erfolgreich und mit Herzblut mitgewirkt und er hat gleichzeitig aus Überzeugung und mit Empathie für seine Heimat viel für das Osnabrücker Land getan. Er war und ist ein großer Europäer und er ist dennoch im Osnabrücker Land zu Hause geblieben.

Was für mich Heimat bedeutet

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Sechstens: Heimat bedeutet für mich nicht Abschottung, sondern Weltoffenheit. Der Landkreis Osnabrück ist in den letzten 35 Jahren von 280.000 Einwohnern auf rund 360.000 Einwohner durch Zuzug und Einwanderung gewachsen. Davon waren allein ca. 30.000 Einwohner Spätaussiedler, im Wesent­lichen aus der ehemaligen Sowjetunion. Die übrigen Menschen kamen aus allen Teilen Deutschlands, aus dem benachbarten Europa und weltweit aus vielen Na­tionen. Sie brachten vielfach ihre eigene Kultur mit. Das Osnabrücker Land hat von den Zuwanderern profitiert. Es hat sicher­ lich auch Probleme gegeben, aber die Menschen haben sich nicht abgeschottet, sondern sie waren bereit, wie übrigens auch gegenüber den Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, den Menschen eine neue Heimat zu geben. Das war manchmal nicht einfach, aber es ist im Großen und Ganzen gelungen. Erfolgreiche Integra­tion setzt auf beiden Seiten den Willen dazu voraus, sowohl bei den Einheimischen als auch bei den Zuwanderern. Durch die Zuwanderungen hat sich sicher­lich das „Gesicht der Heimat“ verändert, insbesondere kulturell und religiös. Es gibt neben den etablierten ­Kirchen nun eine Reihe von Freikirchen und es gibt eine Reihe von islamischen Gemeinden. Im Osnabrücker Land mit Schwerpunkt in der Stadt Osnabrück gibt es (wieder) eine lebendige jüdische Gemeinde. Sie alle gehören zur Heimat Osnabrücker Land und an ihnen zeigt sich, eine offene und wirtschaft­lich gut und solide aufgestellte Region ist in der Lage, Menschen, die das wollen, in die heimat­liche Region zu integrieren, ohne dass es zu Brüchen in der Region kommt. Zusammengefasst Heimat ist für mich der mich umgebende Nahraum mit seinen geistigen, kulturellen, historischen und sozialen Gegebenheiten und seinen hier lebenden Menschen. Heimat bedeutet kein Gegensatz zur globalen Welt. Sie ist vielmehr nötig, um in der globalen Welt leben zu können. Heimat bedeutet kein abgeschottetes „Gebiet“, sondern schafft Integra­tions­ mög­lichkeiten für Zuwanderer. Heimat ist kein Traumland. Heimat ist kein Zustand im Kopf nur mit Erinnerungen an die Kindheit. Heimat ist vielmehr ein real, räum­lich, sozial und kulturell existierender Bereich mit unverwechselbaren Merkmalen. Heimat ist nicht statisch. Heimat verändert sich vielmehr durch gesellschaft­ liche Strömungen in der Umwelt.

Anmerkungen zur Erinnerungskultur Hans Walter Hütter

Geschichte hat auch in den Medien Konjunktur. Je nach Anlass versorgen uns Fernsehen, Hörfunk und Printmedien mit den immer gleichen Bildern in den immer gleichen Endlosschleifen. Genutzt werden dabei meist so genannte Bild­ ikonen, die durch ihren emo­tionalen Wert Eingang in das kollektive Bildgedächtnis der gegenwärtigen Gesellschaft gefunden haben. Doch in Bildikonen liegt auch eine Gefahr für die Erinnerung. Da die Ereignisse verdichtet und zugleich symbo­lisch aufgeladen werden, können sie das kollektive Gedächtnis verwässern oder gar verfälschen. In den Jubiläumsjahren 2014 und 2015, in denen die Deutschen den 25. Jahrestag des Mauerfalls und der Wiedervereinigung feiern, wird dies besonders deut­lich. Obwohl diese Ereignisse fast ein ganzes Jahr auseinanderliegen, wirken sie in der Rückschau eng miteinander verwoben und verzahnt. Die Erinnerung an die Wiedervereinigung wird im Gedächtnis eines Großteils der Deutschen dominiert von den emo­tionalen Bildern des Mauerfalls. So scheint die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 fast zwangsläufig auf den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und die Bilder der demonstrierenden Menschen am 9. Oktober 1989 in Leipzig zu folgen. Mauerfall und Wiedervereinigung verschmelzen zu einem Bild. Zwischen Ereignis und Erinnerung entsteht hierdurch bisweilen eine breite Kluft. Im persön­lichen „Bildarchiv“ im Kopf können Entwicklungen und Entscheidungen in einer scheinbar lo­gischen und zwangsläufigen Abfolge abgespeichert sein, ohne dass die dazugehörigen Prozesse, Zwischenschritte und Handlungsabläufe mitgedacht und berücksichtigt werden. Die so entstehenden, scheinbar nahtlosen Ereignisketten greifen nur selektiv auf die historischen Verläufe zurück. Je stärker einzelne Bilder emo­tional aufgeladen sind, desto größer ist die Wahrschein­lichkeit, dass sie andere überlagern. Während einige Ereignisse deut­lich betont werden, fallen andere manchmal ganz weg. Dadurch entwickelt sich eine Diskrepanz z­ wischen empirisch belegten historischen Fakten und individuellem historischem Bewusstsein, z­ wischen „history“ und „memory“. Das kollektive historische Bewusstsein spiegelt dann nicht mehr die Gesamtheit des historischen Ereignisablaufs wider, sondern konzentriert sich auf einzelne Versatzstücke des Gesamtbilds. So entsteht eine konstruierte Erinnerung, die wiederum zur Bildung von Legenden und Mythen beitragen kann. Fried­liche Revolu­tion und Mauerfall 1989 sind nicht mit der Deutschen Einheit 1990 gleichzusetzen. In dem knappen Jahr z­ wischen Mauerfall und Wiedervereinigung waren die Entwicklungen keineswegs vorgezeichnet. Erst

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eine ganze Reihe von vielfältigen, komplexen und interna­tionalen Ereignissen und Entscheidungen machte die Überwindung der Teilung letztend­lich mög­ lich. Offenheit und Dynamik der Situa­tion werden hingegen allzu oft zugunsten einzelner, besonders prägnanter Mosaiksteine ausgeblendet. Dazu gehört zum Beispiel die Szene auf dem Balkon der Prager Botschaft am 30. September 1989. Die Fernsehbilder, in denen der wohl berühmteste Halbsatz von Außenminister Hans-­Dietrich Genscher über die mög­lich gewordene Ausreise durch den Jubel von etwa 6.000 ostdeutschen Flüchtlingen abgeschnitten wird, sind im individuellen Gedächtnis vieler Deutscher fest verankert. Ob allerdings auch ein Bewusstsein für die Bedeutung der historischen Dimension der Ausreise-­ Verkündung im Zusammenhang mit dem späteren Fall der Berliner Mauer vorhanden ist, kann nur schwer beurteilt werden. Auch die herausgehobene Bedeutung weiterer Beteiligter, allen voran Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, wird bei dieser Szene in aller Regel ausgeklammert. Schon vorher hatten andere Ereignisse die Erosion der SED -Diktatur vorangetrieben, die heute im kollektiven Gedächtnis der Deutschen eine nur untergeordnete Rolle spielen. Dies trifft etwa auf die Proteste nach der gefälschten Kommunalwahl im Mai 1989 zu, ebenso auf die Friedensgebete in der Nikolai­kirche in Leipzig. Noch weniger werden konkrete Personen, wie etwa Katrin Hattenhauer, die schon am 4. September 1989 nach dem Montagsgebet ein Transparent mit der Aufschrift „für ein offnes [sic] Land mit freien Menschen“ in die west­lichen Kameras hielt und sofort inhaftiert wurde, mit den Protesten verbunden. Im Gedächtnis geblieben sind hingegen die Bilder der Demonstra­tion vom 9. Oktober 1989. Auf dem Leipziger Innenstadtring versammelten sich mehr als 70.000 Menschen zur bis dahin größten Montagsdemonstra­tion. Bestärkt wird die Erinnerung an d­ ieses Ereignis dadurch, dass vom 9. Oktober in Leipzig authentische Bilder vorliegen. Zwei Ost-­Berliner Opposi­tionellen gelang es damals, den Aufmarsch von einem Kirchturm aus zu filmen und die Filmbänder über einen „Spiegel“Korrespondenten nach West-­Berlin zu schmuggeln. Am selben Abend wurden die beeindruckenden Aufnahmen in den „Tagesthemen“ gesendet. Dieses einzigartige Filmdokument des Herbstes 1989 brachte die Demonstra­tion in das Bewusstsein der Weltöffent­lichkeit. Hingegen nahezu unbekannt ist die Großdemonstra­tion in Plauen, die schon zwei Tage vorher am 7. Oktober stattfand und rund 20.000 Teilnehmer zählte: Nachdem wenige Tage zuvor die Züge mit den Flüchtlingen der Prager Botschaft die Stadt durchquert hatten, stieg das Protestpotenzial in der Bevölkerung. Schließ­lich rief die „Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft“ zur Demonstra­tion in der Innenstadt auf. Den DDR-Sicherheitskräften gelang es nicht, den Aufmarsch gewaltsam zu unterbinden. Der Demonstra­tionszug durch die Straßen der säch­sischen Stadt macht Plauen zu einem zentralen Ort der fried­lichen Revolu­tion. Anders als in Leipzig waren hier allerdings keine

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Kameras zugegen, sodass „Plauen“ heute im kollektiven Bildgedächtnis zum Herbst 1989 nicht vorhanden ist. Fehlende Bilder führen oftmals zu einer Verengung der Erinnerung. Dies trifft auch auf die interna­tionalen Zusammenhänge der deutschen Vereinigungsgeschichte zu. Die Rahmenbedingungen der Wiedervereinigung werden in unserem Land häufig zu sehr auf die deutsch-­deutsche Perspektive verengt. Fried­liche Revolu­tion und Mauerfall in Deutschland sind jedoch Bestandteile eines interna­ tionalen Erosionsprozesses – sie sind Teil des Zerfalls des Ostblocks. Übersehen wird etwa, dass viele ostdeutsche Bürgerrechtler im Kontakt zu Gleichgesinnten in der Tschechoslowakei, in Ungarn und Polen standen. Aufnahmen von diesen Treffen waren von den Protagonisten nicht erwünscht. Auch aus ­diesem Grund sind diese Ereignisse nicht im kollektiven Gedächtnis verankert. Inhalt­lich beriefen sich die Opposi­tionellen in der DDR oft auf die KSZESchlussakte von 1975. Sie wurde zur wesent­lichen Grundlage für ihre Kritik und ihre Forderungen nach einer Umgestaltung des Systems. „Korb III“ enthielt die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten – ein Zugeständnis, dessen innenpolitische Sprengkraft das SED-Regime offenkundig unterschätzt hatte. Die Bedeutung dieser Schlussakte von Helsinki für den Zerfall der DDR wird häufig nicht angemessen gewürdigt. Im Gedächtnis präsent ist hingegen die Rede von US-Präsident Ronald Reagan, der Michail Gorbatschow 1987 mit dem Appell „tear down this wall“ aufforderte, die Mauer in Berlin einzureißen. Gleiches gilt vielleicht auch für die „Gorbi, Gorbi“-Rufe anläss­lich des Besuchs des sowjetischen Staats- und Parteichefs in Ost-­Berlin im Rahmen des 40. Jubiläums der DDR Anfang Oktober 1989. Ermutigt durch die Reformprozesse in der Sowjetunion und in deren Satellitenstaaten drückten die Demonstranten ihre Hoffnung auf Veränderung auch in der DDR aus. Weitaus weniger bekannt ist der Beginn des Umbruchs bereits im Frühjahr 1989, als an der ungarisch-­österreichischen Grenze begonnen wurde, Minen und Zäune zu beseitigen. Die Szene, in der Gyula Horn und Alois Mock am 27. Juni 1989 den Grenzzaun bei Sopron durchtrennten, schließ­lich die Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich im September 1989 und die anschließende Flucht Tausender Menschen aus der DDR haben kaum Eingang in das kollektive Gedächtnis der Deutschen gefunden. Demgegenüber steht der Tag des Mauerfalls, der 9. November 1989, dessen Bilder sich so stark in das öffent­liche und individuelle Bewusstsein eingebrannt haben, dass dem Tag mittlerweile der Status eines „heim­lichen Na­tionalfeiertags“ zukommt. Die Bilder der Trabis, die durch die geöffneten Grenzanlagen nach West-­Berlin fahren, und der Menschen, die sich freudestrahlend in den Armen liegen, gehören bei vielen Deutschen heute zu einem unauslöschlichen Teil ihrer Erinnerung. Gleichzeitig überstrahlen diese Jubelbilder, dass der Mauerfall selbst in seinem Ereignisablauf und auch die Situa­tion in den Tagen und Wochen danach höchst offen und unklar waren.

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Mit dem Fall der Mauer wurde die Wiedervereinigung zwar grundsätz­lich mög­lich. Der Weg zur deutschen Vereinigung konkretisierte sich aber erst durch eine Reihe na­tionaler und interna­tionaler Verhandlungen und Entscheidungen, die vielfach in Vergessenheit geraten sind. Einen wesent­lichen Schritt auf d ­ iesem Weg bildet der erste öffent­liche Auftritt Helmut Kohls vor größerem Publikum in der DDR am 19. Dezember 1989. In Dresden wurde der deutsche Bundeskanzler vom Jubel mehrerer Tausend Menschen empfangen, die mit Bussen und Sonderzügen angereist waren. Vor der Ruine der Frauenkirche äußerte Kohl zunächst „Anerkennung und Bewunderung“ für die Leistungen der fried­lichen Revolu­tion in der DDR . Schließ­lich fuhr er fort: „Mein Ziel bleibt – wenn die geschicht­liche Stunde es zuläßt – die Einheit unserer Na­tion.“ Diese Einheit könne jedoch nur im Rahmen einer europäischen Einheit erreicht werden, so Kohl weiter.1 Transparente, Spruchbänder und Sprechchöre der begeisterten Zuhörer ließen erkennen, dass aus der zentralen Losung der fried­lichen Revolu­tion „Wir sind das Volk“ mittlerweile die Forderungen „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland, einig Vaterland“ geworden waren. Diese Rede spielt in der Darstellung dieser historischen Phase bestenfalls eine untergeordnete Rolle und ist in der Öffent­lichkeit kaum bekannt. Ähn­liches gilt für die Bedeutung der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990 und den Vertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Bei der ersten Wahl unter demokratischen Bedingungen in der DDR stand nicht mehr die innere Reform des SED -Regimes im Vordergrund, sondern der Vollzug der Wiedervereinigung. Die konservative „Allianz für Deutschland“, ein Wahlbündnis, das unter Führung der CDU für eine schnelle Wiedervereinigung geworben hatte, ging aus dieser Wahl als Sieger hervor. Die Wähler votierten damit für Wiedervereinigung, west­liche Demokratie und Soziale Marktwirtschaft. Die Regierung unter Lothar de Maizière bereitete den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes vor. Dazu gehörte auch die Unterzeichnung des Vertrags über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, der am 1. Juli 1990 in Kraft trat. Mit d­ iesem Vertrag wurde die Deutsche Einheit de facto unumkehrbar. Schon seit Mai 1990 waren die interna­tionalen Fragen in den Zwei-­plus-­Vier-­ Gesprächen ­zwischen den beiden deutschen Staaten und den Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkriegs erörtert worden. Der Vertrag, der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet wurde, fixierte die Zustimmung der alliierten Mächte zur Wiedervereinigung und brachte Deutschland die volle staat­liche Souveränität. Ein Bild dieser Vertragsunterzeichnung ist im kollektiven Gedächtnis nicht abgespeichert. Anders stellt sich die Erinnerung an den 3. Oktober 1990 dar: Hunderttausende Menschen versammelten sich in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober vor dem Berliner Reichstagsgebäude, um die Überwindung der deutschen Teilung zu

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feiern. Das Fest wurde glanzvoll gestaltet – mit Freiheitsglocke, Na­tionalhymne und Feuerwerk. Diese hochemo­tionalen Bilder spielen in unserer Erinnerung eine wichtige Rolle, scheinen aber dennoch schwächer als die Bilder des Mauerfalls am 9. November. Ein Grund hierfür könnte darin liegen, dass es sich beim 3. Oktober um ein inszeniertes Datum handelt. Gleichzeitig ist die schwächere Strahlkraft des 3. Oktober auch ein Beweis für die überragende Bedeutung des Mauerfalls als Fixpunkt kollektiver Erinnerung. Der 9. November 1989 hat mittlerweile den Status einer Bildikone inne, die bei Bedarf abgerufen werden kann, die Erinnerung prägt, aber auch durch ihre emo­tionale Qualität andere Ereignisse überlagert. Nicht zuletzt macht der 3. Oktober deut­lich, dass die Inszenierung eines besonderen Anlasses nicht zwangsläufig zur Verankerung ­dieses Ereignisses im historischen Bewusstsein führt. Emo­tionen, die sich für viele Deutsche mit dem Fall der Berliner Mauer verbinden, können nicht durch choreografierte und ritualisierte Feier­lichkeiten erzwungen werden. Mittlerweile ist eine Genera­tion herangewachsen, die die Teilung Deutschlands nicht oder nicht bewusst erlebt hat und somit keine persön­lichen Erinnerungen an die Begebenheiten hat, die zu ihrer Überwindung führten. Umso wichtiger ist, dass Politik und Gesellschaft die Ereignisse vom Herbst 1989 bis zum 3. Oktober 1990, die Bedeutung der fried­lichen Revolu­tion und die Herausforderungen des Zusammenwachsens im wiedervereinigten Deutschland im öffent­lichen und individuellen Bewusstsein wachhalten. Hier sind nicht zuletzt auch Institu­tionen wie Geschichtsmuseen gefordert, die historischen Abläufe wissenschaft­lich fundiert darzustellen und in den Gesamtzusammenhang der Geschichte einzuordnen. Auf diese Weise können Museen Orte sowohl für „history“ wie auch für „memory“ sein. Museen und Ausstellungen können die historischen Ereignisse, Abläufe und Entscheidungen darstellen, die Besucher informieren, zum Nachdenken und zur Diskussion anregen. So werden sie auch zu Orten, an denen sich historisches Bewusstsein bildet. Durch die Auswahl von ­Themen, Objekten, Fotos, Film- und Tonbeiträgen, auch durch Gestaltung und Inszenierung wirken sie an der Entwicklung des kollektiven Gedächtnisses mit, sie können Erinnerung, also „memory“, fördern, verändern oder auch ausblenden. Dies bedeutet für die politischen und operativen Entscheidungsträger in den musealen Einrichtungen ein hohes Maß an Verantwortung – nicht nur für die Darstellung und Vermittlung von historisch-­politischen Ereignissen, sondern darüber hinaus vor allem für die langfristige Wirkung ihrer Arbeit in der Gesellschaft. Das Jahr 1989 als epochale Zäsur in der europäischen Geschichte und der danach einsetzende Zerfallsprozess der UdSSR werden daher nicht zuletzt auch T ­ hemen in der zukünftigen Dauerausstellung des Hauses der Europäischen Geschichte sein, das derzeit in Brüssel entsteht. Am 13. Februar 2007 initiierte Hans-­Gert Pöttering in seiner Funk­tion als Präsident des Europäischen Parlaments die Einrichtung d­ ieses Ausstellungs-, Dokumenta­tions- und

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Informa­tionszentrums.2 Ziel ist es, Kenntnisse der Europäer aller Genera­tionen über ihre eigene Geschichte zu vertiefen und zu einem besseren Verständnis der Entwicklung Europas in Gegenwart und Zukunft durch die museale Darstellung der europäischen Geschichte beizutragen. Dazu gehört, sowohl die interna­tionalen Rahmenbedingungen der Umbrüche von 1989/90 deut­lich hervorzuheben als auch der gesamteuropäischen Erinnerung an die Ereignisse Rechnung zu tragen. Das Haus der Europäischen Geschichte kann ein Ort werden sowohl für „history“, für die Vermittlung von Kenntnissen über die Ereignisabläufe und historischen Zusammenhänge, als auch für „memory“, für die Herausbildung eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins.

1 In: Bulletin der Bundesregierung Nr. 150 vom 22. Dezember 1989, S. 1261 f. 2 Hans-­Gert Pöttering: Programmrede, Straßburg 13. Februar 2007, S. 12, in: www.europarl. europa.eu/multimedia/eplive/cont/20070213MLT03064/media_20070213MLT03064.pdf.

Ludwig Windthorst Osnabrücker Parlamentarier und christliche Opposition für Rechtsstaatlichkeit und Minderheiten Hermann Kues

Ludwig Windthorst ist eine der ganz großen historischen Persön­lichkeiten der Region Osnabrück/Emsland, der Region, in der auch Hans-­Gert Pöttering groß geworden ist und politisch sowie persön­lich verankert war und ist. An Windthorst kann man auch heute noch Maß nehmen. Windthorst steht für politisches und gesellschaft­liches Engagement der Christen und insbesondere der Katholiken. Dieses war im 19. Jahrhundert alles andere als selbstverständ­lich. Eine kleine Anekdote kann ­dieses veranschau­lichen. Im Januar 1857 wurde Ludwig Windthorst gegen den ausdrück­lichen Willen des hannoverschen Königs in die Deputiertenkammer gewählt. Als der König – es handelte sich um Georg V. – deshalb die Gemeindevertretung im emsländischen Papenburg zur Rechenschaft zog, antwortete ihm der Bürgermeister Joseph Dieckhaus: „Majestät, wir haben Windthorst gewählt, bevor er Minister war, und wir haben ihn wiedergewählt, nachdem er Minister gewesen. Wir halten uns an die Person und wechseln nicht mit derselben. Übrigens kümmern wir uns wenig um Politik, wir beten und arbeiten.“ Diese Begebenheit beschreibt nicht nur den eingeschränkten Spielraum für politisches Engagement in der damaligen Zeit, es ist auch ein anschau­liches Beispiel für Zivilcourage und mutiges Bürger-­Engagement auf der anderen Seite. Windthorst hat in Deutschland entscheidend dazu beigetragen, dass das Parla­ ment, die demokratisch gewählte Volksvertretung, sich als wichtiges Verfassungsorgan etablieren konnte. Windthorst wurde am 17. Januar 1812 in Ostercappeln bei Osnabrück geboren. Diese Zeiten der napoleonischen Wirren markieren den Übergang vom Alten Reich zum Deutschen Bund, den Kampf um die Auflösung und Ablösung feudaler Ordnungen durch verfassungsmäßige, an Freiheit und Rechtsstaat­lichkeit orientierten Staatsformen. Windthorst besuchte das Gymnasium Carolinum in Osnabrück, hat hier auch als Rechtsanwalt gearbeitet und sich früh einen ausgezeichneten Ruf erworben. So wurde er als Katholik Oberkronanwalt in Celle und zweimal – von 1851 bis 1853 und von 1862 bis 1865 – Justizminister im Königreich Hannover. Nachdem das Welfenreich von Preußen 1866 annektiert worden war, saß er als direkt gewählter Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus, im Reichstag des norddeutschen Bundes und von 1871 bis zu seinem Tod für den Wahlkreis Meppen-­Aschendorf-­Hümmling-­Bentheim-­Lingen im Deutschen Reichstag. Die Annexion Hannovers prägte sein tiefes Misstrauen

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gegenüber Preußen und seinem Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, der Windthorst schon bald als hartnäckigen Gegner ausmachte. Von Bismarck ist der Ausspruch überliefert: „Mein Leben erhalten und verschönern zwei Dinge: Meine Frau und Windthorst. Die eine ist für die Liebe da, der andere für den Hass.“ Für Windthorst bildete die Respektierung der Gewissensfreiheit den Angelpunkt seiner politischen Überzeugungen. Daraus resultierte sein Einsatz zugunsten staatsbürger­licher Gleichberechtigung für alle Bürger, für Angehörige aller Minderheiten und Bekenntnisse, ergänzt durch das Bestreben nach politischer Zusammenarbeit beider Konfessionen. „Wir müssen fest entschlossen bleiben, die Andersdenkenden wie unsere Brüder zu achten und zu lieben!“, sagte er beim Katholikentag 1883. So trat er für die gefährdeten Rechte anderer Minderheiten und „Staatsbürger zweiter Klasse“ ein, für Welfen, Polen und Elsässer. Gegen den in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts aufkommenden, zunehmend rassistisch aufgeladenen Antisemitismus wandte er sich in einer berühmt gewordenen Rede. Er betonte: „Die politische und religiöse Duldung ist die einzige Grundlage, auf welcher in Deutschland (…) der Staat und die bürger­liche Gesellschaft gedeihen kann. Diese Duldung sind wir allen Mitbürgern schuldig, auch den jüdischen Mitbürgern, und diesen besonders deshalb, weil sie in der Minderheit sind.“ Windthorst stimmte auch gegen das Sozialistengesetz von 1878 und dessen mehrfache Verlängerungen. Häufig brachten erst Zen­ trumsabgeordnete Anträge sozialdemokratischer Kollegen – denen andernfalls die erforder­liche Zahl von Unterschriften gefehlt hätte – auf die Tagesordnung des Reichstages. So entwickelte sich das Zentrum unter seiner Leistung zu einem „Verfechter der Menschenrechte wie der Parlamentsrechte“. Im Kulturkampf schließ­lich wurde Windthorst von Bismarck umgangen, der diesen durch eine Vereinbarung mit Papst Leo XIII. beendete. Der Vatikan war an einer Restitu­tion des Kirchenstaates interessiert und brauchte Hilfe aus Berlin. Windthorst vermochte sich in Rom kein Gehör zu verschaffen und wurde dort zeitweise geradezu als „Störenfried“ angesehen. Seine Genialität lässt sich an einem einzigen Auftritt aus dem Jahr 1887 illustrieren. Nach 20 Jahren Kulturkampf hatte sich die politische Großwetterlage im kaiser­lichen Deutschland geändert. Reichskanzler Otto von Bismarck brauchte die katho­lische ­Kirche, die er vorher bekämpft hatte, als Partner gegen die Sozialdemokratie. Papst Leo XIII. wollte Politik auf der europäischen Bühne machen, ­zwischen Frankreich und dem deutschen Kaiserreich vermitteln und mit der Hilfe aus Berlin den Kirchenstaat wieder aufbauen. Dafür war er bereit, sich mit einer moderaten Zurücknahme der antikirch­lichen Maigesetze von 1871 zufriedengeben. Windthorsts Partei, das katho­lische Zentrum, stand unter massivem Druck von beiden Seiten, um einem – in Windthorsts Augen faulen – Kompromissfrieden zuzustimmen. Der Konflikt eskalierte, als der Papst in aller Form verlangte,

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das Zentrum solle eine Militärvorlage absegnen, die Bismarck auf sieben Jahre freie Hand für die Aufrüstung des Heeres geben würde. Windthorst lehnte d­ ieses entschieden ab, weil sie das wichtigste Recht des Reichstages, das Budgetrecht, aushebelte. In der berühmten Rede im Kölner Gürzenich vom 16. Februar 1887, die seine Biografin Margaret L. Anderson zu Recht sein politisches und rhetorisches Meisterstück nennt, machte Windthorst aus einer Nebenbemerkung der päpst­ lichen Direktive einen Grundsatz, mit dem er das Verhältnis z­ wischen kirch­ licher Autorität und christ­lich-­orientierter Politik ein für alle Mal vom Kopf auf die Füße stellte. Der Papst – so behauptete Windthorst – gestehe dem Zentrum völlige Freiheit in allen Fragen welt­licher Natur zu. Wenn er die Zustimmung zu einer Militärvorlage gewünscht habe, so aus diplomatischen Erwägungen heraus, die man anerkenne, aber eben nicht teile. Hier sei das Gewissen des Politikers die oberste Autorität. Man hätte dem Votum aus Rom gern entsprochen, „wenn es mög­lich gewesen wäre“. Aber: „Unmög­liches kann niemand leisten.“ Windthorst als Sprachrohr und Integra­tionsfigur der katho­lischen Minderheit – das ist die eine Seite – und sie wird ihm doch nicht gerecht. Seine große politische Leistung besteht darin, dass er die bismarckschen Ausnahmegesetze nicht nur aus katho­lischer Perspektive bekämpfte, sondern vom Standpunkt allgemeiner Bürgerrechte her. Er wollte eben, so sagte er, das Recht für alle. Darin bekämpfte er den Antisemitismus, der sich nach dem Börsenkrach von 1873 artikulierte. Hier stand er mit seinem Votum für Toleranz weitgehend isoliert dar. Man sei sie „allen Mitbürgern schuldig, auch den jüdischen Mitbürgern, und diesen besonders, weil sie in der Minorität sind“, erklärte er im Reichstag am 20. November 1880. Aus dem gleichen Grund lehnte er die Sozialistengesetze ab, obwohl ihn politisch nichts mit der aufkommenden Sozialdemokratie verband. Der Staat könne das Recht nicht schaffen und „nach Willkür und Zweckmäßigkeitsgründen modeln“, sondern müsste Rechte ­schützen, die älter ­seien als er selbst. Windthorst sorgte dafür, dass der 1890 gegründete Volksverein für das katho­lische Deutschland kein reak­tionärer antiprotestantischer Kampfbund wurde, sondern eine Bildungsbewegung für die „einfachen“ Leute, eine Plattform zur geistigen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus. Aus dem Volksverein gingen dann die katho­lisch-­soziale Bewegung, die Arbeitervereine und die christ­lichen Gewerkschaften hervor. Windthorst steht für die Emanzipa­tion der Politik von der kirch­lichen Autorität. Mit seiner Toleranzrede im Reichstag am 20. November 1880 war er seiner Zeit voraus. Man wünscht sich, 50 Jahre s­ päter hätte er sich in Deutschland noch Gehör verschaffen können. Wie viel Leid hätte da vermieden werden können. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist in mancherlei Hinsicht an Windthorst angeknüpft worden. Die CDU ist von vornherein als konfessionsübergreifende Partei konzipiert worden – eine Idee, die schon Windthorst und übrigens auch der Sozialreformer Bischof Emmanuel von Ketteler in den 1870er Jahren hatte, die sich aber damals noch

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nicht durchsetzen konnten. Windthorst hat sich für die Integra­tion der Elsass-­ Lothringer ins Deutsche Reich ebenso eingesetzt wie für die polnische Minderheit, die nach dem Wiener Kongress zum Königreich Preußen gehörte. In Polen ebenso wie in Frankreich ist sein Name keineswegs vergessen. Es wäre zu viel gesagt, wollte man ihn als einen „Europäer“ bezeichnen. Dazu war er noch zu sehr im deutschen Kaiserreich verwurzelt. Aber ganz sicher hat er mit seinen Grundüberzeugungen von allgemeinen Bürgerrechten und einer umfassenden Toleranz den Weg zu einem Europa als Wertegemeinschaft geebnet, der dann von Robert Schuman, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer weiter gegangen worden ist. Erst dies war die Grundlage für ein wirksames Agieren einer christ­lich orien­ tierten Volkspartei in einer pluralistischen Gesellschaft.

Von Niedersachsen nach Europa David McAllister

I. Hans-­Gert Pöttering vollendet am 15. September 2015 sein 70. Lebensjahr. Dazu gratuliere ich ihm im Namen seines Landesverbandes, der CDU in Niedersachsen, und ganz persön­lich sehr herz­lich! Hans-­Gert Pöttering kann mit Fug und Recht als ganz großer Europäer bezeichnet werden. Als dienstältester Abgeordneter war er bis 2014 der einzige, der seit den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 1979 durchgehend dessen Mitglied war. Kaum ein anderer kann in so eindrucksvoller Weise aus eigener Erfahrung davon berichten, wie sich das Europäische Parlament von einer Versammlung mit zunächst eher überschaubarem politischen Einfluss in den Anfangsjahren zu einem gleichberechtigen Mitspieler und Mitentscheider in Straßburg und Brüssel entwickelt hat. Hans-­Gert Pöttering war über 35 Jahre hinweg nicht nur Abgeordneter für Niedersachsen in Europa. Er war ebenso ein Botschafter Europas in Niedersachsen. Die Begeisterung, die er mit der europäischen Einigung verbindet, hat auch mich persön­lich angesteckt. Sein eindrucksvoller Werdegang und sein Wirken in Brüssel führen uns vor Augen, wie glück­lich wir in Deutschland sein dürfen, nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs heute gleichberechtigter Partner in einer freien Gemeinschaft der europäischen Völker zu sein. Sein politisches Engagement begann Hans-­Gert Pöttering in der Jungen Union Niedersachsen. So war er deren europapolitischer Sprecher von 1974 bis 1980. Von 1990 bis 2010 war er Vorsitzender des CDU Kreisverbandes Osnabrück-­ Land. Von 1999 bis 2009 gehört er dem Präsidium der CDU Deutschlands an. Unserem Land ­zwischen Ems und Elbe und der CDU in Niedersachsen blieb er über all die Jahre hinweg auf das engste verbunden, auch in den Jahren, in denen er als Vorsitzender der EVP-ED Frak­tion und ­später als Präsident des Europäischen Parlamentes einen prall gefüllten Terminkalender hatte. Durch seinen unermüd­lichen Einsatz hat der Jubilar erheb­lichen Anteil daran, dass die CDU heute die „Europapartei“ in Niedersachsen ist und selbstbewusst die Interessen unseres Landes in Brüssel vertreten kann. Seinen Ausdruck fand das nicht zuletzt in den Wahlergebnissen, die die CDU in Niedersachsen seit 1979 bei den Wahlen zum Europäischen Parlament erzielen konnte. Mit einer einzigen Ausnahme wurden wir Christ­lichen Demokraten jedes Mal – meist mit großem Abstand – als stärkste europapolitische Kraft in

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Niedersachsen bestätigt. Diese hohen Zustimmungswerte waren und sind das Ergebnis eines klaren proeuropäischen Profils der CDU, welches maßgeb­lich Hans-­Gert Pöttering geprägt hat.

II. Die Europäische Union hat weite Teile unseres Kontinents zu einem gemeinsamen Raum des Friedens gemacht. Wir wissen, dass es für uns nur eine Strategie geben kann: die des Friedens und der Verständigung, ganz besonders in Zeiten, da in direkter Nachbarschaft zur Europäischen Union der Frieden massiv bedroht ist. Die Geschichte Europas ist geprägt von den Auseinandersetzungen seiner Völker über Territorien, Ländergrenzen, Konfessionen, Ideologien und Vormachtstellungen auf unserem Kontinent. Zahllose Kriege und Konflikte haben über die Jahrhunderte hinweg immer wieder eine Spur der Verwüstung und des Todes mit sich gebracht. Seinen traurigen Höhepunkt erreichte diese Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, als die Idee von vermeint­ lichen na­tionalen Interessen der einzelnen europäischen Mächte zur Katas­trophe des ­Ersten Weltkriegs und der na­tionalsozialistische Wahn Deutschlands die halbe Welt ins Unglück stürzte. Es waren diese Erfahrungen und der unbedingte Wille, nie mehr die eigenen Söhne auf europäischen Schlachtfeldern zu verlieren, die weise Politiker in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts dazu bewegten, fortan einen gemeinsamen Weg zu gehen im Geiste der Freiheit, Brüder­lichkeit und christ­ lichen Nächstenliebe. Allem voran stand und steht dabei die Aussöhnung und Freundschaft ­zwischen Frankreich und Deutschland. Angefangen von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle über Helmut Kohl und François Mitterrand bis hin zur heutigen vertrauensvollen und engen Zusammenarbeit, ist die deutsch-­ franzö­sische Freundschaft für uns der Dreh-­und Angelpunkt eines fried­lichen und freiheit­lichen Europas. Als das Europäische Parlament 1979 – und mit ihm Hans-­Gert Pöttering – das erste Mal direkt gewählt wurde, lag der Zweite Weltkrieg gerade einmal 34 Jahre zurück. Die Bundesrepublik Deutschland war als Partner in die west­ liche Wertegemeinschaft aufgenommen. Trotzdem gab es verständ­licherweise immer wieder auch Vorbehalte gegenüber uns Deutschen. Wir mussten weiterhin beweisen, dass wir aus unserer dunklen Geschichte gelernt hatten und dass wir bereit waren, als treibende Kraft für die Verständigung der europäischen Völker einzutreten. Vor ­diesem Hintergrund zog Hans-­Gert Pöttering damals als jüngster Abgeordneter der CDU in das Europäische Parlament ein. Er war schon zu d­ iesem Zeitpunkt ein glaubwürdiger Botschafter für ein neues und freiheit­liches europäisches

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Deutschland. Geboren im September 1945, hatte er den Krieg nicht persön­lich miterlebt. Gleichwohl hatte auch bei ihm der Krieg eine deut­liche Prägung hinterlassen. Seinen Vater, der in den letzten Tagen des Krieges als Soldat gefallen war, lernte er nie kennen. Im Bewusstsein dessen, w ­ elche zerstörerische Kraft die Kriege z­ wischen den europäischen Völkern entfaltet hatten, und von dem Gedanken ergriffen, eine gemeinschaft­liche europäische Ordnung mitzugestalten, die als Garant für einen dauerhaften Frieden dient, stellte sich Hans-­Gert Pöttering in den Dienst der europäischen Einigung. Die Erzählung von der Europäischen Union als friedensstiftende Institu­tion droht in den Hintergrund zu geraten. Meinungsforscher und Politiker haben den Eindruck, dass man vor allem die junge Genera­tion heute alleine mit dem Versprechen des Friedens nicht mehr von der europäischen Idee begeistern könne. Die aktuell angespannte politische Lage am Rande Europas, vom Konflikt in der Ukraine bis hin zum Flächenbrand in der arabischen Welt zeigt allerdings ein anderes Bild. Frieden ist nicht selbstverständ­lich. Vielen Menschen wird nach und nach klar, was Hans-­Gert Pöttering über die Jahre hinweg stets betont hat: Die europäische Einigung ist und bleibt die einzige Chance für die Menschen in Europa, dauerhaft in einer fried­lichen, stabilen und von christ­lichen Werten getragenen Gesellschaft zu leben. Diese Botschaft ist heute aktueller denn je. Und um sie weiter mög­lichst deut­lich zu verkünden, bedarf es solch ausgezeichneter Botschafter.

III. Neben der großen Erzählung der friedensstiftenden Einigung Europas erleben wir die Vorteile der Europäischen Union auch ganz praktisch im Alltag. Wir Niedersachsen genießen die Früchte des wirtschaft­lichen Wohlstands, zu dem maßgeb­lich der gemeinsame Europäische Binnenmarkt beiträgt. Die europäische Gemeinschaftswährung und der europäische Binnenmarkt sind Garanten für Millionen gut bezahlter Arbeitsplätze. Sie machen unser Land ­zwischen Ems und Elbe interna­tional wettbewerbsfähig. Fast 60 Prozent der Exporte deutscher Unternehmen gehen in die 27 weiteren EU Staaten. Niedersachsen liegt im Herzen des Kontinents. Wir brauchen und wir wollen Europa. Unser Land profitiert von der europäischen Einigung. Neben unserer Landwirtschaft unterstützt die Europäische Union mit ihren Fördermitteln die Kommunen, kleine und mittelständische Unternehmen sowie Arbeitsmarktund Sozialprojekte. Alle Landesteile profitieren von den Europäischen Strukturfonds. So erhielt Niedersachsen in der letzten Förderperiode 2007 bis 2013 rund 2,6 Milliarden Euro aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE), dem

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Europäische Sozialfonds (ESF) und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des länd­lichen Raums (ELER). In der aktuellen Förder­ periode (2014 – 2020) soll Niedersachsen rund 2 Milliarden Euro aus den Strukturfonds erhalten. In den vergangenen fünf Jahren konnten durch EU-Strukturförderung alleine in Niedersachsen 2.700 kleine und mittelständische Unternehmen ihre Projekte umsetzen. 20.000 Arbeitsplätze wurden geschaffen. Die Europäische Union hat einen dauerhaften positiven Einfluss auf das Leben der Menschen ­zwischen Ems und Elbe und hilft, unseren Wohlstand zu wahren und auszubauen.

IV. Jede Genera­tion begegnet neuen Herausforderungen. Nachdem die Genera­tion von Hans-­Gert Pöttering dafür gestritten hat, die Idee der europäischen Einigung in den Köpfen der Menschen zu verankern und ganz speziell uns Deutsche als vertrauensvolle Partner in Europa einzubringen, ist es nun Aufgabe der nächsten Genera­tion, ­dieses Werk fortzuführen und die europäische Integra­tion weiter zu vollenden. Die politische Debatte über die Zukunft des europäischen Projekts sollte jetzt geführt werden. Sie sollte in ganz Europa und mit Leidenschaft geführt werden. So können wir dem europäischen Projekt Herz und Seele geben. Europa hat in den letzten Jahren die schlimmste Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Die Institu­tionen der Europäischen Union und die na­tionalen Regierungen mussten beispiellose Maßnahmen ergreifen, um die Volkswirtschaften der Mitgliedsstaaten zu stabilisieren, die Staatshaushalte zu konsolidieren und zu verhindern, dass die Errungenschaften von Jahrzehnten europäischer Integra­tion zunichte gemacht werden. Das Schlimmste konnte abgewendet werden. Der Binnenmarkt und die Integrität des Euro-­Währungsraumes wurden erhalten. Stetig gewinnt Europa wirtschaft­ lich wieder an Fahrt und an Vertrauen. Die Krise hat jedoch ihre Spuren hinterlassen: Mehr als 6 Millionen Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren und die Jugendarbeitslosigkeit hat traurige Höchststände erreicht. Einige Mitgliedsstaaten haben noch einen langen Weg vor sich, bevor sie ein nachhaltiges Wachstum und ein angemessenes Investi­tionsniveau erreicht haben werden. In vielen Ländern ist das Vertrauen in das Europäische Projekt so gering wie nie zuvor. Jean-­Claude Juncker hat die Maßnahmen zur Bewältigung der Krise mit der Reparatur eines brennenden Flugzeugs während des Flugs verg­lichen. Gleichwohl waren sie insgesamt erfolgreich. Nachdem über mehrere Jahre das Krisenmanagement im Vordergrund gestanden hat, sieht sich die Europäische Union heute in vielen Fragen nur unzureichend für globale Herausforderungen vorbereitet; beispielsweise:

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–– auf das digitale Zeitalter, –– auf den Wettlauf um Innova­tion und Know-­how, –– auf den Mangel an natür­lichen Ressourcen, –– auf die Sicherheit unserer Lebensmittel, –– auf die Auswirkungen des Klimawandels, –– auf die Alterung der Gesellschaft oder auch –– auf das Leiden und die Armut an den Außengrenzen der Europäischen Union. Es ist daher Zeit, neue Wege zu beschreiten. Denn zu viele Menschen entfremden sich immer mehr von den europäischen Institu­tionen. Sie fühlen sich zu oft übergangen. Sie verlieren den Glauben daran, dass europäische Politik Probleme tatsäch­lich lösen kann. Wir sollten deshalb alles in unserer Macht stehende tun, um das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen. Es gilt den Menschen zuzuhören, ihre Sorgen ernst zu nehmen und dafür zu kämpfen, ihr Leben besser zu machen! So wie es Hans-­Gert Pöttering vorgemacht hat. Es gilt also, die Europäische Union mit einer erfolgreichen Reformagenda für die Zukunft Europas auszustatten, damit sie die anstehenden Herausforderungen bewältigen kann. Entscheidend ist: Die Wettbewerbsfähigkeit Europas muss mit Blick auf die Schaffung von Wachstum und Beschäftigung verbessert sowie das Vertrauen der Bürger zurück gewonnen werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat auf drei entscheidende Punkte hingewiesen: Die wachstumsfreund­liche Konsolidierung muss fortgesetzt werden. Denn nachhaltiges Wachstum und solide Haushalte bedingen einander. Es ist entscheidend, den gestärkten Stabilitäts- und Wachstumspakt glaubwürdig anzuwenden. Nur dann kann der Pakt seine Funk­tion erfüllen und das Vertrauen in einen dauerhaft stabilen Euro-­Raum wiederherstellen. Strukturelle Reformen sind eine Daueraufgabe, wenn Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung nachhaltig gestärkt werden sollen. Dabei muss unser Maßstab nicht Europa sein, sondern die Welt. Denn nur dann wird es gelingen, unser europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell im globalen Wettbewerb dauerhaft zum Erfolg zu führen. Investi­tionen können Wachstum und Beschäftigung unterstützen. Dabei bleibt entscheidend, dass die Rahmenbedingungen für private Investi­tionen stimmen. Auch dafür sind solide Finanz- und Strukturreformen notwendig. Der Europä­ ische Fonds für Strate­gische Investi­tionen kann einen wichtigen Beitrag leisten, private Investi­tionen zu mobilisieren. Ein wichtiges europäisches Vorhaben ist die Schaffung einer Energieunion. Sie ist ein historisches Projekt, vergleichbar nur mit der Gemeinschaft für Stahl und Kohle sowie dem Binnenmarkt. Sie verdient unser volles Engagement und soll zukünftig den Rahmen für unsere europäische Energiepolitik bieten. Im

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David McAllister

Zentrum des Projekts steht eine sichere, bezahlbare, umweltverträg­liche und wettbewerbsfähige Energieversorgung. Der Schwerpunkt sollte dabei primär auf der Stärkung des Energiebinnenmarktes und der Umsetzung der Klima- und Energieziele für 2030 liegen. Durch die Ukraine ist die Sicherheit der Energieversorgung wieder stärker ins Bewusstsein gerückt. Auch dies wird ein zentraler Aspekt der Energieunion sein. Wir werden in den kommenden Jahren unsere Anstrengungen verstärken müssen, die Energieversorgung in allen Mitgliedsstaaten langfristig zu sichern. Schlüsselelemente sind dabei der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien, mehr Energieeffizienz, die Diversifizierung der Energiequellen und ein funk­tionierender Energiebinnenmarkt.

V. Die Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht, sind also enorm. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ­zwischen den Partnern ist für den gemeinsamen Erfolg unerläss­lich. Wir Deutschen wollen mög­lichst gemeinsam mit allen Partnern in der Europäischen Union voranschreiten und dafür immer wieder Wege finden, die die unterschied­lichen Posi­tionen zusammenführen – so wie es Hans-­Gert Pöttering getan hat. Die europäische Integra­tion ist ein beispielloser Prozess. Sie ist sozusagen ein „permanenter Lernprozess“. Die EU sollte sich in den nächsten Jahren darauf konzentrieren, die in Bewegung geratene Balance zunehmender na­tionalstaat­licher Interessenpolitik und europäischer Gemeinsamkeit neu zu stabilisieren. Unser Ziel sollte sein, die Europäische Union demokratischer, offener und bürgernäher zu gestalten. Ein europäisches Gemeinschaftsbewusstsein und Wir-­Gefühl sind Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft. Neue Zuständigkeiten für Europa erfordern zugleich mehr demokratische Mitsprache. Eine Debatte über „mehr Europa“ erfordert auch eine Debatte über „mehr Demokratie in Europa“. Deshalb ist die Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft eine essentielle Voraussetzung für eine lebendige euro­päische Demokratie. Am Ende des Weges, den wir jetzt einschlagen, soll eines Tages eine Politische Union stehen, für die sich Hans-­Gert Pöttering stets eingesetzt hat. Sie würde unsere Wirtschafts- und Währungsunion vollenden und zugleich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im wahrsten Sinne des Wortes verwirk­lichen. Diese Politische Union der Zukunft sollte auf dem Fundament einer europäischen Gewaltenteilung stehen:

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–– mit einem Parlament mit eigenen Gesetzesinitiativen und mit vollem Haushaltsrecht, –– mit einem Rat, der als zweite Kammer die Anliegen der EU-Mitgliedsstaaten vertritt und öffent­lich über die Gesetzgebung entscheidet, –– mit starken na­tionalen Parlamenten, die sich aktiv am europäischen Gesetzgebungsprozess beteiligen, –– mit einer Kommission als Motor der Integra­tion und Hüterin der Verträge, die ein stringentes und effizientes Kollegium darstellt mit klaren Zuständigkeiten der Kommissare und –– mit einem Europäischen Gerichtshof, der weiterhin die oberste europäische Judikative ist. Mir ist bewusst: Es wird wohl viele weitere Jahre brauchen, ­dieses Europa zu bauen. Zu gegebener Zeit werden wir auf d­ iesem Weg auch die Debatte über eine europäische Verfassung neu zu führen haben. Aber schon heute ist das Nachdenken über unsere europäische Zukunft jenseits der Krise weder Luxus noch Träumerei. Im Gegenteil kann sie ihren Teil dazu beitragen, Orientierung und Vertrauen in Europa neu entstehen zu lassen. Um die nicht immer einfachen, aber durchweg notwendigen Entscheidungen der europäischen Ebene den Menschen näher zu bringen, bedarf es neben engagierten Persön­lichkeiten im Europäischen Parlament, in der Kommission und im Rat glühende Verfechter der europäischen Idee vor Ort. Dazu brauchen wir Menschen wie Hans-­Gert Pöttering. Menschen wie er, die Europäerinnen und Europäer von der Notwendigkeit überzeugen, weiter vereint zu bleiben, um uns auf der interna­tionalen Bühne zu behaupten. Menschen wie er, die Europäerinnen und Europäer in ihrem Willen bestärken, die Dinge gemeinsam zu tun. Denn so werden wir einen Mehrwert für den allgemeinen Fortschritt und Wohlstand erreichen. Menschen wie er, die danach streben, unsere gemeinsamen Werte und Prinzipien zu teilen. So wünsche ich mir, dass Hans-­Gert Pöttering auch in Zukunft seinen wertvollen Erfahrungsschatz mit uns teilt und für die CDU in Niedersachsen und für mich ganz persön­lich der gute Ratgeber bleibt, als den wir ihn kennenlernen und schätzen dürfen.

Heimat Hildigund Neubert

„Die Liebe zur Heimat kann Menschen miteinander versöhnen, denn Heimat ist ein Besitz, den wir mit anderen teilen können.“ (Ernst Elitz) Im Gespräch mit anderen „ehemaligen DDR-Bürgern“ wurde mir klar, dass meine Jugend-­Heimat in offenbar DDR-untypischen Räumen gewesen ist: ein protestantisches Dorf in der Magdeburger Börde, die christ­liche Familie, die Evange­lische ­Kirche. Die Schule, die Musikschule, die Hochschule, die Stadt – das war draußen, da war man den anderen, dem Anderen gegenüber, mit denen man sich auseinandersetzen musste, wo man die Worte wägte, nicht frei sprechen konnte, wo es Gefahren gab. Meine Heimat war also ein Milieu, das die Staatsmacht als „legale Posi­tion des Feindes in der DDR“ betrachtete. Wenn man Heimat als den Ort versteht, an dem Seelenverwandte miteinander leben, an dem man versteht und verstanden wird, an dem man durch Tradi­ tionen und Geschichte(n) mit den Vor- und Nachgenera­tionen verbunden ist, dann war das ein verknapptes Gut auf dem Territorium der öst­lichen Länder. Denn die SED verstand sich selbst als Avantgarde des gesamten „Volkes“, als diejenige, die allein aus den ewigen Gesetzen der Geschichte die richtigen Schlussfolgerungen für alle ziehen konnte. Sie musste also die Einheit von Partei und Volk behaupten und herbeizwingen, da sie sonst ohne jeg­liche Legitima­tion dagestanden hätte. Dem standen alle anderen Bindungen und geistigen Orientierungen entgegen. Und so ist ein Strang der DDR-Geschichte die Zerstörung von Milieus und Identitäten, die Geschichte einer geistigen Vertreibung. Etwa 3 Millionen Menschen sind bis August 1961 aus der SBZ und der DDR weggegangen. Anfangs waren darunter viele Flüchtlinge und Vertriebene aus den verlorenen deutschen Ostgebieten, die sich – schon entwurzelt – nicht in einer neuen Diktatur beheimaten wollten. Aber auch viele alteingesessene Thüringer, Mecklenburger und Sachsen gingen in den Westen, verließen ihre Heimat. Die Wellen der Kommunisierung in Mitteldeutschland mit ihren Unrechtsakten und Verbrechen lösten immer neue Fluchtwellen aus: Die Enteignungen von Großgrundbesitzern, Großbauern und Industriellen, die Gleichschaltung in den sozialistischen Schul- und Hochschulreformen, die Säuberung der Verwaltung, der Kultur, der öffent­lichen Einrichtungen und der Politik von nichtkommunistischen Persön­lichkeiten, der Kirchenkampf gegen diakonische Einrichtungen und die jungen Gemeinden, die Kollektivierung der Landwirtschaft usw. usf. Die Fluchtbewegungen waren ein Barometer der kriminellen Energie in der Sowjetisierung Ostdeutschlands. Die Bedrängnis der vielen Flüchtlinge war so groß, dass sie die vertrauten Menschen und die gewohnte Umgebung verließen.

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Man kann sich kaum vorstellen, was es für eine in Jahrhunderten verwurzelte Bauernfamilie bedeutet, Haus und Hof zu verlassen und mit einem Koffer in der Hand irgendwo in einer Stadt als Ungelernte neu anzufangen. Von Deutschland nach Deutschland, weil die Heimat ihnen zum Gefängnis wurde, sie ausspie. Der Heimatverlust war ein Massenschicksal in den Zeiten der Gewaltherrschaften. Aber die phy­sische Flucht aus dem Arbeiter- und Bauern-­Paradies war nur eine Form des Heimatverlustes. Hannah Arendt hat das Zustandekommen von Macht als einen interpersonalen Raum beschrieben. Menschen haben Macht, wenn sie einander vertrauen, sich einander versprechen und daraus zusammen handeln. Ohnmächtig werden Menschen also in der Vereinzelung, wenn es keine Sprache des Vertrauens mehr gibt, wenn sie – zum Beispiel aus Misstrauen – nicht gemeinsam handeln können. In ­diesem Sinne diente es dem Machterhalt der SED, die Gesellschaft zu atomisieren, den Zusammenhalt in den Dörfern und Milieus zu stören, die Sprache zu dominieren und die Geschichte neu zu schreiben. Die Zerschlagung der Länder 1952 zielte vordergründig auf die bürokra­ tische Zentralisierung, aber auch die selbstbewussten, landsmannschaft­lichen Identitäten sollten aufgelöst werden. Gegen den Zusammenhalt der Dörfer ging es bei den Zwangsaussiedlungen ab 1952 aus dem innerdeutschen Grenzgebiet. Scheinbar willkür­lich wurden Personen als unsichere Elemente auf die Listen gesetzt. Die Familien haben zuweilen bis heute keinen plausiblen Grund erfahren können. Überdurchschnitt­ lich oft wurden Familien deportiert, die in den Dörfern kommunikative Knoten bildeten: Gastwirte, Bürgermeister oder deren Vorgänger, Gemeinderatsmitglieder, mittelständische Arbeitgeber, Wortführer gegen die Kollektivierung. Ein Nebeneffekt der Kollektivierung war die Proletarisierung der Bauern. Aus selbstbewussten, gesamtheit­lich denkenden und wirtschaftenden B ­ auern sollten Landarbeiter werden. Seitdem sind die Bauernkinder nur noch als Maschinisten, Rinderzüchter, Schweinezüchter, Pflanzenzüchter oder Melker ausgebildet worden. Nur wenige ausgewählte Kader studierten Landwirtschaft. Jahrhundertealtes Wissen um die natür­lichen Zusammenhänge in den Regionen ging zusammen mit der christ­lich-­bäuer­lichen Kultur verloren – teils mit schlimmen ökolo­gischen und ökonomischen Folgen. Zu der geistigen Substanz, die der Kommunisierung im Wege stand, gehörte das Christentum. Da ging es um den Kern der SED-Ideologie, um die Wahrheits- und Führungsfrage. Die ostdeutschen Länder waren von der Reforma­tion geprägt, der Protestantismus war noch 1945 die geistige Heimat des größten Teils der Bevölkerung. Am Anfang erfolgte der Kampf gegen die Christen mit offener Brutalität: die Junge Gemeinde wurde als „Tarnorganisa­tion der CIA“ in der Presse diffamiert, die diakonischen Einrichtungen verleumdet, junge Christen vor öffent­liche Tribunale gezerrt und von weiterführender Bildung ausgeschlossen. Dagegen regte sich Widerstand, zu offensicht­lich war die

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Differenz ­zwischen Propaganda und Lebenserfahrung. So drängten die Sowjets im Frühling 1953 auf Beendigung d ­ ieses offen konfrontativen Kurses. Umso mehr griffen die anderen Strategien der Kommunisten: die Verbannung des Christ­lichen aus der Öffent­lichkeit und die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse durch atheistische Rituale. Der Religionsunterricht wurde aus den Schulen verbannt, die Schulbücher gesäubert. Nach zehn Jahren Schule bestand das Bild von den ­Kirchen aus Wissens-­Fetzen über Hexenverbrennungen, Kreuzzüge und Waffensegnungen. Christ­liche Mitschüler wurden immer wieder als „noch religiös gebunden“, als eben etwas beschränkt und nicht ganz auf der Höhe der Zeit diffamiert. Immer wieder sind christ­liche Kinder geplagt und gedemütigt worden, weil sie den Gottes­fluch in Heines „Schle­sischen Webern“ nicht sprechen wollten. Paul ­Gerhardts „Der Mond ist aufgegangen“ endete mit der dritten Strophe. Für Weihnachten gab es Winterlieder, billig materialistische Geschenkelieder, zum Teil entchristianisierte Fassungen aus der Nazizeit.1 Die christ­lichen Feste wurden beschränkt: der Ostermontag und der Himmelfahrtstag entfielen, die Frühlingsferien lagen in der Regel nicht auf dem Osterfest. In den Kindergärten und Schulen erzählte man Märchen vom Väterchen Frost und Frühlingsgeschichten. Auch wenn die Vokabel von der „Jahresendflügelfigur“ sich wissenschaft­lich nicht als SED-Sprache belegen lässt, steht sie für die Säuberung der Sprache von christ­lichen Bildern. Der Barmherzige Samariter, der Sündenbock, die Arche Noah, die babylonische Sprachverwirrung, das Menetekel standen als Sprachund Denk-­Figuren für die in der DDR geborene Genera­tion nicht mehr zur Verfügung. Wenn nicht mehr die drei Weisen aus dem Morgenland zur Krippe pilgern, dann hat das Baby darin unversehens blonde Locken. Weite Teile der Bildenden Kunst und der Literatur wurden unverständ­lich und damit unzugäng­lich. Sogar die Selbstorganisa­tion der Arbeiter war unerwünscht: Sport-, ­Bildungsund Freizeitvereine wurden aufgelöst oder einer der Massenorganisa­tionen angeschlossen. Alle Gewerkschaften wurden im FDGB zusammengefasst und hatten keine unabhängige Vertretungsfunk­tion mehr. Fast alle höheren Gewerkschaftsfunk­tionäre waren SED-Mitglieder. Der Ersatz für all das war eher dürftig. Die Plattitüden des sozialistischen Realismus berührten die Menschen kaum. An der vom SED-Zentralorgan vorgestanzten Zeitungssprache interessierten nur die winzigen Abweichungen „zwischen den Zeilen“. Die sozialistischen Ernte- und Heimatfeste hatten außer reich­lich Alkohol nicht viel zu bieten. Nicht einmal die Identifika­tion mit der Sportna­tion DDR  – erkauft mit einem durchgeplanten Kadersystem und wissenschaft­lich unterstütztem Doping – funk­tionierte uneingeschränkt. Als die Bundesdeutsche Na­tionalelf 1974 gewann, fühlten sich auch die DDR-Bürger als Weltmeister. Nur mit den quasi-­religiösen Ersatzangeboten konnten die Kommunisten im Laufe der Zeit einigen Erfolg erzielen. Nach der Einführung der Jugendweihe mit propagandistischem Pomp und biografischem Druck auf die Jugend­lichen – ohne

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Jugendweihe keine beruf­liche Entwicklung – schlich sie sich als Passageritus in die Familientradi­tionen ein. Man lieferte in den immer etwas pein­lichen Zeremonien die erwartete Loyalitätserklärung an den Staat und feierte ganz privat in der Familie, mit Geschenken, Schmaus und am besten mit Westbesuch. Und weil es doch so eine schöne Feier war, lässt man sie auch heute – entleert von allen ideolo­gischen Phrasen – seinen Kindern angedeihen. In der gesamten DDR-Geschichte war die mangelnde Identifika­tion der DDRBewohner mit ihrem Staat immer ein Problem für die SED. Der Mauerbau verschaffte der SED-Regierung eine Zeit der resignativen Ruhe. Aber schon bald stiegen wieder die Zahlen derer, die aus „der größten DDR der Welt“ nur noch weg wollten. Die Helsinki-­Schlussakte gab Hoffnung auf legale Ausreise, aber auch die Fluchten rissen nicht ab. Die Energie und die Kreativität, die Menschen auf das „Abhauen“ verwendeten, und ihre hohe Risikobereitschaft spiegeln die innere Notwendigkeit. Bis 1989 haben weitere fünfhunderttausend Menschen die DDR verlassen, insgesamt also etwa 20 Prozent der Bevölkerung. In den 1970er Jahren verstärkte sich die Politik der inneren Abgrenzung in dem Maße, wie die Entspannungspolitik der Brandt-­Regierung und die Verhandlungen in der KSZE voranschritten. Das Grenzregime wurde immer tiefer gestaffelt. Das MfS wuchs auf letzt­lich fast 100.000 Hauptberuf­liche an und registrierte die Stimmung der DDR -Bevölkerung. Das Stillhalteabkommen ­zwischen der DDR -Bevölkerung und der SED -Führung funk­tionierte fast reibungslos. Die Leute akklamierten bei den Wahlspektakeln, in den Jugendweihezeremonien und den Betriebsversammlungen, mit dem „Solibeitrag“ (für den interna­tionalen Kampf der Arbeiterklasse) und wenn es sein musste auch mit dem SED -Beitritt. Dafür ließ man die Leute ihre Nischen im Kleingarten pflegen und sah bei der lebhaften Tauschwirtschaft nicht so genau hin. Eine positive, aktive Identifizierung mit der DDR aber war immer weniger auszumachen. Die positiv emo­tionalisierende Seite der Abgrenzungspolitik sollte die Kampagne „Meine Heimat DDR “ abdecken. Schon im Kindergarten mit Liedern und Bilderbüchern feierte man die Heimat, die selbstverständ­lich mit der Waffe in der Hand verteidigt werden musste. Kinderchöre sangen in penetranten Terzen: „Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald … Und wir lieben die Heimat, die schöne, und wir s­ chützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.“ 2 In gefühligen Filmen, sozialistischen Ernte- und Heimatfesten, die an oft längst verbotene Kirmes- und Schützenfeste in den Dörfern anknüpften, sollten positive Emo­tionen die Leute zum Mittun motivieren. Die meisten DDR -Bürger ließen auch das ungerührt über sich ergehen, nutzten die Gelegenheit zum Feiern, ohne dass dies wesent­liche Wirkungen auf ihre Einstellung zu Staat und Ideologie bedeutete. Nachdem die SED in den 1950er Jahren noch eine Politik der Deutschen Einheit unter sowjetischem Modell betrieb, wurde das Wort Deutschland nach

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und nach seltener. Der Text der Na­tionalhymne durfte seit 1974 nicht mehr gesungen werden, war dort doch von „Deutschland einig Vaterland“ die Rede. „…dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint“ wurde nur noch im politischen Witz zitiert: „Was ist der Unterschied z­ wischen Italien und der DDR ? – Über Italien lacht die Sonne – über die DDR die ganze Welt!“ Präsent im Alltag war das Wort nur noch an einer Stelle: In der Titelzeile des ND „Neues Deutschland“, dem „Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Kabarettisten mokierten sich über das Land mit dem komischen Abkürzungsnamen. Für viele wurde das Klima in der Republik zunehmend unerträg­lich. Gerade junge Leute konnten sich mit den vorgezeichneten Lebenswegen in der Planwirtschaft nicht abfinden. „Das kann doch nicht alles gewesen sein, das ­bisschen Sonntag und Kinderschreien, das muss doch noch irgendwo hingehen. Die Überstunden, das bisschen Kies und abends in der Glotze das Paradies, darin kann ich keinen Sinn sehen. […] Ich will noch ein bisschen was Blaues sehen und noch ein paar eckige Runden drehen. Da muss doch noch irgendwas kommen – nein? Da muss doch noch Leben ins Leben – eben.“ Die meisten hörten Wolf Biermanns Lied erst, als er es im November 1976 in Köln sang, auf einer Reise, von der er nicht zurückkehren durfte. Gegen diese Ausbürgerung erhob sich eine regelrechte Protestwelle. Wie viele Unbekannte dafür ins Gefängnis gingen, wurde nie gezählt. Prominente, darunter viele Schriftsteller, Schauspieler und andere Künstler, wurden ausgewiesen – gewissermaßen Wolf Biermann hinterher. Es war ein Aderlass an kritischem Potenzial. Damit verlor die kleine widerständige Szene in der DDR wieder einmal motivierte Menschen. Der Schmerz der häufigen Abschiede hinterließ eine Melancholie, die die Nachdenk­lichen zunehmend in Begründungszwang setzte: Warum bist Du noch hier, warum bist Du noch nicht weg? In den ­Kirchen gab es eine intensive Auseinandersetzung in dem Dreieck z­ wischen Loyalitäts­erklärungen zum angeb­lich besseren Staat und mora­lischen Appellen, den Ort, an den uns Gott gestellt hat, als Aufgabe anzunehmen, sowie der seelsorger­lichen Verantwortung für Menschen in Bedrängnis. Reinhard Lampe schrieb 1986 über diese Not: „Daher dürfen wir nicht schweigen, sondern müssen denen unsere Stimme leihen, die gedankenlos ihre Lebenszeit herunterreißen, bis sie end­lich die ersehnte Altersgrenze [das Rentenalter, in dem Westreisen erlaubt waren] erreichen, falls sie sie erreichen.“ 3 1977 musste auch Reiner Kunze gehen. In seinen Gedichten und in seinem Buch „Die wunderbaren Jahre“ hatte er den Nöten und unaussprech­lichen Zwängen der Menschen eine leise, präzise Sprache gegeben. Zahllose illegale Abschriften, die Kunze heute in seinem Archiv sammelt, zeigen, wie wichtig den Menschen diese Sprachbilder waren. Reiner Kunze ging nicht freiwillig. Aber er fand auch in dem anderen Teil Deutschlands „sein Land“, ein bis dahin unbekanntes Stück Heimat:

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Reiner Kunze ICH BIN ANGEKOMMEN

ich bin angekommen lange ließ ich auf nachricht euch warten: ich habe getastet. Doch ich bin angekommen. Auch dies ist mein land: Ich finde den lichtschalter schon im dunkeln. Damit offenbarte sich ein Dilemma, dem die SED Zeit ihrer Herrschaft in der DDR nicht entkommen konnte. Da es keine freien Wahlen und keine legitimierte Macht gab, stimmten die Leute mit den Füßen ab, was die Herrschenden um jeden Preis zu verhindern suchten. Aber gleichzeitig wurde neben der strafrecht­lichen Verfolgung die Abschiebung in den Westen ein Mittel, um kritisches Potenzial loszuwerden. Im Rahmen der Entspannungspolitik verstrickte sich die DDR Führung zudem in immer weitergehende wirtschaft­liche Abhängigkeit vom Westen und verkaufte für Devisen konfiszierte Antiquitäten, politische Gefangene nebst den Produkten ihrer Zwangsarbeit und was nur loszuschlagen war. Der DDR-Witz lieferte die Gesamtschau: „Ach wär ich doch ein Pflasterstein, dann könnt ich schon im Westen sein.“ Angesichts der inneren Heimatlosigkeit im Osten schien der Weggang von Deutschland nach Deutschland vielen kein so großer Schritt, auch wenn er mit der Drohung belegt war, die Familie, die heimat­liche Landschaft nicht wieder zu sehen, „auch dies ist mein land“. Hilfreich für all die Geflüchteten, Freigekauften, Ausgereisten war, dass die Bundesrepublik Deutschland das Grundgesetz diesbezüg­lich nie geändert hatte: Die Deutschen aus der DDR waren, wenn sie es wollten, Mitbürger, Bundesbürger mit allen Rechten, die Bundesrepublik war „auch unser land“. Im Sommer 1989 haben einige Freunde von uns das ausprobiert: Über Ungarn in den Westen, sich einen Ausweis ausstellen lassen, Paris ansehen und ein paar westdeutsche Städte und nach den Sommerferien wieder zurück in die DDR. Viele wollten nicht wieder zurück. Die meist jungen, motivierten, in der DDR relativ erfolgreichen Leute riskierten den Verlust der DDR-„Heimat“ um Zukunft zu gewinnen. Sie beschleunigten damit die Destabilisierung des „Sozialismus in den Farben der DDR “. Und end­lich brachte der Herbst 1989 die Antwort auf die Frage „Warum bist Du noch hier?“ – „Weil es sich hier ändern muss.“ Aber eine DDR mit Freiheit und Demokratie neben der Bundesrepublik Deutschland, die beides nebst Wohlstand bot, war nicht plausibel. Die langjährige

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Praxis des abend­lichen Westfernsehens hatte längst mit dem parlamentarischen System der Bundesrepublik vertraut gemacht. So dauerte es nach dem Mauerfall nicht lange, dass die Demonstranten nach „Deutschland, einig Vaterland“ riefen. Sofort reagierten die antina­tionalen Reflexe der westdeutschen Linken. Im Gleichklang mit der SED(-PDS) warnte man vor angeb­lichen großdeutschen Ambi­tionen. Dabei hatte die Volkskammer, die einzige demokratische, die Ostgrenzen Deutschlands an Oder und Neiße sofort anerkannt. Was aber ist nach 1989 mit der „Heimat DDR“ geschehen? Von der Landkarte verschwanden die künst­lichen Bezirke, die Länder entstanden neu. Die alten Identitäten konnten wieder aufgenommen werden, die Leute eigneten sich die Volksfeste wieder an, gründeten Vereine oder reisten durch die Welt, soweit wie der Geldbeutel reichte. Der Pluralismus der Mög­lichkeiten forderte täg­lich tausend ungewohnte Entscheidungen. In den Mühen der Umwandlung der dysfunk­tionalen Plan- und Kommandowirtschaft in die Soziale Marktwirtschaft hatte es besonders die mittlere Genera­tion schwer. Und plötz­lich steht die erstaunte Westpresse vor dem Phänomen der Ostalgie. Die „Fleischtöpfe Ägyptens“ standen den Bibellosen lebhaft vor Augen: das wohlsortierte Leben im Betrieb, die Arbeitsplatzsicherheit, der zeitlose Stillstand der Stagna­tion wurden im Rückblick zum Paradies der verlorenen Jugendheimat. Freiheit und Selbstverantwortung waren in den Verhaltensmustern der DDR nicht vorgesehen. Für die Länder auf der ehemaligen DDR -Fläche fallen mir manche Charakteristika ein: mitteldeutsche Industrieregion, Landschaften, die aufstrebenden „Neuen“ Länder. Aber ganz bestimmt hätte ich für die Regionen Brandenburgs, Mecklenburgs, Sachsens, Anhalts und Thüringens nicht den Begriff „Christ­liches Abendland“ gewählt. Die Entchrist­lichung nimmt in manchen Bereichen totale Züge an, die Konfirmanden sind fast überall eine kleine Minderheit den Jugendweihe-­Teilnehmern gegenüber. Und die meisten finden das ganz normal. Die Kontinuität der Konfessionslosigkeit unterscheidet den Bereich der ehemaligen DDR von z. B. Polen und Ungarn deut­lich. Der Verlust an christ­licher Tradi­tion hat Folgen. Weithin fehlt der christ­liche Impuls der Verantwortung für die Mitmenschen und die Schöpfung: Parteien, Gewerkschaften und K ­ irchen, gemeinnützige Organisa­tionen aller Art sind prozentual deut­lich kleiner als im Westen. In vielen Dörfern Brandenburgs und Mecklenburgs findet sich kein Kandidat für das Amt des ehrenamt­ lichen Bürgermeisters. Der Erhebung der Technischen Universität Dresden nach waren die Teilnehmer der Demonstra­tionen für „das christ­liche Abendland“ genau diese „gelernten DDR-Bürger“: Facharbeiter, Mittelschicht in gesicherten Verhältnissen, konfessionslos, parteilos. Die tiefe Entfremdung zur christ­lichen Kultur folterte beim „Weihnachtsliedersingen“ auf der Pegida-­Demonstra­tion im Dezember 2014 das Ohr. Das Christ­liche am Abendland ist ihnen längst verloren gegangen.

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Was also mag die Leute bei Kälte und Regen auf die Straße treiben, wenn zur Verteidigung des Abendlandes aufgerufen wird? Neben den offenbar weniger schwerwiegenden sozialen Faktoren kann es das Gefühl einer tiefen inneren Heimatlosigkeit sein. Ein Baum, der keine starken Wurzeln hat, muss jeden Sturm fürchten. Das Fremde ist eine Herausforderung für Menschen, die keine Heimat mehr hatten und noch keine gefunden haben. Ein heim­licher Neid auf die Menschen mit einer starken Identität kann dazu führen, dass sich die Leute wieder Führern anschließen, Sektengurus, Fundamentalisten, politischen Populisten. Für so Manchen scheint das eine attraktive Alternative zum sinnentleerten Konsumismus einer Marktwirtschaft, deren ­soziale Dimension nur noch im Eigeninteresse erkannt wird. „Die Liebe zur Heimat kann Menschen miteinander versöhnen, denn Heimat ist ein Besitz, den wir mit anderen teilen können.“ Heimat kann man nicht nur teilen, sie ist sogar nur dann Heimat, wenn wir sie mit anderen teilen. Diese Erfahrung steht der Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern, wo der Ausländeranteil weit unter fünf Prozent liegt, noch bevor. Ernst Bloch sieht Heimat nicht als den Erinnerungsort der heilen Kind­ heits­welt oder im Sinne einer heimeligen Gegenwart. Er betrachtet sie als eine Hoffnungs­perspektive. Wenn der „arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch“ als die Wurzel der Geschichte „das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in der Kindheit scheint und worin doch niemand war: Heimat.“ 4 Ich teile die marxistische Vergötterung des Menschen bei Bloch nicht. Dass aber Heimat ein Hoffnungsort ist, der die Zeit überspannt, darin kann ich ihm gut folgen. Dazu gehören Wurzeln, die über die Existenz des Einzelnen hinausreichen. Für mich sind das die geistigen Landschaften des Christentums, die ich für meine Kinder weiterpflegen möchte.

1 Zum Beispiel habe ich selbst Ende der 1970er Jahre im Chor der staat­lichen Musikschule Erfurt von „Es ist für uns eine Zeit angekommen“ die Fassung von 1939 gesungen. Zum Vergleich Aargau 1902: Es ist für uns eine Zeit angekommen,/sie bringt uns eine große Gnad:/Unser Heiland Jesus Christ,/der für uns, der für uns,/der für uns Mensch geworden ist. Umdichtung 1939: Es ist für uns eine Zeit angekommen,/sie bringt uns eine große Freud’./ Übers schneebeglänzte Feld,/wandern wir, wandern wir,/durch die weite, weiße Welt. 2 Herbert Keller/Hans Naumilkat. 3 Reinhard Lampe: Lazarus am 13. August. Gedanken aus einer Examensarbeit, 1986, in: Aufbrüche Teil II. Samisdat. Hg. von Stephan Bickhardt. Naumburg u. a. 1987. 4 Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung.

Der Fall zweier Mauern Alfons Nossol

Am 25. Jahrestag des Ereignisses von Kreisau/Krzyżowa (12. November 2014) riefen wir das Jahr 1989 in Erinnerung das aufgrund seiner historischen Umbrüche als Annus mirabilis in die Geschichte eingegangen ist. Zu den historischen Ereignissen ­dieses Jahres gehört vor allem der Fall zweier Mauern: der Berliner Mauer, die phy­sisch und symbo­lisch nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa teilte, sowie jener Mauer der Feindschaft, die geistig und emo­tional die beiden Nachbarländer Deutschland und Polen voneinander trennte. Die Veränderung der realpolitischen Gegebenheiten im Kontext des Völkerfrühlings des Herbstes 1989 war stark genug gewesen, die Berliner Mauer zum Einsturz zu bringen. Die zweite Mauer war jedoch unvergleichbar schwieriger zu Fall zu bringen, denn sie verlief durch die Seelen und Herzen der Menschen. Ihr Abbau konnte deshalb nur um den Preis der Bekehrung des Herzens und der Änderung der inneren Einstellung und damit einhergehend dem äußerst schwierigen mora­lischen Akt der Vergebung erfolgen. Diesen Fall der Mauer der Feindschaft und die deutsch-­polnische Versöhnung hat Bundespräsident Joachim Gauck am 1. September ­dieses Jahres auf der Westerplatte zu Recht als ein „Wunder nach dem, wozu Menschen im Zweiten Weltkrieg fähig waren“ bezeichnet. Vor 25 Jahren, am 12. November 1989, wurde das schle­sische Kreisau/­ Krzyzowa zu jenem historischen Ort, an dem der Einsturz der Mauer der deutsch-­ polnischen Feindschaft und das Wunder der Versöhnung beider Na­tionen symbo­ lische Bestätigung fanden. Das geschah im geistig-­religiösen Raum durch die gemeinsame Teilnahme von Bundeskanzler Helmut Kohl und dem ersten nicht-­ kommunistischen Ministerpräsidenten Polens, Tadeusz Mazowiecki, am deutsch-­ polnischen Versöhnungsgottesdienst. Das historische Bild der beiden Staatsmänner, die sich beim Austausch des litur­gischen Friedensgrußes umarmen, machte Kreisau zu einer Ikone der deutsch-­polnischen Aussöhnung. Dass gerade Kreisau eine bedeutsame Symbolik für Deutsche wie für Polen besitzt, ist durch einen weiteren besonderen Umstand bedingt: Hier wurde am 11. März 1907 Helmuth James Graf von Moltke geboren, der in der Zeit der allgemeinen Verführung durch die na­tionalsozialistische Ideologie seine mora­ lische Souveränität bewahrte und den Mut besaß, dieser Ideologie eine christ­ liche Vision eines fried­lichen und demokratischen Deutschlands und Europas der Nachkriegszeit entgegenzustellen. In der Botschaft des Kreisauer Kreises, dessen Spiritus Movens Graf von Moltke war, wurde diese Vision wie folgt formuliert: „Wir sehen im Christentum wertvollste Kräfte für die religiös-­sitt­liche

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Erneuerung des Volkes, für die Überwindung von Hass und Lüge, für den Neuaufbau des Abendlandes, für das fried­liche Zusammenarbeiten der Völker.“ Für die Vision eines auf dem Fundament der christ­lichen Werte erneuerten und mit der Völkergemeinschaft ausgesöhnten Deutschlands war Helmuth James Graf von Moltke bereit, den höchsten Preis zu zahlen. Er wurde am 23. Januar 1945 in der Haftanstalt Berlin-­Plötzensee hingerichtet. Zu seinen bewegendsten Lebenszeugnissen gehören neben seinen letzten Briefen an seine Frau Freya seine Haltung angesichts des Todes, die sein Mitgefangener Hanns Lilje, der spätere Landesbischof von Hannover, so beschreibt: „Ohne die leiseste Selbsttäuschung über sein wahrschein­liches Ende lebte er in der heiteren Klarheit der Seele, das leuchtendste Beispiel einer ungebeugten Haltung aus Glauben. Als Christ war er der klarste und selbstverständ­lichste unter uns.“ Die visionäre Sehnsucht des Grafen von Moltke nach Frieden, Demokratie und Partnerschaft verpflichtet uns, seinen Namen den Namen der Gründungsväter des vereinigten Europas Schuman, Adenauer, Monnet und De Gasperi dauerhaft voranzustellen. Dies nicht nur, weil Moltkes Europa-­Vision der ihren zeit­ lich vorausging, sondern weil Helmuth James Graf von Moltke seine christ­lich motivierte Identifika­tion mit ebendieser visionären Sehnsucht mit dem Opfer seines Lebens bezeugt hat. Eine Conditio sine qua non der Verwirk­lichung seiner Vision eines Neubaus des Abendlandes auf dem Fundament christ­licher Werte war die Versöhnung nicht nur ­zwischen Deutschland und Frankreich sondern auch ­zwischen den Polen und den Deutschen. Warum aber muss man gerade im Falle des Zustandekommens der deutsch-­ polnischen Versöhnung ein Wunder bemühen? Die Ursachen dafür wurzeln tief in den mora­lischen und auch politischen Konsequenzen des vor 75 Jahren mit dem Angriff Hitler-­Deutschlands in Allianz mit Stalin-­Russland auf Polen entfachten Zweiten Weltkriegs. Mit der nach 1945 erfolgten territorialen Ost-­West-­Verschiebung verlor Polen rund ein Fünftel seines Staatsgebietes an die UdSSR. Die Polen als Teilentschädigung dafür zugeschlagenen „wiedergewonnenen Gebiete“ im Westen wurden zum ständigen deutsch-­polnischen Konfliktherd. Vor dem Hintergrund der beharr­lichen Weigerung der Bundesrepublik, die Oder-­Neiße-­Grenze anzuerkennen, propagierten die polnischen Behörden antideutsche Feindbilder, die die These einer tausendjährigen Erbfeindschaft z­ wischen den Deutschen und den Polen zementierten. Zudem waren die na­tionalsozialistischen Terrorak­ tionen gegen die polnische Bevölkerung mit ihren Massendeporta­tionen und Massenexeku­tionen im Bewusstsein der polnischen Gesellschaft nur allzu lebendig. Das vom verbrecherischen Nazistaat im Kollektivbewusstsein der Polen generierte Negativbild der Deutschen hatte die von alters her in Polen verbreitete Anerkennung und Bewunderung für die deutschen Errungenschaften auf dem Gebiet von Kunst und Kultur verdrängt. Durch die verbrecherischen Aktivitäten der na­tionalsozialistischen Besatzer entstand ein äußerst negatives

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Stereotyp des Deutschen, das Feindseligkeit gegenüber allem, was deutsch war, provozierte. Über eine Fixierung Polens auf den eigenen Leidensweg konnten die polnischen Behörden auch das Thema der nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten Zwangsaussiedelung der Deutschen erfolgreich aus dem öffent­lichen Diskurs ausklammern. Eine verharmlosende Terminologie beschrieb es nicht als Vertreibung, sondern „Umsiedelung“ beziehungsweise „Repatriierung“. Ablauf, Art und Umstände der Vertreibung der Deutschen aus dem Nachkriegspolen wurden völlig verschwiegen. Doch so wenig man dies auch im verstümmelten Polen nachvollziehen konnte – auch das deutsche Volk fand Gründe und Argumente, sich als Opfer zu fühlen und die Polen als seine Verfolger anzusehen. Die Kultivierung des Unrechtsbewusstseins vor dem Hintergrund des Verlustes von Angehörigen, Eigentum und Heimat der deutschen Ostvertriebenen half vielen Deutschen, die wahren Ursachen dieser menschlichen Katastrophe zu verdrängen. Durch die bewusste Ausklammerung der Vorgeschichte – Hitlers Überfall auf Polen im September 1939 – ließ sich im kollektiven Gedächtnis eine Aufrechnung von polnischer Hand erfahrener Leiden bewahren, die der Rechtfertigung und Beschwichtigung der eigenen Schuld diente. Nach Meinung maßgeb­licher Heimatvertriebener und deutschna­tionaler Revanchepolitiker hätten die Deutschen mehr gelitten und mehr verloren und auch beim Wiederaufbau mehr geleistet als die Polen. Die Vertriebenenfunk­tionäre konnten oder wollten nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich deutsches Leid nach 1945 nicht gegen das polnische Schicksal vor 1945 aufrechnen ließ. Ein solches Geschichtsverständnis beweist nicht nur das Unvermögen, z­ wischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Es ist auch blind dafür, dass ein fundamentaler Unterschied besteht ­zwischen dem staat­lich sank­tionierten Terror einer geplanten Ausrottungs- und Vernichtungspolitik und individuellen Racheakten. Einzig denen, die ihm zum Opfer gefallen sind, steht das Recht zu, ­zwischen staat­lichem und privatem Terror nicht zu unterscheiden. Die Überzeugung, Polen sei ein feind­lich gesinntes, von Hass auf Deutschland erfülltes Land, machte es vielen Deutschen mög­lich, Polen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Die „kollektive Amnesie“, die die eigene Beteiligung am Na­tionalsozialismus und am Zweiten Weltkrieg betraf, übertrug sich so auch auf das Land hinter dem Eisernen Vorhang. Die Atmosphäre des Kalten Krieges förderte zusätz­lich die Zementierung von Hass und Vorurteilen. Nicht nur die Polen wollten also nicht mit den Deutschen sprechen, auch die Deutschen suchten nicht den Dialog mit Polen. Auf beiden Seiten standen sowohl die kollektiven Erinnerungsgeschichten wie das kollektiv Verdrängte jeder Aussöhnung im Wege. Mit den traumatischen Erfahrungen der Besatzungszeit auf der einen und der Heimatvertreibung auf der anderen Seite schien der Graben ­zwischen Deutschen und Polen unüberbrückbar geworden. Den bis dahin für die Problematik der deutsch-­polnischen Beziehungen geltenden Denkkanon sprengte von polnischer Seite aus erstmals der am 18. November

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1965 veröffent­lichte „Brief der polnischen Bischöfe an die zum Konzil in Rom versammelten deutschen Bischöfe“. Diesem Schreiben waren von Deutschland aus bereits bedeutende Versöhnungsakzente vorausgegangen, wie etwa die sogenannte Hedwigs-­Predigt des damaligen Bischofs von Berlin, Kardinal Julius Döpfner, in der St. Eduard-­Kirche am 16. Oktober 1960, der folgende, für die damalige Zeit bahnbrechende Worte fand: „Ganz besonders in den Jahren von 1933 an geschah dem polnischen Volk himmelschreiendes Unrecht, dessen wir uns nur mit Schmerz und Beschämung erinnern können. (…) Wir wissen, daß all die zahllosen Untaten jener Machthaber, die im Namen unseres Volkes an anderen Völkern begangen und von vielen Deutschen gedankenlos mit vollzogen wurden, in einer beispiellosen Katastrophe auf unser Volk zurückfielen. Wehe dem deutschen Volk, wenn es die Augen vor der Ursache dieser Heimsuchung verschlösse, wenn es vergäße, daß wir solches Unrecht zu sühnen haben. (…) Doch nach 1945 geschah von der anderen Seite schlimmes Unrecht, da deutsche Menschen aus Gebieten, die sie seit vielen Jahrhunderten unangefochten ihre Heimat nennen, vertrieben wurden. So möchte es scheinen, als ob das deutsche Volk und das polnische Volk in einem Teufelskreis der Rechnung und Gegenrechnung verbleiben müssten. (…) Das deutsche Volk kann nach allem, was in seinem Namen geschehen ist, den Frieden nur unter sehr großen Opfern erlangen. (…) Für die Zukunft ist die Gemeinschaft der Völker und Staaten wichtiger als Grenzfragen.“ Die Weichenstellung für eine neue, aktive Ostpolitik der Bundesrepublik legte 1961 eine kleine Gruppe bedeutender evange­lischer Wissenschaftler, der unter anderem Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker angehörten, in ihrem sogenannten Tübinger Memorandum von 1961. Und schließ­lich die Denkschrift der Evange­lischen ­Kirche Deutschlands vom 1. Oktober 1965 mit dem Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinem Nachbarn“. Die polnischen Bischöfe vollzogen in ihrer 1965 an ihre deutschen Glaubensbrüder gerichteten Versöhnungsbotschaft im Sinne des ökumenischen Geistes des Zweiten Vatikanischen Konzils einen bedeutsamen mora­lischen Akt. Sie anerkannten die Leiden von Millionen deutscher Flüchtlinge und Vertriebenen als eine Tragödie und brachten darüber ihr menschliches Bedauern zum Ausdruck. Der berühmte Schlusssatz: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“, wurde für die Polen zu einer Herausforderung, der sie – vor allem im Hinblick auf die völlig inkommensurable Opferbilanz auf beiden Seiten – zunächst noch nicht gewachsen waren. Für die polnische Öffent­lichkeit war es noch zu früh, sich zugunsten einer Gewissenserforschung vom Schema einer Opfer-­Na­tion des tausendjährigen deutsch-­polnischen Konflikts zu lösen; die kommunistische Partei bezichtigte das Episkopat des Verrats polnischer Interessen. Obzwar das Schreiben zunächst seine gesellschaft­liche Wirkung zu verfehlen schien, sollte es sich als das mutigste und weitsichtigste Dokument in der Beziehungsgeschichte der beiden Na­tionen erweisen. Denn die zunächst im geistigen Raum vollzogene

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deutsch-­polnische Annäherung bedeutete im mora­lischen und kognitiven Sinn einen Brückenschlag über Staatsgrenzen und Regierungen hinweg. Der Brief der polnischen Bischöfe ermög­lichte nicht nur einen offenen polnisch-­deutschen Dialog, er leitete auf lange Sicht auch einen grundlegenden Wandel in der Einstellung der Polen zu den Deutschen ein. 1970 setzte Willy Brandt mit seinem historischen Kniefall vor dem Mahnmal für die Helden des Warschauer Ghettos im Namen Deutschlands eine mutige Versöhnungsgeste. Und nach der breiten Solidaritätswelle und den spontanen Hilfsmaßnahmen der deutschen Öffent­lichkeit, beider christ­lichen K ­ irchen Deutschlands und zahlreicher Bürgerinitiativen nach Verhängung des Kriegsrechtes in Polen 1981, identifizierten sich immer mehr Polen mit der Politik der deutsch-­polnischen Aussöhnung. Von großer emo­tional-­psycholo­gischer Bedeutung für die Polen war der bereits erwähnte Austausch des Friedensgrußes z­ wischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki beim gemeinsamen Gottesdienst in Kreisau im November 1989. Mit dem Vertrag vom 17. Juni 1991 über gute Nachbarschaft und freund­liche Zusammenarbeit z­ wischen der Republik Polen und dem vereinten Deutschland wurde auch auf politischer Ebene endgültig ein Schlussstrich unter die Nachkriegszeit gezogen. Der zunächst auf christ­licher Ebene beschrittene Weg der historisch-­nationalen Wahrheitsfindung hatte es beiden Na­tionen ermög­licht, einen tiefen Graben von Schuld, Anklage, Vorurteilen und Feindbildern zu überwinden und mit dem Abbau der gegenseitigen Entfremdung zu beginnen. Der Vertrag von 1991 hat beiden Ländern nicht nur die Chancen und Perspektiven einer bislang nicht dagewesenen Koopera­tion eröffnet. Er brachte zugleich die Notwendigkeit, das historische Selbst- und Nachbarschaftsverhältnis neu zu überdenken. Nicht, wie bislang, für sich allein, sondern erstmals in Form eines Dialogs, der erstmals wirk­lich frei von Tabus und politischen oder ideolo­gischen Rücksichten geführt werden konnte. Doch Voraussetzung eines solchen Dialogs war der Ausbruch aus dem Verfangensein in das eigene Leid, das auf der einen Seite die Verdrängung von Erinnerung und auf der anderen die Einkapselung in eine egozentrische Geschichtsdeutung zur Folge gehabt hatte. Jede Bemühung um Aussöhnung und künftige Partnerschaft z­ wischen Polen und Deutschen setzte voraus, dass die vorangegangenen Konflikte und Kriege nicht mehr wie bisher in einer völlig asymmetrischen Weise – unter Fixierung auf die eigene Opferperspektive und ohne Blick auf die eigenen Handlungsweisen – wahrgenommen werden. Voraussetzung jeder Versöhnung ist Empathie gegenüber dem Anderen, das heißt die Wahrnehmung des Konfliktes auch aus seiner Perspektive, so schmerz­lich oder ungerecht dies zunächst auch erscheinen mag. Der bib­lische Satz von der Wahrheit, die frei macht, gilt für das Denken wie für das Leben – des Einzelnen wie der Völker. Die Wahrheit darf nicht in zwei miteinander unvereinbare Teile zerfallen – dies bleibt im Hinblick auf

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eine gemeinsame Version der deutsch-­polnischen Geschichte ein immer noch unerfüllt gebliebenes, wenn auch unabdingbares Postulat. Der Prozess der Anerkennung und Aneignung von Geschichte als eigener Geschichte, als „Wissen und Aushalten“, dass es so und nicht anders war, ist der einzige Weg, Geschichte und ihre Folgen nach innen wie nach außen in bekennender und handelnder menschlicher Solidarität zu verantworten. Das bedeutet auch, die Verantwortung nicht nur für die eigene Schuld zu übernehmen, sondern auch das im Namen der eigenen Gesellschaft oder Na­tion begangene Unrecht als Teil der eigenen Identität zu integrieren, sich geistig und mora­lisch mit den Schatten der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Wie steht es um die Zukunft des Wunders der polnisch-­deutschen Versöhnung? Wenn ich bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage auf meine schle­sische Heimat blicke, mit ihrem Miteinander der Deutschen und der Polen, so fällt meine Antwort durchaus positiv und optimistisch aus. Als sehr hoffnungsvolle Entwicklung erachte ich all die vielen deutsch-­polnischen völkerverbindenden Initiativen, die in religiöser, kultureller aber auch wirtschaft­licher Hinsicht zu einem schöpferischen Dialog – der „Muttersprache“ der Menschheit –, ­zwischen den Genera­tionen, Sprachen und Kulturen Deutschlands und Polens anregen. Aufgrund meiner persön­lichen Erfahrungen vertraue ich selbst auf die Beständigkeit einer polnisch-­deutschen Versöhnung, vor allem deshalb, weil ihre Anfänge nicht primär in realpolitischen Gegebenheiten wurzeln, sondern im genuin christ­lichen Gebot der Vergebung. Der mit der Bekehrung des Herzens und der Änderung der bisherigen inneren Einstellung einhergehende mora­lische Akt der Vergebung reicht deshalb in den religiösen Bereich hinein, weil der religiöse Glaube die unüberbietbare Motiva­tion für eben diesen – nicht selten heroischen – Akt liefert. Denn: „die Idee des Verzeihens ist eine grundchrist­liche Idee“, so der Philosoph und Kulturwissenschaftler Thomas Macho. „Wenn es etwas gibt, was man als christ­liche Tugend verstehen und begreifen kann, dann ist es die Tugend des Verzeihens, der Erlassung von Schulden. Darin besteht die buchstäb­lich frohe Botschaft.“ Es ist auch die frohe Botschaft des Wunders der polnisch-­deutschen Versöhnung.

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„Der Landkreis Osnabrück ist unsere Heimat, Deutschland unser Vaterland und Europa unsere Zukunft!“ Dieser Schlusssatz vieler seiner Reden sagt viel über das Bild unseres Vaters von Europa, seine politischen Grundüberzeugungen und gleichzeitig auch über ihn als Menschen aus. Und ganz maßgeb­lich geprägt hat ihn zweifelsfrei „sein Zuhause“: Sein Elternhaus, seine Familie sowie die Zeit und die Welt, in die er hineingeboren wurde. Europa und ­dieses im weiteren Sinne zu verstehende „Zuhause“ sind damit wohl die zentralen Eckpfeiler und Leitlinien in seinem Leben. Und damit sind wir dann auch schon bei einem Satz, den er in seinen Reden ebenfalls immer wieder gerne verwendet: „Europa fängt zu Hause an.“ Wie wir finden, auch ein passender Titel für den Beitrag seiner Söhne zu ­diesem Buch. Prägung durch die Kindheit Unser Vater wurde nur wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Seinen Vater, Wilhelm Pöttering, der in den letzten Kriegsmonaten gefallen ist, hat er nie kennengelernt. Unsere Großmutter, Agnes Sophie P ­ öttering, musste ihn und seinen drei Jahre älteren Bruder Manfred unter schwierigsten Bedingungen alleine aufziehen. Gleichzeitig hatte die junge Familie noch lange vergeb­lich gehofft, dass der Vater in Gefangenschaft geraten sei und eines Tages wieder nach Hause kommen würde. Was ­dieses für eine Familie, besonders aber für einen kleinen Jungen, bedeutet haben muss, lässt sich wohl kaum in Worte fassen. Schicksale wie diese mahnen uns, niemals zu vergessen, welch unermess­liches Leid die beiden Weltkriege über die Menschen gebracht haben. Wir sind überzeugt, dass das persön­liche Schicksal unseres Vaters eine sehr zentrale Grundlage und Motiva­tion für sein gesamtes politisches Wirken ist. Dafür, dass die Genera­tion unserer Eltern und Großeltern den Teufelskreis von Feindschaft und Krieg durchbrochen und mit der Einigung Europas auf Versöhnung und Verständigung gesetzt hat, können gerade wir jungen Menschen ihnen nur unend­lich dankbar sein. Wir sind daher auch stolz darauf, dass unser Vater zu denjenigen gehört, die sich immer mit unermüd­lichem Einsatz für ein fried­liches, freies und demokratisches Europa eingesetzt haben. Siebzig Jahre Frieden und Freiheit in Europa sind wohl weit mehr, als es sich die Menschen noch im Jahr 1945 nach den beiden verheerenden Weltkriegen hätten erträumen können. Dieses sollten wir trotz mancher Probleme, die es heute in der Europäischen Union gibt, nicht vergessen.

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Es mag pathetisch klingen, aber es ist so: Wir sind unend­lich dankbar, dass wir das Schicksal unseres Vaters, den eigenen Vater im Krieg zu verlieren, nicht erleiden mussten. Und wir viele schöne gemeinsame Momente erleben dürfen, die er mit seinem Vater nie erleben konnte. Verbundenheit zur Heimat Liebe zur Heimat und die gleichzeitige Begeisterung für die europäische Einigung sind für ihn kein Gegensatz, sondern gehören vielmehr untrennbar zusammen. Wahrschein­lich ist er auch deswegen ein so überzeugter und überzeugender Europäer geworden, weil er über starke Wurzeln und eine feste Erdung in seiner Heimat verfügt. Unser Vater ist ein Kind des Osnabrücker Landes. Seine Heimat hat ihn geprägt und er ist ihr bis heute treu geblieben. Er ist in seinem Geburtsort Bersenbrück aufgewachsen. Von dort ist er dann s­ päter zunächst jeden Tag mit der Bahn zum Gymnasium Carolinum nach Osnabrück und dann ­später zum Artland-­Gymnasium nach Quakenbrück gefahren. Während der Bundeswehrzeit war dann Fürstenau sein Heimatstandort. Und auch als er für sein Jura-­Studium in Bonn, Genf und New York das Osnabrücker Land vorübergehend verließ, blieb er während dieser Zeit seiner Heimat stets fest verbunden. Ausdruck dieser Verbundenheit war nicht zuletzt auch sein politisches Engagement. So wurde er noch während seines Studiums stellvertretender Vorsitzender der CDU in Bersenbrück. Und ­später, während seines Referendariats, wurde er Kreisvorsitzender der Jungen Union im Landkreis Osnabrück und schließ­lich auch Vorsitzender der CDU in Bersenbrück. Er selbst sagt immer wieder, dass er sich in Bersenbrück immer sehr wohl gefühlt hat. Deshalb bedeutet ihm die Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Bersenbrück im Jahr 2009 so besonders viel. Auch während der Zeit als wissenschaft­licher Angestellter der CDU/CSUBundestagsfrak­tion in Bonn behielt er seine Wohnung in Bersenbrück und blieb dort Vorsitzender des Stadtverbands. Nach seiner Wahl ins Europäische Parlament ging es für die Familie (Benedict war noch nicht geboren) end­lich wieder ganz zurück in den Landkreis Osnabrück. Unsere Eltern kauften ein Haus in Bad Iburg, in dem wir für viele Jahre gewohnt und uns sehr wohl gefühlt haben – auch wenn unser Vater immer sehr viel unterwegs war. Wann immer es ging, kam er ­zwischen seinen Terminen und Reisen nach Hause und wenn es manchmal auch nur für wenige Stunden war. Häufig wäre es sicher für ihn viel weniger anstrengend gewesen, zwischendurch nicht nach Hause zu kommen. Die Erwartungen und Anforderungen der Bürger und noch mehr der eigenen Partei an Politiker sind hoch. Welche Belastungen ein Politiker trägt, der seine Aufgabe ernst nimmt, können die meisten Außenstehenden nur schwer ermessen. Die Zeit, die unser Vater zu Hause war, war allzu häufig leider nur sehr knapp bemessen, und auch dort ging es oft am heimischen Schreibtisch weiter mit Akten

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und Briefen. Wir haben unserem Vater dies aber nie wirk­lich übel genommen. Wir haben wohl immer gefühlt, dass es etwas zutiefst Gutes und Sinnvolles ist, an das er glaubt und wofür er sich einsetzt. Außerdem haben wir die gemeinsame Zeit an den freien Wochenenden und in den vielen schönen Urlauben dafür dann umso bewusster miteinander erlebt. Vielleicht sind unsere Kindheitserinnerungen an Erlebnisse mit ihm deswegen sogar lebendiger als bei vielen anderen Kindern, die jeden Tag mit ihren Vätern zusammen waren. Ganz besonders haben wir dabei auch von seiner Weltoffenheit und seinem Interesse für fremde Kulturen profitiert. Viele Kontinente und Kulturen (und damit auch eine ganz wertvolle Form der persön­lichen Bildung) wären uns verborgen geblieben, wenn unser Vater uns nicht durch viele Reisen immer wieder die Welt gezeigt hätte. Politische Arbeit für die Heimat Die Verbundenheit zur politischen Basis vor Ort war für unseren Vater nicht nur eine selbstverständ­liche Pflicht, sondern vielmehr die zentrale Grundlage seiner Arbeit im Europäischen Parlament. Auch dieser Teil der politischen Arbeit hat ihm, wie zumeist unschwer zu erkennen war, sehr viel Spaß gemacht. Und so ist er zu keinem Zeitpunkt der Gefahr erlegen, sich durch die, wenn auch spannende und äußerst zeitintensive, Arbeit in Brüssel und Straßburg von der politischen Basis zu entfernen. Äußerst ernst (nicht selten zum Leidwesen von uns Kindern) nahm er vom ersten bis zum letzten Tag seiner Mitgliedschaft im Europäischen Parlament die Betreuung der schon allein flächenmäßig immens beanspruchenden Wahlregion, mit den Kreisverbänden des Landkreises und der Stadt Osnabrück, des Emslands und der Grafschaft Bentheim sowie dem Bezirksverband Ostfriesland. Insbesondere in Anbetracht der herausgehobenen Ämter, die er in den mehr als zwanzig Jahren seiner 35-jährigen Parlamentsmitgliedschaft bekleidete, müssen die unzähligen Termine eine ungeheure Kraftanstrengung gewesen sein. Wir hatten immer den Eindruck, dass er ­dieses nicht nur aus Disziplin und Pflichtgefühl getan hat, sondern vor allem aus Leidenschaft und Freude an den Menschen in unserer Heimat. Ein weiterer Beleg für seine Verbundenheit zur politischen Basis und seinen politischen Gestaltungswillen in der Heimat sind seine zwanzig Jahre als Kreisvorsitzender der CDU im Landkreis Osnabrück und das ungeheure Engagement, das er in diese Arbeit investierte. Selbst als Frak­tionsvorsitzender und sogar ­später als Präsident des Europäischen Parlaments blieb er weiterhin Kreisvorsitzender. Für die CDU im Landkreis Osnabrück war ­dieses eine äußerst erfolgreiche Zeit. Wir Söhne hatten beide das Glück durch unsere Ämter in CDU und JU über viele Jahre ebenfalls Mitglieder des Kreisvorstands zu sein und ihn so nicht nur im familiären Umfeld, sondern auch in politischer Ak­tion aus allernächster Nähe erleben und auch einiges lernen zu können.

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Mancher Außenstehende hat sich aufgrund der vielen Aufgaben bestimmt gefragt, wie unser Vater diese Doppelbelastung meistert. Wir sind überzeugt, dass bei aller Anstrengung es gerade die Perspektivenwechsel, die unterschied­ lichen politischen Herausforderungen und die Begegnungen mit den verschiedensten Persön­lichkeiten und Charakteren waren, die ihm immer wieder neue Motiva­tion gegeben und zusätz­liche Kräfte in ihm freigesetzt haben. Gleichzeitig wurde so sichergestellt, dass er bei aller „großen Politik“ in Europa nie den Blick für die Probleme und Herausforderungen vor Ort verloren hat. Sicher­lich kann man aber auch bei unserem Vater sagen, dass die Politik und ihre Bühnen immer wieder aufs Neue Adrenalin und Antrieb in ihm freigesetzt haben. Jeder, der sich in ­diesem Umfeld bewegt oder bewegt hat, kennt den Effekt, dass in solchen Persön­lichkeiten selbst dann noch Kräfte freisetzt werden, wenn das Umfeld und die Mitarbeiter schon lange der Erschöpfung anheimgefallen ist. Und so ist er ein gutes Beispiel dafür, dass sich Führungsämter vor Ort und Spitzenämter auf europäischer Ebene nicht ausschließen. Für uns war dabei stets interessant, wie er etwa am Frühstückstisch in einem Moment über Treffen mit europäischen Staatsmännern und kurz darauf gleichermaßen bedeutend über aktuelle Entwicklungen in einzelnen CDU-Ortsverbänden im Landkreis Osnabrück erzählt hat. Verständnis vom Gefüge der Ebenen Seine vielen politischen Erfahrungen vor Ort haben ganz gewiss auch dazu beigetragen, sein Grundverständnis vom Neben- und Miteinander der verschiedenen politischen Ebenen zu prägen. Vielen Europapolitikern wird vorgeworfen, dass sie ein zentralistisches und allzuständiges Europa propagieren. Hiervon war unser Vater aus unserer Sicht immer weit entfernt. Er ist der Überzeugung, dass alles, was vor Ort politisch geregelt werden kann, auch vor Ort und nicht auf einer höheren Ebene geregelt werden soll. Ausschließ­lich Probleme, die nur gemeinsam gelöst werden können, sollen nach seiner festen Überzeugung auf der nächsthöheren Ebene geregelt werden. Dieses in den EU -Verträgen unter dem recht sperrigen Begriff des Subsidiaritätsprinzips verankerte Modell ist für ihn weit mehr als ein theoretisches Prinzip. Weil er alle Ebenen von der kommunalen bis zur europäischen kennt, hat er das Gespür dafür, ­welche Herausforderungen am besten vor Ort und ­welche nur gemeinsam auf Landes-, Bundes- oder europäischer Ebene angegangen werden können. Oft haben wir in zahlreichen Sitzungen unserer heimischen CDU erlebt, wie er mit Freude von Situa­tionen fernab Deutschlands berichtet hat und andererseits wiederum auf der europäischen Ebene davon berichtete, wie es um seine politische Heimat in Niedersachsen steht. Er hat die Ebenen der Politik immer als ein Ganzes betrachtet und nie die eine der anderen vorgezogen. Es ist seine

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Grundüberzeugung, dass keine politische Ebene von Natur aus wichtiger ist als die andere. Maßlos ärgert es ihn, wenn versucht wird, die verschiedenen politischen Ebenen gegeneinander auszuspielen. Heimat und Europa Der Dialog der Kulturen und Religionen ist ihm seit vielen Jahren besonders wichtig. Nicht zuletzt während seiner Amtszeit als Präsident des Europäischen Parlaments hat er sich immer wieder mit großem Nachdruck für den interkulturellen Dialog eingesetzt. Sicher auch deswegen, weil das Osnabrücker Land über eine enge geschicht­liche Verbindung zum Westfä­lischen Frieden von 1648, dem Frieden von Münster und Osnabrück, und zum Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) verfügt. Die kriegerischen Auseinandersetzungen z­ wischen Katho­lischer Liga und Protestantischer Union hatten ganze Landstriche in Europa entvölkert und den Kontinent in Angst und Schrecken versetzt. Und so ist der Dreißigjährige Krieg für ihn stets aufs Neue Bespiel und Mahnung dafür, wie religiöse Auseinandersetzungen zu Gewalt und Zerstörung führen können. Gleichzeitig dient ihm der Westfä­lische Friede wiederum aber auch als Beispiel dafür, dass durch Dialog und das Sich-­Aufeinander-­Zubewegen auch nach noch so erbitterten Auseinandersetzungen eine fried­liche Lösung von Konflikten mög­lich ist und diese auch dauerhaft sein kann. Man kann sich vorstellen, dass gegenüber Gesprächspartnern anderer Kulturen häufig ein Beispiel aus der eigenen Heimat und deren Geschichte viel überzeugender ist, als ein erhobener Zeigefinger. Diesen Dialog mit Menschen aller Kulturen hat er immer auf Augenhöhe geführt. Es spielte für ihn nie eine Rolle, ob es ein Staatsoberhaupt oder ein ganz normaler Bürger war, mit dem er gerade sprach. Gegenseitiger Respekt und Freund­lichkeit sind für unseren Vater immer eine vorbild­liche Selbstverständ­lichkeit. Ein weiteres Beispiel dafür, wie er mit der Geschichte seiner Heimat ­Brücken zu Gesprächspartnern aus anderen Ländern (in ­diesem Fall dem Vereinten Königreich) schlägt, ist sein Besuch bei Königin Elisabeth II. im Februar des Jahres 2008. Hier schenkte er der Monarchin im Buckingham Palast eine Fotografie eines Portraits von Ernst August von Braunschweig-­Lüneburg und dessen Ehefrau Sophie. Ernst August wurde im Jahre 1661 Bischof von Osnabrück. Die Residenz der Bischöfe von Osnabrück war das Schloss von Bad Iburg, wo unser Vater bis heute in der Sophienstraße – benannt nach der Ehefrau von Ernst August – wohnt. Sophie wäre nach dem vom eng­lischen Parlament verabschiedeten Act of Settlement von 1701, der bestimmte, dass fortan nur noch protestantische Erben Anspruch auf den eng­lischen Thron hatten, beinahe Thronfolgerin geworden. Sie starb jedoch im Juni 1714 kurz vor dem Tod von Königin Anne Stuart im August 1714. Gleichwohl blieb die Thronanwartschaft dem Hause Braunschweig-­Lüneburg erhalten. Schließ­lich wurde der älteste Sohn von Ernst

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August und Sophie, Georg Ludwig als Georg I. britischer König. So hatte er eine Verbindung z­ wischen dem britischen Königshaus und seinem Wohnort, ja sogar zu dem Namen der Straße, in der er wohnt, hergestellt. Gäste aus „Europa“ Um Europa vor Ort noch intensiver erlebbar zu machen, war es ihm immer sehr wichtig, bekannte und herausragende Persön­lichkeiten der europäischen Politik für Besuche in seiner Heimatregion zu gewinnen. Persön­lichkeiten, die ohne ihn wohl nicht den Weg in die Region Osnabrück-­Emsland gefunden hätten. Ein für ihn besonders bewegender Anlass war das Pontifikalamt im Osnabrücker Dom am 12. Juli 2009 zum bevorstehenden Abschluss der Amtszeit als Präsident des Europäischen Parlaments. Der Erzbischof von Oppeln, Alfons Nossol, und der Bischof von Osnabrück, Franz-­Josef Bode, hielten einen Gottes­dienst an dem auch der designierte Nachfolger im Amt des Parlamentspräsidenten, Jerzy Buzek, teilnahm. Die Tatsache, dass ein polnischer und ein deutscher Bischof gemeinsam eine Messe feierten, bei der ein amtierender Parlamentspräsident aus Deutschland und ein designierter Parlamentspräsident aus Polen anwesend waren, war gleichzeitig ein eindrucksvolles ­­Zeichen der deutsch-­polnischen Freundschaft, die unserem Vater bis heute ganz besonders am Herzen liegt. Darüber hinaus waren zu dem Gottesdienst eigens auch der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und der Vorsitzende der EVP-Frak­tion im europäischen Parlament, Joseph Daul, gekommen. In besonderer Erinnerung ist uns auch der Besuch des britischen Premier­ ministern Tony Blair und seiner Frau Cherie in Osnabrück im März 2007 geblieben. Osnabrück war seit den Fünfzigerjahren Garnisonsstadt gewesen. Die Stadt war von britischen Soldaten geprägt, die jahrzehntelang dort sta­tioniert waren. Obwohl Tony Blair mit deut­licher Verspätung auf dem Marktplatz in Osnabrück ankam, warteten mehr als tausend Bürger vor dem dortigen Rathaus. Sehr zum Leidwesen seiner Sicherheitsleute sprang der charismatische Premierminister in einem atemberaubenden Tempo aus seinem Auto und marschierte auf die Absperrungen zu, wo er Dutzende von Händen schüttelte. Mit Tony Blair war wirk­lich ein Staatsmann zum Anfassen nach Osnabrück gekommen. Auf die Frage eines Journalisten, warum er nach Osnabrück gekommen sei, antwortete er: „I am here because of Hans-­Gert Pöttering, really!“ Die Blairs waren bei einem anschließenden Abendessen auch uns Söhnen gegenüber so herz­lich und aufgeschlossen, dass man glatt vergessen konnte, dass man mit einem der mächtigsten Männer der Welt an der Theke stand und gemeinsam am Tisch saß. Viele weitere Besuche großer europäischer Persön­lichkeiten in der Region hätten es ebenfalls verdient, ausführ­licher beschrieben zu werden. Sei es der Besuch des österreichischen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel in Bad Iburg, der Besuch des portugie­sischen Staatspräsidenten Aníbal António Cavaco

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Silva in Osnabrück, die Wahlkampfveranstaltung mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende in Bad Bentheim, der Besuch von Donald Tusk in Bersenbrück, der Besuch des Staatspräsidenten Litauens, Valdas Adamkus, in Bad Iburg, der Besuch des EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi in Kalkriese oder auch die Besuche verschiedener EU-Kommissare in der Wahlregion unseres Vaters. Ein ganz besonderes Ereignis war auch sein 60. Geburtstag. Diesen feierte er mit den anwesenden privaten und politischen Freunden aus nahezu allen Ländern der Europäischen Union, unter ihnen auch EU-Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso, in seiner Heimat. Für alle, die vor zehn Jahren im Bad Iburger Kurhaus dabei waren und den dort herrschenden fröh­lichen, europäischen Geist erleben konnten, war ­dieses sicher eine ganz besondere Geburtstagsfeier. Lieber Papa, jeder der Dich sieht, erlebt und kennt, kann es kaum glauben, dass Du nun schon 70 Jahre alt wirst. Du sagst manchmal mit einem Augenzwinkern: „Wo sind nur all die Jahre geblieben? Ich fühle mich doch noch so, wie vor 30 Jahren.“ Man kann sich dabei aber mit etwas Humor leicht trösten und sagen, dass das Älterwerden die einzige Mög­lichkeit ist, am Leben zu bleiben. Und auch, dass gerade wenn etwas besonders gut ist, die Zeit wie im Fluge vergeht. Du kannst in Dankbarkeit, aber auch Zufriedenheit auf das zurückblicken, was Du für „Dein Europa“ und damit für uns alle geleistet hast. Auf Deinem Weg für die Einigung Europas hast Du Entscheidendes erreicht und so viele Menschen geprägt. Darauf kannst Du stolz sein. Normalerweise kämen jetzt an dieser Stelle noch eine oder vielleicht auch zwei Anmerkungen über mög­liche Schwächen des Vaters aus Sicht der Söhne. Da Du aber glück­licherweise „frei bist von jeg­lichen Kritikpunkten“, wie es eine Dir sehr zugewandte Person schon zu Deinem 60. Geburtstag gesagt hat, bleiben die dafür reservierten Zeilen an dieser Stelle leer. Wir wünschen Dir von Herzen beste Gesundheit, Zufriedenheit, Zeit für Deine Enkelkinder und den Antrieb in den kommenden Jahren, vielleicht das ein oder andere in dieser Welt neu zu entdecken. Bitte behalte Dir Deine Zuversicht und den Willen, etwas zu bewegen. Wir sind stolz auf Dich. In Liebe und Dankbarkeit Deine Söhne

Erfahrungen eines CDU-Kreisvorsitzenden Reinhard Freiherr von Schorlemer

Als ich im Januar 1971 als 32-Jähriger zum Kreisvorsitzenden der CDU im Landkreis Bersenbrück gewählt wurde, hatte ich in Günther Kemp aus B ­ ramsche einen Gegenkandidaten, der wie ich im Kreistag war. Er war noch bei der Marine im Zweiten Weltkrieg gewesen. Seine großen Leistungen waren im Bereich des Sports im vorpolitischen Raum. Mein Ergebnis war klar: Politisch und menschlich sind wir bis zu seinem Lebensende miteinander verbunden gewesen. Nun war ich als Kreisvorsitzender Nachfolger des früheren niedersäch­sischen Ministers für Wirtschaft und Verkehr, Karl Möller, MdL, aus Quakenbrück geworden, der meine Kandidatur unterstützt hatte. Vor meiner Wahl war ich Kreisvorsitzender der Jungen Union und Vorsitzender des Ortsverbandes der CDU Fürstenau. 1971 waren wir auf Bundes- und Landesebene in der Opposi­tion. Gleichzeitig wollte die SPD-Landesregierung eine Verwaltungs- und Gebietsreform durchführen. Für den Kreisverband Bersenbrück war dies eine schwierige und turbulente Zeit. Der Landkreis Bersenbrück mit 85.000 Einwohnern in vier Städten und 91 Gemeinden hatte keine Chance als Gebilde mit den Strukturen bestehen zu bleiben. Gleichgroße Kreise im Westen, Norden und Osten versuchten natür­lich ihre Bereiche mit Einwohnern und Fläche aus Bersenbrück zu vergrößern. Für mich als Kreisvorsitzender war klar, dass das Gewicht des Landkreises und des CDU Kreisverbandes nur in Geschlossenheit in einer größeren Einheit abgesichert werden konnte. Uns war wichtig, bei einem großen Kreisgebilde große Städte, Samtgemeinden und Gemeinden zu schaffen. Gerade bei ­diesem Prozess war die Union gefordert, und es war für sie eine große Chance. Denn zum Beispiel in den 91 Gemeinden waren viele gute parteipolitisch nicht gebundene Ratsherren und Ratsfrauen. Durch das Argument der verbundenen politischen Ebenen von Gemeinde, Stadt, Kreis, Land und Bund wurden viele neue Mitglieder gewonnen. Schon in dieser Zeit erkannte ich, dass nur der ein guter Kreisvorsitzender sein kann, dem es gelingt, Kompromisse zu finden. Stark sein konnte nicht der, der seinen Willen durchdrückte, sondern der, dem es gelang, unter Einbeziehung vieler Meinungen und Forderungen, vermittelnd ein Ergebnis zu erreichen. In meiner Tätigkeit als Kreisvorsitzender habe ich es als sehr vorteilhaft angesehen, auch Mitglied im Kreistag und im Kreisausschuss zu sein. Meine Zeit als Kreisvorsitzender von Bersenbrück war nur kurz. Sie endete schon im Mai 1972 mit dem Zusammenschluss der Kreisverbände Bersenbrück, Melle, Osnabrück-­Land und Wittlage zum Kreisverband Osnabrück-­Land. So waren wir nach Hannover-­Land der zweitgrößte Kreisverband in Niedersachsen

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geworden. Allein die Tatsache, dass es im neuen Landkreis Emsland – einer großen Domäne der CDU im Westen Niedersachsens – bis heute keinen einheit­ lichen CDU Kreisverband gibt, macht uns stolz, dass wir diesen schwierigen Start erfolgreich geschafft haben. Für mich war es dabei bestimmt von großem Vorteil, dass ich aus meiner Zeit in der Jungen Union viele Gesprächspartner der anderen „Altkreise“ kannte. Um erfolgreich die Politik zur Neukreisverbandsgründung gestalten zu können, war es für die vier Altkreisvorsitzenden – Dr. Albert Noeres (Wittlage), Josef Tegeler MdL (Osnabrück-­Land), Franz Röhr MdL (Melle) und mir – sehr wichtig, Sach- und Personalpolitik gemeinsam nach räum­licher Ausgeg­lichenheit und persön­lichen Begabungen und Interessen zu gestalten. Landrat des neuen Kreises wurde Josef Tegeler, der souveräne Landrat des Altkreises Osnabrück-­Land, mit dem ich schon 1955 im Bezirksvorstand der Jungen Union zusammengearbeitet hatte. Frak­tionsvorsitzender wurde August Knemeyer. Er hatte diese Funk­tion schon im Altkreis Osnabrück inne und wurde auch im neuen Landkreis in dieser Funk­tion sehr erfolgreich. Die Aufgabe des CDU-Kreisvorsitzenden erhielt ich, der ich zuvor im Altkreis Bersenbrück diese Funk­tion innehatte. Anfang Mai 1972 wurde ich mit großer Mehrheit in Bad Iburg in d­ ieses Amt gewählt. Oberkreisdirektor wurde Wolfgang Kreft aus Bersenbrück. Er war der einzige seiner Kollegen, der Mitglied der CDU war. Seine sach­liche und auf Ausgleich bedachte Politik war für den Start eine gute Grundlage. Bei den stellvertretenden Landräten wurden die ehemaligen Landräte von Bersenbrück, Fritz Kiesekamp, und von Wittlage, Dr. Hans Maßmann, gewählt. Der Meller Kreistagsabgeordnete Clemens Schwertmann wurde nicht nur Bürgermeister der größten Stadt im Landkreis, sondern auch stellvertretender Frak­tionsvorsitzender. Bei den stellvertretenden CDU-Kreisvorsitzenden waren von besonderer Bedeutung der spätere Landesinnenminister und CDU-Landes- und Frak­tionsvorsitzende Josef Stock aus Melle und der engagierte Sozialpolitiker Hermann Sandkämper, MdL, aus Georgsmarienhütte. Es war über Jahrzehnte ein Gewinn, dass die führenden CDUPolitiker des Osnabrücker-­Landes harmonisch und freundschaft­lich zusammengearbeitet haben. Es war ein Glücksfall für unseren Kreisverband Osnabrück-­Land. In einem Flächenkreisverband mit einer räum­lichen Ausdehnung des Saarlandes und mit über 4.000 Mitgliedern sind die Verbände in den Gemeinden, Samtgemeinden und Städten die entscheidenden Säulen. Hier wird die Arbeit vor Ort geleistet. Weitere Säulen sind die Vereinigungen. Die Junge Union ist für mich aus eigenem Erleben heraus für die Zukunft der Partei von höchster Bedeutung. Ich habe als Kreisvorsitzender immer wieder versucht, auf die politischen Ressourcen der jungen Genera­tion in der Union zurückzugreifen. Nach wie vor liegt in der Jungen Union die Zukunft der gesamten Union. Von großer Bedeutung ist für uns im Kreisvorstand des Weiteren die Arbeit der Frauenunion. Ihre erste Vorsitzende, Frau Dr. Jahnke, auch stellvertretende Bürgermeisterin in Melle, hat in den Anfangsjahren immer im Kreisvorstand Unterstützung

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bekommen, wenn es darum ging, Frauen in die politische Verantwortung zu entsenden. Diese Aufgabe bleibt, denn auch hier müssen unsere Vorstände und Parlamente bunter werden. Zu Beginn meiner Kreisvorsitzendentätigkeit gab es die Senioren-­Union noch nicht. Heute erkenne ich ihre Bedeutung gerade im Ratgeben aus Erfahrung. Jeder Lebensabschnitt hat seine Form der Mitgestaltung. Natür­lich sind die Interessen der jungen Genera­tion, die voll im Beruf und der politischen Gestaltung stehen, und die der Älteren oft unterschied­lich. Es ist aber die große Chance und Aufforderung in der CDU, hier Ausgleich und gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Die anderen Vereinigungen in der Kreispartei, wie die der Sozialausschüsse und Mittelstandsvereinigungen, die die pluralen gesellschaft­ lichen Überzeugungen in die Partei einbringen, sind weiterhin auch für einen Kreisverband sehr wichtig. Ich selber bin als Kreisvorsitzender bis zu meinem 35. Lebensjahr Mitglied der Jungen Union gewesen und zu meinem 65. Lebensjahr selbstverständ­lich, aber ohne Funk­tionen, Mitglied der Senioren-­Union geworden. Bewusst bin ich weder Mitglied der Mittelstandsvereinigung oder der Sozialausschüsse geworden. Ich wollte als Kreisvorsitzender nicht festlegt sein. Wichtig für jeden Kreisvorsitzenden ist der Kreisgeschäftsführer. In meiner Zeit waren dies Hans-­Dirk Bobzien und Ferdinand Fleischer. Beide waren sehr loyal zu mir. Ich schenkte ihnen großes Vertrauen. Sie konnten mir jederzeit intern ihre Meinung, egal ob positiv oder negativ, sagen. Sie gaben mir auch ein Stimmungsbild aus dem Inneren der Partei. Strömungen und Stimmungen früh zu erkennen, ist für das Agieren eines Kreisvorsitzenden wichtig. Bedeutendes Bindeglied z­ wischen dem Kreisverband und dem Landesverband ist der Bezirksverband. Dabei ist die Mitwirkung im Bezirksvorstand für jeden Kreisvorsitzenden zwingend notwendig, denn zum Beispiel das Mitgestalten der Landespolitik findet hier statt. Für unseren Bezirksverband Osnabrück-­Emsland, der vorausschauend und klug viele Jahre vom Kultusminister Werner Remmers geleitet wurde, war es wichtig, dass wir alle Bundes- und Landeswahlkreise in der Regel direkt gewannen. Ausnahmen konnten in der Stadt Osnabrück geschehen. Dazu kam natür­lich, dass sich die herausragenden Abgeordneten wie Rudolf Seiters, Werner und Walter Remmers, Josef Stock, Karl-­Heinz Hornhues, Burkhard Ritz und Hans-­Gert Pöttering gut verstanden und ich mit ihnen beste Kontakte pflegen konnte. Bis 1980 wurden Teile des Kreises Osnabrück drei Bundestagswahlkreisen zugeordnet. Dadurch konnten wir nie mehrheit­lich mitwirken, wer uns in Bonn vertrat. 1980 entstand in Niedersachsen ein neuer Bundestagswahlkreis, dessen Zuschnitt auch die Kreisreform berücksichtigte. Jetzt konnte der Kreis von Osnabrück-­Land alleine und souverän entscheiden, wer uns in Bonn und ­später auch in Berlin vertrat. Dies stärkte natür­lich den Kreisverband, den Kreisvorstand und wohl auch den Kreisvorsitzenden.

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Schon 1979 war bei der ersten direkten Wahl zum Europäischen Parlament die Geschlossenheit und die gute Zusammenarbeit im Bezirk Osnabrück-­Emsland für uns die Gelegenheit, unser Mitglied Hans-­Gert Pöttering auf einen sicheren Platz der Landesliste in Niedersachsen zu setzen. Auch vom Landesverband der Jungen Union war er für diese Posi­tion benannt worden. Natür­lich war es für mich als Kreisvorsitzender hierbei von großem Vorteil, dass ich 1974 in den niedersäch­ sischen Landtag im Wahlkreis Bersenbrück direkt gewählt worden war und für unseren Vorschlag, Hans-­Gert Pöttering, bei den führenden CDU-Landespolitikern, wie dem Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, dem Landesvorsitzenden Wilfried Hasselmann, dem CDU-Frak­tionsvorsitzenden Bruno Brandes und unserem Bezirksvorsitzenden Werner Remmers, werbend tätig sein konnte. So zog unser 33-jähriges Kreisverbandsmitglied in das erste direkt gewählte Europäische Parlament ein. Ich glaube, zur konstituierenden Sitzung fuhr ihn unser Kreisgeschäftsführer Ferdinand Fleischer mit seinem privaten, sehr repräsentativen Wagen. Er wurde auch 1991 der Kreisgeschäftsführer von Hans-­Gert Pöttering. Kreisverbandsarbeit unterscheidet sich, ob man im Bund oder im Land in der Regierungsverantwortung ist. Als wir in Niedersachsen im Februar 1976 durch die Wahl von Ernst Albrecht zum Ministerpräsidenten in die Regierungs­ verantwortung kamen und wir auch s­ päter wieder mit Christian Wulff und David McAllister wiedergekommen waren, war die Begeisterung des konkreten Mitwirkens über unsere Abgeordneten und über unsere Delegierten bei Parteitagen und in den Gremien groß und erfolgreich. Nach 1982 mit der Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler brach eine neue Phase der Begeisterung, des Engagements für die Union an. Weil im Kreisverband Osnabrück-­Land immer der Wunsch bestand, die führenden Repräsentanten vor Ort zu erleben, waren bei uns als Redner und Besucher aus Niedersachsen unser Ministerpräsident Ernst Albrecht und seine Minister, wie zum Beispiel Walther Leisler Kiep, Hermann Schnipkoweit, Werner Remmers und Gerd Glup. Schon vorher hatte es B ­ urkhard Ritz, damals stellvertretender Frak­tionsvorsitzender in Bonn, geschafft, führende Unionspolitiker in den Kreisverband zu holen. Ich denke an Rainer Barzel, Kurt Georg Kiesinger, Richard von Weizsäcker, Norbert Blüm, Peter Lorenz und Kai-­Uwe von Hassel. Diese Veranstaltungen hatten zwei Bedeutungen. Zum einen erlebten die Mitglieder die Darstellung der Politik aus erster Hand, zum anderen war auch der Stolz und die Freude zu erkennen, welch‘ gute Leute in der Union Verantwortung trugen. 1974 kam zum ersten Mal Helmut Kohl in den Kreisverband. Er sprach vor mehr als 2.000 Besuchern von der Rathaustreppe in Quakenbrück. Zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte ihn Hans-­Gert Pöttering zum Europawahlkampf eingeladen. Wieder kam eine große Zuhörerzahl vor den Artländer Dom in Ankum. Bei den Zuschauern waren tiefe Dankbarkeit und große Freude, den Kanzler der Deutschen Einheit und großen europäischen Staatsmann im Kreisverband zu erleben.

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Die größte Herausforderung nach der Bildung des Großkreisverbandes Osnabrück-­Land 1972 war der Aufbau eines CDU Kreisverbandes in Zeitz 1990. Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und dem Willen zur Wieder­vereinigung und zu freien Wahlen auf dem Gebiet der DDR, wurde von der Bundespartei eine Ak­tion unter dem Begriff „Freunde helfen Freunden“ angeregt. So wurde die CDU Niedersachsen gebeten, Unterstützungsarbeiten in Sachsen-­Anhalt zu leisten. Ich schlug damals dem Kreisvorstand vor, in Zeitz zu helfen. Schon bei meinen ersten Begegnungen dort hatte ich mir als Gesprächspartner Vertreter der evange­lischen und katho­lischen K ­ irchen ausgesucht. Dabei hatte ich zwei hochinteressante Nebenerlebnisse. Der Superintendent hatte mit der Bemerkung „Schorlemer kommt“ geladen. Nahezu alle Pastoren kamen, denn sie erwarteten natür­lich ein Gespräch mit Friedrich Schorlemmer, dem großen Regimekritiker aus der Lutherstadt Wittenberg. Wir selber trafen uns ­später häufiger. Für mich war ­dieses Gespräch schon deshalb interessant, weil es nicht nur Berichte über die Stimmungslage gab, sondern auch über Personen gesprochen werden konnte, die für die CDU interessant und wählbar wären. Das Gespräch mit dem katho­lischen Pfarrer war sehr vertrauensvoll. Allerdings stellte sich danach heraus, dass der ihn begleitende Diakon zwar große Unterstützung vorgab, s­ päter aber als IM der Stasi enttarnt wurde. Davon wusste der Pfarrer nichts. Für mich wurde sehr schnell klar, dass es für die helfende Unterstützung keine Lehrbuchmeinung gab. Zwar konnte man den Finger auf die Wunde, aber kein unfehlbares Rezept auf den Tisch legen. Ermunterung aber keine Besserwisserei und eine große Por­tion Verständnis, wo wir uns selbst noch nicht klar verstanden. In Zeitz erreichten wir bei den Wahlen zur Volkskammer, zum Landtag und zu den kommunalen Parlamenten klare Mehrheiten für die CDU . Im Rahmen des Wahlkampfes sprach im März der ehemalige CDU -Generalsekretär Heiner Geißler vor 30.000 Menschen in Zeitz, der Kreisstadt des Landkreises Zeitz, der 1990 74.944 Einwohner zählte. Vier Namen werde ich aus Zeitz besonders in Erinnerung behalten: zum einen den CDU -Kreisvorsitzenden Matthias Büttner. Er war Leiter der Musikschule und daher ein sensibler, feinfühlender und politisch kluger Kopf. Konrad S ­ chellbach, ­später Kreistagspräsident und Landtagsabgeordneter, der große Stratege und organisatorische Mitreißer. Er ist mir persön­lich und menschlich verbunden. Oft habe ich auf dem landwirtschaft­lichen Resthofgebäude seiner Eltern bei seiner Familie übernachtet. Am 3. Oktober 1990 habe ich ihn zur Einigungsfeier vor dem Reichstag in Berlin mitgenommen. Er stand tief bewegt, dankbar und stolz neben mir. Als die CDU im Mai 1990 nach der Kommunalwahl einen hauptamt­lichen Landratskandidaten suchte, ihn in den eigenen Reihen aber nicht fand, habe ich auf Anregung von Ministerpräsident Bernhard Vogel, Nikolaus Jung aus dem Hochtaunuskreis in Vorschlag gebracht. Er wurde mit einer Stimme Mehrheit gewählt. Bis zu seinem Rücktritt Ende 1992 hat er für die Anfangszeit des

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Landkreises Zeitz große und wichtige Impulse gegeben. Die junge Diplom-­ Bildhauerin Margarete Späte wurde nicht nur Bürgermeisterin von Kayna; ich traf sie 1998 als Kollegin im Deutschen Bundestag wieder. Thomas Pleye aus der Jungen Union in Melle hatte sich auf meine Bitte bereit erklärt, nach Zeitz zu gehen. Als Verwaltungsjurist bekam er das Amt des Dezernenten für Wirtschaft, Umwelt und Bau. Er hat inzwischen sein Leben von Melle nach Sachsen-­ Anhalt verlegt, hat dort Familie gegründet, wurde Staatssekretär und ist heute Präsident des Landesverwaltungsamtes in Halle. Vor der Geschichte bin ich dankbar, dass ich als Kreisvorsitzender dort Aufbauarbeit für die Union leisten konnte. Nach 20 Jahren als Kreisvorsitzender von Bersenbrück und Osnabrück habe ich selber den Zeitpunkt gesehen, ­dieses Amt in andere Hände zu legen. Mein Nachfolger wurde der Europaabgeordnete Hans-­Gert Pöttering. Er war zu der Zeit schon zwölf Jahre Mitglied im Europaparlament. Schon in diesen Jahren hatte er im Kreisvorstand die Begeisterung für die Zukunft von Europa verkörpert. Er war nie Kommunalpolitiker, aber als Persön­lichkeit, der in dieser Zeit auch Frak­tionsvorsitzender der EVP und nachfolgend Präsident des Europäischen Parlaments war, hat er die Mitgestaltung der CDU im Landkreis Osnabrück als deren Vorsitzender herausragend nie aus dem Auge verloren. Eine Bemerkung zum Schluss: Die beiden Vorsitzenden der CDU aus dem Landkreis Osnabrück kommen aus der Jungen Union des Kreisverbandes Bersenbrück. Sie sind große Verehrer des Politikers und der Politik Konrad ­Adenauers. Sie standen gemeinsam mit zwei Freunden am Sarg von Adenauer im Palais Schaumburg und sind dankbar seit 50 Jahre befreundet zu sein.

Heimathafen Hamburg Zusammenleben, Identität und Zuwanderung Reinhard Stuth

I. Der erste Hamburger war ein Zuwanderer. Er kam – zeitgenös­sisch gesprochen – als Fach- und Führungskraft aus dem Ausland, aus der franzö­sischen Picardie, an die Alster: Bischof Ansgar, Apostel des Nordens, Missionsbischof für Skandinavien. Sein Bild hängt im katho­lischen Dom der Stadt und als Ikone in der rus­sisch-­orthodoxen ­Kirche Heiliger Johannes von Kronstadt zu Hamburg am Tschaikowskyplatz. Der heilige Ansgar brachte Hamburg eine Seele, seine Seele. Zwar traf Ansgar bei seiner Ankunft 832 am Zusammenfluss von Alster, Elbe und Bille auf einen bewohnten Ort. Denn bereits im 8. Jahrhundert entstand hier eine Siedlung, wie die neueste Forschung ergab. Zu Ansgars Zeit siedelte hier als Herr der Hammaburg Bernhard aus dem niedersäch­sischen Geschlecht der Billunger. Die Burg war von Beginn an ein Handelsplatz, allerdings wohl nicht ganzjährig bewohnt. Durch- und zureisende Händler und Kaufleute brachten den Ort also auf die Landkarte. Aber erst Ansgar, der Benediktiner, brachte Kultur, Bildung und Grundwerte, indem er eine Bibliothek, eine Schule und eine ­Kirche gründete. Damit bekam die Ansiedlung die Gene einer Stadt. Am Anfang mag es erste Ansätze einer Zivilisa­tion gegeben haben, aber mit Ansgar begann die Kultur in Hamburg.

II. Seit der Ankunft Ansgars bis heute ziehen Menschen nach Hamburg. Sie kamen und kommen aus der Umgebung, aus anderen Teilen Deutschlands, aus Europa und längst aus der ganzen Welt. Sie kamen und blieben und machten die Stadt zu dem, was sie heute stark, anziehend, lebenswert macht. Die heutige Identität Hamburgs und der Hamburger ist nicht weniger als die Summe dieser Einflüsse aus über 1.200 Jahren. Teilweise deuten bis heute Familiennamen auf diese Zuwanderungsgeschichte, die nie anders war und nie anders sein wird. Sie kamen mal aus politischen, mal aus religiösen und mal aus wirtschaft­lichen Gründen. So kamen sephardische Juden aus Portugal, Hugenotten aus Frankreich, Wasserbauingenieure und Festungsbauer aus Holland, vor dem ­Ersten Weltkrieg Chinesen, die eine

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erste deutsche Chinatown in St. Pauli schufen, Vertriebene aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, Arbeitnehmer vom Balkan, aus Anatolien und dem ganzen Mittelmeer-­Raum, Bootsflüchtlinge aus Vietnam, Aus- und Übersiedler aus Russland, der Ukraine und Zentralasien, Studierende aus aller Welt, afrikanische Flüchtlinge aus Lampedusa. Würde jemand versuchen, sie alle sich wegzudenken, so gäbe es Hamburg nicht, und schon gar nicht als größte Metropole Nordeuropas. Übrigens: Auf den Kandidatenlisten der CDU zur letzten Bürgerschaftswahl standen Menschen, die selber oder deren Familien aus der Türkei, aus Togo, aus Russland und aus Vietnam kamen. Und natür­lich hatte die CDU schon in den letzten beiden Wahlperioden Abgeordnete in der Bürgerschaft, die mehrere Staatsangehörigkeiten haben. Nach der Bürgerschaftswahl 2008 gab es mit Andreas Wankum und Aygül Özkan einen jüdischen und eine muslimische Abgeordnete der CDU. Es gibt bekannt­lich verschiedene Meinungen, ob der Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ zutreffend, richtig oder opportun ist. Es ist aber eine unbestreitbare Tatsache, dass der Islam, das Alevitentum wie auch das Judentum zur CDU in Hamburg gehören. Eine vergleichbare Geschichte wie diese über Hamburg lässt sich über jede europäische Stadt erzählen, über Frankfurt am Main und über Nürnberg, über Danzig und Prag und erst recht über Marseille, Brüssel und Barcelona. So und nicht anders entstanden die europäischen Städte. Und es waren nicht nur Diplom-­ Chemiker, Opernsängerinnen und wohlhabende Investoren. Es war immer und überall die Mischung, so bunt wie Gottes Welt auch sonst ist. Es kamen Reiche und Arme, Akademiker und Bildungsferne, Heilige und Räuber und alles dazwischen. Im Ergebnis hat es den Städten nicht geschadet, sondern sie stark gemacht.

III. Ginge es nach dem Weltbild einiger Politiker oder nach der Gemütslage mehr als nur einiger Deutscher, dann würden unser Land und damit auch unsere Städte durch diese dauerhafte Zuwanderung Halt und Wohlstand verlieren. Merkwürdigerweise ist ­dieses in der Wirk­lichkeit aber nicht der Fall. Zwar gibt es Reibungen und Konflikte, die bisweilen sogar bis zur verbalen und tatsäch­lichen Gewaltanwendung gehen. Aber gerade die Städte sind es, die in Deutschland, in Europa, in Asien, in Afrika und in Amerika die Menschen höchst wirkmächtig anziehen. Besonders in Ostdeutschland ist zu sehen, wie sich die länd­lichen Gebiete entvölkern, die Städte aber wachsen. Dieses ist von Vorpommern (Stralsund) bis Sachsen (Dresden) zu beobachten. Natür­lich regeln sich ­solche wesent­lichen Veränderungen nicht von selbst. Nichtstun ist daher keine gute Antwort auf die neuen Fragen. Jede Veränderung

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führt zu Verunsicherung, allemal bei Deutschen, die ihre Gemüt­lichkeit so sehr lieben. Wer schon erschrickt, wenn das Ladenschlussgesetz liberalisiert wird, oder wer gegen ein Windrad 1.000 Meter von seinem Grundstück entfernt auf die Straße zieht, oder wem die schrittweise über 20 Jahre einzuführende Rente mit 67 Jahren so schnell vorkommt, dass ihm schwindelt, der ist auch beunruhigt, wenn das geschieht, was seit über tausend Jahren passiert: Zuwanderung. In den meisten Fällen dürfte die Ablehnung nicht böswillig sein, sondern eher hilflos. Zur Unsicherheit und Orientierungslosigkeit trägt der Sprachgebrauch bei. Beispielhaft zeigen d­ ieses die Begriffe „Ausländer“ und „Integra­ tion“. Stimmen Gesagtes und Gemeintes überein? Entspricht das Gesagte unserem Menschenbild? Werden wir einem jungen Menschen gerecht, der – wie schon seine Eltern – in Hamburg geboren wurde, und der nie woanders lebte, wenn wir ihn als Ausländer einordnen? Es mag zwar verwaltungsrecht­lich zutreffen, aber geht es für uns im Alltag auch sonst darum, nur ja den richtigen Paragraphen heranzuziehen? Wenn die CDU das christ­liche Menschenbild hochhält, und das christ­ lich-­jüdische Abendland bewahren will, was anderes kann d­ ieses bedeuten, als zuallererst auf den Menschen zu sehen und dann erst auf das Verwaltungsrecht. Achten wir die Würde eines jungen Menschen, der hier geboren, ist, hier zur Schule geht, vielleicht besser deutsch spricht und schreibt als die Mehrheit der Deutschen, wenn wir ihn Ausländer nennen? Und wenn es uns nicht um das christ­liche Menschenbild ginge, sondern nur um politische Interessen: Wem nützt es, Menschen, die als Bürger unter und mit uns leben, als „Ausländer“ auszugrenzen? Es war daher überfällig, das Ausländergesetz vor einigen Jahren in Aufenthaltsgesetz umzubenennen. Viel überzeugender ist der Begriff „Mensch mit Migra­tionshintergrund“ auch nicht. Man hört das angestrengte Bemühen um Korrektheit immer gleich mit. Auch mit ­diesem Begriff wird man den Menschen nicht gerecht. Am besten wäre es, hier Geborene gar nicht mehr sprach­lich hervorheben zu wollen. Ihre Eltern mag man Zugewanderte nennen. Wer in Hamburg geboren wurde und hier aufwuchs, ist Hamburger. Wir brauchen für diese Menschen kein weiteres Substantiv, um sie von anderen Hamburgern zu unterscheiden.

IV. Die Behörden merken hier besonders langsam, wie sich Stadt und Land ent­ wickeln. Die Rechtsgrundlage heißt zwar längst nicht mehr Ausländergesetz. Quer durch Deutschland heißen die Behörden aber immer noch Ausländerbehörde. Und sie verhalten sich auch so. Die rechtsanwalt­liche Praxis zeigt: Die Entscheider in den Behörden blicken nur ungern auf den Einzelfall. Sie legen das vorhandene Ermessen in der Regel danach aus, Anträge im Zweifel ablehnen

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zu können. Die Innenminister erlassen Verwaltungsvorschriften, die die von Bundestag und Bundesrat erlassenen Gesetze teilweise wieder einschränken. Hierbei sind sozialdemokratisch regierte Bundesländer keinesfalls offener als christ­lich-­demokratisch regierte. So gilt die Hamburger Ausländerbehörde seit der Regierungsübernahme durch Olaf Scholz als besonders abweisend. Der Wahlerfolg eines Populisten 2001 steckt der SPD bis heute in den Knochen. Der Geist der Hamburger Ausländerbehörde ist immer noch eher von der öffent­lich-­recht­lichen Gefahrenabwehr, als von einer interessengeleiteten Willkommenskultur geprägt.

V. Nicht viel besser, obwohl gut gemeint, ist der Begriff „Integra­tion“. Wer soll sich inwieweit und wo hinein integrieren? Immer der zur Minderheit Gehörende in die jeweilige Mehrheit? Dieses wäre vollkommen abwegig und widerspräche der Geschichte des Abendlands, die ihre Bedeutung und Ausstrahlung bekam, indem sie Minderheiten ihr Anderssein ließ. Spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg und der Aufklärung gehört d­ ieses zum Recht und zur Kultur in Deutschland. Alles andere wäre im Übrigen absurd. Sonst müssten in Hamburg alle Christen aus der ­Kirche austreten, da die Mehrheit hier inzwischen konfessionslos ist. Oder soll sich immer der zuletzt Gekommene in die vor ihm Gekommenen integrieren? Dieser auf Bewahrung der Strukturen gerichtete, statische Weg wäre vielleicht bequem, aber ungerecht und unmora­lisch. Eine Regel „Der Letzte stellt sich hinten an“ führt in die Irre. Wenn eine alte Frau in den Bus einsteigt, gehört es sich, ihr Platz zu machen, und nicht, sie hinten anstellen zu lassen. Der Begriff der Integra­tion ist gut gemeint und leicht zu deklinieren. Er ist auch als Adjektiv und Verb vorrätig und zudem angenehm unbestimmt, da er offen lässt, was er genau meint. Übertroffen wird er nur noch von der Neuentdeckung „Inklusion“. Treffender ist der Begriff „Zusammenleben“. Denn genau darum geht es, wenn Menschen zuwandern. Es geht um „zusammen“, um „gemeinsam“, um „miteinander“, nicht um das bloße Einordnen. Es geht nicht um den Blick zurück: Wer war zuerst da? Es geht um den Blick nach vorne, in die Zukunft, in die gemeinsame Zukunft. Wie können Alteingesessene, schon länger Zugewanderte und Neuankömmlinge zusammen ihr Gemeinwesen voran bringen, zum Wohl aller? Bib­ lisch gesprochen gilt die Aufforderung: „Suchet der Stadt Bestes, in die ich euch wegführen ließ, und betet für sie zum HERRN; denn wenn es ihr wohl geht, so geht es euch auch wohl.“ Sucht also jemand die Rückbesinnung auf die ursprüng­ lichen Werte der CDU, so findet er sie im 29. Kapitel des Propheten Jeremias. Bei einem fruchtbaren Zusammenleben behält jeder seine Würde, egal wie lange er da ist und welches persön­liche Schicksal er mit sich trägt. Er rückt den

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vielleicht wichtigsten Begriff, nicht nur für Christen, auch sprach­lich in den Mittelpunkt: Leben. Zugleich macht er deut­lich, was in unserer Zeit manche ein wenig gering achten: Leben geht nie allein. Der Mensch lebt immer mit den anderen. Der Begriff „Zusammenleben“ trifft also auch besser als „Integra­tion“ das Fundament christ­lich-­demokratischer und bürger­licher Politik: Er umfasst das Individuum und die Gemeinschaft, das Personale und das Soziale.

VI. In Hamburg ist besonders gut zu beobachten, wie eine Stadt über die Jahrhunderte äußerst erfolgreich das Zusammenleben entwickeln kann. Hamburg kam eine republikanische Geschichte und Gesinnung zugute, die sich nie von einem Fürstengeschlecht oder einem Stamm ableitete. Hamburg ist im tiefsten Sinn bürger­lich. Alles, was Hamburg schuf und erreichte, kam durch seine Bewohner selbst, nicht durch mehr oder weniger wohlwollende oder mehr oder weniger kluge Herrscher. Die letzte Großtat eines Fürsten für Hamburg war eine Entscheidung des dänischen Königs Waldemar II. Er ordnete vor knapp 800 Jahren an, die bischöf­liche und die gräf­liche Stadt, damals recht­lich und machtpolitisch getrennt und nur durch eine Furt in der Alster an der Stelle der heutigen Trostbrücke verbunden, zusammen zu schließen und unter eine einzige Regierung zu bringen. Damit begann endgültig der Aufstieg Hamburgs. Alles Weitere vollbrachte Hamburg aus eigener Kraft – mit Verbündeten und vielen Zugewanderten. Es baute sich selber den Hafen und das erste bürger­ liche Theater in Europa. Höchstens könnte man noch die Besatzungszeit unter Napoleon als kaiser­lichen Fremdeinfluss erwähnen, die einen Modernisierungsschub brachte, auch wenn sie unter dem Strich mehr Not und Elend bedeutete. Es waren und sind bürger­liche, republikanische Tugenden, die die Stadt bis heute prägen: Die Liebe zur Freiheit und unbedingten Selbstbestimmung, die selbst ein Otto von Bismarck zu spüren bekam; Pflichtgefühl und Verantwortung für die Stadt, bis heute erkennbar am großartigen Mäzenatentum; politische Mitsprache und Demokratie in Stadt und ­Kirche; Wirtschaften nach den Grundsätzen eines ehrbaren Kaufmanns; Weltoffenheit, die wahr­lich nicht nur im Übersee-­Club gelebt wird, und der unbedingte Vorrang der Diplomatie vor militärischen Verwicklungen. Diese Werte und diese Verfasstheit bilden den Grundkonsens der Stadt seit dem Mittelalter. Auf dieser republikanischen Basis wird dann auch das Leben und Lebenlassen zum Grundsatz des Zusammenlebens. Es ist diese Reihenfolge, die eine gedeih­liche und tragfähige Grundordnung schafft. Toleranz ist notwendig und gewiss auch zeitgemäß. Aber für sich genommen ist sie viel zu wenig. Tolerant kann auch der Gleichgültige sein, sogar der nur an sich und nicht an das Gemeinwohl Denkende. Erst auf der Grundlage

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republikanischer Tugenden und bürger­licher Werte, wie sie oben beschrieben sind, kann Toleranz reife Früchte tragen. Bereits beim Betreten des Rathauses ist der republikanische Geist spürbar. Nahezu überall in Europa, ja auf der Welt, betritt man den Sitz der höchsten staat­lichen Organe, indem man Stufen empor steigt. Der Bürger muss zur Macht hinauf gehen. Niemand soll übersehen, wer oben und wer unten ist. In Hamburg haben schon nach der Tradi­tion die Bürger die Macht. Es macht keinen Sinn, sie zu sich selber hinauf steigen zu lassen. Daher gelangen die Bürger vollkommen ebenerdig in das Rathaus, dem Sitz von Bürgerschaft und des Senat.

VII. Eine Tugend ist noch zu ergänzen. Es ist die nie nachlassende Offenheit für Neues, für Anderes, für Fremdes. Hamburg war in seiner Geschichte meistens offen und bei allem konservativen Tradi­tionsbewusstsein bereit zur Innova­tion. Sichtbar wird diese Offenheit im kleinen, aber zentralen Turmsaal des Rathauses. Dort ließ der damalige Senat vier prächtige Deckengemälde anbringen, die über die eigene Stadt hinausweisen und Hamburg vier weltoffene europäische Stadtrepubliken zum Vorbild geben: Athen, Rom, Venedig und Amsterdam. In ­diesem Geist wäre es gut, sich dafür zu öffnen, den Kreis der Wahlberechtigten für die Bürgerschaft der Freien und Stadtrepublik Hamburg behutsam zu erweitern. Unter Bürgermeister Ole von Beust gab es den Versuch, den in Hamburg lebenden Bürgern aus Mitgliedsländern der Europäischen Union das Wahlrecht zur Bürgerschaft zu geben. Aus dem Bund kam aber sofort ener­ gischer Widerspruch. Unionsbürger gehörten nicht zum Volk im Sinne des Grundgesetzes. Man darf ­dieses aber auch anders sehen. Natür­lich gilt die Tugend der Offenheit nicht nur gegenüber Zugewanderten. Sie ist ein Gebot politischer Interessenwahrung und Verantwortung. Hamburg hat in den letzten hundert Jahren die Bedeutung von Wissenschaft und Kultur oftmals unterschätzt. Hamburg kann hier viel von anderen Städten in Europa lernen. Eine Elbphilharmonie ist ein starkes Zeichen ­­ der Öffnung für die Kultur. Es reicht aber nicht. Eine der größten Herausforderungen der Städte des 21. Jahrhunderts ist die nachhaltige, ökolo­gische Ausrichtung der Stadt, des Bauens, des Verkehrs, der Wirtschaft. Auch hier benötigt Hamburg noch eine ambi­tionierte Öffnung. Ähn­ liches gilt für den Hafen. Die Elbvertiefung ist gut für das Heute. Eine Antwort für das Morgen ist damit noch lange nicht gegeben. Offenheit ist anstrengend, aber notwendig.

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VIII. Die republikanischen Tugenden und die bürger­lichen Werte Hamburgs sind kein Monopol der Hamburger. Sie sind wahrhaft europäische Tugenden und Werte. Denn sie verbinden Freiheit und Verantwortung, den Wert des einzelnen und der Gemeinschaft, Tradi­tion und Erneuerung, Alteingesessene und Neuankömmlinge. Sie haben sich bewährt und ein Zusammenleben aller erleichtert. Diese Tugenden und Werte eignen sich auch zur universalen Beachtung. Sie sind mit dem Koran und mit der Lehre des Konfuzius gut vereinbar. Es ist daher wahr­lich nicht zu viel verlangt, sie von jedem Alt- wie Neu-­Hamburger, von jedem Alt-­Deutschen wie Neu-­Deutschen, einzufordern. Sie diskriminieren niemanden und sie privilegieren niemanden. Sie sind der Kitt, der eine Stadt und ein Land zusammen hält. Vielleicht kann man aber sagen: Diese republikanischen Tugenden und diese bürger­lichen Werte sind in Hamburg nicht nur allgemeine Verhaltensregeln, sondern in besonderer Weise identitätsstiftend. Insoweit und in ­diesem Sinn wage ich zu sagen: Hans-­Gert Pöttering ist ein Hamburger. Natür­lich bleibt er ein Bad Iburger Europäer. Er ist auch d­ ieses, aber eben mehr. Es wäre nicht hanseatisch, sondern lächer­lich, und überdies auch vollkommen unmög­lich, ­dieses Fundament nur für sich selbst zu beanspruchen. Hamburger wissen: Ein Schiff hat einen Heimathafen. Dort ist es zu Hause. Aber Hans-­Gert-­Pöttering kennt genauso gut wie die Hamburger auch das Lied, das erstmals Gustaf Gründgens sang: Ein Schiff ist nicht nur für den Hafen da, Es muss hinaus, hinaus auf hohe See!

Bayern und die Idee der europäischen Einigung Manfred Weber

Wer von Regensburg kommend mit dem Schiff die Donau hinunterfährt, erblickt schon bald nach der ersten Biegung einen klassizistischen Tempel, der so gar nicht in die niederbayerische Landschaft passen mag. Die 1842 eingeweihte Ruhmeshalle Walhalla thront zu linker Hand über der Donau und zieht Jahr für Jahr Tausende Besucher in ihren Bann. Die Säulen des Prachtbaus sind Zeugnis für die Faszina­tion des 19. Jahrhunderts mit dem antiken Griechenland als Wiege unserer Demokratie – und erinnern mich persön­lich immer wieder an die Verbindung z­ wischen der Geschichte Bayerns und dem europäischen Einigungsprozess. Gilt der Rhein in der deutschen Geschichte und Literatur oft als der „deutsche“ Fluss schlechthin – als Grenze zum einstigen Erzrivalen Frankreich – so ist die Donau der europäische Fluss par excellence. Nach dem Ursprung auf der rauen Schwäbischen Alb schlängeln sich die ruhigen Fluten der Donau vorbei am Ulmer Münster und den beeindruckenden Regensburger und Passauer Stadtkernen mit ihren Zeugnissen für die reiche mittelalter­liche und neuzeit­liche Geschichte unseres Landes, durch die vier Hauptstädte Wien, Bratislava, Budapest und Belgrad, um schließ­lich entlang der rumänisch-­ukrainischen Grenze das Schwarze Meer zu erreichen. Insgesamt fließt die Donau durch zehn europäische Länder oder markiert deren Grenze – mehr als jeder andere Fluss unseres Kontinents. Der Lauf des Flusses ist Sinnbild für die bewegte europäische Geschichte Europas, unseres Landes, und auch meiner bayerischen Heimat. Der Fluss trennt und verbindet gleichermaßen. Wer die Donau entlang- oder hinunterfährt, merkt schnell, wie nah sich Europäer doch sind und über die Jahrhunderte auch immer waren. Ich bin ein Kind des Kalten Krieges, geboren 1972 in Niederbayern. Wer zur damaligen Zeit die Donau hinabfahren wollte, traf hinter Wien auf Stacheldraht und Grenzpolizisten. An ein Durchkommen war nicht zu denken, geschweige denn an Donau-­Kreuzfahrten von Wien bis Rumänien. Verankert im west­lichen Bündnis, verstellte und versperrte der Kalte Krieg den Blick auf die historisch gewachsenen Verbindungen in Mitteleuropa. Von einer zentralen Lage rutschte (West-)Deutschland plötz­lich in der Wahrnehmung nach Westeuropa. Mit dem Bau der Mauer und dem Hochziehen des Eisernen Vorhangs verschwanden auch die Sensibilität für die zentrale Lage Deutschlands und Bayerns. Wo es nur West und Ost gab, war für die Mitte kein Platz mehr. Dabei war Bayern in seiner Geschichte schon immer Kreuzungspunkt und Umschlagplatz für Waren und Ideen im Herzen unseres Kontinents gewesen – und ist dies auch heute noch.

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Kein Blick in die Geschichte der bayerischen Staatswerdung kommt ohne die Erwähnung der Wittelsbacher Dynastie aus, die Bayern mehr als 700 Jahre lang regierte und unter deren Herrschaft sich das Land (in wechselnden geografischen Grenzen) vom Herzogtum bis zum Königreich innerhalb eines erstmals geeinten Deutschlands entwickelte. Allein ein flüchtiger Blick in die Wittelsbacher Familienchronik zeigt, wie sehr Bayern damals Teil Europas war – natür­lich nicht in seiner heutigen, modernen und demokratischen Form, sondern als Herrschaftsbereich innerhalb eines dynastischen Netzwerks. Weit jenseits der heutigen bayerischen Landesgrenzen erstiegen einst Wittelsbacher einen Herrscherthron oder regierten ferne Gebiete, von den heutigen Niederlanden (den einstmaligen Grafschaften Holland, H ­ ennegau und Seeland) bis hin zum deut­lich näher gelegenen Tirol. Dies war keineswegs ein Phänomen des Spätmittelalters oder der frühen Moderne, man denke nur an die Thronbesteigung des „bayerischen“ Wittelsbachers Ottos in Griechenland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das einstige Residenzschloss in Athen ist längst Sitz des griechischen Parlaments – ein Wittelsbacher Baudenkmal in den Abendnachrichten des 21. Jahrhunderts. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: mit dem modernen Europa und dem europäischen Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg hat dies nichts zu tun. Aber die Verflechtungen der Wittelsbacher und ihre Machtansprüche jenseits des bayerischen Kernlandes zeigen doch, wie sehr Bayern seit je her „europäisch“ – jenseits der direkten Landesgrenzen – Einfluss ausübte und seinerseits beeinflusst wurde. Europa, das war über die Jahrhunderte keine Utopie, sondern Realität, zumindest in der Welt der europäischen Adelsgeschlechter in denen auch die bayerischen Wittelsbacher eine wichtige Rolle spielten. Genauso wenig ist es Zufall, dass einer der großen Staatsreformer Bayerns einen franzö­sischen Namen trug: In der Amtszeit des Grafen Montgelas wuchs Bayern nach napoleonischem Vorbild zu einem modernen Staat im Sinne des 19. Jahrhunderts heran. Bayerns Herzschlag in Europa: eine wertegebundene Politik Heute, in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, ist dieser Gedanke der Verwurzelung Bayerns in Europa nicht nur Realität, sondern mehr noch pure Notwendigkeit. Der Zweite Weltkrieg zeigte, ­welchen Schaden ein entfesselter Na­tionalismus und ein menschenverachtender Faschismus und Nazismus anrichten können. Die Gründerväter des europäischen Einigungsprozesses – allen voran viele Christdemokraten, denen wir auch heute noch so viel verdanken – schufen mit der heutigen Europäischen Union ein Regelwerk für die Sicherung des Friedens miteinander und nicht auf Kosten des jeweils Anderen. Zugleich

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war das Zusammenwachsen Europas essentielle Voraussetzung zur Schaffung und Bewahrung des gemeinsamen Wohlstands. Liegt Bayern im Herzen Europas, so ist es der CSU gelungen, Bayerns Herzschlag auf Europa zu übertragen. Dabei hat die CSU die historische Stellung und Entwicklung Bayerns fortgeführt: ein gewachsener und mit einer starken Identität und Identitätsverständnis versehener Staat in zentraler Lage auf unserem Kontinent, für den die Zusammenarbeit mit den europäischen Partner eine klare Notwendigkeit zur Sicherung von Frieden und Wohlstand darstellt – zumal Bayern durch den Eisernen Vorhang direkt konfrontiert war mit Unfreiheit und Unterdrückung der Menschen- und Bürgerrechte. Theo Waigel, der deutsche Vater des Euro, formulierte 1996 den Kern der Legitima­tion europäischer Integra­tion: „Wer Europa auf die Ökonomie verkürzt, erreicht zwar die Köpfe, aber nicht die Herzen der Menschen. Europa steht für die Freiheit der Religion, der Wissenschaft, der Kunst, für Menschenrechte und für die Demokratie.“ 1 Das Konzept, mit ökonomischen Instrumenten den Weg für eine politische und ideelle Integra­tion in Europa zu schaffen, war überaus erfolgreich. Aber gerade in Phasen der Konsolidierung und ohne offensicht­liche Herausforderungen von außen, erscheint der europäische Prozess allzu oft technisch und bürokratisch. Das zentrale Motiv, der verbindende Gedanke tritt dabei in den Hintergrund: Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Franz Josef Strauß hatte das bereits 1952 im Blick, als er in seiner Bundestagsrede anläss­lich der Ratifika­tion des EVG-Vertrages auf die Notwendigkeit verwies, Deutschland fest in der west­lichen freiheit­lichen Wertegemeinschaft zu verankern: „Wir Deutschen müssen uns über zwei Tatsachen im Klaren sein, einmal: ohne Deutschland kann Europa nicht zustande kommen. Wir müssen aber ebenso wissen, dass auf die Dauer ohne Zusammenschluss der europäischen Völker auch in der gegenwärtig nur mög­lichen Form ein freies Deutschland nicht einmal in Gestalt der gegenwärtigen Bundesrepublik mehr mög­lich sein wird.“ 2 Damals war Strauß‘ Appell an die sozialdemokratische Opposi­tion gerichtet und zielte zuvorderst auf die militärische Verteidigung der Bundesrepublik und ihrer demokratischen Ordnung ab, während in der SPD neutralistische Tendenzen überwogen. Seine politischen Überlegungen für Europa reichten jedoch schon damals weit über den reinen Sicherheitsaspekt hinaus. Immer wieder machte Strauß auch für die CSU deut­lich, dass Europa seine Werte und Überzeugungen nur vereint und im transatlantischen Bündnis verteidigen kann. „Entweder wird aus Europa eine Födera­tion, in der die Grundsätze der freien Gesellschaft und der Partnerschaft mit Amerika ihre Gültigkeit haben, oder es wird zu einer kollektivistischen Gesellschaft in Abhängigkeit von der Sowjetunion. Sicher ist einzig, dass das in Na­tionalstaaten aufgesplitterte europäische Potenzial auf die Dauer nicht politisch im luftleeren Raum schweben kann“, so Franz Josef Strauß 1966 in seinem Buch „Entwurf für Europa“.3

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Die Geschichte hat ihm und den Unionsparteien in Deutschland Recht gegeben. Doch obwohl der Kalte Krieg vorüber ist, Freiheit und Demokratie in weiten Teilen Europas gesiegt haben, und die Europäische Union die histo­rische Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg überwunden hat, ist unser Wertemodell, ist die europäisch-­atlantische Demokratie erneut in Europa aber auch darüber hinaus herausgefordert. Anders als im Kalten Krieg, ist die Herausforderung heute jedoch vielfältiger und hat unterschied­liche Ursprünge. Religiöse Fundamentalisten lehnen unsere freie, säkulare Staatsordnung ab und haben unserer Gesellschaft und unseren Werten den Krieg erklärt. Autoritäre Regierungsmodelle, euphemistisch verbrämt als „gelenkte Demokratie“, stellen relative ökonomische Freiheiten ohne individuelle und politische Freiheiten als Konzept gegen die west­lichen pluralistischen Gesellschaften. In vielen öst­lichen EU-Mitgliedstaaten und in den Ländern der öst­lichen Nachbarschaft herrschen wieder Ängste vor militärischer Aggression und wirtschaft­licher und politischer Destabilisierung durch eine rus­sische Politik, die interna­tionale Grenzen und Verträge infrage stellt. Und auch in unseren Gesellschaften machen sich Populisten von Links und Rechts bestehende Ängste angesichts einer zunehmend unüberschaubareren, globalisierten Welt zunutze, um neuen Na­tionalismus und Misstrauen gegenüber unserer demokratischen Ordnung zu säen. Die Gedanken von Franz Josef Strauß und Theo Waigel, zu unterschied­ lichen Zeiten in unterschied­lichem Kontext angestellt, haben bis heute Gültigkeit und sind auch für die CSU fester Bestandteil ihres Erbes. Unser west­liches Wertemodell bleibt Grundlage von Frieden, Wohlstand und sozialem Dialog in unseren Gesellschaften. Nur wenn wir zu unseren Überzeugungen stehen, wenn wir sie verteidigen und nur, wenn wir das gemeinsam mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern tun, werden wir unsere Werte bewahren und weiterhin Beispiel für Menschen in aller Welt sein können, die in Freiheit und Demokratie leben wollen. Gespeist aus der christ­lichen Ideengeschichte und ausgestattet mit dem christ­ lichen Wertefundament, steht die Konzentra­tion auf Werte in der Politik für die erfolgreiche Verbindung ­zwischen individueller Freiheit und gesamtgesellschaft­ lichen Lösungen. Nur eine Gesellschaft, die Schutz und Heimat bietet, ermög­ licht dem Einzelnen auch die freie Entfaltung auf Basis seiner individuellen Mög­lichkeiten. Der Einzelne und das Ganze – kein Widerspruch, sondern notwendige Ergänzung. Nur wer mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, kann kraftvoll und zuversicht­lich nach vorne blicken. Im europäischen Einigungsprozess zeigt sich diese Verbindung beim Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, wie das Streben nach einer konsolidierten Rechtsgemeinschaft und einem Europa ohne innere Barrieren auch oft bezeichnet wird. Freiheit und Sicherheit zugleich – das kann nur über Europa gelingen. So wurde denn auch der Abbau der Schlagbäume

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im Schengen-­Raum begleitet durch eine Ausweitung der Polizei- und Justizzusammenarbeit. Klar ist aber auch: Wo eine Gemeinschaft ist, da sind auch Grenzen. Europa ist nicht beliebig, sondern in seiner Ideengeschichte und historischen Zugehörigkeit ein Raum, der auch ein Ende findet. Und gerade in der Debatte um Finalität, die immer wieder aufflammt, muss sich Europa reiben: nur so entsteht in der deut­lichen und konstruktiv zu führenden Auseinandersetzung die notwenige inhalt­liche Schärfe, um den Menschen in Europa klare Alternativen und Lösungsvorstellungen zu bieten. Achtung des Subsidiaritätsprinzips: den Menschen in den Mittelpunkt stellen Der zweite Eckpfeiler der auch aus der bayerischen Heimat-­Tradi­tion heraus entwickelten Europapolitik der CSU ist das Subsidiaritätsprinzip, das direkt anknüpft an die christ­lich basierte Wertedebatte mit ihrem Fokus auf die Achtung des Einzelnen. Denn nur wer bei der Beachtung des einzelnen Bürgers anfängt und diesen in den Mittelpunkt rückt, kann darauf eine Zuständigkeitspyramide aufbauen. Entschieden werden darf nur auf der politischen Ebene, wo es den Menschen nützt – das ist der Kerngedanke des Subsidiaritätsprinzips. Und dass das sperrige Wort „Subsidiarität” – noch vor wenigen Jahren unbekannt außerhalb von Föderalstaaten wie Deutschland – mittlerweile auch in den Brüsseler Wortschatz Eingang gefunden hat, liegt nicht zuletzt an der beharr­lichen Arbeit der CSU in Berlin wie in Brüssel. Das technokratische Europa der Hinterzimmer muss einem offenen politischen Diskurs weichen, denn nur so kann unsere Gesellschaft nach einer intensiven Debatte geschlossen und gestärkt nach vorne marschieren. Sicher, dieser Prozess braucht Zeit. Demokratie dauert; Entscheidungen werden nicht von oben vorgegeben; es muss sich ein Konsens über künftige politische Prioritäten und die zuständigen Lösungsebenen erst herausschälen. Wie wichtig dies ist, zeigt der Blick zurück auf die letzten Wahlen zum Europäischen Parlament 2014. Erstmals in der Geschichte der Europäischen Union traten mit Jean-­Claude Juncker und Martin Schulz zwei Spitzenkandidaten gegeneinander an. Zwei Parteienfamilien, Europas Christdemokraten in der Europäischen Volkspartei und Europas Sozialdemokraten, rangen um die Mehrheit im Europäischen Parlament und den Spitzenposten der Europäischen Kommission. Erstmals wurde so für alle Bürger in der Person der beiden Spitzenkandidaten Politik sichtbar. Politische Alternativen bekamen ein Gesicht. Wer für mehr Wettbewerbsfähigkeit, Subsidiarität, und Bürokratieabbau stimmen wollte, machte sein Kreuz bei einer EVP-Mitgliedspartei und damit Jean-­ Claude Juncker.

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Die Europawahl wurde so zu einer Richtungs- und Entscheidungswahl. Sicher, dieser Prozess war und ist nicht perfekt, geschweige denn abgeschlossen. Aber er wird weitergehen, denn es ist nur schwer vorstellbar, dass sich dieser Grad an Transparenz und Mitsprache für die Bürger Europas zurückdrängen lässt. Aber auch das ist eben eines der Kernanliegen der CSU in der europäischen Politik: das Offenlegen von politischen Op­tionen durch das Herausschälen klarer Alternativen – personell und inhalt­lich. Die Struktur und Prioritäten der Europäischen Kommission beweisen eindrucksvoll, wie der Wählerwille auch auf europäischer Ebene in klare politische Entscheidungen auf Basis eines zuvor zur Wahl gestellten politischen Programms gegossen werden kann. Die Europäische Kommission unter Führung von Jean-­Claude Juncker hat mit ihrer neuen Struktur den deut­lichen Willen zu erkennen gegeben, das Problem der überbordenden Regulierungswut an der Wurzel zu bekämpfen. Sieben Vizepräsidenten haben innerhalb des Kommissarskollegiums nun die Aufgabe, die Arbeit der einzelnen EU -Kommissare besser zu koordinieren und dafür zu sorgen, dass alle an einem Strang ziehen anstatt in einem Fach-­Silo Parallelarbeit zu leisten. Gleichzeitig ist es Aufgabe der Vizepräsidenten, dafür zu sorgen, dass nur politisch notwendige Vorschläge präsentiert werden: Qualität statt Quantität, und damit der Kerngedanke des CSU -Subsidiaritätsdenkens. Diese Entwicklung setzt sich fort im Europäischen Parlament, wo die Europäische Volkspartei als tragende Säule der EU -Kommission einerseits klare parlamentarische Unterstützung für die Vorschläge liefert, und andererseits die Alternativen offenlegt von konstruktiver Europapolitik und wirkungsloser Fundamentalkritik. Die Europäische Union ist und bleibt ein Gebilde in Bewegung, das ständig aus- und umgebaut wird. Die CSU sorgt dafür, dass in d­ iesem Haus Europa mit seinen vielen kleinen und großen Baustellen, Ausbesserungen und Verschönerungen die Bewohner – die Bürger unseres Landes – nicht zu kurz kommen. Die Besinnung auf den Menschen hinter den Mauern ist und bleibt der Kern der Europapolitik der CSU – jetzt mehr denn je. Das auch von der CSU aufgebaute Spannungsfeld z­ wischen Subsidiarität und vertiefter Integra­tion verwandelt sich so in ein Kraftfeld, aus dem beide Seiten – Na­tionalstaat und europäische Ebene – gestärkt hervorgehen, und das gleichzeitig den Fokus auf den einzelnen Menschen bewahrt. Denn wenn uns die Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre eine Lehre erteilt hat, dann sicher­lich die, dass Europa nur dann erfolgreich sein kann, wenn es von den eigenen Bürgern getragen wird. Bayern ist ein Land im Herzen Europas; ein Land, das auch und gerade dank der CSU den europäischen Einigungsprozess entscheidend mitgeprägt hat. Mit einer festen Heimat- und Werteverbundenheit Europa gestalten: das ist eben

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kein Widerspruch, sondern Ansporn. Denn die Donau, dieser große europäische Fluss und Symbol für unseren Kontinent, fließt eben auch durch unsere bayerische und zugleich europäische Heimat.

1 Theo Waigel: Vom finanzpolitischen Alltag zur europäischen Vision, in: Unsere Zukunft heißt Europa. Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion. Düsseldorf 1996, S. 9 – 29. 2 Franz Josef Strauß: Rede im Deutschen Bundestag am 10. Juli 1952 anläss­lich der Ratifika­ tion des EVG-Vertrages. 3 Franz Josef Strauß: Entwurf für Europa. Stuttgart 1966, S. 78 f.

Die Niederlande Einheit in Vielfalt Jan Peter Balkenende

„Für kein anderes Volk der Welt bildet der Grund und Boden, auf dem es lebt, so nachweis­lich das Fundament seiner Entwicklung und Zivilisa­tion, wie für das niederländische. Seit nahezu den ersten historischen Anfängen dieser Region hatten die Bewohner des Rhein-­Maas-­Deltas ihr eigenes Schicksal, ihre eigene Art, die stark durch den Charakter ihres Grund und Bodens bestimmt waren.“ Mit diesen Worten beginnt das 1934 erstmals erschienene Buch „De Lage Landen bij de Zee. Een Geschiedenis van het Nederlandse Volk“ der beiden namhaften Historiker Jan und Annie Romein (Die Niederlande an der See. Eine Geschichte des niederländischen Volkes). Sie beschreiben darin auf treffende Weise die außergewöhn­liche geographische Lage der Niederlande, die großen Einfluss auf das Leben, Wirken und Denken der Niederländer gehabt hat. Die Geschichte der Niederlande ist eine Geschichte der großen Vielfalt. Das ruft zugleich die Frage nach der Einheit hervor, nach dem, was die Niederländer miteinander verbindet. Einheit in Vielfalt, so lautet das Thema d ­ ieses Beitrags. Es ist ein Beitrag zur Festschrift anläss­lich des 70. Geburtstages von Dr. Hans-­Gert Pöttering, der die Bedeutung der Einheit in der Vielfalt nie aus dem Auge verloren hat. In ­diesem Beitrag möchte ich zunächst dem Thema der Vielfalt meine Aufmerksamkeit widmen. Was macht die Vielfalt der Niederlande aus? Anschließend kommt das Thema der Einheit zur Sprache. Das dritte Thema behandelt die Einheit in der Vielfalt innerhalb der niederländischen Politik und die Rolle der Christdemokratie. Vielfalt Zu Beginn unserer Zeitrechnung waren die Niederlande nicht mehr als eine Sumpflandschaft mit vereinzelten Siedlungen. Die Römer ließen ihren Einfluss gelten, doch von Einheit konnte nicht die Rede sein. Daran hat sich über Jahrhunderte nichts geändert. Die Niederlande waren ein Land mit Dörfern und Städten, Grafschaften und lokalen Gemeinden. Schritt für Schritt entwickelte sich der Handel. Der erste, der die Niederländer auf breiter Ebene zu vereinigen wusste, war Wilhelm von Oranien. Er widersetzte sich der spanischen Vorherrschaft und der Einschränkung der Glaubensfreiheit. Seinen Freiheitskampf musste Wilhelm 1584 mit dem Tod bezahlen. Auch die Reforma­tion hat einen unverkennbaren Beitrag zur Entstehung der Niederlande geleistet. Doch trotz des dominanten Charakters der evange­lischen K ­ irche in jener Zeit bot eine Stadt wie Amsterdam auch Platz für Menschen aus anderen Ländern und Kulturen und mit einer anderen Religion.

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Das 17. Jahrhundert gilt als das Goldene Jahrhundert der Niederlande. Amsterdam war damals das globale Finanzzentrum. Die Niederlande wurden zu einer Seefahrerna­tion. 1602 wurde das erste multina­tionale Unternehmen gegründet, die Vereenigde Oostindische Compagnie (Niederländische Ostindien-­Kompanie, VOC ). Es war die Zeit der großen Meister in der Malerei. Das Goldene Zeitalter war an erster Stelle vor allem ein Ausdruck von Unternehmergeist und interna­tionaler Orientierung. Das begüterte Bürgertum spielte eine zentrale Rolle. Doch auch einfache Leute konnten die Aktien der Niederländischen Ostindien-­Kompanie erwerben. In verwaltungstechnischer Hinsicht entwickelten sich die Niederlande anders als andere Länder. Hier wurde keine autokratische Monarchie gegründet, sondern die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, auch die Vereinigten Niederlande genannt. Das Haus Oranien-­Nassau spielte eine bedeutende Rolle in den damaligen Niederlanden. Die Macht der Oranier war jedoch durch Regenten und Verwalter begrenzt, die in den einzelnen Provinzen und Städten herrschten. Die Oranier konnten ihrerseits häufig auf die Unterstützung des einfachen Volkes zählen. Während in anderen Ländern Könige den Thron bestiegen, waren die Oranier in den Niederlanden ledig­lich Statthalter. Auch auf religiösem Gebiet herrschte Vielfalt. Der Protestantismus galt als offizielle Religion. Die calvinistischen Regenten hatten einen großen Machteinfluss. Andersdenkende wurden hingegen zurückgesetzt, wenn nicht gar diskriminiert. Dennoch sind die Historiker Blom und Lamberts der Ansicht, dass die niederländische Republik in einem Europa des Ancien Régime eine Oase der Freiheit und Toleranz war. Aus Frankreich vertriebene Hugenotten waren in den Niederlanden willkommen. Innerhalb des Protestantismus kamen religiöse Streitfragen auf, ein weiterer Beweis für die Vielfalt der Niederlande. Die Franzö­sische Revolu­tion war von großem Einfluss, auch in den Niederlanden. Das Zunftsystem fand ein Ende. Das Bürger­liche Gesetzbuch wurde eingeführt. Die Niederlande bekamen eine neue verwaltungstechnische Grundfeste. Der Einheitsstaat entstand, in dem für die Oranier kein Platz mehr war. Erst, als die Macht Napoleons gebrochen war, wurden die Oranier wieder zurückgeholt. 1813 wurden die Niederlande zum Königreich, das vom König und Kaufmann Wilhelm I. regiert wurde. Der Macht ­dieses autokratischen Fürsten wurden im Grundgesetz von 1848 Zügel angelegt. Die staatsrecht­liche Grundregel der Ministerverantwort­lichkeit wurde eingeführt: Der Monarch ist unverletz­lich, die Minister sind verantwort­lich. Seitdem sind die Niederlande eine konstitu­ tionelle Monarchie. Die Republik der Niederlande mit ihren Regenten, Adeligen und Zünften war einer konstitu­tionellen Monarchie gewichen, mit neuen politischen Strömungen und einer wirtschaft­lichen Erneuerung, die in engem Zusammenhang mit der industriellen Revolu­tion stand. Mit dem ungebremsten Kapitalismus kamen zugleich tiefgehende ­soziale Fragen auf, die eine Sozialgesetzgebung erforder­lich machten.

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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Wirtschaft ein völlig neues Angesicht bekommen, die Gewerkschaftsbewegung Einzug in die Gesellschaft genommen und die römisch-­katho­lische ­Kirche ihre Posi­tion beacht­lich ausgebaut. Das Fundament für eine Stärkung der Rolle des Parlaments wurde gelegt. Zugleich zeichnete sich noch eine andere Entwicklung ab, die zu einer ideolo­gischen Erstarrung führte, auch als „Versäulung“ bezeichnet. Insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlossen sich immer mehr Niederländer einer bestimmten weltanschau­lichen Richtung an. Die Katholiken beispielsweise hatten ihre eigenen Gewerkschaften, Zeitungen, Schulen, Rundfunkanstalten und Wohnungsbaugesellschaften. Gleiches galt für die Protestanten. Liberale und Sozialdemokraten wiederum gehörten der neutralen Säule an. Das kirch­ liche, gesellschaft­liche, politische und sozialökonomische Leben der Menschen spielte sich innerhalb der einzelnen Säulen ab. Die Anführer der einzelnen Säulen sorgten für die Abstimmung untereinander, ein Prozess, der auch als Pazifika­tion bezeichnet wird. Diese Versäulung setzte sich bis in die 1960er Jahre des vergangenen Jahrhunderts fort. Auch sie ist ein typisches Beispiel für die Vielfalt der Niederlande. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich auf interna­tionaler Ebene eine Tendenz zur Dekolonisa­tion. Auch die Niederlande waren davon betroffen. In Niederländisch-­Ostindien, dem heutigen Indonesien, wuchs der Widerstand gegen die niederländische Vorherrschaft. Die Unabhängigkeitsbestrebungen führen nach einem erbitterten Kampf zur Gründung der Republik Indonesien. Militärangehörige von den Molukken, einer Inselgruppe im indischen Archipel, die den Niederlanden treu geblieben waren, kamen jetzt in die Niederlande. Anfäng­lich blieb eine Integra­tion aus. Surinam, das die Niederlande um 1670 nach dem Verlust von Nieuw-­Amsterdam (Neu-­Amsterdam, das heutige Manhattan) an die Engländer erhalten hatten, wurde 1975 unabhängig. Viele Surinamer siedelten sich nun in den Niederlanden an. Die 1960er Jahre waren von einer starken wirtschaft­lichen Expansion bestimmt, die Druck auf den Arbeitsmarkt ausübte. Arbeiter aus dem Mittelmeerraum wurden für ungelernte Niedriglohntätigkeiten angeworben. Die anfäng­liche Annahme, sie würden nur vorübergehend hier arbeiten und anschließend in ihre Heimatländer zurückkehren, wich der Erkenntnis der dauerhaften Niederlassung, mit Familienzusammenführung und der Entstehung von Subkulturen ohne eine wirk­liche Integra­tion. An die Stelle der übersicht­lichen, in Säulen unterteilten Niederlande aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg trat nun eine wesent­lich pluralistischere Gesellschaft. Von den heutigen 17 Millionen Einwohnern haben gut eine Million Menschen einen islamischen Hintergrund, während die Niederlande selbst in den vergangenen Jahrzehnten einen intensiven Prozess der Säkularisierung und Entkirch­ lichung vollzogen haben. Selbstverständ­lich ist dies alles nur eine grobe Einschätzung. Eines steht jedoch fest: Die Niederlande waren seit jeher ein Land der Vielfalt. Das ist nicht

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zuletzt eine Folge der geographischen Lage. Das Leben im Delta von Rhein, Maas und Schelde zog diese Vielfalt nach sich. Noch immer sind die kulturellen Auswirkungen der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen erkennbar. Friesland hat beispielsweise eine eigene Sprache und die Kultur des seit jeher katho­lischen Südens ist eine andere als die in rest­lichen Teilen des Landes. Da gibt es Unterschiede ­zwischen Stadt und Land. Die Niederlande sind ein Land des Ackerbaus, aber auch des Handels und ­später der Industrialisierung. Religiöse Streitfragen hat es immer gegeben, nicht nur z­ wischen Anhängern der römisch-­katho­lischen und evange­lischen ­Kirchen, sondern auch unter den Protestanten untereinander. Ein Ausländer seufzte einmal: „Ein Niederländer, ein Christ, zwei Niederländer, eine ­Kirche, drei Niederländer, zwei ­Kirchen.“ Die in Säulen unterteilten Niederlande wichen schließ­lich der Entkirch­lichung und dem Einzug anderer Kulturen und Religionen. Die Frage, die sich im Anschluss daran stellt, lautet daher: Welche Elemente halten die Niederlande zusammen? Was macht die Einheit aus, die es braucht, um als Land oder Na­tion fortbestehen und wirken zu können? Einheit Dieser Beitrag begann mit einem Hinweis auf die geographische Lage der Niederlande, auf den „Charakter des Grund und Bodens“. Damit ist das erste verbindende Element gemeint: der Kampf gegen das Wasser. Die Niederlande führten einen ständigen Kampf gegen Naturgewalten und Überschwemmungen. Es war ein Kampf, der nur gemeinsam mög­lich war. Im Mittelalter widmeten sich die Klosterorden dieser Aufgabe. Die Wartung der Dünen und Deiche erforderte dabei die Zusammenarbeit aller Beteiligten. Die Einpolderung – das Gewinnen von Land aus dem Wasser – wurde zum gemeinsamen Unternehmen. Diesem historischen Hintergrund ist das starke Profil der Niederlande auf dem Gebiet des Wassermanagements zu verdanken. Ein weiteres Element der Einheit ist die als unverzichtbar empfundene Zusammenarbeit. Ihre Bedeutung im Kampf gegen das Wasser war offenkundig. Auch die Niederländische Ostindien-­Kompanie war ein Beispiel für die Zusammenarbeit mehrerer niederländischer Provinzen und ihrer Verwalter, aber auch der Ak­tionäre. Sie entsprang dem Bewusstsein, dass Risiken und Gewinne bei riskanten interna­tionalen Opera­tionen auf mehrere Schultern verteilt werden sollten. Die tradi­tionelle wirtschaft­liche Organisa­tion der Zünfte war zwar konservativ – ein Aufstieg war nur über den Werdegang vom Lehrling über den Gesellen zum Meister mög­lich. Zugleich war es aber auch ein System, in dem ­soziale Risiken abgefangen wurden. Im 19. Jahrhundert wurden viele Länder mit einem vehementen Klassenkampf z­ wischen Arbeit und Kapital konfrontiert. Das war der Nährboden für die kommunistische Bewegung. In den Niederlanden wurde im Vergleich zu anderen Ländern hingegen verstärkt Nachdruck auf

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die Sozialgesetzgebung und die Gestaltung der Arbeit (Unternehmensorganisa­ tion) gelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Niederlande im Zeichen ­­ des Wiederaufbaus und der Erneuerung, mit einer gemäßigten Lohnentwicklung und einer weitgehenden Koopera­tion ­zwischen der Regierung und den Sozialpartnern. Der schweren Wirtschaftskrise zu Beginn der 1980er Jahre wurde durch den in den Niederlanden berühmten „Akkoord van Wassenaar“, den Vertrag von Wassenaar, aus dem Jahr 1982 Einhalt geboten. Darin hatten die Gewerkschaftsführer und Arbeitgeberverbände weitreichende sozialökonomische Vereinbarungen getroffen: Lohnmäßigungen im Tausch gegen den Erhalt von Arbeit. In der damaligen Zeit wurde häufig das Wort „Beratungsökonomie“ benutzt. Auch die Reformbemühungen des zweiten Kabinetts Balkenende (2003 – 2006) kamen trotz erheb­licher Kritik der Gewerkschaften zu guter Letzt in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern zustande. Das aus jüngster Zeit stammende Energieabkommen, das auf eine beacht­liche Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien am Energieangebot ausgerichtet ist, ist ebenfalls das Ergebnis der Zusammenarbeit z­ wischen Regierung, Wirtschaft und Umweltorganisa­tionen. Weitere Beispiele aus jüngster Vergangenheit sind Triple Helix-­Konstruk­tionen im Innova­tionsbereich: Innova­tion durch intensive Zusammenarbeit von Regierung, Industrie und Bildungsforschungseinrichtungen. Andere Formen der Zusammenarbeit sind Koopera­tionsverbände großer Unternehmen und Startups oder die Nachhaltigkeitsstrategien von Unternehmen, deren Augenmerk insbesondere auf die Strategie innerhalb der gesamten Kette und den Dialog mit allen Interessengruppen ausgerichtet ist und nicht auf die Gruppe der Ak­tionäre beschränkt bleibt. Als gemeinsames Stichwort für die Zusammenarbeit wird häufig das Wort „Poldermodell“ verwendet. Fakt ist, dass die Niederländer trotz augenschein­lich unüberwindbarer Differenzen in ihrer Sichtweise den gemeinsamen Dialog niemals abbrechen, um allen Differenzen zum Trotz dennoch ein gemeinsames Ergebnis zu erzielen. Ein weiteres, drittes Element der Einheit betrifft die interna­tionale Ausrichtung. Seit Jahrhunderten schauen die Niederländer über ihre Grenzen hinaus. Dort liegen unsere Interessen und unsere Mög­lichkeiten. Am deut­lichsten war dies im Goldenen Jahrhundert zu erkennen. Doch schon im Mittelalter war von interna­tionaler Zusammenarbeit die Rede, unter anderem über den Verbund der Hansestädte. Im 17. Jahrhundert erreichten niederländische Schiffe die Küsten Australiens, Japans, des heutigen Indonesiens, Malaysias und Afrikas. Es waren Niederländer, die das Fundament für das gesellschaft­liche und ökonomische Leben Amerikas legten, in Neu-­Amsterdam, dem späteren New York, wie Russell Shorto in seinem Buch „New York – Insel in der Mitte der Welt“ so eingehend beschrieb. Die niederländischen Seehelden wurden übermächtig, bis ihre Macht von anderen Na­tionen, an der Spitze Großbritannien, gebrochen wurde. New York ging an die Engländer im Tausch für die niederländische Vorherrschaft in Surinam. Die Niederlande erhielten zudem die Macht über sechs

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Inseln in der Karibik. Es war eine Zeit, die auch schwarze Seiten in der niederländischen Geschichte hinterließ: die Zeit des Sklavenhandels und der Sklaverei. Und auch die Bevölkerung in Niederländisch-­Ostindien wurde gnadenlos unterdrückt. Was auch immer man von ­diesem Teil der Geschichte halten mag: Die Orientierung auf andere Länder ist ungebrochen. Manche Niederländer verließen unter anderem aus religiösen Gründen ihr eigenes Land, um beispielsweise in den Vereinigten Staaten eine neue Existenz aufzubauen. Ortsnamen wie „Holland“ und „Zeeland“ im Bundesstaat Michigan zeugen davon. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten viele Niederländer nach Kanada und Australien aus. Heute findet man uns auf der ganzen Welt: Unternehmen, Wissenschaftler und Studenten, Touristen, Architekten, Musiker und gesellschaft­liche Organisa­ tionen. Wer erfolgreich operieren will, muss über die eigenen Landesgrenzen hinausblicken. Auch im Hinblick auf diese Erkenntnis ist von Einheit die Rede. Ein weiteres, viertes Element betrifft die Toleranz. Das Bild von der Einheit der Niederlande sollte nicht allzu idyl­lisch skizziert werden. Denn es ging oftmals hart zur Sache. Die niederländische Geschichte ist auch eine Geschichte erbitterter Glaubenskämpfe, krasser gesellschaft­licher Gegensätze, unversöhn­licher Befürworter und Gegner der Oranier und vieler weiterer Konflikte. Dennoch war der Toleranzgrad in den Niederlanden immer relativ hoch. Auch wenn die Meinungen grundlegend voneinander abwichen, so war es doch immer mög­lich, die Unterschiede zu kanalisieren. Die Versäulung ist ein gutes Beispiel dafür. Die Menschen lebten völlig getrennt voneinander in ihren eigenen Lebens- und Denkwelten, und dennoch gelang es den Führern der Säulen, Gegensätze zu überwinden und gesellschaft­liche Entwicklungen beherrschbar zu machen. Die Toleranz hängt mit zwei Aspekten zusammen. Die Niederlande sind nicht besonders hierarchisch ausgeprägt. Selbstverständ­lich gibt es Unterschiede, was Status und Einkommen betrifft. Dennoch war der Tenor immer darauf ausgerichtet, Machtansprüche zu bezähmen. Die Regenten und Verwalter wollten die Entwicklungen immer selbst im Griff behalten. So musste sich König Wilhelm II. nach der Franzosenzeit und dem Zustandekommen des Grundgesetzes im Jahr 1848 mit einer stark beschränkten Machtposi­tion begnügen. Ein anderer Aspekt ist, dass Niederländer häufig sehr direkt sind. Das kann auf Ausländer abstoßend wirken. Im Laufe der Zeit heißt es jedoch häufig auch, dass man dadurch bei den Niederländern immer weiß, woran man ist, und unnötige Unklarheiten ausgeräumt sind. Erst in der jüngeren Zeit gibt es mehr und mehr Tendenzen zur Härte und Intoleranz. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Migra­tionsproblem. Das fünfte Element der Einheit betrifft die Bedeutung von Kreativität und Unternehmergeist. Es wäre überflüssig, nochmals auf das Goldene Jahrhundert hinzuweisen, und dennoch fällt auf, wie ungemein effektiv die Schiffsbauer jener Zeit neue Erkenntnisse entwickelten und in die Praxis umsetzten. Jüngere Beispiele findet man im Agrarsektor. Die Niederlande sind nach den Vereinigten Staaten der zweitgrößte Exporteur von Landwirtschaftsprodukten. Der

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Gartenbau ist ein tradi­tioneller Sektor, der heute mit viel High Tech verbunden, kapitalintensiv, hochgradig innovativ und auf globaler Ebene wettbewerbsfähig ist. Auch die kreative Industrie – Architektur, Design und Musik – ist zum Exportschlager avanciert. Wassermanagement und Wasserqualität passen zum Charakter der Niederlande. Immer wieder stehen niederländische Unternehmen auf dem Dow Jones Sustainability Index ganz oben. Acht niederländische multina­tionale Unternehmen haben ihre Kräfte zur Dutch Sustainable Growth Coali­tion gebündelt. Sie sind der Überzeugung, dass Unternehmen einen Beitrag dazu leisten sollten, nach Lösungen für große globale Fragen wie beispielsweise Klimawandel, Energieeffizienz, Menschenrechte und Rohstoffknappheit zu forschen. Auch viele junge Unternehmensgründer haben bahnbrechende Ideen, die zur Lösung sozialökonomischer Fragen beitragen. Gleichzeitig besteht die Notwendigkeit, auf die neue Wirk­lichkeit mit ihren Datenmassen, dem Internet der Dinge und 3D-Druckverfahren einzugehen. Ein sechstes und letztes Element der Einheit, das mit Sicherheit genannt werden sollte, ist das Haus Oranien-­Nassau. Viele Jahrhunderte hindurch haben die Mitglieder ­dieses Hauses eine wichtige und nicht selten sogar verbindende Rolle in der niederländischen Gesellschaft gespielt. Das galt für Wilhelm von Oranien, die vielen Oranier, die nach ihm eine Rolle im Militär und in der Verwaltung spielten, die Könige nach der Franzosenzeit, die Königinnen des 20. Jahrhunderts, die Rolle, die Königin Wilhelmina während des Zweiten Weltkriegs spielte und die Rolle des jetzigen Königs Willem-­Alexander und seiner Frau, Königin Máxima, sowohl auf na­tionaler als auch interna­tionaler Ebene und im Hinblick auf Angelegenheiten wie Handelsmissionen. Die niederländische Monarchie ist von dynamischer Natur. Sie hat sich den geänderten Zeiten und Voraussetzungen angepasst. Die Monarchie und die Rolle der Oranier sind in der niederländischen Gesellschaft fest verankert. Der Versuch des niederländischen Sozialdemokraten Pieter Jelles Troelstra im November 1918, eine sozialistische Revolu­tion auszurufen, verlief im Sande. Stattdessen wurden die Sympathien für die Oranier dadurch noch gestärkt. Dies führte letztend­lich dazu, dass die Sozialdemokratie im Interbellum keine bedeutende Rolle mehr spielte. Einheit in Vielfalt in der Politik Wenn ein einziges Wort auf die Politik der Niederlande zutreffend ist, dann ist es der Begriff der Vielfalt. Die politische Landschaft der Niederlande ist ausgesprochen vielfältig. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war die Politik eine regional geprägte, persön­liche Angelegenheit. Die moderne und in mehrere Lager unterteilte Parteienbildung begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die erste politische Partei trug den Namen Anti-­Revolu­tionaire Partij (Anti-­ Revolu­tionäre Partei, ARP ), die 1879 gegründet und von Abraham Kuyper geleitet wurde. Die Partei war protestantisch-­christ­lich geprägt und widersetzte

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sich dem Gedankengut der franzö­sischen Revolu­tion – daher der Name Anti-­ Revolu­tionäre Partei. Stattdessen vertrat man die Auffassung, dass es Prinzipien einer höheren Ordnung als die der Volkssouveränität gibt. Kuyper betonte insbesondere die persön­liche Verantwortung und die Autonomie zahlreicher gesellschaft­licher Bereiche – Arbeitsorganisa­tion, Bildung, Medien, Vereinsleben –, die vom Staat als ­solche anzuerkennen sind (Souveränität im eigenen Kreis). Die Mitglieder der ARP waren angesichts des allgemeinen Wahlrechts und der politischen Strategie jedoch sehr zerstritten. Das führte zur Gründung der Christelijk-­Historische Unie, der Christ­lich-­Historischen Union im Jahr 1908. Einige Jahre ­später, im Jahr 1918, wurde erneut eine Partei christ­licher-­ reformierter Prägung gegründet, die jedoch konservativer ausgerichtet war: die Staatkundig Gereformeerde Partij, eine reformierte politische Partei. Die Katholiken fanden sich im 19. Jahrhundert in mehreren Wahlvereinen zusammen. Eine verbindende Rolle spielte dabei Herman Schaepman mit seiner Schrift: „Eene katholieke partij. Eene proeve van een program“ (Eine katho­lische Partei. Ein Auszug aus einem Programm, 1883). Doch auch in katho­lischen Kreisen gab es Meinungsverschiedenheiten. Erst 1904 wurde der Algemeene Bond van R. K. Kiesvereenigingen (Allgemeiner Bund der römisch-­katho­lischen Wahlvereine) gegründet. In der Praxis war zwar seit Ende des 19. Jahrhunderts von der Römisch-­Katho­lischen Staatspartei die Rede. Die Partei selbst kam offiziell jedoch erst 1926 zustande. Die erste sozialistische Partei im niederländischen Parlament war der 1881 gegründete Sociaal Democratische Bond (Sozialdemokratischer Verbund). Die Bewegung radikalisierte sich unter der Führung von Ferdinand Domela ­Nieuwenhuis und unternahm auch außerparlamentarische Ak­tionen. Die Sociaal Democratische Arbeiderspartij (SDAP), eine sozialdemokratische Arbeiterpartei, entstand 1894 und entschied sich unter der Führung des bereits genannten Pieter Jelles Troelstra für einen gemäßigteren, parlamentarischen Weg. Mitglieder, die radikaler eingestellt waren, verließen die SDAP 1908 wieder. 1918 wurde die Partei in Communistische Partij Holland umbenannt, seit 1935 ist sie die Communistische Partij van Nederland (die Kommunistische Partei der Niederlande, CPN). Auch unter den Liberalen war eindeutig von Vielfalt die Rede. Die Liberale Unie, also die Liberale Union, war die erste liberale Partei. Sie wurde 1885 gegründet. Die konservativen Kräfte innerhalb dieser Strömung verließen die Union jedoch 1894 wieder. Dies führte 1906 schließ­lich zum Bond van Vrije Liberalen, dem Bund der freien Liberalen. Die progressiveren Kräfte unter der Liberalen, die unter anderem für das allgemeine Wahlrecht plädierten, errichteten 1901 den Vrijzinnig Democratische Bond, eine linksliberale Partei. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Regierung mehrmals von Liberalen angeführt, ansonsten jedoch von Politikern aus dem Spektrum von RKSP, ARP und CHU. Während des Zweiten Weltkriegs wurde eine neue sozialwirtschaft­liche Ordnung für die Zeit nach dem Krieg diskutiert. Man war

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der Überzeugung, dass nach der Krise der 1930er Jahre von Seiten der Regierung eine aktivere Politik erforder­lich war. Daneben wurde über neue politische Verhältnisse philosophiert, die einen Durchbruch einläuten sollten, um die in Säulen eingeteilten, gesellschaft­lichen und politischen Bindungen aufzubrechen. So sollte die Sozialdemokratie beispielsweise auch für Christen offen sein. Die Umstrukturierung der SDAP im Jahr 1946 in die sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA) ist dafür ein Beispiel. Sie blieb lange Zeit die größte Partei im linken Spektrum der Parteienlandschaft. In den 1950er Jahren spielte die PvdA mit Ministerpräsident Drees beim Wiederaufbau und bei der Erneuerung der Niederlande eine wichtige Rolle. In den 1970er Jahren drückte sie einen entscheidenden, linksorientierten Stempel auf die niederländische Politik. Neben der PvdA entstanden weitere Gruppierungen. Die kommunistische CPN machte auch nach 1945 weiter. 1957 wurde außerdem die linksorientierte Pacifistisch Socialistische Partij gegründet. 1970 kam es zur Abspaltung eines Teils der PvdA. Parteimitglieder, die mit dem radikalisierten Kurs der PvdA und deren Sichtweise in finanziellen und wirtschaft­lichen Fragen nicht einverstanden waren, gründeten 1970 die DS ‘70, die Democratisch Socialisten 1970. 1990 entstand Groen Links, eine grüne, linke Partei, die aus dem Zusammenschluss vier linker politischer Parteien hervorging. Die römisch-­katho­lische Staatspartij ging 1945 in die Katholieke Volkspartij (KVP) über. ARP und CHU blieben bestehen. 1980 gründeten die drei Parteien gemeinsam den Christen-­Democratisch Appèl (Christ­lich-­Demokratischer Aufruf, CDA). Diese neue Partei war mehr als nur eine Frage strate­gisch politischer Machtbildung. Es ging um die Erneuerung des Denkens in den Niederlanden, das in den 1970er Jahren stark polarisiert war. Die Parteien griffen jetzt auf authentische Prinzipien der Soziallehre der römisch-­katho­lischen ­Kirche – Personalismus, Solidarismus, Subsidiarität – und die zentralen Elemente christ­ lich-­protestantischen Gedankenguts zurück, unter anderem auf das Dogma der „Souvereiniteit in Eigen Kring“ (Souveränität im eigenen Kreis). Mit christdemokratischen Ausgangspunkten wie öffent­licher Gerechtigkeit, geteilter Verantwortung, Solidarität und Treuhänderschaft wurde ein Fundament für das Konzept einer verantwort­lichen Gesellschaft geschaffen. Neben der CDA gab und gibt es auch heute noch weitere christ­liche Parteien. 1948 wurde der Gereformeerd Politiek Verbond (GPV) gegründet, ein Beispiel für politische Parteienbildung im Kontext der kirch­lichen Spaltung. 1975 entstand im Gegenzug zur Gründung der CDA die Reformatorische Politieke Federatie (RPF). GPV und RPV bildeten 2001 gemeinsam die Christen Unie (Christenunion). In liberalen Kreisen wuchs die Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) zur einflussreichsten Partei heran. Sie war 1948 gegründet worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die VVD immer wieder an der Regierung beteiligt. Doch erst 2010 stellte die Partei zum ersten Mal den Ministerpräsidenten. 1966 wurde die Politieke Partij Democraten ’66 gegründet, die ­später in D66 umbenannt

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wurde. Die Partei war ein ausgesprochener Befürworter von Verwaltungsreformen, Demokratisierung, Referenden und freien Bürgermeisterwahlen. 2004 verließ Geert Wilders die Frak­tion der VVD und gründete eine eigene Bewegung, die spätere Partij van de Vrijheid. Mit dieser Skizzierung ist das Bild noch lange nicht vollständig. Denn da gab es und gibt es auch weiterhin noch viele andere Parteien: die Boerenpartij (Bauernpartei), die Partij voor de Dieren (Partei für die Tiere), die Lijst Pim Fortuyn (Liste Pim Fortuyn) und viele mehr. Warum diese Auflistung? Die kurze Skizze der Parteienbildung in den Niederlanden zeigt, dass das Land seit dem Ende des 19. Jahrhunderts viele politische Strömungen gekannt hat und nach wie vor kennt. Selbstverständ­lich sind da die drei Hauptströmungen: Christdemokratie, Sozialdemokratie und Liberalismus. Doch innerhalb und außerhalb dieser Strömungen herrscht Pluralismus. Anfäng­lich ging es um politische Säulen, die schnell zu den verschiedensten Aufspaltungen führten. Versuche, diese Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu durchbrechen, misslangen. In den 1960er Jahren fing es jedoch zu brodeln an. Neue Spieler wie D66 trugen zur Entstehung neuer politischer Einfallswinkel bei. Es kam zu einer politischen Polarisierung. Säkularisierung und Entkirch­ lichung veränderten die lebens- und weltanschau­liche Bühne. Der feste Anhang der Parteien wich schließ­lich einer großen Mobilität unter den Wählern. Populistische Stimmungsmache spielt eine große Rolle. Vielfalt also auch in der niederländischen Politik. Doch was hielt und hält die pluralistische Politik der Niederlande zusammen? Drei Aspekte fallen in ­diesem Zusammenhang auf. An erster Stelle besteht seit jeher die Einsicht, dass eine Zusammenarbeit unverzichtbar ist, gerade aufgrund des Pluralismus und der Ermangelung einer vorherrschenden politischen Strömung, ob im linken oder rechten Spektrum. Katholiken und Protestanten standen sich im 19. Jahrhundert in religiöser Hinsicht genau gegenüber, doch beide Richtungen waren sich darüber bewusst, dass sie einander brauchten, um die finanzielle Gleichstellung von öffent­lichen und privaten Bildungseinrichtungen durchzusetzen. Trotz klarer politischer Meinungsunterschiede bestand die Einsicht, dass die gravierenden sozialen Fragen des 19. Jahrhunderts mit Armut, Kinderarbeit und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen einer gemeinsamen Antwort bedurften. Die Niederlande sind ein Koali­tionsland. Vor dem Zweiten Weltkrieg ging es um die Zusammenarbeit ­zwischen christ­lichen und liberalen Parteien. In den 1950er Jahren waren es Koali­tionen aus Katholiken und Sozialisten. In den 1970er Jahren waren zwei christdemokratische Parteien (KVP und ARP) am Kabinett des Sozialdemokraten Den Uyl beteiligt. In den 1980er Jahren bestanden die Kabinette hauptsäch­ lich aus CDA und VVD. 1994 waren die Christdemokraten zum ersten Mal seit Beginn des vorherigen Jahrhunderts von der Regierung ausgeschlossen. Von 2002 bis 2010 stellte die CDA dann wieder den Ministerpräsidenten. Danach kam ein Ministerpräsident liberaler Prägung. Schließ­lich folgten Kabinette

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unterschied­licher Zusammensetzung. Es waren also immer Koali­tionskabinette, die in der Regel auf eine Stimmenmehrheit im Parlament setzen konnten. An zweiter Stelle steht der Respekt vor der parlamentarischen Tradi­tion und demokratischen Umgangsformen. Die Niederlande sind eine konstitu­tionelle Monarchie. Der König ist unverletz­lich, die Minister tragen die Verantwortung. Ein Kabinett kann nur fortbestehen, so lange es auf die Unterstützung der Mehrheit im Parlament vertrauen kann. Demokratische Beschlüsse werden respektiert. Auch der Dialog mit der Opposi­tion ist gewährleistet. Parlamentarische Spielregeln werden geachtet. Falsche Informa­tionen werden vom Parlament nicht akzeptiert. Das Parlament verfügt zudem über zahlreiche Instrumente, um die Aufgabe der Kontrolle zu übernehmen. Diese demokratischen Spielregeln und die eingerichteten Kontroll- und Überwachungsmechanismen sorgen für eine stabile Demokratie. Das nimmt nicht weg, dass die Aufmerksamkeit manchmal auf vordring­liche ­Themen und kurzfristige Fragen zugespitzt und gelegent­lich von einer Rollenvermischung ­zwischen erster und zweiter Kammer die Rede ist oder in der Debatte von Zeit zu Zeit ein rauer Umgangston vorherrscht. Im Kern ist die demokratische Tradi­tion in den Niederlanden jedoch fest verankert. Zu guter Letzt besteht trotz aller politischer Rhetorik und der manchmal lautstarken Debatten sowie gravierenden politischen Gegensätze das grundlegende Bewusstsein, dass man in politischer Hinsicht gemeinsam zu einem Ergebnis kommen muss. Allgemeines Wahlrecht, Sozialgesetzgebung, Gleichstellung von öffent­lichen und privaten Bildungseinrichtungen, Anerkennung des Pluralismus in der gesellschaft­lichen Mitte, Aufbau und Erneuerung nach dem Zweiten Weltkrieg, der Aufbau des Wohlfahrtsstaates, aber auch das langfristige Engagement, um Reformen umzusetzen, die Öffnung für mehr Marktwirkung, die Beteiligung an interna­tionalen Institu­tionen, Finanzsolidität, die Reak­tion auf demographische Veränderungen, die Förderung erneuerbarer Energien: Das alles entspringt der gefühlten Notwendigkeit, gemeinsam eine Lösung zu finden. In dieser Arena der politischen Vielfalt und Einheit hat die Christendemokratie immer eine große Rolle gespielt. Nicht nur im Rahmen der Regierungsverantwortung, wenn die Wähler den Auftrag dazu gaben, sondern insbesondere auch durch inhalt­liche Beiträge und die fortlaufende Prüfung der eigenen Ausgangspunkte in ihrem Verhältnis zu den sich ändernden gesellschaft­lichen, sozialwirtschaft­lichen und finanziellen Gegebenheiten. Die Christdemokratie hat sich stets für eine werteorientierte Politik entschieden, um dem Menschen und der menschlichen Würde gerecht zu werden. Das war auch der tragende Gedanke bei der Einrichtung des sozialen Sicherungssystems, der Gesundheitsfürsorge, der Altersversorgung, der Arbeitsbedingungen und der interna­ tionalen Solidarität. Die Gestaltung der niederländischen Gesellschaft ist stark von christdemokratischen Ideen wie Subsidiarität und Souveränität im eigenen Kreis geprägt. Gerade als sich herausstellte, dass der Sozialstaat über sein Ziel hinausgeschossen und in eine Krise geraten war, bot das christdemokratische

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Konzept einer verantwort­lichen Gesellschaft – in den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – neue Perspektiven. Die Christdemokratie vertritt außerdem den Standpunkt, dass Menschen nur in Beziehung zu anderen Menschen zu ihrem Recht kommen. Die Zweiteilung Staat und Markt oder Regierung und Individuum wurde immer abgelehnt. Die Christdemokratie hat stets die Bedeutung der gesellschaft­lichen Mitte, gesellschaft­licher Organisa­tionen und der Zivilgesellschaft betont. Im Gegensatz zu früher ist die Machtgrundlage für die Christdemokratie jedoch keine Selbstverständ­lichkeit mehr. Doch es gibt mehr als nur die machtpolitische Seite. Globale Entwicklungen machen deut­lich, dass die Bedeutung, die den Werten in ­diesem Jahrhundert zukommt, unverzichtbar ist. Das 19. Jahrhundert war in der west­lichen Welt das Zeitalter der industriellen Revolu­tion und der sozialen Frage. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Zeit der Machbarkeit der Gesellschaft durch den Staat, den Wohlfahrtsstaat. Das 21. Jahrhundert wird hingegen vielmehr das Jahrhundert der Werte sein, das Jahrhundert der Nachhaltigkeit. Nachhaltiges Wachstum und nachhaltige Geschäftsmodelle sind mit einer anderen mora­lischen Einstellung verbunden. Hier hat die Christdemokratie mit ihrer Ausrichtung auf Werte wie Verantwortung, Solidarität und Treuhänderschaft viel zu bieten. Die ausschließ­liche Orientierung auf den Staat oder den Markt ist überholt. Wir leben in einer Zeit neuer Allianzen. Allianzen z­ wischen Politik, Bildungsforschungseinrichtungen, Unternehmen und gesellschaftspolitischen Organisa­tionen. Auch hier gibt es bei der Verteilung und Aufteilung der Verantwort­lichkeit viele gemeinsame Berührungspunkte. Die Erneuerung selbst vollzieht sich in einem hohen Tempo und zieht große Veränderungen nach sich. Das erfordert von den Menschen, den Unternehmen und Organisa­tionen ein hohes Maß an Flexibilität. Die menschliche Würde muss daher einer erneuten Prüfung unterzogen werden. Interna­tionalisierung und Globalisierung werden unvermindert fortschreiten. Das bietet die Chance, völlig neue Lösungen für vordring­liche Fragen zu entdecken. Gleichzeitig sind damit auch große Risiken verbunden. Auch dabei können Normen und Werte, Verantwortungsbewusstsein und die gesetzten Grenzen Halt bieten. Politik und Leidenschaft gehören zusammen, ebenso wie Einheit und Vielfalt zusammengehören. Die Geschichte der Niederlande ist eine Geschichte der Vielfalt und Einheit zugleich, eine Geschichte, deren Motto lautet: „Leben und leben lassen.“ Das gilt für die Zusammensetzung der Bevölkerung, für Religion und Kultur und die sozialökonomischen Bedingungen. Es gilt in gleichem Maße aber auch für die Politik und die Christdemokratie. Hans-­Gert Pöttering kennt die niederländischen Verhältnisse. Er hat die Niederlande immer wieder besucht und ist ein Freund unseres Landes. Er weiß, wie komplex das Verhältnis ­zwischen Vielfalt und Einhalt gestaltet ist. Darin sieht er jedoch keine Bedrohung, sondern eine riesige Chance, die Hoffnung für die Zukunft vermittelt. So bemerkte er einmal: „Unsere kulturelle Vielfalt in

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Europa ist ein einzigartiger Reichtum, der sich widerspiegelt in der europäischen Philosophie, der Kunst, der Literatur, in Religion und Recht. Wir sind geeint durch unsere gemeinsamen Werte, die Würde des Menschen, die Menschenrechte, Demokratie, die Rechtsordnung und die s­ oziale Marktwirtschaft in ihren verschiedenen Ausprägungen.“ Für Hans-­Gert Pöttering steht fest: „Einheit in Vielfalt ist die Antwort auf die Geographie und Geschichte Europas sowie auf die Folgen der Globalisierung.“ Lieber Hans-­Gert, herz­lichen Glückwunsch zu Deinem 70. Geburtstag, vielen, vielen Dank für Dein Engagement für die Christdemokratie und alles Gute für die Zukunft.

Ein Haus und viele Geschichten Anmerkungen eines Warschauer Historikers Włodzimierz Borodziej

I. Hans-­Gert Pöttering habe ich 2007 kennengelernt, als der Präsident des Europäischen Parlaments mich zum stellvertretenden Vorsitzenden des Expertenausschusses ernannte, der unter dem Vorsitz von Hans Walter Hütter mit der Ausarbeitung der konzep­tionellen Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel beauftragt wurde. Die nach langen Diskussionen entstandenen Richtlinien wurden 2008 einstimmig von den Experten, ­später ebenso einstimmig vom Präsidium des Europäischen Parlaments verabschiedet bzw. gebilligt. Seit 2009 arbeite ich an dem Projekt als Vorsitzender des Wissenschaft­ lichen Beirats des entstehenden Hauses mit. Die Arbeit erfolgt innerhalb übersicht­licher Strukturen: Im Vordergrund steht das Aufbauteam um Taja Vovk van Gaal, das in täg­licher Kleinarbeit, in engstem Kontakt mit anderen Institu­tionen – mehreren Verwaltungsabteilungen des EP, Architekten und Designern, gesellschaft­lichen Organisa­tionen und Brüsseler Behörden, interna­tionalen Fachverbänden, nicht zuletzt Dutzenden von europäischen Museen – das Ausstellungskonzept materialisiert. Zwei- bis dreimal jähr­lich diskutiert der Beirat den Stand der Arbeiten, deren Richtung und all die aktuellen Probleme, die sich zwischenzeit­lich ergeben haben. Der Aufsichtsrat unter Hans-­Gert Pöttering nimmt die Berichte entgegen und gießt sie in Empfehlungen für die Zukunft um. Jeder der Beteiligten – ob hauptamt­licher Mitarbeiter, beratender Universitätsprofessor, Museumsdirektor oder Politiker – ist sich der Einzigartigkeit des Projekts bewusst: Ein Haus der Geschichte eines ganzen Kontinents hat es noch nie gegeben. In der EU sind 24 Sprachen gleichberechtigt – ein scheinbar technisches Problem, mit dem aber kein anderes europäisches Museum konfrontiert wird. Die Union besteht aus 28 Staaten, gewissermaßen aus 28 na­tionalen Gegenwarten, in unserem Kontext – Na­tionalgeschichten. Damit ist der Schatz der konkurrierenden Narrative, ohne die man sich ein Haus der Europäischen Geschichte kaum vorstellen kann, keineswegs erschöpft; erwähnt ­seien nur die größten Anrainerstaaten Russland, Türkei und Ukraine oder die Beziehungen zu den USA, deren Einfluss auf unsere Vergangenheit und Gegenwart wohl nicht wirk­lich exemplifiziert werden muss.

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Das Haus soll, darf und kann keine Addi­tion von Na­tionalgeschichten bieten. Es geht stets um das Gemeinsame, das ­zwischen Ural und Atlantik entstanden ist und das Leben von zumindest einem großen Teil der hier wohnenden Menschen geprägt hat. Geistesströmungen, strukturelle, oft für andere Kontinente richtungweisende wirtschaft­liche, technolo­gische und recht­liche Entwicklungen, die Erfahrung des totalen Krieges – man könnte die Liste beliebig weiterführen. Nicht zuletzt heißt diese Herausforderung, den na­tionalen Narrativen und den in ihnen verwurzelten Erinnerungsorten wenig bzw. keinen Platz einzuräumen – ein Franzose wird vergeb­lich nach Karl dem Großen, Richelieu, Robespierre oder Napoleon suchen, ein Deutscher ebenso vergeb­lich nach Goethe oder Bismarck. Der Vorsitzende des Wissenschaft­lichen Beirats wird es unter diesen hoch komplexen Umständen besser meiden, sich in seiner quasi-­offiziellen Brüsseler Eigenschaft zu äußern. Daher geht es im Folgenden um die Stellungnahme eines Warschauer Historikers. Welche Exponate würde er gerne im Haus der Europäischen Geschichte sehen, falls den Ausstellungsmachern nicht 2.700 Quadratmeter, sondern das Doppelte oder Dreifache an Fläche zur Verfügung stünden?

II. Die zentralen polnischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sind der Erste Weltkrieg als Prolog für die narrativ dominierende Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918; die Republik der Zwischenkriegszeit; das Trauma des Zweiten Weltkriegs; der Staatssozialismus; dann „Solidarność“ 1980 und Freiheitserlebnis 1989, die in der etwa 15 Jahre währenden Transforma­tion münden. Die folgenden zehn Jahre bis heute gehören zur Gegenwart, nicht zur Geschichte. Für diesen Beitrag habe ich bewusst den Zweiten Weltkrieg gewählt als ein Schlüsselkapitel, ohne dessen Kenntnis man Polen 2015 kaum verstehen kann. Es waren vier Erfahrungen, die Polen 1939 – 1945 prägten. Erstens die Demütigung, nicht als Menschen, sondern als Halb- bzw. Untermenschen behandelt zu werden. Zweitens, im europäischen Maßstab einzigartig, die gleichzeitige Besetzung durch zwei totalitäre Mächte 1939 – 1941. Drittens gehörte die Republik, 1939 Gründungsmitglied der Anti-­Hitler-­Koali­tion, 1945 weder zu den Siegern noch zu den Verlierern: Polen stand zwar im Lager der ersteren, hatte aber keines seiner Kriegsziele erreichen können; weder den Erhalt des Staatsterritoriums noch den der Souveränität. Viertens wurden die Menschen zwangsläufig Zeugen des Holocaust: Nur im besetzten Polen richteten die Besatzer Vernichtungslager ein. In den zahlreichen Ghettos starben weitere Hunderttausende Juden, die meisten von ihnen bislang Nachbarn der christ­ lichen Bystanders. Aus dieser Erfahrung greife ich den vierten und zweiten Punkt heraus, als potenzielle Beiträge für eine europäische Geschichte, die ohne ihren polnischen Teil unverständ­lich wäre.

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III. Im Inventar des entstehenden Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, das vermut­lich 2016 seine ständige Ausstellung eröffnen wird, heißt es zum Bestand 1-1-17 lakonisch: Alle Objekte, die im Zuge der archäolo­gischen Ausgrabungen in Jedwabne gefunden worden sind, wurden konserviert. Die archäolo­gischen Ausgrabungen bildeten einen wichtigen Bestandteil der staatsanwaltschaft­lichen Ermittlungen zum Massenmord in Jedwabne am 10. Juli 1941. Aufgedeckt hatte den bislang so gut wie unbekannten Fall nach fast 60 Jahren der exilpolnische Soziologe und Historiker Jan Tomasz Gross. Sein Buch „Nachbarn“, 2000 auf Polnisch veröffent­licht, löste die größte und vermut­lich wichtigste Debatte über die polnisch-­jüdischen Beziehungen im Schatten der Shoah aus.1 In Jedwabne gab es Spuren und Indizien deutscher Anstiftung zum Massenmord an den ört­lichen Juden, es steht jedoch ebenso fest, dass die polnischen Nachbarn eben nur angestiftet werden brauchten, um 300 bis 400 ihrer Mitbürger an einem einzigen Tag zu ermorden. Diese im Grunde nicht begreifbare Tatsache ist zwar inzwischen unumstritten, verdaut muss sie noch immer werden. Im Fall des Bestandes 1-1-17 geht es aber nicht um die Täter. Es sind etwa 40 Hausschlüssel, w ­ elche die Archäologen zu Beginn d­ ieses Jahrtausends in Jedwabne gefunden haben: Sie gehörten Juden, die morgens das Haus verließen und abschlossen, offenbar in der Hoffnung, sie würden nach einem weiteren schwierigen Tag ­dieses turbulenten Sommers 1941 abends zurückkehren. Ähn­ liche Sammlungen von Hausschlüsseln gibt es in den Gedenkstätten der Vernichtungslager. Dort dokumentieren sie die Hoffnung der „in den Osten“ Deportierten, eines Tages nach Amsterdam oder Wien zurückzukehren. Hier, in der Danziger Ausstellung wird der Kontrast noch stärker: Die Juden von Jedwabne wurden innerhalb von Stunden aus der Normalität in den Tod gerissen. Die Schlüssel sind oft das einzige, was von ihnen übrig geblieben ist (vgl. Abbildung 1).

IV. Das zweite Ausstellungsstück zum Thema polnisch-­jüdische Beziehungen verstaubte jahrzehntelang im Handarchiv des Polnischen Konsulats in Shanghai. Seit 1996 befindet es sich im Archiv des polnischen Außenministeriums und erzählt eine ganz andere Geschichte (vgl. Abbildungen 2 und 3). Warum so wenigen Juden die Ausreise aus dem na­tionalsozialistischen Machtbereich gelang, ist schon vielfach erzählt worden. Man brauchte vor allem Geld. Dann, in der Regel ebenso wichtig, ein Einreisevisum nach Süd- oder Nordamerika. Zuletzt brauchte der Flüchtling aber ein Transitvisum – oft Transitvisa mehrerer Länder –, um vom Wohnort zum transatlantischen Hafen zu kommen. Fast die ganze damalige „Staatengemeinschaft“ verweigerte beides: Durchreise

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und Niederlassungsrecht, wobei sich die Transitländer immer darauf beriefen, der Antragsteller könne keine Durchreise beantragen, solange er keine US amerikanische, kanadische oder südamerikanische Einladung vorweise. Diese transatlantische Interna­tionale der Bedenkenträger – man wolle doch keine Juden, damit der Antisemitismus im eigenen Land keinen Nährboden bekomme (so etwa die Argumenta­tion der schwedischen und austra­lischen Behörden) – wurde nur selten unterlaufen. Eine ­solche Ausnahme dokumentiert das Register des polnischen Konsulats Shanghai. Das Konsulat führte, wie alle anderen, ein Register der polnischen Staatsbürger im Konsularbezirk. 1941 registrierten die Beamten etwa 600 Vorgänge. In der Rubrik „Konfession” (dritte von links) steht fast überall „m” für mosaisch. Wie konnte es dazu kommen? Als Beispiel nehmen wir die Dokumente von Josek Młotek. Bislang polnischer Staatsbürger, war er im Herbst 1939, nach der Teilung Polens ­zwischen Deutschland und Sowjetunion bzw. der Annexion des Wilnaer Gebiets durch Litauen, unversehens zum litauischen Staatsbürger – oder auch zu einem staatenlosen Ärgernis, wir wissen es nicht – geworden. Die polnische Exilregierung besaß seit September keinen Vertreter in Litauen, die konsularischen Angelegenheiten hatte Großbritannien übernommen. Der zuständige britische Chargé d’affaires bestätigte im Dezember 1939 – auf einem Formular der im September geschlossenen polnischen Gesandtschaft in Kaunas – Młoteks polnische Staatsbürgerschaft. Noch Wochen nach der Annexion Litauens durch die Sowjetunion im August 1940 stellte der niederländische Konsul in Kaunas Jan Zwartendijk Aufenthaltsvisa für die niederländischen Besitzungen in Mittelamerika aus. Dabei legte er die Migra­tionsvorschriften seines Lands mehr als großzügig aus. Diese Eintragung genügte wiederum dem japanischen Konsul vor Ort – der die Paragraphen seines Landes ebenso missachtete wie sein niederländischer Kollege –, um dem Antragsteller ein japanisches Transitvisum auszustellen. Es gab eben auch ­solche Bystanders: Chiune Sugihara, ein außerhalb Japans und Polens heute kaum bekannter Diplomat, soll mit Hilfe solcher Visa 5.000 bis 6.000 polnische Staatsbürger, hauptsäch­lich Juden, gerettet haben. Seine Vorgesetzten nahmen ihm seine Eigenmächtigkeit übrigens übel. Er wurde 1947 entlassen; 1968 von jüdischen Überlebenden wiederentdeckt, bekam er erst 1985 – 45 Jahre nach seinem heldenhaften halben Jahr in Kaunas – den ihm gebührenden Platz unter den Gerechten der Völker. Kehren wir jedoch zu Młotek zurück: Mit polnischem Pass und japanischem Transitvisum schaffte er es in den Fernen Osten, bekam in Shanghai einen neuen polnischen Pass und das Einreisevisum nach Kanada. Diese jüdisch-­ polnisch-­deutsch-­litauisch-­sowjetisch-­britisch-­niederländisch-­japanisch-­chine­ sisch-­kanadische Geschichte gehört eigent­lich auch nach Brüssel. Zunächst einmal wird sie jedoch im bereits erwähnten Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs dokumentiert werden.

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Abbildung 1: In Jedwabne aufgefundene Schlüssel (Museum des Zweiten Weltkriegs Danzig, Bestand 1-1-17).2

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Abbildung 2: Pass von Josek Młotek (Archiv des Ministerstwo Spraw Zagranicznych – Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten Warschau, Signatur Nr. 43/2003).

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Abbildung 3: Eintrag des Namens von Josek Młotek im „Shanghaier Buch“.

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Abbildung 4: Kassiber von Bolesław Wnuk (Museum des Zweiten Weltkriegs Danzig, Bestand D/656).

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V. Das dritte Erinnerungsstück bezieht sich auf die totalitäre Erfahrung. Der angesehene Zeithistoriker Rafał Wnuk, Jahrgang 1967, ist führend an der Entstehung der Dauerausstellung in Danzig beteiligt. Eines der Exponate wird im Inventar (D/656) als „Fabrikerzeugnis“ beschrieben, Größe 34 x 37,6 Zentimeter, Stoff, mittelgut erhalten, „Das Gewebe weist Verschmutzungen und Flecken auf, Stoff sichtbar zerrissen“. Es handelt sich um einen Kassiber, geschrieben auf einem Taschentuch, das der Großvater von Rafał aus dem Gestapogefängnis in Lublin vermut­lich am letzten Tag seines Lebens im Juni 1940 geschmuggelt hat (vgl. Abbildung 4). Gerichtet ist der kurze Text an seine Frau und an die Nächsten, auch an „Verwandte und Bekannte“: „Ich werde heute durch die deutschen Behörden erschossen werden. Ich sterbe für das Vaterland mit einem Lächeln auf den Lippen, dennoch sterbe ich unschuldig. Das Blut möge Gott den gemeinen Schurken mit ewigem Fluch heimzahlen. Dein Bolek [Bolesław].“ Bolesław Wnuk – der Großvater von Rafał – war lokaler Funk­tionär der Bauern­partei, zuletzt Sejmabgeordneter. Er wurde von den Deutschen bereits im Oktober 1939 als Angehöriger der polnischen Intelligenz gewissermaßen präventiv verhaftet. Die Gestapo hatte ihm nichts vorzuwerfen – außer, dass er zu der Elite der vermeint­lichen „Untermenschen“ gehörte, die es nicht geben durfte; dies reichte völlig. Er wurde im Juni 1940 im Rahmen der sog. Intelligenz­ aktion, d. h. der systematischen Ausrottung der polnischen gebildeten Schichten, in Lublin erschossen. Von seinem Bruder Jakub ist nicht einmal ein verschmutztes Taschentuch übrig geblieben. Der Apotheker ist als Reserveoffizier 1939 mobilisiert, von den Sowjets im September gefangen genommen und drei Monate vor Bolesław, im März 1940 in Katyn ermordet worden. Auch die Sowjets wollten eine Na­tion gefügig machen, indem sie die gebildeten Schichten derselben auslöschten. Die ­Mutter von Bolesław und Jakub wurde wahnsinnig.

VI. Solche Geschichten und Exponate gibt es in vielen Ländern der EU und in ihren Anrainerstaaten. In der ständigen Ausstellung des Hauses der Europäischen Geschichte werden nur die wenigsten Aufnahme finden können. Die Museen, Gedenkstätten und Archive der 28 Mitgliedsländer sind aber schon heute eingeladen, sich an künftigen temporären und Wanderausstellungen des Hauses zu beteiligen. Dort werden sie erzählen können, w ­ elche europäisch relevanten Motive sich aus der Perspektive ihrer Na­tionalgeschichte anbieten.

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1 Die erste, intensivste Phase der Diskussion wurde für den deutschsprachigen Leser dokumentiert in Transodra 23 (2001), Die „Jedwabne-­Debatte“ in polnischen Zeitungen und Zeitschriften, hg. von Ruth Henning. 2 Der Verfasser dankt dem Museum des Zweiten Weltkriegs und der Archivabteilung des Außenministeriums der Republik Polen für die freund­liche Zurverfügungstellung der Fotos.

Friedenssicherung durch Dialog* 1 Hans-­Adolf Jacobsen

„Kommt wieder. Aber bitte nur ohne Waffen.“ Diese Worte, mit denen uns ein sowjetischer Oberst 1949 nach fünf Jahren Kriegsgefangenschaft in die Freiheit entließ, habe ich nie vergessen. Er lud uns – deutsche Soldaten – ein, nach Russland zurückzukehren. Als Konsequenz der Kriegsjahre, so die Hoffnung des jungen rus­sischen Soldaten, sollte eine neue Zusammenarbeit, eine neue Freundschaft, ­zwischen Deutschland und Russland entstehen. Seine Einladung steht symbo­lisch für eine Politik der Verständigung ­zwischen Deutschland und seinen öst­lichen Nachbarn, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs in kleinen Schritten entstanden ist und eine Versöhnung z­ wischen Ost und West ermög­ lichte. Sie ist eine der Grundlagen des fried­lichen Zusammenlebens auf unserem Kontinent. Wer heute nicht mehr, sondern weniger Austausch ­zwischen den Na­tionen, weniger Zusammenarbeit und weniger Europa fordert, setzt den Frieden aufs Spiel. Welche Bedeutung der interkulturelle Dialog für den Frieden in Europa hat, haben Millionen Soldaten in der Zeit ihrer Kriegsgefangenschaft gelernt. So rechneten die rus­sischen Offiziere es Wehrmachtsangehörigen durchaus hoch an, wenn diese sich in einem der sowjetischen Gefangenenlager darum bemühten, die rus­sische Sprache zu erlernen und ein Interesse für die ­Sitten und Gebräuche der Russen zeigten. In den fünf Jahren meiner Gefangenschaft hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, jeden Tag 20 neue Vokabeln zu lernen. Ich kam so mit den Aufsehern des Lagers ins Gespräch, konnte Konversa­tionen ­zwischen deutschen und rus­sischen Soldaten übersetzen und meinen Teil zur Verständigung beitragen. In dieser Zeit wurde mir klar, wie wichtig auch nur der kleinste Ansatz von Verstehen und Verständnis sein kann. Nach der Schließung unseres Gefangenenlagers, unserer Freilassung und Rückkehr nach Deutschland habe ich mich schnell um einen ständigen Austausch mit anderen Wissenschaftlern aus Russland bemüht. Trotz der großen Unterschiede – ­zwischen marxistischer Wissenschaft auf der einen und demokratischer Wissenschaft auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs – sind in kürzester Zeit Freundschaften ­zwischen deutschen und rus­sischen Wissenschaftlern entstanden, die weit über den rein fach­lichen Austausch hinausgingen. Anfang der 1950er erhielten diese zunächst auf privaten Initiativen basierenden bilateralen Beziehungen ­zwischen Deutschland und Russland, und s­ päter auch ­zwischen Deutschland und Polen, eine neue Qualität und eine neue Dimension, die ­später auch immer mehr den gesamteuropäischen Kontext berücksichtigten. Bildungsprojekte, Schüler- und Studentenaustausche, interna­tionale Foren und

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Publika­tionen belebten die Freundschaft ­zwischen Na­tionen, die sich wenige Jahre zuvor noch an der Ostfront gegenüber gestanden hatten. Institu­tionen und Organisa­tionen wie die Mülheimer Initiative, die Polnische Akademie der Wissenschaften, die Stiftung für deutsch-­polnische Zusammenarbeit oder das deutsche Polen-­Institut waren Ausdruck des Wunsches, aufgrund der furchtbaren Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs neue Wege der Versöhnung und des Friedens zu beschreiten. Für mich hatte hier der fachwissenschaft­liche Dialog eine besondere Bedeutung. In zahlreichen Vorträgen im In- und Ausland habe ich die Verbrechen der Wehrmacht thematisiert und immer wieder Histo­riker und Politikwissenschaftler aus aller Welt nach Bonn eingeladen, um den Austausch zu intensivieren. Dieser Dialog war zu Zeiten des Kalten Kriegs durchaus umstritten und seitens der Politik nicht immer erwünscht. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre erlebten diese Koopera­tionen einen erneuten Aufschwung. 70 Jahre nach Kriegsende haben weder der fachwissenschaft­liche noch der kulturelle Dialog an Bedeutung verloren. Politiker, die sich heute von Europa distanzieren, indem sie beispielsweise unsere gemeinsame Währung zur Disposi­tion stellen oder die Solidarität unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einschränken wollen, vergessen völlig, warum wir Europa aufgebaut haben: Ein geeintes Europa ist die Basis unseres Zusammenlebens. Europa sichert uns den Frieden. An dieser Stelle kommt der Konrad-­Adenauer-­Stiftung eine besondere Bedeutung zu. Die offiziellen Ziele der Stiftung, „die Festigung der Demokratie, die Förderung der europäischen Einigung, die Intensivierung der transatlantischen Beziehungen und die entwicklungspolitische Zusammenarbeit“ müssen jeden Tag mit Leben gefüllt werden. Es ist Aufgabe der Stiftung, Begegnungen in Deutschland und interna­tionale Koopera­tionen zu ermög­lichen – sei es ­zwischen Studenten, Wissenschaftlern, Vertretern der Zivilgesellschaft oder Politikern. Nachfolgende Genera­tionen müssen verstehen, warum Europa – und damit auch die Europäische Union – so wichtig ist. Weil es essenziell ist, anderen Kulturen offen zu begegnen, sich um Verständigung und Verständnis zu bemühen und aufeinander zuzugehen, habe ich neben den entsprechenden akademischen Leistungen stets zwei Voraussetzungen an eine Promo­tion an meinem Lehrstuhl geknüpft: Menschenkenntnis und die Bereitschaft zu reisen. Beide Voraussetzungen hat Hans-­Gert Pöttering erfüllt. Besonders gern erinnere ich mich daher an eine Begegnung am Ende seiner Studienzeit an der Rheinischen Friedrich-­Wilhelms-­Universität Bonn. Es war der 30. April 1974 – der Termin seiner münd­lichen Prüfung im Rigorosum am Institut für Politische Wissenschaft. Etwa eine Stunde diskutierte mein Doktorand die deutsche Außenpolitik nach 1945, insbesondere die Ost-­Politik der sozial-­ liberalen Regierungskoali­tion. In der Einschätzung der Bedeutung der Artikel 53 und 107 der UN-Charta, der so genannten Feindstaatenklauseln, gingen unsere Meinungen plötz­lich völlig auseinander. Meiner Argumenta­tion zufolge hatten

Friedenssicherung durch Dialog

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diese beiden Artikel recht­lich keine Bedeutung mehr. Doch mein Doktorand beharrte darauf, dass die recht­liche Existenz dieser Klauseln weiterhin bestehe. Hans-­Gert Pöttering ist der erste und einzige meiner Doktoranden, der es gewagt hat, mir im Rigorosum zu widersprechen. Auch wenn wir inhalt­lich nicht einer Meinung waren, habe ich seine Argumenta­tion und vor allem seinen Mut, in einer für ihn so wichtigen Prüfung entgegen der Ansicht seines Doktor­vaters für seine eigenen Überzeugungen einzustehen, sehr geschätzt. Ich wünsche Hans-­Gert Pöttering, dass er diesen Mut stets beibehält. Es geht in Europa nicht darum, immer einer Meinung zu sein. In einer Union mit 28 Mitgliedstaaten, 24 Amtssprachen und mehr als 500 Millionen Menschen gibt es kulturelle, ­soziale und politische Unterschiede. Wichtig ist, dass wir uns dieser Unterschiede bewusst sind und gleichzeitig am Motto der Europäischen Union festhalten: In Vielfalt geeint. Wir sind uns einig darin, dass wir gemeinsam den gleichen, fried­lichen Weg beschreiten wollen. Damit dies gelingt, ist es unerläss­lich, anti-­europäischen Parolen vehement entgegen zu treten. Nicht durch na­tionale Abgrenzung werden wir die Probleme der Europäischen Union minimieren, sondern durch gegenseitigen Austausch und Zusammenhalt. Europa kann nur durch einen ständigen Dialog funk­tionieren. Der Frieden ist nur gesichert solange wir uns um gegenseitiges Verständnis und Verständigung bemühen. Politischen Strömungen, die eine Abgrenzung Deutschlands von der Idee Europas und von den Institu­tionen der Europäischen Union zum Ziel haben, muss entschieden entgegen getreten werden. Die Konrad-­Adenauer-­Stiftung bietet die ideale Plattform für einen solchen Dialog. Sie ist eine Stätte interna­tionaler Begegnung und wirkt entscheidend an globalen Dialogprozessen zu friedensrelevanten ­Themen mit. Dem Vorsitzenden der Stiftung, Hans-­Gert Pöttering, wünsche ich, dass er seine jahrelangen Erfahrungen aus dem Europäischen Parlament nutzt, um die Verständigung Europas in den Zeiten wirtschaft­licher Krisen und militärischer Auseinandersetzungen ­zwischen Russland und der Ukraine weiter voranzutreiben. Sein Enthusiasmus für die europäische Idee, sein entschiedenes Eintreten für Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit sowie seine tiefe Überzeugung für die Notwendigkeit starker europäischer Institu­tionen ­seien ihm dabei auch in Zukunft stets verläss­liche Wegweiser.

1 * Der Beitrag wurde erstellt in Zusammenarbeit mit Julia Steffenfauseweh.

Can the existing realities be changed? How it succeeded in Estonia Tunne Kelam

The European continent was tragically divided during the second half of the 20th century. While one part of Europe succeeded in creating a common path to democracy and economic recovery, the other part was abandoned for nearly half a century under the totalitarian domina­tion of the communist Soviet Union. These countries were degraded to the status of Soviet satellites or colonies. The British historian Norman Davies concludes that the Allied victory in 1945 clearly influenced the Western attitudes towards the Eastern part of Europe. According to him, their subjuga­tion to the Soviet rule reconfirmed the pre-­war prejudice that the relatively new and smaller na­tions of Europe were too weak and fragile to be viable. After the joint victory over Hitler it was difficult to admit that Stalin, to whom the crucial role in defeating Nazism was attributed, was co-­responsible for the very start of World War II; that the Soviet Union continued to be orientated to world domina­tion by all means. And that Stalin was implicated in mass crimes against humanity on a scale not inferior to those committed by Hitler. Overwhelming military and political challenges posed by the Soviet Union were balanced by NATO and the economic integra­tion of Western Europe. However, the Soviet-­imposed division of Europe had to be admitted and became later on the object of Realpolitik. The 1956 Hungarian revolu­tion which dramatically demonstrated the fragility of communist political order was crushed by the very critic of Stalinist crimes, Nikita Khrushchev. While the USA, UK and France provided humanitarian aid and admitted Hungarian refugees, the geopolitical signal of the Western leaders was clear: in practical politics the Western world is going to respect Moscow’s sphere of influence, the domina­tion of its satellites. In fact, the Eastern part of Europe was written off as a hopeless case. True, a sad case but without any real perspective of change. As a result, two genera­tions of Westerners grew up with practically no contact and with extremely limited understanding of the na­tions east of the Berlin Wall. According to Norman Davies, nothing reinforced the negative image of Eastern Europe as effectively as the Cold War. After a while, the East-­West rela­tionship settled down to a policy of status quo, an uneasy stability which kept political leaders from taking morally committing strategic decisions. One had to get accustomed to existing realities, whether

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they were uncomfortable or not. Even in the mid-1980s no responsible political leader or analyst was able to assume the disintegra­tion of the Soviet Union, despite its obvious crisis. Practically no-­one was able to stake on changing the status quo, having in mind creating a new reality. However, a crucial change which provided hope also for the enslaved Eastern European na­tions had been created in Western Europe. In the midst of the post-­war hangover, economic and social crisis, accompanied by Soviet plans to conquer the rest of the continent, a new European reality started to emerge. ­People like Robert Schuman suddenly came up with a stunning new idea: to replace tradi­tional fighting against each other with coopera­tion, to replace exclusiveness with sharing – sharing on equal footing the benefits of economic potential and development. The start was made by sharing strategic resources like coal and steel. Schuman’s idea became a reality because it was built on a solid founda­tion of rule of law that prevented the rise of future dictatorships. Against all odds, it worked. The current European Union is often criticized; however, no-­one can deny the fact that the democratic and equal coopera­tion of its member states has created a new quality which succeeded to avoid, for the first time in history, the use of force. The three Baltic States – Estonia, Latvia and Lithuania – differed from the rest of Soviet satellites in a negative sense. While Hungary, Romania or Poland retained, even under Communist dictatorship, formally their statehood, the ­Baltic States, members of the League of Na­tions in 1920 – 1930s, disappeared from the interna­tional arena. As a result of the 1939 Hitler-­Stalin Pact, they were annexed by the Soviet Union in 1940 and were turned into Soviet colonies. Despite the title “republic of the Soviet Union”, the three Baltic na­tions had no representa­tion in the UN; instead, they were subjugated to Moscow even in minor economic or cultural decisions. During the immediate aftermath of the war, Estonians, Latvians and Lithuanians clung to the abstract hope generated by the 1941 Atlantic Charter. The latter proclaimed restora­tion of independence to all na­tions and territories which had lost it as a result of the war, stressing the sovereignty of each na­tion and its right to freely choose its form of government. After the end of the war, many people still cherished expecta­tions that Western allies would force Stalin to respect the principles of the Atlantic Charter. Instead, the Baltic na­tions saw tens of thousands murdered, imprisoned and deported in the first five years of Soviet-­established “peace”; they were exposed to systematic Russifica­tion and militariza­tion by the communist rulers in Moscow. Since the middle of 1950s, the only life-­line for the Balts remained the know­ ledge that their annexa­tion to the Soviet Union was illegal and defies interna­ tional law; this posi­tion was openly confirmed by the USA and other Western democracies which refused to recognize the Baltic States as part of the Soviet Union. Especially in Washington, the pre-­occupa­tion time Baltic diplomats continued to be part of the diplomatic corps – to the utmost nuisance of the Soviet

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rulers. In fact, the three Baltic States continued to exist de iure, despite of having been physically occupied. Sizable Baltic refugee communities in Western countries (from Estonia, every tenth inhabitant fled to the West in autumn 1944, escaping the brutal machine of Stalinist terror they had experienced during the first Soviet occupa­tion 1940 – 1941) kept reminding the Western governments of the ordeal of their homelands. Beginning from 1982, President Reagan officially started to proclaim in June (date of the first mass deporta­tions in 1941) the “Baltic Freedom Day”, following the initiative by the Congress, where in 1981 an ad hoc committee for the Baltic States and Ukraine had been started. In January 1983, the European Parliament adopted its first resolu­tion in support of the aspira­tions for freedom of the Baltic na­tions, expressed in an open appeal to the interna­tional community by 45 Lithuanians, Latvians and Estonians on occasion of the 40th anniversary of the Stalin-­Hitler Pact. Estonia had proclaimed its independence in 1918, and succeeded to defend it against Soviet invasion in the war of libera­tion (1918 – 1920). Under the Tartu Peace Treaty, signed on 2 February 1920, Soviet Russia recognized Estonia’s independence uncondi­tionally and for all times; with an explicit declara­tion that Estonia’s previous status as a Russian province would have no consequences or implica­tions for the new state. However, already in December 1924, Soviet Russia attempted to crush Estonia’s independence by an armed coup d’état which failed. The country managed to overcome the results of the world economic crisis by mid-1930s and experienced a remarkable economic progress. Its fate was sealed by the 1939 Hitler-­Stalin Pact. Having been left isolated from the West by the start of World War II, Estonia was forced to admit in October 1939 the Red Army bases, followed by country’s full occupa­tion in June 1940 and its annexa­tion to the Soviet Union in August 1940. As a result of three occupa­tions – Soviet (1940 – 1941), Nazi (1941 – 1944) and the renewed Soviet occupa­tion since 1944, Estonia lost in ten years about a quarter of its popula­tion (repressions, deporta­tions, forced mobiliza­tion, refugees). The civil society was totally destroyed, the independence-­time political, economic and administrative elites wiped out, private property confiscated. Independent farmers were deported in 1949 and the rest forced to join the collective farms. After Stalin’s death in 1953, the massive indiscriminate repressions stopped. Since then, communist dictatorship started to apply a more selective and individual approach to those who differed from the mass of obedient subjects, who totally depended on state’s salaries. Since 1960s, despite more flexible forms of Soviet rule, many Estonians began to realize that they had been deprived of any long-­term na­tional perspective. In other words, their perspective was officially formulated in 1970s as a paradigm of one big Soviet na­tion, into which all different na­tionalities were supposed to merge on the basis of the Russian language. More people started to feel the ticking of an internal alarm clock that counted the time remaining to the moment when the native popula­tion, as a

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result of forced immigra­tion from the Soviet Union, would become a minority in their own land. This would have meant definite loss of any hope that the independent na­tion state could ever be re-­established. The only alternative left was gradually decreasing cultural autonomy under the continuous pressure of Russifica­tion. At the beginning of the 1980s, the number of Russian language lessons exceeded the number of Estonian language lessons in Estonian schools. What prepared the change in the Soviet-­dominated space in 1980s? One can only conclude that it was the inhuman, repressive nature of the communist system itself. It was the system which sacrificed genuine reforms and citizens initiatives to the rigid and jealous safeguarding of the monopoly of one party ideology and power. Repeated spontaneous uprisings in 1956, 1968, 1970, and 1980 demonstrated the explosive discontent of the oppressed popula­tion which kept simmering under the official surface. In Poland, the first Polish Pope managed to unite the discontent of different sec­tions of society around religious and na­tional values, expressed in peaceful quest for justice and freedom. In Estonia, active opposi­tion to the communist dictatorship was crushed by the beginning of 1950s. However, resistance to the Soviet occupa­tion never dis­appeared. Fledgling patriotic-­democratic groups started to insist on the implementa­tion of human rights. Hundreds of Estonians tried to liberate themselves mentally and morally from the official lies and propaganda, studying recent history by their own and concentrating on the crucial impact of the 1939 Hitler-­Stalin Pact on the fate of the Baltic na­tions. Several persons, who voiced their right to freedom of expression more actively, like Enn Tarto, Mart Niklus, Lagle Parek, were sentenced to long prison terms on the pretext of anti-­ Soviet propaganda. In 1972, two underground groups – Estonian Na­tional Front and Estonian Democratic Movement – addressed a Memorandum to the UN. The document in ques­tion which was smuggled out behind the Iron Curtain, presented two demands for help: to evacuate the Soviet troops from Estonia (which was considered as an occupied country by interna­tional law) and to organize free elec­ tions. At the time, such demands sounded absolutely unrealistic. However, the point of the two groups was not to get a formal answer from the UN Secretary General. It was to signal the Western public that there were people in occupied Estonia, who had not accommodated to the realities of violence and lies, who challenged the communist propaganda which boasted 99,9 percent rigged voting results in favour of their one-­party lists. People who insisted on Estonia’s right to correct injustice done to it and to restore independent statehood. Despite ferocious KGB backlash, and partially even thanks to it, they succeeded to indicate that the Soviet Union was violating the same basic human rights that Mr. Brezhnev had pledged to respect, having signed the 1975 Helsinki Accords. In the period of Gorbachev’s “Rearrangement” (Perestroika) of the Soviet communist system, Estonia became an active hotbed of citizens’ democratic

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initiatives. In 1980s, majority of people, living in the Soviet-­occupied Baltic state, were used to assume that reforms could only come from the “enlightened” wing of the communist party leaders. It was an absurd situa­tion. Everyone perceived the deep economic and social impasse into which the Soviet Union had sunk. Everyone knew that it was the monopolist communist party that carried responsibility for the sinking of the huge ship. Yet, the same communist party claimed in the style of baron Münchhausen, that they would be able to pull themselves out of the mire. The first Estonian president after restora­tion of independence, Lennart Meri, pointed out that it was not correct to say that Estonia was going to join Europe. According to Meri, Estonia is situated in Europe. Estonians have been living on their present territory about 5000 years. They have been part of the common European culture, religion, trade and values for more than a thousand years. Four Estonian cities were members of the Hanseatic League – the first European free trade alliance. The point is that Estonia was artificially separated from the circulatory system of Europe by totalitarian Soviet Union for half a century. As soon as the independent statehood was restored in 1991, the natural instinct of Estonians was also to restore their organic ties with Europe. On the other side of the same process, Europe was returning to its organic part, Estonia.

Zwischen Wutbürgern und Wahlenthaltung Parlamentarische Demokratie im Alltagstest Norbert Lammert

„Die freiheit­liche Ordnung hat zur Voraussetzung, dass Menschen für ihre staatsbürger­lichen Rechte eintreten; dass sie demonstrieren, wenn sie diese Rechte bedroht oder verletzt sehen.“ So beschreibt Hans-­Gert Pöttering den „Verantwortungsbürger“ als homo politicus, „der seine Freiheit, sobald er sie gefährdet sieht, mit einer Prise zivilen Ungehorsams würzt“.1 In Anlehnung an Max Weber attestiert er ihm leidenschaft­liche Hingabe an und Verantwort­lichkeit gegenüber dieser Sache sowie Augenmaß, das eine Distanz zu den Dingen voraussetzt. Pöttering gibt allerdings zu bedenken, dass dieser „zeitgemäße Musterbürger“, der Bürger­lichkeit nicht allein als Lebensstil begreift, sondern als ein staatsbürger­liches Bewusstsein, mehr ein Wunschbild sei. Und so ist zuletzt mehr als vom „Verantwortungsbürger“ vom „Wutbürger“ die Rede gewesen. Der ist als Wort des Jahres 2010 zwar bereits etwas in die Jahre gekommen, erscheint aber in zahlreichen politischen Analysen noch immer quicklebendig. Damals, in der Hochphase der Auseinandersetzung um „Stuttgart 21“, sahen sich manche Demonstranten mit dieser Etikettierung weniger beschrieben als vielmehr diffamiert. Sie beharrten darauf, dass die Antriebsfeder ihres Protests nicht nur Wut und Empörung gewesen s­ eien, sondern – im Sinne Pötterings – der Impuls für etwas einzustehen, für eine Alternative, für die Rechte auf Mitsprache. Die Forderung nach mehr Partizipa­tion kennt Konjunkturen, was zuletzt Aufstieg und Niedergang der Piratenpartei mit ihrer Idee einer „liquid democracy“ zeigten. Im auffälligen Kontrast dazu steht die seit Jahren fast konstant sinkende Beteiligung an Wahlen – mit einem leichten Anstieg bei der letzten Bundestagswahl als Ausnahme von der Regel –, mit der in der parlamentarischen Demokratie Bürger an der Entscheidung darüber teilhaben, von wem sie regiert und wie die politischen Weichen gestellt werden sollen. Kritik am System der Repräsenta­tion in der parlamentarischen Demokratie ist gesellschaft­ lich weit verbreitet. Als Peter Sloterdijk vor wenigen Jahren über die vermeint­ liche Ausschaltung der Bürger in Demokratien sinnierte, kam er zu folgendem Ergebnis: „In der repräsentativen Demokratie werden Bürger in erster Linie als Lieferanten von Legitimität für Regierungen gebraucht, deswegen werden sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung ihres Wahlrechts eingeladen. In der Zwischenzeit können sie sich vor allem durch Passivität nütz­lich machen. Ihre vornehmste Aufgabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken.“ Sloterdijks nicht völlig aus der Luft gegriffenes Fazit lautete: „Bürgerausschaltung mittels Resigna­tion ist ein Spiel mit dem Feuer, da sie jederzeit

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in ihr Gegenteil, die offene Empörung und manifesten Bürgerzorn, umschlagen kann.“ 2 Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, von denen die Pegida-­Bewegung mit ihren Ablegern nur die aktuellste und lautstärkste ist. Wenn Interessen im Parlament nicht widergespiegelt werden, suchen sie ein Ventil. Das ist kein neues Phänomen, erfordert aber jedes Mal aufs Neue Antworten seitens der Politik. Da, wo Demagogie statt Aufklärung betrieben wird, bedarf es klaren Widerspruchs, doch die echten Sorgen der Demonstranten sollten ernst genommen werden. Einer Studie der Technischen Universität Dresden zufolge ist die Teilnahme an den Demonstra­tionen in Dresden und anderswo in der Republik allerdings viel weniger inhalt­lich motiviert, als vielmehr Ausdruck einer generellen Unzufriedenheit mit der Politik, sie ist Ausdruck der Entfremdung von den Grundlagen der repräsentativen Demokratie. Mittelstandsbürger, die typischerweise gut ausgebildet und über ein vergleichsweise hohes Einkommen verfügen, bringen ihren Unmut darüber zum Ausdruck, sich politisch nicht mehr repräsentiert zu fühlen und mit ihren Interessen in den Medien nicht einmal mehr Gehör finden zu können. Das wurde in den sach­lich unhaltbaren wie historisch verantwortungslosen Schmähungen der Medien als „Lügenpresse“ offenkundig. Angesichts früherer Protestbewegungen hat der ehemalige Chefredakteur und Herausgeber der „Welt-­Gruppe“ Thomas Schmid einmal abstrakt festgestellt, was auf die Pegida-­Bewegungen konkret zutrifft: „Ursprüng­licher, unbearbeiteter Volkswille mag authentisch sein, direkt ist er gewiss. Er ist aber zugleich ein formloser, ein ungestalteter Wille. Der ursprüng­liche Volkswille kennt nur Himmel und Hölle, Schwarz und Weiß, Ja oder Nein. Vermittlung ist da nicht vorgesehen, Kompromiss und Ausgleich sind auch nicht angelegt.“ Der unmittelbare Volkswille sei der Rohstoff in einer vorpolitischen Wüste, Politik aber müsse ihn gestalten, formen und wirk­lichkeitstaug­lich machen, so Schmid in seinem Plädoyer für die Kunst des Politischen als eine Kunst des Repräsentativen. Aufgabe und Wesen der Politik sei letzt­lich, „die Vielzahl der unterschied­lichen Volksdirektheiten zu filtern, zu gliedern und ihnen gebündelte Gestalten zu geben“ 3. Die Rahmenbedingungen dafür sind durch die Globalisierung und die Haushaltsengpässe, den demographischen Wandel, die modernen Medien und anderes immer komplexer geworden. In der Zusammenschau befinden sich alle politischen Institu­tionen und Verfassungsorgane, selbst das Bundesverfassungsgericht, zunehmend in der Situa­tion, Entscheidungen treffen zu müssen, bei denen von vornherein klar ist, den sich oft wechselseitig ausschließenden Interessen der jeweiligen Betroffenen nicht gerecht werden zu können. Auf diese Weise produziert das politische System permanent Entscheidungen, bei denen das einzig verläss­lich kalkulierbare Ergebnis eine mehr oder weniger weit verbreitete Enttäuschung ist. Kaum öffent­lich benannt wird in ­diesem Zusammenhang, dass die Distanz der Bevölkerung zu Entscheidungsträgern in der Politik auch mit einer ambivalenten Erwartungshaltung zu tun hat. In einer pluralistisch verfassten Gesellschaft gibt es neben dem eigenen Standpunkt stets auch andere berechtigte und gut begründete

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Meinungen. Freie Gesellschaften brauchen Dissens. Dies anzuerkennen ist die Voraussetzung jeder demokratischen Willensbildung. Demokratie ist gerade kein Verfahren zur Vermeidung von Streit. Sie ist vielmehr die organisierte Bewältigung von Konflikten, um fair und verbind­lich mehrheit­lich getragene Lösungen herbeizuführen. Demokratische Lösungen sind weder durch autoritäre Kommandos noch im Hauruckverfahren zu haben, schon gar nicht angesichts der komplexen und komplizierten Probleme, um die es heute vielfach geht. Die mitunter zähen Entscheidungsprozesse stören zwar viele Menschen, Wähler wie Gewählte müsse sie aber aushalten. „Die öffent­liche Lust auf eine alexandrinische, knotenzerhauende Politik ist eine undemokratische Lust“, hat Heribert Prantl einmal treffend formuliert. „Ein Demokrat haut nicht schnell zu, sondern nestelt herum; er lässt nicht die Fetzen fliegen, sondern versucht, die Knoten zu lösen.“ 4 Die so am Ende gefundenen Lösungen sind in der Regel Kompromisse und stellen deshalb auch nicht notwendig alle zufrieden. Die Kompromissbereitschaft steht schnell in der Kritik und der erreichte Konsens unter den Parteien wird gern als Ausdruck von Profilschwäche und fehlender eigener Gestaltungskraft gegeißelt. Doch die Kompromissfähigkeit ist eine unaufgebbare demokratische Tugend. Von ihr hängt politische Entscheidungsfähigkeit ab, die der Bürger wünscht. Notwendige Kompromisse werden dann mitgetragen, wenn die Menschen grundsätz­lich Vertrauen in unsere Institu­tionen haben. Über Jahre war hier ein tendenziell immer stärker werdendes Missverhältnis z­ wischen der hohen Akzeptanz der Demokratie als Staatsform einerseits und dem sinkenden Ansehen der diese Staatsform tragenden Institu­tionen andererseits festzustellen. Der Vertrauensverlust in unserer Gesellschaft betraf dabei keineswegs exklusiv die politische Klasse, sondern erfasste neben den Medien auch Gewerkschaften und K ­ irchen, Wirtschaft und Banken, selbst Bereiche wie den Sport. Neuere Studien und Umfragen sehen inzwischen allerdings einen gegenläufigen Trend, zumindest bei den staat­lichen Institu­tionen. Diesen bemerkenswerten Befund mag erklären, dass die Deutschen zwar in aller Regel weder ihren Regierungen noch ihren Parlamenten trauen, am wenigsten den Parteien, sich aber, wenn es wirk­lich krisenhaft wird, ausschließ­ lich auf den Staat verlassen. Der Respekt gegenüber den wichtigsten staat­lichen Institu­tionen ist jedenfalls nach Jahrzehnten des Vertrauensverlustes gerade in den vergangenen Krisenjahren wieder gewachsen und deut­lich höher als bei fast allen gesellschaft­lichen Organisa­tionen. Der Anteil derjenigen, die sagten, sie hätten eine „sehr gute“ oder „gute Meinung“ über den Bundestag, lag – so zeigt es eine Allensbach-­Umfrage von 2014 – auf dem höchsten Niveau seit rund 20 Jahren.5 Gleichzeitig nehmen aber laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung die meisten Bundesbürger die Debatten und die Arbeit im Deutschen Bundestag kaum mehr wahr. Nur jeder Vierte kann sich konkret an eine Debatte der vergangenen Monate erinnern – was auch damit zu tun haben dürfte, dass die Berichterstattung über die parlamentarische Arbeit in den wichtigsten deutschen Print- und Online-­Medien sich binnen eines knappen Jahrzehnts fast halbiert hat.6

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Es lässt sich schwer­lich bestreiten: Die öffent­lichen Debatten über Entwicklungen in der Gesellschaft finden weder ausschließ­lich noch zuerst im Deutschen Bundestag statt. Aber ist das notwendig – und war dies je anders? Hinweise auf Ergänzung und Relativierung der parlamentarischen Willensbildung durch Wirtschaft, Wissenschaft und Medien als vierte, fünfte und sechste Gewalt sind nicht neu, trotzdem zutreffend. Die Schlussfolgerung aber, das Parlament werde als Forum der öffent­lichen Auseinandersetzung oder als Ort verbind­licher Festlegungen durch Gesetzgebung immer unbedeutender, ist nicht nur voreilig. Das Gegenteil ist richtig: Am Ende werden verbind­liche Entscheidungen im Parlament getroffen. Kaum ein Gesetzentwurf verlässt das Parlament in der Fassung, in der er vorgelegt worden ist, auch wenn Zeit- und Arbeitsdruck nicht selten hoch ist. Der Bundestag beschränkt sich keinesfalls auf eine notarielle Beurkundung anderswo getroffener Entscheidungen. Je wichtiger ein Gesetzentwurf, desto sicherer wird er im Parlament verändert. Der deutsche Parlamentarismus ist robuster und vitaler als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es besteht sogar Grund zur Zuversicht, dass die vergangenen Jahre, die unter dem allgemeinen Verdacht einer zunehmenden Marginalisierung von Parlamenten standen, mit größerem zeit­lichen Abstand just als der Zeitraum wahrgenommen werden wird, in dem aus vielerlei Gründen eine parlamentarische Revitalisierung stattgefunden, jedenfalls begonnen hat – und das gilt nicht zuletzt für das politische Handlungsfeld, das gemeinhin als vom Volk am weitesten entfernt gilt und das Hans-­Gert Pöttering über so viele Jahre nachhaltig geprägt hat: Europa. Heute haben wir nicht nur ein direkt gewähltes Europäisches Parlament, sondern es wirkt am Entstehen und an der Legitimierung europäischer Richtlinien und Verordnungen in einer Weise mit, die der Rolle der na­tionalen Parlamente faktisch nicht mehr nachsteht. Als ein probates Mittel gegen die attestierte Verdrossenheit der Bürger wird immer wieder mehr Beteiligung der Bürger – auch auf Bundesebene – eingefordert. Dieser Ruf nach mehr direkter Demokratie ist keineswegs unbegründet, schon gar nicht unzulässig. Ist die plebiszitäre Keuschheit des Grundgesetzes, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Nachkriegszeit und der vorhergehenden Epoche historisch verständ­lich ist, nach mehr als sechs Jahrzehnten stabiler Demokratie nicht aus der Zeit gefallen? Wäre nicht eine größere Spielfläche für die operative Mitwirkung an rechtsverbind­lichen Entscheidungen geboten? Der Vorwurf, dass das vom Grundgesetz geprägte politische System der Bundesrepublik Deutschland prinzipiell antiplebiszitär angelegt sei, ist jedoch bestenfalls für die Bundesebene zutreffend. Er verkennt, dass sowohl auf Länderebene wie in den Kommunen nicht nur andere verfassungsrecht­liche Spielräume bestehen, sondern dass diese Spielräume in jüngerer Zeit erweitert worden sind und davon auch in beacht­lichem Umfang Gebrauch gemacht wird: Die Anzahl von Bürgerbegehren, Bürgerentscheiden, Volkbegehren und Volksentscheiden ist in den letzten zehn Jahren größer gewesen als in den 50 Jahren zuvor. So sehr

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das bestätigt, dass es ganz offenkundig ein gewachsenes Partizipa­tionsbedürfnis gibt, so sehr macht es auch deut­lich, dass von einer prinzipiellen Verweigerung für ­solche Entscheidungsmög­lichkeiten keine Rede sein kann. Die repräsentative und die direkte Demokratie sollten nicht als konkurrierende, sich gegenseitig ausschließende Alternativen begriffen werden, sondern als sich wechselseitig ergänzende Varianten. Denn die plebiszitäre Urteilsbildung bringt auch eine Reihe von bisweilen zu wenig beachteten Problemen mit sich. Direkte Demokratie setzt in der Regel überschaubare, wenig komplexe Entscheidungsgegenstände voraus, wie sie eher auf kommunaler Ebene und gelegent­lich auf Landesebene vorkommen. Eine direkte Entscheidung durch Bürger erscheint in solchen Fällen sinnvoll, wenn es sich um lokal oder regional begrenzte T ­ hemen handelt, die mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten sind. Auf Bundesebene sind die zu regelnden Sachverhalte hingegen meist so komplex und/oder unter hohem, oft kurzfristigem Zeitdruck, dass man ihnen durch Volksabstimmungen kaum gerecht werden könnte. Hier verfügt der Parlamentarismus über den strukturellen Vorteil, in festen Verfahrensabläufen alternative Lösungsmög­lichkeiten diskutieren zu können, bevor entschieden wird. Für die getroffenen Entscheidungen haben sich Regierungen und Abgeordnete im Übrigen dann zu verantworten, die Bürger können sie bei der nächsten Wahl sank­tionieren. Für Volksentscheide hingegen kann niemand persön­lich verantwort­lich gemacht werden. Auffällig ist auch die bescheidene Beteiligung an den plebiszitären Partizipa­ tionsmög­lichkeiten, die regelmäßig sogar noch unter den rückläufigen Wahlbeteiligungen bleibt, die wir ihrerseits für besorgniserregend erklären. Das lässt über verfassungspolitische Grundsatzfragen hinaus die Frage zu, ob auf ­diesem Wege eine höhere Legitima­tion politischer Entscheidungen zu erwarten ist als durch repräsentativ getroffene parlamentarische Entscheidungen. Die Zweifel werden noch gestützt dadurch, dass die neuen Formen partizipatorischer Demokratie überwiegend ein Spielfeld der gebildeten Mittelschichten sind; mit einer Veränderung oder Erweiterung der Partizipa­tion ergeben sich also keineswegs und schon gar nicht gleichmäßig neue Formen der faktischen Beteiligung für alle relevanten Interessen. Die weniger gebildeten, einkommensschwächeren Schichten finden in der klas­sischen repräsentativen Demokratie jedenfalls machtvolle organisierte Interessengruppierungen und Repräsentanten, die durch plebiszitäre Verfahren sicher nicht überboten werden. Plebiszite sind also weder legitimer noch notwendigerweise besser als parlamentarische Entscheidungen. In der Abwägung von Vor- und Nachteilen direktdemokratischer Prinzipien darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass vor allem bei emo­tional aufgeladenen ­Themen das Demokratieprinzip mit dem Rechtsstaatsprinzip in Konflikt geraten kann. Das gilt zumindest dann, wenn man den Volkswillen zum letzten Maßstab erklärt, was immer wieder eine große Versuchung darstellt. Die verläss­liche Stütze der Freiheit ist nicht das Mehrheitsprinzip, sondern der Rechtsstaat. Mit einer Verselbständigung des Demokratieprinzips

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ließen sich notfalls sogar Grundrechte zur Disposi­tion stellen, die gerade nicht vom Demokratie-, sondern vom Rechtsstaatsprinzip geschützt werden. Demokratie steht und fällt mit der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich zu informieren und zu engagieren. Zum Mitgestalten gibt es zahlreiche Mög­ lichkeiten: Bürgerinitiativen, Vereine, Verbände, Gewerkschaften, Initiativen, auch und gerade Parteien. Sie sind die Transmissionsriemen ­zwischen Politik und Gesellschaft. Bei keiner anderen Institu­tion ist die Diskrepanz ­zwischen tatsäch­licher Leistung und niedriger Reputa­tion so groß wie bei ihnen. Die vielen Tausend Mitglieder und ganz überwiegend ehrenamt­lichen Funk­tions- und Mandatsträgern leisten einen beacht­lichen Beitrag zur Artikula­tion von Interessen wie zur Konsensbildung unserer Gesellschaft. Die Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie ist nicht zuletzt auch ihnen zu verdanken und die Zukunft unserer Demokratie ist zweifellos ohne den gestaltenden Beitrag der politischen Parteien weder theoretisch denkbar noch ernsthaft wünschenswert – und im Übrigen auch recht­lich wie faktisch nicht mög­lich. Veränderte Partizipa­tionsinteressen, Ziele und Wünsche erfordern aber von ihnen einen anhaltenden Prozess der Wandlung und der Anpassung. Das Repräsenta­tionsprinzip ist weder in der Theorie noch im politischen Alltag Ersatz für das Prinzip der Volkssouveränität, sondern sein wesent­licher, wirk­ lichkeitsgerechter Ausdruck. Dass eine Regierung den Konflikt mit dem eigenen Volk auf Dauer nicht gewinnen kann, ist eine – wenn nicht sogar: die – europäische Erfahrung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Glück­licherweise scheinen ­solche dauerhaften Konflikte in der Bundesrepublik kaum mehr vorstellbar; das hat nicht zuletzt mit den etablierten repräsentativen demokratischen Verfahren zu tun. Bei nüchterner Betrachtung, zumal in historischer Perspektive, haben wir deshalb allen Grund zu mehr – im Wortsinne – staatstragender Gelassenheit, wie sie auch Hans-­Gert Pöttering vom Bürgertum zu Recht fordert: Statt Empörung brauchen wir „eine realistische Bestandsaufnahme der Wirk­lichkeit“, statt einem Bürgertum, das das Prinzip der Repräsenta­tion in Frage stellt, Bürger, die „zupackend die Werte in einer neuen Zeit neu denken“.

1 Europäischer Mut- oder Wutbürger?, in: Die Politische Meinung 522 (September/Oktober 2013), S. 119 ff. 2 Der Spiegel 45 (2010). 3 Die Welt, 8. Dezember 2010. 4 Süddeutsche Zeitung, 26. August 2009. 5 FAZ, 19. März 2014. Vgl. auch die Umfrage des Forsa-­Instituts vom 13.–19. Januar 2015 im Auftrag des Magazins Stern. 6 Vgl. Dominik Hierlemann/Ulrich Sieberer: Sichtbare Demokratie. Debatten und Fragestunden im Deutschen Bundestag. Gütersloh 2014.

More Europe means more freedom for Belarus Alaksandr Milinkievič

The European Union is of vital value for Belarus and its future as a democratic and prosperous country. Throughout its history Belarus has exchanged thoughts, human resources and goods with other European countries. Over the centuries, many Belarusians have contributed to the development of European ideas, ­science and culture. Nowadays, the very first glance at Belarus proves that its political and societal system differs substantially from its direct and indirect European neighbours. The monopolisa­tion of the political sphere by a small group, eager to keep and expand its tight grip on the economy and civil society, impedes private initiative and individual creativity, generates apathy and a lack of trust. Regular, and at times even increasing, assaults on fundamental freedoms and pluralistic norms keep the government unaccounted and non-­transparent. In the context of the current economic crisis and, particularly, Russia’s aggression against Ukraine, the short-­sightedness of the Belarus’ government becomes more and more obvious. Our immediate neighbours, Poland and the Baltic countries, have made far better policy decisions, resulting in stable democratic institu­tions, sustainable development, greater competitiveness and business attractiveness. One has to bear in mind that our starting posi­tions were relatively similar at the beginning of 1990s. Built upon on the values of respect for human dignity, freedom, democracy, equality, the rule of law and respect for human rights, the European Union has achieved a lot since the beginning of European integra­tion. The mere existence of freedom of movement in the EU has enormously changed the lives of its people and provided advanced dynamics for its na­tional economies. Freedom of assembly, speech, and conscience contribute to healthy dialogue within and among na­tions, thus helping them to find balanced solu­tions for various problems. The European integra­tion project has also proved to be authoritative and attractive for those European countries that were not initially engaged in it. Consecutive enlargements have extended the area of prosperity and freedom in Europe. The EU has played an outstanding role in helping its new members to consolidate democratic tradi­tions and to modernise their economies. Today’s challenges the EU faces (slow economic growth, risks of ‘Grexit’ and ‘Brexit’, disenchantment of Europeans with their elites) should not diminish the fundamentally positive impact the European integra­tion has had over the course of Europe’s recent history. We expect the EU to play the same prominent role vis-­à-­vis Belarus and other Eastern Partnership countries, i. e. helping to bring them back to the European

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family of free na­tions. The united Europe needs a serious analysis of its Eastern policy. One can notice negative trends and defeatist mood in this policy. A new strategy should be developed and implemented aiming at spreading democracy and stability on our continent. Since Russia’s aggression against Ukraine the geopolitical situa­tion in our entire region has worsened: the anti-­democratic revanchism of the Kremlin is a real threat to many countries, Belarus in the first lieu. The EU needs a solid strategy of concrete measures instead of rhetoric. Joint ac­tion instead of words about feelings. We have to admit that the Eastern Partnership (EaP) has not much progressed in its implementa­tion. Kremlin allocates huge resources to control post-­Soviet countries and strengthen political clients in EU member states. The reason of EU Eastern policy failures lies in the heterogeneity and inconsistency of EU approaches while Russia has a clear strategy of blocking Europeaniza­tion and democratisa­tion of the former Soviet republics. Unfortunately, until recently, concerns about the Kremlin’s revisionist policy were treated as Russo­phobia or conspiracy theories. But today’s developments prove that there were reasonable concerns about the ineffectiveness of EU measures and the undervalua­tion Moscow’s countermeasures, which is rebuilding an empire where communism is replaced with ‘Russkiy Mir’ ideology of Russian chauvinism. Such attempts to restore the empire are damageable to Russia itself, let alone EaP countries, since they alienate Russia from the European civiliza­tion and create a new cold war. The EU, for its own sake, should and must meet this challenge. Europe is one as well as its security, history shows, only resolute common endeavours can stop aggressor and bring peace and security. An important element of EU coherent strategy to the east is patience. The change of post-­Soviet mentality requires a change of several genera­tions, cycles of progress and regress vis-­à-­vis the united Europe can alternate, but the EU should not be tempted to tell in difficult times to the six EaP countries: if you do not want to be with us, then goodbye! Compared to Ukraine, Moldova or Georgia, the situa­tion in Belarus, is in many respects more complicated: here, the main task should be to promote liberalisa­tion and euro-­optimism among its people and power elites, to preserve the “taste of Europe”. Today we see attempts to restore contacts between Belarus and the European Union. Facing the economic crisis and an increased pressure from Russia, the regime is seeking to boost exports, attract investors and take loans. In these circumstances, the condi­tional and critical dialogue with the EU is the only positive alternative. It is not a guarantee, but a chance to preserve the European perspective for Belarus. EU sanc­tions do not release political prisoners, they increase anti-­Western sentiments, reduce the influence of the democratic forces, accelerate economic and political takeover by Russia. The dialogue can provide the united Europe with more instruments of influence over policies of Belarus. The events of recent years have shown that the closer

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we are to the united Europe, the more we enjoy of independence and human rights. Any positive step towards the West is better than the steps leading to a greater dependence on Russia and the loss of sovereignty. The only alternative to the dialogue strategy is the continuing self-­isola­tion of Belarus with the ultimate end of firstly economic and later political independence of the country. We are aware that there are very few reasons to truly believe in the credibility of the Minsk’s official promises. But European dialogue is needed for Belarus, for its survival and evolu­tion as a free and independent European na­tion. Europe will not be complete without Belarus; Belarus will not be democratic without a united Europe. This dialogue can produce many things that had not been expected. It opens a window of opportunity for gradual change in Belarus. It will allow greater visibility of the EU in Belarus and contribute to the Europeanisa­tion of Belarus, i. e. the transfer of EU rules, procedures and norms, bringing about changes to Belarus’ political and economic institu­tions, legisla­tion and social life, values and identities. Our slogan should be: “More Europe for Belarus!” More contacts, exchanges, more public diplomacy. Wider coopera­tion with the authorities could begin only after the release of political prisoners. The dialogue between the EU and Belarus should be implemented through a road map of step by step rapprochement. Its main goal should be to win the hearts and minds of the Belarusians. There is a need for the maximum simplifica­tion of the visa regime with a gradual introduc­tion of free Schengen visas and, finally, establishing visa free regime. It is important to simplify the rules of establishment and func­tioning in the EU of joint Belarusian-­European enterprises for small and medium-­sized businesses. It is vital to open wider possibilities for Belarusians to obtain European educa­tion by means of full-­scale to ERASMUS program, increase quotas for Belarusians to participate in undergraduate and graduate programs of European universities, establish in the EU more professional internships, exchange programs for representatives of business, government agencies, research institu­ tions, and civil and political sectors. There is a need to increase support for civil society organisa­tions working in Belarus, including projects for the development of the Belarusian identity and culture. The EU can have an impact on Belarusian economic actors since the enlarged EU absorbs about half of all Belarusian exports. Today, the economic rela­tions of Belarus with EU countries are one-­sided and obviously underdeveloped. They are mostly limited to exchange of goods and, moreover, mineral products constitute the major part of Belarusian exports to EU countries. Belarus’ main export posi­tions are connected to raw materials and derivatives (minerals, oil by-­products, timber), not goods and services made through the applica­tion of new technologies. Foreign investment is unsatisfactorily low, due to the unfavourable investment climate. Opening our economy to European investment,

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technologies and business culture is one of the main tasks facing us today. In fact, this is the only way for a small and export-­oriented economy like Belarus to survive in a highly competitive environment. In the energy sector, a common energy and transport network from the Baltic to Black Seas is in the geopolitical interest of Belarus, helping to diversify and reduce over-­reliance on one supplier. Developing such an infrastructure will enhance regional coopera­tion in fighting organised crime, arms-, drugand human-­trafficking. European technologies, expertise and assistance in strengthening energy efficiency and developing alternative energy sources are of paramount importance for the industrial and agricultural sectors of Belarus. Nowadays, where the Belarusian government has taken a hushed and non-­ transparent decision to start building a nuclear power plant in post-­Chernobyl and authoritarian Belarus, the exchange of experience and know-­how on energy efficiency becomes all the more essential for Belarus to preserve its indepen­ dence. Clean technologies based on renewable sources of energy such as wind and solar powers and biomass re-­cycling ought to become alternative to nuclear power, making energy consump­tion environmental friendly and cost-­efficient. We also expect that the EU, while pursuing dialogue and coopera­tion with the Belarusian government, will increase support for civil society in Belarus until there is a strong democratic na­tional identity coupled with responsible civic participa­tion in public affairs. Since the political system of Belarus is not currently conceived to allow a democratic public dialogue within Belarusian society, and it is also set to prevent a democratic na­tional identity from developing, the EU can also help to explain and initiate grassroots democratic processes of interest-­forma­tion and representa­tion. This would also mean increasing the emphasis in its democratic public discourse on the idea of both European and Belarusian-­European na­tional identities. We want the EU to develop a more active policy and a better understanding of what Belarus is, in which direc­tions it is moving and how Europe can influence the dynamics taking place within Belarusian society and economy. Our democratic civil society is following the Central European pattern by developing various advocacy coali­tions for a European Belarus. There are an increasing number of Belarusians, especially among young and educated people, who want positive changes and stand for independence, democracy and the European choice for Belarus. United Europe is a natural gravita­tion centre for us. For all of us, the European choice is not only a choice of better living condi­tions or modern technologies. It is our civiliza­tional choice. Our country belongs to Europe; we want it to share fully European values of democracy and civil society. A more active and consistent EU policy on democracy promo­tion in Belarus, coupled with a concrete offer of a European alternative for the Belarusian people will vitally help Belarusian democratic forces to vanquish the apathy and uncertainty upheld by the regime among citizens of Belarus. Belarus badly

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needs the largest possible political, economic, scientific and societal contacts with European countries. It is in Belarus’ interest to seek to achieve visa-­free travel and to create a free trade area as a first step towards achieving the free movement of labour, capital, goods and services with the EU. The Belarusian pro-­European forces are aware of the opportunities and challenges that a responsible and accountable Belarusian government will face in order to be integrated into European networks and institu­tions. We are on the beginning of the road. Returning to Europe is not an easy step to make for Belarusians, requiring laborious efforts spread over decades by the whole genera­ tion in order to improve the economic, legal and spiritual outlook of our society. Many Europeans countries have successfully followed this path. Belarus is not an excep­tion. For us as a European democratic na­tion, there is no alternative. In this respect we count very much on Germany, a leading EU na­tion, and our partner organisa­tions, such as Konrad Adenauer Stiftung, to help Belarus to become genuinely part of common European networks and policies. This is a noble task, “For Our Freedom and Yours”.

Konrad Adenauer Zeitlose politische Grundsätze eines Staatsmannes* 1 Günter Rinsche

Im Jahre 1976 wurden die Bürger der Bundesrepublik Deutschland in einer großen und repräsentativen Meinungsumfrage gefragt: „Welcher große Deutsche hat Ihrer Ansicht nach am meisten für Deutschland geleistet?“ 51 Prozent nannten Adenauer, 10 Prozent nannten Bismarck und 8 Prozent Willy Brandt. Haben die Visionen, Ideen und die politische Strategie Konrad Adenauers auch im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Globalisierung, Geltung, Aktualität und Informa­tionswert? Können wir seine Prinzipien, Ideen und seine erfolgreichen Konzep­tionen und politischen Methoden auch heute noch n­ utzen, um unsere Probleme zu lösen und die Herausforderungen der Zukunft zu meistern? Um die Mög­lichkeiten und Erfordernisse erfolgreicher Politik am Beispiel Konrad Adenauers erkennen zu können, muss man die Situa­tion Deutschlands nach der Katastrophe als Folge des verbrecherischen Hitlerregimes beachten: Im Jahre 1945 lagen Deutschland und große Teile Europas in Trümmern. Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den sowjetisch besetzten Gebieten strömten in die zerstörten Gebiete der west­lichen Besatzungszonen. Die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln, Kleidung und Heizmaterial war vollkommen zusammengebrochen. Die Menschen waren arbeitslos, obdachlos und hungrig. Noch schlimmer als die materielle Not war die mora­lische Katastrophe. Die unvorstellbaren Verbrechen, die Hitler und viele seiner Mittäter und Mitläufer begangen hatten, ließen das deutsche Volk in einen Abgrund weltweiter Ächtung und Verachtung sinken. Auch die Deutschen, die wie Konrad Adenauer Widerstand gegen Hitler geleistet hatten und deswegen bedroht, verhaftet und gequält wurden – viele deutsche Widerstandskämpfer gegen Hitler wurden gefoltert und ermordet – auch die Deutschen, die selbst Opfer der Nazi-­Verbrechen waren, fühlten sich als Ausgestoßene aus der Völkergemeinschaft. In dieser schlimmsten Zeit der deutschen Geschichte wurde Konrad ­Adenauer am 15. September 1949 zum ersten Bundeskanzler der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland gewählt. Schon 1945 gehörte er zu den Gründern einer neuen politischen Partei, der CDU, die zur erfolgreichsten demokratischen Partei der europäischen Nachkriegsgeschichte werden sollte. Durch seine großen Erfahrungen als Oberbürgermeister der Stadt Köln in der Zeit der Weimarer Republik und als Gegner der totalitären Nazi-­Partei wurde er schon bald zum unumstrittenen Vorsitzenden der jungen Partei. Als geschickter Organisator, als begabter Redner, der auch komplizierte Probleme verständ­lich und volksnah darzustellen vermochte, war er immer darauf bedacht, seine Partei für alle

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Volksschichten wählbar zu halten. Die CDU als Volkspartei unterschied sich somit von den tradi­tionellen Klassenparteien und konnte durch die Überwindung von sozialen und konfessionellen Gegensätzen und Streitigkeiten wesent­lich zur sozialen Versöhnung und Verständigung und damit zur innenpolitischen Stabilität der jungen Demokratie beitragen. Die für den Wiederaufbau Deutschlands grundlegende politische Stabilität wird auch darin sichtbar, dass die beiden großen deutschen Volksparteien CDU und SPD die Bundeskanzler stellten. Konrad Adenauer hat wesent­lichen Anteil an der Schaffung eines stabilen und funk­tionsfähigen demokratischen Parteiensystems in Deutschland. Vor seiner Wahl zum ersten Bundeskanzler im Jahre 1949 hat Konrad ­Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates seit dem 1. September 1948 eine maßgebende Schlüsselrolle gespielt und eine dauerhafte historische Leistung erbracht. Er war organisatorisch und konzep­tionell führend beteiligt an der Gestaltung des Grundgesetzes, einer neuen Verfassung für Deutschland, die nach Ansicht interna­tionaler Staatsrechtslehrer mit zu den besten Verfassungen der Welt gehört. In einer Rundfunkansprache am 16. Oktober 1956 hat Adenauer die Bedeutung des Grundgesetzes, aber auch die Notwendigkeit von Anpassungen an neue Entwicklungen mit folgenden Worten hervorgehoben: „Das Grundgesetz der Bundesrepublik gewährleistet eine große Stabilität in der Regierungsarbeit, und diese Stabilität hat sich sowohl in der Außen- wie auch in der Innen- und Wirtschaftspolitik als ein großer Segen für unser Volk erwiesen. Stabilität bedeutet aber nicht das ­gleiche wie Stagna­tion oder Sterilität. Unablässig in den Ländern und im Bund ist das politische Leben in Bewegung – und so ist es in größeren Zeitabständen doch notwendig, solchen Veränderungen Rechnung zu tragen.“ Von zukunftsweisender Bedeutung waren und sind die Bestimmungen über eine Wiedervereinigung des geteilten Deutschland und die Einigung Europas sowie die Verpflichtung, dem Frieden der Welt zu dienen. So heißt es wört­lich in der Präambel des Deutschen Grundgesetzes: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine na­tionale und staat­liche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen … hat das Deutsche Volk d­ ieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.“ Historiker und Politikwissenschaftler haben das von Konrad Adenauer maßgebend mitgestaltete Deutsche Grundgesetz als eine solide Grundlage für den deutschen Wiederaufstieg gelobt. Der Präsident und die Mitglieder des Parlamentarischen Rates haben sowohl aus den Fehlern und Irrungen der deutschen Vergangenheit gelernt, wie auch die Erfordernisse der Zukunft berücksichtigt.

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Konrad Adenauer als Bundeskanzler Als Oberbürgermeister von Köln (1917 – 1933), als Präsident des preußischen Staatsrats (1921 – 1933), als Mitgründer und Bundesvorsitzender der CDU (1950 – 1966) und als Präsident des Parlamentarischen Rates (1948/49) hat Konrad Adenauer viel für Deutschland getan und sich bleibende Verdienste erworben. Die eigent­lich historische und interna­tionale Bedeutung des europäischen Staatsmannes Adenauer wurzelt in seinen zukunftsorientierten Visionen und politischen Konzep­tionen. Seine Bedeutung beruht aber auch auf seiner strate­ gischen und taktischen Meisterschaft, ohne die seine Visionen nicht Wirk­ lichkeit und seine Konzep­tionen nicht zur konkreten und erfolgreichen Politik geworden wären. Zu den wichtigen und lebensnotwendigen Aufgaben des ersten deutschen Bundeskanzlers gehörten u. a.: 1.) Wiedergewinnung der interna­tionalen Achtung und Anerkennung. 2.) Erringung der Gleichberechtigung als Mitglied der Völkergemeinschaft und das Recht auf Selbstbestimmung (na­tionale Souveränität). 3.) Aufbau einer freiheit­lichen, demokratischen und stabilen Ordnung. 4.) Aussöhnung mir Frankreich als eine wichtige Voraussetzung für einen dauer­ haften Frieden in Europa. 5.) Überwindung von Not und Mangel und Schaffung von Wohlstand und sozia­ ler Sicherheit. 6.) Deutsche Wiedervereinigung und europäische Integra­tion. 7.) Interna­tionale Zusammenarbeit und globale Solidarität. Wiedergewinnung der interna­tionalen Achtung und Anerkennung Als Konrad Adenauer Kanzler wurde, war er 73 Jahre alt. Er besaß fundierte historische Kenntnisse, er hatte jahrzehntelange und durchdachte Erfahrungen und er war Menschenkenner. Er kannte die Folgen des ungerechten Friedens von Versailles im Jahre 1919. Seine Sorge war, dass ein aus der Völkergemeinschaft ausgestoßenes Volk der Anarchie und den radikalen Demagogen zum Opfer fallen würde. Deshalb vertrat er bei interna­tionalen Gesprächen und Verhandlungen mit Energie und Überzeugungskraft den Standpunkt, dass man Unrecht nicht durch Unrecht bestrafen dürfe. Guter Wille und Vertrauen ­seien besser als ewiges Misstrauen. Konrad Adenauer beschwor die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs auf einer Ver­anstaltung der CDU am 12. Mai 1946 in Düsseldorf: „Wenn ich deswegen einen Appell an die Alliierten richte, dann tue ich das nicht als Deutscher, ich tue das als Europäer: Rettet Europa! Laßt Deutschland arbeiten! Nehmt ihm sein Kriegspotential, aber laßt Deutschland arbeiten für sich selbst und für Europa, sonst wird dieser ganze Erdteil hoffnungslos in den Abgrund hineinkommen.“

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In vielen Gesprächen und interna­tionalen Verhandlungen warb Adenauer um Vertrauen. Seine persön­liche Ausstrahlungskraft und Glaubwürdigkeit, vor allem aber auch die Stetigkeit und Gradlinigkeit seiner Politik und nicht zuletzt die Übereinstimmung von Wort und Tat brachten den gewünschten Erfolg. Deutschland wurde vom verachteten Besiegten zum geachteten Freund und Partner. Seinen deutschen Landsleuten vermittelte er Selbstachtung und Selbstvertrauen. Seine Vision von einer großen und fried­lichen Völkergemeinschaft beruhte auf seinem Glauben an die Gleichwertigkeit aller Völker und unveräußer­lichen Menschenrechte. Selbstbestimmung, Souveränität und Handlungsfähigkeit In den ersten Jahren seiner Tätigkeit als Bundeskanzler war es ein vordring­ liches Ziel Adenauers, die Bundesrepublik aus den Fesseln des Besatzungsstatuts zu befreien und die Bundesrepublik zu einem gleichberechtigten Mitglied in einem zusammengeschlossenen Westeuropa zu machen. Mit Geduld und Zähigkeit gewann er Stück für Stück das Recht auf Selbstbestimmung. Dabei half ihm und seiner Regierung der sozialökonomische Aufstieg der westdeutschen Volkswirtschaft, der den Bündniswert der Bundesrepublik für die damaligen Westmächte erheb­lich steigerte. Nachdem Adenauer am 5. Mai 1955 die staat­liche Souveränität für die Bundesrepublik wiedergewonnen hatte, kam es ihm vor allem auch darauf an, wichtige Grundlagen seiner politischen Erfolge zu sichern und auszubauen. Er wusste, dass zu den Voraussetzungen politischer Erfolge Entscheidungsfähigkeit, Handlungsfähigkeit und Durchsetzungskraft gehören. Als „stärkste Waffe“ in der Politik bezeichnete er Geduld und Folgerichtigkeit. Er wandte sich gegen Hast, Unruhe und Ungeduld, weil diese Verhaltensweisen zu schlechten Entscheidungen und fehlerhaftem Handeln führen würden. In einer großen Rede am 10. Dezember 1951 vor dem Europarat in Straßburg sagte er: „Die Politik ist die Kunst des Mög­lichen. Das heißt: sie muß mit einem gesunden Realismus ihre Handlungen den Gegebenheiten anpassen. Sie muß, wenn das Ganze nicht erreichbar ist, den Teil davon verwirk­lichen, der mög­lich ist, und darf im übrigen der Kraft der Entwicklung vertrauen. Ein Politiker würde falsch handeln, der das Gute nicht tut, weil das Bessere noch nicht erlangbar ist, oder der den Schritt, der heute mög­lich ist, unterläßt, weil er glaubt, daß ihm der größere Schritt wohl morgen gelingen wird.“ Sein Prinzip war: Wir dürfen das Mög­ liche nicht am Wünschenswerten scheitern lassen. Konrad Adenauer warnte vor Illusionen und realitätsfremden Ideologien. Seinen Parteifreunden in der CDU erklärte er am 26. Juli 1953: „Das ist eine der Hauptsachen in der Politik, daß man nicht Phantasien oder Utopien nachläuft, sondern, genau so wie es der Handwerker, der Kaufmann, der Landwirt in seinem Beruf tun muß, klar die realen Gegebenheiten und Mög­lichkeiten erkennt.“

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Konrad Adenauer war Menschenkenner. Er betrachtete Politik auch als „angewandte Psychologie“. Vor allem kannte und nutzte er die befreiende Kraft des Humors, besonders, wenn es galt, verfahrene Situa­tionen und blockierte Verhandlungen zu überwinden. „Mit Humor kann man unend­lich viel erreichen“, sagte er und handelte dementsprechend. Das von ihm mitgestaltete Deutsche Grundgesetz gibt dem Bundeskanzler gute Handlungsmög­lichkeiten, die Adenauer souverän zu n­ utzen verstand. Seine natür­liche Autorität, seine taktischen und seine strate­gischen Fähigkeiten, seine Verhandlungskunst und nicht zuletzt seine Eigenschaften der Geduld, Fähigkeit und Ausdauer – das sind wichtige Erfolgsfaktoren, durch die Konrad Adenauer zum großen europäischen Staatsmann wurde. Aufbau der Demokratie in Deutschland Als religiöser Mensch, der in seinem Glauben an Gott tief verwurzelt war, wusste Konrad Adenauer, dass ein Paradies auf Erden durch keine Politik erreicht werden kann. Er war aber fest davon überzeugt, dass eine gute Politik wichtige Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben auf unserer Erde schaffen konnte. Dabei war ihm klar, dass guter Wille allein nicht ausreichte, um die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben zu gestalten. Er kannte Jean Monnet, den engsten Mitarbeiter seines Freundes und Außenminister Frankreichs Robert Schuman. Von Jean Monnet stammt das Wort: ,,Nichts ist mög­ lich ohne Menschen. Nichts ist von Dauer ohne Institu­tionen.“ Für Konrad Adenauer waren menschenwürdige Prinzipien und effiziente Institu­tionen unverzichtbare Grundlagen für eine erfolgreiche Politik im Dienste des Menschen. In ­diesem Sinne kann man Adenauers politische Konzep­tion mit folgenden vier Prinzipien und den entsprechenden Institu­tionen umschreiben: 1.) Rechtsstaat­lichkeit, d. h. Legalität und Schutz der Menschenrechte. 2.) Parlamentarische Demokratie, d. h. allgemeines und gleiches Wahlrecht und Partizipa­tion (Mitwirkungsmög­lichkeiten bei Angelegenheiten der Gemeinschaft). 3.) Föderalistischer Staatsaufbau, d. h. Subsidiarität und Recht der kleinen Lebenskreise. 4.) Soziale Marktwirtschaft, d. h. Effizienz und Solidarität. Konrad Adenauer betrachtete diese Prinzipien als wichtige innenpolitische Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben der Staatsbürger. Als Realpolitiker wusste er, dass Wahlreden und gutgemeinte Erklärungen nicht ausreichen, um eine funk­tionsfähige Demokratie und gute Regierungsarbeit zu gewährleisten. „Promoting democracy and good governance“ – das hieß für Adenauer, dass man menschengerechte politische Prinzipien und Visionen institu­tionell zu sichern hatte. In ­diesem Sinn war er bemüht, effiziente Institu­tionen zu schaffen und

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zu fördern, die als Garanten und Stabilisatoren für eine lebendige Demokratie und gute Regierungsarbeit wirken konnten. „Nur mit Wünschen lässt sich keine Politik machen“, sagte er einmal. Seine Fragen lauteten nicht nur „was soll sein?“, sondern auch „wie können wir unsere Ziele erreichen?“ Für Adenauer sollte z. B. der Schutz der Menschenwürde durch einen lückenlosen Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte für alle Bürger garantiert werden. Seine Fragen galten der Gefährdung der Demokratie durch Überbürokratisierung, der Erweiterung von Mitwirkungsmög­lichkeiten für die einfachen Bürger, der Bildung eines demokratischen Bewusstseins und vor allem den ethischen Werten als unverzichtbare Grundlage für ein menschenwürdiges Leben. Schon am 24. März 1946 sagte er in einer Rede in Köln: „Demokratie ist mehr als eine parlamentarische Regierungsform; sie ist eine Weltanschauung, die ebenfalls wurzelt in der Auffassung von der Würde, dem Wert und den unveräußer­lichen Rechten eines jeden einzelnen Menschen.“ In d ­ iesem Zusammenhang betonte Adenauer immer wieder das Recht der kleinen Lebenskreise, der Familie, der dörf­lichen und kommunalen Gemeinschaft und anderer gesellschaft­licher Gruppen. Dieses Prinzip der Subsidiarität, das auf Initiative des früheren deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl (1982 – 1998) auch in den Verträgen der Europäischen Union verankert wurde, war für Konrad Adenauer ein unverzichtbarer Erfolgsfaktor für gute Politik. In seiner Weihnachtsansprache über die deutschen Rundfunksender am 25. Dezember 1957 lautete die wichtigste Aussage: „Keine Einrichtung des Staates kann die Familie ersetzen!“ Nach Ansicht Adenauers besteht das Prinzip der Subsidiarität darin, „dass alles dasjenige, was das kleinere Organ tun kann, vom kleineren Organ getan werden muss.“ Als ehemaliger und erfolgreicher Oberbürgermeister von Köln wusste er, was er sagte, als er bei einem Empfang im Rathaus von Wien feststellte: „Nach meiner Erfahrung wird Demokratie am besten in den Gemeinden gelebt, weil dort die praktische Arbeit und das Ergebnis einer Abstimmung unmittelbar sichtbar wird. Die Arbeit im Dienst der Gemeinde ist daher die beste Vorstufe für die Arbeit auf politischem Gebiet überhaupt.“ Adenauers Konzep­tionen und Visionen entstanden nicht im luftleeren Raum abstrakter Ideologien, sondern als Ergebnis realistischer Fragen und konkreter Erfahrungen. So waren die Jahre 1945/46, als Deutschland total zerstört am Boden lag, ein anschau­licher Beweis für die schöpferische Wirkkraft des Prinzips der Subsidiarität und des „building from below“. Der deutsche Wiederaufbau – sozial, wirtschaft­lich, kulturell und politisch – begann nicht in den Machtzentralen des Staates – die gab es nicht mehr –, sondern in den Familien, in den Dörfern und Städten, in der Landwirtschaft sowie in den Klein- und Mittelbetrieben. Der Wille zum Überleben, die darauf aufbauende private Initiative und die gemeinschaft­liche Arbeit in den kleinen Lebenskreisen – das waren die Antriebsmotoren für den deutschen Wiederaufstieg, der mit dem Namen Konrad Adenauer verbunden bleibt.

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Dies gilt auch für die erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft, die Adenauer 1949/50 zusammen mit seinem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard gegen den Widerstand seiner innenpolitischen Gegner durchsetzt. In einem Interview mit der holländischen Zeitung „Allgemeen Handelsblad“ vom 30. April 1949 äußerte er sich wie folgt „Die Soziale Marktwirtschaft ist eine harte Erziehungsmethode für die Wirtschaft, die durch die Staatssubven­tionen und Planungen der Vergangenheit in vieler Hinsicht verweich­licht ist. In unserer Wirtschaftspolitik wird ein echter Leistungswettbewerb ermög­licht, in dem in freier Konkurrenz die beste Leistung belohnt wird. Dadurch wird ein Grad wirtschaft­licher Effizienz erreicht, der wirtschaft­lich Schwachen in Deutschland sowie der Ausweitung von Export und Import zugutekommt.“ Die Entwicklung hat Adenauer Recht gegeben. Ludwig Erhards Motto „Wohlstand für alle“ blieb keine bloße Theorie. So stieg z. B. die Zahl der Pkw von 300.000 im Jahre 1948 auf mehr als 15 Millionen im Jahre 1971, d. h. bereits vor 30 Jahren besaß einer von vier Deutschen einen Pkw. Trotz dieser großen ökonomischen Erfolge wurde Adenauer nie müde, wenn es galt, die ­soziale Sicherung für breite Volksschichten zu verbessern und institu­tionell zu garantieren. Zahlreiche gesetzgeberische Initiativen, z. B. die „dynamische Rente“, die Mitbestimmung von Arbeitnehmern in Großunternehmen, der Lastenausgleich, die Wiedergutmachungsleistungen an die vom na­tionalsozialistischen Unrechtsstaat geschädigten ausländischen und inländischen Bürger usw., sind seiner schöpferischen Tatkraft und seiner Durchsetzungsfähigkeit zu verdanken. Der Schlüssel zu seinen großen innenpolitischen Erfolgen lag in der geglückten Verbindung von ethischen Werten wie Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, Frieden, Solidarität und Partnerschaft mit ra­tionalen Erfordernissen wie Effizienz, Leistung durch Wettbewerb, Fortschritt durch Kreativität und Wirtschaftswachstum durch Arbeitsteilung und Zusammenarbeit. Im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter der Globalisierung, gewinnt diese Synthese von ethischen Werten und ra­tionalen Erfordernissen eine beachtenswerte Aktualität. Aussöhnung als Voraussetzung für dauerhaften Frieden 400 Jahre, vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, war Europa das Schlachtfeld blutiger Bruderkriege, die zu einem großen Teil auf die Rivalität Frankreichs und Deutschlands zurückzuführen waren. Im Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) wurde Deutschland total verwüstet. Die Hälfte der Bevölkerung Mitteleuropas kam durch Gewalt, Hungersnot und Seuchen zu Tode. Im sogenannten Westfä­ lischen Frieden von 1648 wurde Deutschland in 300 Staaten und Fürstentümer zerrissen. Es entstand ein Machtvakuum, das Anlass für weitere Kriege gab. Die blutige Rivalität der beiden Na­tionen, die im 8. Jahrhundert im Reich Karls des Großen vereint gewesen waren, kulminierte in den Napoleonischen Kriegen

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(1806 – 1814), im Deutsch-­Franzö­sischen Krieg (18701/71), im ­Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) und schließ­lich durch den von Hitler ausgelösten Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945). Konrad Adenauer hatte als Oberbürgermeister von Köln schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erkannt, dass eine dauerhafte Aussöhnung ­zwischen Frankreich und Deutschland der Schlüssel zu einem Europa des Friedens sein könnte. Seine damaligen Vorschläge und Denkschriften blieben aber unbeachtet. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als der Untergang Europas fast unaus­ weich­lich erschien, beschrieb Konrad Adenauer die mög­liche Lösung des deutsch-­franzö­sischen Dauerkonflikts in einer Rede am 5. Mai 1946 vor der CDU in Wuppertal. Wört­lich sagte er: „Ich bin seit Jahrzehnten dafür eingetreten, daß unsere wirtschaft­lichen Interessen mit den wirtschaft­lichen Interessen unserer west­lichen Nachbarländer verflochten werden, weil ich auf Grund der Geschichte der Auffassung bin, daß wirtschaft­liche Verbundenheit und gemeinsame wirtschaft­liche Interessen die sicherste Grundlage auch für gute politische Nachbarschaft sind.“ Bei seinen zähen und geduldigen Bemühungen um die deutsch-­franzö­sische Aussöhnung verwies er auch auf die Gefahr für alle Nachbarn Deutschlands, falls das besiegte Land nicht als ein gleichberechtigter Partner akzeptiert würde. Er kannte die Problematik, die der römische Dichter Horaz vor 2000 Jahren in dem Satz zusammenfasste: „Wenn das Haus des Nachbarn brennt, geht es um deine eigene Sache!“ Deutschland, Frankreich und Europa hatten das Glück, daß der franzö­sische Außenminister Robert Schuman und sein hochbegabter Mitarbeiter Jean M ­ onnet dieselben Lehren wie Adenauer aus der leidvollen Geschichte Europas zogen. In seiner berühmten Pressekonferenz am 9. Mai 1950 verkündete Robert Schuman: „Der Zusammenschluß der Kohle- und Stahlproduk­tion … wird die Geschicke jener Gebiete wandeln, die seit alters her jene Waffen gefertigt haben, deren ständige Opfer sie selbst gewesen sind. Die so geschaffene Solidarität der Produk­ tion wird erweisen, daß ein Krieg z­ wischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern phy­sisch unmög­lich geworden ist.“ Die Vision Adenauers einer deutsch-­franzö­sischen Freundschaft über Gräber und Gräben hinweg wurde durch den Schuman-­Plan und die europäische Integra­tion zur Wirk­lichkeit. Adenauer vertrat die Auffassung, dass Krisen und Konflikte nicht durch Kriege und Gewalt gelöst werden, sondern viel eher durch Verständnis und Verständigung. Überwindung von Not und Mangel „Sinn des Staates ist es, die schaffenden Kräfte des Volkes zu wecken, zusammenzuführen, zu pflegen und zu ­schützen.“ Dieses Wort Konrad Adenauers aus dem Jahre 1946 beschreibt die politische Aufgabe zur Überwindung von Not und Mangel. Der Aufstieg der Bundesrepublik aus dem Elend der 1940er

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Jahre beweist, dass diese Aufgabe lösbar ist. Natür­lich gibt es keine Patentrezepte. Die Probleme und auch die Mög­lichkeiten sind von Land zu Land verschieden. Konrad Adenauer war kein Ökonom. Als Staatsmann handelte er aber im Sinne von Überlegungen, die der deutsche Na­tionalökonom Friedrich List schon im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts publiziert hatte. Friedrich List schrieb damals: „Je einsichtsvoller der Mensch ist, je mehr ihm das Wohl seiner Angehörigen am Herzen liegt, je heller er die Zukunft sieht, je mehr seine Kräfte freien Spielraum haben, sich selbst seine Zukunft zu bereiten, je mehr ihm die Früchte seiner Arbeit gesichert sind, desto größer werden seine Anstrengungen sein, sich Geschick­lichkeit zu erwerben und vermittels seiner Geschick­lichkeit Werte hervorzubringen.“ Im Sinne dieser Überlegungen unterstützte Konrad Adenauer die Politik der Steuersenkung, der Privatisierung von industriellem Staatsvermögen, der Geldwertstabilität mit Hilfe einer weitgehend autonomen Zentralbank, der Förderung der Klein- und Mittelunternehmen und die Bildung von Eigentum der Arbeitnehmer. Seine Unterstützung für Ludwig Erhards Vision „Wohlstand für alle“ würde er heute auch auf die Visionen „Chancen für alle“ und „Teilhabe für alle“ ausweiten. In einer Zeit globaler Interdependenz würde Konrad Adenauer die Visionen „Wohlstand für alle“, „Chancen für alle“ und „Teilhabe für alle“ nicht auf eine Na­tion begrenzen, sondern als eine völkerverbindende globale Herausforderung betrachten. Deutsche Wiedervereinigung und europäische Integra­tion Für Konrad Adenauer enthielt die europäische Integra­tion nicht nur die faszinierende Mög­lichkeit zur Schaffung von Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa. In seiner Vision und politischen Konzep­tion war die stufenweise Vereinigung Westeuropas mit der gleichberechtigten Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland auch eine dynamische Kraft zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas in Freiheit und Frieden. Für Adenauer waren die deutsche Einheit und die europäische Einigung zwei Seiten einer Medaille. Bis zum Jahre 1989 wurde seine Konzep­tion von seinen Gegnern und vielen Zeitgenossen als „irreal“ und „utopisch“ abgestempelt und erbittert bekämpft. Adenauer ließ sich nicht beirren. Auf dem 14. Bundesparteitag der CDU in Bonn am 21. März 1966 sprach er die prophetischen Worte: „Eines Tages wird auch Sowjetrußland einsehen, dass diese Trennung Deutschlands und damit die Trennung Europas nicht zu seinem Vorteil ist. Wenn ein Augenblick naht oder sich zu nahen scheint, der eine günstige Gelegenheit bringt, dann dürfen wir ihn nicht ungenutzt lassen.“ Adenauers Konzep­tion der deutschen und europäischen Wiedervereinigung basierte auf seiner „Magnettheorie“, nach der durch die europäische Integra­ tion ein eigenständiges Kraftfeld entstehen würde. Die Werte der Freiheit und

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Demokratie würden in Verbindung mit einer großen sozialökonomischen Leistungskraft eine ­solche Anziehungskraft entwickeln, die schließ­lich wie ein starker Magnet die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit bewirken wurde. Adenauer behielt Recht. Er war Visionär und Realist. Interna­tionale Zusammenarbeit und globale Solidarität Ein Historiker hat einmal definiert: „Ein Politiker denkt an die nächste Wahl. Ein Staatsmann denkt an die nächste Genera­tion.“ Konrad Adenauer war Politiker und Staatsmann. Er dachte an die nächste Wahl, aber er dachte noch mehr an die nächste Genera­tion. Er dachte an Deutschland, aber er dachte insbesondere an Europa und er dachte an die interna­tionale Zusammenarbeit. Seine Vision war die globale Solidarität. Am 9. Mai 1960 erinnerte er seine deutschen Landsleute an ihre interna­tionale Verantwortung mit folgenden Worten: ,,Wenn es irgendwo in der Welt wirk­lich zu brennen anfängt, dann würde sich das auch auf uns auswirken, ebenso wie ein Brand, der bei uns in Deutschland entsteht, sich dort im Stillen Ozean auswirken würde. Das hängt im Ganzen zusammen. Daher müssen wir Deutsche uns daran gewöhnen, auch in den großen Räumen zu sehen. Wir müssen lernen, Politik auch unter d­ iesem Gesichtspunkt zu machen.“ Bereits am 17. Mai 1957 hatte Adenauer in einem Gespräch mit dem Nobelpreisträger Prof. Arthur H. Compton auf die Notwendigkeit globaler Entwicklung hingewiesen. Wört­lich sagte er: „Die Feinde von heute sind nicht die anderen Na­tionen. Die Feinde von heute sind vielmehr Armut, Unwissenheit, Krankheit und Diskriminierung. Was wir brauchen ist eine Zusammenarbeit im Sinne einer Menschheitsfamilie der ganzen Welt. Unwissenheit und mangelndes Verständnis z­ wischen asiatischen, afrikanischen und west­lichen Völkern ist heute die größte Gefahr.“ Diese Mahnung des Staatsmannes Adenauers ist heute so aktuell wie vor 44 Jahren. Seine Visionen über Demokratie, Entwicklung und weltweite Zusammenarbeit behalten Gültigkeit auch für unsere Gegenwart und gemeinsame Zukunft.

*1 Wiederabdruck in leicht veränderter Form des Aufsatzes, der in der KAS-Schriftenreihe (KAS Occasional Papers 2/2001), herausgegeben vom Projektbüro der Konrad-­Adenauer-­ Stiftung in China, erschienen ist.

La France, l’Allemagne, l’Europe*1 Nicolas Sarkozy

Cher Président Pöttering, cher Hans-­Gert, Mes chers amis, Je suis très heureux d’être aujourd’hui votre invité. Je suis venu en ami. L’ami de Hans-­Gert, mais il me le permettra, l’ami de l’Allemagne. Je n’ai aucune inten­tion de mettre un terme à la période de recul de toute activité politique que j’ai souhaitée. Si j’ai accepté cette invita­tion, c’est pour témoigner de la nécessité de l’amitié entre les deux premières na­tions d’Europe. Je veux dire combien je me sentirai pour toujours un Européen, un Européen convaincu et un Européen militant. Je dis devant Hans-­Gert Pöttering qu’il peut être fier du parcours qui a été le sien au service de l’Europe! Car la vie d’Hans-­Gert Pöttering, c’est celle d’un Européen engagé. Et l’Europe a besoin de cet engagement. A peine âgé de 33 ans, il est élu député au Parlement européen. Constamment réélu, Hans-­Gert est l’un des seuls qui ait siégé sans interrup­tion au Parlement européen depuis 1979, un Parlement européen qui n’a pas d’équivalent dans le monde. Tu en as été le président, comme tu y as été le président de notre famille politique. Pourtant, lorsque notre ami Hans-­Gert Pöttering voit le jour, dans un village de Basse-­Saxe, ce parcours européen de Hans-­Gert Pöttering est inimaginable. Hans-­Gert Pöttering voit le jour dans une famille meurtrie par la guerre: quelques mois plus tôt, ton père a trouvé la mort dans les derniers combats de la Seconde Guerre mondiale. Tu vois le jour dans une patrie vaincue, démembrée, déshonorée par la barbarie nazie; dans un pays, le tien, qui n’a plus de gouvernement, qui n’a plus d’Etat et dont l’avenir semble sombre et, pour le moins, incertain. Tu vois le jour dans une Europe dévastée, ruinée, bientôt coupée en deux par un rideau de fer qui enfermera la moitié des Européens dans l’implacable prison communiste pendant des décennies. Tu vois le jour dans un monde qui semble désormais appartenir aux géants américain et soviétique, un monde dans lequel l’Europe semble être passée, par sa faute, par ses immenses fautes contre elle-­même et contre l’Humanité, du statut de leader à celui de champ de bataille de la guerre froide qui s’annonce. Voilà ce qu’était l’Europe au milieu du 20ème siècle. Nous n’avons pas le droit de l’oublier. Les na­tions de notre continent, et d’abord la France et l’Allemagne, n’ont cessé tout au long de leurs histoires de se jalouser, de s’affronter, de se détruire et de se faire la guerre. Je ne parle pas du Moyen-­Âge: je parle du 20ème siècle.

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En 1945, je le dis aux jeunes qui sont ici, c’était hier, la France et l’Allemagne se sont fait la guerre trois fois en 75 ans. En l’espace d’à peine trois généra­tions, la France et l’Allemagne ont trouvé le moyen de se combattre à trois reprises, dans une lutte à chaque fois plus terrible, plus dévastatrice, plus inhumaine. Et en agissant ainsi, nos deux pays ont entrainé à chaque fois leurs voisins, l’Europe et finalement le monde entier dans d’abominables catastrophes. Ce n’était pas le Moyen-­Âge, c’était hier. Alors pourquoi? Et la ques­tion que chacun d’entre nous doit se poser: la faute en revient-­elle à ces trois généra­tions d’Allemands et de Français? Ces trois généra­tions étaient-­elles habitées d’une sorte de folie destructrice? Ces trois généra­tions étaient-­elles foncièrement mauvaises? Ces généra­tions étaient également les généra­tions de Thomas Mann, de Marcel Proust, de Marie Curie et de Robert Koch. Je ne crois pas que ces trois généra­tions étaient foncièrement mauvaises. Je crois que ces généra­tions étaient d’abord et avant tout prisonnières de la force des choses, c’est-­à-­dire d’un système de pensée et d’ac­tion, dans lequel chaque na­tion s’imaginait au-­dessus des autres. Un système de pensée et d’ac­tion dans lequel chaque na­tion se faisait une gloire d’être au-­dessus des autres au nom du détestable et trop fameux „égoïsme sacré“! Voilà où a conduit „l’égoïsme sacré“, où il a conduit le monde du 20ème siècle. La force des Pères fondateurs, de Jean Monnet, de Schuman, de Konrad ­Adenauer, de de Gaulle a d’abord été de comprendre qu’il fallait sortir de ce système mortifère. Et pour cela, qu’il fallait avoir le courage de se réconcilier afin d’être enfin capables d’agir non plus l’un contre l’autre mais l’un avec l’autre, pour le bien commun. Et qu’en agissant ainsi, l’un avec l’autre, la France et l’Allemagne, on ne trahissait pas sa patrie à laquelle ces hommes, je veux dire les pères fondateurs, restaient passionnément attachés, mais, au contraire, on permettait à sa patrie de renouer avec la paix, puis avec le progrès, puis avec la prospérité. C’est ainsi, et seulement ainsi, que le continent Européen a pu continuer à compter dans les affaires du monde durant la seconde moitié du 20ème siècle. C’est pour cela que l’amitié franco-­allemande est si fondamentale. Elle est fondamentale pour la France. Elle est fondamentale pour l’Allemagne. Elle est fondamentale pour l’Europe. Je veux dire quelque chose que je pense au fond de mon coeur: il n’y a pas d’alternative à la réconcilia­tion et à l’amitié franco-­allemande. Je veux dire quelque chose que je pense profondément: l’amitié entre la France et l’Allemagne n’est pas un sujet d’actualité politique, ce n’est pas une ques­tion de gauche ou de droite. L’amitié entre la France et l’Allemagne n’est pas liée à l’alternance démocratique dans chacun de nos pays. L’amitié franco-­allemande c’est une ques­tion absolument stratégique. Je veux même dire que c’est une ques­tion existentielle.

La France, l‘Allemagne, l‘Europe

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Nos peuples, le peuple français, le peuple allemand, doivent savoir, doivent comprendre qu’il s’agit de se rassembler ou de s’affronter. Qu’il s’agit de s’unir ou de se désintégrer. L’amitié franco-­allemande c’est le socle, socle sur lequel s’est bâtie la construc­tion européenne. Sans cette réconcilia­tion, il n’y aurait pas eu d’Europe, mais sans cette amitié entre nous, l’Europe ne peut pas avancer et s’il n’y a pas d’avancée européenne, le risque certain, c’est celui de la division. Voilà l’enjeu. Il ne faut pas jouer avec des choses aussi fondamentales. Nos peuples ont démontré leurs capacités à s’affronter durant des siècles. Nos peuples sont en paix depuis quelques décennies. Rien, absolument rien, jamais, ne doit pouvoir mettre en jeu cet acquis. L’amitié franco-­allemande c’est notre trésor commun, un trésor sacré, inestimable! Sans cette amitié, il y aurait eu d’autres guerres, il y aurait eu d’autres affrontements et il y aurait eu d’autres êtres humains sacrifiés. Qui serait assez fou, qui serait assez insensé, pour croire que ce trésor est acquis pour toujours? Ce trésor est fragile, nous en sommes les gardiens; pour le protéger, il n’y a qu’une seule façon d’agir, il faut le renforcer. Car, malgré ces décennies d’amitié, nos deux pays conservent leurs différences de tradi­tions, de caractères et de structures. Cela démontre par ailleurs que notre réconcilia­tion n’a pas dilué nos spécificités et c’est heureux! Mais cela signifie que notre convergence n’est pas automatique. Qu’elle dépend de nous, de nos efforts, de notre patience, de notre capacité à accepter des compromis. Depuis Adenauer et de Gaulle, il appartient à chaque responsable de nos pays respectifs d’y apporter sa contribu­tion. Pendant cinq ans, en étroite coordina­tion avec la Chancelière Merkel, nous avons fait tout ce qui était en notre pouvoir pour que nos deux pays agissent ensemble, pour éviter que la crise bancaire n’emporte l’économie mondiale, pour sauver l’euro de la tourmente qui menaçait de tout emporter. Dans la crise, l’Europe avait un besoin vital de leadership. Le leadership n’est pas un gros mot; le leadership c’est un devoir. Et quand on a peur du leadership, c’est qu’on a peur de ses responsabilités. La France et l’Allemagne ont un devoir vis à vis de l’ensemble du continent européen. La France et l’Allemagne, en assumant leur leadership pendant la crise, n’ont fait que leur devoir. Il faut dire la vérité: soit à l’avenir nous serons capables de travailler ensemble, d’unir nos forces, de faire des proposi­tions communes et nos deux pays seront à la hauteur de leur histoire dans un monde qui ne nous attendra pas. Car le monde du 21ème siècle n’attend personne. Soit nous laissons notre amitié se déliter et l’Europe se défera et avec elle tout ce que nous avons patiemment construit depuis plus de 60 ans et qui assure la paix et la stabilité. Il n’y a pas de troisième voie. L’union ou la division, l’entente ou l’affrontement. Il n’y a pas de demi-­mesure, il n’y a pas de faux semblants. Je suis convaincu que plus que jamais nous devons faire le choix de l’Europe. Et c’est parce que nous ferons ce choix vital que nous pourrons obtenir, imposer, entrainer nos partenaires vers des décisions qui ne peuvent plus attendre.

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L’union de l’Europe fait notre force face à une Asie au dynamisme impressionnant mais où s’aiguisent dangereusement les rivalités. L’union de l’Europe fait notre force face à une Amérique latine qui veut s’affirmer mais qui n’a pas encore choisi entre intégra­tion et repli sur soi. L’union fait notre force face à une Afrique qui a trop longtemps éparpillé son immense potentiel entre une cinquantaine d’Etats dont la stabilité et la force sont bien inégales, mais qui aujourd’hui s’éveille. Nous aussi nous avons nos faiblesses. La première est sans doute notre difficulté, à nous Européens, de regarder les choses en face. Et la première de ces difficultés c’est comprendre qu’il n’existe pas une Europe mais au moins deux. Ce n’est faire injure à personne que de dire les choses ainsi. Qui peut dire que l’Europe de l’euro et l’Europe des 28 ont les mêmes besoins en termes de structures, de prises de décisions et d’objectifs? Pour l’Europe de l’euro, à commencer par la France et l’Allemagne, le défi c’est d’aller plus loin dans une intégra­tion économique, afin de créer une zone de stabilité qui n’a que trop attendu 13 ans après la créa­tion de l’euro. Pour l’Europe des 28, le défi c’est d’être capable de se concentrer sur l’essentiel afin d’être prêt à accueillir, le moment venu, les Etats qui attendent à nos portes. La priorité pour les 28, c’est de se recentrer sur l’essentiel et d’abandonner, je dis d’abandonner, tant de compétences qui ne peuvent plus être assurées en commun maintenant que nous sommes 28. Plus d’intégra­tion pour l’Europe de l’euro, moins d’intégra­ tion pour l’Europe des 28. Voilà bien le choix paradoxal qu’il nous faut faire. La vérité, c’est que les pays de l’euro forment beaucoup plus qu’une simple zone! Nous avons fait le pari de mettre en commun notre monnaie. L’euro est devenu la pierre angulaire de la construc­tion européenne. La fin de l’euro serait la fin de l’Europe. La fin de l’Europe serait la fin de la paix, la fin de la stabilité, la fin du modèle européen d’économie sociale de marché. Mesure-­t-­on le cataclysme d’un tel scénario! Mesure-­t-­on les conséquences d’un tel cataclysme! C’est pour cela qu’avec la Chancelière Merkel nous avons mis tout en œuvre pour sauver l’euro lorsque la spécula­tion se déchainait et menaçait de tout emporter. Dans ce moment de vérité, la France et l’Allemagne ont fait face ensemble et, dans ce moment de vérité, l’Allemagne et la France ont surmonté l’épreuve ensemble. Aucun pays européen n’a cédé. Au contraire, les plus menacés ont été capables de faire des efforts qui paraissaient inimaginables. Aujourd’hui nos politiques économiques doivent être coordonnées, complémentaires, cohérentes. Depuis le traité de mars 2012, le gouvernement économique de la zone euro existe; il doit agir. L’Europe des 28, de son côté, n’avancera pas au même rythme. Nous devons respecter cela, l’assumer, c’est-­à-­dire l’organiser. L’Union européenne compte déjà 28 Etats membres. Elle en comptera demain ou après-­demain 32 voire 35. C’est sa mission historique.

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Il est notamment de l’intérêt de tous les Européens que les pays des Balkans nous rejoignent un jour et trouvent enfin, grâce à l’Union européenne, la réconcilia­tion, la stabilité et la prospérité. J’aime ce que disait Konrad Adenauer: „L’histoire est la somme de tout ce qui aurait pu être évité“. A l’heure où nous commémorons le drame de la Première Guerre mondiale, je le dis avec gravité, l’Europe ne peut pas se permettre d’ignorer Sarajevo et Belgrade. Les grandes puissances d’alors ont négligé le drame qui couvait dans cette région. Le 28 juin 1914, quand la mèche s’est allumée à Sarajevo, il était trop tard et la déflagra­tion n’a pas simplement ravagé les Balkans: la déflagra­tion a englouti un monde, celui de l’Europe que l’on appelait l’Europe de la „Belle époque“. Après la déflagra­tion qu’est-­il resté de la „Belle époque“? Nous ne pouvons pas commettre les mêmes erreurs! Pour réussir cette mission historique, l’Union européenne doit se concentrer sur ce qui est sa mission: assurer un grand marché loyal et efficace prenant appui sur quelques grandes politiques. Elle doit renoncer à la préten­tion de tout règlementer et de tout régenter. Ce n’est pas cela que voulaient les pères fondateurs. Comme tu l’écris à juste titre, Hans-­Gert: „L’Union européenne doit se concentrer sur l’essentiel pour que l’Europe soit forte là où elle est la seule à pouvoir agir.“ C’est aussi ce que je pense. L’Union européenne doit cesser de perdre du temps, de perdre de l’énergie, et par-­dessus tout, de perdre de la crédibilité sur des sujets qui ne relèvent pas à l’évidence de sa compétence! L’Union européenne doit cesser d’exaspérer les citoyens. L’Union européenne doit cesser d’exaspérer les entrepreneurs par des règlementa­tions toujours plus incompréhensibles sur des sujets sans cesse plus secondaires. Nous devons donc, et c’est un Européen convaincu qui vous parle, assumer l’abandon de pans entiers d’une activité communautaire d’aujourd’hui qui gagnerait grandement en lisibilité si elle se concentrait sur sept ou huit grandes politiques européennes, celle de l’industrie, celle de la recherche, celle de l’énergie, celle de l’agriculture ou encore celle de la concurrence. Quand on est fort, et l’Union européenne est forte, on n’a pas besoin de vouloir s’occuper de tout. Et à force de vouloir s’occuper de tout on finit par ne plus discerner aucune priorité. Soyons francs: cela demandera une grande vigilance, car il est toujours plus facile de multiplier les textes et il y a toujours de bonnes raisons pour y pousser; il est beaucoup plus difficile de mettre en place les politiques fortes et ambitieuses dont nous avons besoin, il y a toujours de mauvaises raisons pour ne pas agir, pour reporter à plus tard, pour attendre tel ou tel. Mais c’est ainsi que l’Europe pourra remplir sa voca­tion, qui est d’assurer aux na­tions du Vieux Continent la paix, la démocratie, l’Etat de droit. Et parce que nous avons la paix, la démocratie et l’Etat de droit nous pourrons espérer la prospérité. Il en va de l’avenir de nos deux na­tions, de notre continent et même du monde, parce que le monde d’aujourd’hui, celui du 21ème siècle, hésite entre

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un modèle privilégiant la confronta­tion et un modèle fondé sur la coopéra­tion, dont l’Europe doit être à la fois le promoteur et l’exemple. Enfin, il faudra proposer à l’Ukraine, à la Biélorussie, à la Géorgie et à la Russie, un nouveau cadre pour agir et travailler ensemble. Rien ne serait pire qu’un affrontement inutile avec la Russie, ici sans doute à Berlin on comprend cela mieux que partout ailleurs dans le monde. Cet affrontement serait catastrophique pour les Européens comme pour les Russes. Le 21ème siècle est le siècle de l’interdépendance. Le 21ème siècle est le siècle de la coopéra­tion. Le repli sur soi est, au fond, le choix le plus dangereux pour une na­tion quelle que soit sa taille et quelle que soit l’ancienneté de sa civilisa­tion. Alors pour réussir ces immenses défis, la France et l’Allemagne doivent agir ensemble. Divisés, Français et Allemands, l’échec est certain; unis, nous pouvons réussir. J’ai été heureux de pouvoir, aujourd’hui, saluer devant vous le parcours d’un grand ami de la France, d’un grand Allemand, d’un grand Européen, j’ai nommé Hans-­Gert Pöttering.

1 * Rede von Präsident a. D. Nicolas Sarkozy, gehalten am 28. Februar 2014 im Allianz Forum Berlin anläss­lich der Präsenta­tion des Buches „Wir sind zu unserem Glück vereint“.

Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft Franz Schoser

Die Soziale Marktwirtschaft wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegen massive politische Widerstände in der Innenpolitik eingeführt und umgesetzt. Das wird heute oft vergessen, weil diese Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung die Mehrheit der Opponenten überzeugte, und der Erfolg den Befürwortern Recht gab. Denn schon in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurden richtige Schlüsse aus den Fehlentwicklungen in der Weimarer Republik, aus der Weltwirtschaftskrise und der na­tionalsozialistischen Wirtschaftsverfassung abgeleitet. Die Soziale Marktwirtschaft hat im Zuge der europäischen Integra­tion auch ihren Weg nach Europa gemacht, in dem viele ihrer Elemente in die Wirtschaftsordnung der europäischen Integra­tion eingeflossen sind, besonders in die Maastrichter Verträge. Aber im na­tionalen und auch im europäischen Rahmen sind schleichend dauerhaft Probleme entstanden, die zu einer Erosion der Erkenntnisse und der Beachtung der Prinzipien und Bedingungen dieser gesellschaftspolitisch ausgerichteten Wirtschaftsordnung geführt haben. Glück­licherweise haben viele Elemente des institu­tionellen Rahmenwerkes diesen Prozess der Nicht-­Beachtung überstanden und wirkten dämpfend. Es dauerte lange, bis dieser Erosionsprozess und der zunehmende Bedarf an ordnungspolitischer Orientierung auf breiterer Ebene wahrgenommen wurden. Eine Institu­tion, die hier eine Vorreiterrolle übernommen hat, ist die Konrad-­ Adenauer-­Stiftung. Sie rückte eine Leitidee ihrer Aufgabenstellung wieder in das Zentrum ihrer na­tionalen und interna­tionalen Arbeit – das Eintreten für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft auf der Grundlage der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Dieser Prozess der Nicht-­Beachtung der Grundlagen des gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Erfolges erfasste nahezu alle Bereiche der Öffent­lichkeit – auch die Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten. Sie folgten mehrheit­ lich dem „mainstream“, in dessen Mittelpunkt die mathematischen und quantitativen Methoden stehen. Ordnungspolitisch ausgerichtete Lehrstühle wurden nicht wieder besetzt. Das durchgängige Versagen ­dieses „mainstream“ bei der Voraussage und bei den Lösungen der Krisen der vergangenen 20 Jahre hat die Notwendigkeit aufgezeigt, Institu­tionen, Regeln und qualitative Elemente sowie das Verständnis für die Interdependenz von Wirtschaft und Gesellschaft wieder stärker zum Gegenstand der wissenschaft­lichen Analysen und der Wirtschaftspolitik zu machen. Die Wirtschaftswissenschaften sind eben keine exakte Wissenschaft, sondern ein Teil der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften.

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Das Unbehagen führte in der Konrad-­Adenauer-­Stiftung früh zu einer Umorientierung – angeregt von einzelnen Repräsentanten Die erste Anregung wurde von drei Autoren aufgenommen, den Herausgebern Rolf H. Hasse, Hermann Schneider und Klaus Weigelt des „Lexikon Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik von A bis Z“. Es ist mittlerweile in zwölf Sprachen übersetzt (die erste Übersetzung war 2005 ins Chine­sische) und ist ein wichtiges Hilfsmittel in der interna­tionalen Arbeit der KAS. Seit kurzem steht eine Online-­Version in deutscher Sprache im Netz auf der Homepage der KAS , die sehr stark genutzt wird. Die zweite Anregung führte zur Gründung des Promo­tionskollegs Soziale Marktwirtschaft, das 2010 seine Arbeit aufnahm. Die Konzep­tion ist anspruchsvoll und folgt den Grundideen der beiden Persön­ lichkeiten, die in dem Logo stehen – Ludwig Erhard und Alfred Müller-­Armack. Die Konzep­tion –– verbindet wissenschaft­liche Exzellenz und gesellschaftspolitisches Engagement; –– sie strebt eine Verbreitung des Wissens um die Soziale Marktwirtschaft in der Moderne an; –– sie zielt auf eine Fortentwicklung des wissenschaft­lichen Konzepts und der praktischen Anwendung der Sozialen Marktwirtschaft – na­tional und interna­ tional; sie strebt den Anschluss und die Integra­tion der theoretischen und empirischen Methoden der modernen Wirtschaftswissenschaft an, die fruchtbar für eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gemacht werden können; –– und letzt­lich ist es ein Ziel, die Ordnungspolitik auf ­diesem Niveau im Kanon von Forschung und Lehre wieder an den Universitäten zu verankern. Gerade die Verbindung von wissenschaft­licher Exzellenz und die Sicht auf die wirtschaft­liche und wirtschaftspolitische Praxis kennzeichnen die ­Themen der Disserta­tionen, die häufig im Rahmen größerer Forschungsvorhaben stehen. Dies entspricht –– dem Credo von Alfred Müller-­Armack, der auch kurze Zeit Vorsitzender der KAS war, dass die Soziale Marktwirtschaft eine Konzep­tion für die Praxis ist, die auf wissenschaft­lich fundierten Prinzipien aufbaut und gleichzeitig der Dynamik von Gesellschaft und Wirtschaft gerecht werden muss, –– und dem Credo von Ludwig Erhard, der die Beachtung von gesellschaftspolitischen Zielen und Voraussetzungen in der Wirtschaftspolitik als Leitidee seiner Tätigkeit sah. Die personelle Zusammensetzung ist ein gutes Omen für die fruchtbare Zusammenarbeit an den großen Zielen: –– Als Initiator des Promo­tionskollegs verbinden mich mit dem wissenschaft­ lichen Leiter ­dieses Kollegs, Professor Dr. Rolf H. Hasse, die gemeinsamen

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wissenschaft­lichen Wurzeln bei Professor Dr. Alfred Müller-­Armack. Der eine fand seinen beruf­lichen Weg in der Wirtschaftspraxis und Wirtschaftspolitik. Der andere schlug die wissenschaft­liche Laufbahn ein. –– Der wissenschaft­liche Beirat verkörpert nicht nur wissenschaft­liche Exzellenz, sondern repräsentiert auch stark die jüngere Genera­tion der Ordnungstheoretiker und Ordnungspolitiker an den Universitäten. –– Und die Kollegiaten sind die nachfolgende Genera­tion. Sie promovieren im In- und Ausland. Ihre T ­ hemen sind breit gefächert. Gleichzeitig sind sie geprägt von der Erkenntnis der Interdependenz von der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Die ­Themen sind weltoffen ausgerichtet und werden mit allen Methoden der modernen Wirtschaftswissenschaft bearbeitet, zu denen sie eigene Beiträge und Anregungen erarbeiten. Die ­Themen und Inhalte der Promovenden sind sichtbare und erstaun­liche Belege für die oben genannten Ziele der Promo­tionskollegs. Das Promo­tionskolleg Soziale Marktwirtschaft der Konrad-­Adenauer-­Stiftung ist in Deutschland in seiner Konzep­tion und Ausprägung einmalig. Es sichert die Zukunft unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vor allem dadurch, dass junge Menschen durch Ihre Studien und Publika­tionen ihre Kerngedanken eingehend erforschen und diese in Wissenschaft und Praxis einfließen. Sie sind damit auch in der Lage, als nächste Genera­tion und wissenschaft­licher Nachwuchs die ordnungspolitischen Konzepte und Inhalte fortzutragen und fortzuentwickeln.

Österreich und die europäische Union Wolfgang Schüssel

Nachbarn sind manchmal recht anstrengend – sie kennen uns, wissen eine ganze Menge von uns, haben eine (lange) gemeinsame Geschichte mit uns. Sie hören viel, sehen manches und – im Falle Österreich, Schweiz und Deutschland – verstehen sogar alles. Wir sind ja nicht einmal durch die Sprache getrennt. Nachbarschaft kann schwierig sein – denken wir an die konfliktreiche Geschichte der Deutschen und Franzosen, Polen und Balten, Russen oder Ukrainer heute. Auch Österreicher, Bayern, Preußen, Schweizer haben einst ihren Wettstreit nicht nur auf Fußballplätzen oder Skihängen ausgetragen. Fern-­sehen ist ja auch viel unterhaltsamer und entspannter als Nah-­Sehen, wo jeder Krähenfuß, jede Falte, jeder verzogene Mundwinkel, gelangweilte Blick, jeder sprach­liche Ausrutscher gnadenlos zutage tritt. Bei den Deutschen schwingt natür­lich auch der Größenunterschied mit. „David und Goliath“ – fällt Schweizern und Ösis gleich einmal ein, aber zugleich auch der Stolz, in den vergangenen Jahren längst unverwechselbare Marken geschaffen zu haben. Was das alles mit der Union zu tun hat? Eine ganze Menge, denn seit unserem EU-Beitritt vor 20 Jahren hat sich unser Land durch Integra­tion und Ostöffnung/ Erweiterung von der Peripherie ins Herz Europas bewegt, von einer isolierten Posi­tion ­zwischen den Machtblöcken des Kalten Kriegs in ein Gefühl: „besser gemeinsam als einsam“. Nach zwei erfolgreichen EU -Präsidentschaften und einflussreichen Europapolitikern wie Franz Fischler, Benita Ferrero-­Waldner, Ursula Plassnik, Johannes Hahn, Wilhelm Molterer wissen wir auch, wie der europäische Macht- und Gestaltungsapparat funk­tioniert und bewegt werden kann. Die Verhandlungen (zugleich mit Finnen, Schweden und Norwegern) waren nicht einfach. Kommissionspräsident Jacques Delors hatte ja eigens das Modell eines Europäischen Wirtschaftsraumes erfunden, um künftige Beitrittsambi­tionen abwehren zu können. Es gab dazu eine innerösterreichische Diskussion – das skeptische Außenministerium unter Bundesminister Alois Mock sah im EWR eher ein Beitrittsverzögerungsinstrument, das von mir geführte Wirtschafts­ ministerium vielmehr ein ideales Trainingscamp für den Vollbeitritt. Die Geschichte half uns, denn der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa wirkte wie ein Turbobeschleuniger auf unsere Verhandlungen, die Anfang März 1994 abgeschlossen wurden. Die Volksabstimmung vom 12. Juni ergab ein überwältigendes Ja mit Zweidrittelmehrheit – der Beitritt erfolgte am 1. Jänner 1995. Nie werde ich die Rede von Alois Mock zum erfolgreichen Abschluss unserer Verhandlungen in Brüssel vergessen: Er dankte den zwölf damaligen Mitgliedsländern der EG und forderte zugleich die baldige

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Aufnahme von Erweiterungsgesprächen mit den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL). Für mich klangen diese Worte wie ein Vermächtnis. Nach Alois Mock wurde ich Außenminister (1995 – 2000) und konnte als wichtigen Markstein der österreichischen Präsidentschaft 1998 die ersten Beitrittsverhandlungen beginnen und ­später als Bundeskanzler mit zehn neuen Mitgliedern 2004 und mit Rumänien und Bulgarien am 1. 1. 2007 abschließen. Wirtschaft­lich war der Beitritt für Österreich ein Segen. Wir haben seit dem Beitritt an allen vertiefenden Schritten der EU-Integra­tion teilgenommen. Diese Schritte verstärkten das österreichische Wachstum um etwa 1 Prozent pro Jahr. Der Außenhandel verdreifachte sich, das Niveau des Volkseinkommens stieg um 65 Milliarden Euro, die Arbeitslosenquote sank um jähr­lich 0,7 Prozent. Wirtschaftsfesseln wurden deut­lich gelockert. Die FDI-Bestände im Ausland stiegen seit 1995 um mehr als das Zehnfache des österreichischen BIP (von 5 Prozent des österreichischen BIP im Jahr 1995 auf 55,7 Prozent des BIP im Jahr 2014). Unsere Bauern wurden zu Nettoexporteuren. Vom Beginn an sind wir Teil der Eurozone; Schengen-­Mitgliedschaft und Prüm-­Koopera­tion sind selbstverständ­liche Instrumente für unsere Sicherheit. Natür­lich hat sich die Welt in den letzten 20 Jahren weitergedreht. Viele, oft unbequeme Fragen harren der Antwort. Was bedeutet Souveränität und Identität im „global village“ von heute. Wie souverän ist Griechenland eigent­lich, wie selbständig kann der Deutsche Bundestag oder unser Na­tionalrat noch über die Rettungspakete entscheiden? Gab die Schweizer Na­tionalbank die feste Untergrenze Franken-­Euro wirk­lich freiwillig auf – war die SNB -Bilanzsumme (gemessen an der Größe der Volkswirtschaft) doch Ende 2014 schon 4-mal so hoch wie bei der EZB ? Sind die Entscheidungen der Europäischen Zentralbank, mehr als tausend Milliarden Euro ins Finanzsystem (QE ) zu pumpen, noch mit den Grundsätzen des Maastricht-­Vertrags vereinbar? Warum bringen wir noch immer keine kohärente und schlüssige gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zustande? Wären nicht die Verstärkung des Binnenmarktes und der Abschluss wichtiger Freihandelsverträge der beste Wachstumsmotor? Wenn ja, warum weichen viele vor öffent­lichen unterstützenden Stellungnahmen zu TTIP zurück? Insgesamt beurteilen die Österreicher 20 Jahre nach dem Beitritt die Mitgliedschaft in der Union positiv. Im langjährigen Durchschnitt liegt die Zahl der Befürworter bei 70 Prozent, ein schwaches Viertel bleibt skeptisch. 60 Prozent sind für den Euro, 70 Prozent anerkennen die „friedensstiftende Rolle“ der EU, 85 Prozent ihre wirtschaft­liche Bedeutung – zugleich gilt die EU als kompliziert (93 Prozent), für fast 40 Prozent „fern“. Also liegt noch einige Arbeit vor uns. Die Vielfalt an Sprachen, Dialekten, Klängen, Geschichten, Religionen, Talenten, Herkünften, Zukünften – all dies ist doch Vorteil und Geschenk an unser Europa. Und diese vielfältige, klangreiche Stimme Europas muss lauter werden – gegen die Megafone des Boulevards, gegen die Verlockungen der

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schreck­lichen Vereinfacher, sogenannte europäische Patrioten, die Populisten mit ihren rückwärtsgewandten Allgemeinplätzen! „Europos“ ist ja – wört­lich übersetzt – der, der weit und gut sieht. Die Voraussicht, Zuversicht hat Europa vielfach bewiesen und uns gut getan – bei der Gründung, der schrittweisen Erweiterung, der Schaffung einer gemeinsamen Währung. Jetzt gilt es mehr denn je, unsere Bürger zu motivieren, mitzunehmen auf den spannenden Zukunftsparcour, den unser Kontinent gerade durchläuft. Was dies alles mit dem Geburtstag von Hans-­Gert Pöttering zu tun hat? Weil Hans-­Gert eben eine s­ olche wichtige Stimme ist – immer neugierig auf das Kommende, wachsam gegen Gefahren der Bequem­lichkeit, ein Gegner der Nabelschau, ein Verfechter der demokratischen Willensbildung mit dem EP, ein Kämpfer für die Schwachen und Stimmlosen, stets für ein noch besseres, bürgernahes europäisches Lebensmodell. Und ein guter Nachbar dazu – als Frak­tionschef der großen EVP, s­ päter Parlamentspräsident, Vorsitzender der Konrad-­Adenauer-­Stiftung. Pöttering ist ein blendender Skifahrer und somit auch ein „Gründungsmitglied“ der von mir initiierten legendären Arlbergrunden des Europaforums Lech mit den Kommissionspräsidenten Romano Prodi und José Manuel Barroso, an denen Regierungschefs, Minister, Spitzenbeamten teilnahmen – wo viele wichtige Weichenstellungen vorbesprochen und offen diskutiert wurden. Hans-­Gert Pöttering gehörte bereits dem ersten 1979 frei gewählten Europaparlament an und blieb bis 2014 in parlamentarischen Spitzenposi­tionen: Leiter der Arbeitsgruppe Erweiterung, Frak­tionschef der EVP, Präsident des EP . Er begleitete die Süderweiterung um Griechenland (1981), Spanien und Portugal (1986), die EFTA-Länder Österreich, Schweden und Finnland (1995), die MOEL -Gruppe (2004), Rumänien und Bulgarien (2007) sowie Kroatien (2013). Regierungskonferenzen, Binnenmarkt und Euro-­Einführung – kein europäisches Thema, das Hans-­Gert Pöttering nicht federführend bearbeitete. Besonders in der Erweiterungsdynamik verdient Hans-­Gert einen Ehrenplatz. Das ist die wirk­liche Erfolgsgeschichte Europas der letzten 20 Jahre. Seit dem ma­gischen Wendejahr entstanden 25 neue Staaten in Europa, die EU wuchs von zwölf auf 28 Mitgliedsländer, die Bevölkerung von 270 Millionen auf über eine halbe Milliarde Menschen. Diese Erweiterung flankierten 400 Milliarden Euro Investi­tionen der EU in die neuen Mitglieder. Nur zum Vergleich – der US Marshall-­Plan nach dem Zweiten Weltkrieg betrug etwa 13 Milliarden US Dollar, zu heutigen Preisen wären das 100 Milliarden Euro. Und diese Erweiterung trug reiche Früchte – Polen verdoppelte in zehn Jahren Mitgliedschaft sein BIP und verdreifachte die Exporte. Gleiches gelang den Balten, mit einigem Abstand vor Tschechen, Slowaken und Ungarn. Und stellen wir uns bloß vor, wie es um Rumänien und Bulgarien stünde angesichts der Spannungen um die Ukraine und Russland! Hier haben die Vorausblickenden wie Helmut Kohl und Hans-­Gert Pöttering Großartiges ermög­licht.

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Nachbarschaft, vor allem gute Nachbarschaft, lehrt vieles: sie macht sensibel dafür, was man besser unterlassen sollte – Rasenmähen am Sonntag, zu laute Nachtmusik, grenznahe AKW, Belehrungen von oben herab oder, am schlimmsten, Desinteresse und Geringschätzung. Der Blick zum Nachbarn kann aber auch sehr bereichernd sein: die optimale Pflege des Gartens, Lernen an best practices. Kapieren und Kopieren ist immer erlaubt! Einen Nachbarn wie den Deutschen und Europäer Hans-­Gert Pöttering zu haben – ein Glück!

The role of Italy for a united Europe The way forward Antonio Tajani

Italy’s role has been key and, on several occasions, crucial for European integra­ tion. As a founding Member of the European Communities, Italy hosted in Rome the signing of two landmark treaties for European integra­tion in 1957: the EEC and the Euratom Treaties. Italy has been an important “initiator” of policies in favour of a united Europe and a talented “mediator” during difficult phases for the European integra­tion process. These are probably the main characteristics of Italy’s contribu­tion to the European project so far. In its role as “initiator”, Italy has played a key role in relaunching the European integra­tion process in the 1950s. During the conference of Messina in 1955, Italy’s contribu­tion was fundamental in laying down not only the principles for the Treaty of Rome, but also, and most importantly, in contributing to the development of a European social policy. During the preparatory works of the so-­called Spaak committee, Italy’s role was crucial in achieving key principles, such as the recogni­tion of labour mobility or a regional differentia­ tion of European policies which led to the enshrinement of labour mobility in the Treaty of Rome and to the crea­tion of the European Social Fund and of the European Investment Bank. Italy was at the core of the initia­tion of European social and regional policies. Some decades later, following a difficult period for European integra­tion due to the economic crisis of the 1970s, Italy, on the occasion of the Milan European Council, was able to pave the way to an intergovernmental conference on the reform of the Treaties. This initiative, promoted by Bettino Craxi and Giulio Andreotti, led to the Luxembourg conference and to the signature of the Single European Act. The Act was a cornerstone for European integra­tion. It namely laid down the objectives for establishing a single market by 31 December 1992 and codified the European Political Coopera­tion, the forerunner of the European Union’s Common Foreign and Security Policy. Italy also succeeded in its role as initiator of Treaty revisions during the Florence intergovernmental conference of 1996 which ended with a unanimous consensus, paving the way to the signature of the Treaty of Amsterdam. This success confirmed Italy’s strong commitment to the development of a European social policy. In fact, the Treaty of Amsterdam led to greater emphasis being put on European citizenship and the rights of individuals, including a new title in the Treaty on employment, as well as to a more

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democratic institu­tional arrangement by increasing the powers of the European Parliament. Last but not least, Italy’s contribu­tion to the development of European integra­ tion and to the revision of the treaties of the Union over the years could have also been pursued for the European Constitu­tion. The first inaugural session of the intergovernmental conference was namely held in Rome. The Treaty establishing a Constitu­tion for Europe failed due to its rejec­tion during a referendum held in France and in the Netherlands respectively. Nonetheless, the main changes that were originally found in the Constitu­tional Treaty were later incorporated by the Lisbon Treaty in 2007. They concern in particular new competences for the Union as in the case of so-­called shared competences in fields such as territorial cohesion, energy and space, and a reinforcement of the powers of the European Parliament by extending co-­decision to several legislative areas, thus putting the Parliament on equal footing with the Council in its role as co-­legislator. Italy’s role as “mediator” has been crucial during difficult phases for European integra­tion. Italy’s commitment to the European project has been fundamental in overcoming the crisis of the “empty chair” initiated by President de Gaulle in 1965/1966. It was thanks to the diplomatic skills of Italian experts within the administra­tion and to the Italian Treasury Minister, Emilio Colombo that the stalling effect provoked by an opposi­tion between the “five” and the French government on the Common Agricultural Policy came to an end. In fact, during a meeting with the French Foreign Minister, Maurice Couve de Murville, Colombo proposed a formula for a possible compromise solu­tion which has led to the so-­called Luxembourg compromise. Italy’s “mediating role” was particularly important during the first enlargement processes of the European Union. The Italian government supported the applica­tion of the United Kingdom to join the European Communities from the very beginning, despite opposi­tion from France. The importance given by Italy to the accession of the UK has been crucial in counterbalancing the rather hegemonic approach of President de Gaulle and in fostering transatlantic ties with the US. Addi­tionally, Italian politicians perceived the liberal model of the UK regarding social and economic policy as a chance to establish necessary reforms in Europe, in particular concerning the employment market. Last but not least, Italy acted as a successful “mediator” for the enlargement of the European Communities to Spain and Portugal, thus paving the way to an ever more “Mediterranean Union”. Indeed, the development of the European Communities towards the Iberian Peninsula led to a new political and economic balance in Europe, opening up possibilities for a better representa­tion of Southern European interests. The financial and economic crisis which started in 2008 has led to drastic cuts in public spending and increased taxa­tion. These factors increased the cost of European integra­tion for Italians and led to a situa­tion whereby, for the first

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time, political parties could gain from this widespread discontent with European integra­tion. As a consequence, Euroscepticism has permeated the political system, giving a raison d’être to disruptive political movements such as the Five Star Movement founded by former comedian Beppe Grillo. Italy is not the only country where Euroscepticism has gained in importance following the economic crisis. A look over to France where the Front Na­tional has become the second political force in the last local elec­tions or to Greece where the party led by Alexis Tsipras is currently governing the country is enough to ascertain a European-­wide dissatisfac­tion towards European integra­tion. Nonetheless, as is the case with every crisis, the current situa­tion could also become an opportunity to strengthen European unity, thus leading to more European integra­tion in important political areas such as taxes and defence. But in order to turn this crisis into an opportunity, Europe and, in particular, the European Centre-­right within the European People’s Party has to overcome two important challenges. On the one hand, it is crucial to ensure economic reco­very as soon as possible. On the other, Europe has to stay united against external threats such as the rise of an Islamic Caliphate in the Middle-­East. This means promoting not only Europe as an economic area but also, and most importantly, defending core values of the European project. Europe has many economic assets. We have a market with over 500 million citizens and are thus the largest trading block as well as the largest trader of manufactured goods and services in the world. But Europe is first and foremost a political project that seeks to ensure the peaceful and successful coexistence of its popula­tion. Europe is an ambitious and complex project which is based on solidarity and the rule of law. As to the first challenge, i. e. economic recovery, it is crucial that industrial renaissance is kept as a core objective for the European integra­tion process in the years to come. The priority should be the real economy. In this context, one should bear in mind that Europe suffers from an investment gap estimated at 500 billion euros. Even if the Juncker Plan contributes to filling this gap by mobilizing over 315 billion euros and creating a pipeline for projects, this is not the only long-­term solu­tion which is needed to put the European economy back on track. Europe will need a policy mix in order to create a favourable environment for businesses, in particular small and medium-­sized enterprises (SME) which are the backbone of our economic systems. To this end, we have to make more efforts to simplify and improve European legisla­tion in order to reduce administrative and bureaucratic burdens. In addi­ tion, we have to solve the problem of access to financing for SMEs. Funds like COSME or Horizon 2020, together with projects such as Erasmus for Young Entrepreneurs, are already fostering more European entrepreneurship and business development. For this reason, projects like the crea­tion of a Capital M ­ arkets Union should be supported and further developed since it would finally enable

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the diversifica­tion of sources for funding, including venture capital and crowdfunding, while making various markets work more effectively so that connec­tions between investors and those who need funding can be developed more efficiently. Of course, neither the Juncker Plan nor a Capital Markets Union will ensure economic recovery if member states do not also proceed with important structural reforms, in particular as regards employment and industry. But the efforts of member states regarding structural reforms have to be coordinated in order to strengthen the economic and monetary Union. The crisis has clearly shown that we can no longer conceive European eco­ nomy as consisting of separate na­tional economies. Our economies are closely intertwined. Economic challenges are therefore not only na­tional, but first and foremost European. For this reason, we need a better and more enhanced coordina­tion of na­tional economic policies. Europe should work towards integrating fiscal and economic policies and increasing the level of implementa­ tion of important instruments such as the Country Specific Recommenda­tions. The recent terrorist attacks in Europe and the rise of an Islamic Caliphate are challenging the core values of European integra­tion and are showing how serious the terrorist threat is to Europe. To strengthen our efforts against terrorism, Europe needs, first of all, to reinforce existing instruments. To this aim, we need preventive and repressive measures. On the preventive side, we have to fight against radicalisa­tion, in particular among young people. We must do more to combat this phenomenon, address the root cause of the problem by fostering social inclusion, promoting integra­tion, dialogue and tolerance, and working more closely with local communities. On the repressive side, Europe has to strengthen coopera­tion between na­tional authorities by increasing the efficiency of the Schengen Informa­tion System (SIS) and reinforcing coopera­tion between Europol and other EU and na­tional agencies. In addi­tion, an EU Passenger Name Record directive (EU PNR) is necessary to substantially enhance the security of everyone living in Europe. The challenges arising from terrorist threats are directly linked to the problems stemming from an insufficient policy on migra­tion at European level. Europe needs a comprehensive strategy for the Mediterranean. Europe must urgently upgrade its search and rescue opera­tions beyond the existing instruments in order to finally put an end to an ongoing human tragedy on its doorstep and fight the origin of illegal immigra­tion. The challenges described above concern only a few issues which will have to be addressed in the years to come in order to keep the European integra­tion process on the right track. For this, Europe needs a united centre-­right able to start and implement ambitious reforms in favour of a social market economy based on liberalism and entrepreneurship. In this context, Italy will certainly play a key role as has been the case during the last 70 years. To this end, Italy needs a strong centre-­right which acts

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within the framework of the European People’s Party and pursues crucial policies which should lead to the next political achievements for European integra­ tion such as a fiscal Union, a defence Union and, most importantly, a political Union. Italy has to re-­establish those close ties with the German and French centre-­right as well as Eastern countries such as Poland and Mediterranean partners such as Spain. A coopera­tion which has been crucial during the 1990s to restore political confidence in Italy and boost crucial political reforms to liberalise the economy and the labour market in Europe. All of this was possible thanks to a successful coopera­tion among Forza Italia, the CDU/CSU, the UMP , the Partido Popular and other political forces within the centre-­right in Europe. This coopera­tion is crucial for the future of Europe and should be continued and strengthened within the framework of the European People’s Party, the first European party in Europe. The unity of the European centre-­right is essential also to defend the values at the basis of the European project such as peace, tolerance and the respect for human rights. Europe has to arm itself with these values in order to combat the globalisa­tion of hatred in all its forms. Europe’s greatest wealth resides in the plurality of its peoples and religions. This wealth was recognised by our predecessors and it is the fundament of the European Union, as our motto “united in diversity” states. We always have choices in life. And Europe has chosen peace, tolerance, solidarity and respect for human dignity. It is these shared values on which our history is based and which will determine the future of European integra­tion and of the biggest political family in Europe: the European People’s Party.

Demokratie braucht Demokraten Zur Rolle der politischen Stiftungen Michael Thielen und Gerhard Wahlers

Als am 13. Mai 1971 bei der Konrad-­Adenauer-­Stiftung eine Bewerbung um ein Promo­tionsstipendium eingeht, scheint zunächst alles wie gewohnt. Die Unterlagen beinhalten unter anderem den Lebenslauf des Kandidaten, in dem es am Ende heißt: „Als voraussicht­liches Berufsziel erstrebe ich eine Tätigkeit im Verwaltungsdienst. Daneben wird wie bisher die praktische Betätigung im politischen Bereich im Vordergrund stehen.“ Der Bewerber, der da recht nüchtern das Ziel einer „Tätigkeit im Verwaltungsdienst“ angibt, ist Hans-­Gert Pöttering. Später sollte aus ihm der „Meister des Kompromisses“ und einer der verdientesten Europapolitiker Deutschlands werden. „Eine praktische Betätigung im politischen Bereich“ Für die Promo­tionsförderung jener Stiftung, der Hans-­Gert Pöttering heute vorsitzt, ist mit der erfolgreichen Abgabe der Disserta­tion „Die verteidigungspolitische Konzep­tion der Bundesregierung von 1955 – 1963 unter besonderer Berücksichtigung der Militärstrategie der USA“ die „Akte Pöttering“ vorerst geschlossen. Der Altstipendiat, so ließe sich aus Stiftungssicht jedoch augenzwinkernd anmerken, verliert sein Ziel einer „Tätigkeit im Verwaltungsdienst“ aus den Augen. Zum Glück, wie fast 40 Jahre ­später getrost angefügt werden kann. Hans-­Gert Pöttering zieht es in die Politik. Und das mit großem Engagement und mit beispielhaftem Einsatz für demokratische Werte, wie ein Blick auf seine Sta­tionen zeigt. Bis heute ist er aktiv in seiner Partei, der Christ­lich Demokratischen Union; war unter anderem Vorsitzender der Jungen Union im Landkreis Osnabrück, Vorsitzender des CDU-Stadtverbandes Bersenbrück, 20 Jahre Kreisvorsitzender der CDU im Landkreis Osnabrück. Für Hans-­Gert Pöttering sind Heimat, Vaterland und Europa untrennbar miteinander verbunden. Sein Wirken, seine Ämter, Veröffent­lichungen, Ehrungen und Mitgliedschaften zeigen einen überzeugten und verantwortungsbewussten Demokraten Niedersachsens, Deutschlands und Europas. Die Konrad-­Adenauer-­Stiftung ist glück­lich – und auch stolz – mit Hans-­Gert Pöttering einen Vorsitzenden an der Spitze zu haben, der weiß wovon er spricht, wenn es um Demokratie geht – denn das ist der Kernauftrag der Konrad-­Adenauer-­Stiftung.

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Dienstleister für die Demokratie Wie der „Auftrag Demokratie“ für eine politische Stiftung formuliert wird, ließe sich beispielsweise unter Zuhilfenahme der Satzung jener Stiftung erläutern, der Hans-­Gert Pöttering vorsitzt. Darin heißt es, die Konrad-­Adenauer-­Stiftung verfolge „auf christ­lich-­demokratischer Grundlage ausschließ­lich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke. Sie wird insbesondere politische Bildung vermitteln, die geschicht­liche Entwicklung der christ­lich-­demokratischen Bewegung erforschen und dokumentieren, durch Forschung und Beratung Grundlagen politischen Wirkens erarbeiten, die europäische Einigungsbewegung unterstützen, die interna­tionale Verständigung durch Informa­tionen und Begegnungen pflegen sowie mit entwicklungspolitischen Projekten und Programmen Hilfe leisten, politisch verfolgten Demokraten ideelle und materielle Hilfe gewähren, die wissenschaft­liche Aus- und Fortbildung begabter und charakter­lich geeigneter junger Menschen fördern, Kunst und Kultur durch Veranstaltungen und Stipendien fördern, der Öffent­lichkeit die Ergebnisse ihrer Arbeit zugäng­lich machen.“ Es ist ein breites Aufgabenportfolio, das die politischen Stiftungen bearbeiten: politische Bildung, zeithistorische Forschung, Politikberatung, europäische und interna­tionale Zusammenarbeit, Begabtenförderung. Dabei sind sie sowohl kommunal, na­tional, europäisch als auch interna­tional orientiert und tätig, weder parteiisch noch unparteiisch. Keine selbstnützige, sondern eine gemeinnützige Rolle müssen sie erfüllen und nicht nur auf einer ideellen Grundlage arbeiten, sondern diese politische Grundströmung auch weitertragen. Politische Stiftungen unterscheiden sich in ihren Strukturen und Aufgaben nicht fundamental voneinander. Zuallererst stehen sie in einem Dienst, einem Dienst an der Demokratie. Darauf haben sich die politischen Stiftungen in einer gemeinsamen Erklärung 1998 verständigt: „Die Konrad-­Adenauer-­Stiftung, Friedrich-­Ebert-­Stiftung, Friedrich-­Naumann-­Stiftung, Hanns-­Seidel-­Stiftung und die Heinrich-­Böll-­Stiftung sind die der Christ­lich Demokratischen Union Deutschlands, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der Freien Demokratischen Partei, der Christ­lich Sozialen Union in Bayern und der Bundespartei Bündnis 90/Die Grünen nahestehenden Politischen Stiftungen. Mit der Wahrnehmung ihrer satzungsmäßigen Aufgaben wollen sie zur Gestaltung der Zukunft unseres Gemeinwesens beitragen. Ihre gesellschaftspolitische und demokra­ tische Bildungsarbeit, Informa­tion und Politikberatung im In- und Ausland [sind] auf den Prinzipien der freiheit­lich demokratischen Grundordnung [aufgebaut] und den Grundsätzen der Solidarität, Subsidiarität und gegenseitigen Toleranz verpflichtet […].“ Dieses Selbstbild der politischen Stiftungen ist unmissverständ­lich, sie arbeiten in einem demokratischen Bewusstsein – für ein demokratisches Bewusstsein auf allen Ebenen, im Inland wie in ihrer weltweiten Tätigkeit. Sie sind Teil der demokratischen, politischen Kultur unseres Landes.

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Die politischen Stiftungen im Parteiengefüge Den politischen Stiftungen wird immer wieder die Frage gestellt, wie parteinah sie agieren – in zweifachem Sinne. Die einen fragen kritisch, ob es sich bei den Stiftungen nicht ledig­lich um eine verlängerte Werkbank der jeweiligen Partei handle. Die anderen fragen, ob sie nicht zu viel arrivierte Distanz zu den Parteien an den Tag legen, denen sie qua Satzung nahestehen. Zu nah, um unabhängigen Rat zu geben? Oder doch zu weit oben im wissenschaft­lichen und intellektuellen Elfenbeinturm, um realitätswirksame Analysen und Empfehlungen zu geben, die in die tagtäg­liche politische Arbeit einfließen können? Ja, politische Stiftungen sind parteinah. Sie spiegeln die politischen Grundströmungen. Zugleich, und das macht sie einmalig, ist es ihre ureigene Aufgabe, jenseits tagespolitischer Zwänge, denen andere Institu­tionen ausgesetzt sind, jenseits von Wahlperioden, „auf Vorrat zu denken“, Neues zu erproben, um so Op­tionen aufzuzeigen. Umsichtiges Handeln und Zukunftsfestigkeit sichern Eine der wesent­lichen Aufgaben liegt darin, vielschichtige Zusammenhänge und die immer weiter steigende Informa­tionsflut auf ein verständ­liches Maß zu reduzieren, komplexe politische Prozesse verständ­lich zu machen. Die Rahmenbedingungen der Politik ändern sich: wirtschaft­liche Globalisierung, Ausdifferenzierung der Gesellschaften, komplexer werdende na­tionale und interna­ tionale Strukturen, Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche, Funk­tionsverlust des klas­sischen Na­tionalstaates sind nur einige Stichworte. Politische Stiftungen stehen in der Verantwortung, damit aus rasanten wissenschaft­lich-­technolo­ gischen Entwicklungen und neuen interna­tionalen Gefahren nicht Ohnmacht, sondern umsichtiges Handeln und Zukunftsfestigkeit folgt. Die Herausforderungen sind gewaltig, der Zuwachs an Komplexität stellt die Politik zusätz­lich auf die Probe. Hinzu kommen die Hektik im politischen Tagesgeschäft und das mediale Verlangen nach schnellen Lösungen. Politische Stiftungen müssen vor ­diesem Hintergrund zweierlei leisten: Sie müssen Orientierungswissen und wissenschaft­liche Grundlagen zur politischen Problemlösung erarbeiten und vermitteln. Zudem müssen sie mittel- und langfristige Strategieentwicklung anbieten können. Praxisnähe muss mit langfristiger Orientierung kombiniert werden. Dabei können sie auf ein einzigartiges System der Verankerung in der Gesellschaft, vor Ort, weltweit zurückgreifen. Sie sind präsent durch, im Fall der Konrad-­Adenauer-­Stiftung, Politische Bildungsforen in den Bundesländern und mehr als 80 Büros weltweit. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen in stetigem Austausch mit Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Das gilt beispielsweise für die Historiker und Ideengeschichtler, die empirischen

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Sozialforscher und Wirtschaftswissenschaftler der Stiftung. Zugleich bestehen vielfältige externe Netzwerke; gewachsene Verbindungen beispielsweise in die jeweiligen wissenschaft­lichen Kreise, zu politischen Entscheidungsträgern weltweit, in Kultur und Publizistik. Mit ihren Stipendiaten und Altstipendiaten verfügen die politischen Stiftungen über ein Netzwerk engagierter, in unterschied­ lichsten Bereichen tätiger Bürger. Die Stiftungen erfüllen ihren Auftrag, wenn sie gleichermaßen Wissens- und Ideentransfer vom Ausland ins Inland und umgekehrt, vom Inland ins Ausland leisten. So erfüllen sie ihre Rolle als Seismographen gesellschaft­licher und politischer Veränderungen, nehmen Anstöße auf, entwickeln Ideen weiter – im Dienste des Gemeinwohls. Wer, wie die politischen Stiftungen, auch Ideenagentur und Problemlösungsanbieter sein will, braucht Substanz. Wissenschaft­liche Substanz entsteht, wenn man sich Zeit zur Forschung, zum Nach- und Mitdenken nimmt. Es geht bei der Lösung komplexer Herausforderungen nicht nur um Bereitstellung, sondern auch um Aufbereitung wissenschaft­licher Grundlagen. Hier können die politischen Stiftungen auf ihre Spezialbibliotheken und Archive zurückgreifen. Sie enthalten für die Experten der Stiftungen und externe Gäste gleichermaßen einen umfangreichen Fundus an Materialien. Sie bilden das Gedächtnis der politischen Grundströmung. So entsteht wissenschaft­lich tiefe Fundierung politischer Empfehlungen. Und so kann eine Verbindung ­zwischen einer politischen Entscheidungs- und Diskussionssphäre – mit ihren Kriterien der Dring­lichkeit und Machbarkeit – mit der Sphäre der politischen Stiftungen – mit ihren Kriterien der Grundlagenarbeit und Bezugnahme auf die jeweilige Grundströmung – verbunden werden. Die Archive der politischen Stiftungen leisten durch Forschung, Veranstaltungen, Ausstellungen, Publika­tionen und Internetangebote einen herausragenden Beitrag zur historisch-­politischen Bildung. Politische Stiftungen und die „Erziehung zur Demokratie“ Gründungsimpuls der Konrad-­Adenauer-­Stiftung und bleibende Aufgabe aller politischen Stiftungen war und ist, einen Beitrag zu Aufbau und Festigung der Demokratie zu leisten. Das war auch für die Initiatoren der 1955 gegründeten „Gesellschaft für christ­lich-­demokratische Bildungsarbeit“, aus der 1964 die Konrad-­Adenauer-­Stiftung hervorging, wesent­liches Motiv. Nach der „Weimarer Erfahrung“, im Wissen darum, dass eine Demokratie auf überzeugte Demokraten angewiesen ist, setzten sie auf die „Erziehung zur Demokratie“, wie Roman Herzog einmal gesagt hat. Diese Aufgabe gilt nach wie vor. Demokratie braucht Demokraten. Ziel der Politischen Bildung ist deshalb der mündige Staatsbürger, der Debatten sach­lich durchdringt, sich eine Meinung bildet, mitdiskutiert und sich politisch-­gesellschaft­lich verantwortungsbewusst engagiert. Als Richtschnur gilt hierfür das Koordinatensystem der freiheit­lichen Demokratie – und zwar

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für alle politischen Stiftungen. Hinzu kommt die durch die jeweilige Stiftung verkörperte politische Grundströmung. So orientiert sich die Politische Bildung der Konrad-­Adenauer-­Stiftung seit ihren Anfängen insbesondere am Einsatz für freiheit­lich-­demokratische Posi­ tionen für die west­liche Wertegemeinschaft und die europäische Integra­tion – in Abgrenzung zu totalitären Diktaturen. Dieses Koordinatensystem leitet die Konrad-­Adenauer-­Stiftung auch heute noch – zumal die Vorstellungen von Demokratie und was sie leisten kann und muss in zweifacher Hinsicht unter Druck geraten sind. Erstens wird mit dem viel zitierten Begriff der „Post­ demokratie“ eine Fundamentalkritik am Zustand der west­lichen Demokratien geübt. Zweitens scheint der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vorausgesagte Siegeszug demokratischer und rechtsstaat­licher Systeme mittlerweile ins Stocken geraten zu sein; autoritäre und pseudo-­demokratische, staatskapitalistische Systeme scheinen sich zu behaupten, jüngere Demokratien stehen unter Erfolgsdruck, demokratische Aufbrüche wie der „Arabische Frühling“ drohen an der Langlebigkeit jahrzehntealter politischer und wirtschaft­licher Repression zu zerbrechen. Die Debatte über die „Postdemokratie“ – Sinnentleerung demokratischer Institu­tionen durch Verlagerung von Entscheidungen aus dem Parlament in intransparente, von Eliten durchdrungene Zirkel, Marketing statt Informa­tion, Expertokratie, Populismus, mangelhafte Teilhabemög­lichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, Politikverdrossenheit – zeigt einmal mehr die Notwendigkeit politischer Bildung und Beratung auf. Und sie ist – wie der Blick beispielsweise auf abnehmende Wahlbeteiligung, Rückgang der Mitgliederzahlen bei Parteien, Demonstra­tionen wie Pegida oder der vielfache Ruf nach „mehr Bürgerbeteiligung“ – hoch aktuell. Die politischen Stiftungen können und müssen in d­ iesem Feld ihre ureigene Rolle ausüben; d. h. klas­sische Kenntnisse demokratischer Verfahren und bestehender Partizipa­tionsinstrumente vermitteln. Sie müssen vermitteln, wie sich Bürgerinnen und Bürger in unserem Gemeinwesen einbringen können. Zugleich setzen sich die Stiftungen kritisch-­konstruktiv mit der Frage auseinander, wie und an w ­ elchen Stellen nicht unbedingt „mehr“, aber sehr wohl „andere“ bzw. „neue“ Beteiligungsmög­lichkeiten geschaffen werden müssen. Die Partizipa­tionswünsche haben sich vielfach geändert; nach wie vor engagieren sich viele in Vereinen, karitativen Einrichtungen oder Parteien. Aber auch hier wird über neue Formen der Teilhabe nachgedacht, die dem Bedürfnis, unmittelbarer, vielfach zeit­lich begrenzter Teilnahme und Mit-­Entscheidung gerechter werden. Die politischen Stiftungen zeigen auf, wie Kommunika­tions- und Partizipa­ tionsinstrumente zukünftig aussehen müssen, um Bürger zu erreichen und ­welche Dialogformen geeignet sind, um Diskurse ­zwischen Bürgern und Politik zu ermög­lichen. Hier liegt eine zentrale, stetige Professionalisierungsaufgabe der Stiftungen, insbesondere im Hinblick auf die Mög­lichkeiten des Web 2.0.

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Auch wenn sich die Instrumente ändern mögen, das Ziel bleibt – Demokratie braucht Demokraten. Damit erfüllen die Stiftungen auch heute noch die Aufgabe politischer Bildung, wie sie im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Stiftungsfinanzierung zu finden ist: „Die Stiftungen sollen die Beschäftigung der Bürger mit politischen Sachverhalten anregen und den Rahmen bieten für eine – allen interessierten Bürgern zugäng­liche – offene Diskussion politischer Fragen. Dadurch wird das Interesse an einer aktiven Mitgestaltung des gesell­schaft­lichen und politischen Lebens geweckt und das dazu notwendige Rüstzeug vermittelt.“ Anspruch der Politischen Bildung, vor allem aber auch der Begabtenförderung, ist es, weniger kritikfähige, als vielmehr urteilsfähige Bürger zu fördern. Bürger, die sich positiv mit unserer Demokratie identifizieren und sie lebendig machen. Demokratie und Rechtsstaat­lichkeit – weltweit Seit Jahrzehnten leisten die politischen Stiftungen weltweit Unterstützung beim Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat­lichkeit. Sie beraten politische Parteien und Regierungen, stellen persön­lich-­fach­liche Kontakte her, bieten Erfahrungen und Expertise und sind vor Ort präsent – auch in Krisengebieten. So konnten sich die Stiftungen einen Ruf als interna­tionale Akteure erarbeiten. Sie sind ein wichtiger Bestandteil deutscher Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik geworden. Das führt in nichtdemokratischen und fragilen Staaten zu Argwohn gegenüber unserer Arbeit, in Einzelfällen zu offener Ablehnung und Repressionen. Zentrale Merkmale der Auslandsarbeit sind partnerschaft­liche Beziehungen auf Augenhöhe und die Erfüllung des Auftrags, näm­lich demokratische, rechtsstaat­liche Strukturen zu fördern und damit für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in Europa, Asien, Lateinamerika, Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten einzutreten. Mit d­ iesem Ansatz ist es den politischen Stiftungen in der Vergangenheit gelungen, beispielsweise nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den mittel- und osteuropäischen Ländern sowie in Lateinamerika oder Südostasien entscheidend am Aufbau demokratischer, rechtsstaat­licher und durch politische Parteien gekennzeichnete Systeme mitzuwirken. Schritt für Schritt vorzugehen, Vertrauen durch menschliche Kontakte ausund aufzubauen, gehört seit Gründung der Bundesrepublik zur außenpolitischen Kultur unseres Landes. So gelang etwa Konrad Adenauer die Aussöhnung mit Frankreich oder Israel. Die vom ersten deutschen Bundeskanzler erfolgreich betriebene Integra­tion in die west­liche Wertegemeinschaft bestimmt auch heute noch weite Teile der europäischen und interna­tionalen Arbeit der Konrad-­ Adenauer-­Stiftung. Wenige verkörpern dies mehr als Hans-­Gert Pöttering, der sich als Abgeordneter und Präsident des Europäischen Parlaments stets für die Einigung und Integra­tion Europas eingesetzt hat. „Europa war und ist ein Friedensprojekt für mich“, so Hans-­Gert Pöttering. „Mein eigener Vater ist im

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Zweiten Weltkrieg, wenige Monate vor meiner Geburt, gefallen – nicht zuletzt auch deswegen habe ich mich sehr früh für die Einigung Europas engagiert, angespornt von der überzeugenden Europapolitik des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Schon damals wurde deut­lich, dass – das noch geteilte – Deutschland die Herausforderungen und Probleme der Zukunft allein nicht würde bewältigen können.“ Die Einigung Europas voranzutreiben, für Freiheit, Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte einzustehen – das treibt Hans-­Gert Pöttering auch als Vorsitzenden der Konrad-­Adenauer-­Stiftung an. Seine besondere Leidenschaft gilt nicht nur Frankreich und Italien, sondern auch den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Besonders am Herzen liegt Hans-­ Gert Pöttering Deutschlands öst­licher Nachbar Polen, ein Land, das er allein während seiner Amtszeit als Präsident des Europäischen Parlaments zwölf Mal besucht hat. Für seinen langjährigen Einsatz zugunsten des polnischen EU Beitritts und der Stärkung der Rolle Polens innerhalb der Europäischen Union verlieh ihm Staatspräsident Bronisław Komorowski 2013 in Warschau das Großkomturkreuz des Verdienstordens der Republik Polen, die zweithöchste Auszeichnung des Landes. Die Versöhnung und Freundschaft Deutschlands mit Polen und ihr gemeinsames Engagement für die europäische Einigung waren und sind für Hans-­Gert Pöttering ein Herzensanliegen. Inspiriert hat ihn dabei stets die Tatsache, dass „[…] ohne die Freiheitsbewegung von Solidarnosc mit Lech Walesa und die geistig-­mora­lische Kraft von Papst Johannes Paul II. die Einheit Deutschlands in Freiheit nicht mög­lich gewesen wäre“. Allerdings können politische Stiftungen nur dann Hilfe leisten, wenn das vom Partnerland wirk­lich gewünscht ist und die Sicherheitslage es zulässt. Rückschläge für die Arbeit der politischen Stiftungen gab es in den letzten Jahren immer häufiger. Bisheriger Höhepunkt war das Vorgehen gegen die Konrad-­Adenauer-­Stiftung im Jahr 2011 in Ägypten: Das Büro in Kairo wurde durchsucht, Computer und Dokumente beschlagnahmt, Büroleiter und Mitarbeiterin in Abwesenheit zu fünf bzw. zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Beide Mitarbeiter sind in Deutschland und müssen nicht ins Gefängnis; die Mitarbeiterin kann jedoch nicht mehr zu ihrer Familie nach Ägypten zurückkehren und muss sich ein neues Leben aufbauen. Für den Vorsitzenden der Konrad-­ Adenauer-­Stiftung war dies ein unzumutbarer Vorgang: „Wir sind natür­lich tief betroffen und empört über ­dieses Urteil, das uns zeigt, dass es keinen wirk­lichen Rechtsstaat in Ägypten gibt. Das steht für uns als Stiftung im Vordergrund. Aber im Grunde genommen ist es ein Schlag gegen die Zivilgesellschaft und die freiheit­liche Entwicklung eines Rechtsstaates in Ägypten […]“. Hans-­Gert Pöttering setzte sich seit Beginn seiner Tätigkeit im Europäischen Parlament immer wieder für Menschenrechte, Meinungsfreiheit und politischen Pluralismus in der arabischen Welt ein. Mit Verve und großer Ausdauer engagierte er sich für eine „Zwei-­Staaten“-Lösung im Nahostkonflikt, sprach beispielsweise vor der Knesset und mit König Abdullah II . von Jordanien. So überrascht es

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nicht, dass ihn die Vorgänge in Ägypten sehr beschäftigen. Neben der arabischen Welt werden die Arbeitsbedingungen für die politischen Stiftungen auch andernorts schwieriger. Ebenfalls 2012 wurden die Büros der Konrad-­ Adenauer-­Stiftung in Sankt Petersburg durchsucht; 2014 hat die Konrad-­ Adenauer-­Stiftung nach über 50 Jahren ihr Länderbüro in Ecuador aufgrund zunehmender Einmischung von staat­licher Seite in ihre Arbeit geschlossen. Es sind besorgniserregende Entwicklungen; Entwicklungen, die in den letzten Jahren zugenommen haben. Sie zeigen, dass viele Regime unter Druck geraten sind, weil zivilgesellschaft­liche Akteure – zentrale Partner der politischen Stiftungen – selbstbewusster auftreten. Beobachten wir also einen weltweiten Siegeszug autoritärer Herrschaftsmodelle? Eine Tendenz zur Restaura­tion autoritärer Modelle? Francis Fukuyama hat 1992 das „Ende der Geschichte“ proklamiert und einen weltweiten Siegeszug von Demokratie und Freiheit vorhergesagt. Seitdem sind fast 25 Jahre ins Land gegangen und von der anfäng­lichen Euphorie ist vielerorts tatsäch­lich nur mehr wenig zu spüren. Glaubt man den jüngsten Zahlen der interna­tional renommierten Nichtregierungsorganisa­tion Freedom House, die unter Berufung auf die UN-Menschenrechtserklärung jähr­lich 195 Länder in Bezug auf zivilgesellschaft­liche und demokratische Freiheiten untersucht, befinden wir uns gar an einem absoluten Tiefpunkt. Ledig­lich 40 Prozent der untersuchten Länder können demnach heutzutage als „frei“ eingestuft werden, während fast eine ­gleiche Anzahl, 36 Prozent, noch immer als „nicht frei“ angesehen werden müssen. Im Vergleich mit dem Vorjahr ­seien die Werte von 61 Staaten im Jahr 2014 in Bezug auf Demokratie und Freiheit gesunken, so die Wissenschaftler von Freedom House. Damit befänden sich Freiheit und Demokratie weltweit seit neun Jahren nacheinander im Sinkflug. Während die Welle der weltweiten Demokratisierung ins Stocken geraten ist, scheint der politische und wirtschaft­liche Autoritarismus auf dem Vormarsch zu sein. Dabei fällt auf, dass wir es mit einer neuen Art von autoritären Regimen zu tun haben. Während es in den ersten Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bei Autokraten noch zum guten Ton gehörte, zumindest vordergründige Lippenbekenntnisse zu mehr demokratischer und rechtsstaat­licher Entwicklung abzugeben, wendet man mittlerweile wieder wie selbstverständ­lich längst überwunden geglaubte Mittel und Instrumente der Unterdrückung des 20. Jahrhunderts an. So verwundert es nicht, dass Fukuyama 2015 schreibt, es gebe „seit 2006 eine Art Rezession der Demokratie“ 1. Russland sei ein autoritäres Projekt mit „Tsar quality“ 2, das mit Machtpolitik, Na­tionalismus, Aggression und Hegemonie auf Demokratiebewegungen im eigenen Land und in Nachbarstaaten reagiere. China kennzeichnet sich durch einen staat­lich gelenkten Kapitalismus und Protek­tionismus. Es ist ein System, das zwar Menschenrechte massiv einschränkt, aber aufgrund seiner wirtschaft­lichen Erfolgsgeschichte große Strahlkraft auf Entwicklungs- und Schwellenländer hat. So ist es zu einem

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Systemwettbewerb gekommen, der sich am „Output“, das bedeutet in ­diesem Falle Wirtschaftswachstum, orientiert – zulasten von guter Regierungsführung, Rechtsstaat­lichkeit und Demokratie. Was diese Entwicklungen für die interna­tionale Rolle von deutschen politischen Stiftungen bedeuten, wird umso klarer, je mehr man sich die Chancen und Risiken jener Bewegungen vergegenwärtigt, die in den letzten Jahren Freiheitsdrang und Demokratiewille symbolisiert haben, wie Maidan, Taksim und Tahrir oder die Rosen-, Safran-, Tulpen-, Grüne- und Orangene Revolu­ tion. In den Mittelpunkt rückt erneut die Aufgabe, Diskussions- und Aushandlungsprozesse ­zwischen zivilgesellschaft­lichen Akteuren, die sich Demokratie und Freiheit verpflichtet haben, zu unterstützen und reformwillige Regierungen bei komplexen Transforma­tionsprozessen zu begleiten. Politische Stiftungen sind gefordert, auch in Zukunft reformorientierte Kräfte im Inland wie im Ausland zu fördern, sie mithilfe politischer Bildung von den Vorzügen eines demokratisch-­marktwirtschaft­lichen Systems zu überzeugen und inter- sowie innerkonfessionelle Dialogmaßnahmen zu erleichtern. Vor allem in jungen und labilen Demokratien müssen die politischen Stiftungen weiterhin Hilfe beim Aufbau demokratischer, rechtsstaat­licher Strukturen leisten, die Bildung stabiler Institu­tionen, die Rechtsstaat­lichkeit garantieren, als zentrale Voraussetzung für die Lebensfähigkeit von Demokratien erleichtern. Ob wir mit unserer Arbeit erfolgreich sind, hängt vor allem von empathischen, engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ab, die Kenntnisse von den spezifischen politischen, religiösen und sozialen Gegebenheiten vor Ort haben, die kulturellen Tradi­ tionen des Landes kennen und respektieren. Mitarbeiter, die wissen, dass es für Demokratie keine Blaupausen gibt und sich Freiheit, Rechtsstaat und Soziale Marktwirtschaft nicht erzwingen lassen. Gleichzeitig werden die politischen Stiftungen auch zukünftig als Akteure der Früherkennung interna­tionaler Phänomene und Entwicklungen fungieren. Als weltweit präsente und vernetzte Institu­tionen ist es ihre Aufgabe, gesellschaft­ liche und politische Veränderungen in anderen Staaten frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und in die deutsche Politik und Öffent­lichkeit zu transportieren. Dieses Sensorium scharf zu halten, ist dauerhafte Aufgabe. Die Weltordnung ist in Bewegung; Weltunordnung zeichnet sich ab: der barbarische Terror des sogenannten Islamischen Staats und der Zerfall der regionalen Ordnung des Nahen und Mittleren Ostens, der zu Flüchtlingswellen führt, Versuche zur Sicherung von Einflusssphären zur Rohstoffnutzung, der Ausbruch von Seuchen wie Ebola mit ihren Folgen für die Stabilität von Staaten und Regionen, die offene Herausforderung der europäischen Friedensordnung durch die rus­sische Politik. Nach wie vor stellen sich Europa weitere drängende Herausforderungen wie die Bewältigung der Finanzkrise und die Stabilisierung des Euro, die Notwendigkeit einer intensivierten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die Übernahme von Verantwort­lichkeiten in Bündnissen wie der NATO, der

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Abschluss des Freihandels- und Investi­tionsabkommens TTIP und nicht zuletzt die Entscheidung über die Post-2015-Agenda in der Entwicklungspolitik sowie die Zukunft der interna­tionalen Klimapolitik. Demokratie als „way of life“ Die politischen Stiftungen identifizieren und analysieren Entwicklungen, bieten Handlungsop­tionen an, sind vor Ort präsent und leisten einen Beitrag zum Aufbau und Erhalt von demokratischen rechtsstaat­lichen Institu­tionen. Dabei sind sie Vorbild, wenn sie Demokratie nicht als Blaupause exportieren, sondern Demokratie als „way of life“ vorleben. Dies gilt im Ausland wie im Inland. Glaubwürdig für Demokratie einzutreten – das gelingt nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern durch Erfahrung, Kompetenz, Leidenschaft und Optimismus. Charakteristika, die auch das Wirken des Jubilars, das Wirken Hans-­Gert Pötterings kennzeichnen. Der „Mann des Ausgleichs“ ist, wie seine beiden Söhne einmal sagten, „geduldig und hartnäckig, aber nicht brav“.3 Davon profitiert die Konrad-­Adenauer-­Stiftung in hohem Maße. Und dafür ist sie dankbar.

1 Francis Fukuyama: Warum steht es so schlecht um die Demokratie?, in: Welt am Sonntag, 8. Februar 2015. 2 John Thornhill: Tsar quality, in: Financial Times, 7./8. Februar 2015. 3 Zitiert nach Detlef Drewes: Von Chefstuhl zu Chefsessel, in: General-­Anzeiger (Bonn), 25. November 2009.

Mobilität im 21. Jahrhundert Matthias Wissmann

Die Welt verändert sich rasant Die Welt, die wir kennen, verändert sich rasant. Im Jahr 2050 werden voraussicht­ lich 9,7 Milliarden Menschen auf der Erde leben – etwa doppelt so viele wie noch Mitte der 1980er Jahre. Zugleich nimmt die Einwohnerzahl in länd­lichen Regionen kontinuier­lich ab, die Einwohnerdichte in Ballungsräumen hingegen steigt. Jede Woche wachsen die Städte der Welt um insgesamt eine Million Menschen, so dass in 20 Jahren zwei Drittel der Menschheit in Städten leben werden. Dieser Megatrend der Urbanisierung ist vor allem in den großen Schwellenländern signifikant. Das Leben in der Stadt verspricht Arbeit, Einkommen und Wohlstand. Für Länder wie Indien und China resultieren daraus enorme Herausforderungen. Hier sprießen neue Mega-­Cities förm­lich aus dem Boden. Pkw-­Weltmarkt zeigt globale Wachstumstrends Diese globalen Wachstumstrends kommen auch auf dem Pkw-­Weltmarkt zum Ausdruck: 1990 lag dessen Volumen noch bei etwa 40 Millionen Pkw. Im vergangenen Jahr hatten wir ein Weltmarktvolumen von 76,1 Millionen zu verzeichnen. Das ist fast eine Verdoppelung innerhalb von 24 Jahren. Auch in den kommenden Jahren wird der globale Pkw-­Markt weiter wachsen. Bis 2020 wird das Volumen geschätzt über 90 Millionen Pkw betragen. Zwar sind die Unwägbarkeiten groß. Aber klar ist: Das Bedürfnis nach Mobilität wird weltweit weiter zunehmen. Ferner zeigt die Analyse, dass wir uns inmitten einer massiven Verschiebung der Gewichte einzelner Weltregionen befinden. Die Triade – also Westeuropa, Japan und NAFTA  – stand 1990 noch für einen Weltmarktanteil von 84 Prozent. Seither ist der Weltmarktanteil Chinas auf 24 Prozent nahezu explodiert. Stichwort China: Das Land hat in den vergangenen Jahren einen beispiellosen automobilen Hochlauf hingelegt. Im Jahr 2000 entsprach das chine­sische Pkw-­ Volumen dem Absatz in den Niederlanden. 2006 wurden in China erstmals mehr Pkw verkauft als in Deutschland. Seit 2012 werden dort mehr Fahrzeuge als in ganz Westeuropa abgesetzt – und seit 2013 mehr Fahrzeuge als in den USA . Dabei ist das Potenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Der Motorisierungsgrad in China ist immer noch vergleichsweise niedrig: Die Pkw-­Dichte beträgt 52 Einheiten pro 1.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 543 Pkw pro 1.000 Einwohner.

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Mobilität als Wachstumsmotor Mit dem zu erwartenden wirtschaft­lichen Wachstum wird auch die Verkehrsleistung steigen – vor allem in den Schwellenländern, aber auch in Deutschland und Europa. So schätzt die OECD, dass sich der interna­tionale Frachtverkehr bis zum Jahr 2050 mehr als vervierfachen wird. Grundsätz­lich gilt: Ohne Mobilität ist eine wirtschaft­liche Aktivität nicht vorstellbar. Erst durch sie können sich Wirtschaftsstandorte vernetzen und den Austausch von Waren und Gütern in Gang bringen – auf dem Wasser, auf der Straße und in der Luft. Mobilität verbindet Menschen. Sie ist nicht nur die Voraussetzung, um von der Wohnung zum Arbeitsplatz zu kommen, sondern sie bereichert überdies den Alltag und erweitert den Horizont. Mobilität macht die Teilhabe am gesellschaft­lichen und kulturellen Leben vielfach erst mög­lich. Kurzum: Flüssiger, zuverlässiger und sicherer Verkehr ist für jedes Land der Welt ein Grundpfeiler für Wachstum und Wohlstand. Vernetzung der Verkehrsträger Um Stillstand zu verhindern und wirtschaft­lichen sowie gesellschaft­lichen Fortschritt zu ermög­lichen, muss der Verkehr der Zukunft intelligent vernetzt werden. Gefragt ist dabei der Einsatz aller Verkehrsträger. Weil die einzelnen Verkehrsträger ganz unterschied­liche Leistungsprofile haben, sind sie für viele Transportaufgaben gar nicht untereinander austauschbar. Kein Verkehrsmittel allein kann den Logistik- und Mobilitätsanforderungen genügen. Allzu oft jedoch erschöpfen sich verkehrspolitische Diskussionen im Gegeneinander einzelner Verkehrsträger. Ein solcher Ansatz ist völlig überholt, er kann nicht zum Erfolg führen. Vielmehr gilt es, das Gesamtsystem Verkehr zu optimieren und die Potenziale zur Effizienzsteigerung bei allen Verkehrsträgern – einzeln und in ihrer Verknüpfung – zu erschließen. Wir alle wissen: Die weltweiten fossilen Energieträger sind end­lich. Auch besteht die Gefahr, dass der Klimawandel durch eine höhere CO2-Konzentra­ tion in der Atmosphäre beschleunigt wird. Daraus resultiert eine der großen Herausforderungen unserer heutigen Gesellschaft: Die Mobilität als Motor für wirtschaft­liches Wachstum zu erhalten – und gleichzeitig Ressourcen und Klima zu s­ chützen. Sämt­liche Verkehrsträger stehen in der Verantwortung, nachhaltige Lösungen für ­Themen wie CO2-, Schadstoff- oder Geräuschemissionen zu entwickeln. Die Automobilindustrie geht diese Aufgabe seit Jahren entschlossen an. Dabei konzentriert sie sich auf drei technolo­gische Megatrends, die zusammengenommen einer Neuerfindung des Automobils gleichkommen: Technologien zur CO 2Reduk­tion, das Vernetzte Fahren und das Automatisierte Fahren.

Mobilität im 21. Jahrhundert

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Technologien zur CO2-Reduk­tion Von Leichtbauwerkstoffen bis zur Effizienzsteigerung bei elektrisch oder mechanisch betriebenen Komponenten, von Leichtlaufreifen bis zu verbesserter Aerodynamik: Um die Emissionen zu reduzieren, haben Entwickler und Ingenieure sämt­liche Bereiche des Fahrzeugbaus im Blick. Im öffent­lichen Fokus steht jedoch zumeist die Frage nach dem Antriebskonzept der Zukunft. Derzeit ist klar: In Richtung einer nachhaltigen und umweltschonenden Mobilität gibt es keinen Königsweg. Vielmehr müssen sämt­liche Potenziale alternativer Technologien ernsthaft verfolgt werden. Daher setzt die deutsche Automobilindustrie auf eine Fächerstrategie aus „Einsparen – Ergänzen – Ersetzen“. Dazu gehören effizientere klas­sische Antriebe, CO 2-neutrale Antriebsformen (rein batterie-­ elektrischer Antrieb, Plug-­in-­Hybrid, Range-­Extender) und die Brennstoffzelle. Hinzu kommen alternative Kraftstoffe. Kurz- und mittelfristig strebt die Automobilindustrie weitere Verbrauchseinsparungen bei herkömm­lichen Verbrennungsmotoren an. Die Ingenieure arbeiten täg­lich daran, die bereits sehr hohe Effizienz der Otto- und Dieselmotoren zu verbessern. Die Fortschritte, die in den vergangenen Jahren erzielt wurden, sind eindrucksvoll. Ein Beispiel: Hatten die Pkw-­Neuzulassungen deutscher Konzernmarken im Jahr 2004 noch einen durchschnitt­lichen CO2-Wert von 175,8 Gramm pro Kilometer, so lag dieser zehn Jahre s­ päter bei nur noch 132,9 Gramm. Das entspricht einem Rückgang um rund ein Viertel. Da der Anteil alternativer Antriebe an den gesamten Pkw-­Neuzulassungen derzeit noch gering ist, ist diese Effizienzsteigerung nahezu ausschließ­lich auf die Optimierung der klas­sischen Antriebe Benziner und Clean Diesel zurückzuführen. Wichtige Stellschrauben sind geringerer Hubraum, weniger Zylinder, Hochaufladung und Direkteinspritzung. Auch der Plug-­in-­Hybridantrieb – eine Kombina­tion aus Elektro- und Verbrennungsmotor – wird ständig weiterentwickelt, um Kraftstoff zu sparen. Der Hybrid vereint den Vorteil einer großen Reichweite (mit Verbrennungsmotor) mit emissionsfreiem Fahren (mit Elektroantrieb) auf kürzeren Strecken. Ein zentrales Ziel der Fächerstrategie ist es, unabhängiger von den fossilen Brennstoffen zu werden. Dazu könnten in die Fahrzeugtanks häufiger biogene Kraftstoffe fließen, die regenerativ,CO2- und schadstoffarm sind. Dabei setzen die Hersteller vor allem auf jene der zweiten Genera­tion, die aus organischen Abfällen gewonnen werden. Fernziel: Klimaneutrale Mobilität Langfristig will die deutsche Automobilindustrie fossile Kraftstoffe ersetzen. Die Autos der Zukunft könnten mit Wasserstoff und Strom aus regenerativen Quellen fahren. Klimaneutrale Mobilität – das ist kein Traum, sondern das erklärte Ziel. Auf dem Weg dorthin ist der Markthochlauf der Elektromobilität

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ein wichtiger Meilenstein. Bis Ende 2015 werden allein die deutschen Hersteller 29 Serienmodelle mit Elektroantrieb auf dem Markt haben. Damit nimmt Deutschland bei der Angebotsvielfalt eine weltweit führende Posi­tion ein, wie unabhängige Studien belegen. Im Jahr 2014 wurde in Deutschland erstmals ein fünfstelliges Marktvolumen erreicht: Die Neuzulassungen von Elektroautos (rein batterie-­elektrischer Antrieb, Range Extender, Plug-­in-­Hybrid) stiegen um 70 Prozent auf über 13.000 Einheiten. Auch wenn die absoluten Zahlen noch niedrig sind – die Zuwachsraten sind beacht­lich. Dabei sind Verlauf und Dynamik d­ ieses Prozesses abhängig von verschiedenen Faktoren: der Entwicklung der Rohstoffpreise, dem politischen Willen und der Akzeptanz der Verbraucher. Je günstiger die Rahmenbedingungen für die Einführung der Elektromobilität, desto größer ist ihr Marktpotenzial. Besonders die Preisentwicklung bei fossilen Kraftstoffen wird sich auf die Wechselbereitschaft der Verbraucher auswirken. Kurzfristig zu beobachtende Preisrückgänge an der Zapfsäule ändern an der strate­gischen Aufgabe nichts. Letztend­lich wird das Preis-­Leistungs-­Verhältnis maßgeb­lich über den Erfolg der neuen Fahrzeuge und Mobilitätskonzepte mitentscheiden. Auch der Ausbau der Infrastruktur bedarf noch größerer Anstrengungen. Politik, Industrie und Gesellschaft müssen gemeinsam an einem Strang ziehen, um den neuen Antriebsformen zum Durchbruch zu verhelfen. Gerade die öffent­liche Hand kann beim Fuhrparkmanagement eine wichtige Vorreiterrolle einnehmen. Denn vieles spricht dafür: Wenn gewerb­liche Fahrzeuge erst einmal in größerer Stückzahl auf der Straße sind, wird auch die private Nachfrage steigen. Neue Anforderungen durch Elektromobilität Der Einsatz neuer Komponenten in Elektrofahrzeugen bewirkt spürbare Veränderungen in der Wertschöpfungskette. Batterien, Elektromotoren und die komplexe Steuerelektronik erfordern eine zukunftsorientierte Planung der Ressourcen, ein weitsichtiges Rohstoffmanagement und vor allem eine entsprechende Qualifizierung der Mitarbeiter. Der Bedarf im Bereich Mechanik und Metallverarbeitung wird relativ sinken, während vor allem in den Bereichen Mikroelektronik und der Herstellung von Kunststoffen neuer Bedarf entstehen wird. Auch in der Forschung und Entwicklung wird sich dieser Trend abzeichnen. Darüber hinaus kann die Elektromobilität wichtige Impulse für weitere Branchen liefern. Insbesondere an der Schnittstelle z­ wischen Nutzern und Anbietern können sich Unternehmen mit innovativen Geschäftsmodellen am Markt etablieren. Das schafft Arbeitsplätze und Wachstum.

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Vernetztes Fahren Zeitgleich zu den vielschichtigen Aktivitäten zur CO 2-Reduk­tion erlebt die Mobilität auch eine digitale Revolu­tion: Das Vernetzte Fahren und das Automatisierte Fahren sind zwei zentrale Innova­tionsthemen, die die Zukunft des Automobils maßgeb­lich prägen werden. Durch den Einbau von Sensoren und Kameras hat das Auto inzwischen Fühlen und Sehen gelernt. Ihre Intelligenz ermög­licht es den Fahrzeugen, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. So kann das Auto nicht nur Daten aus verschiedenen Kanälen empfangen, sondern auch eigene „Erkenntnisse“ weitergeben. Fahrzeuge werden zu einer mobilen Kommunika­tionsplattform und haben einen allumfassenden Blick auf das aktuelle Verkehrsgeschehen. Sie wissen über Ampelphasen und Baustellen Bescheid, werden von vorausfahrenden Fahrzeugen in Sekundenbruchteilen vor aktuellen Gefahrensitua­tionen wie Unfällen, Hindernissen oder Glatteis gewarnt und reagieren entsprechend. Durch genaue Ortsbestimmungen werden mög­liche Kollisionen erkannt und automatisch verhindert. Sollte es dennoch nötig werden, sind Rettungskräfte in Echtzeit über Unfallhergang und -ort informiert. Durch diese und andere Informa­tionen wird die Verkehrssicherheit erheb­lich gesteigert, zudem können Staus in Zukunft besser vermieden werden. Technolo­gische Quantensprünge versprechen auch die Vernetzung von Individual- und öffent­lichem Personenverkehr sowie die Einbindung digitaler sozialer Netzwerke. Verkehrssysteme, die intelligent verschiedene Verkehrsträger verknüpfen, bringen Menschen mit maßgeschneiderten Mobilitätslösungen schnell und zuverlässig an ihr Ziel. Durch Internetzugang, den Zugriff auf eigene Daten und Medien sowie hilfreiche Apps können Fahrer zusätz­lich auf Dienste im Auto zugreifen, die sie mit PC oder Smartphone schon heute selbstverständ­lich ­nutzen. In der deutschen Automobilindustrie sind insgesamt 20.000 Entwickler rund um das Thema Vernetzung beschäftigt. Und die Mühen lohnen sich: So geht eine Bitkom-­Untersuchung davon aus, dass durch diese Technologien Effiz­ ienz- und Wachstumseffekte von bis zu 16 Milliarden Euro pro Jahr bis 2022 erzielt werden. Eine Studie des britischen Forschungsinstituts Centre for Economics and Business Research (CEBR) zeigt: Im Schnitt verbringt jeder deutsche Autofahrer bisher 118 Stunden pro Jahr im Stau oder im Umleitungsverkehr. Durch vernetztes Fahren könnte ein Fünftel der Staus in Deutschland vermieden werden. Daraus ergäben sich jähr­liche Einsparungen von 233 Millionen Litern Kraftstoff, oder umgerechnet 600.000 Tonnen CO2. Kurzum: Die digitale Vernetzung bietet große Chancen mit einem breiten gesellschaft­lichen Nutzen. Sie gibt Antworten auf die Herausforderungen steigender Verkehrsleistungen, schafft mehr Sicherheit und trägt dazu bei, Umweltund Klimabelastungen zu reduzieren.

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Automatisiertes Fahren Als dritter technolo­gischer Megatrend ist das automatisierte Fahren zu nennen. Dabei muss vorab klargestellt werden: Mit Fahrzeugen, die völlig autonom fahren, ist in den kommenden Jahren nicht zu rechnen. Weder recht­lich noch technolo­gisch oder mit Blick auf unsere Infrastruktur ist ein solches Szenario in naher Zukunft realistisch. Jedoch werden in einigen Jahren Fahrzeuge verfügbar sein, die einzelne Funk­tionen der Automatisierung für spezifische Anwendungsszenarien ermög­lichen. Das heißt: Ein System kann im spezi­ fischen Anwendungsfall alle Situa­tionen automatisch bewältigen, so z. B. der Autobahn- oder Stauassistent. Bei teil-­automatisierten Fahrfunk­tionen hat der Fahrer die Mög­lichkeit, zu telefonieren, im Netz zu surfen oder sich seine Email vorlesen zu lassen. Jedoch muss der Fahrer immer bereit sein, das Steuer wieder übernehmen zu können. Etwa 2025 ist dann auch ein vollautomatisiertes Fahren wahrschein­lich. Die Unterstützung und Entlastung des Fahrers durch automatisiertes Fahren wird die Verkehrssicherheit erhöhen, denn ein Großteil der Unfälle entsteht durch menschliches Fehlverhalten. Schon heute ist ein technisches System wenigstens so gut wie ein Fahrer, wenn es um Routinefunk­tionen in überschaubaren Verkehrssitua­tionen geht. Dazu gehört beispielsweise, ein Fahrzeug auf der Autobahn zu steuern, dort Abstand und Geschwindigkeit korrekt einzuhalten oder sicher die Spur zu wechseln. Diese Systeme können je nach Wunsch einund ausgeschaltet werden, wie heute schon der Tempomat. Neue Chancen für den Automobilstandort Deutschland Mit der Digitalisierung entstehen neue Aufgabengebiete – für Wirtschaft und Politik. Durch intelligente Vernetzung steigt der Anteil von IT-Elementen im Fahrzeug und im gesamten Verkehrssektor. Die Bündelung von IT -Kompetenzen wird daher immer wichtiger für die Automobilindustrie. Dabei geht es nicht nur um Entwicklung, sondern auch um Wartung, Integra­tion und Sicherung von Systemen. IT -Experten und Ingenieure werden deshalb in Zukunft noch enger verzahnt und fächerübergreifend zusammenarbeiten. Der Gesetzgeber wiederum muss die infrastrukturellen und technischen Voraussetzungen schaffen. Für eine vernetzte Mobilität sind insbesondere Investi­tionen in den Ausbau von Breitband-­Internetleitungen an Autobahnen wichtig. Hier hat die Bundesregierung bereits erste wichtige Schritte angekündigt. Es hängt von unserer Innova­tionskraft ab, ob wir unsere führende Posi­tion auf dem Weltmarkt halten. Die Chancen dafür stehen gut. Google, Apple und Co. sind hervorragende Partner, aber das Gesamtsystem „Auto“ – mit all seinen Facetten, also Qualität, Effizienz, Komfort, Sicherheit, Design, Connectivity – zu beherrschen, zu entwickeln und zu produzieren, dazu gehört mehr. Dazu ist

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die Erfahrung und Kompetenz der Automobilindustrie nötig. 129 Jahre Automobilbau heißen auch 129 Jahre Know-­how-­Aufbau. Gemeinsame Aufgabe: Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland stärken Rund ein Drittel der gesamtwirtschaft­lichen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen in Deutschland entfällt auf die Automobilindustrie. Sie ist mit Abstand der größte Forschungs- und Entwicklungs-­Investor und strate­gisch wichtig für den Technologiestandort Deutschland. Rund 93.000 hochqualifizierte Mitarbeiter sind im Forschungs- und Entwicklungsbereich bei Herstellern und Zulieferer beschäftigt. Das ist jeder vierte FuEBeschäftigte der gesamten deutschen Wirtschaft. Hierzulande hängt insgesamt jeder siebte Arbeitsplatz direkt oder indirekt von der Automobilindustrie ab. Jedoch darf die aktuell hohe Beschäftigung in Deutschland nicht darüber hinweg täuschen, dass unser Industriestandort derzeit an Vorsprung einbüßt. Die Energiekosten sind im interna­tionalen Vergleich hoch – und wir sehen ihre künftige Entwicklung mit Sorge. Auch die Lohnstückkosten gehen wieder nach oben. Sozialpolitische Maßnahmen wie der gesetz­liche Mindestlohn oder die Rente mit 63 belasten den Produk­tionsstandort Deutschland zusätz­lich. Klar muss aber sein: Das Modell der sozialen Marktwirtschaft wird auch weiterhin nur zum Erfolg führen können, wenn zuerst die Effizienz der Wirtschaftsprozesse sichergestellt wird, und erst anschließend die Verteilungsergebnisse über das Steuer- und Transfersystem verändert werden – und nicht umgekehrt. Deshalb ist eine neue politische Weichenstellung, eine klare Priorität für Wachstum und Beschäftigung, dringend notwendig. Eine s­ olche politische Prioritätensetzung hat auch die EU-Kommission in Brüssel vorzunehmen. Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie muss auch dort der Maßstab für politische Entscheidungen werden. Wer die Entwicklung des industriellen Anteils an der Bruttowertschöpfung in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt, kann sich nicht entspannt zurücklehnen. Deshalb muss sich jede künftige Regulierung in Brüssel stärker an einer Balance ­zwischen Ökologie und Ökonomie orientieren. Neue Regulierungen dürfen Innova­tionen nicht strangulieren. Im Gegenteil, sie müssen stimulieren. Zumal der Blick auf die eingangs beschriebenen Wachstumstrends eindrucksvoll zeigt, dass der weltweite Standortwettbewerb immer schärfer wird. Wer nicht über den eigenen Tellerrand hinausschaut, der hat den Anschluss schnell verpasst.

The State of the European Union*1 José Manuel Durão Barroso

When discussing the European Union, conven­tional wisdom and c­liché talking points describe a continent “in decline,” overwhelmed with well-­known problems and challenges. Examples of “crises” abound. The very term has become banal when applied to the European Union. Critiques of economic and political stagna­tion, rising populism, and Euroscepticism are bolstered by dire figures and warnings about Europe’s plummeting competitiveness and future sustainability. An aging popula­tion will translate to decreased world influence in terms of both demography and economics. Financial, social and political crises cause Europe’s citizens to ques­tion their confidence in their leaders and in the European project itself. These worries and doubts devolve into a negative spiral. This is exacerbated by what I have often called the “intellectual glamour of pessimism”. In this view, Europe’s woes are so inflated that they seem inevitable and insurmountable. Yet how does this narrative of decline hold up in the broader context? Is this the true state of the European Union? Many concerns are not completely unfounded, and we must be honest about the real problems that Europe faces. Europe has its fair share of criticisms – this is an undeniable fact – and denying the challenges does not make them any less real. Critiques of EU governance continually return to ques­tions of accountability and the “democratic deficit”. The financial crisis made this debate even more difficult because of policies with significant social costs – more specifically, dramatically high unemployment, especially among the young, in several European countries – which to some extent have further polarized the differences between richer and poorer in Europe. But we must also acknowledge the fact that Europe continues to confound its critics. I propose that we think beyond immediate analyses of problems that dominate the headlines and consider the medium and long-­term for the European project, the most advanced and ambitious example ever of transna­tional democracy. I base these considera­tions on my direct experience as President of the European Commission from 2004 – 2014. As an opening point, we see that during this period of “crisis” the European Union in fact grew from 15 member states to 28. While short-­term crises may monopolize atten­tion and percep­tion, is it really appropriate to speak about the inevitable decline of a union that almost doubled its membership in the past decade?

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*** When faced with the most substantial series of crises since the origin of the European integra­tion project in the 1950s, the European Union was able to demonstrate remarkable achievements. The most notable case indeed remains the financial crisis of 2008 – which did not begin in Europe – and the EU ’s response, namely to the subsequent Euro area and sovereign debt crises. Europe experienced undeniably dangerous moments during these years. These crises presented unprecedented challenges and the first substantial tests to many central structures of the European system. Yet Europe responded to and recovered from what seemed at times existential threats. The breakdown of the Euro and a financial implosion did not occur! During the bleakest moments of the crisis, common assump­tions and the central scenario predicted a dramatic, final implosion of the Euro. In the summer of 2012, I convened chief economists and analysts from the major European and American banks operating in Europe to gauge their assessments of the Eurozone’s future. There was quasi-­unanimity that Greece would no longer be a member of the Euro by 2013.1 About half were truly sceptical of the Euro’s continued existence. Some exhibited an “I-told-­you-­so” mentality, as if wishing for vindica­tion of initial predic­tions that the Euro as a project was unsustainable. And yet, here we are in 2015, and the common currency is intact despite these doomsday prophecies. In fact, nineteen countries now use the Euro – not just more than before the financial crisis, but more than were even full members of the European Union in 2004. Europe’s response to the financial crisis reveals some key lessons about the overall development of the European project and its ability to respond to new challenges. These crises required innovative approaches to institu­tion building and improvement. We created the European Stability Mechanism (ESM), adopted necessary financial regula­tions, restructured EU governance to endow the Commission with further necessary powers, and expanded the competencies of the European Central Bank (ECB). Major developments – especially the crea­tion of the banking union – would have been absolutely unthinkable prior to the crisis. These were excep­tional challenges for Europe and required substantial innova­ tion. In a way, crisis response was like building a lifeboat in the midst of the storm – never the most comforting scenario! Yet the results nevertheless show Europe’s capacity to confront its problems, responding and creating new institu­ tions in the midst of crisis. In this context, it is important to differentiate the crisis response of the United States from the EU. The Troubled Asset Relief Program (TARP) represented the implementa­tion of a new program – certainly a very bold and ambitious one – but not an essentially new institu­tional architecture. But for the European Union, crisis response required indispensable changes to fundamental rules and the crea­tion of whole new institu­tions. To

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apply another metaphor, as flames licked at the founda­tions of the European project, we played both firefighter and architect, working to extinguish the risks posed to the most vulnerable states while also creating the necessary instruments to empower Europe to do so. Throughout these crises, the EU demonstrated, to an unimagined extent, its fundamental resilience – a word that uniquely captures the European crisis experience. In physics, resilience means the return of a piece of matter to its original form after a period of stress. In psychological terms, resilience can describe an individual who has overcome a period of trauma to reconstruct his or herself. Europe now similarly finds itself in a post-­traumatic situa­tion – reconstructing itself in response to a period of stress to better withstand further challenges. Going forward, the Euro will continue to play a central role in the future of the European Union and will be essential for further integra­tion. The political aspects of this project are clearly underestimated by many critics. The single currency will be crucial for maintaining the integrity of the single market – a core tenet of Europe. For the time being, we have succeeded in defeating the crea­tion of a stratified “dualism” among EU members. It is true that the United Kingdom currently has an “opt-­out” policy (and Denmark an “opt-­in” approach to the Euro) but these will remain excep­tions to the rule by which joining the Eurozone is an imperative and expected goal for EU countries. It is undoubtedly possible, both politically and legally, to allow for some diversifica­tion among a group of na­tions without creating stratifica­tion. This is clearly stated in the Commission’s November 2012 “Blueprint for a Deep and Genuine Economic and Monetary Union (EMU)” which inspired the subsequent December 2012 “Four Presidents’ Report”2 – “Towards a genuine economic and monetary union” – both of which will continue to provide a roadmap for the future of the Euro. I am convinced that the Euro’s ability to weather the financial crisis is proof that we will see more integra­tion of the Eurozone despite scepticism and remaining challenges. It is noteworthy that the new President of the European Council – and therefore also President of the Euro-­area summit – is Donald Tusk, former Prime Minister of Poland, a country that still uses its own currency. Symbolically, this bodes well for the continued expansion and appeal of the common currency, avoiding stratifica­tion and polariza­tion while highlighting the draw of the incomparably successful single market for new or future EU member states. The financial crisis may have caused the biggest headlines and preoccupied analyses, but it was not the only important challenge of the last ten years. In other cases, too, the EU was able to overcome negative predic­tions and achieve remarkable successes amidst a narrative of weakness or decline. After the nega­ tive votes of France and the Netherlands on the Constitu­tional Treaty in 2004, many predicted that no new institu­tional settlements would be possible for the EU. Yet a new consensus was reached, resulting in the full implementa­tion of the Treaty of Lisbon in 2009.

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Institu­tional progress also went beyond new legisla­tion concerning financial stability and regula­tion. With the Lisbon Treaty, the EU ’s Charter of Fundamental Rights entered into binding force, legally grounding the central rights and freedoms that lie at the heart of the European project. The Charter embodies these fundamental tenets of Europe’s community of values: human dignity, freedom, equality, and solidarity. In establishing major principles in justice and rule of law, the Charter also addresses modern concerns like data protec­tion and bioethics, making for a truly model document of human rights in the modern society of the 21st century and beyond. When confronted with problems of lack of respect for the rule of law in several member states like Hungary and Romania, the role of the Commission as an independent arbiter was seen as indispensable. Such examples prove that regarding this sensitive matter of rule of law in democracies – an issue at the core of na­tional sovereignty – there was unprecedented recogni­tion of the European Union’s suprana­tional competencies. Governance and regula­tion practices in the EU also serve as a model for adapting to new challenges. During my tenure as Commission President, the elimina­tion of red tape saved European businesses over 32 billion Euros annually. Over the past ten years, over 6,000 EU laws were repealed – directly contradic­ ting the no­tion of the EU as a lumbering bureaucracy hindered by roadblocks and regula­tion. As I have stated several times, Europe must be “big on the big things and small on the small things.” This principle of subsidiarity can help address criticisms of EU intrusiveness and make the EU work in a streamlined way for the benefit of all its citizens. The European Union is also the leader in setting a high bar to tackle climate change. The binding legisla­tion and ambitious targets of the 2020 climate and energy package set the global standard in terms of greenhouse gas reduc­tion, renewable energy, and efficiency. Since 1990, Europe’s GDP has risen by 45 percent – yet in that same period, targeted legisla­tion has succeeded in reducing EU emissions by 18 percent. Other developed as well as emerging economies have much to learn from the EU’s efforts to address climate change, a global problem affecting us all and for which coopera­tion is crucial. The European Research Council (ERC) and the European Institute of Innova­ tion and Technology (EIT) serve as flagship programs in making further progress towards a common European space for science and technology. The Commission’s Horizon 2020 initiative is the EU’s biggest research and innova­tion program, allocating nearly 80 billion Euros for 2014 – 2020. The European GPS system known as Galileo and the Copernicus earth observa­tion system are also at the forefront of research and development. At the same time, programs like the newly-­launched Erasmus+ – with the biggest increase in budget of any EU program – will allow more members of the next genera­tion of Europeans to study and volunteer abroad, enhancing their knowledge and skills for a new economy

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and fostering the openness, interconnectedness, and transna­tional understanding crucial for the EU’s social and economic success. These many adapta­tions, innova­tions, and successes amidst undeniable crises only serve to vindicate the famous dictum of Jean Monnet – one of the great founding fathers of the European project – that “L’Europe se fera dans les crises et elle sera la somme des solu­tions apportées à ces crises” – that Europe will be made in times of crisis, and will be the product of the solu­tions to these crises. *** So how should we qualify the European Union today? Is the correct picture one of decline or one of renewal, of remarkable success in the face of undeniable challenges? The European Union is indeed a sui generis project – there is no comparison globally in terms of structure, no single political model, and the EU thus remains elusive, impossible to pin down or compartmentalize. Commission President Jacques Delors qualified the European Community in 1985 as a UPO: an “un­identified political object”. The European Union also appears to me at times like a UFO – an unidentified flying object – one that air traffic controllers and political scientists may find very difficult to identify and understand! It is important to grasp how the transforma­tions and adapta­tions inherent within the European process have emerged from a history with which Europe’s na­tions are still grappling, a history of former empires that dominated the globe, where European countries were at the centre of the world. Yet we cannot forget that this was not the power of Europe as a whole, but individual countries riven by rivalries between each other. We must always remember that this extreme competi­tion, fuelled by na­tionalism, was responsible for the Shoah, which occurred in the centre – the most civilized – part of Europe. Throughout the process of European governance, spillovers will always occur. During the Euro crisis, for instance, global markets actually required more integra­tion in order to bolster confidence in the currency! Provisions did not exist for a banking union, yet this pragmatic solu­tion was essential to fulfill the goals of the treaties. This is why the European Commission found it possible and necessary – even without a specific habilitating norm in the treaties – to introduce legisla­tion on the crea­tion of a banking union. It is important to understand that the governance of the Eurozone takes place within a system – a very complex and sophisticated one – in which member states and European institu­tions try to reach effective decisions. While independent, the ECB therefore did not act in a void. In order to fulfill its mandate and salvage the common currency, it had not only a right but also a duty to act unconven­ tionally. These spillover effects resulted in the addi­tional powers that, in the end, safeguarded the Euro’s future.

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Spillovers are a constant pattern of integra­tion and have dramatic consequences, both positive and negative. The reality is that you cannot expect or predict automatic results – and despite the influence of intellectuals and experts, the truth is that the European Union continues to evade categoriza­tion into neatly constructed academic models. Europe defies these pre-­established predic­tions or structures. Theories like realism or idealism are undeniably important paradigms but are never all-­explanatory. All language is itself a choice, and Europe evades simple labels because each choice is also a limita­tion, setting artificial parameters and biased patterns around what Europe could or should be. In defying neat categoriza­tion, one principle remains at the heart of the EU’s political system: democracy – the primacy of each person: man, woman, or child. While democracy is at the heart of the EU, it would still be a mistake to conflate na­tional and European-­level democracy. The key is what I have called the Koopera­tionsverhältnis  – the cooperative and self-­reinforcing rela­tionship between levels of competencies. Coopera­tion – not conflict – must be the goal between the different levels of democracy. Democracy is unques­tionably more difficult with the absence of an integrated European public space complicated by twenty-­three official languages, undeniable social differences and polariza­tion among Europeans, and increased divergence in times of crisis. Yet while it is certainly desirable to increase mechanisms of accountability in the European Union, certain criticisms of the “democratic deficit” reflect fundamental misunderstandings of the democratic nature of the EU , with a European Council composed of the heads of states of all twenty-­eight members (all themselves democracies) and a Commission approved by and accountable to a directly-­elected European Parliament. These mispercep­tions are in large part due to this lack of a European public space. It is true that citizens’ primary affilia­tion remains with the na­tional state. There is not a true European demos. *** When it comes to democracy, the European Union is a polity in the making. The framework for decision in the European Union has evolved tremendously over the years. If you compare where we were twenty years ago with where we are today, the evolu­tion is striking, and I do not mean only in terms of competences, but mainly in the modes and dynamics of the decision-­making process. I had the privilege to participate in Council meetings since 1987 and in the European Council from 1992 to 1995 and I can testify that these differences are very important. In some cases the very culture of the institu­tions went through fundamental changes. In the beginning of the 1990s, the European Community was still centred around the Council. True, the Commission had the right of initiative, but most

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decision powers were with the Member States. Since then, our system and process have changed decisively, above all through the increase in the power of the European Parliament, away from a consultative assembly to the indispensable co-­legislator, even if the Parliament itself still often hesitates between its rôle tribunitien as opposed to its rôle décisionnel. The tempta­tion to demand without regard for feasibility – namely the underestima­tion of the political condi­ tions for some decisions – is not fully overcome by all players in the European Parliament. We have seen that some prefer a func­tion of protest or even anti-­ establishment rather than a role more in line with the need to achieve pragmatic results with other institu­tions. This also probably happens because the Parliament lacks its own right of initiative. But we should recognize that, broadly, the contribu­tion of the Parliament has been constructive. In the end, throughout the last de­cade, the Parliament has played for high stakes but ultimately it has played the game – from the adop­tion of the European Union’s budget to the conclusion of the banking union. Indeed, we have seen how the European Parliament has been trying to gain more competencies, not only through successive treaties but also politically, finding ways and means for a greater role and leverage in European Union decision-­making. Across political lines, from the centre-­right to centre-­left, we have seen a convergence of the most important political forces in the European Parliament and some of its most influential members in order to attain a more assertive Parliament, very often on clear lines of confronta­tion with the European Council and the Council. The Parliament has, by and large, been a defender of community methods and approaches, in opposi­tion to the intergovernmental ones favoured by the Council. An interesting point in this political development (which represents, indeed, a ques­tion of power) is that the European Parliament has chosen the Commission as an easier target, both because it is accountable to the Parliament and there exists the op­tion of censorship. In fact, the European Parliament has no direct control over the activities of the European Council, even if it has not hesitated to block some legislative initiatives that the Council wants to achieve. This is why some conflicts between the Parliament and the Commission were an indirect way to assert authority in front of the Council filière and gain a more prominent decision-­making role in the European political system. From the increasingly tough posi­tions taken in the investiture hearings of new Commissioners to a more aggressive stance in debates with the Commission, this attitude has been evident. The Presidents of the European Parliament with whom I worked – Josep Borrell, Hans-­Gert Pöttering, Jerzy Buzek, and Martin Schulz – all naturally followed that line, even if with different styles and approaches, from the more institu­tional one of Hans-­Gert Pöttering to a more communica­tional one like Martin Schulz. But, in fact, these Presidents all reflected the broad consensus of the Conference of Presidents of the EP, and indeed it corresponds to a long

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evolu­tion that the Secretariat General of the Council has sometimes misunderstood or did not always find the right approach to deal with it. For example, during the forma­tion of my second Commission in 2009, the Council (Secretariat General) decided not to participate in the negotia­tions for a new framework agreement. It was then more difficult for the Commission to deal with the European Parliament without a third party present in negotia­tions, and this was certainly a negative decision from the Council that contributed to an atmosphere of lack of trust between the Parliament and the Council, as was the case regarding the Structural Funds, for example. My understanding was always a political one, based on my own experience in na­tional parliamentary politics – being not only Prime Minister but also leader of the opposi­tion – and I have always shown the highest respect for the European Parliament and its priorities. I have accepted and, indeed, have participated in a record number of debates in the European Parliament including Ques­tion Hour, which was introduced and then discontinued, and also the very relevant initiative on the discussion of the State of the European Union once per year. This parliamentary moment had a special significance and always attracted important media atten­tion. I personally chose it to present new Commission initiatives. It is significant that it was the President of the Commission and not the European Council who was invited to give the speech. Once again, this exemplifies a parliamentarian evolu­tion of the political system of the European Union. But while I was sincerely committed to coopera­tion with the European Parliament, I was aware of the danger of over-­politiciza­tion of the rela­tionship between institu­tions. I have made appeals – both public and private – to leaders of political forces – with different ideological preferences although basically pro-­European – to avoid the polarizing posi­tions that could endanger the image of the institu­tions and of the European Union. As the Commission is, by nature, what the Germans might call a Große Koali­tion  – indeed a große Große Koali­ tion – my opinion is that the European Parliament, while fulfilling its goals of an assembly controlling the executive, should also behave in a way that respects some of these indispensable balances and that, when appropriate, a coali­tion broader than the shifting arrangements should support the overall legislative work. In spite of some political and institu­tional moments of tension, it was rewarding to see that many of my colleagues in the European Parliament – the role of Hans-­Gert Pöttering was certainly crucial – while defending strongly and with great determina­tion the prerogatives of their institu­tion, always show a need for cooperative consensus with other institu­tions, namely the Commission. *** The rela­tions among Member States are also very different as a result of the different dynamics between twenty-­eight as compared to twelve in 1992 or

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1994 for instance. Contrary to the Brussels myth, this is not so much a ques­ tion of size and might as it is a ques­tion of vision and agenda. I can compare the dynamics of the European Council in 1992 or 1994, when we were twelve members and when foreign ministers participated in those meetings, and today. I remember well Helmut Kohl, François Mitterrand or Felipe González in those meetings. So I can establish the difference between the dynamics of those European Councils and those of today. There are governments that come to the table with a defensive view, others with a single issue, still others without a burning interest. Only a few leaders come with an all-­encompassing view, a comprehensive approach. They feel some responsibility for Europe. But not all feel the same level of responsibility. And it is this responsibility that gives the edge in a political process like the EU. Accordingly, the centre of gravity on the Council side has also greatly changed. Once, the treaty concept saw the General Affairs Council composed by the F ­ oreign Affairs ministers as the political pinnacle of the side of the Council. This has completely shifted to the European Council. Europe has become a Chefsache. The body that brings the na­tional chiefs together – the European Council – had been gaining importance even before the Lisbon Treaty made it more opera­tional and stable by the crea­tion of the office of permanent Presi­dent. True, some of its dynamics are due to the specificity of the economic and financial crisis – the need to rapidly mobilize financial means that only the Member States could command – and this may abate over time. Heads of State and Governments will need to see their role not only as na­tional, but at the same time as European. The shift from the Council to the European Council has, however, brought with it a certain implementa­tion gap. For instance, the initial voluntarism of repeated demands for European Councils or Euro area summits for each and every new development that led to a succession of summits had the advantage of putting pressure on leaders to decide. But it also trivialized the summits and deepened the sense that decisions were always too little and that implementa­ tion was always too late, because decisions taken by Heads of State and Government were often not really followed through at a na­tional level. There was an excess of pressure and a lack of precision. The Commission emerges from all of this as the indispensable and reinforced focal point. Its right of initiative was always maintained throughout the crisis. And its talent for initiative – if I may say so – as initiated by Walter Hallstein and developed by Jacques Delors, was always present and was indeed the origins of the decisive concepts: from the crea­tion of the EFSM , the EFSF and later the ESM which were ultimately based on the Commission proposals, to the Banking Union 3; from the initiative to launch project bonds to the Commission legislative proposals on the reform of economic governance, including a new stability and growth pact. The Commission has always followed a truly European approach in the exercise of its right to initiative.

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Interestingly, there is no better illustra­tion of the inevitability of the Commission’s role than the intergovernmental Fiscal Treaty. Throughout its negotia­tion, the Commission was an indispensable source of expertise and creative legisla­tion technique around the table. And in the end, even in this context – the intergovernmental one – it was the Commission that came to the forefront when strong implementa­tion had to be guaranteed. The fact that the Commission, in order to obtain results, is sometimes capable of not claiming all the glory for itself should not be compounded with a fading role. There is no other place in the Union that brings together the horizontal view – awareness of the plurality of Member State situa­tions – with the vertical insight – the expertise of European policies. But in order to understand fully what has happened between then and now, one must also look at the media scrutiny. It has become deeper, faster, much more comprehensive and critical. No more reverence to summits and to leaders. Success is measured by results – and very often by immediate results. If these do not stand up to media dissec­tion, they melt away, as happened once or twice very publicly throughout the crisis. This also explains to a point the ‘stuttering process’, the syncopated nature of the crisis response. This is one of the reasons why the building of the European Union has been compared to a new construc­tion – a scaffolding – always incomplete. It may be far from orderly, perfect, or symmetric or appear as something that is in permanent construc­tion and repair. But the scaffolding very often hides the inherent ‘beauty’ of the construc­tion behind it, a beauty as in modern art – an intrinsic promise and optimism of future growth, innova­tion, and crea­tion. It takes imagina­tion to look past the construc­tion process to envision the indeterminate final concept. Indeed, I would suggest that it is in the very nature of the European project to resemble a permanent ‘work in progress.’ And those who are concerned with the lack of coherence and symmetry would do better to adapt to an architectural concept that, to achieve new func­tions, has to develop new shapes and designs. In the EU l’esprit de système usually does not work very well. We can say that the integra­tion process has passed the test of time and the stress of crises because there was always an obliga­tion de résultat that was matched with effective results. We have developed an art of governance to a degree of maturity that allows us to reach decisions based on a broad consensus. What we have seen, and what we see above all, is that leadership matters, because only leadership by building consensus avoids fragmenta­tion. This is why I have made sure that the Commission I presided took collective responsibility for their decisions. The President of the Commission is the guarantor of collegiality, which avoids a silo mentality and tunnel vision. As a rule, we started with sincerely held differences of opinion and real debates. But almost all decisions in these ten years were ultimately taken by consensus. A political executive is not a miniature parliament. And as an executive the Commission must take responsibility for the initiatives it collectively deems

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necessary. That is why, according to the treaties, the decision-­making in the Commission is collegiate rather than individual. It is possible for a college with twenty-­eight members to work. Above all, this is a ques­tion of a true Community culture and an efficient management of the institu­tion. Since the beginning of my first Commission almost coincided with the biggest enlargement ever of the European Union in 2004, I was particularly aware of the need to avoid its fragmenta­tion along geographical, ideological or other lines. I firmly believe that whilst it is important to recognize the political character of the Commission, it is equally important to avoid giving the Commission a partisan nature. The Commission does not only have political func­tions but also administrative and what I call ‘quasi-­jurisdic­tional’ func­tions. This requires great wisdom and balance at the decision-­making level so that the credibility of the Commission in its different roles is not undermined and that its independence and professionalism are not endangered. The European Union has moved, in the last two decades, to a much greater level of political and institu­tional maturity. And it is this political framework that has seen us through the crisis. But what we have today needs consolida­ tion if it is to endure. It is the manner in which we consolidate and advance that should be discussed, because this debate is the precondi­tion for what we need to achieve: growth and employment through the further shaping of our internal market and of our common currency, our trade, energy and climate, infrastructure, science and innova­tion, industry, and digital economy policies. We need to achieve freedom and security through our common foreign and security policy and our common justice and home affairs; we need to achieve our social well-­being through our joint efforts in educa­tion, culture, youth, and addressing the common challenges of our demography and social security systems. *** For the EU today, the rise of Eurosceptics and Europhobes most visibly challenges the democratic, inclusive ambi­tion. Many of these parties are de-­facto xenophobic, a trend only exacerbated when instances of terrorism like the attacks in Paris or Copenhagen further stoke ethnic, religious, and communal tensions in Europe. Indeed, it is not only in Europe that we see a rise of these xenophobic movements opposed to migra­tion, immigra­tion, and multicultura­ lism. These parties are also fundamentally resistant to globaliza­tion – putting at stake something much deeper than just criticism of the European Union. In their hostility to openness and globaliza­tion, they fail to recognize that the na­tion state in Europe no longer holds the keys to success. A cosy, protective state cannot provide the solu­tions to today’s problems, which are transna­tional by nature.

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We must also guard against false and pessimistic nostalgia, remembering that it is always too easy to idealize the past. Many prefer to contrast the challenges of today with the “golden eras” of European integra­tion. Yet those who priori­ tize a “negative nostalgia” of a smaller, cosy, manageable Europe conveniently forget that a Europe of only six, nine, or twelve na­tions wielded significantly less power than today! The Europe of 2015 with twenty-­eight members is truly on a continental scale, with global influence. Diplomatic specializa­tion within the Common Foreign and Security Policy (CFSP) is a way to deal with na­tional legacies while projecting European influence. The CFSP is often met with largely unfounded scepticism, which underestimates the role of the European Union. Yet I ask: would the sanc­tions on Russia or the ones that brought Iran to the negotiating table have been credible without the consensus and economic might of 27 or 28 states acting in coopera­tion? In this vein, we must still be honest about the problems facing Europe, for they are more than just symptoms or by-­products of the European project. Remembering that it has been only sixty years since the first post-­war steps of the European endeavour, we can characterize these crises as the growing pains of Europe, the “teething process” of the most innovative project of shared sove­ reignty and transna­tional governance in the history of mankind. Europe’s teething process plays out in the fundamental tension at the heart of the EU between transformative aspira­tions and the immediate tasks and pragmatism required in dealing with global realities. On the day-­to-­day level, Europe is an adaptive rather than transformative process. Between the two poles of realism and idealism, the result is trial, error, and incremental progress. We could perhaps apply to the European project Samuel Beckett’s dictum: “Try again. Fail again. Fail better.” But on a medium to long-­term, we clearly see that the European Union has been a hugely successful case of transforma­tion through adapta­tion. The complexities of integra­tion make this incremental process no easy task. Despite the wishes of some ardent federalists, there will not be a “United States of Europe” anytime soon. This is a constant benchmark with the United States that must be avoided – Europe is not a state! But while it is important to remember these differences, there are also similarities and shared truths. All pluralistic, democratic government systems are especially complex and Europe does have federal elements similar to the United States. In both cases, different levels of government influence the workings of the whole. Furthermore, we can admit that democracy is often frustrating – even more so on the immense and complex scale of the European Union. Decision-­making can be painstakingly slow in order to accommodate the broad range and diversity of voices, only then to be criticized as “too little, too late”. Yet in the end, Europe – and democracy – work. Crises have helped Europe to be more wary of arrogance and illusions, and it is ready to learn more than

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ever. Even with its many gaps, the scaffolding is sound: Europe will continue to deepen, based on its essential transforma­tional agenda. The EU remains inspira­ tional, and the flags waved by courageous Ukrainians on the freezing Maidan attest to this truth. But internal progress will not occur through a “Philadelphia moment” – reforms are incremental, adaptive, and step-­by-­step. As the founding Schuman Declara­tion of 1950 states, “Europe will not be made all at once, or according to a single plan. It will be built through concrete achievements which first create a de facto solidarity.” Experience has only proved this to be the case. Europe may be a “step-­by-­step” process, but as I noted at the height of the financial crisis in advocating for a banking union, sometimes “bigger steps” are also necessary. *** Even with recognized issues and inherent complexity, Europe counts in the world. Some facts and figures may be helpful to dispel wrongly conceived or misunderstood aspects of the European Union and illustrate undeniable strengths, influence, and accomplishments. First of all, the European Union is a true economic giant. You may not know, for instance, that the EU’s GDP, measured at 17.96 trillion US dollars in 2013, is in fact larger than that of the United States, at 16.77 trillion dollars in 2013. The twenty-­eight members of the European Union form the world’s biggest trade block, accounting for the largest share of global imports and exports – ahead of the United States and China. Europe is also a leader in social, humanitarian, and cultural developments. It is one of the best performers in the world on issues of gender equality and women’s rights, literacy rates, and quality of life, which is far above global averages, as is life expectancy, which has risen by 5.1 years since 1990. The European Union punches far above its weight as the single largest development aid donor worldwide, providing more than half of all public aid – official development assistance as defined by the OECD – with 56.5 billion euros in 2013 alone. *** After the chaos and carnage of World War II, Jean Monnet once again pres­ciently foresaw the role of Europe in a world transformed: “Nos pays sont devenus trop petits pour le monde actuel à l’échelle des moyens techniques modernes, à la mesure de l’Amérique et de la Russie d’aujourd’hui, de la Chine et de l’Inde de demain” – our countries have become too small for today’s world: on the scale of modern technology, in comparison to the America and Russia of today, or of the China and India of tomorrow. History has only further verified his argument that the influence of individual European states is surely declining, but the successes and global influence of the Union mean that a united “Europe”

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undoubtedly remains a major world power. Václav Havel’s dictum that “Europe is the homeland of our homelands” can underpin future visions and understanding of what is possible for Europe. Europe is therefore well placed to offer forward-­looking and innovative forms of global governance. As Jean Monnet said in his Mémoires, “la Communauté elle-­même n’est qu’une étape vers les formes d’organisa­tion du monde de demain” – the Community itself is but a step towards the organiza­tions of the world of tomorrow. The role of the European Union at the origin of the G20 illustrates this voca­tion for global governance. At the height of the financial crisis in 2008, President Nicolas Sarkozy – with France then holding the rotating European Council Presidency – and I went to Camp David to propose to then-­ President George W. Bush the first cooperative summit of heads of government as a response to global crises. In crafting Europe as a model of governance for the future, we must recognize that the era of implicit consensus about how to do so is over. What’s more, Europe can no longer be solely an elite-­driven project. The values that will continue to underpin this political construc­tion – and that will ultimately stand the test of time – must be accountability, subsidiarity, transparency, and democracy. Europe is a democratic polity continually in the making – undeniably the most democratic of any transna­tional entity due to the insistence on electoral legitimacy and accountability, making Europe an inspira­tion for the rest of the world. In order to serve as a model for global governance, the EU will have to grapple with the problems that lie at the heart of citizens’ dissatisfac­tion and the resultant lure of extremist parties. Demographics and welfare pose major challenges, as an aging popula­tion simultaneously calls for increased benefits but lower taxes. As a World Bank report from 2012 showed, Europe accounted for 58 percent of total global expenditure on social protec­tion from 2004 – 2009, despite containing only about 7 percent of global popula­tion – 500 million people on a planet of over 7 billion! Europeans certainly are not ready to completely change their social market economy and its provision of the highest quality of life ever experienced by mankind in favour of other models – but the necessary reforms in order to sustain these successes are difficult and take time. These problems also predated the financial crisis, which brought to light the structural weaknesses and issues of low competitiveness in many European countries. Europe shares these problems with other advanced economies, albeit to varying degrees. But this should be an important component of a common agenda for the future among countries with similar concerns about coping with the pressures of combining open societies with difficult-­to-­sustain systems. Europe must confront the fact that while fundamental research remains very relevant, levels of innova­tion are much lower than in the United States. How can Europe innovate and also deal with challenges from non-­democracies that offer competitive advantages?

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The key ques­tion for governance thus emerges: is democracy adequately equipped to deal with these societal tensions and competing demands? As a first step, I argue that our problems cannot be solved without recognizing the legitimacy of EU democracy. Democracy is a process by which change is made, and reforms are implemented through compromise and accountability. We can never take the European project for granted. Keeping these tenets in mind, the key to the future of EU governance lies in some basic developments. Europeans themselves need to take ownership of this process. One cannot criticize Europe and simultaneously expect everything from its institu­tions! Leadership cannot and will not come exclusively from the institu­ tions – it must appear at the na­tional level, not just in Brussels and Strasbourg. Na­tional governments, opposi­tion parties, and all of society need to develop the ability and will to “own” the process. Scapegoating and blaming too often disguise the fundamental truth that the most important EU decisions are taken by the governments themselves – and the most crucial ones have been unanimous! Europe will be governed by democracy, consensus, and a “culture of compromise” – a worthy goal that nevertheless faces inherent cultural challenges in terms of its development. Progress will be accomplished through avoiding the risk that some parts or constituencies are seen as losers in a continent-­wide project. Although it does not always make for the best public rela­tions, success will ultimately be achieved through debate, negotia­tion, and compromise. On a global scale, an eternal, primary lesson remains: war and peace will endure as fundamental aspects of human existence. But the European Union will continue to promote the vision shared by its members that coopera­tion outweighs conflict and confronta­tion. The European narrative began and remains as one for peace. This noble truth was never clearer than when the European Union was awarded the Nobel Peace Prize in 2012. It was my great honour to give the acceptance speech in Oslo with my colleague from the European Council. I quoted Spinoza, who once said, “Peace is not mere absence of war, it is a virtue … a state of mind, a disposi­tion for benevo­ lence, confidence, justice.” Woodrow Wilson also referred to democracy as an essential component of peace – and the EU’s success validates its founding ambi­tion. Since the end of World War II, Western Europe has experienced its longest-­ ever period of peace. But for the current genera­tion, memories of war are too distant for “peace” to be a sufficient leitmotif of European integra­tion. What’s more, we must remember that history is both what we have done and what we have not done – the past decades have tempered many of the enthusiastic illusions present after 1989. The EU’s current problems exist in other developed democracies, and the most important driver of the EU’s social, political, and economic construc­tion going forward will be globaliza­tion. One of the most decisive issues of globaliza­tion is the ques­tion of how to address the future of trade liberaliza­tion. I had the honour to launch the negotia­tions for

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the Trans-­Atlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) with President Obama on the margins of the 2013 G8 summit at Lough Erne. This transformative partnership offers the possibility for the EU and US to continue as major trendsetters in advocating for freedom and openness. The economic partnership between the EU and the US is already the largest in the world, and the impact of such a historic agreement will be felt far beyond the economic realm. Europe’s challenges are many, but pessimism is only counter-­productive. In fact, I believe that there is much room for confidence about Europe’s future. In a globalizing world, the European Union represents a unique experiment in transna­tional governance. The EU can serve as a laboratory for new forms of global coopera­tion. It is therefore fully coherent with the EU ’s interests and values to propose – not impose – new and innovative forms of global governance. With these new models in mind, and in comparison to Europe’s violent history, change will be achieved through political means, accomplished with determina­tion accompanied by necessary realism. A quote from the late historian Tony Judt speaks to what I believe is this bright European future. As he wrote in his book, Postwar: A History of Europe Since 1945: “The twentieth century – America’s Century – had seen Europe plunge into the abyss. The old continent’s recovery had been a slow and uncertain process. In some ways it would never be complete: America would have the biggest army and China would make more, and cheaper, goods. But neither America nor China had a serviceable model to propose for universal emula­tion. In spite of the horrors of their recent past – and in large measure because of them – it was Europeans who were now uniquely placed to offer the world some modest advice on how to avoid repeating their own mistakes. Few would have predicted it sixty years before, but the twenty-­first century might yet belong to Europe.” Social, governmental, economic, and geopolitical threats are well known. But as Jean Monnet reminded, threats – and crises – push Europe to innovate new solu­tions and stay united. Most recently, Europe has shown an admirable ability to maintain unity in addressing the turmoil in Ukraine. I believe that Europe will continue to defy its sceptics and evade simple categoriza­tion. European integra­tion is a process that will continue, guided by the essential values at its core: the dignity of the individual citizen – l’irréductible humain, democracy, and unity and solidarity amidst diversity. These values will stand the test of time and underpin my firm confidence in the resilience, promise, and future of the European Union.

*1 This article is based on a public lecture, “The State of the European Union”, given at Princeton University on 8 April 2015. I have slightly developed the references to the

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European Parliament, its role in European decision-­making, and my experience with this institu­tion. It seemed to me appropriate to do so, since with this contribu­tion I would like to pay tribute to the excep­tional role of my good friend Hans-­Gert Pöttering in the European Parliament, especially as its President and President of its EPP political group. Hans-­Gert Pöttering is a great and committed European and I am proud of our coopera­ tion, namely during the process that led to the Berlin declara­tion that both of us co-­signed with Chancellor Angela Merkel, then representing Germany’s rotating presidency of the Council, an essential step in the consensus-­building necessary to find a solu­tion for the institu­tional settlement after the rejec­tion of the Constitu­tional Treaty. 1 The future of Greece in the Euro is certainly still a concern. Yet while Greece’s situa­tion remains troubling, today’s issues stem more from internal political factors than those of the Eurozone itself. For example, Ireland, Portugal, and Spain all completed their adjustment programs and achieved “clean exits,” able to again finance themselves through the markets. Indeed, the Eurozone created the necessary firewalls to protect the most vulnerable countries and prevent crises from spreading. While going through painful social and economic reforms, these countries succeeded in restoring lost confidence and find themselves on stable financial footing today. Borrowing costs for these countries are in fact far below crisis levels and interest rates are comparable to the most competitive world economies. Cyprus is also making clear steps in regaining market confidence. Greece is thus a unique case in which many other factors must be taken into considera­tion. 2 “Towards a Genuine Economic and Monetary Union”, 5 December 2012: Herman Van Rompuy, President of the European Council, José Manuel Barroso, President of the Euro­ pean Commission, Jean-­Claude Juncker, President of the Eurogroup, and Mario Draghi, President of the European Central Bank. 3 Commission Communica­tion, “Ac­tion for stability, growth and jobs”, 30 May 2012.

Von der Gleichheit der Staaten zur Gleichheit der Bürger oder: „Was gilt das Wort eines deutschen Mannes?“ Reinhold Bocklet

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 gelangten die neuen Bundesländer, die auf dem Gebiet der DDR wiedererstanden waren, nicht nur nach Art. 23 GG (alt) in den Geltungsbereich des Grundgesetzes, sondern sie wurden auch als Teil des Mitgliedstaates Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig in das Vertragssystem der Europäischen Gemeinschaft einbezogen. Damit wechselten die 16 Millionen Deutschen der DDR als einzige Bevölkerung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs unmittelbar aus dem sowjetischen Machtbereich in den Staatenverbund der Europäischen Gemeinschaft, während die meisten anderen ehemaligen Ostblockstaaten bzw. Teile der Sowjetunion erst zum 1. Mai 2004 der Europäischen Union beitreten konnten. Die Aufnahme der 16 Millionen Deutschen in den neuen Bundesländern in die EG machte u. a. auch die Regelung ihrer Vertretung im Europäischen Parlament notwendig, die einerseits nicht zu Lasten der Vertretung der Bürger der alten Bundesländer durch die damals 81 deutschen Europaabgeordneten gehen und zugleich der gestiegenen Einwohnerzahl des Mitgliedstaates Deutschland bei der Sitzverteilung im Europäischen Parlament Rechnung tragen sollte. Die Beobachter aus dem Gebiet der ehemaligen DDR Die Verteilung der Mandatskontingente der Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament war in Art. 138 EWG-Vertrag sowie in Art. 2 des Direktwahlaktes von 1976 geregelt. Zu ihrer Änderung bedurfte es eines einstimmigen Beschlusses der Regierungen der Mitgliedstaaten und der Ratifizierung durch deren Parlamente. Angesichts der Langwierigkeit des Vertragsänderungsverfahrens und weil man von deutscher Seite die rasche Durchführung der Wiedervereinigung nicht mit dem Begehren nach Änderung des EG-Vertrages behindern wollte, behalf sich das Europäische Parlament am 24. Oktober 1990 durch eine Änderung der Geschäftsordnung zunächst mit der zeit­lich bis zur nächsten Direktwahl begrenzten Einrichtung von sogenannten Beobachtern aus dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Sie mussten von den Bürgern der DDR direkt gewählt worden sein und vom Deutschen Bundestag auf der Grundlage einer Beschlussfassung durch die erste demokratisch gewählte Volkskammer benannt werden, hatten aber im Europäischen Parlament kein Stimm- und Antragsrecht. Ihr Rederecht war auf die Ausschüsse und Frak­tionen beschränkt. Finanziell waren sie den regulären deutschen Europaabgeordneten gleichgestellt.

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Die vom Europäischen Parlament festgelegte Zahl von 18 Beobachtern stellte keine genaue Fortschreibung des Zahlenverhältnisses der 81 westdeutschen Europaabgeordneten dar, sondern war von dem Bestreben bestimmt, die Zahl der deutschen Vertretung im Europäischen Parlament nicht die „ma­gische Grenze“ von 100 erreichen zu lassen. Damit war frei­lich bereits eine Vorentscheidung im Hinblick auf die nachfolgende notwendige Erhöhung der Zahl der deutschen Mandate im Europäischen Parlament getroffen. Sofort nach der Berufung der 18 deutschen Beobachter am 21. Februar 1991 hatte das Europäische Parlament das Verfahren zur förm­lichen Erhöhung der deutschen Mandatszahl begonnen, bei dem es, weil es sich um eine Materie des einheit­lichen Wahlverfahrens handelt, das Vorschlagsrecht besitzt. Die angestrebte Erhöhung der deutschen Mandatszahl im Europäischen Parlament warf allgemein die Frage nach einer Neuaufteilung der Mandate im Europäischen Parlament auf, denn seine damalige Zusammensetzung war noch von der Gewichtungsphilosophie des Europarates und des ursprüng­lichen Delegiertenparlamentes, der Versammlung der Montanunion und des EWG-Vertrages, bestimmt, in dem die na­tionalen Mandatskontingente deut­lich zugunsten der kleineren und zu Lasten der größeren Mitgliedstaaten gewichtet wurden und überdies für die vier großen Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien das Prinzip der Gleichheit der Mandatszahl Anwendung fand. Abschied von der Gewichtungsphilosophie Nach der Direktwahl von 1979 sowie im Hinblick auf den zwischenzeit­lich eingetretenen Kompetenzzuwachs durch die Einheit­liche Europäische Akte und die angestrebte Vollendung des Binnenmarktes ließ sich die ursprüng­liche Gewichtungsphilosophie beim Europäischen Parlament nicht mehr halten. Das Europäische Parlament war längst aus der Rolle des parlamentarischen Feigenblattes einer zwischenstaat­lichen suprana­tionalen Organisa­tion herausgetreten und auf dem Weg zu einem echten Parlament des europäischen Staatenverbundes erheb­lich vorangekommen. Das echte Parlament einer Gemeinschaft von Staaten konnte aber nicht nach anderen Grundsätzen gebildet werden als die Parlamente dieser Staaten selbst, wenn diese Gemeinschaft deren elementaren demokratischen Prinzip der Gleichheit der Bürger genügen wollte. Ohne ­dieses Prinzip fehlt dem Europäischen Parlament nicht nur das für die moderne Demokratie entscheidende Legitima­tionskriterium, sondern es kann auch selbst nicht die notwendige legitimatorische Kraft entfalten. Dem Grundsatz der Gleichheit der Bürger (one man one vote) entspricht die propor­tionale, d. h. an der Bevölkerungszahl ausgerichtete Verteilung der (na­tionalen) Mandate im Europäischen Parlament. Der Verfasser entwickelte deshalb als Sprecher für europäische Wahlrechtsfragen seiner EVP-Frak­tion ein System der Mandatsverteilung je Mitgliedstaat nach Kriterien einer abgestuften

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Propor­tionalität, das auch im Fall künftiger Beitritte zugrunde gelegt zu werden vermochte. Realistischerweise konnte dabei nur ein System degressiver Propor­ tionalität Anwendung finden, das die völlige Beseitigung der Überrepräsenta­tion der kleineren Mitgliedstaaten ebenso vermied wie die generelle Aufstockung der Sitzzahlen der größeren Mitgliedstaaten auf über 100 Mandate. In ­diesem Zusammenhang zwang auch der mit der Wiedervereinigung verbundene Bevölkerungszuwachs Deutschlands dazu, den Grundsatz der (Mandats-) Gleichheit der vier großen Mitgliedstaaten aufzugeben. Diese Konsequenz der Wiedervereinigung stieß vor allem bei den franzö­sischen Kollegen im Europäischen Parlament auf erheb­liche Vorbehalte und anhaltenden Widerstand. Sie versuchten besonders an dem Prinzip der Gleichheit ­zwischen Deutschland und Frankreich, das am Beginn des Vergemeinschaftungsprozesses ­zwischen beiden Ländern gestanden hatte, eisern festzuhalten. Nachdem Frankreichs Präsident François Mitterrand nach dem Fall der Berliner Mauer sich nur schwer an den Gedanken der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hatte gewöhnen können und zunächst alles unternommen hatte, um die Fortexistenz der DDR zu unterstützen, wollte offenbar auch sein Vorgänger, Valéry Giscard d‘Estaing, in dem Bemühen, die Stellung der Grand Na­tion gegenüber einem größer gewordenen Deutschland zu behaupten, nicht nachstehen. Konkret ging es um die Umwandlung der 18 Beobachter aus den neuen Bundesländern in ordent­liche Mitglieder des Europäischen Parlaments und die damit verbundene Erhöhung der deutschen Mandatszahl von 81 auf 99. Giscard d‘Estaing, der zwischenzeit­lich mit Mitgliedern seiner U. D. F. der EVP -Frak­tion des Europäischen Parlaments beigetreten war, berief sich bei seinem Widerstand gegen die Erweiterung des deutschen Mandatskontingents auf eine angeb­liche Zusage Bundeskanzlers Konrad Adenauer aus dem Jahr 1951. Giscards Berufung auf Konrad Adenauer Es war während einer Straßburger Plenarsitzungswoche im Frühjahr 1991, als Giscard d‘Estaing während des Frühstücks im Hotel an den Tisch des Verfassers kam und ihm mit einem Buch in der rechten Hand auf Deutsch sehr bestimmt die Frage stellte: „Was gilt das Wort eines deutschen Mannes?“ Auf die verdutzte Gegenfrage des Verfassers, worum es denn gehe, zeigte er dem Verfasser eine Stelle in den Memoiren von Jean Monnet, in der dieser ausführ­lich über ein Gespräch berichtet, das am 4. April 1951 bei Bundeskanzler Konrad Adenauer in Bonn stattgefunden hatte und in dem es um die Kriterien für die Gewichtung der Posi­tionen der Teilnehmerstaaten in den Institu­tionen der Montanunion ging. Der Verfasser suchte nach Rückkehr aus Straßburg in seiner deutschen Ausgabe der Monnet‘schen Memoiren 1 nach und fand dort auf den Seiten 447 – 449 das Gespräch geschildert, auf das sich Giscard d‘Estaing bezogen hatte.

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Jean Monnet war damals von seiner Regierung nach Berlin geschickt worden, um den Bundeskanzler von der in Deutschland diskutierten Idee abzubringen, „das Gewicht jedes Landes … an die Bedeutung von Kohle- und Stahlproduk­tion“ zu binden, weil d­ ieses Kriterium die Deutschen „zu sehr begünstigte“. Wört­ lich heißt es in den Memoiren: „Als er [Adenauer] mich am 4. April in Bonn ­empfing, sagte ich gleich zu Beginn unseres Gesprächs: ‚Ich bin autorisiert, Ihnen vorzuschlagen, daß die Beziehungen ­zwischen Deutschland und Frankreich in der Gemeinschaft vom Prinzip der Gleichheit getragen sein sollen, und zwar sowohl im Rat wie in der Versammlung und auch in allen gegenwärtigen oder künftigen europäischen Institu­tionen, gleichviel ob nun Frankreich allein oder zusammen mit der franzö­sischen Union beitritt oder Deutschland ledig­lich als Westdeutschland oder als wiedervereinigtes Land sich anschließt.‘“ (Mit der „franzö­sischen Union“, die damals noch zum Programm der franzö­sischen Regierung gehörte, war wohl die Communauté française unter Einschluss Algeriens gemeint.) Monnet fährt in der Wiedergabe seiner Ausführungen gegenüber Adenauer erläuternd fort: „Ich möchte persön­lich anfügen, daß ich das Angebot einer Union, das am Beginn d­ ieses Vertrages stand, immer in d­ iesem Sinne verstanden habe, und ich glaube Sie bei unserer ersten Begegnung so verstanden zu haben, daß Sie ebenso dächten. Der Geist der Diskriminierung ist die Ursache für die größten Unglücksfälle der Welt gewesen, die Gemeinschaft ist eine Anstrengung, ihn zu vermeiden.“ Der Bundeskanzler antwortete darauf nach dem Bericht von Monnet: „Sie wissen, wieviel Wert ich auf die Gleichheit der Rechte für mein Land in der Zukunft lege und wie sehr ich die Herrschaftsunternehmungen verurteile, in die es sich in der Vergangenheit hat hineinziehen lassen. Ich bin glück­lich, ihrem Vorschlag voll zustimmen zu können, denn ich kann mir keine Gemeinschaft ohne totale Gleichheit denken, und deshalb ziehe ich jeden anderen Vorschlag zurück, auch auf wirtschaft­lichen Bereichen, wie sie von unseren Repräsentanten vorgetragen wurden.“ Soweit der Bericht, auf den Giscard d‘Estaing seine etwas gestelzte Frage nach der fortdauernden Geltung des „Wortes eines deutschen Mannes“ bezogen hat. Der überraschte Verfasser konnte auf diesen Appell an eine den Deutschen nachgesagte Tugend nur mit dem Hinweis auf die veränderte Rolle des Europäischen Parlaments in einer inzwischen weiter integrierten Europäischen Gemeinschaft antworten. Jean Monnet war sich im Übrigen der politischen Bedeutung dieser Aussage des Bundeskanzlers für Frankreich sehr bewusst. Er erläutert die Bedeutung seines Erfolgs bei Adenauer in den Memoiren mit folgenden Worten: „Diese Übereinkunft von großer politischer Tragweite hatte den Vorzug einfacher und klarer Prinzipien. Es brauchte Mut, um sie vorzuschlagen und sie zu akzeptieren, und dies in einem Augenblick, da die Wiederbewaffnung Deutschlands die Gefahr mit sich brachte, die Machtbeziehungen des Westens ins Schwanken

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zu bringen, und in einer Zeit, in der in der Bundesrepublik viele die Aussicht auf eine Wiedervereinigung mit dem Osten noch nicht aufgegeben hatten. Ich fragte mich nicht, wer daraus den größten Vorteil ziehen würde, ich wußte ledig­lich, daß es die erste psycholo­gische Grundbedingung für einen Frieden in Europa war. Die Regel der Gleichheit eignete sich in ihrem Automatismus weder zu berechnendem Vorgehen oder zu Kuhhandel noch zu Interpreta­tionen. Sie machte allen Versuchen zu einer Schaukelpolitik in den Institu­tionen ein Ende, denn sie hatte ein mora­lisches Fundament, das alle Tricks ausschloss. Im gegenwärtigen Augenblick bot sie die größten Chancen für einen Erfolg der Konferenz. Die Unterzeichnung des Vertrages [zur Gründung der Montanunion] war für Adenauer die erste Gelegenheit, eine offizielle Reise ins Ausland zu unternehmen, und es war der erste Besuch eines deutschen Regierungschefs in Paris seit Kriegsende.“ Vorbehalte u. a. in Frankreich, aber auch in Deutschland Giscard d‘Estaing berief sich aber nicht nur auf die Memoiren von Jean Monnet, er erklärte auch in seiner EVP-Frak­tion, dass ein franzö­sischer Europaabgeordneter, der für die Anhebung der deutschen Mandatszahl stimme, politischen Selbstmord begehe. Dass die Haltung von Giscard d‘Estaing kein Einzelfall war und die Furcht vor einer Übermacht Deutschlands nach der Wiedervereinigung neben anderen die politische Klasse Frankreichs in besonderem Maße bewegte, zeigten auch Äußerungen des ehemaligen franzö­sischen Außenministers Claude Cheysson, der dem Europäischen Parlament schlichtweg das Recht bestritt, in der Frage der Mandatszahlen aktiv zu werden. Darüber hinaus versuchte er den Gedanken der Propor­tionalität der Vertretung nach der Zahl der Bürger dadurch ad absurdum zu führen, dass er eine Mandatsverteilung im Europäischen Parlament nach dem Bruttosozialprodukt der Mitgliedstaaten oder nach dem Anteil ihrer Währung im Europäischen Währungssystem ins Gespräch brachte. Obwohl im Europäischen Parlament von franzö­sischen Abgeordneten aller politischen Richtungen die Ablehnung der Erhöhung der deutschen Mandatszahl um 18 Sitze artikuliert wurde, hatten die beiden elsäs­sischen Christdemokraten Andre Zeller und Marc Reymann die Courage, in der nament­lichen Abstimmung für den Antrag zu votieren. Zeller erklärte freimütig, das franzö­sische Volk denke in dieser Frage weniger engstirnig als die politische Klasse Frankreichs, die noch „in den Kategorien des 19. Jahrhunderts gefangen“ sei. Das Negativste zur Erhöhung der deutschen Mandatszahl wurde frei­lich von einer Deutschen selbst geäußert, und zwar von der auf der Liste der Grünen gewählten Dorothee Piermont, die im Plenum u. a. wört­lich erklärte: „Die Losung lautet: Wozu noch falsche Rücksichten, zumal die Forderung nach mehr Gewicht für Großdeutschland im Europäischen Parlament sich so hübsch

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demokratisch verpacken lässt … Man ist wieder wer und möchte das auch dargestellt sehen, z. B. indem Berlin, Hauptstadt des Bismarck- und Nazireiches, wieder zur Hauptstadt gekürt wird, indem der Leichnam des Preußenkönigs Friedrich, auf dessen Konto der Schle­sische Krieg und eine polnische Teilung gehen, als Symbol deutscher Kontinuität mit militärischen Ehren nach Berlin transferiert wird … Laut dem ‚Spiegel‘ herrscht in Europa wieder Angst vor den Deutschen. Zu Recht, wie ich finde. Ich lehne daher jede Erhöhung der Anzahl der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament ab.“ Trotz ­dieses Ausbruchs an Selbsthass stimmten am 9. Oktober 1991 241 Abgeordnete für den gemeinsamen Antrag von Christ­lichen Demokraten und Sozia­ listen, 62 votierten dagegen, 39 enthielten sich der Stimme. Das Votum des Europäischen Parlaments zugunsten der isolierten Anhebung der deutschen Mandatszahl half allerdings Bundeskanzler Helmut Kohl auf der Maastrichter Gipfelkonferenz vom 9. und 10. Dezember 1991 nicht. Der Bundeskanzler konnte den offenen Widerstand der Franzosen und den mehr oder weniger verdeckten anderer Mitgliedstaaten in den Verhandlungen nicht überwinden, zumal der niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers als Ratsvorsitzender plötz­lich die Frage der Zahl der Mandate im Europäischen Parlament mit der nach der Zahl der Kommissare je Mitgliedstaat verband. Der Gipfel vertagte schließ­lich die Antworten auf beide Fragen auf Ende 1992. Pragmatischer Ansatz statt reine Propor­tionalität Im Hinblick auf diesen Termin machte sich das Europäische Parlament daran, für den nächsten Gipfel in Lissabon einen Vorschlag zu erarbeiten, der über die bereits verabschiedete Erhöhung der deutschen Mandatszahl hinausgehen und vor allem die anstehenden Erweiterungen der Europäischen Gemeinschaft um neue Staaten mitberücksichtigen sollte. Die Verfechter einer propor­tionalen Mandatsverteilung stießen allerdings wieder auf eine breite vielfältig motivierte Gegnerschaft, die von der Ansicht gespeist wurde, dass für das Europäische Parlament nicht der Grundsatz der staatsbürger­lichen Gleichheit, sondern der der Solidarität maßgeb­lich sei, d. h. dass die EG über den Charakter einer interna­tionalen Organisa­tion noch nicht hinausgekommen sei, der der Grundsatz der Gewichtung der Stimmen entspricht. Angesichts dieser Sachlage waren alle Versuche einer an der reinen Propor­tionalität orientierten Systematik der Mandatsverteilung wenig erfolgversprechend. Es erschien deshalb ratsam, die bestehende Mandatsverteilung ohne Anspruch auf eine mathematische Formel dahingehend zu korrigieren, dass die stärksten Verzerrungen zu Lasten der größeren Mitgliedstaaten beseitigt werden, dem vereinigten Deutschland eine angemessene Vertretung gesichert wird und ein allgemeiner Konsens über die Aufteilung der Sitze unter Sicherung des Status quo für die kleineren Mitgliedstaaten erzielt wird, der sich auch auf die neu beitretenden Staaten übertragen

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lässt. Die Logik d­ ieses Ansatzes bestand nicht in einer cartesianischen Klarheit, sondern in der Erkenntnis, dass der pragmatische Ansatz in der Geschichte oft derjenige war, der die Gemeinschaft weitergebracht hat. Trotzdem stellte dies einen Schritt in Richtung auf eine mehr an der Bevölkerungszahl orientierte Sitzverteilung dar. Im Europäischen Parlament entwickelte sich in d­ iesem Zusammenhang ein hartes Ringen um eine konsensfähige Lösung, an dessen Ende im Prinzip ein pauschalierter Ansatz in der Mandatsverteilung stand, der die Mitgliedstaaten nach ihrer Größe in drei Gruppen einteilte, wobei die kleineren Mitgliedstaaten überpropor­tional gegenüber den größeren Mitgliedstaaten bedacht wurden. Innerhalb der drei Gruppen erfolgte eine weitere Differenzierung, vor allem zugunsten der bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten. Für Frankreich, Großbritannien und Italien wurde die Mandatszahl von 81 um 6 auf 87 erhöht. Deutschland erhielt die 18 Beobachter nun als zusätz­liche Mandate, so dass die Anzahl der deutschen Sitze von 81 auf 99 anstieg. Eine weitere Anhebung der deutschen Mandate über 99 hinaus, um den Verteilschlüssel für Deutschland dem der drei anderen größeren Mitgliedstaaten anzugleichen, erwies sich als nicht konsensfähig, so dass auf einen deutschen MdEP rund 800.000 Einwohner kamen, während die franzö­sischen, italienischen und britischen Europaabgeordneten z­ wischen je 660.000 und 650.000 Einwohner repräsentierten. Die Mandatszahlen für die Niederlande wurden ebenfalls um 6 von 25 auf 31 sowie für Spanien um 4 von 60 auf 64 und für Belgien, Griechenland und Portugal um je ein Mandat von 24 auf 25 angehoben, während die Kontingente von Dänemark (16), Irland (15) und Luxemburg (6) unverändert blieben. Für den Fall künftiger Erweiterungen konnte sich das Europäische Parlament darauf verständigen, die Mandatszahlen für diejenigen Staaten festzulegen, die zum damaligen Zeitpunkt den Beitritt zur Gemeinschaft beantragt hatten und für die keine negative Stellungnahme der Europäischen Kommission vorlag (Österreich, Schweden, Finnland, Schweiz, Malta und Zypern). Die Plenarabstimmung über die Neufestsetzung der Mandatszahlen am 10. Juni 1992 ergab 152 Ja-­Stimmen bei 123 Nein-­Stimmen und 83 Enthaltungen. Dabei muss festgehalten werden, dass die Mehrheit von 152 Ja-­Stimmen entscheidend auf den 93 Ja-­Stimmen der EVP-Frak­tion beruhte, während die Sozialisten nur 47 Ja-­Stimmen beisteuerten. Von den franzö­sischen Europaabgeordneten hatten die Gaullisten, Sozialisten, Kommunisten und die Na­tionale Front mit Nein gestimmt und damit deut­lich gemacht, dass sich die politische Klasse in Frankreich nach wie vor schwer tat, die sich aus dem demokratischen Prinzip ergebende institu­tionelle Konsequenz der Erhöhung der deutschen Mandatszahl anzuerkennen. Der Europäische Rat in Edinburgh hat sich schließ­lich auf seiner Tagung am 11. und 12. Dezember 1992 den Beschluss des Europäischen Parlaments zu Eigen gemacht und die Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments ab

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1994 neu festgesetzt. Mit dem Beschluss des Rates vom 1. Februar 1993 wurde der Direktwahlakt vom 20. September 1976 in der Fassung der nachfolgenden Beitritte entsprechend geändert, sodass die neue Sitzverteilung erstmals bei der folgenden Europawahl 1994 Anwendung finden konnte. Vom Nizza- zum Lissabon-­Vertrag Das Thema Gleichheit ­zwischen Deutschland und Frankreich war mit der Neufestsetzung der na­tionalen Mandatskontingente im Europäischen Parlament keineswegs erledigt. Es spielte auch auf dem Gipfel von Nizza am 11. Dezember 2000 wiederum eine erheb­liche Rolle, als Bundeskanzler Gerhard Schröder am kategorischen Widerstand von Frankreichs Präsident Jacques Chirac mit seinem Versuch scheiterte, für die Bundesrepublik Deutschland im Rat eine höhere Stimmenzahl als für die drei anderen großen Mitgliedstaaten Frankreich, Großbritannien und Italien (10 bzw. 29) durchzusetzen. Erst im Rahmen der Billigung des Verfassungsvertrags gelang es beim Europäischen Rat von ­Thessaloniki am 19. Juni 2004, im Zusammenhang mit der Einführung des Systems der sog. doppelten Mehrheit der Bevölkerung und der Staaten im Rat Frankreich (sowie Großbritannien und Italien) grundsätz­lich zur Aufgabe des Gleichheitsprinzips zu bewegen. Im Kontext dieser Entscheidung stimmte Bundeskanzler Schröder allerdings auch der Absenkung der Zahl der deutschen Mandate im Europäischen Parlament von 99 auf 96 zu, was eine weitere Verschlechterung des Verteilschlüssels für den größten Mitgliedstaat bedeutete. Der Vertrag von Lissabon, der anstelle des gescheiterten Verfassungsvertrages am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, übernahm diese Regelung des Verfassungsvertrages, so dass die Europawahl vom 22. bis 25. Mai 2014 erstmals mit der für die Bundesrepublik Deutschland um 3 Sitze verminderten Mandatszahl von 96 stattfand. Es war Hans-­Gert Pöttering, der während der herausfordernden Jahre des Reformprozesses der EU von 1999 bis 2007 die Mehrheitsfrak­tion der Europäischen Volkspartei und Europäischer Demokraten im Europäischen Parlament mit ruhiger Hand erfolgreich führte, um anschließend als 12. Präsident des direkt gewählten Europäischen Parlaments von 2007 bis 2009 die Weichen für die Umsetzung des Lissabon-­Vertrages zu stellen. Das Europäische Parlament setzt sich nun nach Art. 14 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union aus 750 Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, zuzüg­lich des Präsidenten, zusammen. Die Unionsbürger sind im Europäischen Parlament degressiv propor­tional, mindestens jedoch mit sechs Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten. Kein Mitgliedstaat erhält mehr als 96 Sitze. Um das schwerfällige Vertragsänderungsverfahren zu vermeiden, erlässt der Europäische Rat einstimmig auf Initiative des Europäischen Parlaments und mit dessen Zustimmung jeweils einen Beschluss über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, wenn dies durch Veränderungen in der

Von der Gleichheit der Staaten zur Gleichheit der Bürger

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Mitgliedsstaatsstruktur notwendig wird, wobei die degressive Propor­tionalität gewahrt werden muss. Der hier nachgezeichnete Weg von der Gleichheit der Staaten zur Gleichheit der Bürger als institu­tionelle Entscheidungsgrundlage ist gleichzeitig ein Gradmesser im Prozess vom intergouvernementalen zum integrierten Stadium der Willensbildung und Entscheidungsfindung in der Europäischen Union. Er bietet auch ein eindrucksvolles Beispiel für die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, um des gemeinsamen Zieles willen auf nicht unerheb­liche Elemente staat­licher Selbstbehauptung zu verzichten. Gleichwohl bleibt die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments unter dem Legitima­tionsgesichtspunkt des demokratischen Elementarerfordernisses der Stimmengleichwertigkeit jedes Bürgers unverändert unbefriedigend. Das Parlament wird auch im Lissabon-­Vertrag nur nach dem Prinzip der degressiven und nicht der linearen Propor­tionalität zur Größe der Staatsbevölkerungen zugeschnitten, es benachteiligt die deutschen Unionsbürger relativ am meisten und privilegiert weiterhin Angehörige kleinerer Staatsbevölkerungen. Dies ist allerdings solange hinnehmbar, wie die Europäische Union keine Kompetenzkompetenz besitzt und die Legitimierung der Entscheidungen nicht nur durch die Einbeziehung der Mitgliedstaatsregierungen sondern auch der na­tionalen Parlamente erfolgt. Die Aufgabe des Prinzips der Gleichheit der Staaten im Übergang von der Versammlung zum direkt gewählten Parlament durch die degressive Propor­tionalität der Mandatsverteilung und z. T. des Rates durch die doppelte Mehrheit machen deut­lich, dass der Entscheidungsprozess im integrierten Teil der Europäischen Union einen unbestreitbaren Fortschritt in Richtung Demokratisierung gemacht hat, dass aber nach wie vor dem Charakter des Staatenverbundes entsprechend das intergouvernementale Element den staatenbündischen Entscheidungsprozess bestimmt. Dies gilt insbesondere auch für die beiden größten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich, die jenseits von Mandatszahlen und Abstimmungsverfahren aus staatspolitischer europäischer Raison darauf bedacht sein müssen, auf gleicher Augenhöhe miteinander zu verkehren und im Wege der Diplomatie jeweils einen fairen Interessenausgleich zu erzielen, um die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union sicherzustellen. Die Zukunft Europas beruht nach wie vor nicht nur auf der Zustimmung der Völker Europas, sondern vor allem auf dem Mut und der Klugheit ihrer europapolitisch verantwort­lichen Regierungen.

1 Jean Monnet: Erinnerungen eines Europäers. München/Wien 1978.

Die Rolle des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments bei der Lösung von Konflikten Elmar Brok

Das Europäische Parlament und die Außenpolitik der EU Im Sommer 2014 hat die Europäische Union parlamentarisch-­demokratische Geschichte geschrieben. Mit der Durchsetzung des Spitzenkandidatenprozesses zur Europawahl und der anschließenden Bestimmung Jean-­Claude Junckers zum neuen Kommissionspräsidenten wurde ein wichtiger Schritt für die weitere Demokratisierung europäischer Politik vollzogen. Die EVP-Frak­tion  – deren Vorsitzender Hans-­Gert Pöttering war – hatte sich bereits bei den Verhandlungen zu einer europäischen Verfassung 2002 für diesen Prozess eingesetzt, und schließ­lich wurde der entsprechende Passus in den Vertrag von Lissabon eingefügt. Pöttering, zu dieser Zeit Präsident des Europäischen Parlaments (EP), begrüßte die Einigung auf den Vertrag als „einen großen Erfolg für das Europäische Parlament, einen Sieg für die Europäische Union und all ihre Bürger“. Neben den na­tionalen Regierungsvertretern haben EU-Wähler 2014 nun durch ihre direkt gewählten Vertreter im Europäischen Parlament auch bestimmt, wer ihre europäische Regierung leiten soll und damit festgelegt, wer für die Durchführung der gemeinschaft­lichen Politikbereiche verantwort­lich sein soll. Gleichzeitig wurde durch diese Veränderung die Bindung z­ wischen der parlamentarischen Mehrheit und der europäischen Exekutive in Form der Kommission vertieft, wenngleich die Autonomie der Abgeordneten weiterhin sehr ausgeprägt bleibt. Die dadurch geschaffene Situa­tion ermög­licht eine neue Art der Zusammenarbeit ­zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission in allen Politikbereichen. Beide Institu­tionen können nun stärker als je zuvor ihre Kräfte und Kompetenzen bündeln und gemeinsame Prio­ritäten verfolgen. Die aktuellen Herausforderungen mit Konflikten in der öst­lichen und süd­lichen Nachbarschaft der EU machen dies vor allem im Bereich der interna­tionalen Beziehungen notwendig. Gleichwohl stellt die Außenpolitik der Europäischen Union einen besonderen Fall in ihrem institu­tionellen Gefüge dar. Der Vertrag von Maastricht hat die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als eine Säule der Europäischen Union etabliert. Seitdem wachsen die interna­tionalen Erwartungen, dass die Union als Staatenverbund eine kohärente und durchsetzungsfähige Identität in ­diesem Bereich entwickelt. Wie auf na­tionalstaat­licher Ebene tradi­tionell üb­lich, werden die äußeren Angelegenheiten der EU hauptsäch­lich von der Exekutive gelenkt und umgesetzt. Hier gilt die Notwendigkeit einer gewissen

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Flexibilität, Geheimhaltung und mög­licher Reak­tionsgeschwindigkeit in Bezug auf sich schnell wandelnde interna­tionale Entwicklungen. Zudem stellt die häufig sensible GASP noch immer einen Politikbereich dar, der von den Regierungen der Mitgliedsstaaten intergouvernemental durch den Europäischen Rat oder den Rat umgesetzt wird und von der gemeinschaft­lichen Rechtsetzung ausgeschlossen ist. Die Mitgliedsstaaten zögern weiterhin, sich auch hier stärker der Gemeinschaftsmethode zu verpflichten. In jüngster Vergangenheit stellen einige Beobachter sogar eine Tendenz der Rena­tionalisierung der europäischen Außenpolitik fest. Die aktuellen Herausforderungen wie Ukraine­krise und Konflikte in unserer süd­lichen Nachbarschaft zeigen allerdings, dass gemeinsame Lösungen durch gemeinsames Handeln unbedingt notwendig und – wie die Sank­tionen zeigen – mög­lich sind. Einstimmige Beschlussfassungen im Rat verlangsamen oder behindern diesen Prozess und stellen eine ineffiziente Handlungsweise dar. Die Europäische Union war schon immer dort am erfolgreichsten, wo sie wichtige Entscheidungen mit der Gemeinschaftsmethode entschied. Eine wichtige Verbesserung des Institu­tionengefüges in dieser Hinsicht war die Schaffung des Amtes des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik/Vizepräsidenten der Kommission (HR/VP) und des ihm zur Verfügung stehenden Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD). Der als hybrider Dienst konzipierte EAD ermög­licht der Europäischen Union eine Außenpolitik „aus einem Guss“. Um die Potenziale des EAD zu verstehen, muss das Amt des HR/VP näher betrachtet werden. Dieses vereint drei Posten in einem: Erstens den des EU-Außenkommissars, dem die finanziellen Mittel und ein großer Apparat zur Verfügung standen. Zweitens den Posten des Hohen Beauftragten, der im Rat angesiedelt war und der zwar ein Verhandlungs-­Mandat, aber kein Geld und keinen Apparat hatte. Und drittens den Vorsitz des Außenministerrates, der bisher von der alle sechs Monate wechselnden Ratspräsidentschaft gestellt wurde. Nun wurden alle diese Posten in der Person der HV/VP vereinigt, zum jetzigen Zeitpunkt Federica Mogherini. Diese ist zugleich als Hohe Beauftragte für die Planung und Durchführung der intergouvernementalen GASP/GSVP zuständig, als Vorsitzende des EU-Außenministerrates kann sie die Agenda bestimmen und hat so die strate­gischen Fäden in der Hand, Beschlussvorlagen vorzubereiten, und als Vizepräsidentin der Kommission koordiniert sie die verschiedenen gemeinschaft­lichen Außenpolitiken. Diese zuletzt erwähnte Posi­tion als Vizepräsidentin der Kommission macht die HR/VP dem Europäischen Parlament gegenüber verantwort­lich. Sie muss den Abgeordneten Rede und Antwort stehen und kann durch einen Misstrauensantrag oder dessen Androhung zum Rücktritt gezwungen werden. Dies stärkt die Posi­tion des Europäischen Parlaments, das als legislative Gewalt tradi­tionell weniger Gestaltungsmacht in der Außenpolitik als Rat und Kommission hatte. Es musste beständig mit der Behauptung kämpfen, es könne in d­ iesem Bereich – wo,

Die Rolle des Auswärtigen Ausschusses bei der Lösung von Konflikten

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wie oben erwähnt, unter anderem Flexibilität, Geheimhaltung und Schnelligkeit von interna­tionalen Partnern verlangt wird – nicht effizient genug arbeiten. Über die vergangenen Jahrzehnte hat sich die Situa­tion jedoch Schritt für Schritt gewandelt: Durch eine verstärkte Vernetzung in einer globalisierten Welt der unzähligen politischen, wirtschaft­lichen und gesellschaft­lichen Interessengruppen sind Außenpolitik und Diplomatie längst nicht mehr auf die na­tionalstaat­liche Sphäre der Staatsexekutive beschränkt. Der Kreis der teilnehmenden Akteure erweitert sich ständig. Interna­tionale Organisa­tionen, Stiftungen, Nicht-­Regierungsorgane, weltweit agierende Konzerne, ja sogar Kleine und Mittlere Unternehmen sowie einzelne einflussreiche Bürger tragen ihren Teil zu den interna­tionalen Beziehungen der EU bei. Damit verbunden ist die Forderung nach mehr Legitimität innerhalb der EU und somit einer demokra­ tischeren Außenpolitik. Die Öffent­lichkeit verlangt nach einer eigenen Stimme. Dies zieht gesteigerte Erwartungen an die direkt gewählten Volksvertreter im Europäischen Parlament nach sich; sie sollen das Handeln des Rates und der Kommission beeinflussen. Um diesen neuen Realitäten gerecht werden zu können, hat das EP durch den Vertrag von Lissabon, dem „Vertrag der Parlamente“ 1, auch im Bereich der Außenpolitik formale Kompetenzen hinzugewonnen. So erhielt es z. B. die vollen Haushalts-, Haushaltskontroll- und politischen Kontrollrechte über den von ihm mitgeschaffenen EAD, verhandelt die Finanzierungsinstrumente für außenpolitische Maßnahmen der EU und muss interna­tionalen Übereinkünften der Union zustimmen, sofern diese nicht ausschließ­lich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreffen.2 Das Parlament hat also de facto stets das letzte Wort, insbesondere bei Erweiterungs- und Assoziierungsverträgen, Partnerschaftsabkommen, Handelsverträgen etc. Einige dieser Kompetenzen erweitern den Handlungsspielraum des Europäischen Parlaments auch bei der Behandlung und Lösung interna­tionaler Konflikte. Die normativ festgelegten Befugnisse reichen dennoch häufig nicht aus, was dazu führt, dass informellen Einflussmög­lichkeiten eine besondere Rolle zukommt. Darauf soll s­ päter näher eingegangen werden. Die schrittweise Parlamentarisierung der Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte bietet den Mitgliedern des EU-Parlamentes, und dieser Institu­tion selbst, die Mög­lichkeit, ihre eigene außenpolitische Identität zu stärken und weiterzuentwickeln. Diese Entwicklung wurde von Hans-­Gert Pöttering während seiner 35 Jahre als Mitglied des EP beständig gefordert und gefördert. Als erster Vorsitzender des Unterausschusses für Sicherheit und Abrüstung (1984 – 1994) und Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten konnte er dabei helfen, dass das EP über die Jahre zu einem angesehenen und einflussreichen interna­tionalen Akteur wurde, zu einer Institu­tion, die von seinen Partnern heute als fähig angesehen wird, intern und extern Einfluss auf Entwicklungen und Entscheidungen auszuüben.3 Das Parlament wird mithin

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als „Hüterin europäischer Werte“ 4 bezeichnet. Diese Posi­tion hilft dem Parlament dabei, auch bei der Lösung interna­tionaler Konflikte eine immer stärkere Rolle einzunehmen. Neben dem Präsidenten, der das Parlament interna­tional repräsentiert und den Frak­tionen, die unter anderem über die Konferenz der Präsidenten ihre politischen Grundlinien durchsetzen, ist der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten (AFET), das wichtigste Organ europaparlamentarischer Außenpolitik. Der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten – Formelle Kompetenzen bei der Konfliktlösung AFET ist als größter Ausschuss gemäß der Geschäftsordnung des EP für die „Förderung, Durchführung und Überwachung“ 5 aller Teile der Außenbeziehungen der EU zuständig, auch der GASP und der Gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik (GSVP). Er übt die Kontrolle über den Europäischen Außendienst (EAD) und bestimmte Exekutivorgane der Kommission aus, koordiniert und überwacht die Tätigkeit der interparlamentarischen Delega­tionen in seinem Zuständigkeitsbereich. Er wird durch die Unterausschüsse für Sicherheit und Verteidigung (SEDE) und Menschenrechte (DROI) unterstützt. Der AFETAusschuss ist die außenpolitische Schaltzentrale des Europäischen Parlaments und somit Ausgangs- und Handlungsmittelpunkt der europaparlamentarischen interna­tionalen Beziehungen. Zur Durchführung seiner Tätigkeiten verfügt der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten über eine Reihe vertrag­lich festgelegter, formeller Kompetenzen und Instrumente. Bezüg­lich des Budgets des EAD arbeitet der AFETAusschuss beispielsweise mit dem Haushaltsausschuss zusammen. AFET gibt notwendige Stellungnahmen zur zukünftigen Haushaltsplanung, aber auch zu ehemaligen Ausgaben des EAD ab. Da der AFET -Ausschuss sich im Vergleich zu anderen Ausschüssen nur selten mit Rechtsetzung befasst, ist die Erstellung von Entschließungen zu Sachverhalten innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs eine seiner Hauptaufgaben. Berichte zu aktuellen und langfristig bestehenden Konflikten zeigen seine Posi­tionen und Ansichten auf, stellen konkrete Forderungen an die betroffenen Konfliktparteien und sind somit ein wichtiger Teil der außenpolitischen Stimme der EU. Durch sie versucht das Europäische Parlament Einfluss auf die Entscheidungen von Rat und Kommission zu nehmen, und bestimmte Entwicklungen in manchen Drittländern und auch Politikbereichen zu Gunsten europäischer Interessen zu beeinflussen. Ein wichtiges Instrument der Konfliktpräven­tion steht dem Ausschuss durch die parlamentarische Mitwirkung mittels der Finanzierungsinstrumente für das Auswärtige Handeln zur Verfügung. Alle sieben Jahre entscheidet das Parlament gemeinsam mit dem Rat im Mitentscheidungsverfahren über das Budget,

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die strate­gischen Zielsetzungen, thematischen Prioritäten und Durchführungsmodalitäten für folgende Instrumente: das Instrument für Heranführungshilfe, das Europäische Nachbarschaftsinstrument, das Instrument für Stabilität und Frieden, das Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte und das Partnerschaftsinstrument. Damit genießt das Parlament unter der Federführung des AFET-Ausschusses auf Augenhöhe mit dem Rat gleichberechtigte Gestaltungsmacht in d­ iesem Bereich. Anders als im Fall von interna­tionalen Abkommen, bei denen das EP auf Basis von AFET-Berichten formal nur den ausgehandelten Texten zustimmen oder diese ablehnen kann, handelt es sich bei den genannten Finanzierungsinstrumenten um die formale Mög­lichkeit, europäische Außenpolitik zu formen, also normativ festgelegten inhalt­lichen Einfluss. Die politische Rechenschaftspflicht der Kommission und im Speziellen des HR /VP ist sowohl in den Verträgen, als auch in zusätz­lichen Vereinbarungen festgelegt und gibt dem AFET-Ausschuss weitere Mög­lichkeiten der Einflussnahme bei der Lösung von Konflikten. So hat der Ausschuss zum Zeitpunkt der Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes erfolgreich eine „Erklärung zur politischen Rechenschaftspflicht“ ausgehandelt, in der neben anderen Bestimmungen festgelegt wird, dass der HR/VP zu den wichtigsten Punkten und grundlegenden Entscheidungen zur GASP den Standpunkt des Parlaments einholt und dem AFET -Ausschuss unter anderem das Recht erteilt, vor der Annahme von Mandaten und Strategien und vor der Festlegung und Planung von Wahlbeobachtungsmissionen und ihrer Weiterführung konsultiert zu werden. Der Ausschuss hat außerdem das Recht, Aussprachen mit Delega­tionsleitern anzuberaumen, bevor diese ihr Amt antreten. Diese Erklärung stärkt die Rolle der gemeinsamen Beratungstreffen zur GASP und erleichtert dem Parlament den Zugriff auf vertrau­liche Dokumente. Zudem gibt es weitere interinstitu­tionelle Vereinbarungen, die beispielsweise den Zugang zu geheimen Dokumenten für bestimmte Abgeordnete ermög­lichen. Der AFET -Ausschuss selbst entsendet jedes Jahr Ausschussmitglieder auf Dele­ga­tions­reisen in Drittländer. Im Bereich der Konfliktlösung sind vor allem „Ad-­hoc-­Delega­tionen“ als Reak­tion auf spezifische Krisen ein wichtiger Bestandteil parlamentarischer Diplomatie, wie die Beispiele ­später zeigen werden. Zudem ist der AFET-Ausschuss zusammen mit dem Vorsitz des Entwicklungsausschusses im Rahmen der Koordinierungsgruppe Demokratieförderung und Wahlen für die Wahlbeobachtungsmaßnahmen und andere Tätigkeiten zur Förderung der Demokratie zuständig. Informelle Kompetenzen – indirekte Einflussnahme Interna­tionale Politik im Allgemeinen und Diplomatie im Besonderen lebt schon auf na­tionalstaat­licher Ebene von der Nutzung nicht normativ festgelegter Kompetenzen und Verfahren. Das gilt auch für die Europäische Union

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und ihre Einrichtungen. Die Volksvertreter im Europäischen Parlament haben sich seit den Anfängen für eine stärkere Rolle ihrer Institu­tion im Vertragsgeflecht der EU eingesetzt. Aufgrund der anfäng­lichen Unzuläng­lichkeit formeller Befugnisse war gleichzeitig die Ambi­tion groß, den eigenen Einfluss auf die europäische Politik auf informellen, indirekten Wegen durchzusetzen. Dies wurde dadurch verstärkt, dass die Kommission nicht als verlängerter Arm der parlamentarischen Mehrheit (oder umgekehrt) gelten konnte und die Abgeordneten schon immer eine große politische Unabhängigkeit genossen. Im Bereich Außenpolitik ist die Notwendigkeit von einer stärkeren Einbindung der Abgeordneten auch mit dem Ziel verbunden, das interna­tionale Handeln der Union transparenter zu machen und somit die Unterstützung der Bevölkerung sicher zu stellen. Bei vielen Fragen ist aber das Parlament noch immer zu sehr vom Wohlwollen des Rates abhängig. Bei der Arbeit des AFET-Ausschusses verschwimmen die Grenzen ­zwischen formellen und informellen Kompetenzen häufig. So sind Entschließungsanträge beispielsweise einerseits fester und formaler Bestandteil des Outputs des Ausschusses. Andererseits befassen sie sich häufig mit nicht-­legislativen Abläufen, sodass ihr Inhalt – sofern im Plenum unterstützt – keine direkten, recht­lich bindenden Folgen für das Unionshandeln nach sich zieht. Dennoch beinhalten die Aussagen für Kommission und Rat politisch bindende Grundsätze und Meinungen u. a. über strate­gische Prioritäten und Interessen der Union, aber auch andere Akteure finden darin hilfreiche und lenkende Informa­tionen. Schon die Antizipa­tion einer bestimmten Reak­tion des Europäischen Parlaments kann Wirkungskraft entfalten, wenn diese Akteure die Konsequenzen der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Mitglieder abwägen. Zusätz­lich stellen formelle und informelle interparlamentarische Institu­ tionen eine Plattform für die indirekte Einflussnahme der Mitglieder des EP dar. Gerade bei Verbindungen zu na­tionalen Parlamenten, in denen die Bindung zur Exekutive stärker ist als auf der europäischen Ebene, können effektive Einflussmög­lichkeiten entstehen. Die Sitzungen des AFET-Ausschusses bieten zuletzt eine ideale Bühne für externe Gäste: Regierungsvertreter aus Drittstaaten, Vertreter na­tionaler Parlamente, Nichtregierungsorganisa­tionen und andere Partner versorgen die Mitglieder hier mit wertvollen Informa­tionen und profitieren selbst vom Informa­ tionsgewinn. So können die Mitglieder des EP schon früh vor drohenden Konflikten gewarnt werden und ihr Handeln anpassen. Externe Besucher ­nutzen die gebotene Bühne auch grundsätz­lich, um ihre außenpolitischen Interessen zu verfolgen, und es ergibt sich regelmäßig die Gelegenheit bi- und multilateraler Randgespräche. Der AFET-Ausschuss ist ein offenes Forum für die Außenpolitik der Europäischen Union.

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Der Einfluss ist nur schwer messbar Aufgrund der eben erläuterten Nutzung informeller Kompetenzen ist der Einfluss des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten und seiner Mitglieder in Bezug auf interna­tionale Konflikte nicht eindeutig messbar. Die Abwesenheit formaler legislativer Befugnisse des Parlaments im außenpolitischen Bereich führt dazu, dass Fortschritte in der Konfliktlösung nur selten direkt an einzelnen sichtbaren Handlungen und Beschlüssen des AFET-Ausschusses festgemacht werden können. Dennoch hat es in jüngster Vergangenheit einige konkrete Beispiele erfolgreicher Beiträge zur Lösung von Konflikten durch die Mitglieder des AFET-Ausschusses gegeben, wie die Krise in der Ukraine 2013/14. Als sich die Krise in der Ukraine entwickelte und die Beziehungen der EU mit der Öst­lichen Nachbarschaft dominierte, befasste sich der AFET-Ausschuss immer eingehender mit den Gipfeltreffen der Öst­lichen Partnerschaft. Dies betraf vor allem den Gipfel in Vilnius im November 2013. Der wirtschaft­liche und vor allem politische Druck, mit dem Russland versuchte, die Entscheidungen öst­licher Partner der EU zu lenken, sowie der darauf folgende Rückzug Arme­ niens und der Ukraine von den vorgeschlagenen Assoziierungsabkommen wurde in einer Anhörung und s­ päter in einem Entschließungsantrag des Parlaments öffent­lich verurteilt. Während der gesamten Legislaturperiode 2009 – 2014 wurde der Ukraine eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Während der Krisenmonate Anfang 2014 sandte das Europäische Parlament zwei Ad-­hoc-­Delega­tionen nach Kiew. Die erste besuchte das Land, als Präsident Viktor Yanukovych noch an der Macht war, und tauschte sich mit ukrainischen Politikern aus – auch Vertretern der Opposi­tion. Während der zweiten Mission war die Delega­tion Zeuge der Absetzung des Präsidenten und traf sich wiederum mit Politikern der Opposi­ tion (auch dem späteren Premierminister Yatseniuk), mit Abgeordneten und mit Führern der EuroMaidan Protestbewegung. Der Schwerpunkt wurde dabei auf den Bedarf einer schnellen Hilfsak­tion der EU für die Ukraine gelegt; kurzfristig durch finanzielle Unterstützung und langfristig mit einem erfolgreichen Assoziierungsabkommen. Zusätz­lich entschied das Parlament, eine Wahlbeobachtungsmission in das Land zu entsenden.6 Darüber hinaus kommt es auch vor, dass der AFET-Ausschuss selbst nicht handelnder Akteur ist, aber seine Mitglieder. So leisteten diese Ende 2014 in Albanien einen weiteren erfolgreichen Beitrag zur Lösung eines internen politischen Konfliktes mit mög­lichen Auswirkungen auf den erfolgreichsten außenpolitischen Bereich der EU, die Erweiterung. Das Land befand sich im politischen Stillstand, nachdem der Dialog z­ wischen den großen Parteien zum Erliegen gekommen war und die Opposi­tion das na­tionale Parlament boykottiert hatte. Vertreter der beiden größten europaparlamentarischen Frak­tionen EPP und S&D reisten nach Tirana, um die jeweilig entsprechenden politischen Führungskräfte zu einem erfolgreichen zwischenpartei­lichen politischen Dialog zu bewegen. Es

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gelang den Abgeordneten des Europäischen Parlaments, ein Übereinkommen zur Zusammenarbeit im albanischen Parlament durchzusetzen und die zerstrittenen Parteien wieder an einen Tisch zu bekommen. Dies ist natür­lich auch im außenpolitischen Interesse der EU. Albanien wurde hierdurch zurück auf den Pfad einer Annäherung an die EU geführt. Zusammenfassung Aufgrund der institu­tionellen Struktur der EU haben das Europäische Parlament und darin der AFET-Ausschuss und seine Unterausschüsse hauptsäch­lich indirekten und schwer messbaren Einfluss auf Konflikte in der ganzen Welt. Er übernimmt vor allem die Rolle eines mächtigen Beraters. Der Ausschuss bereichert öffent­liche Diskussionen, belebt Ideen und macht konkrete Handlungsvorschläge. Er gibt Impulse, die von Kommission und Rat aufgegriffen werden. An einem Beispiel: Der AFET-Ausschuss und das Europäische Parlament können zwar keine militärische Mission in ein Konfliktgebiet entsenden, sie können aber durch indirekten Einfluss dazu beitragen, dass die Mitgliedsstaaten diese intergouvernementale Entscheidung treffen. Ein besonderer Stellenwert kommt deshalb auch in Zukunft der interinstitu­ tionellen Koopera­tion zu. Durch Neuerungen wie dem Spitzenkandidatenprozess und dem hybriden Charakter des EAD wird die Bindung ­zwischen Exekutive und Legislative stärker und eine effiziente Zusammenarbeit kann wichtige Erfolge in der Konfliktlösung produzieren. Ziel muss es sein, gemeinsames Ownership einer kollektiven Außenpolitik auf Basis öffent­licher Akzeptanz zu schaffen. Und gerade hier führt am Europäischen Parlament als einzige direkt vom Volk gewählte Institu­tion kein Weg vorbei.

1 Elmar Brok/Martin Selmayr: Der „Vertrag der Parlamente“ als Gefahr für die Demokratie? Zu den offensicht­lich unbegründeten Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Lissabon, in: integra­tion 3 (2008), S. 217 – 234. 2 In diesen Fällen wird das Parlament angehört und gibt eine Stellungnahme ab. Vgl. Artikel 218 (6) AEUV. 3 Vgl. Péter Bajtay: Democratic and efficient foreign policy? Parliamentary diplomacy and oversight in the 21st century and the post-­Lisbon role of the European Parliament in shaping and controlling EU foreign policy, in: European University Institute Working Papers, RSCAS 2015/11, Italy, Februar 2015. 4 Ebd., S. 9. 5 Siehe Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, Anlage VI. 6 Vgl. AFET Activity report of the 7th legislature (2009 – 2014).

Experiences of a European Parliament President Jerzy Buzek

Experiences of a European Parliament President The ancient Greeks, who gave the world democracy, were accustomed to saying, in the words of Aristotle, that the measure of human maturity, and hence of citizenship, is the ability to resolve conflicts and opposing interests not by force but through debate and argument. But human maturity so described is incomplete without at least two other elements. On the one hand, it requires a realisa­tion that there is a certain community that brings the citizens together. It is this sense of community that gives profoundness to the process of reaching a common understanding, because its outcome will be beneficial to all in a degree that cannot be achieved by pursuing unilateral or arbitrary solu­tions. This sense of community is also enshrined in the value of solidarity. On the other hand, debate and argument, to bear fruit, must be founded on respect for human dignity which dictates that opposing views and interests should be heard, respected and taken into account. This is a prerequisite for an engaged civil society on which democracy thrives. Europe’s pursuit of human maturity It is the advancement of human maturity that Europeans sought in the aftermath of their tragic experience of the first half of the 20th century – that ultimate failure of humanity. The profound sense of community, solidarity, respect for human dignity were forged into political practice of European coopera­tion that made the project of gradual integra­tion possible – first in Western Europe, and subsequently across the most of the continent. Although through a completely different path, the same values drove the civic movements in Eastern Europe in their efforts to first reform and then overthrow the communist regime. With each such effort – marked by individual experience or mass risings as those in 1956, 1968, 1970, 1980 and finally in 1989 – in our struggle we felt – even if only for a brief moment – as true citizens, in that truly democratic sense of the word. Solidarność, established in 1980 not only as a trade union or political project, but as a popular, non-­violent movement, was the epitome of the desire to reach the highest measure of human dignity, just as 1989 – the annus mirabilis – epitomised the commitment to resolve conflicts and opposing interests through argument and consensus. Thus, following the elec­tions of 4 June 1989, Poland became the first Central and Eastern European country to be led by a

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non-­communist government. This in turn set in mo­tion democratic changes in other countries, leading to the fall of the Berlin Wall and the Iron Curtain, opening the path to the unifica­tion of our continent. The two different experiences of pursuing human maturity, when finally brought together, made us stronger and more hopeful for the future. Europe could finally breathe freely with both her lungs. Our common values were universal. Hannah Arendt seemed to be proved right when saying that politics is the only area of life, except for religion, where miracles can occur. This prompted the argument that perhaps history has ended, since now the power of arguments was to prevail over the arguments of power. It was a source of both inspira­tion as well as responsibility to spare no efforts in the aim of our common good and prosperity of the people – of citizens. Much of that spirit of the early 1990s seemed to have withered away by the end of the first decade of the 21st century. The challenges at the global level did not disappear, their nature changing and thus demanding new approaches. War on terror and the rise of militant Islamist groups, such as al-­Qaeda, would become perhaps the most telling example of this. Rwanda, Congo, Horn of Africa, the Balkans, Chechnya, Afghanistan – were all proof that humanity was not living up to our hopes. Yet as challenges necessitate effective solu­tions, so should humanity‘s imperfec­tion motivate pursuit of human maturity. And for the European Union, this very pursuit continued to define our raison d’être. Uniqueness of the European Parliament Perhaps nowhere was it more visible than in the European Parliament. This only directly elected institu­tion of the European Union, representing more than 500 million Europeans, is the very forum where resolu­tion of conflicts and opposing interests is achieved precisely through debate and argument. It is in the European Parliament where building of consensus reaching well beyond the simple majority needed to pass legisla­tion is the very practice and not excep­tion. It is in the European Parliament, more than in any other democratic institu­tion in Europe, where the sense of community, solidarity and respect for human dignity are not only translated into politics but become the core drivers of ever more ambitious policy. I have felt this uniqueness of the European Parliament since the very first day of my work as a Member of the European Parliament in July 2004, two months after Poland and seven other former communist countries from Central Eastern Europe joined the European Union. This sense of community of Europeans – no longer divided by the Iron Curtain, integrated in the European polity founded on common values – was now a reality. It was unique to work alongside Members of the European Parliament who shared this very sense, and who for a long time worked in their own capacities to make that reality happen,

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as we did in Poland and in other countries pursuing the goal of becoming full members of the European family. Wisdom of a friend As Members of the European Parliament from the “new” EU countries, we brought our own experiences of common European values and discovered to be enriching the perspective of our colleagues who have thus far shaped European integra­tion. So I saw the depth of experience and thought of Hans-­Gert Pöttering, whom I now have the privilege to call a friend. Elected Member of the European Parliament ever since the very first direct elec­tions in 1979, a statesman of true integrity and convic­tion, a resolved advocate of EU‘s enlargement to countries of Central and Eastern Europe, he was a source of political inspira­ tion, wisdom and foresight. In his work, he symbolised and put into practise that very principle of pursuing the highest degree of human maturity, proving his profound understanding of our core values of solidarity and human dignity. On many an occasion I would recall his words I heard back in 1999, at the turn of the century, as Prime Minister of Poland, when he argued that within a decade Poland would be a strong member of the European Union, and that no one would by that point remember the tensions, difficulties and weaknesses that were much evident in our progress towards European integra­tion. To him I very much owe the profound realisa­tion that the European Parliament had yet another unique role to fulfil – the task of creating a vision of a new Europe, a vision which extends beyond the present, beyond what Europe is, towards what Europeans aspire it to be. Thus although the elec­tion of the President of the European Parliament on 14 July 2009 might have been seen as a mere technical proceeding, it could hardly escape deep symbolism. 30 years from the first direct elec­tion to the European Parliament, 20 years from the fall of the Iron Curtain, five years from EU‘s enlargement that brought into the European family the formerly communist countries of Central Eastern Europe, among them three post-­Soviet republics. It was only natural to look back at all the dividing lines that we have jointly managed to bring down in Europe, and seeing yet another one – rather symbolic – come down, when a Pole took over from Hans-­Gert Pöttering as the President of the European Parliament, representing all EU citizens. Building on a legacy It was quite natural that my term in office would carry on a certain legacy of Hans-­Gert. The challenges might have been slightly different, ensuing priorities too, but the underlying belief that they should first and foremost serve our community, our common good, and reinforce our values of solidarity and human

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dignity were self-­evident. In that very spirit, my first battle as the President of the European Parliament aimed to ensure the ratifica­tion of the Lisbon Treaty. I saw it not merely as a tool for more effective governance of a now much larger European Union, but rather as a fundament of our union working as a true community – with all the elements I men­tioned above – in the pursuit of a common European good through a community method. And the European Parliament, so reinforced by the provisions of the new treaty, was to be reinforced as the guardian of European solidarity and respect for human dignity, ensuring that those principles and values are properly translated into an ever more ambitious European policy that benefits all citizens. We often take our common values for granted. For Europeans of today, freedom, equality, solidarity, fundamental rights, rule of law are so deeply enshrined in our everyday reality that we are rarely called on to reflect on their profound meaning in broader terms. This is a measure of our success but also a source of a certain weakness. For those who are able to recall the pre-1989 reality, as I am, or those who live in many places where democracy is still but a dream, will at once understand that one best appreciates those values when deprived of them. In looking at this dilemma, we are bound to discover the profoundness of the intercultural dialogue so dear to Hans-­Gert Pöttering. It not only allows us to reach out to other cultures outside of our borders, but in effect it drives us to better understand our own. As President of the European Parliament I had the opportunity to appreciate this in the deepest sense. The EP President has the unique institu­tional weight – the voice of over 500 million European citizens – to speak up in defence of human rights. Nowhere is this weight more practically visible than on official visits to countries where respect for human rights remains a serious issue. I had that opportunity when speaking to the political leaders, be it in China, Russia or the South Caucasus. On each visit I insisted on meeting local human rights defenders, to take up individual cases in the hope that it could help resolve them. The EP President presides over the award of the Sakharov Prize for Freedom of Thought, and it was only natural for me to tap the potential of this now renowned prize by establishing the Sakharov Prize Network, where the laureates would further the cause of human rights around the world. For someone who was born in an occupied country, and brought up in an oppressed country, it was natural to argue for human rights and human dignity. But it was quite a different experience to visit our neighbours – travelling to Baku, Yerevan, from Tbilisi to Chisinau, Israel and Palestinian territories – and discover that not all find the words of Aristotle quoted at the outset about the value of resolving conflicts and opposing interests through debate and argument, self-­ evident. Both rediscovering the universality of the values we take for granted in Europe and understanding better their profound meaning was perhaps a lesson of most lasting effect.

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This lesson became only more telling when the unexpected happened – the Arab Spring. It brought home the realisa­tion that prosperity does not come at the price of human rights and commitment to democracy, but in fact needs both if it is to last. Such was my personal experience not only from meeting new political leaders in Egypt, Tunisia or Libya throughout 2011, but in contacts with the people, which was a unique experience perhaps only possible with such openness at a time of revolu­tionary change, when the citizens take their fate into their own hands. With the passage of time, we have been drawing other lessons from the events ushered by the Arab Spring, but in my view none of them negate the fundamental need for us – as Europeans, as neighbours – to pursue, together with all peoples and not only in our neighbourhood, that goal of human maturity. Reviving a community But if the events outside of the EU, and particularly the democratic wave sweeping across our neighbourhood, were a strong reminder of the fundamental and universal nature of our common values and ideals, this did not translate into their broader and deeper apprecia­tion by the Europeans – neither citizens nor political leaders. The economic crisis has eroded not only Europe’s prosperity but also our will to live up to our values. In consequence, Europe’s sense of community waned. I rest convinced by those arguments which hold that the economy and all market activity is primarily a moral project, because it requires faith in the reliability of another human being. To a large degree, the economy depends on cultural institu­tions, since agreements reached between people who do not know each other require trust, loyalty and responsibility to be effective and bring lasting profits for all parties. Max Weber tells us that economy is a particular kind of game and as such it requires certain rules that need to be observed – not only economic, but legal, moral, ethical, and even formal. This not only gives a particular context to all efforts aimed at combatting or preventing economic crises, but also more broadly to our thinking about our European economy, European market and how we try to model it. It is also in this context that we in Europe perceive our pursuit of a social market economy. The financial crisis of 2007 which swept across the Atlantic into Europe, causing sovereign debt crisis and broader, lasting economic repercussions, was and still remains a test for both our economic and social model, as well as the func­tioning of our community. The first reac­tion saw na­tional interests prevail over solidarity; unilateral solu­tions pursued by the Member States prevailed over the community method. What followed was a return to solu­tions at a European level, which in itself was a positive reac­tion and held a promise of putting in place effective mechanisms. Yet here we found ourselves caught in proposals

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that were in effect foreshadowing a prospect of a multi-­tier Europe that would be allowed to come at a price of European solidarity rather than as a reinforcement of our community. In the efforts to find working solu­tions to the economic crisis, as President of the European Parliament I was driven by two imperatives: the need for our approach – both to understanding the nature of the crisis and to finding working solu­tions – to focus on our citizens, especially those most vulnerable; and the need to preserve our community based on solidarity and social cohesion. These imperatives were founded on my personal convic­tions and experiences for which Solidarność – as a political, social and civic movement – was constitutive. But equally they resonated with the unique posi­tion of the European Parliament within the European project – as representative of citizens, guardian of our community’s core values, and defender of EU’s most ambitious approach to Europe’s policy-­making. I also saw them as a continua­tion of a broader ­legacy, which symbolically was handed over to me by my predecessor, Hans-­Gert Pöttering. Defending Europe’s values in pursuit of a citizens-­oriented Europe, advocating policies that advance justice towards future genera­tions, shaping globalisa­tion compatible with a social market economy – these concepts framed his “mission statement” when Hans-­Gert assumed the office of the EP President, and in them I found a natural beacon for my efforts in the office. Today Europeans still feel the profound effects of the economic crisis. Unemployment, lowered incomes, continued high levels of debt – public and private, consequences of structural reforms, weakened prospects for European businesses, these remain some of the key concerns for our citizens. Europe still needs to prove effective in meeting those concerns in a way that will prevent the weakening of our community. Thus defending Europe’s values in pursuit of a citizens-­oriented Europe, advocating policies that advance justice towards future genera­tions, shaping globalisa­tion compatible with a social market e­ conomy remain valid aims. “In our everyday work, we deal with numerous subjects, some of them very specialised. But as we do so, we should never forget our roots and the values which bind us. […] We must give life to these fundamental values upon which the European Union is founded.” Those words of Hans-­Gert Pöttering in his last address as President of the European Parliament show us the way and the stake for our efforts. The measure of our success in those efforts will be the measure of Europe’s maturity – the depth of our commitment to the community, solidarity, and human dignity. I am profoundly convinced that despite all the challenges we face – as individuals, members of local communities, na­tional citizens and Europeans – Europeans still aspire to European integra­tion that embodies our community and our values. All my life has been shaped by the experience of Solidarność. I have seen the extraordinary power of solidarity that created a unique bond between people

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who wanted to do something important together. This bond has the liberating force to bring down differences, diverging views, private interests, social hierarchy while keeping diversity. Solidarity is a state of heart and at the same time a stance which brings people together, brings them out onto the public space, in the aim of voicing or defending crucial common values or interests. It gives a profound sense of community and responsibility for that community. I deeply believe that Europeans continue and will continue to yearn for that liberating power that solidarity offers and that promise, on which solidarity has delivered in the past, of bringing down dividing lines – whatever they might be, old or new. As for those difficulties which we so often allow to overshadow the essential, I rest my hopes on the words I once heard, at the turn of a century, from a true friend: “in ten years […] no one will remember today’s tensions, difficulties and weaknesses”. In Solidarität sind wir zu unserem Glück vereint.

Le rôle du Groupe du PPE au Parlement européen dans la construction européenne Joseph Daul

C’est avec un plaisir particulier que je réponds à l’invita­tion de la Konrad-­ Adenauer-­Stiftung de participer à ce Liber Amicorum dédié à Hans-­Gert ­Pöttering à l’occasion de son soixante-­dixième anniversaire. En effet, je me considère comme lié à Hans-­Gert Pöttering par une amitié profonde, qui remonte à notre collabora­tion intime et fructueuse au sein du Groupe du PPE au Parlement européen. Quand j’ai été élu pour la première fois au Parlement européen le 13 juillet 1999, Hans-­Gert en était déjà membre depuis juin 1979, dans le Parlement élu pour la première fois au suffrage universel direct. Hans-­Gert a été le benjamin du Groupe, dont il a gravi successivement, grâce à son travail et son engagement, tous les échelons. En 1999, il était déjà depuis cinq années premier vice-­ président du Groupe, et c’est avec confiance que le Groupe l’a investi de la haute responsabilité d’assumer sa présidence dès 1999 et jusqu’en janvier 2007. C’est à cette date, le 9 janvier 2007, qu’avec le soutien de Hans-­Gert Pöttering, j’ai eu le privilège de lui succéder à la présidence, responsabilité que j’ai assumée jusqu’en juin 2014. Cette période de quinze années, c’est à dire de trois législatures, a été marquée par une véritable continuité dans l’ac­tion au service du Groupe et de l’unifica­ tion européenne. Je voudrais d’abord souligner toute l’importance du rôle joué par le groupe PPE dans la structura­tion de la famille politique démocrate-­chrétienne et du centre droit dans les décennies passées. C’est à l’initiative des représentants des six pays membres de la Communauté européenne du charbon et de l’acier, que les députés issus des partis démocrates-­chrétiens ont décidé, le 16 juin 1953, de siéger non pas au sein de déléga­tions na­tionales, mais au sein d’un groupe politique transna­tional. Cette initiative, suivie également par les socialistes et les libéraux, a donné un caractère suprana­tional à notre engagement européen. Dès cette date, d’ailleurs, le Groupe démocrate-­chrétien a décidé de s’appuyer sur un secrétariat suprana­ tional au service, non pas des intérêts na­tionaux, mais des intérêts européens. Dans cette longue histoire du Groupe, on peut distinguer plusieurs périodes. Jusqu’en 1978, le Groupe s’est appelé „Groupe Démocrate-­Chrétien“, puis il a ajouté à son titre la men­tion „Groupe du PPE“. Ce changement faisait suite à la décision, prise en juillet 1976, grâce aux efforts conjugués de Hans Lücker, de Wilfried Martens et de Leo Tindemans, de fonder le Parti Populaire européen,

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dans la perspective des élec­tions directes du Parlement européen en 1979. Dès lors, le Groupe du PPE a joué un rôle déterminant dans l’élargissement de la famille démocrate-­chrétienne, qui s’était constituée au lendemain de la Seconde guerre mondiale grâce à la politique visionnaire de Konrad Adenauer, de Robert Schuman et de Alcide De Gasperi. C’est ainsi que, après l’élargissement de l’Europe des neuf à la Grèce, les élus de la Néa Demokratia ont choisi de rejoindre notre Groupe, alors qu’ils avaient été aussi sollicités par les Conservateurs, les Libéraux et les Gaullistes. La même attractivité du Groupe PPE a permis l’adhésion des députés du Partido Popular espagnol en juin 1989, ainsi que des Portugais du parti PSD. En mai 1994, la perspective de l’adhésion de la Suède, de la Finlande et de l’Autriche a également permis de faire entrer au Groupe les principaux partis du centre droit de ces nouveaux membres du l’Union européenne. Je qualifierais de „succès story“ le développement du Groupe PPE sur la période 1994/2009. Soulignons le fait que l’Union européenne a vécu un véritable big bang dans son développement géographique sur cette période. Il a fallu 22 années, de 1950 à 1972, pour que la Communauté européenne passe des six membres fondateurs à neuf membres. Il n’a fallu ensuite que 13 années, de 1994 à 2007, pour qu’elle passe de douze à 27 Etats membres. Le Groupe du PPE, grâce à son ouverture, à sa force politique et surtout à l’attractivité de ses valeurs, a connu une progression fulgurante. Il est passé de 121 députés en 1994 à 289 en 2008, et a dépassé en 1999 le Groupe socialiste, majoritaire jusqu’alors. Cette suprématie, confirmée lors des trois élec­tions suivantes, a été rendue possible par l’adhésion des partis modérés du centre droit de l’échiquier politique des douze nouveaux pays d’Europe orientale, centrale et méditerranéenne, devenus membres de l’Union en 2004 et 2007. Il faut souligner, dans l’explica­tion de ce succès politique, le rôle joué par le Chancelier Helmut Kohl, le Président du PPE Wilfried Martens, exerçant également la présidence du Groupe de 1994 à 1999, et de Hans-­Gert ­Pöttering, premier vice-­président du Groupe chargé de l’élargissement de 1994 à 1999 puis président de 1999 à 2007. Ces trois personnalités ont mesuré toute l’importance qu’il y avait à l’époque d’attirer vers notre famille les nouveaux partis qui se sont constitués au sein de ces ex satellites de l’Union soviétique, rendus à la maitrise de leur destin après la chute du rideau de fer en 1989 et 1990. Il fallait à tout prix éviter que se reconstituent les partis à tendances na­tionalistes, irrédentistes et populistes qui auraient pu éclore lors du dégel de l’espace postcommuniste et infliger à l’Europe de nouvelles sources de tensions. Ce sens des responsabilités de nos dirigeants a pu se concrétiser grâce à un effort de synthèse consistant à réunir dans le même groupe des partis aux racines historiques, à la situa­tion géopolitique et aux intérêts na­tionaux les plus divers, mais partageant les mêmes valeurs. Cette synthèse a, de fait, contribué au développement démocratique, à la stabilité et à la paix dans l’ensemble du continent. A contrario, les effroyables

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conflits qui ont ravagé l’ex Yougoslavie dans les années quatre-­vingt-­dix ont bien montré que sans ancrage des courants na­tionaux au sein d’une Union démocratique et de ses familles politiques responsables, le pire est possible. Pour compléter ce tableau de l’histoire du Groupe PPE, je voudrais revenir sur un épisode historique complexe, celui concernant les rela­tions du Groupe PPE et des Conservateurs britanniques. C’est une ironie de l’histoire, qu’il faut méditer, que les Conservateurs britanniques aient posé dans les années soixante-­ dix leur candidature au Groupe démocrate-­chrétien. Sans hésita­tion, les députés démocrates-­chrétiens d’alors avaient repoussé cette avance en soulignant l’extériorité des Conservateurs britanniques à l’égard des valeurs tradi­tionnelles de la démocratie chrétienne. Plus tard, en juillet 1989, les Conservateurs britanniques ont à nouveau posé leur candidature, qui fut finalement acceptée par le Groupe en avril 1992. Le Groupe du PPE s’est alors appelé „Groupe du PPE et apparentés“. Ces nouveaux apparentés ont joué un rôle actif au sein du Groupe et ont même réussi à obtenir de celui-­ci, le 15 juillet 1999, une nouvelle dénomina­tion affirmant leur propre identité sous le titre: „Groupe du Parti populaire européen (démocrate-­chrétien) et des Démocrates européens“. Il n’est pas inutile de rappeler, et Hans-­Gert Pöttering a de bonnes raisons de s’en souvenir, que cette collabora­tion au sein du Groupe entre Conservateurs britanniques et démocrates-­chrétiens ne fut pas des plus aisées. Un certain euroscepticisme, issu des années Thatcher, s’est développé dans les instances du Parti conservateur à Londres qui finit par aboutir au retrait des députés britanniques et des députés tchèques de l’ODS en 2009. Ce retrait mit fin à une cohabita­tion douloureuse et il est à regretter que l’orienta­tion prise par Londres depuis lors constitue une menace pour la participa­ tion même de la Grande-­Bretagne à l’Union. Je voudrais maintenant souligner le rôle qu’a joué le Groupe du PPE dans la promo­tion du Parlement européen comme acteur majeur de la construc­tion européenne, et plus généralement l’influence que notre Groupe a exercé sur le développement de l’Union européenne. Il est utile de se rappeler qu’en 1958, date de mise en œuvre des traités CEE, CECA et Euratom, il existait, du fait des trois différents traités, trois institu­tions parlementaires. Le Groupe démocrate-­chrétien a vite agi auprès du Conseil pour que ces trois institu­tions soient réunies au sein d’une Assemblée parlementaire unique. Cela était essentiel pour affirmer l’identité démocratique des Communautés européennes et renforcer le poids du Parlement européen vis-­à-­vis du Conseil et de la Commission. Pour marquer l’importance accordée à cette assemblée unique, le Groupe démocrate-­chrétien désigna en mars 1958 Robert Schuman pour en être le Président. Le Parlement d’alors se consacra dans les années soixante et soixante-­dix à affirmer ses pouvoirs budgétaires, qui furent augmentés part les traités financiers de 1970 et 1975. C’est également à la suite d’une initiative de notre Groupe que fut instituée la Cour des Comptes, qui

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parallèlement au travail de la commission du contrôle budgétaire, longtemps présidée par notre collègue bavarois Heinrich Aigner, exerça un contrôle démocratique croissant sur l’exécu­tion des dépenses budgétaires. L’autre grande mission que s’est fixée le Groupe démocrate-­chrétien a été de militer avec acharnement pour que le Parlement européen, sur la base de l’article 138 du traité CEE, fasse l’objet d’une élec­tion au suffrage universel direct. Un vote quasi unanime de l’Assemblée en 1960 adressa cette demande au Conseil, mais celle-­ci fut bloquée par le veto de la France dirigée par le Général de Gaulle. Il a fallu attendre l’élec­tion de Valéry Giscard d’Estaing à la Présidence de la République en 1974, pour que ce veto fut enfin levé et que le principe de l’élec­tion du Parlement, pour un mandat de cinq ans, soit définitivement adopté et organisé pour juin 1979. Fort de cette légitimité renforcée, le nouveau Groupe PPE, au sein d’un parlement passant de 198 à 410 députés, entama une ac­tion pour une relance institu­ tionnelle de la construc­tion européenne. On se souvient qu’en 1981, l’initiative germano-­italienne, portée par les ministres Genscher et Colombo, redonna une dynamique au processus unitaire. Le Parlement pris sa part en élaborant, en février 1984, un projet de Traité instituant l’Union Européenne, ambitieuse vision, sans doute inspirée du rapport Tindemans de 1975, qui a ouvert la voie à la mise en place progressive du traité de Maastricht du 7 février 1992. Entre temps, un autre progrès substantiel avait été accompli avec l’adop­tion de l’Acte unique européen, élaboré sur l’initiative d’un livre blanc proposé en janvier 1985 par Jacques Delors: ce fut „l’Objectif 1992“ qui devait permettre la réalisa­tion par étapes d’un grand marché intérieur libéré des entraves techniques, fiscales et réglementaires, et dont la réalisa­tion a donné une nouvelle dynamique à l’intégra­tion européenne et a créé des millions d’emplois. On se souvient entre autres de l’inépuisable énergie qu’ont déployée au sein de notre Groupe nos collègues Karl von Wogau et Fernand Herman. Mais revenons sur l’élabora­tion du traité de Maastricht, qui a entrainé un changement de nature qualitative dans la construc­tion européenne. Maastricht a dessiné les contours de l’Union économique et monétaire et de l’Euro, approfondi la coopéra­tion en matière de politique étrangère et de sécurité, affirmé les principes de l’identité européenne, des droits de l’Homme et des valeurs qui lui sont liées et enfin repris l’acquis de Schengen pour sanctuariser un espace de libre circula­tion des personnes et de coopéra­tion en matière de contrôle aux frontières, d’immigra­tion et de droit d’asile. Sous la présidence d’Egon Klepsch, le Groupe a été intimement mêlé au travail intensif auquel s’est consacré le groupe des six chefs de gouvernement du PPE de l’époque : le chancelier Helmut Kohl, le Président du Conseil ­Giulio Andreotti, les Premiers ministres Jacques Santer, Ruud Lubbers, Wilfried Martens et Konstantinos Mitsotakis. A la suite de plusieurs sommets PPE et de rencontres

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régulières avec le Groupe, le traité de Maastricht, adopté en février 1992, porte la marque de plusieurs des objectifs du PPE et est considéré comme un acquis décisif pour les décennies suivantes. Sur le plan géopolitique, tout comme le Parti, le Groupe PPE s’est largement engagé dans le processus de réunifica­tion du continent. Au lendemain de la chute du mur de Berlin, en novembre 1989, le Groupe PPE adoptait le principe de l’accueil d’observateurs issus de l’ex Allemagne de l’Est. La grande affaire qui suivit sera centrée sur la stratégie d’adhésion des pays d’Europe centrale et orientale. Comme je l’ai dit, Hans-­Gert Pöttering joua un rôle central durant cette période, pour définir et mettre en œuvre la stratégie de préadhésion qui devait mener à l’arrivée sur les bancs du Groupe PPE, comme membres à part entière, des députés de dix nouveaux pays le 3 mai 2004, suivis de ceux de la Roumanie et de la Bulgarie le 1er janvier 2007. Ce succès ne fut pas atteint sans efforts. Il fallait convaincre le Conseil européen, hésitant sur les délais et la procédure: le Congrès du PPE réuni à Toulouse le 11 novembre 1997 posa le principe d’une négocia­tion ouverte avec tous les pays candidats, sans discrimina­ tion, avec l’objectif d’un point d’arrivée commun. Il faut en particulier souligner l’amendement Lamassoure présenté au nom du Groupe, en septembre 2000, au rapport d’Elmar Brok, rapporteur du Parlement européen sur l’élargissement. Les nouveaux membres nous furent reconnaissants d’avoir gardé une ligne ferme sur ce principe et d’avoir convaincu le Conseil européen de l’adopter. 42 pourcent des députés issus des dix nouveaux Etats membres vinrent grossir les rangs du Groupe en 2004; cela explique largement la posi­tion dominante que n’a cessé d’occuper le Groupe au sein de l’Assemblée depuis cette date. Quand on survole cette longue histoire de la construc­tion européenne, il faut bien admettre qu’elle est loin de se dérouler comme un long fleuve tranquille. L’ambi­tion des pères fondateurs était visionnaire et généreuse, elle puisait sa force dans l’expérience humaine vécue par des hommes confrontés aux tragédies de la deuxième guerre mondiale. Force est de constater que cette énergie et cette inspira­tion n’ont pas toujours habité les représentants des généra­tions suivantes. Il me vient parfois à me demander: qu’avons-­nous fait de cet héritage et que pouvons-­nous faire encore pour laisser à nos enfants une Europe en paix et sûre d’elle-­même ? Comment faire en sorte que les citoyens européens redécouvrent l’amour pour le projet européen? Finalement la construc­tion européenne, après six décennies d’existence, apparaît comme une suite contrastée d’impulsions, d’échecs et de relances. Après le succès de l’Elargissement et la formidable réalisa­tion de l’euro auquel participent en 2015 19 Etats membres, vinrent des épisodes moins glorieux. En décembre 2000 le Conseil européen de Nice, qui était chargé de donner un nouvel élan à l’intégra­tion institu­tionnelle de l’Union, n’aboutit qu’au constat des réticences na­tionales à partager les souverainetés. Des égoïsmes et des visions à court terme prévalurent sur la recherche de l’intérêt commun. Le

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Groupe PPE, déçu par la portée minimale du traité de Nice, regretta que l’élargissement ne soit pas accompagné de son inévitable approfondissement. Nous repriment l’initiative en obtenant du Conseil européen la mise en place d’une Conven­tion, réunissant des membres du Parlement européen, des parlements na­tionaux, des gouvernements et de la Commission. Cet organe inédit, présidé par Valéry Giscard d’Estaing, s’est réuni de février 2002 à juin 2003. Parmi les 13 membres de son présidium, sept étaient issus de notre Groupe: outre le Président, le vice-­président Jean-­Luc Dehaene, ainsi que Íñigo Méndez de Vigo, Michel Barnier, Anna Palacio, John Bruton et Alois Peterle. Dans un grand élan de volonté et d’optimisme, un projet de Constitu­tion pour l’Europe fut adopté à Strasbourg le 11 janvier 2005 par 500 voix sur 677 votes. Allions-­nous enfin offrir aux citoyens un cadre constitu­tionnel clair qui établirait pour une longue période les rela­tions entre les différents niveaux de la démocratie entre nos Etats et disposerait des moyens pour que l’Union puisse faire face aux défis qui l’attendent? Faute d’une explica­tion suffisamment convaincante et engagée, ce projet fut repoussé par referendum en France le 30 mai 2005 et aux Pays Bas le 1er juin. Nous sommes alors entrés dans une grande décep­tion et dans une période de réflexion. Une initiative franco-­allemande, menée par la Chancelière Angela Merkel et le Président Nicolas Sarkozy, aboutit à remettre le train sur les rails avec l’adop­tion, le 13 décembre 2007, du traité simplifié de Lisbonne. Ce traité, qui est en applica­tion aujourd’hui, reprend une assez large partie des disposi­tions du projet de Constitu­tion. Néanmoins, tous les aspects symboliques tels le drapeau ou l’hymne européen, qui auraient pu affirmer la conscience et la fierté européenne des citoyens, ne furent pas repris. Un climat d’euroscepticisme s’insinua dans les esprits de nombreuses couches de la popula­tion au sein des Etats membres, dont nous mesurons aujourd‘hui les effets après les poussées des forces populistes, extrémistes et eurosceptiques aux dernières élec­tions de juin 2014. Pourtant l’essentiel, c’est à dire la paix et la démocratie, est là. Je me souviens avec émo­tion de la manifesta­tion qui nous a réunis le 25 mars 2007 à la porte de Brandebourg à Berlin, pour fêter le cinquantième anniversaire du traité de Rome. En mesurant tout le chemin parcouru, nous avons puisé de nouvelles forces pour continuer l’entreprise des pères fondateurs. Nous ne savions pas qu’allait brutalement survenir une nouvelle catastrophe qui allait ébranler les fondements mêmes de l’édifice européen. A partir de 2008, surgit des Etats-­Unis une crise économique et financière sans précèdent depuis le crash de 1929. Les piliers de l’Union économique et monétaire furent menacés parce que la crise bancaire démontra qu’à côté de l’Union monétaire, il manquait une gouvernance économique commune. La Grèce en 2009 puis ­l’­Irlande, le Portugal et l’Espagne furent l’objet d’attaques des marchés financiers et les taux d’intérêts de leurs emprunts grimpèrent à des sommets dangereux.

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Pour faire face à la récession, beaucoup d’Etats membres eurent recours à des déficits publics qui gonflèrent leur dette bien au-­delà des critères établis par le traité de Maastricht. Le Groupe du PPE suivit alors une politique prônant à la fois l’assainissement budgétaire, la réduc­tion des déficits et le soutien aux pays menacés. Un fond de stabilité monétaire fut mis en place qui aida massivement la Grèce, le Portugal et l’Irlande. Le Pacte de stabilité fut renforcé par des mesures législatives et constitu­tionnelles qui ont instauré une surveillance multilatérale entre les économies de la zone euro et un rôle accru de la Commission dans le contrôle des procédures budgétaires na­tionales. En tant que Président du Groupe durant cette période difficile, je veux souligner l’engagement de mes collègues de toutes les déléga­tions pour que nous puissions en tant que Parlement européen contribuer, avec le Conseil et la Commission, à une sortie de crise. Nous avons beaucoup travaillé sur la gouvernance économique et sur l’Union bancaire, qui limite les risques systémiques des établissements de crédits. La zone euro s’est renforcée, même s’il apparaît encore aujourd’hui indispensable de progresser vers les transferts de souveraineté qui permettront d’agir véritablement en commun à la fois dans la solidarité et la responsabilité. Pour achever ce tableau du rôle du Groupe du PPE dans la construc­tion européenne, je voudrais souligner l’immense contribu­tion que mes prédécesseurs de la déléga­tion allemande, Joseph Illerhaus, Hans Lücker, Egon Klepsch, Hans-­ Gert Pöttering et, depuis juin 2014, Manfred Weber ont apporté pour veiller à la cohésion et à l’identité du Groupe. Je voudrais aussi remercier Martin Kamp, qui est Secrétaire général et responsable du Secrétariat depuis septembre 2007 et dont l’engagement et la compétence ont été bien précieux pour gérer les innombrables problèmes et défis qui se posent à un Groupe de plusieurs centaines de députés et de collaborateurs issus de 28 pays différents. Je souhaite à mon ami Hans-­Gert, compagnon de tant de combats menés ensemble pour construire une meilleure Europe, et à qui, en tant qu’Alsacien, je suis reconnaissant d’avoir sans faille soutenu Strasbourg dans sa voca­tion de siège du Parlement européen, de longues et fructueuses années dans ses activités, entouré de l’affec­tion de sa famille et de ses amis.

Das Wilfried Martens Centre for European Studies Mikuláš Dzurinda

Im vergangenen Jahr gedachten wir des 25. Jahrestags des Berliner Mauerfalls und der Revolu­tionen in den Ländern des ehemaligen kommunistischen Blocks. Aber auch des zehnjährigen Jahrestags der Vereinigung Europas, die, Gott sei Dank, auch meine Heimat, die Slowakei, betroffen hat. Ich habe in dieser Zeit oft an die Freunde gedacht, die uns, den Slowaken, zu einem kleinen Wunder geholfen haben: zur Verwandlung eines unterent­ wickelten Landes in einen modernen, industriell tüchtigen Staat, der nicht nur in die EU, sondern auch in die Eurozone integriert ist. Es besteht kein Zweifel, dass der Schlüsselpartner auf d­ iesem Weg der Slowakei Deutschland und seine CDU waren. Während meines politischen Lebens habe ich mehrere wahre Leader getroffen, die an die Slowaken geglaubt und uns geholfen haben. Sollte ich drei nennen, würde ich Helmut Kohl, Angela Merkel und Hans-­Gert Pöttering erwähnen. Es war gerade Hans-­Gert, der sich uns am intensivsten gewidmet hat. Und nicht nur uns, sondern auch den Tschechen, Polen, Ungarn und den baltischen Staaten. Hans-­Gert Pöttering hat die Last verstanden, die die postkommunistischen Länder mit sich getragen haben und auf ihren Schultern immer noch tragen. Er hat das Erbe des Kommunismus in seiner gesamten Breite verstanden, und hat uns, die „neuen“ christ­lich-­demokratischen Leader deswegen stark unterstützt. Gerne und bereitwillig besuchte er die Slowakei, trat aktiv auf Kongressen der in der EPP vereinigten Schwesterparteien auf. Und was sehr wichtig war – er konnte uns immer kräftig aufmuntern. Ich sage es so: Falls die Slowakei auf ihrem Weg in die EU und die Eurozone einen zwar nicht ernannten, aber klaren mora­lischen und politischen Wohltäter hatte, dann war es Hans-­Gert Pöttering! In der Gegenwart ist es sehr symbo­lisch und für mich auch erfreu­lich, dass die Politik uns an den gleichen Tisch gesetzt hat – wir beide sind Mitglieder im Verwaltungsrat des politischen Thinktanks der EPP, des Wilfried Martens Centre for European Studies. Ich freue mich sehr darüber, denn mit Hans-­Gert sind wir einfach stärker! Menschlich mag und schätze ich Hans-­Gert Pöttering sehr. Weil er ein reifer Politiker und ein großartiger Mensch ist. Weil er sich in der Politik immer nach Werten gerichtet hat, und nicht nach Populismus. Hans-­Gert ist ein direkter Mensch, der keine Angst vor Konfronta­tion hat, falls sie notwendig ist. Er ist aber auch ein Mensch mit festen Prinzipien und starkem Charakter. Es ist ein gutes Gefühl, mich als seinen Freund zu betrachten.

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Lieber Hans-­Gert, ich gratuliere Dir zu Deinem bedeutenden Lebensjubiläum und freue mich, dass Du es in einer solch hervorragenden Form erlebst! Für die nächsten Jahre wünsche ich Dir feste Gesundheit und viel persön­liches Glück. Möge der Herr Dich beschützen!

Hans-Gert Pöttering Europäer aus Überzeugung Markus Ferber und Angelika Niebler

Kennen Sie einen deutschen Christdemokraten, der sein ganzes (politisches) Leben ausschließ­lich dem gemeinsamen Europa gewidmet hat? Zutiefst überzeugt davon, dass wir in Europa zu unserem Glück vereint sind – so auch der Titel seiner Autobiographie 1 –, hat er sein ganzes politisches Wirken auf die Weiterentwicklung der europäischen Idee ausgerichtet: in allen Funk­tionen und Ämtern, die er über die vielen Jahre hinweg in der Jungen Union, der CDU, der EVP und im Europäischen Parlament bekleidete und bis heute als Vorsitzender der Konrad Adenauer-­Stiftung bekleidet. Wir sprechen von Hans-­Gert Pöttering, Professor Dr. Hans-­Gert Pöttering, oder Lord Pöttering, wie ihn langjährige Weggefährten angesichts seiner Eleganz, seiner Eloquenz und seines staatsmännischen Auftretens liebevoll nennen. Mit 34 Jahren zog Hans-­Gert Pöttering 1979 als einer der jüngsten Abgeordneten bei der ersten Direktwahl in das Europäische Parlament ein und widerlegte damit eindrucksvoll die bei den Wählern bis heute vielfach verbreitete Vorstellung, nur ältere Persön­lichkeiten werden Europaabgeordnete, getreu dem Motto: „Hast Du einen Opa, schick ihn nach Europa!“ Hans-­Gert Pöttering kandidierte für die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments, um seine Vorstellungen von einem starken vereinten Europa Wirk­ lichkeit werden zu lassen. Und lieferte bereits für das europapolitische Programm der CDU für diese erste Direktwahl zum Europäischen Parlament im Juni 1979 entscheidenden Input: Er hatte in einer Arbeitsgruppe der Jungen Union Niedersachsen Vorschläge erarbeitet, die in einem „vereinigten Europa ein Modell für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sehen, demokratisch und bürgernah, eine Gemeinschaft, offen für alle Staaten Europas, deren innerer Aufbau den Grundsätzen der Demokratie und Rechtsstaat­lichkeit entspricht und in denen die Menschenrechte garantiert sind“ 2. Seinen Vorstellungen von einem vereinten Europa, wie sie sich bereits in dem Programm der JU Niedersachsen zur Europawahl 1979 fanden, ist er Zeit seines politischen Lebens bis heute treu geblieben. So verwundert es auch nicht, dass Hans-­Gert Pöttering sich nie als Deutscher in Europa verstanden hat, sondern als Europäer, der aus Deutschland kommt und dem immer Deutschlands Rolle in der europäischen Gemeinschaft am Herzen lag. Hans-­Gert Pöttering bekleidete in seiner Zeit als Europaabgeordneter herausragende Ämter in der EVP-Frak­tion und im Europäischen Parlament, nicht aber in der deutschen CDU/CSU-Gruppe, der er dennoch immer eng verbunden war und deren Interessen er auch immer im Auge behielt. An den Vorstandssitzungen der

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deutschen Gruppe, die über viele Jahre hinweg immer am Montagabend jeder Plenarwoche im Restaurant Wynmuck in Straßburg stattfanden und die immer mit tradi­tionellen Flammkuchen begannen, nahm er nicht nur regelmäßig teil, sondern diese schätzte Hans-­Gert Pöttering nach eigener Aussage sehr, und wir schätzten außerordent­lich, dass er sich für uns Kollegen aus der CDU und CSU trotz seiner vielfältigen Verpflichtungen immer Zeit nahm. Im Europäischen Parlament machte Hans-­Gert Pöttering steile Karriere: Sein parlamentarischer Schwerpunkt war dabei von Beginn an die Außen- und Sicherheitspolitik. Von 1984 bis 1994 war er Vorsitzender des Unterausschusses „Sicherheit und Abrüstung“ des Europäischen Parlaments, von 1994 bis 1996 Leiter der Arbeitsgruppe „Regierungskonferenz 1996“ von EVP und EVP-Frak­tion, deren Vorschläge die Basis für die Erarbeitung der EVP-Posi­tion für den Vertrag von Amsterdam waren, von 1994 bis 1999 Stellvertretender und von 1999 bis 2007 schließ­lich Vorsitzender der EVP-Frak­tion. Während er als Stellvertreter eher zurückhaltend und bescheiden auftrat, führte er die Frak­tion als Vorsitzender dagegen straff und zielgerichtet. Immer lag es ihm am Herzen, die Frak­tion geschlossen zu halten. Sein Netzwerker-­Talent, sein Respekt vor anderen Meinungen, seine Offenheit und Herz­lichkeit gegenüber jedem Kollegen und jeder Kollegin, für die er stets ansprechbar war, sowie seine stets formvollendete Wertschätzung, mit der er seinen Gesprächspartnern begegnete, führten dazu, dass ihm dies bei allen wichtigen T ­ hemen nach unserer Erinnerung gelang. Mit großer Freude haben wir übrigens auch immer seine Weihnachtswünsche gelesen, die er an alle Kollegen adressierte, aber dennoch immer individuell persön­lich gestaltete. Von Januar 2007 bis Juli 2009 bekleidete er schließ­lich das herausragende Amt des Präsidenten des Europäischen Parlaments. Unter seiner Präsidentschaft hat das Europäische Parlament im Institu­tionengefüge, insbesondere gegenüber der Europäischen Kommission und dem Rat, wie auch außenpolitisch, in der interna­tionalen Wahrnehmung, erheb­lich an Macht und Einfluss gewonnen. Hans-­Gert Pöttering verlieh dem Hohen Haus zudem dank seiner Eleganz, staatsmännischen Aura und Interna­tionalität eine einzigartige Würde und einen unvergleich­lichen Stil. Dass das Europäische Parlament heute nicht als geschichts- und stillos wahrgenommen wird, sondern als eine auf europä­ ischer Ebene einflussreiche Institu­tion, haben wir ganz entscheidend Hans-­Gert Pöttering zu verdanken. Vielleicht hat ihn dabei auch sein erster Sitznachbar im Europäischen Parlament, Pierre Pflimlin, inspiriert, der von 1984 bis 1987 das Amt des Präsidenten des Europäischen Parlaments bekleidet hatte. Hans-­Gert Pöttering: Zuhause in Bad Iburg, verantwort­lich für seine Region Osnabrück, Emsland, Ostfriesland, erfolgreich in Europa So sehr Hans-­Gert Pöttering in Europa und in der Welt für das gemeinsame Europa und damit auch für Deutschland erfolgreich unterwegs war, so sehr hat er doch

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auch stets seine Verbundenheit mit seiner Heimat, der Region Osnabrück, Emsland und Ostfriesland, gepflegt. 20 Jahre lang war er neben der anstrengenden, großen Verantwortung, die er auf europäischer Ebene trug, u. a. Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Osnabrück. Dies zeigt bereits die hohe Verbundenheit mit seiner Heimatregion, die er übrigens immer wieder allen Kollegen im Europäischen Parlament ans Herzen legte. Nie den Kontakt mit der Partei verlieren, alle politischen Ebenen pflegen, von der kommunalen Ebene, über das Land und den Bund. Eingebunden sein und trotz unterschied­licher Interessen, die es auf jeder politischen Ebene wahrzunehmen gilt, das gemeinsame Ganze sehen und gemeinsam gestalten, die Werte und Überzeugungen, die unsere Parteienfamilie ausmachen, bewahren und weitergeben, war und ist bis heute stets sein Credo. Immer wieder haben wir mit großem Erstaunen feststellen müssen, dass Hans-­Gert Pöttering es schaffte, alle Staatsmänner, mit denen er in Europa und interna­tional Kontakt hatte, nach Osnabrück einzuladen. Und: Alle folgten seiner Einladung und kamen – Staats- und Regierungschefs, ob sie nun der eigenen EVP-Familie wie Donald Tusk angehörten oder anderen politischen Parteien wie Tony Blair. Gefragt, ob er auch zu uns in die Region käme, sagte er nie Nein, sondern richtete sich einen Termin ein. Auch das ist nicht selbstverständ­lich für einen Präsidenten, der Anfragen aus der ganzen Welt zum Austausch und Dialog hatte. Wie sehr er sein ganzes Leben dem Vereinten Europa und der Politik, die ­dieses Ziel verfolgte, widmete und bis heute widmet, zeigt auch der Umstand, dass seine beiden Söhne, Johannes und Benedict, Gefallen an der Politik und am politischen Gestalten gefunden haben. Auch dies ist nicht selbstverständ­ lich, sondern ein Beleg für die Authentizität Hans-­Gert Pötterings und seiner Überzeugungen für ­dieses vereinte Europa. Hans-­Gert Pöttering als Präsident des Europäischen Parlaments In besonderer Erinnerung haben wir Hans-­Gert Pöttering als Präsident des Europäischen Parlaments von Januar 2007 bis Juli 2009. In dieser Zeit stand insbesondere der Klimaschutz ganz oben auf der politischen Agenda. Wir haben noch gut die Bilder und Aussagen unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel in Erinnerung, als den schäd­lichen Treibhausgasen unter der deutschen Ratspräsi­ dentschaft der Kampf angesagt wurde und die Mitgliedstaaten in der Europäischen Union sich verpflichten wollten, ein ambi­tioniertes Klimaschutzpaket abzuschließen, mit dem die Europäische Union dann zu den Verhandlungen über das Kyoto-­Nachfolgeprotokoll bei der nächsten UN-Klimakonferenz anreisen wollte. Jahrelang wurde an den Einzelheiten ­dieses Klimaschutzpaketes im Europäischen Parlament mit Hochdruck gearbeitet. Dass das Klimaschutzpaket, bei dem viele einzelne Fragen, z. B. zum Emissionshandel, höchst strittig waren, rechtzeitig vor der Klimaschutzkonferenz unter franzö­sischer Ratspräsidentschaft

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verabschiedet wurde, war durch Hans-­Gert Pöttering sichergestellt worden, der dies zur Chefsache erklärt und für die termingerechte Verabschiedung höchstpersön­lich gesorgt hatte. Neben ­diesem fach­lichen Schwerpunkt förderte Hans-­Gert Pöttering in seiner Zeit als Präsident des Europäischen Parlaments insbesondere den Dialog der Kulturen und Religionen. Nahezu alle Repräsentanten der Weltreligionen waren zu Gast im Europäischen Parlament. Wie wichtig dieser von ihm initiierte Dialog war und bis heute ist, zeigen die Krisenherde in dieser Welt, in denen Kriege oft unter Berufung auf eine Religion geführt werden. Der Dialog der Kulturen war für Hans-­Gert Pöttering auch schon in seiner Funk­tion als Frak­tionsvorsitzender ein wichtiges Anliegen. So veranlasste er u. a., dass der EVP-Frak­tionsvorstand am 30. März 2006 eine Audienz bei Papst Benedikt XVI. erhielt, eine unvergess­liche Begegnung, für die wir Hans-­Gert Pöttering noch heute dankbar sind. Hans-­Gert Pöttering hat darüber hinaus stets den Austausch mit dem Vatikan gepflegt, so etwa bei seinen Besuchen bei Papst Johannes Paul II. oder bei seinen Begegnungen mit Papst Franziskus. Schon seit 2008, aber ganz entscheidend in seiner Zeit als Präsident des Europäischen Parlaments, hat er schließ­lich für die Errichtung eines Hauses der Europäischen Geschichte gekämpft, das in Kürze eröffnet werden wird. Vom Konzept über die Projektplanung und Finanzierung bis zur Realisierung hat sich Hans-­Gert Pöttering dafür stark gemacht, dass sich Besucher über die Geschichte Europas, den europäischen Einigungsprozess und Herausforderungen, vor denen die Europäische Union heute angesichts der Globalisierung und der gesamt­ europäischen Entwicklung steht, informieren können. Wer seine Geschichte nicht kennt und verstehen lernt, kann auch die Zukunft nicht gut gestalten. Brückenbauer auch z­ wischen den Unionsparteien Für Hans-­Gert Pöttering war es von Anfang an im Europäischen Parlament wichtig, dass die Zusammenarbeit ­zwischen der CDU und CSU, die seit 1949 in einer gemeinsamen Bundestagsfrak­tion früher in Bonn und heute in Berlin besteht, auch auf europäischer Ebene ihre Wiederholung findet. Deswegen hat Hans-­Gert Pöttering schon nach der Konstituierung des ersten direkt gewählten Parlaments mitunterstützt, dass der ersten Deutschen Gruppe, die die Abgeordneten von CDU und CSU umfasste, der frühere CSU-Ministerpräsident Alfons Goppel vorstand. Für die CDU war es keine Selbstverständ­lichkeit, eine s­ olche Personalie zu akzeptieren. Hans-­Gert Pöttering betonte immer wieder gerne, dass die CDU in Europa etwas mehr CSU und die CSU in Europa etwas mehr CDU wäre. Auf was er damit aufmerksam machen wollte, war, dass nur gemeinsam ein größtmög­licher Einfluss auf die europäische Politik erreicht werden kann. So kam es nicht von ungefähr, dass gerade die CSU -Europagruppe den politischen Weg von Hans-­Gert Pöttering im Europäischen Parlament von

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Anfang an unterstützte. Zunächst bei seiner Wahl zum stellvertretenden Frak­ tionsvorsitzenden im Jahr 1994 als auch bei allen weiteren Schritten, die er dann politisch gehen durfte. Die CSU war damals schon treuer Begleiter von Hans-­Gert Pöttering. Bei der entscheidenden Wahl zum stellvertretenden Frak­ tionsvorsitzenden gab es seiner Zeit drei Kandidaten. Es kam nicht von ungefähr, dass auf einer Sitzung der CDU/CSU-Gruppe, die in den Räum­lichkeiten der Hanns-­Seidel-­Stiftung in der Rue Pascal stattfand, Hans-­Gert Pöttering zum gemeinsamen Kandidaten nominiert wurde. Sowohl als stellvertretender Frak­tionsvorsitzender als auch dann ­später als Frak­tionsvorsitzender war ihm der enge Zusammenhalt ­zwischen CDU und CSU besonders wichtig. Gerade die Phase der Vertragsüberarbeitung zum Amsterdamer Vertrag, dann weiter zum Vertrag von Nizza und schließ­lich die Diskussion über den Verfassungsvertrag war ein nicht einfacher Prozess. Diese erforderte auch eine besondere Form der Zusammenarbeit ­zwischen CDU und CSU . Viele Sitzungen unter seiner Leitung führten dazu, dass die Deutsche Gruppe gemeinsam für Inhalte eintreten konnte, die letzt­lich auch Eingang in das Vertragswerk fanden. Im Jahr 1999 ging es um die Formulierung einer Grundrechtecharta. Dazu sollten Abgeordnete aus dem Europäischen Parlament entsandt werden. Für die CDU/CSU-Gruppe stellte sich die Frage, wer der richtige Vertreter für die Deutsche Gruppe wäre. Dank der Vermittlung von Hans-­Gert Pöttering gelang es, die Deutsche Gruppe davon zu überzeugen, dass Ingo Friedrich mit seiner langjährigen Erfahrung der geeignete Vertreter der CDU/CSU-Europaabgeordneten für den Konvent zur Formulierung einer Europäischen Grundrechtecharta, unter Leitung von Alt-­Bundespräsident Roman Herzog, wäre. So wurde es am Ende auch von den Kolleginnen und Kollegen der CDU akzeptiert. Besonders schwierig waren die Verhandlungen im Europäischen Parlament nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages durch die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. Für Hans-­Gert Pöttering war es dabei besonders wichtig, dass aus dieser Situa­tion nicht ein Erlahmen des europäischen Prozesses entsteht. Auch hier waren intensive Abstimmungsgespräche ­zwischen CDU und CSU notwendig, um eine gemeinsame Posi­tionierung vorzunehmen. Auch in d­ iesem Bereich war Hans-­Gert Pöttering als Mittler z­ wischen den beiden Schwestern äußerst erfolgreich, so dass auch die Präsidien der beiden Parteien eine gemeinsame Posi­tionierung vornehmen konnten. Die gute Zusammenarbeit ­zwischen CDU und CSU im Europäischen Parlament, die ihren Höhepunkt sicher­lich mit der Wahl des CSU -Europaabgeordneten Manfred Weber zum EVP -Frak­tionsvorsitzenden gefunden hat, ist maßgeb­lich auf die gestaltende Kraft von Hans-­Gert Pöttering zurückzuführen. So war es immer sein Anliegen, dass die beiden Schwestern auf europäischer Ebene besonders eng zusammenarbeiten, um eine mög­lichst große Durchsetzungskraft zu erreichen.

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Hans-­Gert Pöttering: Seinen Überzeugungen immer treu geblieben Hans-­Gert Pöttering ist seinen Überzeugungen immer treu geblieben: Als überzeugter Europäer hat er stets für ein starkes, vereintes Europa gekämpft, von seiner Zeit als JU-Kreisvorsitzender im Landkreis Osnabrück bis heute als Vorsitzender der Konrad-­Adenauer-­Stiftung. Als gläubiger Christ hat er stets für ein gegenseitiges Verständnis der Kulturen und Religionen geworben, beginnend bei der Wertschätzung, die er seinem Umfeld täg­lich entgegenbrachte, ungeachtet des protokollarischen Ranges, den sein Gegenüber gerade einnahm. Mit großem Stolz kann er auf seine vielen politischen Erfolge im gemeinsamen Europa zurückblicken. Mit großem Stolz kann er für sich in Anspruch nehmen, stets ­zwischen den Kulturen und Religionen in der ganzen Welt vermittelt zu haben. Wir sind dankbar für die gute Zusammenarbeit in all den Jahren im Europäischen Parlament, für die vielfältige Unterstützung, die er gerade auch uns in den ersten Jahren unserer Zeit im Europäischen Parlament gegeben hat und für die stete freundschaft­liche Verbundenheit, die wir bis heute erleben dürfen. Wir danken für die vielen schönen, ereignisreichen und oft auch herausfordernden gemeinsamen Jahre und wünschen uns noch viele weitere gemeinsame Begegnungen und den kontinuier­lichen Austausch mit dieser so herausragenden, prägenden europäischen Persön­lichkeit, Hans-­Gert Pöttering. Wir sagen Dank und wünschen ihm, dass auch er dankbar auf die vielen Jahre, die er politisch so einflussreich gestalten konnte, zurückblickt. Wir wünschen ihm auch weiterhin die Kraft, die Ausdauer und den Mut, um für das vereinigte Europa weiter zu wirken, wie wir das von ihm seit Jahren kennen. Wir wünschen ihm alles erdenk­lich Gute für die vor ihm liegenden Jahre, in denen er sicher in anderen Ämtern und Funk­tionen für sein Lebenswerk, das gemeinsame Europa, wirken wird, wissend, dass ihm ungeachtet seiner politischen Erfolge im Leben allerdings nichts wichtiger war und ist als seine beiden Söhne Johannes und Benedict, von denen er immer wieder, egal wie hektisch die Zeiten auch waren, mit großer Freude und väter­lichem Stolz erzählte.

1 Hans-­Gert Pöttering: Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg. Köln u. a.  2014. 2 Ebd., S. 58 f.

Die europäische Flagge Der Ursprung einer Erfolgsgeschichte Ingo Friedrich

Zwölf goldene Sterne auf tiefblauem Grund – die europäische Flagge steht heute weltweit für die Europäische Union. Jedes Kind kennt mittlerweile ­dieses Symbol, das bei den Menschen so viele positive Assozia­tionen weckt, doch nur Wenige wissen etwas über die Geschichte der Entstehung. Der Erfolg der europäischen Flagge hat seinen Ursprung im Europäischen Parlament, bei den Mitgliedern der ersten Legislaturperiode nach der Direktwahl im Jahr 1979. Mit Hans-­Gert Pöttering ist im Jahre 2014 der letzte Abgeordnete dieser Genera­tion aus dem Parlament ausgeschieden, umso wichtiger ist es, die Erinnerung an die Anfangszeiten wach zu halten. Wenn wir heute über ­Themen und Herausforderungen der Europäischen Union (EU) sprechen, ist unsere Perspektive meist durch tagespolitische Notwendigkeiten eingeschränkt. Daher ist es immer wieder notwendig, den Blick auf das Gesamte zu richten, auf die Ursprünge und den Weg, den die europäische Einigung in den letzten sechs Jahrzehnten genommen hat. Ein Staatenverbund wie die EU, der bislang ohne Beispiel in der Welt ist, folgt genauso wenig den Regeln der na­tionalen politischen Ebene, wie den Mechanismen der interna­ tionalen Politik. Er hat seine eigenen Regeln. Um die Entstehung der europäischen Flagge einordnen zu können, müssen wir zurückblicken auf das Jahr 1979. Die damaligen Europäischen Gemeinschaften (EG) waren ein noch sehr technischer Zusammenschluss von neun Mitgliedern: Den sechs Gründerstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und der Niederlande, sowie den 1973 beigetretenen Staaten Dänemark, Irland und dem Vereinigten Königreich. Die europäische Integra­tion steckte 22 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 in einer tiefen Krise, die s­ päter als „Eurosklerose“ bezeichnet wurde. Außenpolitische Spannungen der 1970er Jahre, die Ölkrisen und der Zusammenbruch der interna­tionalen Währungsordnung (Bretton-­Woods-­System) hinterließen ihre Spuren. Die Folge waren vermehrt na­tionale Wege in der Wirtschaftspolitik, wie die Abschottung der eigenen Märkte, Subven­tionen und wenig Neigung, die gemeinsamen Institu­tionen der EG zu stärken. In diese Zeit fiel die Entscheidung, das Europäische Parlament direkt wählen zu lassen, das bis dahin nur aus Entsandten der na­tionalen Abgeordnetenkammern bestand. Die ersten Europawahlen fanden im Jahr 1979 statt. Als junger Abgeordneter erhielt ich damals die Chance, neben vielen verdienten und erfahrenen Politikern, die erste demokratisch legitimierte Institu­tion Europas

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mit aufzubauen. Der Einfluss der Abgeordneten blieb zunächst sehr beschränkt, da das Europäische Parlament keine legislativen Rechte hatte, sondern ledig­ lich Anhörungs- und Beratungsfunk­tionen besaß. Für die gewählten Mitglieder bedeutete das, dass man sich konkrete Nischen suchen musste, in denen man die europäische Idee voranbringen konnte. Mir fiel damals auf, dass den Europäischen Gemeinschaften ein gemeinsames Symbol fehlte. Der Wiedererkennungswert in der Bevölkerung war gering und mit meiner Erfahrung aus der Wirtschaft wusste ich um die Bedeutung einer sogenannten Corporate Identity. Mir war klar, eine gemeinsame Flagge könnte entscheidend zur Stärkung der Solidarität und des Einheitsgefühls unter den europäischen Völkern und Bürgern beitragen. Das Bild, das die Europäischen Gemeinschaften durch ihre Symbole abgaben, hatte wenig Verbindendes: Die Europäische Kommission verwendete ein stilisiertes „E“ in der Form eines Halbmondes. Das Parlament hatte sich für eine Flagge mit einem Lorbeerkranz entschieden, in dessen Mitte die Buchstaben „EP/PE“ prangten, die Abkürzung für „Europäisches Parlament“ in allen Amtssprachen, und der mächtige EG-Ministerrat besaß überhaupt keine Flagge. Dies zu ändern war eine Aufgabe, die ich mir zutraute und die im Rahmen unseres Mandats lag. So erarbeitete ich nur wenige Monate nach der Konstituierung des ersten direkt gewählten Europäischen Parlaments einen Entschließungsantrag „Über die Schaffung einer Europafahne für die Europäische Gemeinschaft“. 18 Kolleginnen und Kollegen unterzeichneten diesen Antrag, der am 31. Oktober 1979 eingebracht wurde. Darin hieß es: „Das Europäische Parlament […] entschlossen, der Europäischen Gemeinschaft ein Symbol zu geben, mit dem sich die europäischen Völker identifizieren können, beschließt die Schaffung einer Europa-­Fahne. Die Fahne soll blau sein, darauf soll sich ein Kranz mit zwölf goldenen Sternen befinden.“ Dieses Symbol benutzte bereits der Europarat, nachdem dieser am 22. Oktober 1955 eine entsprechende Resolu­ tion gebilligt hatte. Die Urheberrechte für die Flagge war von der für den Besitz geistigen Eigentums zuständigen „Organisa­tion Mondiale de la Propriété Intellectuelle“ (OMPI) am 4. Oktober 1979 offiziell bestätigt worden. In mehreren Gesprächen, die ich zusammen mit meinem Abgeordnetenkollegen und Mitglied im politischen Ausschuss des Europäischen Parlaments Otto von Habsburg beim Europarat führte, konnten wir den Europarat davon überzeugen, die Flagge für die Europäische Gemeinschaft herauszugeben. Für mich war ­dieses Symbol aus verschiedenen Gründen besonders gut geeignet: Der Sternenkranz steht für Geschlossenheit und Mannigfaltigkeit, ein ideales Sinnbild für das europäische Leitmotiv „in Vielfalt geeint“. Mit der Zahl zwölf werden viele positive Bedeutungen verbunden, wie Vollkommenheit, ausgedrückt durch die Monate im Jahreskreislauf, die zwölf Tierkreiszeichen oder die Stunden auf einer Uhr, oder unser geistig-­religiöses Erbe, mit Bezug auf die zwölf Jünger Jesu oder die zwölf Stämme Israels. Die Symbolik der zwölf goldenen Sterne

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findet auch eine direkte Quelle im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes. Dort heißt es: „Und es erschien ein großes Zeichen ­­ im Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone mit zwölf goldenen Sternen.“ (Offb. 12,1) Wie die zwölf goldenen Sterne ihren Weg auf die Europäische Flagge fanden, dazu gibt es verschiedene Überlieferungen. Eine davon geht auf den Belgier Paul Levi, den früheren Leiter der Kulturabteilung des Europarats zurück. Er soll bei einem Besuch des Straßburger Münsters eine Marienstatue vor blauem Grund mit zwölf goldenen Sternen um das Haupt gesehen haben, und ­dieses Bild soll ihn zu dem heute so berühmten Symbol inspiriert haben. Die ästhetischen und symbo­lischen Anforderungen an eine gemeinsame Flagge für die Europäischen Gemeinschaften schienen mir gegeben, also konnte der Prozess beginnen. So ein Symbol zu schaffen, erfordert viel Überzeugungsarbeit, um das Wohlwollen aller Beteiligten zu erlangen. Das Plenum des Europäischen Parlaments verwies den Antrag am 5. November 1979 in den Politischen Ausschuss, in dem zu dieser Zeit alle Grundsatzfragen und übergeordneten ­Themen beraten wurden. Der Ausschuss beschloss in seiner Sitzung am 8. Juli 1980 einen Bericht auszuarbeiten und ernannte Kai-­Uwe von Hassel als Berichterstatter. Der ehemalige Bundestagspräsident und Ministerpräsident Schleswig-­Holsteins war einer der vielen erfahrenen und verdienten Politiker, die in der ersten Legislaturperiode als Abgeordnete des Europäischen Parlaments gewählt wurden. So zählten zu unseren Kollegen auch der frühere bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel, der Sohn des letzten Kaisers von Österreich-­Ungarn, Dr. Otto von Habsburg-­ Lothringen und Altbundeskanzler Willy Brandt. Der Bericht von Kai-­Uwe von Hassel wurde in den folgenden Jahren im Ausschuss immer wieder diskutiert. Es gab neben Unterstützern auch Kollegen, die der Idee skeptisch oder ablehnend gegenüberstanden. Auch das Motiv war Gegenstand der Beratungen, so gab es ganz unterschied­liche Vorschläge, wie ein gemeinsames europäisches Symbol gestaltet sein könnte. Vorgeschlagen wurde beispielsweise eine Flagge mit 16 goldenen Strahlen auf rotem Grund, angelehnt an den Stern von Vergina, das Symbol der makedonischen Königsdynastie zur Zeit Alexander des Großen. Das Motiv findet sich ähn­lich in der heutigen Flagge Mazedoniens wieder. Der Vorschlag wurde verworfen, aber selbst bei den Verfechtern der goldenen Sterne auf blauem Grund blieb Raum für Diskussionen, vor allem darüber, ob die Zahl der Sterne, wie bei der Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika die Zahl der Mitgliedstaaten widerspiegeln sollte. Letzt­lich blieb man trotz jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema beim ursprüng­lichen Vorschlag. In der Ausschusssitzung vom 19.–21. Januar 1983 wurde der Bericht schließ­lich mit 19 Ja-­Stimmen, zwei Nein-­Stimmen und zwei Enthaltungen angenommen. Die Entschließung erhielt daraufhin im Plenum des

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Europäischen Parlaments eine überwältigende Mehrheit und wurde am 11. April 1983 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffent­licht. Darin heißt es: „Das Europäische Parlament – in Kenntnis des Entschließungsantrag von I. Friedrich und anderen […] – beschließt, daß die 1955 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats eingeführte Europa-­Fahne, die auf blauem Tuch einen Kranz aus 12 goldenen Sternen aufweist, die Europa-­Fahne wird.“ Es folgten nochmalige Verhandlungen mit dem Europarat auf allen politischen Ebenen. Auch der von der Europäischen Kommission beauftragte deutsche EU-Kommissar Karl-­Heinz Narjes hatte die Initiative ausdrück­lich begrüßt und in Aussicht gestellt, einen entsprechenden förm­lichen Beschluss der Gemeinschaftsorgane vorzubereiten. Es dauerte anschließend noch knapp drei Jahre, bis am 29. Mai 1986 die Fahne in ihrer heutigen Gestaltung vor dem Berlaymont-­ Gebäude in Brüssel, dem Sitz der Europäischen Kommission, bei einer feier­ lichen Zeremonie als offizielle Flagge der Europäischen Gemeinschaften erstmals gehisst wurde. Bei der sehr feier­lichen Zeremonie stand ich neben Otto von Habsburg. Dabei fragte ich ihn, warum er bei meinen Reden für die Einführung der Flagge manchmal ein etwas geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen hatte. Er antwortete: „Der Grund für meine kleine innere Freude war, dass Sie als Protestant gar nicht bemerkt haben, dass Sie ein Mariensymbol zur Flagge Europas gemacht haben!“ Als junger Abgeordneter habe ich verschiedene Lehren aus dieser Flaggen-­ Erfahrung gezogen, die mich mein gesamtes politisches Leben begleiten sollten. Man darf niemals aufgeben, wenn man von einer Sache wirk­lich überzeugt ist. Die Dauer von über sieben Jahren, bis die Flagge end­lich Wirk­lichkeit wurde, ist aus der heutigen Sicht eine unvorstellbar lange Zeit. Das ständige Ringen, mehr als eine Legislaturperiode lang, mit Phasen, in denen immer wieder Zweifel aufkamen, erforderte viel Kraft und eine Menge Geduld, aber die Zeit war offenbar erforder­lich. Die Größe des Erfolgs war damals noch nicht absehbar. Die europäische Einigung durchlebte viele Krisen, in denen Kritiker regelmäßig das Ende der Integra­tionsbemühungen vorhersagten. Doch immer wenn es eng wurde, einigten sich alle Beteiligten auf einen Kompromiss und die EG bzw. die EU gingen gestärkt aus der Krise hervor. Mit jedem Schritt zu mehr Integra­tion gewann auch das Symbol für die Europäische Einigung – die gemeinsame Flagge – an Bedeutung. Heute schmückt sie den Amtssitz eines jeden Regierungschefs der EU. Besonders deut­lich sichtbar wurde das vor jedem Erweiterungsschritt. Wir alle haben die Bilder im Kopf, als im Jahr 2004 Tausende Menschen in den Hauptstädten der mittel- und osteuropäischen Länder den Beitritt zur Europäischen Union feierten. Die zwölf goldenen Sterne waren allerorts präsent und die Freude überschwäng­lich. Gefeiert wurde auch das unumkehrbare Ende der künst­lichen Teilung des Kontinents durch den Eisernen Vorhang; eine Teilung, die die Gesellschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs so unterschied­lich

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prägte und deren Überwindung so vielen Menschen im öst­lichen Teil neue Freiheiten schenkte. Die Zukunft der Europäischen Union kann nur erfolgreich sein, wenn wir weiterhin mit Überzeugung und Ausdauer an dem Projekt der Europäischen Einigung arbeiten. Rückblickend kann man feststellen, dass bei allen Problemen und Herausforderungen der Europäischen Einigung, das zentrale Ziel der Gründerväter Robert Schuman, Konrad-­Adenauer oder Alcide De Gasperi, dem Kontinent eine dauerhafte Friedensordnung zu geben, für über sieben Jahrzehnte erreicht worden ist. In d­ iesem Sinne ist unsere Genera­tion, darunter die jungen Europaabgeordneten aus dem Jahr 1979, ihrer Verantwortung gerecht geworden. Doch uns muss es auch gelingen, die Begeisterung für ein gemeinsames Europa an die nächste Genera­tion weiterzugeben und damit die Voraussetzungen zu schaffen, dass dieser Frieden von Dauer bleibt. Wenn wir auf die Welt blicken oder die Welt auf uns, dann wird deut­lich, dass es nirgends einen Ort gibt, an dem über 500 Millionen Menschen besser und menschenwürdiger zusammen leben, als in der Europäischen Union. Mit unserem Wohlstand sind wir für viele andere Teile der Welt zum Vorbild und Maßstab geworden. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte können wir heute sagen, dass mit einem einfachen Antrag im Europäischen Parlament unsere gemeinsamen Werte, die das Fundament der Europäischen Einigung bilden, wie Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte oder Solidarität ein weltweit geachtetes Symbol erhalten haben: Die Europäische Flagge mit zwölf goldenen Sternen auf blauem Grund.

Europa Ein Versprechen Volker Hassemer

Inzwischen ist es schon ein geflügeltes Wort, dass Europa mehr ist als Regelungen und Währungen, als gemeinsamer Markt und gemeinsames Geld. Wir sollten uns darüber hinaus klarmachen, dass Europa, die Europäische Union auch mehr ist als das, was wir bisher in Form von Staaten, von Städten und Regionen, was wir unter dem Begriff „Gebietskörperschaften“ gelernt und erlebt haben. Wir sollten uns dies nicht deshalb vor Augen halten, weil wir uns durch unsere Bemühungen um Europa als etwas Besonderes ansehen. Es geht nicht um einen besonders hohen Sockel für uns selbst und unsere Ziele. Ganz im Gegenteil, es geht darum, uns in unserer Arbeit in der Ebene in richtiger Weise über die Größe des Gegenstandes unserer Bemühungen und Anstrengungen klarzuwerden. Sicher­lich ist die Europäische Union auch etwas Gebietskörperschaft­liches. Aber schon da weiß jeder auf der einen Seite, dass im Hinblick auf die Souveränität der Städte und Na­tionen bei der EU eine besondere, sicher­lich weniger allumfassende Gemeinschaft gemeint ist. Auch da helfen erst einmal die uns gewohnten Begriffe etwa von Staatenbund oder Bundesstaat oder „Europa der Na­tionen“ nicht weiter, auch wenn in der Vergangenheit dazu erbitterte Auseinandersetzungen stattgefunden haben. Vor allem aber hilft nicht weiter, dass dies alles unter dem Rubrum des „etwas weniger als…“ diskutiert wird. Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass die Europäische Union auch etwas ist, das die Überschrift „mehr als…“ verdient. Und dies ist gerade nicht in der Stringenz von Demarka­tionslinien zu verstehen. Der besondere Wert und die Unvergleichbarkeit ebenso wie die Unverzichtbarkeit des europäischen Projekts liegen gerade darin, dass es nicht mit einer politischen Flächenbeschreibung sein Bewenden hat. Vielmehr war es von Beginn an ein Versprechen, ein Commitment der Beteiligten. Ein Versprechen erstens unter den Beteiligten der europäischen Staaten: an die Stelle von gegenseitiger Vernichtung und Krieg das Prinzip der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Zukunftsbewältigung zu setzen. Und es war ein Versprechen nach außen, gegenüber der Welt, dort näm­lich zukünftig nicht mehr mit Überwältigungsabsicht, sondern als Partner, als Mitgestalter einer fried­lichen und gerechten Welt zur Verfügung zu stehen. Und sowohl nach innen wie nach außen war es das Versprechen, Freiheit und Menschenrechte an die Spitze aller politischen Ziele zu stellen, für Menschenwürde und Solidarität zu werben. Dies mag am Anfang nicht im Vordergrund gestanden haben, inzwischen aber ist es unübersehbar: auf diese Weise ist die

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Europäische Union nicht nur zu einem Partner, sondern auch zu einem Vorbild geworden. Die Praxis, die reale Existenz der Europäischen Union wirkt auch auf andere Teile der Welt als anziehendes Beispiel. Zumindest ist es eine Herausforderung für andere Großregionen der Welt, die eigenen Werte und Ziele auch an ­diesem europäischen Modell zu messen. Ich werde nie die geradezu wütende Bemerkung von Navid Kermani auf einer unserer Berliner Konferenzen von „A soul for Europe“ vergessen. Als er näm­ lich unseren europäischen Selbstzweifeln sinngemäß entgegenhielt: „Ihr mögt vielleicht die Notwendigkeit Europas infrage stellen, wir tun es nicht. Mir hat es manchmal den Anschein, als benötigten wir Nichteuropäer d­ ieses Europa mehr als Ihr Europäer.“ Wenn wir an Europa arbeiten, darf es uns also nicht nur um uns selbst gehen. Wir haben auch eine Verpflichtung gegenüber der Welt. Was uns vorantreibt, ist deshalb auch mehr als der „Traum von Europa“. Wir träumen nicht von etwas und haben unser Ziel verfehlt, wenn sich der Traum nicht erfüllt. So beliebig ist es nicht. Es geht um ein Commitment, es geht um Verantwortung. Es geht um das Versprechen, das wir uns und unseren Partnern weltweit gegeben haben. An ­diesem Versprechen müssen wir auch in Verantwortung der Welt gegenüber festhalten. Wir müssen uns an d ­ ieses Versprechen erinnern, wenn die alltäg­ lichen europäischen Realitäten uns den Mut nehmen wollen. Hier liegt unsere Verpflichtung, von der wir uns nicht ohne Weiteres verabschieden können. Natür­lich ist es immer problematisch, etwas als „alternativlos“ zu bezeichnen. Vor dem Hintergrund unseres historischen Versprechens für ­dieses neue Europa gibt es allerdings keine mora­lisch vertretbare Alternative als an dieser neuen und besonderen europäischen Entwicklung weiterzuarbeiten. Europa der Europäer Nur allzu schnell haben wir uns in Europa angewöhnt, ­dieses „Arbeiten an Europa“ den Zuständigen zuzuweisen. Denen in Brüssel und Straßburg und Luxemburg, den europäischen Institu­tionen also. Dabei ist es doch unsere Sache. Europa macht nur Sinn und hat auch nur eine Zukunft, wenn es die Angelegenheit seiner Bürger ist. Was soll denn sonst Europa? Es ist ein andauerndes Problem: Europa hat bei seinen eigenen Bürgern kein gutes Ansehen. Offenbar ist ihnen die Sache nicht wichtig genug. Wichtig genug eigent­lich nur, um „die da in Brüssel“ zu kritisieren. Aus Umfragen wissen wir, dass die Menschen weghören und nicht aufhorchen, wenn das Wort Europa fällt. Dabei übersehen wir, dass letzt­lich wir selbst Europa sind. Dass Europa unser gemeinsames Schicksal ist. Dass wir selbst alltäg­lich zu seinem Wohl und Wehe beitragen. Gerade die Städte und Regionen Europas tun das. Verstehen wir doch einmal das, was die Städte und Regionen leisten, nicht als eine Ansammlung von konkurrierenden, gegeneinander gerichteter Egoismen.

Europa – Ein Versprechen

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Verstehen wir es als solidarische Beiträge für ein gemeinsames, immer besser gelingendes Europa. Sprechen wir von Dezentralisierung. Lenken wir den Blick auf die Wahrnehmung alltäg­licher städtischer und regionaler Aufgaben und Anstrengungen für Europa. Dann wird man erkennen, dass nicht nur „Brüssel und Straßburg“ für Europa arbeiten, sondern dass das dezentrale Europa, das Europa an seiner Basis die Hauptlast und die größten Verdienste am Aufbau Europas tragen. Das Stichwort Dezentralisierung kann dazu herausfordern, das europäische Projekt vom Kopf (Zentralen) auf die Füße (Basis) zu stellen. Nur dann werden die Europäer das Europäische als ihre eigene Angelegenheit, ihre eigene Verantwortung und im Ergebnis ihren eigenen Erfolg erkennen können. Sehen wir uns das Dezentrale an: –– Die Kultur in Europa könnte nicht blühen und vorankommen, würden nicht die Städte und Regionen für kulturelles Leben Verantwortung wahrnehmen. Sie tun dies in ihrer regionalen und lokalen Zuständigkeit. Ihr Tun erarbeitet aber zugleich den Stoff, den man (gemeinsam erlebt im Inneren und als ­solche wahrgenommen von außen) europäische Kultur nennt. –– Dasselbe gilt für die Integra­tionsleistung in den Städten und Regionen. Wenn sie dort nicht im Alltag und mit Sorgfalt betrieben wird, findet sie in Europa nicht statt. Aus dem Problem der Migra­tion die Chance einer stärkeren, einer integrierten Gesellschaft zu machen, das entscheidet sich am Ende an der Basis in den Städten und Regionen. –– Dasselbe gilt für die Erinnerungsorte, die den Europäern gemeinsam und für ihr Verständnis von Gemeinsamkeit erforder­lich sind. Sie liegen in den Territorien der Städte und Regionen. –– Dasselbe gilt für die Kultur der Demokratie, die in Europa nicht lebendig sein kann, wenn sie an der Basis nicht gelebt wird. Mehr als die anderen staat­ lichen Ebenen in Europa tragen die Städte und Regionen zu dieser Kultur bei (oder auch nicht). Konsequenzen Wenn dies alles so ist, sollten wir nicht über Instrumente nachdenken, um diese Basisarbeit für Europa sichtbarer und für den europäischen Prozess relevanter zu machen? Da mag es viele Vorschläge geben. Warum fangen wir nicht einfach an? In Brüssel gibt es z. B. ein eindrucksvolles Gebäude, in dem sich Städte und Regionen vor allem darum kümmern, dass es keine störenden Einflüsse von oben in die städtischen und regionalen Zuständigkeiten in Europa gibt: eine Lobby der Basis gegen unangemessene Eingriffe der Spitze. Das ist ein durchaus berechtigtes Bemühen. Wenn dies aber das einzige Ziel ist, muss sich niemand wundern, wenn sich die Städte und Regionen von Brüssel eher bedroht oder bestenfalls vernachlässigt als gefördert und gefordert sehen.

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Da muss sich etwas ändern. Man sollte zumindest eine zweite Abteilung d­ ieses Komitees der Städte und Regionen ins Leben rufen: eine Abteilung, in der die Leistungen, die Kreativität, die zahllosen Beiträge der Städte und Regionen für die Entwicklung Europas gefragt sind. Wo diese Beiträge als bedeutsam erkannt werden in der europäischen Einigungsentwicklung. Das müsste mehr sein, als nur ein neuer Blick auf diese Aktivitäten. Es müsste sie bündeln, relevant machen in der europäischen Politik. Mit ­diesem neuen Verständnis ihres Komitees müssten sich die Städte und Regionen als die verantwort­lichen Konstrukteure des gemeinsamen Europa erkennen können. In ihrer Bedeutung, aber auch in ihrer Verantwortung. Sie sind es schon in der Praxis. Als politischer Faktor würden Sie das Bild der Arbeit für das Gelingen Europas ergänzen. Die Kommission ihrerseits sollte Respekt vor dieser dezentralen Arbeit an Europa bezeugen, indem sie sie ernster nimmt als bisher. Dies sollte eine neue Aufgabe des in der Kommission für Kultur zuständigen Kommissars werden. Wer sich dem Kulturellen zuwendet, stößt ohnehin und zwangsläufig auf die Basis. Dort entsteht Kunst, dort wächst kulturelle Bildung, dort gibt es kulturelle Begegnungen, dort finden die kulturellen Entwicklungen statt. Das Kulturprojekt Europa ist zugleich der Entwurf eines Europas von unten nach oben. Warum also sollte der Kulturkommissar sich zukünftig nicht mehr als alle anderen Kommissare diesen produktiven Aktivitäten der Städte und Regionen widmen? Diese neue und zusätz­liche Aufgabe würde auch ein ­­Zeichen dafür sein, dass die europäischen Institu­tionen sich der Basis, dem Eigent­lichen Europas mit eigenen Leistungen (der Verknüpfung, der Unterstützung, der beispielhaften Ermunterung) zuwenden. Das Fallbeispiel Berlin Die Entfernung der Europäer zu ihrem Europa wird solange anhalten, wie diese Europäer selbst sich nicht als verantwort­liche Konstrukteure der Europäischen Union begreifen. Die Kommission in Brüssel setzt eher darauf, die Menschen zu beglücken als sie als aktive Europäer und Europäerinnen ernst zu nehmen. Es ist wie im richtigen Leben: man schätzt erst das, zu was man selbst Leistung erbringt. Der „aktive Europäer“, nicht der – einmal mehr – Leistungsempfänger von „Brüsseler Wohltaten“ muss das Ziel sein. Es würde Europa gut tun, würden wir unsere alltäg­lichen dezentralen Leistungen und Stärken auch „europäisch“ sehen. Von Berlin aus haben wir die inzwischen europaweite Initiative „Europa eine Seele geben“ entwickelt. Zu den Projekten dieser Initiative gehört ein Leitfaden, der den Städten und Regio­ nen Europas zeigen soll, wie sie mithelfen können, durch ihre eigenen urbanen und regionalen Anstrengungen Europa besser zu machen als es ist. Und wo und wie sie es heute schon tun.

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Wie z. B. die Brandenburger mit ihrer polnischen Nachbarschaft umgehen: ob man sich gegenseitig misstraut oder ob man miteinander und mit vereinten Kräften die gemeinsame Region dort aufbaut – davon hängt auch der Fortschritt Europas ab. Dass wir nach 1989 d­ ieses Berlin wieder zusammengebaut haben. Und auch wenn wir noch lange nicht damit fertig sind: Wir haben Europa wieder eine offene, freie, attraktive Stadt zurückgegeben, die nicht nur von Touristen weltweit gesucht wird. Und überhaupt: Dieses Berlin mit seiner kulturellen Ausstrahlungskraft ist ein Leistungsbeweis nicht nur für uns selbst und für Deutschland. Berlin steht damit für das kulturelle Potenzial Europas. Wir sind dafür ein Beweisstück mit anderen großartigen Städten in anderen Ländern Europas zusammen. Am Ende geht es um Leistungen, die die Städte für Europa erbringen. Europa wird nach der größten Krise seiner Integra­tion nicht mehr so sein wie es einmal war. Es wird durch den jetzt erzwungenen Reformprozess stärker und weniger anfällig gegenüber den Krisen der Zukunft werden. Diese Festigkeit und wachsende Stärke wird und muss Europa auch dadurch gewinnen, dass es mehr als bisher auch ein „Europa von unten“ wird, ein Europa der Bürgerinnen und Bürger. Ein Europa von unten auch insoweit, als es sich auf die Ideen, die Solidarität, die Energie, die Motorik aus den Städten und Regionen heraus stützen kann. Gemeinsam kann daraus eine große europäische Bürgerinitiative werden. Auf beides – die Bürgerinnen und Bürger nicht als Objekte, sondern als individuelle Akteure der europäischen Integra­tion, und die Anstöße der europapolitisch aktiven Stadtgesellschaften – zielt eine Initiative, die von Berlin ausgeht. „Städte für Europa“ soll die Kreativität, die Produktivität und die Leistungsfähigkeit der Städte für das gemeinsame Europa widerspiegeln. Und es soll die Städte und ihre Bürger zu einer die Integra­tion gestaltenden Stimme für Europa machen, die sich durch die eigenen Anstrengungen im Interesse einer neuen europäischen Dynamik artikuliert und legitimiert. Berlin ist dazu einerseits in einer spezifischen historischen Rolle herausgefordert. Die Stadt des Mauerfalls kennzeichnet das große Glück Europas, sich nicht wie in den Anfangsjahrzehnten des Integra­tionsprozesses nur auf seinen west­lichen Teil beziehen zu müssen. Mit dem Mauerfall ist eine qualitativ neue Perspektive für die Stadt und für das ganze zu einigende Europa entstanden. Zum zweiten ist Berlin mit seinen Leistungen der Stadtgesellschaft für Europa bereits auf einem guten Weg. Man denke z. B. an den Europäischen Filmpreis und die inzwischen über 2.000 Mitglieder umfassende Europäische Filmakademie, die in Berlin für Europa ins Leben gerufen wurde. Man denke an „A Soul for Europe“, eine Initiative von inzwischen rund 50 jüngeren Europäern aus über 20 Ländern. Oder man denke an „Die Europa Rede“, die die drei führenden Verantwortungsträger der EU (die Präsidenten des Ministerrats, der Kommission und des Parlaments) mit ihren persön­lichen Überzeugungen und Visionen zu Europa den Europäern gegenüber kommuniziert.

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Den besonderen Fähigkeiten Berlins entsprechend konzentrieren sich diese Initiativen bisher vor allem auf den kulturellen Bereich. Dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Es sind die Stadtgesellschaften als Avantgarde insgesamt, die mit ihren Potenzialen von unten die künftige Gestaltung Europas mitbestimmen. Wir reden nicht nur über Europa, wir wirken mit, es herzustellen. Es geht um eine gelebte und darauf fußend auch um eine im öffent­lichen Handeln und Bewusstsein erklärte Solidarität für Europa.

Die Europäische Volkspartei Peter Hintze

Wenn es zutrifft, dass sich Paradoxien durch die Implika­tion des Gegenteils und dadurch auszeichnen, dass hierbei zwar vieles in Augenschein genommen wird, zugleich aber anderes aus dem Blick gerät, dann haben wir es bei der derzeitigen Wahrnehmung der Europäischen Union mit einem Paradox zu tun. Nie zuvor in ihrer Geschichte war die Perspektive auf die Europäische Union so sehr durch eine Krisenwahrnehmung geprägt wie heute. Spätestens seit der Euro-­Krise, die in Wahrheit von Beginn an eine von institu­tionellen Unzuläng­lichkeiten begleitete Staatsschuldenkrise war und weiterhin auch ist, befindet sich das Nachdenken über Europa im Modus einer sich selbst reproduzierenden Krisenkommunika­tion. Die Diagnose lautet: Der Patient EU ist ein funk­tionales Mängelwesen: Schwerfällig, uneinig, einflusslos. Angesichts der Redundanz dieser meist im Ton der Selbstgefälligkeit geführten Krisendebatte und im Hinblick auf die tatsäch­liche Funk­tionsfähigkeit der EU auch aufschlussreicher dürfte der Umstand sein, dass eben diese Europäische Union ganz erheb­liche Selbstheilungskräfte freizusetzen vermag. So spricht vieles dafür, dass die von einer kritischen Öffent­lichkeit und vielen Sorgen um die Zukunft unseres Kontinents begleitete Staatsschuldenkrise nur deshalb eingedämmt und große Gefahren für die Existenzgrundlagen vieler Bürger bislang abgewendet werden konnten, weil die EU über wirkungsvolle Mechanismen der Krisenbewältigung verfügt. Und vieles spricht dafür, dass dies aus eben diesen Gründen auch künftig der Fall sein wird. Was angesichts einer im Krisenmodus verharrenden Diskussion aus dem Blick gerät, ist zweierlei: Zum einen das hohe Maß an Handlungsfähigkeit, die die Europäische Union in kritischen Momenten des gesamten europäischen Einigungsprozesses immer wieder unter Beweis gestellt hat. Und zum anderen die reale Funk­tionsfähigkeit einer so hoch komplexen Organisa­tion wie der von 28 in vielen Politikbereichen integrierten Na­tionalstaaten. Ist das Auge auf Krise fokussiert, übersieht es die funk­tionierende Normalität des Alltags. Dafür, dass die europäische Idee im wahrsten Sinne tagtäg­lich gelebt und vorangetrieben wird, zeichnen eine Vielzahl von Faktoren verantwort­lich, insbesondere die hohe Professionalität der Kommission und der gewachsene Einfluss des Europäischen Parlaments. Die wichtigste Ursache dürfte allerdings die Existenz von großen europäischen Parteienbündnissen sein, unter denen die Europäische Volkspartei die historisch wirkungsvollste und politisch mit Abstand bedeutsamste Kraft in Europa ist. Die europäischen Parteien sind die Voraussetzung dafür, dass in Europa überhaupt so etwas wie eine grenzüberschreitende politische Öffent­lichkeit

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entstehen konnte und sich hoffent­lich in Zukunft weiter entwickeln kann. Sie garantieren, dass das politische Europa weit mehr ist als die Summe na­tionaler Parteien. Nur aufgrund der europäischen Parteien haben die spezifischen Anliegen na­tionaler Parteien die Chance, sich auf europäischer Ebene hinreichend zu artikulieren. Und nur dank der europäischen Parteien können die spezi­ fischen politischen Interessen der Bürger in den Mitgliedstaaten gebündelt und auf europäischer Ebene zum Ausgleich gebracht werden. In ­diesem Sinne bilden die Parteienbündnisse einen einzigartigen Stabilitätsfaktor innerhalb der Europäischen Union. Insbesondere die beiden großen Parteienfamilien sind ein wichtiges Scharnier an den diversen Grenzstellen im institu­tionellen Gefüge Europas. Angesichts einer größer werdenden Zahl an Mitgliedstaaten und gewachsener Kompetenzen der EU nimmt der Abstimmungsbedarf innerhalb der europäischen Institu­ tionen sowie ­zwischen der europäischen Ebene und den na­tionalen Regierungen erheb­lich zu. Geht es um grundlegende inhalt­liche, institu­tionelle oder personelle Entscheidungen, erleichtern die großen Parteifamilien das Finden stabiler Mehrheiten. Vor allem jedoch haben die europäischen Parteien eine genuin demokratieverbürgende Funk­tion. Seit das Mitentscheidungsverfahren die Regel darstellt und der Präsident der Europäischen Kommission vom EP gewählt wird, haben die im EP vertretenen Parteien erheb­lich an Gewicht gewonnen. Die Wahlen zum EP sind nun echte, im politischen Wettbewerb der Ideen ausgetragene Richtungsentscheidungen für die Arbeit der Kommission. Die vergangenen EP-Wahlen, für die zum ersten Mal europäische Spitzenkandidaten antraten und Jean-­Claude Juncker der EVP ein Gesicht gegeben hat, haben dies nachdrück­lich bewiesen. Wie nie zuvor wurde der Europawahlkampf von einem Wettbewerb der politischen Ideen sowie vom Schlagabtausch ­zwischen den europäischen Parteien und ihren Kandidaten geprägt. Und nie zuvor wurden die EP-Wahlen von einem derart hohen Interesse seitens der Medien und der Bürger begleitet. Dies zeigt: Die europäischen Parteien mit ihrer jeweiligen Programmatik machen die demokratischen Entscheidungsprozesse in Europa inhalt­lich wie personell transparenter und erlauben den Bürgern überhaupt erst, für ihre individuellen politischen Überzeugungen geeignete Adressaten auf europäischer Ebene zu identifizieren. Umso bedauer­licher ist der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht mit dem von ihm verfügten Fortfall der Sperrklausel für die deutschen EP-Wahlen für eine Zersplitterung der deutschen Parteienlandschaft im EP und damit für eine Schwächung des parlamentarischen Willensbildungsprozesses auf europäischer Ebene insgesamt gesorgt hat. Dies begünstigt die europafeind­lichen Kräfte an den politischen Rändern, erhöht die aufgrund der zunehmenden Volatilität des Wählervotums bereits erhöhte Gefahr der Fragmentierung und Radikalisierung des EP weiter und untergräbt die Stabilität der Demokratie in Europa, da die Mehrheitsfindung im EP strukturell erschwert wird. Dass sich die Unionsparteien

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bei der EP-Wahl mit Abstand als stärkste Kraft behaupten konnten, spricht für die Attraktivität der EVP-Partner CDU und CSU. Christdemokraten und die bürger­liche Mitte waren stets und sind auch heute die bedeutendste politische Kraft in Europa. Dass sich nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs überhaupt die große Idee einer europäischen Versöhnung, einer Absage an Gewalt und na­tionaler Hybris entfalten konnte, das verdanken wir den großen Christdemokraten Europas, wie Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi. Ihr Mut und ihre Gestaltungskraft bilden das ideelle Fundament des modernen Europa. Ihr geistiges Vermächtnis nimmt uns in die Pflicht, die europäische Integra­tion mutig und entschlossen weiter voranzutreiben. Mit dem großen Europäer Helmut Kohl verbunden sind das Ende der europäischen Teilung, die Vollendung des europäischen Binnenmarktes und unsere gemeinsame europäische Währung. Und heute sind es Angela Merkel, Jean-­Claude Juncker, Donald Tusk und viele andere in unserer Parteienfamilie, die die Geschicke Europas in Zeiten der Globalisierung und großer Herausforderungen für die interna­tionale Sicherheit lenken. Von Anfang an war die deutsch-­franzö­sische Partnerschaft die stärkste Antriebs­kraft der Europäischen Union. Für unsere beiden Länder stand und steht fest, dass Europa nur gelingen kann, wenn es als eine gemeinsame, über eine rein ökonomische Integra­tion weit hinausgehende politische Aufgabe begriffen wird. Deutschland und Frankreich eint die im Elysée-­Vertrag beurkundete gemeinsame Überzeugung, als größte und wirtschaft­lich stärkste Na­tionen Europas eine besondere Verantwortung zu tragen. Alle wichtigen Integra­tions­ schritte konnten nur deshalb gelingen, weil Deutschland und Frankreich ihre Politik auch über die politischen Lager hinweg eng miteinander abgestimmt und immer auch die Anliegen der jeweiligen anderen Seite im Blick haben. So war dies bei der Vollendung des europäischen Binnenmarktes, bei der Einführung des Euro, beim europäischen Verfassungsprozess und bei der in Angriff genommenen Regulierung der interna­tionalen Finanzmärkte. Und so ist es auch jetzt, wenn es darum geht, die europäische Währung als wichtigstes Symbol der europäischen Einigung zu sichern und die sozioökonomischen Grundlagen unseres Kontinents in einer veränderten Weltordnung zu erhalten. Die CDU und ihre franzö­sische Schwesterpartei „Les Républicains” (vormals UMP) eint der von gemeinsamen Überzeugungen getragene Wille, die deutsch-­franzö­sische Freundschaft als festen Bestandteil unserer gemeinsamen Kultur lebendig zu halten und in den Dienst der europäischen Integra­tion zu stellen. Dass die EU im Zusammenhang mit der Sicherung des Euro auch schwierige Entscheidungen treffen konnte, das verdanken wir auch dem engen Vertrauensverhältnis ­zwischen CDU und UMP und der Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und notwendige Kompromisse zu schließen. Mit dem Beitritt der ost- und südosteuropäischen Länder ist nicht nur die Europäische Union um bedeutende kulturelle Tradi­tionen und wichtige historische

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Erfahrungen reicher geworden. Auch die EVP hat viele neue Mitglieder dazu gewonnen, die im Zuge der Transforma­tionsprozesse in ihren Heimatländern mutig und entschlossen am Aufbau von Demokratie, Rechtsstaat­lichkeit und einer marktwirtschaft­lichen Ordnung mitgewirkt haben und auf europäischer Ebene wichtige Funk­tionen übernehmen. Mit der polnischen Bürger-­Plattform verbinden uns enge freundschaft­liche Beziehungen, die die Partnerschaft der Unionsparteien mit unseren franzö­sischen Freunden ergänzen. Es sind gerade die Erfahrungen unserer politischen Freunde in Polen und den Staaten des Baltikums mit jahrzehntelanger Diktatur, Fremdbestimmung und militärischer Bedrohung, die uns sensibel machen für neue Herausforderungen an den Grenzen unseres Kontinents und die uns in die Verantwortung nehmen, unsere gemeinsamen Werte im Wege einer gelebten Solidarität zu verteidigen. Mit insgesamt 78 Mitgliedsparteien in 39 Ländern und der größten Frak­tion im Europäischen Parlament verfügt die EVP heute über die größte politische Basis in Europa. Ihre Stärke verdankt die EVP ihren drei operativen Zentren: Zum einen der Zentrale in Brüssel unter der klugen Führung von Präsident Joseph Daul, die für die politische Koordina­tion und die programmatische Arbeit verantwort­lich ist. Joseph Daul ist ein großer Glücksfall für die EVP. Mit ihm haben wir einen engen Freund der Unionsparteien und einen sympathischen Präsidenten, der mit seinem Engagement und seiner großen politischen Erfahrung für den Zusammenhalt in der EVP und für eine programmatische Erneuerung der EVP sorgt. Exzellente Unterstützung erfährt die Brüsseler Zentrale vom Centre for European Studies, das den Namen des langjährigen EVP-Präsidenten und vormaligen bel­ gischen Ministerpräsidenten Wilfried Martens trägt. Längst hat sich das Wilfried Martens Centre mit seinen hochkarätigen Veranstaltungen und weltweiten Netzwerken einen hervorragenden Ruf erworben. Als bedeutender Thinktank unter Präsident Mikúlaš Dzurinda und seinem programmatischen Kopf Roland Freudenstein trägt das Martens Centre die Werte der EVP über die Grenzen Europas hinaus und ergänzt so die Arbeit der Konrad-­Adenauer-­Stiftung auf europäischer Ebene in idealer Weise. Das zweite Zentrum bildet die EVP-Frak­tion im Europäischen Parlament, in der Manfred Weber als Frak­tionsvorsitzender und Herbert Reul als Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe die beiden wichtigsten Posi­tionen innehaben. Sie ist die mit Abstand größte Frak­tion im EP und beweist das große Vertrauen, das die Bürger in Europa den EVP-Parteien entgegenbringen. Dem Erfolg der EVP bei den Europawahlen verdanken wir, dass die EVP mit Jean-­ Claude Juncker den Präsidenten sowie 13 weitere Mitglieder der Europäischen Kommission stellt. Das dritte Zentrum bilden die Staats- und Regierungschefs der EVP, die gemeinsam mit dem Präsidenten und den übrigen EVP-Mitgliedern der Europäischen Kommission im Rahmen der vor den Europäischen Räten stattfindenden EVP-Gipfel regelmäßig zusammenkommen und ihre Posi­tionen abstimmen. Zusammen bilden diese drei Pole in Europa ein starkes Kräftedreieck christdemokratischer und bürger­licher Politik der Mitte.

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Die Stärke der EVP resultiert auch aus ihrem starken programmatischen Profil. Mit ihrem neuen programmatischen Fundament, das sich die EVP im Jahr 2012 auf ihrem Kongress in Bukarest gegeben hat, gibt sie eine Antwort auf die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Was macht die EVP aus und was unterscheidet sie von ihren politischen Mitbewerbern? Angesichts des verbreiteten Eindrucks einer angeb­lichen parteipolitischen Indifferenz hilft es, sich der besonderen Identität der EVP und der grundlegenden Unterschiede ­zwischen ihr und anderen Parteienbündnissen zu vergegenwärtigen. Die EVP ist die einzige politische Kraft in Europa, die sich in ihrem Menschenbild und ihren zentralen Werten vom christ­lich-­jüdischen Erbe Europas leiten lässt. Ihr breites Wertefundament verbindet die innere und äußere Freiheit des Menschen mit dessen Verantwortung für den Nächsten und das Gemeinwesen, Gleichheit mit Gerechtigkeit sowie Solidarität mit Subsidiarität. In d­ iesem Sinne setzt die EVP auf die Stärken des Einzelnen, auf seine Kreativität und seine Ideen, statt auf einen paternalistischen Staat, der dem Einzelnen vorschreibt, wie er zu denken und handeln hat. Für die EVP bilden starke Familien den tragenden Grund der Gesellschaft und somit weder das einsame Individuum noch das staat­liche Kollektiv. Die EVP steht für einen gesunden Wettbewerb, in dem die Menschen ihre Potenziale zum Wohl der Allgemeinheit zur Geltung bringen können, und erteilt einer Politik eine Absage, die die Bürger mit überbordender Bürokratie sowie hypertrophen Planungs- und Lenkungsfantasien überzieht. Sie verfolgt eine Politik, die Leistung ermög­licht und wirtschaft­liches Wachstum privater Unternehmen fördert, die Ja sagt zu technischem Fortschritt und zugleich für ausreichend Schutz vor Überforderung sorgt. Die EVP steht für eine starke und erfolgreiche gemeinsame Währung als Symbol des vereinten Europa und sieht zugleich die Mitgliedstaaten in der primären Verantwortung für solide Staatshaushalte und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Für sie steht fest, dass die Europäische Union unverbrüch­licher Teil der west­lichen Wertegemeinschaft und enger Bündnispartner insbesondere der Vereinigten Staaten von Amerika ist und auch künftig bleiben muss, da es Europa nur gemeinsam mit seinen Partnern gelingen wird, die gemeinsamen Werte in einer sich verändernden Weltordnung erfolgreich zu verteidigen. Damit steht die EVP für eine Politik des Ausgleichs und eines wertefundierten Pragmatismus jenseits von Individualismus und Kollektivismus. Ich bin überzeugt, dass gerade ihr integratives Wertedesign der EVP im besonderen Maße dazu verhilft, auf neue Herausforderungen adäquat reagieren zu können und in einer immer schneller getakteten Welt für viele Menschen anschlussfähig zu bleiben. Ich denke an die Zunahme des globalen Wettbewerbs mit seinen Konsequenzen für die europäischen Arbeitsmärkte, an den sich immer schneller vollziehenden technolo­gischen Wandel, an die Bedrohung unserer Sicherheit durch den interna­tionalen Terrorismus und eine Politik der Aggression sowie an die Folgen klimatischer Veränderungen.

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Der Vertrauensverlust, den die europäische Politik seit einiger Zeit erleidet, beruht auf einem Paradox: Die Bürger sagen zwar Ja zu Europa, sind aber kritisch gegenüber der Europäischen Union. Während der europäische Einigungsprozess für die allermeisten Menschen in Europa eine einmalige Erfolgsgeschichte darstellt und Europa für das Leben eines jeden so bedeutsam ist wie nie zuvor, wirkt „Brüssel“ auf viele fremd und fern. Die EU und die europäischen Parteien stehen vor der kulturellen Herausforderung, das Paradox von Erfolg und Vertrauenskrise aufzulösen. Die Europäische Union besser zu erklären, ist hierfür sicher­lich ein wichtiger Schritt. Vertrauen schafft die EU jedoch am besten dann, wenn sie institu­ tionell gut funk­tioniert und beweist, dass es richtige Antworten auf entscheidende Probleme gibt. Hierzu tragen die europäischen Parteien und insbesondere die EVP entscheidend bei. Allerdings wird die Europäische Union oft unter ledig­lich ökonomischen Gesichtspunkten und rein zweckra­tional als notwendige „Antwort auf etwas“ betrachtet – vor allem als Antwort auf die globalisierte Wirtschaft. Gerade diese Verengung der europäischen Idee stößt bei den Menschen auf Skepsis. Europa ist in Wahrheit viel mehr. Europa definiert sich durch sein gemeinsames kulturelles Erbe und durch seine gemeinsame, auf der Vielfalt beruhende kulturelle Identität. Es lebt von seinen Werten und Ideen – als ein Raum der Freiheit, der Toleranz und der Gerechtigkeit. Die EVP als Partei der Väter und als größte Antriebskraft der europäischen Integra­tion, die das wirtschaft­liche Zusammenwachsen stets als notwendigen Teil der politischen Integra­tion begreift und die wie keine andere politische Kraft das Prinzip der Marktwirtschaft mit dem Prinzip der sozialen Solidarität verbindet, steht für eben d­ ieses Bild eines politisch vereinten, wirtschaft­lich erfolgreichen und sozial gerechten Europas. Frei­lich haben sich die Begründungszusammenhänge seit Beginn der europäischen Integra­tion erheb­lich verändert. Heute erwarten die Menschen mehr als den Verweis darauf, dass die EU die Garantie für Frieden und Sicherheit in Europa ist. Gerade für die jüngeren Genera­tionen ist Europa längst ein selbstverständ­ licher Bestandteil des Lebens, eine unhintergehbare Tatsache des Miteinanders geworden. Sie erleben Europa als einen Mög­lichkeitshorizont, den es deshalb zu wahren gilt, weil er die freie Entfaltung der Persön­lichkeit ermög­licht, Begegnungen fördert und neue Perspektiven schafft. Für diese Genera­tionen verbindet sich Europa mit etwas menschlich Elementaren und daher mit dem, was Europa im Kern ausmacht. Die große Mehrheit der Europäer erteilt alten und neuen Ideologien, einem europafeind­lichen Populismus und Verschwörungstheorien, die das euroatlantische Wertebündnis aufkündigen, eine klare Absage. Das beeindruckende Signal der Solidarität und des Zusammenhalts, das wir zu Beginn des Jahres 2015 anläss­lich des islamistischen Attentats in Paris erlebt haben, beweist nachdrück­lich, ­welche Kraft die europäischen Werte noch immer – besser: heute mehr denn je – entfalten. Ich bin sicher, wir dürfen darauf vertrauen, dass diese Kraft auch künftig dazu beitragen wird, aufkeimenden Populismus und Extremismus in Europa nachdrück­lich in die Schranken zu verweisen.

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In einer Zeit, in der die alten politischen „Ismen“ längst an Prägekraft verloren haben und neue vorgeb­liche Gewissheiten nur mehr im schmutzigen Gewand des Ressentiments daherkommen, ist die EVP die große politische Kraft der Mitte, die für die europäischen Werte und den Zusammenhalt in Europa steht. Die Menschen in Europa wünschen sich in allererster Linie, gut regiert zu werden. Und dies heißt: Sie wollen einen starken Staat, der die äußere und s­ oziale Sicherheit garantiert und der die richtigen Rahmenbedingungen für Wachstum und Arbeitsplätze setzt, der den Bürgern aber im Übrigen so viel Freiraum wie mög­lich lässt und auf falsche Heilsgewissheiten verzichtet. Der europaweite Erfolg der EVP beweist, dass die mitunter zu vernehmende Rede von einer angeb­lichen sozialdemokratischen Wende, die im Zuge der in vielen Teilen Europas herrschenden wirtschaft­lichen Probleme und verbreiteter Vorbehalte gegen marktwirtschaft­liche Ordnungsprinzipien nunmehr automatisch in Europa anbrechen werde, eine von bloßem Wunschdenken geprägte Floskel ist und ganz im Gegenteil die EVP die Erwartung der europäischen Bürger an eine Politik der politischen, wirtschaft­lichen und sozialen Stabilität, die einen Ausgleich ­zwischen Freiheit und Solidarität herbeiführt, am besten zu entsprechen vermag. Als einziger Europaparlamentarier, der seit der ersten Direktwahl 1979 durchgehend gewählt wurde, hat Hans-­Gert Pöttering die Geschicke der EVP in den vergangenen Jahrzehnten in vielen herausragenden Posi­tionen ganz maßgeb­ lich mitgeprägt. Er war stellvertretender Vorsitzender und Vorsitzender der EVP -Frak­tion und ein über die Parteigrenzen hinweg hochgeschätzter sowie weltweit angesehener Präsident des Europäischen Parlaments. Mit ihm, dem die Vollendung der europäischen Einheit stets eine Herzensangelegenheit gewesen ist und der über zahlreiche Kontakte in die Länder Ost- und Südosteuropas verfügt, eng verbunden sind die erfolgreiche Erweiterung der Europäischen Union und die gelungene Aufnahme vieler neuer EVP-Parteien in die Frak­tion. Der Beitritt der ost- und südosteuropäischen Staaten stellt neben dem europäischen Verfassungsprozess, den die EVP-Frak­tion entscheidend mit gestaltet und vorangetrieben hat, sicher­lich den Höhepunkt im politischen Wirken von Hans-­ Gert Pöttering dar. 2014 hat das Europäische Parlament dem großen Europäer Hans-­Gert Pöttering die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Wir sind dankbar und können uns glück­lich schätzen, dass Hans-­Gert Pöttering seine große Erfahrung und sein europäisches Engagement weiter in den Dienst der EVP stellt und heute als Vorsitzender der Konrad-­Adenauer-­Stiftung mit ihren zahlreichen Auslandsbüros das große europäische Erbe Konrad Adenauers in der Welt wach hält.

Hans-Gert Pöttering Ein großer Mensch und Europäer Janez Janša

Es war während der Vorbereitungen der EU auf die große Erweiterung, als ich Dr. Hans-­Gert Pöttering das erste Mal getroffen habe. Slowenien war damals Teil ­dieses Prozesses. Nicht wenige europäische Politiker sahen die Erweiterung ledig­lich als technischen Prozess, während dem die Beitrittskandidaten vorab bestimmte, insbesondere ökonomische, Kriterien formell erfüllen müssen. Häufig wurde das Wort „Werte“ verwendet, doch allzu oft leider nur als Phrase in schönen, aber leeren Sätzen. Dr. Hans-­Gert Pöttering, damals Vorsitzender der Frak­tion der EPP im Europäischen Parlament, war anders. Als wir uns über Slowenien unterhielten, ging er in die Tiefe. Er war fähig, unsere inneren Widersprüche zu begreifen. Er unterschied z­ wischen Namen und Bezeichnungen an der Oberfläche und dem Inhalt, der sich dahinter verbarg. Selbst dann, wenn es sich um raffiniert verhüllte Widersprüche handelte, die die Regierungen einiger EU-Beitrittsländer dem Blicke Europas unbedingt entziehen wollten. Im Falle Sloweniens waren das das unreformierte Justizsystem, Medienmonopole, staat­liche Mehrheitsanteile an Banken und großen Unternehmen sowie der beängstigende Einfluss von Netzwerken der ehemaligen, politischen Geheimpolizei auf das politische Geschehen im Lande. In Dr. Hans-­Gert Pöttering hatten wir damals einen Gesprächspartner, dem bewusst war, dass die EU nur als Wertegemeinschaft überleben und Fortschritte machen könne. Als Gemeinschaft, deren Tür offen steht, der Eintritt jedoch bedingt ist durch das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten. Auf dieser Grundlage erhielten wir seine Unterstützung, als die Slowenische Demokratische Partei der EPP beitrat. Im Jahre 2004, als wir erstmals die Parlamentswahlen in Slowenien gewonnen haben, bereiste Dr. Hans-­Gert Pöttering während der Kampagne mit uns und unserem Bus einen großen Teil des Landes. In feurigen, jedoch sach­lichen Ansprachen, hob er die Bedeutung der neuen Zeit hervor, die einige Monate zuvor mit dem EU-Beitritt angebrochen war. Die Menschen empfingen ihn mit Begeisterung. Dr. Hans-­Gert Pöttering wurde schließ­lich EU-Parlamentspräsident und wir trafen uns öfters, sowohl im Europäischen Parlament (EP ) als auch auf den Sitzungen des Europäischen Rates. Im Jahre 2008 saß Slowenien dem Rat der EU vor, während ich als slowenischer Premierminister für ein halbes Jahr den Europäischen Ratsvorsitz innehatte. In dieser Zeit sahen wir uns in der EU mit den ersten ernstzunehmenden Schlägen der Finanzkrise konfrontiert, mit steigenden Lebensmittel- und Rohstoffpreisen sowie mit einer politischen Krise zu

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Beginn des Sommers, als Folge des Neins der Iren zum Lissabon-­Vertrag. Diese schwierige Zeit verlangte nach einer engen Zusammenarbeit z­ wischen den europäischen Institu­tionen. Hans-­Gert Pöttering hat als Präsident des Europäischen Parlaments, der einzigen unmittelbar gewählten Institu­tion der EU, mit seinem Weitblick und der Fähigkeit, sich in Probleme zu vertiefen, mehrfach entscheidend dazu beigetragen, dass wir in der Lage waren, einen Schritt weiter zu gehen. In dieser Zeit hat die EU trotz immer neuer Probleme keinesfalls andere strate­ gische Prioritäten vernachlässigt. Der multikulturelle Dialog lief auf Hochtouren weiter. Die Debatten im EP mit geist­lichen Würdenträgern verschiedener Religionen auf hoher Ebene brachten Annäherung und größeres gegenseitiges Verständnis. Interna­tionale Entwicklungshilfe war eine Konstante unserer Tagesordnungen. Insbesondere konzentrierten wir uns auf die ärmsten Gebiete Afrikas. Zahlreiche Hilfsprogramme wurden gerade in dieser Zeit gestartet. Wir gründeten die Euro-­Mediterrane Universität zwecks Vertiefung des interkulturellen Dialogs im Mittelmeerraum und einer Steigerung des Wissenspotenzials in unserer süd­lichen Nachbarschaft. Wir haben sämt­liche Vorbereitungen für die Gründung der Union für den Mittelmeerraum getroffen, die im Juli 2008 ins Leben gerufen wurde, und haben mit den Vorbereitungen für die Öst­liche Partnerschaft begonnen, ­welche ihren formellen Rahmen im Jahr darauf bekam. Dr. Hans-­Gert Pöttering stand im Mittelpunkt all dieser und zahlreicher anderer Initiativen, Prozesse und konkreter Projekte. Das Europäische Parlament war unter seiner Führung ein gleichberechtigter Gesprächspartner des Rates und der Kommission, zugleich aber auch Initiator zahlreicher neuer Projekte. Es war dies eine Zeit, als Weitblick, intellektuelle Kraft und persön­liche Aufrichtigkeit sowie Korrektheit Hans-­Gert Pötterings eine gute und effektive Führung dieser Institu­tion ermög­lichten, die dadurch imstande war, Schritte vorwärts zu machen, die den anderen voraus waren. In dieser Zeit hat Dr. Hans-­Gert Pöttering das Europäische Parlament auf die Ebene eines gleichberechtigten Gesprächspartners des Rates gehoben. Obwohl der Lissabon-­Vertrag noch nicht in Kraft war, erhielt er durch die Beharr­lichkeit und inhalt­liche Begründetheit der Vorschläge und Initiativen einen Status, der heute vertrag­lich formalisiert ist. Ich erinnere mich an die Sitzung des Europäischen Rates im Juni 2008. Wir haben uns einige Tage nach dem irischen Nein zur Ratifizierung des Lissabon-­ Vertrags getroffen. Die politische Krise hatte ihren Siedepunkt erreicht. Einflussreiche europäische und amerikanische Medien spekulierten sogar schon über einen Anfang vom Ende der Union. Als Vorsitzender des Europäischen Rates war ich 24 Stunden am Tag damit beschäftigt, die Standpunkte und Reak­tionen der zuständigen Institu­tionen zu koordinieren. Wenn wir heute zurückblicken, erscheint uns diese Zeit nicht mehr so kritisch, doch überwog bei vielen damals ein anderes Gefühl. Selbst im Europäischen Rat kamen einige Premierminister und Staatspräsidenten mit Vorschlägen zu uns – manche gingen sogar an die

Ein großer Mensch und Europäer

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Öffent­lichkeit –, die gelinde gesagt äußerst unkonstruktiv waren. Andererseits hat das kaltblütige Reagieren der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates der Krise ihre dramatischen Ausmaße genommen und das Handeln in Richtung einer Lösungssuche gelenkt. Der Europäische Rat trifft sich in der Regel zuerst zu einer formellen Tagung, wo ihn auch der Präsident des Europäischen Parlaments anspricht, danach ziehen sich die Staats- und Regierungschefs auf eine streng geschlossene Sitzung zurück, an der nicht einmal die Außenminister teilnehmen können. Während dieser Sitzung bzw. ­dieses Arbeitsdinners, welches gelegent­lich auch die ganze Nacht dauert, versucht man, die unterschied­lichen Ansichten hinsicht­lich der ­Themen, die an der Tagesordnung stehen, z­ wischen den einzelnen Staaten abzustimmen. Die Tagung des Europäischen Rates im Juni 2008 war gänz­lich gekennzeichnet durch einen drastischen Stillstand bei der Ratifizierung des neuen Vertrags. Dr. Hans-­Gert Pöttering bat um eine Einladung zum geschlossenen Teil der Sitzung des Europäischen Rates, die ich ihm in vollem Bewusstsein um die Folgen schickte. Sie wurde zentrales Thema des ersten, formellen Teils der Tagung des Europäischen Rates. Als Dr. Hans-­Gert Pöttering die Einführungsansprache beendete und sich verabschiedete, warteten einige der einflussreichsten Mitglieder des Europäischen Rates mit der Forderung auf, man möge den Präsidenten des Europäischen Parlaments nicht zum Arbeitsdinner einladen, wäre dies doch ein Präzedenzfall, stünde im Widerspruch zur bisherigen ­Praxis und würde die regulären und abgesprochenen Arbeitsweisen des höchsten EU -Organs zersetzen. Die Debatte war zeitweise unangenehm, jedoch gänz­lich prestigeartiger Beschaffenheit, weshalb ich mich entschloss, sie zu beenden. Ich sagte: „Werte Kollegen, wenn die Einladung des Präsidenten des Europäischen Parlaments zu unserem geschlossenen Treffen das größte Problem ist, das die EU derzeit hat, dann können wir auf der Stelle nach Hause gehen.“ Ich habe die Debatte beendet, und eine halbe Stunde ­später besprachen wir im Rahmen des Arbeitsdinners das tatsäch­liche Problem, also den Misserfolg des Vertrags bei dem irischen Referendum. In einer offenen, unmittelbaren und informellen Debatte zeigte sich natür­lich, dass es notwendig sein würde, in die Lösung, v. a. aber die Beruhigung der Lage, weitestgehend auch das Europäische Parlament einzubinden. Hans-­Gert Pöttering wartete mit einer hervorragenden Beurteilung der Lage und sach­lichen Vorschlägen beziehungsweise Standpunkten auf, denen nicht zu widersprechen war. Spät in der Nacht gab es einen Konsens darüber, wie vorzugehen sei. Während wir die Sitzungsräume verließen, fragte ich einige Kollegen, die der Teilnahme des EP -Präsidenten auf dem informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs am heftigsten widersprochen haben, ob es denn wert gewesen sei, das Prestige-­Dilemma hinsicht­lich der Teilnehmenden zu überwinden. Auf einmal hatte keiner mehr Bedenken, alle waren sich einig, dass die Teilnahme Dr. Hans-­Gert Pötterings sehr nütz­lich war.

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Janez Janša

Inzwischen sind Jahre vergangen. Dr. Hans-­Gert Pöttering hat sich nach vielen erfolgreichen Mandaten vom Europäischen Parlament verabschiedet und ist Präsident der Konrad-­Adenauer-­Stiftung geworden. Einen besseren Vorsitzenden hätte sich die Stiftung nicht wünschen können. Mich jedoch hat praktisch dieselbe kommunistische Justiz, die mich 1988 und 1989 als Gegner des damaligen Regimes zweimal ins Gefängnis geschickt hat, im Juni 2014 erneut hinter Gitter gebracht. Hinter dieselben Gitter wie schon 1989. Und das, weil ich an einem unbekannten Tag, an einem unbekannten Ort und über einen unbekannten Kommunika­tionsweg das Versprechen einer unbekannten Provision angenommen haben soll. Nicht für mich selbst, sondern für andere. Als Führer der Opposi­tionspartei, die auf einen Wahlsieg hoffen durfte (einige Wochen zuvor haben wir überzeugend die Wahlen ins Europäische Parlament gewonnen), wurde ich nur drei Wochen vor den Parlamentswahlen ins Gefängnis geschickt. Hinter Gittern blieb ich bis zum 12. Dezember 2014, als das Verfassungsgericht mittels Verfügung das Urteil aussetzte und diese Justizschande beendete. Im Gefängnis erhielt ich Anrufe vieler Freunde und Kollegen aus Europa und der ganzen Welt, wobei viele einfach nicht verstehen konnten, wie dies mög­lich sei. Einer von ihnen, der es verstand, war Dr. Hans-­Gert Pöttering. Ihm musste nicht erklärt werden, wie es denn mög­lich sei, dass in einem EU-Land selbst nach zehn Jahren Mitgliedschaft noch immer Richter Urteile sprechen können, die in Zeiten des kommunistischen Regimes drastisch Menschenrechte verletzten und befördert wurden, weil sie das Strafrecht als Mittel zur Beseitigung politischer Gegner anwandten. Es ist sehr schade, dass es heute in der EU zu wenige Politiker mit dem Weitblick eines Dr. Hans-­Gert Pöttering gibt. Gäbe es mehr von ihnen, dann hätte die EU in der Vergangenheit weniger Fehler gemacht. Mög­licherweise würden wir in d­ iesem Falle nicht mehr von einer Öst­lichen Partnerschaft reden, sondern wären zumindest einige dieser Länder aus der öst­lichen Nachbarschaft heute bereits reformiert und in der EU oder unmittelbar vor dem Beitritt. Im Kreml würde man nicht überlegen, wie denn das zerfallene sozialistische Sowjet-­Imperium erneuert werden könnte, sondern wäre man bereit, ernsthaft über ein neues Partner­abkommen mit der EU zu verhandeln, so wie dies 2008 der Fall gewesen ist. Es ist sehr schade, dass Dr. Hans-­Gert Pöttering sich zu früh von der aktiven Politik verabschiedet hat. Zugleich sind wir ihm immens dankbar für seinen großen und wertvollen, unschätzbaren Beitrag zur Stärkung dessen, was wir Europa der Werte nennen. Zu seinem 70. Geburtstag sprechen wir ihm Dank und Anerkennung aus. Alle, die wir ihn begleiten durften bei seinen Bemühungen um ein ganzheit­liches und freies Europa, das sich seiner christ­lichen Wurzeln bewusst ist, spüren eine tiefe Dankbarkeit gegenüber ­diesem großen Menschen und Europäer.

Von Luxemburg nach Brüssel Jean-­Claude Juncker

Es ist mir eine Freude, zur Ehrung eines großen Europäers beitragen zu können, der ein bemerkenswerter Präsident des Europäischen Parlaments war: mein Freund Hans-­Gert Pöttering. Ich bringe Hans-­Gert aus zahlreichen Gründen Sympathie und Hochachtung entgegen. Er ist ein Mann, der mit Entschlossenheit, großem Engagement und voller Tatkraft handelt und sich stets für ein demokratischeres, gerechteres und sozialeres Europa eingesetzt und für ein bürgerfreund­ licheres Europa stark gemacht hat, das nicht nur zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger Europas handelt, sondern diese auch in sein Handeln einbindet. Für ihn – wie auch für mich – ist Europa zu einem Hauptbestandteil des Lebens geworden. Wir haben beide das große Glück gehabt, zur Pflege und zur erfolgreichen Weiterentwicklung des Erbes beitragen zu dürfen, das uns die großen Europäer und Europäerinnen unserer Vorgängergenera­tion überlassen haben. Diese haben niemals aufgegeben und sind somit nicht zu Sklaven der Geschichte, sondern zu Architekten der Zukunft geworden. Für Hans-­Gert und für mich kann es daher keine strikte Abgrenzung ­zwischen Heimat, Vaterland und Europa geben. *** Ich trage in mir die Erinnerung an meine Heimat mit ihren Hochöfen, dem Lärm der Fabriken und den Arbeitern in ihren Blaumännern. Ich hege eine enge Verbundenheit mit meinem Heimatland, das häufig einen hohen Preis für die Kosten der bewegten und blutigen Vergangenheit der deutsch-­franzö­sischen Beziehungen und einer fehlenden europäischen Integra­tion hat bezahlen müssen, in deren Folge Tausende von Luxemburgern von ihrem Vaterland entwurzelt wurden. Gleichzeitig liebe ich Europa, seine Schönheit und seinen Ideenreichtum. Denn gerade Ideen sowie Mut, Entschlossenheit und Geduld waren nötig, um ein Leitbild zu formen und auf der Grundlage des Vorsatzes „Nie wieder!“ bzw. „Nie wieder Krieg!“ ein politisches Programm zu entwickeln, das Millionen von Europäern eint, indem es gemeinsame wirtschaft­liche Interessen verfolgt und sich die Wahrung gemeinsamer, im Herzen dieser Menschen verwurzelter Werte zum Ziel setzt. Genau ­dieses Europa lieben wir, ein echtes Werk des Friedens und der Versöhnung. Ich sage häufig, dass jeder, der heute an Europa verzweifelt, einmal einen Militärfriedhof besuchen sollte. Die Genera­tion, die den Krieg und die Konzentra­tionslager miterlebt hat, hat es verstanden, einen Kontinent des Kriegs

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Jean-­Claude Juncker

zu einem Kontinent des Friedens zu machen. Und es waren ihre Kinder – d. h. die Menschen der Genera­tion von Hans-­Gert –, die in einem geteilten Europa aufgewachsen sind und es geschafft haben, die Geografie und die Geschichte Europas wieder in Einklang miteinander zu bringen und Ost- und Mitteleuropa auf bestmög­liche Weise wieder mit Westeuropa zu vereinen. Wenn es jedoch seinerzeit noch keinen institu­tionellen europäischen Rahmen mit gemeinsamen Rechtsvorschriften gegeben hätte, hätten sich all die jungen Demokratien in ihrer Begeisterung über ihre neu entdeckte na­tionale Souveränität intensiv mit Grenz- oder Minderheitenfragen auseinandersetzen müssen und damit die Stabilität des gesamten Kontinents gefährdet. Mit der Europäischen Union haben sie einen auf Solidarität basierenden Rahmen vorgefunden, in dem nicht das Gegeneinander, sondern das Miteinander zählt. Nach Jahrzehnten der Trennung ist es uns also gelungen, wieder zu echten Europäern zu werden. Wo immer ich mich heute in Europa aufhalte – sei es in Luxemburg oder Berlin, in Warschau oder in Madrid, in Zagreb oder auf Malta, in Athen oder in Brüssel – fühle ich mich sowohl als Luxemburger als auch als Europäer stets zuhause. Und ich bin gerne zugleich Luxemburger und Europäer, weil ich so von einem riesigen Raum des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands profitieren kann. Meine Genera­tion hat näm­lich auch daran gearbeitet, den europäischen Volkswirtschaften neue Dynamik zu verleihen und zu d­ iesem Zweck den größten Binnenmarkt der Welt geschaffen und zu seiner Ergänzung eine einheit­liche Währung eingeführt. Und wenn wir nicht die Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen hätten, hätte die Wirtschafts- und Finanzkrise, die uns so große Sorgen bereitet hat, ein Währungssystem, bei dem keine Gemeinsamkeiten bestanden, zum Einsturz bringen können. Die na­tionalen Egoismen hätten sich schlagartig vermehrt, und es wäre eine chaotische Situa­tion entstanden. Doch die Einführung des Euro hat für Währungsstabilität gesorgt und die EU-Bürger vor den schlimmsten Folgen der Wirtschaftskrise geschützt. *** All dies war weder selbstverständ­lich noch einfach. Im Gegenteil: Der Weg von der Versöhnung bis zur einheit­lichen Währung war durch zahlreiche Probleme gekennzeichnet, die heute allzu häufig vergessen werden. Doch jedes Mal hat es in Europa Frauen und Männer gegeben, die Europa nicht seinem Schicksal überlassen, sondern es selbst in die Hand genommen haben. Außenstehende wissen, was Europa bereits Großes geleistet hat. Sie wissen, dass wir ohne Erweiterung, ohne Binnenmarkt und ohne einheit­liche Währung bedeutungslos und ungeschützt wären und große Mühe hätten, uns im immer stärker werdenden globalen Wettbewerb zu behaupten. Sie sehen zudem, wie klein unser Kontinent geografisch betrachtet ist, dass die Bevölkerungszahlen und das Wirtschaftswachstum in unseren Ländern rückläufig sind und dass wir, wenn

Von Luxemburg nach Brüssel

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es die EU nicht gäbe, jeg­lichen politischen, wirtschaft­lichen und gesellschaft­ lichen Einfluss verlieren würden. Daher glaube ich, dass wir Europäer mehr Respekt für Europa zeigen, stolz auf unsere gemeinsamen Errungenschaften sein und anerkennen sollten, dass die eigent­liche Herausforderung nicht darin besteht, sich in guten Zeiten als Europäer zu bekennen, sondern darin liegt, Solidarität und ein europäisches Bewusstsein zu zeigen, wenn Probleme auftreten oder Schreckgespenster der Vergangenheit wieder auftauchen. Genau vor dieser Herausforderung stehen wir zurzeit. Ob wir sie meistern, wird davon abhängen, inwieweit wir imstande sind, als Europäer zu handeln, d. h. unserer gegenseitigen Verantwortung nachzukommen, auf kohärente Weise zusammenzuarbeiten, ehr­lich miteinander umzugehen sowie zugleich entschlossen und solidarisch vorzugehen. Während der geschicht­lichen Entwicklung der Europäischen Union hat sich durchweg gezeigt, dass Europa sowohl die Fähigkeit, sich große Ziele zu setzen, als auch die Entschlossenheit, diese zu verwirk­lichen, besitzt. Dass Europa uns bisweilen mehr Fragen aufzugeben als Antworten zu liefern scheint, darf uns nicht dazu verleiten, unsere Sympathie für Europa abkühlen zu lassen und auf Distanz zu gehen. Jetzt, wo wir bereits so viele Hindernisse ­zwischen unseren Völkern überwunden haben, ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um unsere europäischen Ziele zurückzuschrauben, die Brücken, die wir z­ wischen unseren Völkern gebaut haben, einreißen zu lassen und neue Mauern zu errichten. Wenn wir nicht wollen, dass Europa in eine Sackgasse gerät, sondern uns wünschen, dass Europa als ein nachhaltiges Unterfangen betrachtet wird, müssen wir auf dem ehrgeizigen Weg, den Europa bis jetzt zurückgelegt hat, weiter voranschreiten. Dieser Ehrgeiz muss unser Antriebsmotor sein, wenn es darum geht, die aktuellen Probleme anzugehen, eine Brücke für die Zeit nach der Krise zu schlagen und zusammen sowie mit echtem Gemeinschaftsgeist unser Vorgehen besser zu steuern. Nur wenn wir gemeinsam ­dieses Ziel verfolgen, werden wir Europa wieder zurück auf Kurs bringen können, hin zu einem Europa mit weniger Gängelung und mehr Inklusion, in dem der Einzelne, der Unternehmergeist und die Solidarität den Kern seiner Existenz und seines Handelns bilden. *** Ein gemeinsames Schicksal bringt sowohl gemeinsame Interessen als auch gemeinsame Probleme und gemeinsame Lösungen mit sich. Es gibt noch viele Vorhaben, die wir zu einem erfolgreichen Ende führen müssen: die Vollendung der europäischen Währungsunion (da jede Entscheidung eines Landes des Euro-­ Währungsgebiets sozioökonomische Auswirkungen auf die anderen Länder hat), die Vollendung des Binnenmarkts durch Beseitigung seiner noch vorhandenen Mängel (da der Binnenmarkt den Grundstein für unsere Wettbewerbsfähigkeit bildet und die Verwirk­lichung der wahren, d. h. globalen, Dimension der

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europäischen Wirtschaft ermög­licht), die Schaffung einer wahrhaft sozialen Dimension des Binnenmarkts (da wir den sozialen Zusammenhalt aufrechterhalten und dauerhaft sichern müssen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, alles Erreichte zu verlieren), die Schaffung einer Energieunion (da Europa letztend­lich selbst für seine Energiesicherheit sorgen muss) und Unterstützung für die Beseitigung von Armut und Hunger in der Welt (da wir nicht vergessen dürfen, dass Europa nicht alleine existiert, sondern auch eine Aufgabe in der Welt zu erfüllen hat). Nur so werden wir in der Lage sein, den nachfolgenden Genera­tionen zu hinterlassen, was sie brauchen: ein solidarisches Europa, ein soziales Europa, ein wettbewerbsfähiges Europa und ein intern wie auf globaler Ebene stärkeres Europa. Anders ausgedrückt: ein Europa, das den Bürgern aus dem Herzen spricht, denn Europa ist nicht nur ein auf Vernunft basierendes Gebilde, sondern auch eine Herzensangelegenheit. Ich bin ganz einer Meinung mit Hans-­Gert, wenn er sagt, dass das Prinzip und das Ziel jedweden politischen Handelns die Achtung der Würde des Menschen sein muss. Ich glaube näm­lich, dass es nicht mög­lich ist, in Europa oder anderswo die Zukunft zu formen, ohne das Leben der Menschen in den Mittelpunkt des politischen Handels zu stellen. Wir müssen begreifen lernen, was den Bürgern wichtig ist. Dabei handelt es sich keineswegs um abstrakte Vorstellungen. Dem Bürger ist es konkret wichtig, im täg­lichen Leben würdevoll behandelt zu werden sowie seinen Arbeitsplatz behalten, ein eigenes Unternehmen gründen, seine Kinder anständig erziehen, neue Technologien und moderne Infrastrukturen n­ utzen, in einer gesunden Umwelt leben und eine angemessene Rente beziehen zu können. Die Europäer sind der Krise mit großem Mut entgegengetreten. Die Opfer, die sie gebracht haben, dürfen nicht als reines Gebot der Stunde angesehen werden, sondern als Voraussetzung für eine bessere Zukunft, in der Wohlstand für alle herrscht. Daher sind wir ihnen schuldig, mehr Wachstum und Beschäftigung zu schaffen und in Wachstum zu investieren. Für heute und für die Zukunft sind derartige Investi­tionen unser bestes Mittel, um die Zeitbombe Massen­ arbeitslosigkeit zu entschärfen und den jungen Genera­tionen eine Zukunftsperspektive zu bieten. *** Genau das ist das Ziel der Europäischen Kommission, deren Präsident zu sein ich die Ehre habe. Es geht nicht darum, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, denn ich habe nie geglaubt, dass Na­tionen nur ein Provisorium der Geschichte sind. Es geht vielmehr darum, das Vertrauen der Bürger in die europäische Idee zurückzugewinnen, denn wie schon Jean Monnet betont hat, liegt der Sinn Europas nicht darin, ein Bündnis z­ wischen Staaten zu schaffen,

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sondern darin, die Menschen einander näher zu bringen. In Europa arbeiten Na­tionen zusammen an einem gemeinsamen Projekt im Dienste eines gemeinsamen Interesses, das größer ist als die Summe der na­tionalen Interessen. Sie arbeiten zusammen an einem gemeinsamen Unterfangen, bei dem kein Land eine größere oder eine geringere Bedeutung als die anderen Länder besitzt und alle Völker gleich wichtig sind. Das Zusammenleben in Europa ist ein gemeinsames Miteinander, bei dem Heimat, Vaterland und Europa eng miteinander verbunden sind und bei dem es nicht vor allem um Gleichmacherei oder Vereinheit­lichung geht, sondern um den Dialog. Von letzterem würde ich mir wünschen, dass er eine noch positivere Wechselwirkung ­zwischen unseren Ländern entfalten, eine Ethik der Kompromissbereitschaft schaffen und die Völker Europas in die Lage versetzen möge, ihr individuelles Handeln auf das Wohl der Gemeinschaft auszurichten, indem sie die bestehenden Unterschiede akzeptieren und etwaige Meinungsverschiedenheiten unter Achtung der Würde und der Eigenheiten des Einzelnen beilegen. Dies ist von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des Aufbaus Europas, und auch dazu trägt die Konrad-­Adenauer-­Stiftung auf vortreff­liche Weise bei.

Europa und die Globalisierung Othmar Karas

Das Phänomen der Globalisierung gibt es seit Jahrhunderten, denn alle Verkürzungen der Wege, der Distanzen und der damit verbundenen Zeit für Entscheidungen haben die Welt näher zusammenrücken lassen. Die Globalisierung ist auch immer der Wechsel von der Peripherie zum Zentrum. Dies gilt global, mit der Entdeckung Amerikas und dem nunmehrigen Aufstieg Chinas, als auch für Europa und die Europäische Union. Jene Regionen, die früher zur Peripherie zählten, sind durch die Wiedervereinigung Europas heute zum Zentrum des Kontinents geworden. Neben der phy­sischen Globalisierung zu Land, zu Wasser und in der Luft, gab es auch eine Globalisierung der Kommunika­tion. Die Nachricht von der Ermordung Abraham Lincolns 1865 brauchte zwölf Tage, um von Amerika nach Europa zu gelangen. Heute hingegen werden über Internet und Social Media Nachrichten, Fakten und Gerüchte in Echtzeit geteilt und weltweit verbreitet. Zeitzonen und Sprachen spielen keine Rolle mehr. Die Welt ist zum globalen Dorf geworden. Auch die Politik muss deshalb heute um ein vielfaches schneller reagieren und kommunizieren. Vielschichtige Probleme durch terroristische Anschläge, die Menschen in den Metropolen verunsichern, Weichenstellungen für Volkswirtschaften, deren Wettbewerbsfähigkeit sich mit weltweiten Konkurrenten messen muss, und zentrale Zukunftsfragen bei Umweltthemen können nicht mehr von einzelnen Staaten alleine bewältigt werden, sondern erfordern interna­tionale Verständigung und Zusammenarbeit. Wenn die Herausforderungen global sind, müssen auch die Antworten darauf global sein. Interna­tionale Institu­tionen, die sich dieser Probleme annehmen und gleichzeitig die globale Regierungsverantwort­lichkeit sicherstellen müssen, haben vor allem in den letzten Jahren eine Diskrepanz ­zwischen der Notwendigkeit einer raschen Entscheidung und der demokratischen Legitimierung bei der Bewältigung der drückendsten Herausforderungen gezeigt. In seiner Rede anläss­lich des Weltwirtschaftsforums in Davos im Jahre 2009 unterstrich der UNO Generalsekretär Ban Ki-­moon, dass „eine Reihe neuer Krisen ein erneuertes Verantwortungsbewusstsein erfordert. Unsere Zeiten verlangen eine neue Defini­tion von Führung – eine globale Führungsverantwort­lichkeit“. „Global Governance“ oder „Globale Regierungsverantwort­lichkeit“ ist ein verhältnismäßig neuer Ausdruck, bezieht sich aber auf eine sehr alte Frage: Zusammenarbeit der interna­tionalen Akteure bei gemeinsamen Herausforderungen, die nicht ohne gemeinsames Bestreben gemeistert werden können.

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Das Konzept einer gemeinsamen „globalen Regierungsverantwort­lichkeit“, die zunächst auf Friedens- und Sicherheitsfragen begrenzt war, wurde in den vergangenen Jahren erheb­lich erweitert. So werden heute unter anderem Antworten auf Wirtschafts- und Finanzkrisen, zum Klimawandel und dem Erhalt der biolo­gischen Vielfalt, zur Terrorismusbekämpfung, zur nuklearen Prolifera­ tion, zu Migra­tion, zu Drogen- und Menschenhandel, zu Gesundheitsrisiken und Pandemien oder zur Entwicklungshilfe erwartet. Die Gründung der UNO im Jahr 1945 mit 51 Mitgliedsstaaten, die Gründung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates 1949 und die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mit sechs Mitgliedstaaten im Jahre 1952 waren Meilensteine für die Entwicklung transna­tionaler Verständigungs- und Koopera­tionsforen in der Welt und Europa. Am Beispiel des UN -Sicherheitsrats sieht man aber, dass diese Foren, die zur Zeit ihrer Gründung geradezu revolu­tionär waren, weil sie alle wichtigen Staaten an einen Tisch geholt hatten, heute von den realpolitischen Entwicklungen überholt worden sind. Welche Rolle nimmt der UN -Sicherheitsrat derzeit im Ukraine-­Konflikt (im Krieg auf dem Gebiet der Ukraine) ein? Bereits vor zwanzig Jahren hat die Commission on Global Governance in ihrem Bericht „Our G ­ lobal Neighbourhood“ festgestellt, dass der schlechte Repräsenta­tionsgrad vieler Entwicklungs- und Schwellenländer zu einer Legitima­tionskrise des wichtigsten UN -Organs führe, um im Anschluss, wie eine Vielzahl anderer Initiativen, Vorschläge für eine Reform des Sicherheitsrats zu machen. Auch heute ist diese Debatte noch nicht zu Ende und neben Deutschland, Brasilien, Japan und Indien, die sich für einen eigenen permanenten Sitz ins Zeug legen, werden immer mehr Stimmen – wie ich – laut, die auch der EU einen eigenständigen Sitz im Sicherheitsrat geben wollen, und gleichzeitig auf den Verzicht von Frankreich und dem Vereinigten Königreich drängen. Die Bewältigung humanitärer Katastrophen stößt an die Grenzen des Völkerrechts. Dass sich Staaten andere Wege suchen, um transna­tionale Probleme zu lösen, wenn die ursprüng­lichen Koopera­tionsplattformen in ihrer Entwicklung stagnieren, sieht man an der aktuellen Lage der Welthandelsorganisa­tion. Da die bestehende Einrichtung nicht effektiv genutzt wird beziehungsweise genutzt werden kann, kommt es zu Ausweichbewegungen über individuelle Handelsverträge und einzelne Absprachen. Diese Einzelabsprachen können jedoch dazu führen, dass sich bestehende Ungleichheiten verschärfen und keine fairen Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden, weil der Stärkere immer die Bedingungen des Vertrages diktieren kann. Es ist auch nicht notwendig, für temporäre Probleme neue Plattformen zu schaffen, sondern bestehende Plattformen könnten und sollten im richtigen Kontext genutzt und erneuert werden. Der Europarat oder die OSCE wären beispielsweise ideale Gremien, um ­zwischen Russland und der Ukraine im

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aktuellen Konfliktfall zu vermitteln, da beide Länder ihm als Mitglieder angehören und er über die notwendige Objektivität verfügt. Andere interna­tionale Gremien haben sich mit der Zeit verändert. Die ur­sprüng­lich als von den sechs größten Volkswirtschaften als G6 gegründete Gruppe, wurde zur globalen G8, denn in einer globalisierten Welt können die Probleme nur im Verbund mit anderen gelöst werden. Doch während in den 1970er Jahren noch die größten Volkswirtschaften repräsentativ vertreten waren, ist dies seit den 1990er Jahren nicht mehr der Fall. Mittlerweile liegen das Bruttoinlandsprodukt von China, Indien, Brasilien, sowie die Kaufkraftparität von Mexiko und Südkorea über dem Bruttoinlandsprodukt des G8 beziehungsweise momentan G7-Mitglieds Kanada. Da die (aktuell) G7-Staaten als Zusammenschluss der sieben wichtigsten demokratischen Industriena­tionen der Welt Ländern wie China auch in der Zukunft die Mitgliedschaft verwehren, hat sich, als Abbildung der ökono­ mischen Wirk­lich­keit 1999, die Gruppe der G20 gegründet. In ihr ist neben den 19 wirtschaft­lich wichtigsten Staaten auch die EU vertreten. Die G20 ist ein informelles Forum zur Förderung eines offenen und kon­ struktiven Dialoges ­zwischen Industrie- und Schwellenländern hinsicht­lich globaler Schlüsselfragen. Sie spielt eine sehr wichtige Rolle bei der zukünftigen Gestaltung der interna­tionalen Beziehungen. Doch der frühere EU-Kommissar und WTO Direktor Pascal Lamy hat richtig festgehalten: „G20 ist im Gegensatz zu vielen allgemeinen Vorstellungen keine Weltregierung. Sie ist ein wichtiges, notwendiges Stück eines sehr komplexen Systems, das viele andere Teile hat.“ Mit anderen Worten: Die G20 kann als ein Katalysator der Ressourcen dienen, die durch andere interna­tionale Institu­tionen und Organisa­tionen zur Verfügung gestellt werden. Sie spielte eine zentrale Rolle während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit ihrem Beginn im Jahr 2008. Bei ihrem Gipfel in Pittsburgh im September 2009 wurde eine umfassende Reform des Finanzsektors beschlossen und die damals vereinbarten Kapitalanforderungen und anti-­zyk­lischen Kapitalpuffer der Banken wurden über das Basel Komitee rasch zu verbind­lichen weltweiten Standards. Doch Effizienz bedeutet nicht automatisch Legitimität! Während die Erfolge der G20 nicht zu leugnen sind, leidet d­ ieses neue Forum noch unter einem offensicht­lichen Mangel an Legitimität. Wer wählte die Mitglieder? Und sind die Führer der G20 jeweils individuell oder gemeinsam für ihre Entscheidungen verantwort­lich? G20 hat viele ungenutzten Potenziale und kann zweifellos einer der Grundsteine einer neuen, globalen Ordnungsstruktur werden. Es mangelt aber an einer grundlegenden demokratischen Legitimität und an checks and balances. Im Jahr 2010 trafen sich deshalb erstmals die Sprecher der G20 Volksvertretungen im kanadischen Ottawa, um ein neues beratendes G20 Forum zu bilden. Als Vizepräsident des Europäischen Parlaments habe ich bei nachfolgenden

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Treffen immer wieder gefordert, dass die beschlossenen Resolu­tionen der G20 Volksvertretungen auch von den Staats- und Regierungschefs behandelt werden müssen. Ebenso hat das Europäische Parlament gefordert, dass dem Speakers‘ Meeting die Aufgabe zu übertragen, für Transparenz zu sorgen und diese mit parlamentarischer Legitimität zu versehen. Dies hieße zum Beispiel in der Praxis, dass der gastgebende Staats- oder Regierungschef der G20 an den Beratungen des G20 Sprecherrates teilnimmt und dass der vorsitzende Parlamentspräsident am Gipfel teilnimmt. Denn die G20 kann bei ihren Bemühungen, die gegenwärtige Wirtschaftskrise zu überwinden, keine grundlegende demokratische Legitimität gewinnen, ohne ihre Arbeit den demokratisch gewählten Volksvertretungen zu öffnen – Gesetzgeber sind die Parlamente und nicht die Regierungen – und es den Bürgern dadurch zu ermög­lichen, auf eine strukturiertere Art an den Entscheidungen teilzunehmen. Die Globalisierung muss parlamentarisiert und dadurch demokratisiert werden. Wenn wir immer mehr interna­tionale Entscheidungen haben, darf das nicht heißen, dass die Bürger nicht im gleichen Maße mitreden. Es darf keine Globalisierung ohne Parlamente geben, denn wir benötigen eine globale Wirtschafts-, Sozial- und Umweltordnung. Eine enge Koopera­tion ­zwischen G8, G20, UN, IWF und der Weltbank ist dafür entscheidend. Auch weltpolitische Steuerung braucht demokratische Legitimierung. Europa hat dies beim Sturm auf die franzö­sische Bastille am 14. Juli 1789 erkannt und mit der ersten schrift­lichen Verfassung von Polen-­Litauen vom 3. Mai 1791 eine Entwicklung der Legitimierung und Demokratisierung der politischen Entscheidungen angestoßen. Die absolutistischen Herrscher sind den liberalen Demokratien gewichen, in denen gewählte Parlamente die Exekutive kontrollieren. Nur wenn Entscheidungen transparent fallen und durch die Mitbestimmung der gewählten Volksvertreter demokratisch legitimiert sind, werden sie langfristig bestehen können. Niemand ist perfekt, und auch heute noch mangelt es in Europa in manchen Fällen an der notwendigen demokratischen Kontrolle durch die Parlamente, weil intergouvernementale Arbeitsformen, wie beispielsweise die Troika, statt einer Lösung auf dem Boden des europäischen Gemeinschaftsrechts, beschlossen wurden. Bei der tieferen europäischen Integra­tion leistet das Europäische Parlament einen wichtigen Beitrag, und es muss auch weiterhin das Leitmotiv Europas sein, demokratische Legitimierung und Rechenschaft auf jener Stufe zu erreichen, auf der die Entscheidung getroffen und umgesetzt wird. Diese Demokratisierung der Globalisierung kann von Europa ausgehen, aber sie kann auf Dauer nicht alleine von Europa getragen werden. Die demographische Entwicklung auf der ganzen Welt wird zu einer Reduzierung des Anteils der EU-BürgerInnen an der Gesamtbevölkerung um 50 Prozent auf unter 4 Prozent führen. Ebenso hat Europa zwar heute noch eine starke wirtschaft­liche Stellung am Weltmarkt, aber die Machtverhältnisse werden sich in den kommenden vierzig

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Jahren stark verändern. Obwohl die OECD Staaten heute zusammen für knapp die Hälfte der weltweiten Exporte verantwort­lich sind, wird dieser Anteil in den nächsten vierzig Jahren auf nur mehr ein Drittel schrumpfen. Der Anteil der erwerbsfähigen Personen wird bis 2060 in den USA um 10 Prozent sinken und in Europa um 20 Prozent. Bereits im Jahr 2050 werden die fünf größten Volkswirtschaften aus den BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China, sowie den USA bestehen. Die „Next-11-Countries”, bestehend aus Mexiko, Korea, Indonesien, Türkei, Iran, Ägypten, Nigeria, Bangladesch, Pakistan, Philippinen und Vietnam, werden dann gemeinsam ein höheres Bruttosozialprodukt erzielen als die USA. Ihr kombiniertes BIP wird nach Prognosen von Ökonomen sogar doppelt so hoch wie jenes Europas sein. Deshalb muss Europa jetzt aktiv werden, um die Globalisierung zu demokratisieren und damit auch zu regionalisieren, denn die EU war immer schon der entscheidende Regionalisierungsakteur im interna­tionalen System. Als ursprüng­liche Freihandelszone und Zollunion gewann sie Vorbildwirkung für viele Regionen in der Welt. Sie gab den Anstoß für Nachahmer wie die NAFTA, APEC und Mercosur. Als erfolgreiches transkontinentales Integra­tionsprojekt steht die EU im interna­tionalen System noch allein, aber die verwirk­lichte Regio­ nalisierung ist eine Antwort auf den herrschenden Globalisierungsprozess, um Wettbewerbsfähigkeit und regionales Regieren zu optimieren. Ein weiteres Lehrbeispiel, das Europa für die Globalisierung abgibt, ist die notwendige Bündelung der Kompetenzen unter parlamentarischer Kontrolle. Dadurch gelingt es den verschiedenen Mitgliedsstaaten, mit einer starken Stimme sprechen zu können und ihre eigenen Posi­tionen im Wettbewerb zu stärken. Die Finanz-, Wirtschafts-, Banken- und Staatsschuldenkrise und die interna­tionalen Krisenherde, wie der Krieg in der Ukraine, haben deut­lich gemacht, dass die EU noch nicht die notwendigen Instrumente besitzt, um schnell, glaubwürdig und effizient Lösungen zu finden. Aber nur, wenn wir die Vereinigung der Staaten Europas in einer politischen Union vorantreiben, können wir zu jener Supermacht werden, von der die EU-Außenministerin Federica Mogherini gesprochen hat. Eine Supermacht des Friedens, des Dialogs, der diplomatischen Lösungen und der Wirtschaft, die imstande ist Probleme rasch und gemeinsam zu lösen. Wir müssen auf die Vorteile der Gemeinschaft setzen und allen aktuellen Gefahren entgegentreten. Na­tionalismus, Extremismus, populistische Tendenzen, Oberfläch­lichkeit dürfen keine Zukunft auf europäischem Boden haben, lösen kein einziges Problem, sondern zerstören jede Gemeinschaft. Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen und müssen auch in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschlossen auftreten! Europa kann seine Rolle in einer globalisierten Welt nur dann wahrnehmen, wenn es mit einer Stimme spricht. Die EU muss Europas Sprachrohr in der Welt werden. Für die dafür notwendigen Änderungen der EU -Verträge benötigen wird jedoch eine breite öffent­liche Debatte und einen Europäischen Konvent. Dieser

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Reformprozess kann nur gelingen, wenn wir die Bevölkerung intensiv einbeziehen und einen wechselseitigen Dialog führen. Am Ende dieser Debatte soll die erste gesamteuropäische Volksabstimmung – hoffent­lich schon mit der nächsten Wahl zum Europaparlament – stehen. Nur durch eine professionelle, transparente Gesetzgebung in der europäischen Bürgerkammer und europäischen Länderkammer können wir den Wünschen der Menschen nach Transparenz und demokratischer Legitimierung bei europäischen Entscheidungen entsprechen. Denn nur wenn wir den richtigen Rahmen haben, kann Europa seine starke Stimme auf der Weltbühne behaupten und auch in Zukunft das Leuchtturmprojekt sein in dem Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand „zum Glück“ vereint sind.

Religionsfreiheit als europäisches Prinzip Einsatz gegen die Diskriminierung von Christen außerhalb Europas Volker Kauder

Der Titel dieser Festschrift für Hans-­Gert Pöttering gibt ­diesem Beitrag eine klare Richtung vor. Denn für den Europäer Hans-­Gert Pöttering ist die Heimat der Ausgangspunkt eines im besten Sinne der Subsidiarität gelebten Engagements in Europa. Man kann sich keine andere Grundlage für ein überzeugendes interna­tionales Wirken denken, als eine feste und bewusste Verwurzelung in der Heimat, in der eigenen Geschichte und im Bewusstsein der eigenen Herkunft. Wer sich interna­tional für ein Anliegen einsetzen will, der kann und darf die eigene Herkunft nicht verleugnen, braucht die Verwurzelung in all dem, was Heimat ausmacht. Aus einem Bekenntnis zu ihr entspringt oft erst die notwendige Glaubwürdigkeit, mit der eine echte Begegnung mög­lich wird. Dabei ist es unumgäng­lich, ­dieses eigene Erbe frei nach Johann Wolfgang von Goethe durchaus kritisch zu prüfen, um es dann umso eindeutiger zu besitzen. In der Heimat Pötterings, dem Osnabrücker Land, wurde ein für den Gegenstand ­dieses Beitrages wesent­liches europäisches Prinzip bekräftigt. Osnabrück war die Bühne eines Ereignisses, dessen Bedeutung für die europäische Identität und das europäische Selbstverständnis wesent­lich werden sollte. Der in Osnabrück und Münster 1648 geschlossene Westfä­lische Frieden beendete den Dreißigjährigen Krieg und damit einen der furchtbarsten Religionskriege, den die Welt je gesehen hat. Zumindest dem konfessionell zerrissenen Deutschland hatte dieser Krieg einen schreck­lichen Blutzoll abverlangt. Bis zu ein Drittel seiner Bevölkerung wurde in Kriegswirren, durch Seuchen und Hungersnot ausgelöscht. Die Brutalität und Grausamkeit, mit der eine enthemmte Soldateska über das Land zog, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis unserer Na­tion geschrieben. Katho­lische Liga und Protestantische Union versündigten sich gegenüber der Bevölkerung, intervenierende Nachbarstaaten ließen den Krieg immer wieder auflodern. Dieser Krieg der beiden christ­lichen Konfessionen kannte kein Pardon und ließ sich in seiner Wucht über dreißig lange Jahre nicht aufhalten. Erst als die Erschöpfung der kriegführenden Mächte erreicht war, konnte ein Kompromiss gefunden werden, dessen Dauerhaftigkeit allerdings bemerkenswert ist. In Münster und Osnabrück wurde die Grundlage für das zunehmend konfliktfreie Nebeneinander der Konfessionen gelegt, auf dem Europa erst wachsen konnte. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges war allen Beteiligten klar, dass sich eine Einheit im Glauben nicht militärisch oder durch Gewalt erzwingen lässt.

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Uns Europäer hat das Aushalten eines Nebeneinanders verschiedener Auslegungen und Tradi­tionen des Christentums viel abverlangt und das Erlernen dieser Hinnahme der Vielfalt viel Kraft gekostet. Ungezählt viele Menschen haben unseren Kontinent verlassen, weil man ihre Form des Bekenntnisses nicht als gleichwertig anerkennen wollte. Menschen wurden als Ketzer verurteilt und grausam hingerichtet. Vom Schicksal der anderen europäischen Religion, des Judentums, ist dabei noch kein Wort berichtet. Die lange Geschichte von Intoleranz, aber auch von gegenseitiger Befruchtung und gelungener Koexistenz, schließ­lich der schreck­lichen Gewalt der Shoah ist ein ganz eigenes Kapitel europäischer Identität. Europa hat, das müssen wir festhalten, seine Vielfalt nicht immer als Gewinn erlebt. Gerade die Konkurrenz der Bekenntnisse und die religiöse Intoleranz hat uns Europäer in die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte geführt. Ohne Frage aber ist ein Hinnehmen der Vielfalt der Glaubensbekenntnisse ein wesent­licher Bestandteil der heute gewachsenen europäischen Identität, der aufgeklärten kulturellen Tradi­tion unseres Kontinents, geworden. Und gerade auf dieser Grundlage baut der Einsatz für ein aus meiner Sicht wesent­liches Menschenrecht auf: das Menschenrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit. Wenngleich die Erkenntnis, dass dem Menschen sein Bekenntnis heilig und ureigen ist, dass man es nicht gewaltsam ändern oder in der Ausübung behindern darf, alles andere als eine exklusiv europäische Erkenntnis ist, so zählt sie doch zu den hart erkämpften Errungenschaften unserer europäischen Zivilisa­tion. Dieses Recht wurde als Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von den Vereinten Na­tionen in den Grundrechtekatalog der Menschheit aufgenommen. Nach der Barbarei des Zweiten Weltkriegs teilten die Völker der Welt die Überzeugung, dass es der Bekräftigung der Zivilisa­tion bedurfte; die Allgemeine Erklärung war ein machtvoller und selbstbewusster Akt in ­diesem Geist. Die Beschlussfassung in Genf sah keine Gegenstimmen – wenngleich sich einige wenige Staaten der Stimme enthielten. Die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschriebenen Werte und Rechte sind also keinesfalls der Ausdruck einer exklusiven europäischen oder abendländischen Perspektive. Selbst der Nahe Osten zog – trotz der heute so schwierigen interreligiösen Verhältnisse dort – ebenfalls viel Kraft aus dem Nebeneinander der Religionen, Konfessionen und Kulturen. In noch entfernteren Weltgegenden, also auch jenseits des Entstehungsraums der drei großen monotheistischen Religionen, wirkt das Nebeneinander verschiedener Bekenntnisse ebenfalls häufig befruchtend. Dass es hingegen zahlreiche Versuche gibt und gab, den in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschriebenen Glauben an die unbedingte Würde jedes Einzelnen zugunsten kollektiver Ideen und Systeme zu relativieren, wie etwa des Kommunismus oder des Na­tionalismus, bricht keinesfalls deren Verbind­lichkeit. Im Gegenteil: Wir können klar sehen, dass alle bisherigen

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Herausforderungen der Idee einer von allen Menschen geteilten und gleichen, verbind­lich beschriebenen Menschenwürde von der Weltgemeinschaft überwunden wurden. Die Prinzipien mögen in Europa gereift sein, sie sind aber ein Erbe der Menschheit an sich – es verwundert also nicht, dass nahezu alle Staaten der Welt sie mehrfach, als Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder im Pakt der bürger­lichen und politischen Rechte, gezeichnet und ratifiziert haben. Ganz deut­lich muss gesagt sein, dass ein Zusammenleben der Menschen unterschied­ lichster Hintergründe und Tradi­tionen nur gelingen kann, wenn es durch ein verbind­liches, für alle geltendes Rechtssystem garantiert und geschützt wird. Es kann keine unterschied­lichen Menschenrechte für unterschied­liche Kulturen geben, denn spätestens im Kontakt und Austausch der Völker und Kulturen, der Religionen und Kontinente, muss es Regeln geben, die für alle verbind­lich sind. Selbst wenn wir Europäer aufgrund des Glücks der bereits errungenen Freiheit wie wenige andere auf der Welt in der Lage sind, die Gültigkeit der Menschenrechte zu bekräftigen und zu verteidigen, so ändert dies nichts an ihrer Universalität und Unteilbarkeit. Es geht nicht um europäische Ideen, sondern um universelle Rechte. Seit einiger Zeit schon lässt sich bedauer­licherweise eine Entwicklung beobachten und eindeutig beschreiben, die ich als eine dunkle und anwachsende Herausforderung der Idee der Menschenrechte an sich benennen möchte, für die wir noch keine Lösung absehen können. Diese Tendenz der sich verstärkenden Eingriffe in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, die unsere Welt fundamental zu verändern beginnt, wird anders als noch vor zehn Jahren nicht mehr bestritten. Belegt wird sie etwa von den großen Menschenrechtsorganisa­tionen, die zunehmende Verletzungen des Rechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit verzeichnen. Die mittlerweile zu Verfügung stehenden Indikatoren für den Grad der Gewährung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, wie etwa die Studien des renommierten Pew-­Forschungsinstitutes, beschreiben die Soziologie der Entwicklung. Sie zeichnen nach, wie der Anteil der Länder auf der Welt mit einem hohen oder sehr hohen Grad gesellschaft­licher Gewalt aus religiösen Gründen stetig ansteigt. Ein Trend lässt sich belegen, der sich schon seit Jahren statistisch niederschlägt: 2012 wurden bereits in einem Drittel der 198 untersuchten Staaten und Territorien religiöse Spannungen auf hohem Stand verzeichnet, während dies 2007 ledig­lich bei einem Fünftel der Länder der Fall war. Am dramatischsten war der Anstieg im Nahen Osten und Nordafrika. 2013 haben die beiden großen ­Kirchen in Deutschland eine ökumenische Studie vorgelegt, die die großen Auswirkungen der Einschränkung der Religionsfreiheit auch und gerade für Christen aufzeigt, ohne dabei über die Betroffenen anderer Religionen hinwegzusehen. Alle Religionen sind von einer wachsenden Intoleranz und einer zunehmenden Bereitschaft zur Gewaltanwendung betroffen. Und doch sehen wir, dass

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auch und gerade Christen, die in den meisten Staaten der Welt Zuhause sind, Diskriminierung, Schikanen und Bedrängnis bis hin zu Verfolgung ausgesetzt sind. Aus dieser Tatsache ziehe ich die Erkenntnis, dass gerade Christen dazu aufgerufen sind, die Missstände zu benennen, die ihre Glaubensgeschwister betreffen – ganz nach dem Pauluswort, das die Christenheit als einen Leib mit vielen Gliedern beschreibt. Gleichzeitig dürfen wir dabei nicht vergessen, dass viele Menschen aller Religionen unter der Missachtung ihres Menschenrechts leiden. Ausdrück­lich gilt unser Engagement der Bekräftigung des Menschenrechts an sich. Die Entwicklung seiner zunehmenden Missachtung ist nur schwer in Zahlen zu fassen, da auch die Formen der Intoleranz wechseln und sie schwer voneinander abzugrenzen sind – oft wirken verschiedene Faktoren gleichzeitig, wie staat­liche Verordnungen und gesellschaft­liche Zwänge. Ein freies Bekenntnis, etwa der Religionswechsel, oder eine gleichberechtigte gesellschaft­liche Teilhabe sind Christen so oft nicht mög­lich. Hier geht es, das möchte ich betonen, nicht um die Fragen, ob sich christ­liche Speisevorschriften, Lehrbücher oder ­­Zeichen des Bekenntnisses in staat­lichen Institu­tionen oder gar dem öffent­lichen Raum durchsetzen oder zumindest gewähren lassen. Diese Fragen der positiven Religionsfreiheit, also des Einräumens von Rechten für einzelne Bekenntnisse, stellen sich in vielen Staaten der Welt nicht für Christen. Als Minderheit haben sie vielmehr oft Mühe, überhaupt die staatsbürger­lichen Grundrechte wie Zugang zu Bildungseinrichtungen, zur öffent­lichen Verwaltung oder eine angemessene Berücksichtigung bei der humanitären Hilfe zu erreichen. Ganz anders als wir uns das zur Zeitenwende, die das Ende des Kalten Krieges bedeutete, gewünscht und vorgestellt haben, bringt die neue Verfassung der Welt nicht überall mehr Freiheit für die Menschheit mit sich. Im Gegenteil – gerade eines der persön­lichsten Menschenrechte, das Recht auf ein eigenes, selbstgewähltes und praktisch ausgeübtes Bekenntnis zu einer Religion gerät zunehmend unter Druck. Wir müssen vermehrt Fälle von Diskriminierung, gesellschaft­licher Benachteiligung und individuellem Terror, von Vertreibung und Verfolgung verzeichnen. Angehörige aller Religionen sind hier betroffen, und zwar insbesondere, wenn sie einer sich radikalisierenden Umwelt im Wege sehen, wie wir es im Nahen Osten beobachten müssen. Es handelt sich hierbei, das sei klar gesagt, um eine grundlegende neue Herausforderung für die Weltgemeinschaft. Diese Entwicklung muss uns doppelt erschrecken – zum einen angesichts der immer brutaleren Mittel und Methoden: Versklavung, Kindesraub oder gar die Kreuzigung, Erinnerungen an finstere Zeiten, begegnen uns in aller Widerwärtigkeit in der Moderne, in Zeiten des Internets und der Globalisierung. Wer hätte das für mög­lich halten wollen? Zum anderen, weil diese schreck­lichen Mittel und Auswüchse eingesetzt werden, um Menschen in ihrem persön­lichsten Recht, in ihrer intimsten Sphäre zu treffen. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit schützt

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den Persön­lichkeitskern eines jeden Menschen. Diese Grundüberzeugungen gewaltsam anzugehen, sie durch externen Zwang bis hin zur Auslöschung der Person ändern zu wollen, erscheint zugleich absurd und zutiefst unmenschlich. Und doch müssen wir uns den Tatsachen stellen. Einige Beispiele erläutern das Ausmaß des Problems. Ohne Frage stellt sich die Situa­tion in Nordkorea auch vor dem Hintergrund der sich allgemein verschlechternden Lage als schreck­ licher Höhepunkt einer Missachtung der Religionsfreiheit dar. Die wenigen Informa­tionen, die uns aus dem abgeschotteten Land erreichen, belegen die Existenz von Konzentra­tionslagern, die ganz offenbar das Ziel einer Vernichtung von Andersdenkenden verfolgen. Insbesondere Christen werden hier zu Opfern eines rücksichtslosen und totalitären Anspruchs auf Herrschaft, der keine anderen Instanzen neben sich gelten lassen will – selbst wenn sie nicht von dieser Welt sind. Ein Bekenntnis zum Christentum ist in Nordkorea lebensgefähr­lich. Auch in zerrütteten Staaten wie dem Irak oder Somalia, wie Syrien, Nigeria oder Afghanistan, in denen die Zentralregierung sich nicht durchsetzen kann oder in denen es faktisch keine Staatsmacht mehr gibt, müssen wir immer öfter religiös motivierte Gewalt bis hin zu brutalen Terrorakten zur Kenntnis nehmen. Gerade in Anschlägen und Überfällen auf Orte der Anbetung, auf Moscheen oder ­Kirchen zeigt sich oft eine für uns unfassbare Brutalität und Menschenverachtung. Die jüngste Geschichte etwa des Irak ist voll solcher Beispiele, wie etwa 2006 die Zerstörung der Goldenen Moschee von Samarra, einem der wichtigsten schiitischen Heiligtümer. Vielen ist noch der Angriff auf die syrisch-­katho­ lische Kathedrale Sayidat-­al-­Nejat im Oktober 2010 in Bagdad in Erinnerung. Während der Abendmesse wurde die K ­ irche von Terroristen gestürmt und die Gläubigen als Geiseln genommen. 68 Menschen kamen bei ­diesem Angriff und der anschließenden Befreiung durch irakische Sicherheitskräfte ums Leben. Der sogenannte Islamische Staat (IS) im Irak erklärte im Zusammenhang mit ­diesem Anschlag, die Christen „ausrotten“ und „vertreiben“ zu wollen. Christ­liche Organisa­tionen, ihre Oberhirten und Anhänger s­ eien legitime Ziele. Wenngleich wenige Beobachter das damals ernst nehmen wollten, vollzog die Terrorgruppe ­dieses Programm in vollem Ausmaß. Als der IS die nordirakische Stadt Mossul im Juni 2014 eroberte, stellte er die dort verbliebenen Christen vor die Wahl, zu konvertieren, eine Sondersteuer zu entrichten oder zu fliehen. Mittlerweile ist Mossul nach einer fast 2000 Jahre andauernden Geschichte christenfrei. Bischofssitze wurden geplündert und altehrwürdige ­Kirchen in Warenlager umfunk­tioniert. Die geflohenen christ­lichen Familien wurden enteignet, wer nicht floh, musste schließ­lich mit seiner Ermordung rechnen. In Nigeria werden ganze Ortschaften durch die radikale islamistische Miliz Boko Haram dem Erdboden gleichgemacht. Die Zahl der Entführungen und gezielten Tötungen geht in die Tausende. Die öffent­liche Ordnung in Teilen des Landes zerbricht, viele Christen sehen sich ohne jeden Schutz den Nachstellungen und Grausamkeiten einer mittelalter­lichen Ideologie ausgesetzt, die mit

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modernsten Waffen durchgesetzt wird. Die Welt sieht sich mit Erinnerungen an eine dunkle Zeit konfrontiert: Entführungen, Versklavungen, der Menschenhandel gehören ebenso in das Repertoire der Terroristen wie Enthauptungen und Zwangskonversionen. Diese Beispiele von brutaler Verfolgung gegen Andersgläubige, die häufig auch die moderaten Mitglieder der eigenen Glaubensrichtung einbezieht, sind erschreckend – gerade weil sie uns an Zeiten erinnern, die wir überwunden geglaubt haben. Sie überlagern ebenfalls die Wahrnehmung der zahlreichen Beispiele von Diskriminierung und Benachteiligung, die ebenso einen Bruch des Menschenrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit darstellen, selbst wenn sie subtiler und weniger krass erscheinen. In vielen Gesellschaften insbesondere des Nahen Ostens wird die Religionsfreiheit nicht vorrangig als individuelles Recht verstanden. Die staat­lich anerkannten Religionsgemeinschaften regeln den Personenstand ihrer Angehörigen, wie etwa den Familienstand oder das Erbrecht, nach ihren eigenen Regeln. Ein Religionswechsel ist schon deshalb deut­lich komplizierter als etwa in Europa, weil sich daraus Folgen für den Besitz, die Kindeserziehung oder die Familie an sich ergeben. Und: Er kann nur in den Islam hinein erfolgen. Konversionen aus dem Islam heraus ziehen heftige Reak­tionen aus dem familiären Umfeld des Konvertiten, aber auch aus der Gesellschaft insgesamt nach sich, die über den Verlust des Sorgerechts für Kinder, den Verlust des Erbanspruchs bis zu schweren Sank­tionen einschließ­lich körper­licher Gewalt reichen. Die staat­lichen Behörden, die die Religionszugehörigkeit in den Ausweispapieren vermerken, lassen eine Änderung oft nicht zu. Aus den Gruppenrechten auszubrechen kann lebensgefähr­lich werden, wie uns der Fall der jungen Sudanesin Mariam Yahia Ibrahim Ishag 2014 vor Augen geführt hat. Die junge Frau wurde wegen ihrer angeb­lichen Apostasie vom Islam zum Tode verurteilt. Ihr Vater, ein Moslem, hatte die Familie verlassen, als sie sechs Jahre alt war. Ihre ­Mutter, eine Christin, hatte sie christ­lich erzogen – nach den religiösen Gesetzen des Sudan galt sie aber als Muslima, die ihr Christentum nicht leben durfte. Sie verdankt ihre Freiheit dem interna­tionalen Protest über ihre Behandlung. Viele andere Fälle aber werden uns nicht bekannt. Auch die sogenannten Blasphemie-­Gesetze, wie sie in Pakistan und anderen islamisch geprägten Staaten entstanden sind, werden zunehmend genutzt, um den gesellschaft­lichen Druck durch ein staat­liches Eingreifen noch zu verschärfen. Das pakistanische Blasphemiegesetz, eingeführt von General Zia-­ul-­Haq, dem Regierungsoberhaupt von 1977 bis 1988, das die Todesstrafe für jeg­liche Verunglimpfung des Propheten des Islam zwingend vorschreibt (Artikel 295-C), ist ein wichtiger Grund für die Sorge der religiösen Minderheiten des Landes, aber auch für seine moderate muslimische Bevölkerung. Ahmadiyya-­Muslime und Christen etwa können leicht zu Opfern des Gesetzes werden, ohne sich wirksam davor ­schützen zu können. Zahlreiche Fälle der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass das Gesetz leicht dafür einzusetzen ist, um Menschen zu beseitigen.

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Der Vorwurf der Blasphemie alleine reicht vielfach aus, um öffent­liche und ungeregelte Gewalt hervorzurufen. Selbst wenn die Angeklagten die üb­lichen Gewaltausbrüche, die auch ihre Familien und Gemeinschaften mit einbeziehen, überleben, ist eine neutrale Prozessführung meist nicht zu erreichen. Der Fall der pakistanischen Christin Asia Bibi zeigt die Dimension der Beliebigkeit und Ungerechtigkeit auf, die sich aus diesen Gesetzen ergeben können. Sie wurde aufgrund des Vorwurfs, sie habe den Propheten Mohammed geschmäht, zum Tode verurteilt, obgleich es keinen gerichtsfesten Beweis für ein Vergehen gab. Angesichts des Risikos, dem sich auch die Justiz bei einem Freispruch aussetzt, befindet sich ihr Verfahren seit Jahren in der Schwebe, während Bibi inhaftiert bleibt. Selbst wenn der oberste pakistanische Gerichtshof einen Freispruch verfügen sollte, ist ihr Leben nicht mehr sicher. In den vergangenen Jahren sind bereits ein Minister und ein Gouverneur durch Extremisten ermordet worden, weil sie sich für eine Abschaffung des Blasphemieparagraphen ausgesprochen hatten. Dass in den extremen Situa­tionen, wie sie etwa in Teilen Nigerias oder in Pakistan, im Sudan und Nordkorea, in Teilen des Iraks oder Syriens herrschen, nicht von Religionsfreiheit gesprochen werden kann, liegt auf der Hand. Hier wird oft noch nicht einmal hingenommen, dass ein Mensch seinen Glauben privat lebt oder sich auf sein Recht auf Bekenntnisfreiheit beruft, das einen Glaubenswechsel einschließt. Diskriminierung und Benachteiligung nehmen weitere Formen an, die unterschwellig oder offen zu einer Bedrängnis und Einschränkung führen, die das religiöse Leben erschweren oder gar unterbinden – ob es nun Schulbücher sind, die Kindern ein von der Mehrheitsreligion geprägtes Bild vermitteln, wie in Saudi-­Arabien und sogar in der Türkei, oder ob es nur schwer zu erreichende Baugenehmigungen für K ­ irchen sind, wie in vielen islamisch geprägten Staaten der Welt. Auch in der staat­lichen Defini­tion, ­welche Religion legitim und zulässig ist, liegen viele Mög­lichkeiten, Religions­freiheit einzuschränken. Und doch ist sie, im Rahmen allgemeiner Gesetze ausgeübt, ein wesent­liches Menschenrecht. Gerade uns Europäern kommt es zu, auf Grundlage unserer Geschichte und Entwicklung, interna­tional wieder an die Grundsätze zu erinnern, die sich die Weltgemeinschaft selbst gegeben hat. Aufgrund unserer Erfahrungen haben wir eine besondere Verantwortung für die Umsetzung dieser Standards. Ich begrüße daher die Entwicklung, an deren Durchsetzung gerade die Schwesterparteien CDU und CSU in Deutschland seit einiger Zeit erfolgreich arbeiten, ein Eintreten für das Menschenrecht der Religionsfreiheit als Teil einer wertegebundenen Außenpolitik zu verstärken. Wie etwa Kanada oder die USA, die jeweils schon seit einigen Jahren eine interna­tional erkennbare Persön­lichkeit als Sonderbotschafter für diese Frage benennen, ist es angesichts der zunehmenden interreligiösen Gewalt und den damit verbundenen Folgen wie Vertreibung, Flucht und massenhaftem Mord von großer Bedeutung, an die Grundlagen eines fried­lichen Zusammenlebens zu erinnern und deren Einhaltung anzumahnen. Gerade die

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Freiheit des Bekenntnisses ist ein Indikator auch für andere Freiheitsrechte und die allgemeine Toleranz von Gesellschaften. Sie einzufordern ist ein unverzichtbarer Akt der Gerechtigkeit jedem Einzelnen gegenüber. Das Bekenntnis, sei es ein religiöses oder eine andere Überzeugung, ist alles andere als eine Privatsache. Die Toleranz gegenüber den unterschied­lichsten Überzeugungen, die sich wiederum in einem Hinnehmen der jeweils anderen Überzeugungen zu bewähren haben, ist die Grundlage jeden Zusammenlebens. Sie stellt einen Ausdruck eines wesent­lichen zivilisatorischen Fortschritts dar, auf den gerade wir Europäer stolz sein dürfen.

Afrikas Moderne und Europas Chance Horst Köhler

Kaum ein anderer Kontinent wird die Geschichte des 21. Jahrhunderts so sehr prägen wie Afrika – demographisch, ökolo­gisch und politisch. Schon heute ist Afrika der jüngste Weltteil der Erde. Die Hälfte der Afrikaner sind 18 Jahre oder jünger und bis zum Jahr 2050 wird sich die Bevölkerung auf über 2 Milliarden verdoppeln (jeder fünfte Mensch auf der Welt wird dann Afrikaner sein!). Geographisch ist Afrika der zweitgrößte Kontinent, dreimal so groß wie Europa. Er besitzt die größte zusammenhängende Regenwaldfläche der Erde und ist als CO 2-Speicher für das globale Ökosystem überlebenswichtig. Darüber hinaus befinden sich 60 Prozent des noch kultivierbaren Landes in Afrika, und aufgrund des Rohstoffreichtum und des weltweiten Hungers nach Erdöl, Uran und Edelmetallen wird seine geopolitische Bedeutung noch zunehmen. Zudem ist Afrika mittlerweile großes operatives Angriffsfeld des terroristischen Islamismus. Die Entwicklung d­ ieses Kontinents wird daher maßgeb­lich sein für die Entwicklung unserer Erde. Die Zukunft, die Lebensqualität und die Menschlichkeit unserer Welt entscheiden sich auch am Schicksal Afrikas. Deutsche und europäische Außenpolitik im 21. Jahrhundert zu gestalten, heißt daher auch, eine neue Politik gegenüber und gemeinsam mit Afrika zu wagen. Ein simples „business as usual“ wird diesen Herausforderungen und Mög­lichkeiten nicht gerecht. Die Ratlosigkeit und Kühle, mit der das politische Europa auf die Flüchtlinge reagiert, die weiterhin vor unseren Ufern den Tod finden, zeigt, dass wir weder die strate­ gische Gefahr noch die historische Chance begriffen haben, die in der Zukunft des afrikanischen Kontinentes liegt. Mit Europa ist Afrika geographisch als auch historisch in besonderer Weise verbunden. Der Aufstieg Afrikas bietet für Europa die größten Chancen, sein Scheitern birgt aber auch für uns unvorhersehbare Risiken. Dabei brauchen wir ein Bewusstsein, dass der rote Faden der Beziehungen ­zwischen Afrika und uns keiner der Partnerschaft ist, schon gar nicht der Freundschaft. Es ist ein roter Faden der Objektbehandlung. Vor genau 130 Jahren legte die unrühm­ liche Berliner Konferenz (1884/85) unter der Leitung von Otto von Bismarck die Grundlage für die Aufteilung Afrikas in Kolonien. Sie trug damit maßgeb­ lich bei zu einem Jahrhundert der europäischen Ausbeutung des Kontinents, zu brutalen Herrschaftssystemen und zu grausamen Völkermorden. Zum histo­ rischen Bewusstsein gehört auch die Erkenntnis, dass Afrika während des Kalten Krieges zum Spielball der großen Mächte gemacht wurde, um es nach seinem Ende dann brutal fallenzulassen. Sich der historischen Belastungen in den europäisch-­afrikanischen Beziehungen bewusst zu sein, bedeutet nicht, sich in

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Selbstgeißelung zu üben. Es geht dabei nicht um Schuld, schon gar nicht um plumpe Schuldzuweisung bei der Ursachenklärung aktueller Probleme. Es geht um die Ahnung, dass viele koloniale und post-­koloniale Einstellungen noch heute weiterbestehen, mal unbewusst schlummernd, mal schamlos offen. Und es geht um die Erkenntnis, dass eine politische Afrikastrategie im 21. Jahrhundert nur erfolgreich sein kann, wenn sie Afrika – trotz aller bestehenden Asymmetrien – als gleichberechtigen und selbstbestimmten Partner sieht. Eine grundsätz­liche Voraussetzung der modernen Afrikapolitik muss also eine Neujustierung unseres Verhältnisses zueinander sein, hin zu der viel zitierten, aber selten gelebten „Partnerschaft auf Augenhöhe“. Zwei Dinge sind hierfür zentral: Erstens muss Europa die Pluralität und Dynamik der afrikanischen Entwicklung anerkennen und zweitens müssen wir die Eigenverantwortung Afrikas end­lich ernstnehmen. Die erste Grundlage für eine künftige Partnerschaft auf Augenhöhe ist, dass Europa Afrika in all seiner Vielfalt und seinen Widersprüchen wahrnimmt. Der Kontinent umfasst riesige Flächenländer wie die Demokratische Republik Kongo und Zwergstaaten wie Burundi, ressourcenreiche Küstenländer und ressourcenarme Binnenstaaten, Länder inmitten der Wüste und Inseln inmitten des Ozeans. Die 20 Länder mit der größten ethnischen Diversität weltweit liegen ausnahmslos in Afrika. Kein Kontinent hat mehr Religionen, nirgendwo gibt es mehr Sprachen. Eine erfolgreiche Afrikapolitik verlangt daher, unsere bequemen K­lischees und Pauschalisierungen zu überwinden. Ein Mangel an Differenzierung in unserem Afrikabild mag dazu verleiten, aufgrund von zweistelligen Wachstumsraten in einigen Staaten allgemein vom „afrikanischen Wirtschaftswunder“ zu sprechen. Dabei wird jedoch übersehen, dass ein Großteil der afrikanischen Länder wirtschaft­lich weiterhin nicht boomt, sondern brachliegt. Ebenso falsch wie eine pauschale Afrika-­Euphorie ist eine pauschale Afrika-­Skepsis. Die Horrorszenen, die uns angesichts der Ebola-­Krise in Westafrika erreichten, fügen sich allzu reibungslos ein in die bekannte Bebilderung Afrikas als Kontinents der Krisen, Krankheiten und Konflikte und drängen die Erzählung von Afrika als Chancenkontinent im Handumdrehen wieder in den Hintergrund. Jede dieser Verallgemeinerungen verzerrt. Afrika entzieht sich jeder Absolutheit. Eine ernsthafte neue Afrikapolitik kann daher nur gelingen, wenn sie auf Differenzierung beruht und Raum lässt für Priorisierung in der Zusammenarbeit – sowohl länder- als auch sektorspezifisch. Für Deutschland kann das beispielsweise heißen, dass sich die politische Schwerpunktsetzung ebenso an der wirtschaft­lichen und politischen Bedeutung von Ländern orientiert wie auch an der Frage, ­welche Länder einen föderalen Aufbau haben und damit an einer Partnerschaft mit der Bundesrepublik besonders interessiert sein könnten. Übrigens haben die politischen Stiftungen, wie ich sie in Afrika kennengelernt habe, hier einen ganz besonderen Einblick und wertvolle Erfahrung, gerade auch die Konrad-­Adenauer-­Stiftung. Müssten wir d­ ieses Potenzial nicht

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noch viel mehr n­ utzen, sollten wir uns hiervon nicht noch klarere Impulse für eine differenzierende und priorisierende Afrikapolitik erwarten? Die Vielfalt der afrikanischen Länder anzuerkennen heißt darüber hinaus, zu verstehen, dass die afrikanische Zivilgesellschaft sich in einem geistigen und kulturellen Selbstfindungsprozess befindet. Dabei ist sie einer der wichtigsten Katalysatoren für den Wandel hin zu Rechtsstaat­lichkeit und Demokratie. Eine Afrikapolitik der Zukunft schließt daher mit ein, dass wir in Europa und Deutschland nicht nur mit afrikanischen Politikern sprechen, sondern auch mit den Künstlern und Aktivistinnen, den Landfrauen und den Ausgegrenzten. Wir sollten offener, wacher sein für Kunst, Kultur und Literatur aus afrikanischen Ländern. Daraus kann echtes Verständnis, Vertrauen und gegenseitige Bereicherung erwachsen, die eine strate­gische Zusammenarbeit nachhaltig machen. Eine zweite Grundlage für eine neue Partnerschaft mit Afrika sollte sein anzuerkennen, dass die Hauptverantwortung für die Zukunft des Kontinents bei den Afrikanern selbst liegt. Diese Eigenverantwortung zu betonen und einzufordern bedeutet nicht, die historische Schuld des Kolonialismus und des Ost-­West Konflikts zu verleugnen, sondern im Gegenteil die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und ein für alle Mal zu brechen mit Paternalismus, Überheb­lichkeit und Belehrungsattitüde. Dafür ist die erste Voraussetzung, dass das Gespräch über Afrika mit den Afrikanern selbst geführt werden muss. Afrikanische Perspektiven und Erwartungen sind in den Debatten in Europa oft seltsam abwesend. Eigenverantwortung oder „Ownership“ dürfen dabei nicht als Ausrede für europäische Gleichgültigkeit missbraucht werden, sondern müssen vielmehr Ausgangspunkt für einen echten Dialog sein und als Maßstab für das eigene Handeln gelten. Afrikanische Eigenverantwortung ernst zu nehmen, bedeutet, unsere Zusammenarbeit und Unterstützung nicht an den Prioritäten der Partner vorbei zu organisieren. Es bedeutet, tatsäch­lich zuzuhören und afrikanische Lösungen ernst zu nehmen. Nach einer Vergangenheit europäischer Habgier braucht Afrika jetzt eine Zukunft europäischer Neugier. Für die konkrete Politik gibt es Handlungsbedarf vor allem auf zwei Ebenen: Zum einen müssen wir uns interna­tional dafür einsetzen, eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, die es den afrikanischen Na­tionen erlaubt, ihre Potenziale zu verwirk­ lichen. Zum anderen ist in der konkreten Zusammenarbeit essen­tiell, gezielter als bisher dort zu investieren, wo wir gute Erfahrungen beisteuern können. Afrika zu unterstützen bedeutet zunächst, sich für interna­tionale Rahmenbedingungen einzusetzen, die die wirtschaft­liche und politische Transforma­tion des Kontinents fördern anstatt sie zu behindern. Der arabische Frühling war nicht zuletzt ein Aufschrei der Jugend gegen eine chancenraubende wirtschaft­liche Stagna­tion, die ihre Ursache auch in den Rahmenbedingungen für Entwicklung hat, ­welche gerade auch Europa entscheidend mitprägt. Was hat sich, jenseits von Sonntagsreden über Freiheit und Demokratie in Nordafrika, denn in der europäischen Wirtschaftspolitik seitdem konkret geändert? Unser derzeitiges

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Produk­tions- und Konsumsystem basiert häufig auf der Externalisierung der sozialen und ökolo­gischen Kosten nach Afrika und unser Beitrag zum Klimawandel trifft Afrika am stärksten. Nachhaltige Entwicklung in Afrika zu fördern heißt daher beispielsweise, dass unsere Energiepolitik eine globale Perspektive einnehmen sollte; oder dass wir Umweltstandards end­lich ernst nehmen und ökolo­ gisch verträg­liche, überprüfbare Lieferketten entwickeln. Europa sollte zudem zu einem glaubwürdigen Fürsprecher für die Schaffung eines entwicklungsfreund­ lichen interna­tionalen Handelssystems werden. Dazu gehört auch der mutige und komplette Abbau unserer Agrarsubven­tionen. Ebenso sollte Europa positiv auf die Forderung der Afrikaner reagieren, mehr Stimmrechte in den interna­ tionalen Finanzinstitu­tionen zu bekommen. Schließ­lich muss Europa seinen Einfluss geltend machen, um das interna­tionale Finanzsystem so umzubauen, dass Afrika Zugang zu langfristigen Finanzierungsmitteln erhält, anstatt unter immensen illegalen Kapitalabflüssen zu leiden. Selbst Korrup­tionsbekämpfung ist in unserer vernetzten Welt keine Einbahnstraße mehr: Korrup­tion in Afrika trägt auch das Gesicht west­licher Konzernvertreter und die Nummer europäischer Bankkonten. Eine Afrikapolitik der Zukunft muss also miteinschließen, end­lich das interna­tionale Finanzsystem in Ordnung zu bringen und Steueroasen auszutrocknen. Darüber hinaus verlangt eine moderne Afrikapolitik auch eine Umorientierung auf der Ebene der konkreten Zusammenarbeit in der Entwicklungs-, Wirtschafts-, und Sicherheitspolitik vor Ort. Das Bevölkerungswachstum und insbesondere das Aufkommen einer historisch einmaligen „youth bulge“ sind die größten Herausforderungen für die politische Stabilität und Entwicklung in Afrika. Um sie zu bestehen, muss vor allem der Bildungssektor als Grundlage für wirtschaft­liche Entwicklung neue Aufmerksamkeit in der Zusammenarbeit erfahren. Dies betrifft insbesondere die sekundäre und tertiäre Bildung. Ein Gemeinschaftswerk der deutschen Wirtschaft für Berufsbildung in Entwicklungsländern mit dem Schwerpunkt Afrika wäre nicht nur ein ganz wesent­licher Beitrag zur Stärkung des Wachstums in Afrika, sondern auch eine langfristige Investi­tion für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Dies könnte ergänzt werden durch Forschungszusammenarbeit, Technologietransfer sowie qualitativ und quantitativ ansprechende Austauschprogramme ­zwischen Afrika und Europa auf allen Stufen des Bildungsprozesses. Gleichzeitig hilft aber auch die beste Bildung nichts, wenn es keine Arbeitsplätze gibt. Diese Herausforderung zu bestehen, verlangt daher vor allem stetiges, arbeitsplatzschaffendes Wirtschaftswachstum. Die wirtschaft­lichen Potenziale dafür sind in Afrika zweifelsfrei vorhanden. Sie zu entwickeln bedarf den Ausbau der Infrastruktur, die Entwicklung eines leistungsfähigen privaten Sektors und die rasche Diversifizierung der Wirtschaft. Hier kann Afrika auf guten Fortschritt in den letzten 15 Jahren aufbauen. Noch nie zuvor war die wirtschaft­liche Entwicklung so stark vom Privatsektor getrieben. Deutschland sollte sich nicht scheuen, die Idee

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der Sozialen Marktwirtschaft in Afrika offensiv zu vertreten, allerdings immer unter der Prämisse, dass die Afrikaner ihre eigene Ausprägung einer inklusiven Wirtschaftsordnung finden müssen. Die deutsche mittelständische Wirtschaft, mit ihrem sozial verantwort­lichen und lokal verwurzelten Unternehmertum, gilt in Afrika weithin als vorbild­lich. Dies sollte von Politik und Wirtschaft in Deutschland noch stärker in konkreten Dialog- und Koopera­tionsprojekten aufgegriffen werden. Deutsches Know-­how in Verbindung mit afrikanischem Unternehmergeist setzen bereits heute in vielen afrikanischen Ländern entscheidenden Entwicklungsimpulse. Ein realistischer Blick über wirtschaft­liche Zusammenarbeit und Entwicklung hinaus darf aber auch nicht vergessen, dass Afrikapolitik im 21. Jahrhundert auch eine stärkere sicherheitspolitische Zusammenarbeit bedeutet. In Zeiten, in denen das schiere Ausmaß und die Komplexität der weltpolitischen Probleme immer unüberschaubarer scheinen und sicherheitspolitische Gefahren bis tief nach Europa hineinragen, drohen gerade afrikanische Konflikte aus unserem Bewusstsein gedrängt zu werden. Dabei ist Friede in Afrika nicht nur eine zentrale Voraussetzung für jede wirtschaft­liche und politische Entwicklung, er liegt auch im dringenden und ureigenen europäischen Interesse. Klar ist: Militärischen Interven­tionen in Afrika müssen am Ende, nicht am Anfang von Sicherheitspolitik stehen. Auf der Ebene der Afrikanischen Union (AU) ist der geeignete politische Ansatzpunkt hierfür die Unterstützung der afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur, insbesondere die Zusammenarbeit mit dem kontinentalen Frühwarnsystem und dem Friedens- und Sicherheitsrat der AU . Als erstmalige Institu­tionalisierung der „responsibility to protect“ hat dieser einen vielversprechenden Ansatz, der aufgegriffen und unterstützt werden sollte. Gleichzeitig mit der Unterstützung der afrikanischen Sicherheitsarchitektur muss auch eine Fortentwicklung in Europa selbst stattfinden. Gerade im Verhältnis zu Afrika werden die mangelhaften Fortschritte einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sichtbar. Europa muss trotz aller Selbstfindung und Krisenbekämpfung wieder zurückfinden zu einer positiven Politik der Zugewandheit zur Welt. Die Beziehungen zu den afrikanischen Na­tionen sind dafür ein Maßstab. Einige unserer größten Herausforderungen werden sich an der Frage entscheiden, ob es unseren Nachbarn in den nächsten Jahren gelingt, den Weg in eine afrikanische Moderne weiter zu beschreiten. Diesen Weg konstruktiv zu begleiten – mutig, kritisch und geduldig – ist von essenzieller Bedeutung auch für eine gute Zukunft Europas.

Die EU und die Kultur der Minderheiten Ludger Kühnhardt

I. Die in der EU vorherrschende politische Kultur ist von charakteristischen Minderheitenreflexen geprägt – und genau daraus erwächst die Handlungsstärke der Europäischen Union. Diese pointierte und paradoxe Feststellung bezieht sich nicht auf die vielfältigsten Nichtregierungsorganisa­tionen, die um Sympathie, um irgendwelche Rechte oder die Verhinderung irgendeiner Sache buhlen. Es geht um die politischen Kernstrukturen der EU selbst, in denen der Geist des Minderheitengefühls vorherrscht: Es gibt kein Organ der Europäischen Union, das allein auf sich gestellt, also als Minderheit, nicht handlungsunfähig wäre. Es gibt keinen Mitgliedsstaat, der nicht allein auf sich gestellt eine Minderheit in der EU wäre. Es gibt keine politische Partei in der EU, die nicht als Minderheit entscheidungsunfähig wäre, würde sie sich nicht mit anderen zu Koali­tionen zusammenschließen. Entschieden wird in der EU im Konsens und im Modus der Großen Koali­tion, weil die Europäische Union die strukturelle Ansammlung von Minderheiten ist. Nur gemeinsam, in einem wie auch immer gearteten Verbund mit anderen – anderen Institu­tionen, anderen Staaten, anderen Parteien – können in der EU Entscheidungen getroffen werden. Und selbst noch das Bonmot, dass Entscheidungen dann gut s­ eien, wenn die Enttäuschungen gleichmäßig verteilt sind, verweist darauf: Die EU ist die Inkarna­tion einer Minderheitenstruktur. Und das ist gut so, denn es ist Ausdruck der beabsichtigten spezifischen politischen Kultur, die den früheren Zeiten dominanzgeleiteter Hegemonialansprüche in Europa entgegengestellt worden ist. Die EU ist der Triumph des Minderheitenprinzips. Jedenfalls hat sie diese Form der politischen Kultur zum Leitbild ihres Handlungsablaufs erhoben – und damit die klas­sische Demokratietheorie um eine spezifisch EU-bezogene Note erweitert, europäisiert. In der klas­sischen Demokratietheorie – deren Referenzpunkt stets der einzelne, leid­lich autarke Staat war, von der antiken polis bis zum modernen Flächenstaat – geht es um Dezision, um Entscheiden und Handeln, um Mehrheitsinteressen und darum, wie Mehrheiten den Auftrag gestalten, über den sie verfügen. Es geht darum, auf legitime Weise dominieren zu wollen. In Diktaturen wiederum herrscht das Prinzip der Minderheit, aber immer auf Kosten aller anderen, das heißt potentieller Mehrheiten, die sich indessen nicht zu einem wirkungsvollen Akt der Freiheit der Mehrheit aufbäumen können, weil die perfiden, aber durchaus wirkungsvollen Mechanismen der Diktatur dies verhindern. Die

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Europäische Union ist nicht nur die Ansammlung von Minderheiten – im Verhältnis zur jeweiligen Gesamtzahl der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, aber auch im Verhältnis zur jeweiligen Gesamtzahl der Mitgliedsstaaten –, die sich zusammenzuraufen suchen. Die politische Kultur der Europäischen Union ist a priori und explizit so gewollt mit dem Werkzeugkasten der psycholo­gischen Reflexe ausgestattet, die für das Verhalten von Minderheiten gelten, ihnen Halt und Sicherheit geben: sich akkommodieren, Kompromisse eingehen, vom anderen her denken, sich selber klein machen, um nicht anzuecken. Die EU ist ein Minderheitenkonstrukt und damit auf dem Weg, neue, auf die Europäische Union hin bezogene Begriffe des Politischen zu formen: inklusiv, kooperativ, konsensualistisch – was häufig gescholten wird als Inbegriff schwerfälliger und bürokratischer Entscheidungsabläufe, ist in Wirk­lichkeit das Geheimrezept des Erfolgs der EU. Byzantinismus einmal nicht als Schimpfwort, sondern sogar als eine Tugend verstanden – das zweifellos erklärungsbedürftige Konzept der EU macht die EU unweiger­lich zu einem natür­lichen Verbündeten aller Minderheiten dieser Welt.

II. Zum eingeübten Wesen der Demokratien gehört das Mehrheitsprinzip. Nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit soll entscheiden, lautet das klas­sische Diktum des konstitu­tionell gebändigten Verfassungsstaates, der die Gleichheit der Menschen und die Handlungsfähigkeit seiner politischen Institu­tionen miteinander verbindet. Der Schutz der Minderheiten hat sich hinzugesellt zur Trias einer konstitu­tionell gebundenen, legitimen und zugleich effektiven staat­lichen Ordnung. Es ist der Schutz der Rechte des Einzelnen, der staat­liche Herrschaft begründet. Und es ist der Schutz von Minderheiten, die den Einzelnen nicht isoliert stehen lässt gegenüber Mehrheiten, zumal gegenüber machtvollen und numerisch großen Mehrheiten. Historisch betrachtet, stand am Anfang der europäischen Verfassungsgeschichte die Zurückdrängung des Absolutheitsanspruchs durch Rechtsregeln, die Gruppen ­schützen und mit ihnen den Einzelnen (Magna Charta 1215). Es folgte eine doppelte Entwicklung, die bis in die Neuzeit anhielt: Der Ausbau des parlamentarischen Regierungssystems mit seinem Recht zur legitimen Herrschaftsausübung einerseits; die Stärkung und sukzessive Weiterentwicklung der Menschen- und Grundrechte des Einzelnen, die zu s­ chützen oberster Auftrag des Staates und seiner Ordnungsstrukturen sind, andererseits. Erst zuletzt entwickelte sich die dritte heute weithin akzeptierte Dimension des Demokratiekonzepts, der Minderheitenbegriff und der mit ihm verbundene Gedanke des Minderheitenschutzes. Der Minderheitenbegriff setzte na­tionalstaat­liche Verfasstheit voraus, um sich zu einem eigenständigen Rechtsbegriff zu entwickeln, der Eingang in das Völkerrecht fand. Am Anfang war das Vaterland.

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Die Erfordernis, Minderheiten zu einem Gegenstand des Völkerrechts zu erheben, setzte auch die Erkenntnis voraus, dass in bestehenden Staaten minoritäre Gruppen – das heißt in der Minderzahl befind­liche Menschengruppen – aufgrund ihrer Sprache, Religion, Ethnie oder Kultur durch die Mehrheitsbevölkerung diskriminiert werden und in besonderer Weise geschützt werden müssen. Erstmals wurde dieser Grundsatz in der Schlussakte des Wiener Kongresses 1815 völkerrechtswirksam: die polnischen Minderheiten in Preußen, Österreich und Russland wurden als ­solche unter einen besonderen Schutz innerhalb dieser drei Großstaaten gestellt. In den Friedensverträgen nach Ende des ­Ersten Weltkriegs wurde das System des Minderheitenschutzes entschieden erweitert: Die Pariser Vorortverträge (Versailles, Trianon, Sèvres, Neuilly) statuierten Minderheitenrechte, da die verschiedenen Grenzveränderungen in Europa es erforder­lich gemacht hatten, kulturelle, sprach­liche und teilweise auch politische Rechte von na­tionalen Minderheiten zu ­schützen. Im Zentrum stand zumeist die Frage nach der öffent­lichen Nutzungsmög­lichkeit der Muttersprache, sei es in der Schule oder beim Umgang mit Behörden. Die Frage gemeinschaft­lich ausgeübter kultureller und politischer Rechte wurde ebenfalls aufgenommen. Der Minderheitenschutz scheiterte indessen in den meisten Fällen daran, dass die Staaten mit einer Mehrheitsbevölkerung im ­­Zeichen der vorherrschenden na­tionalistischen Gesinnung restriktiv gegenüber ihren jeweiligen Minderheiten blieben oder diese sogar konsequent ausgrenzten und verfolgten. Das Diskriminierungsverbot gegenüber Minderheiten fand schließ­lich auch Eingang in die nach dem Zweiten Weltkrieg geschlossenen Verträge, blieb aber weiterhin nur sehr begrenzt wirksam im durch den Ost-­West-­Konflikt geteilten Europa. Im weltweiten Kontext suchten nach dem Zweiten Weltkrieg die neu gegründeten Vereinten Na­tionen den Schutz na­tionaler, sprach­licher und kultureller Minderheiten durch eine konsequente Weiterentwicklung des individuellen Menschenrechtsschutzes zu garantieren. In d­ iesem Geiste wurde 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert: Wo die Grundrechte eines jeden Menschen geschützt sind, sind auch die Rechte von Bevölkerungsgruppen geschützt. Der Ost-­West-­Konflikt verlief parallel zur globalen Ausbreitung des Konstruktes „Na­tionalstaat“ im ­­Zeichen der Dekolonialisierung. Fast überall auf der Welt stellte sich fortan ein ähn­liches Problem: die Bekämpfung der Diskriminierung von Ethnien, Sprach-, Kultur- und Religionsgruppen. Vaterland und Muttersprache standen nicht immer fried­lich beieinander; gelegent­lich wurden sie gar zu verfeindeten Rivalen. Der Pakt über bürger­liche und politische Rechte, den die Vereinten Na­tionen 1966 verkündeten, erklärte den Gebrauch und Schutz der eigenen Sprache, sowie der Religion und Kultur von Minderheiten zu einem schutzwürdigen Menschenrecht. Ausgehend von west­lichen intellektuellen Diskussionen und soziolo­gischen Entwicklungen wurde im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Minderheitenbegriff über seine politische und kulturelle Dimension als

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Schutzschild im Na­tionalstaat hinaus erweitert. Er umfasste zunehmend die Anliegen gesellschaft­licher Minderheiten, die sich in Abgrenzung gegenüber der Identität und Lebensweise von Mehrheiten als schutzbedürftig ansehen und als ­solche in ihrer Rechtsstellung gestärkt werden wollen. Fragen der sexuellen Identität von Menschen wurden zum besonders leidenschaft­lich diskutierten Thema in den meisten west­lichen Ländern. Kontroversen – vor allem um den Familienbegriff – konzentrierten sich dabei auf die Frage nach dem Verhältnis von Einzelrechten im Sinne des Nichtdiskriminierungsgebotes gegenüber Gruppenrechten im Sinne von Gleichstellungsansprüchen gegenüber der Mehrheitsorientierung in einer Gesellschaft. In außerwest­lichen Kulturen wurden und werden diese Diskussionen teilweise sehr anders geführt. Die Frage des politischen Minderheitenschutzes gewann im Kontext des durch den Ost-­West-­Konflikt geteilten Europa erstmals im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) an Bedeutung und behielt diese Bedeutung auch über die Beendigung des Ost-­West-­Konfliktes hinaus („Kopenhagener Abschlussdokument über die menschliche Dimension“ 1990). Minderheitenkonflikte in Osteuropa, aber auch regionalistische Bewegungen in den Ländern der EU zeigten, dass das klas­sische politische Minderheitenthema im Sinne na­tionaler Minderheiten in Europa keineswegs überwunden war. Seit den neunziger Jahren befasst sich auch der Europarat zunehmend mit Minderheitenfragen („Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“, 1992; „Rahmenübereinkommen zum Schutz na­tionaler Minderheiten“, 1995). Den Beschlüssen von KSZE und Europarat mangelte und mangelt es an verbind­ lichen Sank­tionsmechanismen, die im Konfliktfalle zur Anwendung der Minderheitenschutzregeln herangezogen werden könnten. In Europa werden mehr als dreihundert Volksgruppen gezählt (bei heute 47 Staaten, die Mitglied des Europarates sind). Diesen Volksgruppen gehören über einhundert Millionen Menschen an, woraus folgert, dass fast jeder siebte Europäer (wenn man Russen und Türken zu Europa rechnet, dazu die Kaukasus-­Völker in den Staaten, die dem Europarat angehören) einer Volksgruppe angehört, aber nur 47 Völker ihren eigenen Staat haben. Die Mehrheit der Volksgruppen im heutigen Europa ist in Mitteleuropa und in Osteuropa angesiedelt, den klas­sischen Räumen der Kulturna­tionen. Aber auch Staatsna­tionen wie Frankreich, Großbritannien oder Spanien haben immer wieder Bedenken angemeldet, Rechte von Minderheiten zu akzeptieren, die ihrem unitaristischen Verständnis von Staat und Na­tion zuwiderlaufen. Die Probleme in Schottland und Katalonien, aber auch in Nordirland und auf Korsika liefern Anschauungsmaterial. In föderalen Staaten wiederum (Deutschland beispielsweise in Bezug auf Sorben und Friesen) wird immer wieder ein Konfliktpotenzial festgestellt ­zwischen dem Gleichheitsgrundsatz, der auch für Minderheiten gilt, und den spezifischen Schutzforderungen von einheimischen Minderheiten.

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III. Der Vertrag von Lissabon der Europäischen Union definiert den normativen Auftrag der Europäischen Union: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaat­lichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließ­lich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ (Artikel 2) Diese dezidierte Verknüpfung von Menschenrechten und Minderheitenschutz ist ein augenfälliges Charakteristikum der Europäischen Union und ihres Rechtsverständnisses. Seit den neunziger Jahren hat die EU sich mit Fragen des Minderheitenschutzes befasst. Die Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme neuer EU-Mitglieder haben 1993 erstmals das Prinzip des Minderheitenschutzes zu einem Aufnahmekriterium in der EU erhoben. Der Amsterdamer Vertrag (in Kraft seit Mai 1999) hat die bei einem EU-Ratstreffen in Kopenhagen vereinbarten Kriterien erstmals in das EU-Primärrecht aufgenommen. Die Europäische Union setzt sich für Minderheiten ein – Minderheiten­ sprachen, s­ oziale Minderheiten, kulturelle, religiöse und politische Minderheiten. Im Einzelnen erklärt sich d­ ieses Engagement der EU nicht nur aus der Sache selbst, um die es jeweils geht. Dieses Engagement der EU gehört zu ihrer zweiten Haut, denn die EU selbst ist ein Minderheitenphänomen in Bezug auf das ihr zugrundeliegende und sich beständig weiter entwickelnde Politikverständnis. Die EU ist die Antwort auf den Dominanzanspruch der Na­tionalstaaten mit ihren seinerzeitigen Monopolisierungsansprüchen gegenüber jedweder Abweichung von der na­tionalen Norm. Minderheiten mussten unter solchen Bedingungen geradezu zwangsläufig zu Opfern des Na­tionalismus und jeder Form von antipluralistischem Homogenisierungsbestreben werden. Der Na­tionalstaat ermög­ lichte seine eigene Übertreibung und Zerstörung. Die EU als Antwort auf diese Exzesse des na­tionalistischen Zeitalters war von Anbeginn an – und gleichsam intuitiv – von hoher Sensibilität gegenüber Minderheiten erfüllt; in gleicher Weise waren und sind die verantwort­lichen Akteure der EU in den leitenden Organen der EU geleitet von dem Bemühen, die Würde eines jeden Menschen zu ­schützen und zu pflegen. Dieses Politik-­Verständnis fand zunächst und über lange Zeit seinen Ausdruck in den funk­tionalistischen Formen der Integra­tion, die über die sektorspezi­ fische Zusammenführung der Potenziale von Kohle und Stahl schrittweise zum gemeinsamen Markt ausgedehnt wurde. Nur vordergründig ging es allein um Prozeduren des Wirtschaftsablaufs. In Wahrheit ging es auch schon in Zeiten der EWG und der EG immer um die Suche nach Antworten auf die Frage, ob und in welcher Weise Mechanismen errichtet werden können, die jeden vor jedem in Europa dadurch ­schützen, zum Opfer einer Mehrheit zu werden, indem alle miteinander zu neuen gemeinsamen Zielen zusammengeführt werden. So funk­ tioniert die EU bis heute.

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Dass die Anpassungen, die mit der Aufnahme post-­kommunistischer Staaten an die EU gestellt wurden, sich deut­lich von den vorherigen Herausforderungen unterscheiden, zeigt auch der Blick auf die Minderheitenthematik. Sie wurde erweitert um die komplexen Fragen, die sich an Rechtssysteme in EU -Mitgliedsstaaten immer dann richten, wenn Menschenrechte oder auch Minderheitenrechte in der einen oder anderen Form unterlaufen werden. Dass die post-­kommunistischen Staaten in besonderer Weise anfällig sein können für Zustände, die sich aus der Labilität ihrer politischen Kultur ebenso speisen wie aus der Schwäche noch nicht konsolidierter Rechtsstaat­lichkeit, ist seit der EU-Osterweiterung immer wieder thematisiert worden. Dabei darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass die Grundproblematik des Verhältnisses von Mehrheitsgesellschaft, Minderheitenschutz und individuellen Menschenrechten in allen Rechts- und Verfassungsstaaten ein Dauerthema bleibt – weil es immer wieder neu um den Ausgleich ­zwischen abstrakten Konzepten und konkreten Institu­tionen geht. Aus der internen Ausrichtung der Europäischen Union am Schutz des einen vor dem anderen durch die Identifizierung gemeinsamer Ziele und Aufgaben entwickelte sich eine außenpolitische Orientierung der EU, die danach sucht, weltweit nach gleichem Muster zu verfahren wie im Innern. Bei allem konsequenten Einsatz für Menschenrechte und Minderheitenschutz in aller Welt ist die EU in der Durchsetzung ihrer Ideale weit weniger wirksam als im Innern Europas. EU-Sank­tionsmechanismen und Anreize sind in den Außenbeziehungen der EU weit begrenzter als – bei aller Unzuläng­lichkeit – dies im Innern der EU gilt oder gegenüber jenen, die als Vollmitglied in die EU streben. Die Demokratie sieht üb­licherweise die Dominanz der Minderheit durch die Mehrheit vor. Mehrheit ist und bleibt die Grundprämisse der demokratischen Handlungsfähigkeit. Aber Minderheitenschutz ist der lo­gische Fortgang des Diskriminierungsverbotes, zumal es jeweils nicht nur eine Minderheit, sondern diverse Minderheiten gibt – und jeder Bürger theoretisch mehreren Minderheiten zugleich angehören kann ohne Teil der Mehrheit zu sein.

IV. Der Anspruch der Europäischen Union, Menschenrechtsschutz und Minderheitenschutz miteinander zu verbinden, wird weiterhin komplizierte und unvermeid­ lich auch widersprüch­liche Konzepte und Konstella­tionen hervorbringen – wie dies für jedes Bemühen gilt, Ideale und Interessen miteinander auszugleichen. Aber der Ansatz der EU steht, dass näm­lich Menschenrechtsschutz im homogenen Rechtsstaat und Minderheitenrechte zusammengehören, zwei Seiten einer Medaille sind. Damit gibt die Europäische Union zumindest eindeutige theore­ tische Antworten auf ein Bündel von Fragen, die sich seit dem Wiener Kongress

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gestellt haben: Vaterland und Muttersprache sollen nicht länger in Widerspruch zueinander geraten, sondern für jeden Europäer zum Ausgleich gebracht werden und damit Lebensglück für jeden Einzelnen und alle Minderheiten ermög­lichen. Die Achtung der Menschenwürde – der zentrale Ausgangspunkt der Europäischen Union ist Ausdruck der Erfahrungen der europäischen Geschichte und zugleich ein Bruch mit weiten Passagen dieser Geschichte, in denen Menschenwürde mit Füssen getreten wurde. Recht vor Macht, Kompromiss vor Gewalt, Ausgleich vor Dominanz – dies sind die Formeln, die in der EU immer wieder bemüht werden. Aber es sind nicht bloß Formeln. Es sind Arbeitsaufträge, zu denen auch der beständige Einsatz für die Rechte von Minderheiten gehört. Fast überall sind wir Menschen irgendwo und irgendwie Teil einer Minderheit. Respekt vor dem Anderen heißt daher nicht nur, Respekt vor seiner Individualität zu haben, sondern auch davor, dass er üb­licherweise – so wie wir selbst – zu mehreren Minderheiten und mehr zu Minderheiten als zu Mehrheiten gehört. Nicht von der Wucht der Mehrheit, sondern von der Subtilität der Minderheit her zu denken, kennzeichnet – wenngleich wohl eher unbeabsichtigt und gleichwohl mit hohem Wert – weite Teile des Politikverständnisses in der EU. Der Minderheitenschutz ist weit mehr als ein programmatischer Anspruch der EU . Das Denken in Kategorien von Minderheiten ist Teil des Mechanismus selbst, aus dem heraus die EU funk­tioniert – oder eben nicht funk­tioniert, wenn der Mehrheitswille oder die Macht der größeren Zahl sich wieder einmal in den Vordergrund schieben und um jeden Preis durchgesetzt werden sollen. Der kunstvolle Auftrag an die EU besteht darin, ohne dass es ein einheit­ liches Vaterland und eine einheit­liche Muttersprache in der EU gäbe, in der Vielfalt den Einzelnen und in der Einheit die vielen Minderheiten zu ­schützen. Wo dies gelingt, muss der Vorwurf, die EU sei byzantinisch, nicht bekümmern. Die Einsicht des Sokrates, zu wissen, dass man nichts weiß, ist als Ausdruck selbstverantworteter Bescheidenheit ein guter Kompass für jedes politische Gemeinwesen auch im 21. Jahrhundert. Auch für die EU als starke Vertretung einer Minderheit der Weltbevölkerung.

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Le Contexte Politique Il est amusant d’observer que chaque grand traité européen a eu une genèse différente, et chaque fois inhabituelle. L’acte fondateur, le traité de Paris créant la Communauté européenne du charbon et de l’acier (CECA) a répondu à une exigence politique américaine: en plein début de la guerre froide, les Etats-­Unis exigeaient de Paris une initiative forte en faveur de la réconcilia­tion franco-­allemande. Robert Schuman a pu mobiliser le génie créatif de Jean Monnet: en un week-­end de mai, lui et son équipe ont inventé de toutes pièces le „pool charbon-­acier“ et ce qui allait devenir la méthode communautaire. Il n’a fallu qu’une heure à Konrad ­Adenauer pour comprendre la portée politique de l’initiative. La négocia­tion était close avant d’avoir commencé. Miraculeuse sur l’économie, la méthode Monnet s’est fracassée sur la défense. Idée française, la Communauté européenne de défense a pourtant été rejetée par le Parlement français après trois ans d’atermoiements. Dix ans ne s’étaient pas encore écoulés depuis la fin de la guerre: les esprits n’étaient pas prêts. Selon la formule de l’ambassadeur britannique Lord Ismay, „la France souhaitait une armée allemande plus forte que l’Armée rouge et moins forte que l’armée française“. Le flambeau a alors été repris par le Benelux. Pour ces petits pays qui ont fourni les champs de bataille favoris des guerres franco-­allemandes, la réconcilia­tion entre les deux grands voisins perpétuellement agressifs était une condi­tion de survie. Sous l’impulsion du Belge Paul-­Henri Spaak, la méthode pragmatique de Jean Monnet a été reprise, débouchant sur la conférence diplomatique de Messine et le traité de Rome: le Marché commun est né. 1984: Les succès économiques de la Communauté économique européenne (CEE ) ont attiré de nouveaux membres, à commencer par le Royaume-­Uni. Mais la construc­tion s’essouffle. Nouveau Président de la Commission, Jacques Delors fait le tour des capitales pour sonder les reins et les cœurs. Un seul sujet fait l’objet d’un consensus de tous les dirigeants na­tionaux comme des grandes familles politiques: la transforma­tion du Marché commun en un espace unique de libre circula­tion, non seulement des marchandises, mais aussi des services, des capitaux et des personnes. Margaret Thatcher y voit l’avantage du libre-­ échange généralisé à l’ensemble du continent. La gauche peut l’accepter du

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moment que la Communauté se dote d’un budget qui aide à la mise à niveau des régions les plus pauvres. Comme les fédéralistes l’avaient prévu, l’espace unique débouche inévitablement sur la nécessité d’une monnaie commune: à ce degré de mariage des économies, impossible d’accepter qu’un pays mauvais joueur triche en recourant au dumping monétaire. L’élan politique donné par la Réunifica­tion allemande et la libéra­tion des pays de l’Est débouche sur le traité de Maastricht, fondateur de l’union monétaire. Il est préparé par deux groupes de travail, l’un sur la monnaie, l’autre sur l’union politique. Non sans hypocrisie, la France de François Mitterrand refuse toute avancée significative sur celle-­ci. En revanche, contre l’avis de 80 pourcent de ses concitoyens, le grand Helmut Kohl accepte de sacrifier le Deutsche Mark sur l’autel de l’union de l’Europe: quel meilleur symbole, et quelle meilleure garantie, que la Réunifica­tion de l’Allemagne se fait dans et pour l’Europe unie? Avant même que l’union monétaire ne soit réalisée, le traité de Maastricht est dépassé par la pression des pays d’Europe centrale qui se bousculent à la porte du club. Le traité de Nice a pour but d’adapter les institu­tions et le processus de décision à une Europe qui s’apprête à doubler le nombre de ses États membres. Et là, se produit un événement unique dans les annales diplomatiques: à peine l’encre du traité est-­elle sèche que ses auteurs se rendent compte du fait qu’ils ont échoué. Les modifica­tions homéopathiques introduites par le traité de Nice ne lui permettront pas de faire fonc­tionner la grande Europe. Le seul mérite de ce texte est de fournir la base juridique sur laquelle les négocia­tions d’adhésion se feront. L’existence de l’avion permet d’enregistrer les réserva­tions pour le vol, mais ses moteurs ne lui permettront pas de décoller. Plus extraordinaire encore, les auteurs malheureux comprennent la raison de leur échec: au stade où en est arrivée la construc­tion européenne, la négocia­tion diplomatique classique ne marche plus. Quel que soit le nom qu’on lui donne, et quelle que soit sa forme juridique, la charte de la vie commune d’un ensemble de 500 millions d’habitants n’est pas un acte diplomatique, c’est une constitu­tion politique. Une constitu­tion ne se négocie pas dans le secret d’un huis clos d’ambassadeurs. Elle est conçue et débattue publiquement par les représentants élus des peuples. D’où la réunion d’une Conven­ tion, proposée par le Parlement européen, et acceptée par la présidence belge. Le Premier ministre Guy Verhofstadt et son prédécesseur Jean-­Luc Dehaene, auteur du „mandat de Laeken“ donné à la Conven­tion, ont mis celle-­ci sur les bons rails. L’esprit du traité constitu­tionnel Plusieurs traits remarquables sont à retenir de la Conven­tion pour l’avenir de l’Europe. Sa composi­tion: Les représentants des 28 gouvernements sont submergés par les élus du Parlement européen et surtout par les représentants des parlements

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na­tionaux, qui fournissent les deux tiers des quelques 200 membres. A raison de deux représentants par assemblée parlementaire, donc quatre pour les pays bicaméristes, ce qui a permis de représenter tous les partis politiques – au moins les partis de gouvernement – de tous les pays concernés. Sous la présidence particulièrement éclairée de Valéry Giscard d’Estaing, s’affairent une pléiade d’anciens chefs de gouvernement, dont Jean-­Luc Dehaene, l’Irlandais John Bruton, l’Italien Giuliano Amato, le Slovène Alois Peterle, deux commissaires européens très influents: le Portugais Antonio Vittorino et le Français Michel Barnier, et les parlementaires les plus compétents sur la matière européenne. Chacun a ses propres conseils juridiques. Giscard lui-­même s’est adjoint d’une dream team d’une dizaine des meilleurs juristes de la jeune généra­tion, venus d’autant de pays différents. A noter qu’en 2003 les partis eurosceptiques sont encore très peu représentés dans les parlements: on compte moins d’une dizaine de „grincheux“ dans l’assemblée. L’Anglais le plus influent, le représentant personnel de Tony Blair, Peter Haines, s’emploie à tout raboter mais à ne rien saboter. Son objectif: D’emblée, Valéry Giscard d’Estaing a fait accepter qu’il s’agissait d’élaborer une constitu­tion pour l’Europe. Un texte qui soit à la fois simple à comprendre, pour pouvoir être soumis à des ratifica­tions populaires, et exhaustif, en réunissant dans une seule rédac­tion tout le droit primaire européen. Para­ doxalement, c’est cette volonté de clarté pour les citoyens et de simplicité pour les juristes qui a valu au projet ses critiques les plus sévères. Son enthousiasme: Une fois passé le temps d’observa­tion mutuelle et de méfiance inévitable entre institu­tions, un esprit commun s’est dégagé. La fin des travaux a vu une complicité improbable se nouer entre parlementaires européens et députés na­tionaux contre les gouvernements jugés trop conservateurs. Le dernier jour, tous les participants ont eu le sentiment de vivre un moment historique. Sa méthode de travail: La durée: 18 mois, ponctués de réunions régulières, tantôt en groupes de travail spécialisés, tantôt en plénière. La transparence complète: toutes les séances, tous les documents de travail sont disponibles en temps réel sur Internet, la palette des consulta­tions est immense – juristes, universitaires, syndicats, collectivités locales, ONG. L’adop­tion finale du texte, non par un vote, mais par un consensus. Sept eurosceptiques ont signé une déclara­tion précisant qu’ils ne participaient pas au consensus – mais reconnaissant implicitement l’existence de celui-­ci. L’unanimité qui s’est faite sur la réparti­tion des compétences: C’était le plus inattendu. Après un demi-­siècle de construc­tion européenne, il est apparu que chacun partageait les enseignements de l’expérience sur le partage entre les sujets que l’on traitera mieux ensemble et ceux qui doivent rester de compétence na­ tionale. C’est ce qui a permis la „réconcilia­tion“ entre parlementaires européens et na­tionaux: après s’être accordés sur le „qui fait quoi“, tous se sont retrouvés tout naturellement pour convenir d’un processus de décision démocratique.

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D’où l’unanimité sur la nécessaire démocratisa­tion des institu­tions et du processus de décision: Le Parlement élu obtient enfin la totalité du pouvoir législatif, partagé avec les représentants des gouvernements au Conseil des ministres; le Président de la Commission ne sera plus nommé comme un haut fonc­tionnaire par un accord politique entre les gouvernements, il sera élu par les citoyens à travers l’élec­tion du Parlement. Il est piquant de noter que, sur le moment, très peu de membres de la Conven­tion et aucun des grands dirigeants na­tionaux n’a réalisé la portée politique de cette révolu­tion pacifique: l’Europe sera enfin incarnée par un responsable politique ayant la même légitimité démocratique qu’un Premier ministre na­tional. Le dépassement du débat tradi­tionnel entre fédéralistes et souverainistes: C’est la première fois que les principaux acteurs de la vie européenne ont réalisé que l’union qu’ils étaient en train de bâtir ne serait pas les Etats-­Unis d’Amérique: la France, l’Allemagne, l’Espagne ne sont pas le Wyoming ou le Nebraska. Tous les pays européens veulent conserver leur souveraineté na­tionale, leur identité, leurs tradi­tions, leur langue, les uns parce que leur indépendance est ancienne, les autres, comme les Slovènes ou les Baltes, parce qu’elle est toute récente. En revanche, nos économies et nos sociétés sont tellement interpénétrées que, à côté de l’exercice des compétences propres à l’Union, nous avons besoin aussi de nous coordonner sur les compétences qui restent essentiellement na­tionales. C’est une différence fondamentale avec les USA: les gouverneurs des 50 Etats ne se rencontrent qu’une fois par an pour un banquet festif, alors que nos ministres des Finances et nos ministres des Affaires étrangères sont en contact permanent et se réunissent plusieurs fois par an. D’où la créa­tion de l’Eurogroupe, du Haut-­Représentant et du Service d’Ac­tion extérieure, et l’institu­tionnalisa­tion du Conseil européen doté de son Président permanent. En revanche, principal échec: l’absence de relais médiatique auprès des opinions publiques na­tionales: Malgré la transparence – ou à cause d’elle? Les voies des médias sont impénétrables –, les grands médias na­tionaux n’ont accordé qu’une couverture discrète aux travaux de la Conven­tion comme à ses résultats. Les nombreux ouvrages écrits par ses participants ou par les juristes qui ont suivi l’aventure n’ont intéressé que les habituels publics intéressés. La Conven­tion n’a pas brisé l’invisible miroir d’indifférence qui isole depuis toujours la vie communautaire. Dernier trait, tout aussi triste: les enseignements de l’expérience se sont vite évanouis: Il a fallu près de sept ans pour qu’entre en vigueur le traité, qui a été l’aboutissement ultime de ces travaux. Parmi les 28 chefs d’Etat et de gouvernement qui constituaient le Conseil européen au moment de l’entrée en vigueur du traité de Lisbonne, seuls deux étaient autour de la table, à Rome, pour signer le traité constitu­tionnel: Angela Merkel et Jean-­Claude Juncker. Entre-­temps, le Parlement européen avait été renouvelé à deux reprises, la plupart des parlements na­tionaux aussi, les experts avaient poursuivi leur carrière universitaire

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ou administrative: le savoir-­faire s’est perdu. On avait appris que le combat entre fédéralistes et souverainistes n’avait plus de sens: dix ans après, lors de la campagne européenne de 2014, c’est toujours lui qui a été au centre de la campagne, avec une virulence excep­tionnelle. Parlementaires na­tionaux et européens avaient compris que leurs intérêts étaient identiques: dix ans après, ils se sont écharpés sur le statut et le règlement interne des conférences interparlementaires mises en place sur la politique étrangère, d’une part, et la politique économique, d’autre part. Le secret s’est perdu: il faudra réinventer la roue. De l’échec du traité constitu­tionnel à la genèse du traité de Lisbonne Dans l’enthousiasme naïf propre aux assemblées révolu­tionnaires, les conven­ tionnels avaient émis le souhaite que le fruit de leur travail soit soumis au référendum dans le plus grand nombre possible de pays. C’était évidemment le meilleur moyen de permettre aux peuples de se l’approprier, et de justifier la qualifica­tion politique de „traité constitu­tionnel“. Mais c’était aussi oublier que le référendum est une arme politique très délicate, dont le maniement dépend beaucoup de la tradi­tion politique propre à chaque pays. Ce n’est pas un hasard si l’usage en est rare, sauf dans la démocratie la plus exemplaire, en Suisse, et dans les régimes les plus autoritaires. Il ne remplit sa fonc­tion démocratique de manière satisfaisante que si deux condi­tions sont réunies: que la ques­tion posée soit assez simple à comprendre par tous les citoyens pour justifier la réponse simplissime de „oui“ ou „non“ et qu’il n’apparaisse pas comme un plébiscite sur la popularité du dirigeant qui pose la ques­tion. L’Espagne a su réunir les deux condi­tions. La France n’y est pas parvenue: la tradi­tion gaullienne a mêlé pour longtemps référendum et plébiscite. L’impopularité du Président Chirac condamnait à l’avance tout référendum français au printemps 2005. La maladresse des défenseurs du texte a fait le reste. Le rejet du traité constitu­tionnel par les peuples de deux pays fondateurs a fait l’effet d’une explosion nucléaire. Les Européens les plus ardents sont restés longtemps en état de stupeur, assommés par l’effet de souffle. Un coup d’arrêt semblait donné à la construc­tion européenne pour une généra­tion entière. La solu­tion politique est venue de là où on pouvait l’attendre le moins: d’un candidat gaulliste à la présidence de la République française. Nicolas Sarkozy avait compris les défauts du traité de Nice, et la nécessité absolue d’en changer le dispositif pour faire fonc­tionner l’Europe à 28. Dès l’automne 2005, il a lancé l’idée du recours à un traité ordinaire. Qui, en tant que tel, pourrait être soumis à une simple ratifica­tion parlementaire, comme on avait toujours fait en France avant le traité de Maastricht. Pour rassurer les partisans de la démocratie directe – pour lesquels, seul un autre référendum peut changer ce qu’un référendum a décidé –, il a même utilisé la formule d’un „mini-­traité“.

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Evident pour un juriste, ce changement de pied exigeait un grand courage politique de la part d’un candidat à l’élec­tion présidentielle: ceux de ses électeurs eurosceptiques lui pardonneraient-­ils ce contournement du suffrage universel? Il a pris le risque jusqu’au bout: en mai 2007, trois jours avant le tour décisif de l’élec­tion présidentielle, dans son face-­à-­face télévisé avec sa rivale socialiste, il a pris l’engagement solennel de proposer à ses partenaires la reprise des disposi­tions institu­tionnelles du traité constitu­tionnel dans un traité ordinaire qui serait soumis à une simple ratifica­tion parlementaire. Son élec­tion lui a donné le mandat populaire qui légitimait sa démarche. En attendant, à la fin de 2005, chargé des affaires européennes de l’UMP, dont Nicolas Sarkozy avait pris la présidence, je me suis attelé à l’exercice de la transforma­tion de la constitu­tion en „mini-­traité“. C’était la quadrature du cercle: comment mettre d’accord les 18 pays qui avaient ratifié le traité constitu­tionnel – dont l’Espagne et le Luxembourg par référendum – et les deux qui l’avaient rejeté, tout en convaincant au passage ceux qui avaient préféré attendre la suite des événements pour prendre posi­tion? La réponse se trouvait dans les critiques mêmes que les „nonistes“ avaient apportées au traité constitu­tionnel. Ce qu’ils mettaient en cause n’était pas la valeur ajoutée apportée par la Conven­tion – la réparti­tion des compétences, le pouvoir législatif du Parlement, l’élec­tion du Président de la Commission, le Conseil européen, etc. – mais la sanctifica­tion des règles du bon vieux Marché commun dans un texte qualifié de „constitu­ tion“. Pour les marxistes indécrottables qui restent si nombreux dans la gauche française, le mot même d’„économie de marché“, le principe de la „concurrence libre et non faussée“, l’objectif de „compétitivité“ suscitent des réac­tions allergiques irrépressibles. C’est-­à-­dire tout ce qui figurait déjà dans les traités européens depuis 1957! La Conven­tion l’avait repris dans la troisième partie du projet de traité constitu­tionnel dans le but de rassembler tout le droit primaire de l’Union dans un texte unique, pour simplifier la tâche des juristes. Mais rien n’obligeait juridiquement à le faire. A partir de là, on pouvait élaborer un texte qui se contenterait de: –– reprendre les seules disposi­tions juridiques du traité constitu­tionnel qui modifiaient les traités antérieurs, en considérant que les autres étaient acquises – y compris les formules jugées abominables par les „nonistes“ –– supprimer ceux des articles introduits par la Conven­tion dont le contenu était plus pédagogique et symbolique que proprement juridique. La défini­tion de l’Union à l’article 1er, ou les symboles représentés par le drapeau et l’hymne n’étaient pas nécessaires, même si leur abandon était un crève-­coeur pour les vrais Européens. De même, l’article rappelant que, dans les domaines de compétence de l’Union, le droit communautaire doit prévaloir sur le droit na­tional est superfétatoire: il constitue la base de tout le droit interna­tional et il figure, comme tel, dans toutes nos constitu­tions na­tionales. Or, son abandon était une exigence majeure des eurosceptiques comme du gouvernement de Londres.

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Je ne pouvais avancer qu’en faisant valider cette approche par nos amis de la CDU. Il m’a fallu trois voyages successifs à Berlin pour convaincre l’entourage

d’Angela Merkel: Wolfgang Schäuble, Uwe Corsipius et Nikolaus Meyer-­Landrut. Le premier contact fut très frais: „Toute la constitu­tion, rien que la constitu­tion. Que Nicolas Sarkozy se fasse élire, il pourra resoumettre le texte à un référendum qu’il gagnera!“ fut la réponse catégorique de mes interlocuteurs. A la seconde rencontre, j’ai montré que cette solu­tion était politiquement impossible: les deux principaux concurrents de Sarkozy, Ségolène Royal et François Bayrou, s’engageaient à renégocier une constitu­tion entièrement nouvelle, que les Allemands ne pourraient accepter, et Sarkozy lui-­même ne voulait pas prendre le risque d’inviter le peuple français à se désavouer. Mes interlocuteurs sont alors passés par une phase de désespoir wagnérien. Au troisième voyage, je suis venu avec le texte du traité de Nice, celui du traité constitu­tionnel et j’ai mimé, avec une paire de ciseaux et un pot de colle, comment on pouvait garder toutes les nova­ tions juridiques de celui-­ci pour modifier celui-­là. En concluant: „Ainsi, nous aurons un traité nouveau, ce qui exigera, certes, un nouveau vote de ratifica­tion du Bundestag, mais sans avoir à reprendre le débat politique, puisque le contenu sera le même. Et, de mon côté, je pourrai plaider que l’ambi­tion et la formula­tion constitu­tionnelles ont disparu, permettant à ce traité ordinaire d’être soumis à une simple ratifica­tion parlementaire.“ A partir de ce moment-­là, Nikolaus Meyer-­ Landrut a pris les choses en mains avec le service juridique du Conseil, dirigé par le Français Jean-­Claude Piris, de manière à ce qu’un avant-­projet de texte puisse être prêt pour le Conseil européen de juin 2007, qui devait se dérouler sous la présidence allemande et au lendemain de l’élec­tion présidentielle française. L’Union ne se limitant pas au couple Berlin-­Paris, j’ai mis à profit trois sommets successifs du PPE, courant 2006, pour informer les autres dirigeants des partis frères et pour recueillir leur accord de principe. Je me suis aussi rendu à Madrid pour une démarche semblable auprès de José-­Luis Zapatero, le Premier ministre socialiste espagnol. Partout, l’accueil a été favorable. Le vendredi qui a suivi l’élec­tion de Nicolas Sarkozy, Nikolaus Meyer-­Landrut est venu déjeuner avec moi à Paris. Il m’a remis le projet tout chaud pondu: non pas un, mais deux traités, distinguant l’architecture générale de l’Union et son fonc­tionnement. L’après-­midi même, j’ai pu le remettre à Claude Guéant, directeur de cabinet de Nicolas Sarkozy, en lui annonçant que ce texte serait présenté au nouveau Président dès sa première rencontre avec la Chancelière et qu’il avait un préjugé favorable de tous les autres dirigeants européens. Sauf Tony Blair, qui se laissa convaincre en arrachant quelques concessions supplémentaires, et les frères Kaczinski, qui régnaient alors en Pologne: l’enjeu du Conseil européen qui suivit fut de les convaincre. Six mois plus tard, le traité était signé à Lisbonne. Facilitée en France, sa ratifica­tion ne fut pas partout de tout repos. Elle échoua une première fois en Irlande. Il fallut abandonner une des nouveautés importantes

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du texte – la réduc­tion du nombre des commissaires – pour satisfaire le peuple irlandais. Puis, malgré le vote de son Parlement, le très europhobe président tchèque Vaclav Klaus refusa pendant des mois d’apposer sa signature. Conséquence fâcheuse: l’entrée en vigueur du traité ne put se faire qu’en décembre 2009, soit postérieurement à l’élec­tion du nouveau Parlement européen. La nova­tion essentielle de l’élec­tion démocratique du Président de la Commission fut reportée à 2014. Si bien que l’appropria­tion des nouvelles institu­tions par les peuples fut retardée d’autant. Tout au long de l’interminable crise financière et économique qui a suivi la faillite de Lehman Brothers, le système de décision communautaire est resté opaque, incompréhensible et hors d’atteinte pour les citoyens: l’euroscepticisme en a fait son miel.

Les Consequences Juridiques Si le traité de Lisbonne reprend l’essentiel des disposi­tions du traité instituant une Constitu­tion pour l’Europe, il faut toutefois noter qu’un certain nombre de celles-­ci ont été modifiées, parfois à la marge, parfois de façon plus substantielle, afin d’accommoder les réticences et susceptibilités exprimées à la suite de l’échec des référendums français, néerlandais et irlandais ainsi que lors des Conférences intergouvernementales de 2004 et 2007. C’est sur le plan institu­tionnel et de l’organisa­tion du processus de décision que le traité de Lisbonne est resté le plus fidèle au texte soumis par la Conven­tion En effet, grâce au traité de Lisbonne et conformément à ce qui était prévu dans le traité constitu­tionnel, l’Union européenne est désormais dotée de la personnalité juridique et la structure en trois piliers qui régissait, et compliquait, la procédure de prise de décision selon les sujets est abolie. Conformément aux proposi­tions soumises par la Conven­tion, le traité de Lisbonne renforce considérablement le Parlement européen grâce à la transforma­tion de la procédure de co-­décision en „procédure législative ordinaire“ qui couvre quasiment tous les sujets dont les institu­tions sont saisies, y compris ceux liés à la Justice et aux Affaires intérieures qui relevaient auparavant du troisième pilier. Le Parlement européen a également désormais le pouvoir d’approuver ou de rejeter tout accord conclu par la Commission européenne en matière de politique commerciale. Le fait que le traité de Lisbonne maintienne la suppression de la distinc­tion entre dépenses obligatoires et non-­obligatoires prévue par le traité constitu­tionnel accroît également fortement ses pouvoirs budgétaires. Mais surtout, le Parlement européen devient essentiel dans la désigna­tion du Président de la Commission européenne évoquée précédemment. Le président de la Commission européenne est renforcé dans ses attribu­ tions par le traité de Lisbonne mais il a „perdu“ le droit de choisir ses commissaires parmi une liste de trois personnes établie par chaque État membre que

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lui conférait le traité constitu­tionnel et qui a été remplacé par la simple men­tion du fait que le Conseil adopte la liste des commissaires „d’un commun accord avec le Président élu“. A également été maintenue dans le traité de Lisbonne l’institu­tionnalisa­tion du Conseil européen ainsi que la décision de le doter désormais d’une présidence stable. Ceci a très sensiblement renforcé son poids et cela parfois au détriment du Conseil. Les disposi­tions relatives au Conseil ont quant à elles subi quelques transforma­ tions. Le traité constitu­tionnel proposait de modifier le calcul de la majorité qualifiée afin d’introduire un double critère (un certain nombre d’États représentant une certaine propor­tion de la popula­tion de l’Union). Ce principe a été conservé dans le traité de Lisbonne mais l’entrée en vigueur des nouvelles règles de calcul a été décalée à 2014. Surtout, ces règles sont plus strictes que ce que proposait la Conven­tion: celle-­ci suggérait de devoir réunir la „majorité des États membres, représentant au moins les trois cinquièmes de la popula­tion de l’Union“ alors que selon le traité de Lisbonne le seuil est fixé à 55 pourcent des États membres représentant „au moins 65 pourcent de la popula­tion“. De plus, le traité de Lisbonne introduit la no­tion de „minorité de blocage“ et fait référence au mécanisme de Ioannina selon lequel les discussions au sein du Conseil doivent se poursuivre si une telle minorité se constitue ce que ne prévoyait pas le texte de la Conven­tion. En matière de politique étrangère, le traité de Lisbonne reprend les grandes idées du traité constitu­tionnel et crée un poste de „Haut représentant pour les affaires étrangères et la politique de sécurité“ qui remplace le Haut représentant pour la politique étrangère et de sécurité commune (PESC) qui existait déjà mais ne disposait quasiment d’aucuns moyens. A l’inverse, le Haut représentant nouvelle formule est vice-­Président de la Commission européenne, préside les réunions du Conseil Affaires étrangères et il a sous ses ordres le nouveau Service européen pour l’Ac­tion extérieure. L’objectif était donc bien de doter l’Union de moyens d’ac­tion en matière de politique étrangère et de sécurité même s’il faut noter que la Conven­tion avait proposé de donner le titre de „Ministre des Affaires étrangères de l’Union“ au successeur du Haut représentant pour la PESC mais les États membres ont préféré biffer ce terme trop ambitieux. Par ailleurs, si le traité de Lisbonne a bien repris la clause de flexibilité introduite par le traité constitu­tionnel il y a ajouté une disposi­tion selon laquelle cette clause ne peut être utilisée dans le domaine de la politique étrangère et de sécurité commune. Vu le caractère sensible de ces sujets, on ne peut que se réjouir de ces concessions mineures faite aux grandes ambi­tions de la Conven­tion. Pour le reste, les disposi­tions du traité constitu­tionnel concernant les différentes compétences de l’UE et les champs qu’elles couvrent sont largement reprises dans le traité de Lisbonne. La procédure de coopéra­tion renforcée est quant à elle facilitée car le traité de Lisbonne réduit le seuil nécessaire pour en lancer une en le faisant passer

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d’un tiers des États membres prévu dans le traité constitu­tionnel à neuf États dans le nouveau traité. Le traité de Lisbonne reprend aussi dans les grandes lignes les disposi­tions du traité constitu­tionnel en ce qui concerne le rôle des parlements na­tionaux qui voient leur rôle consacré et renforcé grâce à la procédure dite du carton jaune. Il a également conservé un élément novateur proposé par les conven­tionnels: l’Initiative citoyenne européenne qui permet d’introduire une dose de démocratie participative dans le fonc­tionnement de l’UE. Autre innova­tion maintenue dans le traité de Lisbonne: l’article 50 TUE (Traité sur l’Union européenne) qui permet à tout État membre qui le souhaite de se retirer de l’Union. Cela n’avait pas été prévu dans les traités originels et la Conven­tion avait proposé d’inclure une telle clause afin de permettre à tout État ne se sentant plus à l’aise avec la direc­tion prise par l’Union de la quitter. En revanche, les passages sensibles concernant les valeurs, les objectifs ou encore les symboles de l’Union ont subi d’importantes modifica­tions En premier lieu, le changement principal, et le plus symbolique, est celui du nom du traité: nous sommes passés d’une Constitu­tion à un simple traité actant des décisions prises entre États souverains. Ce changement est allé de pair avec la suppression des articles faisant référence aux symboles de l’Union. En outre, là où le traité constitu­tionnel prévoyait que l’Union légifère via des „lois“ et „lois-­cadres“ ce que les chefs d’État et de gouvernement avaient conservé dans le traité de Rome en 2004, le traité de Lisbonne réintroduit les dénomina­tions antérieures de „directive“ et „règlement“ au sens plus obscur et donc moins menaçant. La primauté du droit européen sur le droit na­tional est d’ailleurs réaffirmée dans le traité de Lisbonne mais de façon nettement moins explicite que dans le traité constitu­tionnel. Sur le fond, cela ne change rien mais sur la forme c’est plus acceptable. Autre symbole qui est tombé avec le traité de Lisbonne: la „concurrence libre et non faussée“. À la demande de la France, elle n’est plus considérée comme un objectif de l’Union men­tionné en tant que tel à l’article 3 TUE, elle devient un simple instrument en faveur de la croissance et de l’emploi. Idem avec une disposi­tion-­clef du traité constitu­tionnel prévoyant de réduire le nombre de commissaires européens qui aurait conduit les États membres à ne pas systématiquement avoir de représentants au collège des commissaires. Afin de rassurer les électeurs irlandais, il a été prévu de maintenir le système „un pays, un commissaire“ jusqu’en 2014 puis de mettre en place un système de rota­tion, sauf décision contraire du Conseil européen à l’unanimité. L’an dernier, le Conseil européen a décidé de maintenir le système actuel torpillant ainsi définitivement cette idée. Par ailleurs, si la Charte des Droits fondamentaux est bien annexée au traité de Lisbonne, lui conférant ainsi une valeur contraignante, c’est au prix d’un

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opt-­out négocié par le Royaume-­Uni et la Pologne qui ne sont donc pas liés par la Charte. Le traité de Lisbonne a cependant été parfois plus ambitieux que le traité constitu­tionnel car il a introduit l’institu­tionnalisa­tion de la Banque centrale européenne et de la Cour des comptes européenne. Et il a reconnu l’Eurogroupe comme organe de travail informel ayant un président stable qui lui est propre ce que la Conven­tion n’avait pas envisagé. Enfin, les disposi­tions concernant certaines grandes politiques de l’Union ont fait l’objet d’un certain travail de réécriture Profitant de la réouverture des négocia­tions sur le contenu du traité, les Britanniques suivis par les Irlandais ont demandé et obtenu des exemp­tions importantes dans le domaine de la Justice et des Affaires intérieures lors des Conférences intergouvernementales de 2004 et 2007. Ils se sont ainsi mis à l’écart de certains aspects de la coopéra­tion administrative et de la coopéra­tion judiciaire en 2004 puis de l’ensemble de la mise en œuvre des coopéra­tions policières et judiciaires en matière pénale et du développement de l’acquis de Schengen en 2007. Autre sujet, autre recul: là où le traité constitu­tionnel prévoyait que le cadre financier pluriannuel de l’UE soit adopté par le Conseil européen à la majorité qualifiée, le traité de Lisbonne rétablit l’unanimité. On a pu mesurer le caractère dommageable de cette décision lors des négocia­tions sur le cadre financier pluriannuel pour la période 2014 – 2020 qui ont abouti à un compromis a minima ne permettant pas à l’Union de disposer de moyens à la hauteur de ses ambi­tions ni même de ses besoins. En revanche, dans quelques cas, le traité de Lisbonne a précisé ou renforcé certains aspects des politiques européennes par rapport aux proposi­tions de la Conven­tion. Ainsi, l’accent a été davantage mis sur le domaine social avec l’inclusion d’une clause sociale générale (article 9 TFUE – Traité sur le fonc­ tionnement de l’Union européenne) qui vise s’assurer du fait que la dimension sociale soit prise en compte dans l’ensemble des politiques de l’Union. A également été ajouté un protocole consacré aux services d’intérêt général à la demande de la France et des Pays-­Bas. Afin de répondre aux inquiétudes exprimées par de nombreux citoyens européens quant à la mondialisa­tion et à l’ouverture des frontières de l’Union, il a été ajouté dans le traité de Lisbonne qu’en ce qui concerne l’espace de liberté, de sécurité et de justice, l’Union prendra „des mesures appropriées en matière de contrôle des frontières extérieures, d’asile, d’immigra­tion ainsi que de préven­tion de la criminalité et de la lutte contre ce phénomène“. Un passage précisant que l’Union „contribue à la protec­tion de ses citoyens“ est également venu compléter l’article 3 TUE et l’article 4 TUE a aussi été modifié afin de bien souligner que „la sécurité na­tionale reste de la seule responsabilité de chaque État membre“.

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De plus, la clause de solidarité prévue dans le traité constitu­tionnel a été étoffée afin d’insister sur le fait que les États membres doivent se prêter assistance en cas d’attaque terroriste ou de catastrophe naturelle ou d’origine humaine, de préciser les modalités de sa mise en œuvre et aussi d’instituer le fait que „le Conseil européen procède à une évalua­tion régulière des menaces auxquelles l’Union est confrontée“. Les disposi­tions relatives aux condi­tions d’adhésion à l’Union ont aussi été complétées à la lumière des inquiétudes exprimées en France quant à la possible adhésion de la Turquie à l’Union. En effet, le traité de Lisbonne précise que les pays candidats doivent non seulement „respecter“ mais aussi „promouvoir“ les valeurs de l’Union et que „les critères d’éligibilité approuvés par le Conseil européen sont pris en compte“ lors de l’examen des candidatures en référence aux critères de Copenhague afin de les rendre contraignants. En matière de défense, le traité de Lisbonne conserve de grandes avancées du traité constitu­tionnel que sont la mise en place des coopéra­tions structurées permanentes et la créa­tion de l’Agence européenne de défense. Et il va même plus loin en ce qui concerne la clause de défense mutuelle: le traité constitu­ tionnel prévoyait qu’elle ne s’applique qu’aux États membres participant à une coopéra­tion structurée permanente tandis que le traité de Lisbonne stipule qu’elle s’applique à tous les États de l’Union. Au total, cette énuméra­tion, qui n’est naturellement pas exhaustive, montre que le travail réalisé pour passer d’un traité à l’autre a été essentiellement juridique et relativement limité mais aussi que, si le traité de Lisbonne est parfois moins ambitieux que le traité constitu­tionnel sur la forme, il est presque aussi ambitieux que lui sur l’essentiel c’est-­à-­dire le fonc­tionnement de l’Union et sur ses politiques. L’Union est ainsi parvenue à sortir par le haut d’une crise existentielle majeure démontrant ainsi sa capacité à rebondir après plusieurs échecs.

Der Euro Triebfeder der Integration oder Sprengsatz für Europa? Werner Langen

Als nur ein Jahrzehnt nach Kriegsende sechs westeuropäische Länder ihre ersten Gehversuche in Richtung Integra­tion machten, hatten die Gründungsväter eine ferne Vision: Das vereinte Europa mit einer einzigen Währung. Was in den fünfziger Jahren utopisch schien, ist heute Realität, verwirk­licht im Euro und der Wirtschafts- und Währungsunion. Bereits im Jahre 1969 legten die Staats- und Regierungschefs als neues Ziel im europäischen Integra­tionsprozess die Wirtschafts- und Währungsunion fest. Der anschließend erarbeitete Bericht unter Führung des Luxemburger Ministerpräsidenten Pierre Werner propagierte das Ziel, nach einem mehrstufigen Plan innerhalb von zehn Jahren eine vollständige Wirtschafts- und Währungsunion zu verwirk­lichen. Das Ziel bestand letztend­lich in der weitgehenden Liberalisierung des Kapitalverkehrs, der uneingeschränkten Konvertierbarkeit der Währung der Mitgliedstaaten und der unwiderruf­lichen Festlegung von gegenseitigen Wechselkursen. Nach dem Zusammenbruch des Bretton-­Woods-­Systems im Jahre 1971 wurden enge Spannbreiten für die Schwankung der einzelstaat­lichen Währungen gegenüber dem Dollar beschlossen. Nach zwei Jahren war das neue Währungs­ system auf wenige Staaten zusammengeschrumpft: die Bundesrepublik Deutschland, die Beneluxstaaten und Dänemark. 1978 schließ­lich führten die Bemühungen, in Europa Währungsstabilität zu schaffen, zum Konzept von festen, aber anpassungsfähigen Wechselkursen im Rahmen des Europäischen Währungssystems EWS. Die Währungen aller Mitgliedstaaten mit Ausnahmen des Vereinigten Königreiches waren in den Wechselkursmechanismus eingebunden. Durch die Flexibilität des Systems und den politischen Willen zu wirtschaft­ licher Konvergenz wurde in den siebziger und achtziger Jahren eine nachhaltige Währungsstabilität erzielt. Nach der Verabschiedung des ambi­tionierten Binnenmarktprogramms im Jahre 1985 wurde immer offensicht­licher, dass das Potenzial des Binnenmarktes nicht vollständig ausgeschöpft werden konnte, so lange bei der Umrechnung der Währungen hohe Transak­tionskosten anfallen und nach wie vor Wechselkursschwankungen bestehen. Knapp 20 Jahre nach dem Werner-­Plan setzte deshalb der Europäische Rat einen Ausschuss zur Prüfung der Wirtschafts- und Währungsunion ein unter dem damaligen Präsidenten Jacques Delors, der im Jahre 1989 einen Bericht mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog vorlegte. Das Ziel war es, die Wirtschafts- und Währungsunion in drei Stufen zu verwirk­lichen. Dabei wurde

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damals schon betont, dass die Wirtschaftspolitik und die Rechtsvorschriften in Bezug auf die einzelstaat­lichen Haushaltsdefizite besser koordiniert werden müssten und dass eine neue, vollständig unabhängige Institu­tion die Zuständigkeit über die Währungspolitik der Union übernehmen müsse. Mit der zweiten Änderung der Europäischen Verträge, dem Maastrichter Vertrag vom 7. Februar 1992, wurde die Verwirk­lichung der Wirtschafts- und Währungsunion in drei Stufen festgelegt. Die erste Stufe bis Ende 1993 sollte den freien Kapitalverkehr ­zwischen den Mitgliedstaaten ermög­lichen. In der Stufe zwei von Anfang Januar 1994 bis Ende 1998 sollte die Konvergenz der wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten und eine verstärkte Zusammenarbeit ­zwischen den einzelstaat­ lichen Zentralbanken die Voraussetzung für die Phase drei sein, die schrittweise Einführung des Euro als Einheitswährung der Mitgliedstaaten und die Durchführung einer gemeinsamen Währungspolitik unter der Verantwortung der Europäischen Zentralbank. Der Maastrichter Vertrag – ab 1992 auf dem Weg zum Euro Im Laufe der jahrzehntelangen Vorbereitungen und auch kontroversen Auseinandersetzungen ging es immer wieder um die Grundsatzfragen: Ist eine gemeinsame Währung der Schlussstein bzw. die Krönung der Integra­tion oder kann eine gemeinsame Währung die Integra­tion im Europäischen Binnenmarkt nachhaltig fördern. In Wirtschaft und Wissenschaft, insbesondere bei Wirtschaftswissenschaftlern und Staatsrechtlern, ist die Antwort auf diese Frage bis heute nicht unumstritten. Die Diskussionen in den neunziger Jahren, die auf diese Bedenken eingingen, führten zur Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahre 1996. Buchstaben und Geist des Maastrichter Vertrages verlangen zweifelsohne eine Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft. Die wichtigste Voraussetzung hierfür ist eine unabhängige, zweifelsfrei auf die Sicherung der Geldwertstabilität verpflichtete Notenbank. Diese Voraussetzung ist nach dem Statut der Europäischen Zentralbank gegeben. Das Europäische Währungsinstitut, das als Vorläufer der Europäischen Zentralbank in kurzer Zeit bereits eine hohe stabilitätspolitische Autorität erworben hatte, hat in Europa die Einsicht durchgesetzt, dass Infla­tion nicht zu mehr, sondern auf Dauer zu weniger Arbeitsplätzen führt. Die Angleichung der langfristigen Zinsen wichtiger Länder auf niedrigerem Niveau zeigte, dass die Märkte der Währungsunion eine Realisierungschance gegeben haben, obwohl bis zuletzt Notenbanker und Wissenschaftler, insbesondere aus den USA, massive Bedenken geäußert haben, nicht zuletzt deshalb, weil Sie mög­licherweise die Vormachtstellung des Dollars im interna­tionalen Handel gefährdet sahen. Der spätere Bundespräsident Horst Köhler, einer der Väter der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, unterstrich 1996, es sei wichtig, „dass das geldpolitische Konzept und

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Instrumentarium der Europäischen Notenbank wirksam ist und auch die weitergehenden Grundlagen einer langfristigen Stabilitätskultur in Europa fördert. Dazu gehört die Anbindung der Geldpolitik und der Finanzmarktstrukturen an realwirtschaft­liche Vorgänge und insbesondere die Bewahrung einer Langfristkultur im Denken und Handeln von Wirtschaft und Politik.“ Der Euro als gemeinsame Währung stößt auf Skepsis Der Abschied von ihren na­tionalen Währungen, von Franc und Peseta, Lira, D-Mark und Gulden, Drachme und Escudo, fiel den Menschen unterschied­lich schwer. Vor allem die Deutschen, die mit der D-Mark glänzende Erfahrungen gemacht hatten und sie als Symbol und Ursache ihres Wirtschaftswunders begriffen, hatten damit Probleme. Die Fragen, Sorgen und auch Ängste der Menschen gegenüber der Europäischen Währungsunion bestimmten die zweite und dritte Phase der Umsetzung des Maastrichter Vertrages. Mit dem Euro standen die größte Währungsumstellung der Geschichte und zugleich ein bedeutendes historisches Experiment an. Das seit 1990 vereinigte Deutschland sah in der gemeinsamen Währung die Grundlage für eine fried­liche Nachbarschaft und kooperative Partnerschaft, wie es der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel formulierte. Für Bundeskanzler Helmut Kohl, der das Projekt vorantrieb, waren die deutsche und die europäische Einigung stets zwei Seiten der gleichen Medaille, der Euro also die lo­gische Folge der fortschreitenden Integra­tion. Eine Währung zu wechseln, bedeutet weit mehr, als den Menschen neue Geldscheine und Münzen in die Hand zu drücken. Die Menschen fassen zu einer anderen Währung nur Vertrauen, wenn sie dies als Symbol stabiler Kaufkraft empfinden. Um diesen Kern, die Stabilität gab es heftige, politische Auseinandersetzungen und skeptische Stimmen. Bis Anfang der neunziger Jahre galt in der deutschen Politik und der deutschen Wirtschaft eine politische Vorgabe für die Währungsunion: Sie sollte erst dann gewagt werden, wenn die wirtschaft­liche Integra­tion und auch die politische Integra­tion erreicht s­ eien. Am erfolgreichen Ende eines gemeinsamen und tief verflochtenen Europa sollte die gemeinschaft­ liche Währung das Einigungswerk krönen. Diese Krönungstheorie, auf die sich die Kritiker teilweise bis heute berufen, fand allerdings immer weniger Anhänger. Die Entwicklung der Währungsunion in den ersten Jahren hat die meisten Skeptiker überzeugt. Niedrige Infla­tionsraten in den zwölf Euroländern, fallende Zinsen, sinkende Haushaltsdefizite und eine deut­liche Verringerung der Staatsschulden in den meisten Mitgliedstaaten waren Anzeichen für gewonnenes Vertrauen. Der Wechselkurs zum Dollar stabilisierte sich, nach einem zwischenzeit­ lichen Tief, und der Euro stieg unbestritten zur zweiten Weltreservewährung auf, eine Posi­tion, die die D-Mark auf niedrigerem Niveau vorher schon innehatte. Die Europäische Zentralbank wurde nach dem Modell der stabilitätsstrengen Deutschen Bundesbank geformt. Kernpunkt war die „No-­Bail-­Out“-Klausel,

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die festhielt, dass weder z­ wischen den Mitgliedstaaten, noch durch die EZB den beteiligten Ländern Kredite für ihre Staatsbudgets gewährt werden dürfen. Der Euro ist mit einem gewaltigen Souveränitätsverzicht verbunden. Kein Land kann mehr eigenständig Geld drucken. Darüber entscheiden allein die autonome Europäische Zentralbank und ihre Gremien. Der Euro verlangt Haushaltsdisziplin und Strukturreformen Vertrauen in eine neue Währung verlangt vor allem Glaubwürdigkeit. Deshalb sind die Referenzwerte für die Konvergenz im Maastrichter Vertrag nicht nur eine ökonomische, mög­licherweise auch willkür­liche, sondern vor allen Dingen eine psycholo­gisch und politisch bedeutsame Wegweisung. In der Währungsunion fällt der Wechselkurs als Anpassungsventil für volkswirtschaft­liche Kosten- und Produktivitätsunterschiede weg. Eine gemeinsame Währung lässt die Illusion nicht mehr zu, anders als durch mehr Flexibilität und Fortschritte bei der Produktivität ließen sich neue Verteilungsspielräume erschließen. Damit wird die Verbesserung der internen Anpassungsfähigkeit zu einer zentralen Aufgabe für die Wirtschaftspolitik und die Tarifpartner. Sie verlangt vor allem mehr Flexibilität in der Arbeitsmarktpolitik und bei den Produk­tionsstrukturen. Die Währungsunion begünstigte diese Fitnesskur und verbesserte damit die Chancen der Europäischen Mitgliedstaaten, den unvermeid­lichen Strukturwandel und die Anpassung an die neuen Herausforderungen der Globalisierung zu bewältigen. Gleichzeitig war klar, dass eine gemeinsame Währung keine Vergemeinschaftung aller Bereiche der Wirtschaftspolitik erfordert. Ein gewisser Systemwettbewerb der Staaten ist auch in der Währungsunion mög­lich und wünschenswert, um zum Beispiel der ausufernden Staatstätigkeit und der wachsenden Tendenz zur Regulierung entgegen zu wirken. Eine politisch betriebene Vereinheit­lichung von Löhnen, Arbeitsbedingungen, Sozialleistungen auf dem höchsten Niveau wäre weder durchsetzbar noch im Interesse der strukturschwächeren Regionen. Deshalb war von Anfang an klar, dass Unterschiede im Entwicklungsstand der EU -Länder sich auch in der Währungsunion am besten durch marktwirtschaft­ liche Anpassungsprozesse aufholen lassen. Dies wird unterstrichen durch das Prinzip der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten auch in der Währungsunion. Der Vertrag von Maastricht und seine Weiterentwicklung, bzw. Auslegung in dem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt bieten keine Anspruchsgrundlage für einen Finanzausgleich nach dem Muster der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn ein linksradikaler Premier in Griechenland dies fordert. Weltweite Finanzmarktkrise legt Verschuldungsprobleme offen Auch wenn mit dem jüngsten Beitritt von Litauen zum Eurosystem Anfang 2015 die Eurozone beständig gewachsen ist, so sind trotzdem Zweifel geblieben, ob

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insbesondere die größeren Staaten in der Eurozone den notwendigen Willen und die Kraft zu den erforder­lichen Strukturanpassungen aufbringen. Erstmals sind diese Zweifel in den Jahren 2001 – 2005 aufgetreten, als insbesondere die beiden größten Volkswirtschaften in der Eurozone, die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Frankreich die Kriterien des Maastrichter Vertrages hinsicht­lich der Verschuldung mehrere Jahre hintereinander nicht eingehalten haben. Die sich daraus ergebende Diskussion führte zur Überarbeitung und Flexibilisierung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, in dem mehr Spielräume für Anpassungsprozesse eröffnet wurden. Die ersten Auswirkungen dieser nicht unumstrittenen Reform wurden spürbar im Rahmen der weltweiten Wirtschafts- und Bankenkrise, die ab 2007 die Volkswirtschaften aller Industriestaaten erfasste und mit der Lehman-­Pleite im September 2008 ihren damaligen Höhepunkt erreichte. Die Folgen waren gewaltige Bankenrettungspakte aus Steuermitteln, Bürgschaften und Hilfen in vielfacher Milliardenhöhe, sowie ein weltweiter Anstieg der Verschuldung um über 20 Prozent, auch wegen des im Jahre 2009 in allen Staaten erfolgten gewaltigen Wirtschafts- und Konjunktureinbruchs und der damit notwendigen zusätz­lichen Staatsausgaben. Bis zum Jahre 2007 funk­tionierte die Wirtschafts- und Währungspolitik auf der Grundlage des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakts durchaus zufriedenstellend. Wichtige Mitgliedstaaten der Eurozone konnten Ihre Staatsverschuldung deut­lich senken, darunter Italien, Belgien, Irland. Ledig­lich vier Staaten hatten damit Probleme, bevor die neuen Herausforderungen durch die interna­tionale Finanzmarktkrise kamen: Es waren Deutschland, Frankreich, Griechenland und Portugal. Nach der ersten Überwindung der weltweiten Finanzmarkt- und Bankenkrise, die von den USA ausging und durch vielfältige politische und wirtschaft­liche Fehlentwicklungen verursacht war, konnten einige Mitgliedstaaten der Eurozone aus eigener Kraft die Anforderungen der Finanzmärkte und der Stabilitätspolitik nicht mehr bewältigen. Die seit 2008 andauernde Finanz-, Fiskal-, und Wirtschaftskrise hat deut­lich offengelegt, dass die finanzpolitischen, haushaltspolitischen und makroökonomischen Ungleichgewichte nicht nur innerhalb der Einzelstaaten, sondern auch auf EU-Ebene eng miteinander verknüpft sind, insbesondere in den Ländern der Eurozone. Die wirtschafts- und finanzpolitische Steuerung wird verbessert Das verbesserte System der wirtschaftspolitischen Steuerung, das ab 2011 eingerichtet wurde und das nach wie vor auch durch neuere Gesetzgebungsprojekte weiterentwickelt wird, umfasst die Haushaltspolitik, makroökonomische Aspekte, das Krisenmanagement, sowie die makrofinanzielle Aufsicht auf der Grundlage abgestimmter, politischer Prioritäten und Leitlinien, die der Europäische Rat auf höchster Ebene festlegt. Die Mitgliedstaaten sind für die na­tionale Berichterstattung, den Austausch von Informa­tionen und die Umsetzung der

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vom Ecofinrat verabschiedeten Empfehlungen und Beschlüsse zuständig. In der Eurogruppe, die aus den Finanzministern der Mitgliedstaaten des Eurowährungsgebietes besteht und in der Regel gemeinsame Posi­tionen im Vorfeld des Ecofinrates festlegt, werden alle Angelegenheiten der Europäischen Währungsunion intensiv erörtert, mit Beteiligung der EZB, der Europäischen Kommission und unter vielfacher gesetzgeberischer, aber auch informeller Einbindung des Europä­ischen Parlaments. Der neue Rahmen für die Überwachung der Wirtschaftspolitik und für die Fiskalpolitik, der die präventive Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspaktes einführt und eine korrektive Komponente im Verfahren bei übermäßigem Defizit vorsieht, sowie die Sank­tionen neu regelt, greift insbesondere in die Souveränität der Mitgliedstaaten ein. Die neuen Regeln müssen sich allerdings noch bewähren, da bei den bisherigen Beanstandungen und Verstößen gegen die gemeinsamen Regeln das Durchsetzungsinstrumentarium noch allzu stumpf blieb. Insbesondere die nach der Finanzmarktkrise erfolgte Staatsschuldenkrise in einigen Ländern der Eurozone hat nicht nur neue Instrumente der wirtschaftspolitischen Steuerung und der makroökonomischen Überwachung erfordert, sondern auch gemeinsame Anstrengungen zur Stabilisierung der Euromitgliedstaaten. Die ab 2010 entwickelten Instrumente haben mehrere „Programmländer“ beansprucht, vor allen Dingen Griechenland mit einem umfassenden Schuldenschnitt und einer langfristigen Finanzierung seines Staatsdefizites, auf der Grundlage interna­tionaler Verträge, die auch nach Wahlen noch gelten sollten. Die Eurozone bleibt stabil – Griechenland muss sich selbst helfen Die Krisenländer der Eurozone haben in den letzten Jahren erste sichtbare Fortschritte bei der Anpassung und Steigerung Ihrer Wettbewerbsfähigkeit und bei der Konsolidierung öffent­licher und privater Haushalte erzielt. 2014 hat selbst das schwierigste Krisenland Griechenland erstmals einen sogenannten Primär­ überschuss im Haushalt erzielt, der von Konjunktureinflüssen und Zinszahlungen bereinigte Einnahme-­Ausgabeüberschuss der öffent­lichen Haushalte. Die Konsolidierungserfolge gingen überwiegend auf eine Verringerung der öffent­lichen Konsumausgaben zurück, dabei wurden allerdings auch wachstumsfördernde Investi­tionsausgaben gesenkt. In Griechenland, Italien und Portugal gelang die Steigerung der Primäreinnahmen, in Spanien haben die Reformen am Arbeitsmarkt erstmals nachhaltig gegriffen. Insbesondere eine gewisse Stabilisierung der privaten Schuldenstandsquoten in Portugal und Griechenland und ein Rückgang in Spanien haben dazu beigetragen, dass die letzten Jahre auch im Hinblick der wichtigen Indikatoren der Wettbewerbsfähigkeit und der außenwirtschaft­ lichen Ungleichgewichte in die richtige Richtung zeigen. Ledig­lich in Irland ist der private Schuldenstand immer noch untragbar hoch. Trotz erkennbarer Fortschritte ist die Verschuldungskrise im Euroraum nicht überwunden. Durch

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den jüngsten Beschluss der Europäischen Zentralbank ab März 2015 bis Dezember 2016, Staats- und Unternehmensanleihen aufzukaufen und damit insgesamt über eine Billion Euro zusätz­lich in den Geldkreislauf zu stecken, ist die Krise in eine neue Phase getreten. Bereits im Juli 2012 hatte EZB-Präsident Mario Draghi in London allen Spekulanten, die gegen einzelne Länder der Währungsunion spekulieren wollten, den Kampf angesagt. Es folgte eine Beruhigung an den Kapitalmärkten, die jedoch durch die jüngsten Probleme nach den Wahlen in Griechenland und durch eine vollständige Abkehr von der bisherigen Reformpolitik durch neue Turbulenzen in Frage gestellt wird. Während das Bundesverfassungsgericht wegen der Aufkaufprogramme verfassungsrecht­ liche Bedenken äußerte, weil damit das bisherige Verbot, Staatsschulden zu finanzieren, umgangen würde, hat die EZB bei ihrer jüngsten Entscheidung im Januar 2015 neue Argumente vorgebracht. Nicht nur die Probleme der anhaltenden Wachstumsschwäche in Südeuropa und die stagnierende Arbeitslosigkeit, sondern auch die zunehmende Divergenz der wirtschaft­lichen Entwicklung ­zwischen den einzelnen Regionen der Eurozone sind dafür als Begründung herangezogen worden. Sinkende Ölpreise und damit einhergehendes sinkendes Preisniveau und die von der EZB befürchtete Gefahr einer Defla­tion sind zusätz­liche Begründungen, deren Stichhaltigkeit sich nicht auf Anhieb erschließt. Die Krisenländer werden ohne eine beschränkte „Defla­tion“ bei Preisen und Löhnen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf Dauer nicht verbessern können, während sinkende Energiepreise eher als Konjunkturprogramm wirken. Geldpolitik der EZB kann Reformen nicht ersetzen Die ersten Maßnahmen der Europäischen Zentralbank in den letzten Jahren, mehr Geld in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen und damit die Kreditvergabe in Südeuropa zu erleichtern und die Staaten und die Banken stärker zu trennen, sind nicht erfolgreich gewesen. Insbesondere in Südeuropa haben die Banken vermehrt und nicht weniger Staatsanleihen gekauft, weil hier eine höhere Rendite erzielt werden konnte als bei Unternehmensinvesti­tionen und Krediten. Gleichzeitig sind durch eine Vielzahl von Maßnahmen die Anforderungen an die Risikobewertung und Eigenkapitalunterlegung des gesamten Bankensektors deut­lich erhöht worden, sodass in einigen Ländern mit einem, gegenüber Deutschland und Österreich stark abweichenden Bankensystem die Kreditvergaben nicht ausreichend gewährleistet werden konnten. Ob das neue Instrumentarium der Europäischen Zentralbank wirkt und sowohl die Konjunktur belebt als auch die realwirtschaft­liche Investi­tionsbereitschaft stärken kann, ist mehr als frag­lich. Auch die Tatsache, dass die Europäische Zentralbank mit ihrer Vielzahl von Maßnahmen, die in die gegenteilige Richtung laufen wie die geldpolitischen Ankündigungen der amerikanische Zentralbank, den Euro gegenüber

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dem Dollar gezielt geschwächt hat, mag die Konjunktur der exportorientierten Länder, insbesondere von Deutschland, durchaus beleben. In den Krisenländern ist dies jedoch eher frag­lich. Wertet man das Ergebnis von na­tionalistisch orientierten links- und rechtsradikalen Protestparteien in Europa, die erstmals bei der Europawahl gestärkt aufgetreten sind, richtig, dann scheint sich in der Europäischen Union und insbesondere in der Eurozone eine gewisse Reformmüdigkeit breit zu machen. Die neue griechische Regierung hat mit ihren Forderungen den Kurs, die fiska­lische Konsolidierung abrupt aufzugeben, einen erneuten Schuldenschnitt anzustreben und andere Mitgliedstaaten für ihre mangelnden Reformen und die innenpolitischen Fehlentwicklungen verantwort­lich zu machen, eine äußerst kritische Diskussion angestoßen. Daran ändern auch weitere Reformen auf europäischer Ebene, insbesondere das im November 2014 angelaufene Projekt der Europäischen Bankenunion wenig, weil trotz vorhandener Fortschritte die Ergebnisse auf sich warten lassen. Um die Krise nachhaltig zu überwinden, müssen Fortschritte bei der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, bei der Sanierung der öffent­lichen Haushalte, dem Abbau der privaten Verschuldung, sowie der Verbesserung der Finanzierungsbedingungen für investierende Unternehmen erzielt werden. Deutschland muss als größte Volkswirtschaft der Eurozone daran ein erhöhtes Interesse haben, auch wenn immer mehr Ideologen von links und rechts die deutsche Haushaltskonsolidierungspolitik als einen Irrweg bezeichnen. Entscheidend wird es sein, ob es gelingt, Italien und Frankreich auf den richtigen Weg zu halten, bzw. in diesen Ländern die längst überfälligen Reformfortschritte zu erzielen, die auch notwendig wären, ohne dass wir eine gemeinsame Währung hätten. Der einfachere Weg einer Abwertung ist in Zeiten wachsender globaler Herausforderungen, zunehmender Vernetzung der Märkte und einer neuen Dimension der Digitalisierung kein Patentrezept für dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Inwieweit die jetzt getroffenen Maßnahmen tatsäch­lich greifen, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Unumstritten ist, dass eine Veränderung der Architektur der Währungsunion nur mit Vertragsänderungen mög­lich ist. Ob dazu in Europa zurzeit die Kraft ausreicht, muss eher bezweifelt werden. Langfristig wird der Euro von fast allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eingeführt werden und sich zu einem Stabilitätsanker weiter­entwickeln. Die dazu notwendigen Reformen sind auf dem Weg. Das Europäische Parlament hat von Anfang an einen aktiven Anteil an der Durchsetzung der gemeinsamen Währung. Auch die vom Parlament mehrheit­lich geforderte und durchgesetzte makroökonomische Überwachung der Ungleichgewichte ist nicht allein mit neuen Verfahren zu lösen. Die Verantwortung dafür liegt letztend­lich bei den Mitgliedstaaten und beim politischen Gestaltungswillen der gewählten Akteure. Durch die Verabschiedung des Two-­Packs trug das Parlament dazu bei, einen Rechtsrahmen der EU für eine verstärkte wirtschaft­ liche Steuerung im Eurowährungsgebiet zu schaffen, sowohl in Bezug auf die

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haushaltspolitische Überwachung, als auch die Entscheidungsfindung und für das Überwachungsverfahren für Mitgliedstaaten, die einem makroökonomischen Anpassungsprozess unterzogen wurden. Der Euro hat großes Potenzial – heute und in Zukunft Der Euro hat das Potenzial auch in den nächsten Jahrzehnten, den Europäischen Binnenmarkt, Arbeitsplätze, Investi­tionen, finanzpolitische Stabilität und interna­ tionale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Voraussetzung ist dafür, dass die Mitgliedstaaten die verabschiedeten Gesetze und Absprachen einhalten. Nur wenn dies nicht gewährleistet sein sollte, alle Reformmaßnahmen ins Leere laufen würden und einzelne Regierungen die längst offenkundigen Fehlentwicklungen früherer Jahrzehnte bewusst wiederholden würden, könnten gravierende Probleme in der Eurozone auftauchen. In welcher Weise durch die sinkenden Ölpreise, die interna­tionale Politik, die Stabilität der Industriestaaten, die Zukunftsfähigkeit der Schwellenländer, die außenpolitischen Machtverhältnisse in der Welt, auch die Auswirkungen auf Armutsbekämpfung und die Klimapolitik, dauerhaft verändert werden, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Der Euro war und ist ein währungspolitisches „Pfund“, das schon in der Vergangenheit dazu beigetragen hat, Krisen gemeinsam zu überwinden. Wer diese gemeinsame Währung leichtfertig aufgibt oder die Währungsunion spaltet, will aus einem langsam fortschreitenden Europa eine Rückentwicklung zu na­tionalstaat­lichem Denken und Protek­tionismus fördern. Das allerdings sollten verantwort­liche Politiker nach den Erfahrungen der letzten 200 Jahre in Europa endgültig aus ihren Programmen streichen. Die „Europäische Einheit in Vielfalt“, wie sie Hans-­Gert Pöttering über viele Jahrzehnte seines europapolitischen Wirkens intensiv und überzeugend betrieben hat, ist aktive Friedensgestaltung. Die Lehre aus der Krise ist: Wir brauchen mehr Europa, aber: Europa muss 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den Köpfen und Herzen der Menschen neu verankert werden. Am Ende bleibt Anfang 2015 die bisher unbeantwortete Frage: Wird der auf den Erfolgen der D-Mark beruhende Stabilitätswandel des Euro durch eine Änderung der grundlegenden Richtung hin zu einer an der italienischen Lira orientierten Weichwährung abgelöst? Hoffent­lich nicht! Davon, von dieser Richtungsentscheidung, wird es abhängen, ob der Euro im nächsten Jahrzehnt die interna­tionale Posi­tion als Weltreservewährung, als Motor eines hoch entwickelten, innovativen europäischen Binnenmarktes und als Stabilitätsanker in politisch instabilen Zeiten aufrechterhalten kann. Konzepte einiger linker europäischer Regierungen oder von den „vereinigten“ Rechts- und Linksextremisten in Griechenland werden und können nicht aufgehen, wie die Wirtschafts- und Währungsgeschichte immer wieder neu belegt. Nur eine stabile Währung sichert die Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitsplätzen und Investi­tionen,

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von Gütern und Dienstleistungen in einer globalisierten Welt, die nicht nach linken Wahlversprechen handelt, sondern nach knallharten Fakten, nach demografischen Entwicklungen und orientiert an menschlichen Grundbedürfnissen. Eine „Rolle rückwärts“ in der Wirtschafts- und Währungspolitik Europas würde in ein unübersicht­liches wirtschaft­liches und politisches Chaos führen. Dies kann niemand wollen, die EZB nicht, die EU -Kommission nicht und Deutschland schon gar nicht. Ob der Euro Triebfeder bleibt oder doch noch zum Sprengsatz werden könnte, hängt von klugen politischen Entscheidungen in den nächsten Monaten und Jahren ab. Die linke Rechnung, dass Deutschland am Ende schon für alle Staatsschulden der Eurozone bürgt, wird nicht aufgehen. Der Parlamentspräsident Hans-­Gert Pöttering wäre niemals der Selbstüberschätzung in politischen Grundsatzfragen anheimgefallen, wie sein heutiger Nachfolger Martin Schulz. Deshalb gilt: Jeder Mitgliedstaat hat auch in der Eurozone seine eigene Verantwortung zu tragen, das Europäische Parlament ist als „Vormund“ ungeeignet.

Hoffnung und Ermutigung für Europa Die „kleine Straßburger Europa-Enzyklika“ von Papst Franziskus Reinhard Marx

Als im September 2014 bekannt wurde, dass Papst Franziskus am 25. November 2014 das Europäische Parlament in Straßburg besuchen und vor den Abgeordneten eine Rede halten würde 1, hatte ­dieses Ereignis durchaus eine Vorgeschichte. Diese gründet im „Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs“ 2008, aus dessen Anlass der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-­ Gert Pöttering, namhafte Vertreter von Religionen und Kulturen zu Reden in das Plenum des Europaparlaments eingeladen hatte. So kam es, dass über das ganze Jahr verteilt religiöse Autoritäten, darunter der Großmufti von Syrien, Sheikh Ahmad Badr al-­Din Hassun, der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Patriarch Bartholomaios I., und der Dalai Lama zu den Abgeordneten des Europäischen Parlaments sprachen.2 Hans-­Gert Pöttering hatte im Rahmen einer Privataudienz am 23. März 2007 auch Papst Benedikt XVI. zu einer Rede vor dem Europaparlament eingeladen, von der er in seinen Erinnerungen schreibt: „Es wäre ohne Zweifel der Höhepunkt des Jahres des Dialogs der Kulturen im Europäischen Parlament gewesen.“ 3 Doch die Rede des Papstes kam seinerzeit nicht zustande. Pötterings Nachfolger als Parlamentspräsident, Jerzy Buzek und Martin Schulz, erneuerten immer wieder die Einladung an den Papst, auch nach dem Wechsel des Pontifikats von Benedikt XVI. zu Franziskus. Als ­Franziskus schließ­lich die Einladung im September 2014 akzeptierte, so war dies vor allem auch die Frucht eines Samens, der lange zuvor von Hans-­Gert Pöttering eingepflanzt worden war.

I. Die Erwartungen an die Rede von Papst Franziskus waren im Vorfeld hoch gespannt. Welche Botschaft wird dieser „Papst vom Ende der Welt“, der Sohn von Auswanderern, die Europa auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen hatten, den Europäern bringen? Hat er, der Lateinamerikaner, genug Affinität zu Europa? Die meisten, die sich diese Fragen stellten, hatten noch die großen Europareden von Papst Johannes Paul II. im Ohr: Seine Rede am 9. November 1982 in Santiago de Compostela, als er Europa aufrief, sich selbst zu finden und zu seinen Ursprüngen und christ­lichen Wurzeln zurückzukehren.4 Seine Rede vor dem Europäischen Parlament am 11. Oktober 1988, ein Jahr vor dem Fall

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des Eisernen Vorhangs, als er das Wort von den beiden Lungenflügeln Europas prägte, der west­lichen und der öst­lichen Tradi­tion, derer Europa gleichermaßen bedürfe, um atmen zu können 5, und schließ­lich sein Schreiben „Ecclesia in Europa“ vom 28. Juni 2003, in dem er festhielt, dass Europa sich nicht selbst genügen dürfe, sondern dass Europa immer schon „Öffnung“ bedeute 6. Auch sein Nachfolger, Papst Benedikt XVI., hatte sich immer wieder eindring­ lich zu Europa geäußert, etwas pessimistischer vielleicht und besorgt über die mög­liche Selbstaufgabe Europas und den Verlust seiner Identität. Europa, so seine Einschätzung, sei von einem unerklär­lichen Selbsthass besessen, der es ihm unmög­lich mache, sich selbst und seine Vergangenheit, seine Kultur und seine Tradi­tionen zu bejahen und anzunehmen. Nur eine Rückbesinnung auf seine Wurzeln, das Christentum als wesent­licher Teil davon mit eingeschlossen, würde es ermög­lichen, dass Europa auch eine Zukunft habe und sich nicht geschichts- und identitätsvergessen auflöse und verschwinde.7 Was würde Papst Franziskus Europa zu sagen haben? Kurz zusammengefasst lässt sich nach seiner Straßburger Rede festhalten: Dieser Papst „fremdelt“ nicht mit Europa, im Gegenteil: sein „Blick von außen“ auf Europa ist unverstellt und erfrischend. Er nimmt die Herausforderungen und auch die Schwächen Europas, die sich unter den gewandelten und komplexen Bedingungen der Globalisierung anders darstellen als vor 25 Jahren, zur Zeit des Besuchs von Papst Johannes Paul II. im Europäischen Parlament, aus einem anderen Blickwinkel, aus dem des Nicht-­Europäers, deut­lich wahr und: er benennt sie auch klar. Gleiches gilt allerdings für seinen Blick auf die Potenziale und die Mög­lichkeiten, die Fähigkeiten und die Talente, die Europa besitzt und die es zum Wohl der Welt zu aktivieren und einzusetzen gilt. Seine Rede war ­­Zeichen seines Interesses, seiner Sorge und seiner Wertschätzung für Europa und das politische Integra­ tionsprojekt der Europäischen Union, Ermahnung und Ermutigung zugleich.

II. Papst Franziskus äußert seine Sorge über die scheinbare Müdigkeit Europas, den Mangel an Vision und an Inspira­tion, der heute von Europa ausgeht. ­Manche Kommentatoren sind über jenes Bild gestolpert, in dem er Europa mit einer alten, abgelebten, nicht mehr fruchtbaren Frau vergleicht. Im Übereifer ihrer Erregung haben sie den klas­sisch-­bib­lischen Bezug d ­ ieses Bildes übersehen oder nicht verstanden. Sie übersahen dabei allerdings auch die beiden Gefahren, die Franziskus hier benennt: einerseits die Tendenz, die fehlenden Ideale und die mangelnde Kreativität und Dynamik durch Bürokratie und eine überhandnehmende, auf sich selbst bezogene und um sich selbst kreisende Verwaltung zu kaschieren und andererseits das wachsende Misstrauen und den Argwohn, die Institu­tionen, die sich immer mehr von der Lebenswelt entfernen, bei den

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Menschen wecken und damit das politische Leben, und im letzten Schritt die Demokratie selbst bedrohen. Papst Franziskus legt damit den Finger auf eine Wunde, die, wenn man den ersten Anzeichen trauen darf, auch von den Verantwort­lichen in Parlament und Kommission wahrgenommen wird. Davon zeugen nicht nur der Applaus, den er für seine Rede im Parlament erhielt, sondern auch erste Ansätze im politischen Programm, das die Europäische Kommission am Ende des letzten Jahres vorgelegt hat. Es ist hier nicht der Ort, diese Ansätze näher auf ihre mög­lichen Auswirkungen zu analysieren, aber aus dem Programm selbst lässt sich zumindest ein „gesteigertes Problembewusstsein“ gegenüber der Frage nach der Bürger- und damit Lebensferne europäischer Politik und dem daraus resultierenden Desinteresse der Bürger erkennen. Das Hauptproblem sieht Papst Franziskus allerdings in einer „Verabsolutierung der Technik“ und einer „Verwechslung von Zielen und Mitteln“. Die Förderung der wirtschaft­lichen Integra­tion Europas war ursprüng­lich – als eine weitgehende politische Integra­tion am Veto Frankreichs Mitte der Fünfzigerjahre scheiterte – der Weg, den Integra­tionsprozess fortzusetzen. Damit verbunden war die Hoffnung, die politische Integra­tion dann, wenn die Zeit reif sei, nachholen zu können. Das Scheitern des Verfassungsvertrages im Jahr 2005 zeigt allerdings, dass die „Zeit dieser Reife“ noch immer nicht gekommen zu sein scheint. Damit wurde die Wirtschaft nicht nur zum Motor, sondern mehr und mehr auch zum Ziel der Integra­tion. Unter den Herausforderungen der Globalisierung wurden Märkte dereguliert und liberalisiert, im Besonderen die Finanzmärkte. Die Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise, die seit dem Jahr 2007 herrscht – und die europäische Politik weiter beherrscht und vor sich hertreibt –, droht damit immer wieder zu einer Existenzkrise der Europäischen Union zu werden. Das zweite und grundsätz­lichere Bild zur Beschreibung der Krise ist das der „Wegwerfkultur“. Papst Franziskus verwendet es in unterschied­lichen Graden: Angesichts des Hungers in der Welt spricht er von der verantwortungslosen Vernichtung von Lebensmitteln, von der Verschwendung von Rohstoffen und von Gütern. Eindring­licher wird sein Bild allerdings, wo er es auf den Menschen selbst anwendet: Alles, was nicht den Ansprüchen einer „Marktgesellschaft“ 8 genügen kann, wird, wenn es „ausgedient“ hat oder unproduktiv ist, an den Rand gedrängt, entsorgt, vernichtet: Arbeitslose, Arme, Kranke, Alte, Schwache, Flüchtlinge, Ungeborene. Dieses Bild provoziert und ruft Widerspruch hervor, weil es an die unheilvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts erinnert, an die Zeiten der totalitären und menschenvernichtenden Regime. Gleichzeitig ist es prophetisch: Es zwingt uns, genau hinzusehen, was geschieht, ohne den Schleier „mildernder Umstände“, von „Sachzwängen“ oder „Alternativlosigkeit“.

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III. So klar Papst Franziskus in der Darstellung der Schwäche Europas ist, so deut­lich ist auch das Ziel seiner Rede: Hoffnung und Ermutigung. „Wie kann man“, so fragt er, „also der Zukunft wieder Hoffnung verleihen, so dass – angefangen bei den jungen Genera­tionen – das Vertrauen wiedergewonnen wird, das große Ideal eines vereinten und friedvollen, kreativen und unternehmensfreudigen Europas zu verfolgen, das die Rechte achtet und sich der eigenen Pflichten bewusst ist?“ Auf der Suche nach dem, was Hoffnung geben könnte, lädt er dazu ein, „zur festen Überzeugung der Gründungsväter der Europäischen Union“ zurückzukehren, zum Mittelpunkt d­ ieses „ehrgeizigen politischen Plans“: dem Menschen, nicht so sehr Bürger oder Wirtschaftssubjekt (oder Objekt), sondern dem Menschen als „eine mit transzendentaler Würde begabte Person“. Das Bewusstsein dieser Würde, die jedem Menschen unveräußer­lich zukommt, ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, in dem mühevoll um ­dieses Verständnis gerungen wurde. Es speist sich aus unterschied­lichen kulturellen Quellen – „Griechenland und Rom, keltischer, germanischer und slawischer Boden, das Christentum“. Die Europäische Union hat sich der Würde des Menschen besonders angenommen (Art. 1 der Charta der Grundrechte der EU: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu ­schützen.“) und fördert sie mit ihrem Einsatz für die Menschenrechte. Allerdings droht sie dabei in die Falle einer überbordenden und zunehmend individualistischen Erweiterung dieser Rechte zu tappen und dadurch jene zweite notwendige Dimension des Menschen aus den Augen zu verlieren, die der Papst mit dem Wort „transzendental“ angesprochen hat. Der Mensch ist immer schon über sich hinaus verwiesen. Er ist eingebunden in einen sozialen und gesellschaft­lichen Kontext oder, anders ausgedrückt, verwiesen auf ein „Du“ und ein „Wir“. Da der Mensch ein zutiefst rela­tionales Wesen ist, muss ein Ausgleich z­ wischen der individuellen und der sozialen Dimension gefunden werden, ­zwischen dem Recht des Einzelnen und dem Gemeinwohl. Das zu gewährleisten und die Menschenwürde zu ­schützen, sieht Papst ­Franziskus als die „große Aufgabe der Politik“. Im Vergleich zur harten Realität des politischen Alltagsgeschäfts ist seine Ermutigung an die Politiker, sich ihrer eigent­lichen Aufgabe zu besinnen, eigentüm­lich berührend: „Sie sind in Ihrer Berufung als Parlamentarier auch zu einer großen Aufgabe ausersehen, die vielleicht unnütz erscheinen mag: sich der Gebrech­lichkeit anzunehmen, der Gebrech­lichkeit der Völker und der einzelnen Menschen. Sich der Gebrech­ lichkeit anzunehmen bedeutet Kraft und Zärt­lichkeit, bedeutet Kampf und Fruchtbarkeit inmitten eines funk­tionellen und privatistischen Modells, das unweiger­lich zur ‚Wegwerf-­Kultur‘ führt.“ Wohl selten ist bisher, nicht nur von der K ­ irche, einfühlsamer und eindring­licher und mit einer besonderen Hochachtung über den Beruf und die Berufung des Politikers gesprochen worden als hier durch Papst Franziskus. Und gleichzeitig lenkt er den Blick auf eine

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Tatsache, die bei der Rede über die Menschenwürde oft übersehen wird: Erst am schwachen, bedrohten und zerbrech­lichen Leben wird auch die Verletzbarkeit und Zerbrech­lichkeit dieser Würde sichtbar und bewusst. Europa ist „Einheit in der Verschiedenheit“, und in der „weisen“ Verbindung von Einheit und Verschiedenheit, Abstand und Nähe, liegt die Dynamik und Besonderheit Europas, die sich in den beiden Prinzipien Solidarität und Subsidiarität, nicht nur der Katho­lischen Soziallehre, sondern auch der Europäischen Union, ausdrückt. In der Bewahrung dieser Dynamik, in der Aufrechterhaltung des „fruchtbaren und konstruktiven Gegensatzes“, von dem Demokratie lebt und den es vor jeder vorschnellen Vereinheit­lichung zu s­ chützen gilt, sieht Papst Franziskus die zweite Aufgabe der Politik, eine, wie er selbst festhält, nicht einfache Aufgabe angesichts eines globalen Drucks zur Vereinheit­lichung durch die Macht der Wirtschaft.

IV. So klar Papst Franziskus die Schwächen und Gefahren benennt, so deut­lich sieht und nennt er Europas Begabungen und Talente. Diese zu erkennen, zu fördern und zum Wohl der Menschheit einzusetzen, darin liegt die große Herausforderung und Aufgabe. Beginnend bei der Erziehung, die immer beides umfasst, Wissen und menschliches Wachstum, und die in der Familie beginnt, jener „Ur-­Zelle der Gesellschaft“, schlägt er einen Bogen über die Wissenschaft und die Universität, die Ökologie, den Kampf um eine würdige, den Menschen ein Leben in Würde ermög­lichende Arbeit bis hin zu einem der drängendsten Probleme Europas: die ungeregelte Migra­tion an seiner Südgrenze. In all diesen Fragen verbinden sich Hoffnungen mit Europa, mit seinem Potenzial, Lösungen zu finden und eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Zwei ­Themen sind ihm dabei ein besonderes Anliegen, auf die er bereits in der Vergangenheit immer wieder hingewiesen hat. Das eine ist die Ökologie, der Umwelt- und Klimaschutz. Franziskus erinnert uns an die Tatsache, dass wir nicht Herren, sondern Hüter und selbst Teil der Schöpfung sind. Das bedeutet Verantwortung und die Einhaltung des rechten Maßes, um allen Menschen, den heutigen wie den zukünftigen Genera­tionen, die gleichen Lebenschancen einzuräumen. Diese Verantwortung liegt nicht ausschließ­lich bei der Politik oder den Politikern, sondern letzt­lich bei jedem Einzelnen von uns. Sein zweites großes Anliegen ist das Problem der Migra­tion, die Situa­tion im Mittelmeer. Wie bereits bei seinem Besuch in Lampedusa, wenige Monate nach seiner Wahl zum Papst, weist er auf die unerträg­liche Situa­tion hin: „Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird!“ Er traut Europa zu, hier Lösungen zu finden – „wenn es korrekte, mutige und konkrete politische Maßnahmen zu ergreifen versteht“ –, die allerdings mehrere Dimensionen umfassen: den menschenwürdigen Umgang mit jenen, die zu

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uns kommen, einen Ausgleich z­ wischen den Bedürfnissen derjenigen, die nach Europa kommen – als Migrant oder als Schutzbedürftiger – und den Europäern selbst, und schließ­lich die selbstkritische sozio-­politische Arbeit an jenen Konflikten und Problemen, die die Migra­tionsströme auslösen. In all diese Herausforderungen, denen es sich zu stellen gilt, und in die Begabungen, die dazu beitragen werden, Lösungen zu finden, sind die Christen mit hineinverwoben. Sie sind Teil der Geschichte Europas, seiner Schönheit, seiner Fehler, seiner Konflikte. Das Christentum ist nicht nur Erbe, das den Kontinent in der Vergangenheit mit gestaltet und geformt hat, sondern auch ein Beitrag zur Gestaltung Europas in der Zukunft. Es ist nicht Bedrohung, sondern Bereicherung, Teil einer richtig verstandenen Pluralität und eines Humanismus, „in dessen Zentrum die Achtung der Würde der Person steht“. Diesen Reichtum seiner religiösen Wurzeln gilt es zu n­ utzen, vor allem in Zeiten, in denen religiöser Extremismus sich zu verbreiten und die Errungenschaften der Humanität zu vernichten droht. V. Die Besinnung auf die Bedeutung der Person, auf die derzeitige Schwäche und auf die großen Mög­lichkeiten und Begabungen Europas führt Papst Franziskus zum Schlussappell an die Europaabgeordneten: „Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußer­lichen Werte; das Europa, das mutig seine Vergangenheit umfasst und vertrauensvoll in die Zukunft blickt, um in Fülle und voll Hoffnung seine Gegenwart zu leben.“ Diese Aufforderung zu einem mutigen und verantwortungsvollen Handeln für die Zukunft fasst letzt­lich zusammen, um was es dem Papst in Straßburg ging: Seine Rede vor dem Europaparlament war eine „kleine Europa-­Enzyklika“, eine „Botschaft der Hoffnung und der Ermutigung“ für alle Europäer und auch ein Weckruf für die K ­ irche, sich engagiert für das „Projekt Europa“ einzubringen. Als politisch engagierter Christ hat Hans-­Gert Pöttering d­ ieses Postulat, sich aus christ­licher Verantwortung für die europäische Einigung zu engagieren, seit jeher gelebt. Deshalb kann man die Rede des Papstes als eine Bestätigung auch seines Lebenswerks verstehen. Gleichzeitig ist sie jedoch ein Appell an die ­Kirche und an alle Christen, das Projekt Europa neu als gemeinsame Aufgabe und Herausforderung anzunehmen.

1 Die Rede von Papst Franziskus am 25. November 2014 vor dem Europäischen Parlament wurde, gemeinsam mit der Rede vor dem Europarat am gleichen Tag, publiziert unter: Europa, wach auf! Die Straßburger Reden des Papstes Franziskus, Freiburg 2014. Online

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ist die Rede zu finden unter: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/ november/documents/papa-­francesco_20141125_strasburgo-­parlamento-­europeo.html. Vgl. Hans-­Gert Pöttering: Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg. Köln u. a. 2014, S. 418 – 425. Die einführenden Ansprachen des Parlamentspräsidenten sind dokumentiert in: Hans-­Gert Pöttering: Im Dienste Europas. Reden aus den Jahren 2007 – 2009. Bonn 2009, S.  257 – 267. Pöttering: Wir sind zu unserem Glück vereint, S. 419. http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/speeches/1982/november/documents/ hf_jp-­ii_spe_19821109_atto-­europeistico_it.html. http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/speeches/1988/october/documents/hf_jp­ii_spe_19881011_european-­parliament_fr.html. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Nachsynodales Aposto­lisches Schreiben Ecclesia in Europa (Verlautbarungen des Aposto­lischen Stuhls, H. 161). Bonn 2003 (http://www.dbk-­shop.de/media/files_public/eiblurybv/DBK_2161_2Auflage.pdf.) Beispielhaft ­seien genannt seine beiden Beiträge in Marcello Pera/Joseph Ratzinger: Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005 sowie seine Rede anläss­lich des COMECE-Kongresses in Rom 2007: http://www.vatican.va/ holy_father/benedict_xvi/speeches/2007/march/documents/hf_ben-­xvi_spe_20070324_ comece_ge.html. Vgl. Michael Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die mora­lischen Grenzen des Marktes. Berlin 2014.

Future Development of EU Treaties Íñigo Méndez de Vigo

Let me begin by expressing my gratitude to the Konrad Adenauer Founda­tion: it has presented me with the opportunity of partaking in this commemorative volume in honour of Dr Hans-­Gert Pöttering. For this, I am immensely grateful. Those who have met Dr Pöttering will surely comprehend why. I recall meeting Dr Pöttering for the first time in 1992, at the Congress of the European People’s Party in Athens. Back then, I had just become a Member of the European Parliament, so I did not know any of my new colleagues. At the plenary session of the Congress, it was the turn of a blond man in his forties to take the floor. While he was heading for the lectern, one of the senior EPP leaders sitting next to me, Fernando Suárez, prompted me to listen carefully to the incoming speaker. ‘Very soon’, he said to me, ‘this man will play a crucial role in Europe.’ That blond man was Hans-­Gert Pöttering. As a swift glance at the resumé of Dr Pöttering will corroborate, the predic­ tion of Fernando Suárez was indeed fulfilled by a great deal. To have served as the President of the EPP for eight exciting years and to be the chairman of the much-­respected Konrad-­Adenauer-­Stiftung are but a couple of points of a long list of posts at the service of Europe and the Europeans. I could go on and on for hours, enumerating his achievements; let me just highlight one in particular, given the impact that it would have on my life. When Dr Pöttering was serving as Vice-­President of the EPP Group at the European Parliament, he chaired the working group on the revision of EU Treaties, in prepara­tion for the EPP summit in Madrid in 1996. Its conclusions, dubbed the Pöttering Paper, would end up as the basis for the proposal of the European Conven­tion on the Future of Europe. And thenceforth, everyone knows the story. Hans-­Gert Pöttering has been, and will be for long, one of those who has struggled the most for an ever-­closer Union among the peoples of Europe. In his determined efforts, one of the key aspects was revising the Treaties, or, to put it more accurately, re-­adapting them to the impending realities of our continent and of our world. Precisely, I will always remember thankfully his support when I was part of the Conven­tion on the draft Charter of Fundamental Rights and of the Conven­tion on the Future of Europe; throughout both events, Dr Pöttering, first as President of the EPP Group and then as President of the European Parliament, was truly a man for all seasons. As a way of honouring his many years with his sleeves rolled up for Europe, let me paint a picture of what the future development of EU Treaties could be like in the coming years.

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1. Revising the Treaties: Definitely not a quick fix for complex challenges In European circles, we are currently witnessing an ever-­growing number of voices calling for the revision of the Treaties – or, rather, demanding it. ‘Further integra­tion or adapta­tion’, they claim, ‘is a must, and it is only achievable through amending the primary law of the Union.’ Now, let us think a bit more critically: Is this proposed wave of reform truly feasible? Apparently, the progress made in integra­tion under the momentum of the treaty of Lisbon seems to prove these demands right: this latest revision of the Treaties has made it possible, inter alia, to communitise the police and judicial coopera­ tion in criminal matters, to extend the ordinary legislative procedure to further areas and to coordinate the foreign policy of the member states more tightly. Having posited this, let us not delude ourselves. We are all immersed in a society in which an item is delivered a scant few hours after being ordered at the click of a mouse. Inexorably, everyone in it tends to imagine that the path leading to the treaty of Lisbon was swift and unhindered. The reality was well different: the attainments in the treaty of Lisbon are the end result of a prolonged process, slow and unhurried, which took off in 1997 and concluded as late as December 2009. In 1997, with the ‘big-­bang’ eastward enlargement on the horizon, the five largest member states started to fear losing leverage in the Council, as a result of their ebbing voting weight. This is why, on the occasion of the extraordinary meeting of the European Council in Noordwijk, they declared that, in exchange for increased weight in the Council, they would accept each having a single Commissioner on the European Commission, instead of two. This statement was enshrined in the Protocol on the Institu­tions with the Prospect of Enlargement of the European Union, annexed to the treaty of Amsterdam. The Treaty Establishing a Constitu­tion for Europe (2004) went beyond this commitment: the number of Commissioners would be of only two-­thirds of the number of member states. Thus was stifled the subtle whiff of intergovernmentalism which stemmed from the fact that each state had the right to put one of its own na­tionals on the College of Commissioners. Thenceforward, the Treaties could assert, with no embarrassment whatsoever arising from its composi­tion, that this Institu­tion was entrusted with defending the common interest of the Union. As many other aspects of the constitu­tional treaty, this more reduced Commission would find its way into the treaty of Lisbon. Now, as my old-­dog former colleagues at the European Parliament know, nothing has ever been simple in the European construc­tion process. The drop in the number of Commissioners ended up somehow distorted when, in order to get Ireland to ratify the treaty of Lisbon, a compromise was agreed, according to which there would be as many Commissioners as member states. The result: a huge Commission of twenty-­ eight members. We were back to square one.

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What are the lessons that we can learn from this story? Oddly enough, I believe they are implicit in the ordinary revision procedure provided for by the treaty of Lisbon itself. This is a long, unhurried process, requiring a Conven­tion of na­tional and European representatives which must reach a consensus to adopt a recommenda­tion for amendment. Then, this recommenda­tion must be approved unanimously at a Conference of representatives of member states. Finally, the reform must be ratified by each and every member state. Hence, shunning the haste and striving for basic consensus are the keystones of the revision procedure. It all aims to effectively implement the agreements reached, rather than to simply approve those agreements. Little does this differ from the reform procedure established in the Spanish constitu­tion, from which oozes a constant effort to warrant stability in the political life of the country. Reforms, therefore, cannot be rushed, lest they end up coming to nothing. All those voices that claim a prompt in-­depth revision of the Treaties are bound to acknowledge that, as of today, neither the basic consensus nor the lapse of time for a much needed maturing of proposals is a reality. At a time when a particular member state demands the devolu­tion of EU powers in some policy areas, while others, amongst which Spain, defend an evolu­tion towards a Politi­ cal Union, it becomes clear that the consensus required for a prominent reform to have a successful end is conspicuous by its absence. 2. If not revising the Treaties, then what? If a revision of the Treaties appears to be out of ques­tion, how to go forward in integra­tion? Because, admittedly, some re-­adjustments in the European project are of need. At this point there are, to my understanding, two potential lines of advance. A first possibility would be to modify EU provisions, albeit without refashio­ ning the Treaties: this is what is commonly referred to as amendments à traité constant. In other words, the existing law is to be used as a basis for pushing forward integra­tion. As a matter of fact, this is already being done, and quite intensely, I might add, in the economic realm: indeed, we have all heard about the ‘euro area governance’ (Six-­Pack, Two-­Pack, European Semester) and the Banking Union. Progress is also being made in the political arena; the best example of this is the appointment as President of the European Commission of the candidate of the political group that won the elec­tions to the European Parliament in May 2014. Lastly, as for the institu­tional domain, President Juncker has structured his Commission around several Vice-­Presidents, who are in charge of coordinating teams of Commissioners. A second possibility which I deem available when it comes to deepening integra­tion without altering the Treaties is to put into practice, once and for all, some unimplemented elements provided for under the treaty of Lisbon. These

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are, amongst others, the accession of the European Union to the European Conven­tion on Human Rights or the permanent structured coopera­tion in the area of the Common Security and Defence Policy. 3. But what if it were possible…? In the event that, despite the previous considera­tions, a fully-­fledged revision of the Treaties were to be undertaken, it should bear on certain provisions and not be carried out haphazardly. Let me develop on these two determinants. As regards the former, that is, the precise stipula­tions that are ripe for sustaining reform, I would recommend that priority be given to modifying three facets of the very procedure of amendments. Or, as I like to put it, ‘Let’s amend how to amend!’ The first aspect to be remodelled has to do with the majority required for approving a revision. Here, unanimity should be replaced by a super-­qualified majority of both member states and citizens. Needless to say, this would not apply to future enlargements, which, given that they alter the essence of the Union, should be dealt with under the unanimity rule. The second facet that I see fit to modify would be the entry into force of every revision. It should require the ratifica­tion of only a super-­qualified majority of member states, thus lightening and hastening the effective implementa­tion of the renewed Treaty. The third one is related to the possibility of a referendum to validate a reform. Were this referendum to be held, it should have a European scope and its outcome should only take into account Europe-­wide results. Now, on the subject of the particular way in which the mending of the afo­ remen­tioned clauses should be tackled, clear-­eyed considera­tion must be given to the ever-­changing traits of contemporary European society. Amongst these, one phenomenon stands out: heightened popular demand for participa­tion in political decision-­making. For decades since its incep­tion, the ac­tions of the EU were of interest only to the initiated few, and so, while 80 percent of the EU budget was spent on the Common Agricultural Policy, there was little enthusiasm for debating, let us say, the price of beetroot. This changed when the Berlin Wall came down, and Politics with a capital ‘P’ emerged onto the European agenda. To this must be added the technological revolu­tion that has taken place (or, rather, taken over) since the early 2000s. This expansion of both technical progress and those benefiting from it has made it possible for anyone to access huge amounts of informa­tion about European issues and form their own opinions. What with this and that, the common citizen has swung from ‘I am not interested’ to ‘I demand to be heard and take part’. This new pattern of behaviour is not only knocking on the door of representative democracy at the domestic

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level; citizens also call for participa­tion in the day-­to-­day work of the European Institu­tions. On the rebound, this evolu­tion in the attitude of citizens has brought to the forefront what we could term “the” ques­tion: What is Europe actually for? Some respond to this query by advancing the idea of Europe as a ‘supermarket’, a superstore where what really matters is to have the largest number of products available, the fewest rules, and the best prices; supporters of this view tend to accuse the Union of encroaching upon domains exclusive to member states. Opposite to this concep­tion is the one of Europe as a ‘protector’: here, the Union should be more like a father figure, a source of grants and subsidies and the solu­tion for external competi­tion or dumping practices; these reproach the EU for not acting resolutely enough. These two different no­tions co-­exist within the same geographical space, giving rise to paradoxical phenomena. Surely, everyone will recall that the European constitu­tion was rejected in France for being ‘too liberal’, while at the same time criticized in the United Kingdom for being ‘too social’. If this is not the epitome of “opposing views”, I do not know what is. How is this linked to the quandary of the aesthetics of approaching a possible revision? Well, bearing in mind the previous reflec­tions, I discern two inescapable attitudes that those at the political level must absolutely take when embarking on a reform. First, making informa­tion available and conveying it to our citizens is paramount. Indeed, the EU Institu­tions must strive to make people understand what things the Union can do and what other things are beyond its reach. Governments, too, should use their statements as a teaching opportunity. It is, unfortunately, an all-­too-­frequent occurrence to see na­tional governments blame the EU for the bad news while taking credit for the good news, even though in both cases they took part in the European decision-­making process. How can we expect Europeans not to be disenchanted with the Union if their governments do not cease to criticize its decisions time and again? And I include myself amongst the guilty: we politicians tend to highlight what we do not like rather than put emphasis on what we have achieved; to use a hunting analogy: ‘once the catch is in the bag, we forget about it’. A second tenet that should be respected when putting the wheel of reform in mo­tion is resisting the tempta­tion of closing agreements behind closed doors. Any progress in integra­tion must be legitimized through citizen involvement. The European construc­tion can no longer be compared to a train that passengers board with no concern for its destina­tion. Today, they insist on knowing the price, the route and the comparative advantages over other means of transport. That is why, when discussing the different posi­tions in a revision process, it is of the essence to fine-­tune our arguments if we want our passengers to take a seat and set off for deeper integra­tion.

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4. Gazing into my crystal ball Up to this point my sugges­tions for the feasible, realistic deepening of integra­tion. Let us now turn to making predic­tions, which, far from being an exercise in futili­ty, are always necessary in steering the future course of the European enterprise. I believe that the future of Europe lies in starting to regard the euro area as the prime mover towards a more tightly-­knit political amalgama­tion, or even as the true engine of integra­tion towards a ‘United States of Europe’. Valéry Giscard d’Estaing and Helmut Schmidt have both expounded similar opinions. Taking advantage of this centre of gravity, two ques­tions remain: By what means can such a union be achieved? In what domains? As regards the former issue, growing institu­tionaliza­tion of the euro area would be the most suitable way to go. For instance, a full-­time President of the Eurogroup based in Brussels could be considered, as suggested by the Euro Summit of 2011 in its document Ten Measures to Improve the Governance of the Euro Area. As for the areas in which further integra­tion may reasonably take place, they should be those where citizens agree to greater advances. This being said, in my opinion the report by the so-­called four Presidents (those of the European Council, the Commission, the Eurogroup, and the European Central Bank) on a genuine EMU, published in October 2012, sets forth a number of avenues worth exploring. I would single out the realms of fiscal integra­tion and political union, which the document cautiously dubs ‘democratic legitimacy and accountability’. Were this initiative to be launched, we would see the emergence of two spaces, of two concentric circles. The first one, a more integrated ‘club’, would be the United States of Europe, precisely the term used in the brand-­new External Action Strategy of Spain. The current European Union would remain as the second, less integrated circle. This would, of course, solve the issue of those countries reluctant to deepening integra­tion: these could thus continue to be part of the Union without thwarting the wishes of other member states for further integra­tion. In practical terms, we would have opened a path to solving the ‘British ques­tion’: by guaranteeing the United Kingdom the ability to opt out of further integra­tion, the announced referendum would lose all its meaning. The threat of a Brexit would then be transformed into the certainty of a Britstay! And there is always the possibility of the United Kingdom reconsidering its posi­tion, since the door will stay open to anyone who wants to join. Nothing would make me happier than to see history repeat itself: remember how the United Kingdom turned down the chance to become one of the founding states of the European Communities in 1957 – only to apply for membership later on. Heinrich Heine was once asked the country where he would choose to die. ‘In England’, he replied determinedly, ‘for everything happens one hundred years later there.’

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By way of conclusion Whatever the solu­tion chosen, allow me to add a caveat. Contrary to popular and political belief, the integra­tion process is far from irreversible. People from all circles of society tend to take for granted that the European project is one of those perpetual mo­tion machines, propelled by an inexhaustible source of energy towards ever-­tighter integra­tion. Quite the opposite, in my view. Needless to say, governments do well in putting their best efforts into steering the European ship towards a greater Union. No reason for demurral, here – as long as they constantly bear in mind what they really are: representatives of their citizens, whose majority opinion is to be respected and upheld. In other words, progress in integra­tion is not to be automatic; it must absolutely be legitimized by the citizens, as Dr Pöttering has always believed. And to achieve this, nothing better than to give this somewhat downcast Europe what we Spaniards call ilusión: a word meaning hopefulness, aspira­tion and motiva­tion all rolled into one. This has actually been the indefatigable endeavour of Hans-­Gert Pöttering. Let us now take up the torch and make it ours.

Hans-Gert Pöttering und die CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament Hartmut Nassauer

Meine erste Begegnung mit Hans-­Gert Pöttering hatte ich, als ich dem Europäischen Parlament noch gar nicht angehörte. Es war auf dem CDU-Bundesparteitag im Herbst 1993, gut ein halbes Jahr vor der im Mai 1994 anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament. Hans-­Gert Pöttering war mir damals nur dem Namen nach, aber nicht persön­lich bekannt. Er kam auf mich zu, stellte sich vor und begrüßte mich gleichsam als künftigen Kollegen. Ich war seit einer Reihe von Jahren Mitglied des Hes­sischen Landtags, damals Parlamentsvizepräsident, nachdem ich vorher Vorsitzender der CDU-Frak­tion und auch kurz hes­sischer Innenminister gewesen war. Zu ­diesem Zeitpunkt stand eigent­lich nur fest, dass ich die Chance auf einen aussichtsreichen Listenplatz der hes­ sischen CDU für die Wahl zum Europäischen Parlament haben könnte. Die entscheidenden innerpartei­lichen Wahlen standen noch aus. Gleichwohl ließ Pöttering es sich angelegen sein, mich in einem freundschaft­lichen Gespräch in das Leben in der CDU/CSU-Gruppe des Europäischen Parlaments jenseits von Satzungsstruktur und recht­lichen Grundlagen einzuführen. Er sprach über die Kollegialität in der Gruppe und den durchweg freundschaft­lichen Umgang miteinander. Er verwies auf die Notwendigkeit für die Europaabgeordneten, die Arbeit der CDU/CSU-Gruppe nicht nur in der Öffent­lichkeit gegen mangelndes Interesse zu vertreten, manchmal auch gegen grobe Unkenntnis europapolitischer Zusammenhänge, ja Ablehnung des europäischen Engagements überhaupt; das Europäische Parlament galt sozusagen als Altenteil für verdiente Politiker zum Ende ihrer Laufbahn. Auch im eigenen „Konzern“, also den anderen Gremien der Unionsparteien wie der CDU/CSU-Bundestagsfrak­tion und den Parteigremien von CDU und CSU, s­ eien gelegent­lich aufkeimende Vorbehalte gegen europäisches Engagement anzutreffen. Und die gelte es zu überwinden. Hier muss man aus der heutigen Sicht hinzufügen, dass Europapolitiker damals nicht unbedingt an der Spitze der politischen Ansehensskala standen, und Pöttering machte mir dies freund­lich – wie es durchgängig auch bei Unangenehmem seine Art ist –, aber recht unmissverständ­lich deut­lich. Aber er beließ es eben nicht allein bei einem Hinweis auf Ungewohntes und Schwieriges. Schließ­lich ist politische Arbeit auf allen Ebenen Missverständnissen und Widerständen ausgesetzt. Mit ihnen geduldig, gelassen und argumentativ umzugehen, gehört zum Rüstzeug in der Politik, das war mir durch meine eigenen politischen Erfahrungen nur zu vertraut. Was sollte jetzt Anderes auf mich zukommen? Hans-­Gert Pöttering schilderte mir auch das Faszinierende an

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europäischer Politik. Das waren damals die Anfänge einer europäischen Gesetzgebung, also der Umgang mit Gesetzgebungsmaterien, die Geltung in der gesamten Europäischen Union haben sollten. Das habe ich s­ päter als Berichterstatter für das Europol-­Gesetz und die Chemiegesetzgebung REACH beeindruckend erfahren. Er erzählte auch von dem spannenden Arbeiten in einer multina­tionalen Frak­tion mit Kolleginnen und Kollegen von Dänemark bis Italien und von Irland bis zu den Niederlanden. Er beschrieb dabei liebenswürdig die Eigenheiten z. B. britischer und franzö­sischer Kolleginnen und Kollegen im Parlament, aber auch der CDU/CSU-Gruppe, und entwickelte viel feines Gespür nicht nur dafür, wie die Gruppe sich selbst sah und einschätzte, sondern auch, wie die Deutschen in der Frak­tion der Europäischen Volkspartei betrachtet wurden, näm­lich als Vertreter des einwohner- und wirtschaftsstärksten Mitgliedstaates, w ­ elche zwar mit historischem Gepäck daherkommen, aber auch als überzeugte Europäer und notwendige Partner der europäischen Einigung anerkannt und geschätzt ­seien, und dies nicht zuletzt dank der politischen Leistungen der früheren Bundeskanzler von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis Helmut Kohl. In ­diesem Gespräch lernte ich den Europapolitiker Hans-­Gert Pöttering also persön­lich kennen, und mir ist ­später klar geworden, dass das Gespräch vielleicht die Kommunika­tionsform ist, in der Pöttering am meisten überzeugt, noch mehr als etwa im Duktus der großen Rede vor einem Auditorium. Natür­lich ist er ein überzeugungskräftiger Redner, wie ich ­später in der parlamentarischen Arbeit zu erfahren Gelegenheit hatte, aber er wirkt immer besonders durch das überzeugende Argument, mehr als durch den lauten Gestus. Überhaupt kann ich mich nicht erinnern, ihn jemals laut erlebt zu haben; bestimmt und entschieden war er, sehr entschieden sogar konnte er auftreten – wenn die Sache es denn verlangte. Davon konnten z. B. franzö­sische Kollegen ein Lied singen, denen er in einer heftigen Auseinandersetzung in der EVP -Frak­tion ener­gisch und entschieden widersprach, als es um deren Versuch ging, die österreichische ÖVP  – nach der Bildung einer Koali­tionsregierung in Wien mit den Freiheit­ lichen unter Haider – aus der EVP-Frak­tion zu drängen. Zum Zeitpunkt meines Gespräches mit ihm im Jahre 1993 verfügte Hans-­ Gert Pöttering bereits über eine rund fünfzehnjährige Erfahrung als Europaparlamentarier, denn er gehörte dem Parlament seit der ersten europäischen Direktwahl im Jahre 1979 an. Mir, dem europapolitischen Novizen, flößte sein ebenso kenntnisreicher wie auch unverkennbar wohlwollender Rat sowohl Respekt als auch Vertrauen ein. Ich stand damals – wie gesagt – vor dem mög­ lichen Wechsel aus einer in vielen Jahren erarbeiteten Posi­tion und hatte mich noch gar nicht entschieden, mich um ein Mandat im Europäischen Parlament zu bemühen, sondern hätte vielleicht auch die Mög­lichkeit gehabt, mich nach zwanzigjähriger Landtagsarbeit um ein Bundestagsmandat zu bewerben. Es galt also, eine Entscheidung zu treffen, die für meine weitere politische Laufbahn von fundamentaler Bedeutung war. Vor d­ iesem Schritt in ein unbekanntes politisches

Hans-­Gert Pöttering und die CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament

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Territorium traf ich also auf Hans-­Gert Pöttering, und ich fand einen Kollegen, der mir mit freund­licher, kenntnisreicher Überzeugungskraft Mut machte, mich auf Europapolitik einzulassen. Jedenfalls bewirkte seine Ansprache, dass ich dem Wechsel von der hes­sischen CDU -Landtagsfrak­tion in die CDU /CSU Gruppe des Europäischen Parlaments nicht mit der Befürchtung entgegensah, in ein Haifischbecken zu geraten. Pöttering signalisierte durch seine offene, vertrauenerweckende Art, dass in der CDU/CSU-Gruppe Gesprächsbereitschaft, Argumenta­tionsfähigkeit und Kollegialität zählen würden. Und dies fand ich ­später auch bestätigt. Bei allem notwendigen Ehrgeiz, der in der Politik schon um der vertretenen Sache willen erforder­lich ist, überwiegt in der CDU/CSUGruppe doch der freundschaft­liche Respekt voreinander und der Wille, sich als Gemeinschaft zu behaupten. Sicher bin ich nicht der einzige Europaabgeordnete, der von der Persön­lichkeit Hans-­Gert Pötterings beeinflusst worden ist; dies gilt auch für die CDU/CSUGruppe insgesamt und besonders für ihr Arbeitsklima. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe, ihr Selbstverständnis, ihr Ansehen in der EVP -Frak­ tion und im gesamten Europäischen Parlament ist durch Hans-­Gert Pöttering beeinflusst worden, er war neben dem hochangesehenen Vorsitzenden Günter Rinsche ihr herausragender Vertreter. Als verläss­licher Partner in der Politik hat sich Hans-­Gert Pöttering jedoch nicht nur in der CDU/CSU-Gruppe erwiesen. Es konnte näm­lich nicht ausbleiben, dass er, getragen von der CDU/CSU-Gruppe, sowohl in der EVP-Frak­tion wie auch im gesamten Parlament Ansehen und Respekt gewann. Ein halbes Jahr nach unserem Gespräch, nach der Europawahl 1994, wählte ihn die EVP-Frak­tion zu einem ihrer stellvertretenden Vorsitzenden. Aus der Europawahl 1999 schließ­lich – ich gehörte dem Parlament seit 1994 an – ging die CDU/CSU-Gruppe mit 53 Mandaten als die mit Abstand stärkste na­tionale Delega­tion nicht nur der EVP-Frak­tion, sondern des gesamten Europäischen Parlaments hervor. Die Unionsabgeordneten waren mithin maßgebende Repräsentanten Deutschlands im Europäischen Parlament. Ihr Auftreten und ihr Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Delega­tionen hatte Einfluss auf das Bild von Deutschland, das im Europäischen Parlament geformt wurde. In dieser Phase war Hans-­Gert Pöttering, geprägt von Grundsatztreue, Freund­ lichkeit und Kompetenz, für die CDU/CSU-Gruppe ein in Frak­tion und Parlament vertrauensbildender Faktor. Ich möchte, um dies zu belegen, einen parlamentsinternen Vorgang schildern, der jeweils nach Neuwahlen und im Europäischen Parlament auch zur Mitte der Legislatur Parlamentarierherzen in Wallung zu bringen geeignet ist. Es geht dabei um die Verteilung der herausgehobenen Parlaments- und Frak­ tionsposi­tionen wie z. B. die Ausschussmitgliedschaften und -vorsitze, die Sitze im Parlaments- und Frak­tionspräsidium, die Sprecherposi­tionen usw. Sie werden im Europäischen Parlament wie in den na­tionalen Parlamenten auch nach

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den Stärkeverhältnissen der Frak­tionen vergeben. Ebenso wird innerhalb der Frak­tionen verfahren, wenn es um die Verteilung der der Frak­tion zustehenden Ausschusssitze geht. Die CDU/CSU-Gruppe stand bei den konstituierenden Sitzungen des Europäischen Parlaments regelmäßig vor einem schwierigen Spagat. Einerseits war der zahlenmäßigen Stärke der Gruppe als Ausdruck des deutschen Wählerwillens Rechnung zu tragen und dementsprechend für eine angemessene Repräsentanz der Unionsabgeordneten in verantwort­lichen Posi­tionen des Parlaments wie auch in der Frak­tion zu sorgen. Denn alle herausgehobenen Posi­tionen vermitteln Einflussmög­lichkeiten, nicht nur bei Sachentscheidungen, sondern auch bei der Darstellung politischen Geschehens in der Öffent­lichkeit. Das ist umso wichtiger, als die europäische Politik es schwerer hat, eine interessierte Öffent­lichkeit zu finden als das na­tionale politische Geschehen. Denn eine gemeinsame europäische Öffent­lichkeit gibt es nicht, das europäische Geschehen muss in die na­tionalen Öffent­lichkeiten übersetzt werden. Hier konkurriert Europa mit der na­tionalen Politik, die im allgemeinen Bewusstsein jedenfalls damals Vorrang genoss. Wenn also CDU/CSU-Europaparlamentarier na­tionales öffent­liches Interesse wecken wollten, waren einflussreiche, herausgehobene Posi­tionen ein hilfreicher Faktor. Dies sprach an sich dafür, die zahlenmäßige Stärke der CDU /CSU -Gruppe zu n ­ utzen; frei­lich konnte dies am Ende dazu führen, dass Vertreter kleinerer na­tionaler Delega­tionen in der EVP-Frak­tion bei der Postenverteilung leer ausgingen. Andererseits hatte es sich für die CDU/CSU-Gruppe immer als klug erwiesen, auf die Befind­lichkeiten der mittleren und kleineren na­tionalen Delega­tionen innerhalb der EVP sorgfältig Bedacht zu nehmen, denn deren Zustimmung benötigte man natür­lich im täg­lichen politischen Geschäft bei Abstimmungen in der EVP-Frak­tion ebenso wie im Parlament ständig. Bundeskanzler Helmut Kohl war es in dieser Zeit vor allem, der immer wieder mahnte, die Interessen der mittleren und kleineren Mitgliedstaaten fürsorg­lich in Betracht zu ziehen und sich um keinen Preis in eine Allianz weniger Großer gegen viele Kleine ziehen zu lassen. Bei dieser strate­gischen Ausrichtung der CDU/CSU-Gruppe zu einem zurückhaltenden Umgang mit den eigenen zahlenmäßigen Mög­lichkeiten hat Hans-­ Gert Pöttering zusammen mit dem Gruppenchef Günter Rinsche eine richtungsweisende Rolle gespielt. Hier riet Pöttering in der CDU/CSU-Gruppe dazu, die zahlenmäßige Stärke nicht bis zur letzten Stelle hinter dem Komma auszureizen, sondern durch Verzicht auf die eine oder andere Posi­tion zugunsten einer kleinen Delega­tion dieser zum Beispiel die Mitarbeit in einem Ausschuss erst zu ermög­lichen. So hat Hans-­Gert Pöttering einen Beitrag zum Aufbau eines „Wohlwollenskapitals“ für die CDU/CSU-Gruppe in der Gesamtfrak­tion geleistet, wozu er auf Grund seiner Erfahrung und durch seine Befähigung zur ausgleichenden Betrachtung in besonderer Weise in der Lage war.

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Nach der Europawahl 1999 wurde Hans-­Gert Pöttering unangefochten zum Vorsitzenden der mit 232 Abgeordneten stärksten Frak­tion des Europäischen Parlaments gewählt. Sein Vorgänger Wilfried Martens aus Belgien gehörte dem Parlament nicht mehr an. Damit hatte Pöttering nach zwanzigjähriger Parlamentsmitgliedschaft die vielleicht politisch einflussreichste, wenn auch protokollarisch nicht unbedingt im Rampen­licht stehende Posi­tion seiner Laufbahn erreicht. Er konnte bei dieser Wahl auf die uneingeschränkte Unterstützung der starken CDU/CSU-Gruppe zählen, die ihre 53 Mandate voll zur Geltung bringen konnte. Frei­lich war seine Wahl keineswegs ledig­lich Tribut an die starke deutsche Delega­tion. Sie galt auch dem Europäer, der seine Überzeugungen über zwanzig Jahre lang vorgelebt hatte, dem alles „Teutonische“ absolut fremd war, der mit Briten und Franzosen in ihrer Muttersprache sprechen konnte und der sich auch mit dem Italienischen – von den italienischen Kollegen mit Anerkennung akzeptiert – Mühe gab, kurzum einem homo europaeicus, dem man zutraute, dass er das europäische Gemeinwohl zum Gradmesser seines Handelns als Chef der EVP-Frak­tion machen werde. Die Vertretung des Europäischen Parlaments nach außen aber obliegt wie in allen Parlamenten dem Präsidenten. Das Europaparlament repräsentiert die europäischen Bürgerinnen und Bürger, sein Präsident kann also mit Fug und Recht als erster Bürger Europas betrachtet werden. Zu dieser Aufgabe wurde Hans-­Gert Pöttering Anfang 2007 berufen. Es war der politische Höhepunkt eines Parlamentarierlebens, das auch aus persön­licher Erfahrung – Pöttering hat seinen Vater, der in den letzten Kriegstagen im Osten gefallen war, nie kennengelernt – in der Idee der europäischen Einigung als der unerläss­lichen Bedingung für Frieden und Freiheit in Europa seine Grundlegung gefunden hatte.

Sicherheitspolitische Herausforderungen an ein gefährdetes Europa Beate Neuss

Einleitung Die EU gleicht einem Boot in rauer See, deren Mannschaft zu einem wesent­ lichen Teil seekrank ist. Einige Mannschaftsmitglieder glauben, außerhalb des Bootes besser mit den Gefahren des wilden Meeres fertig zu werden. Lecks und Maschinenschäden kommen hinzu, während der Sturm anwächst. Welch ein Kontrast zum Jahr 2007! Die Europäische Union hatte sieben neue Staaten aufgenommen und mit der Aufnahme der neuen Mitglieder die europäische Friedens- und Stabilitätszone nun auch auf den südosteuropäischen Raum ausgedehnt. Europa schien in eine gute, sichere und prosperierende Zukunft zu gehen. Die Koopera­tion im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP, seit 2004) bot Ansätze und Instrumente, um die Reformen der weiter öst­ lich liegenden neuen Nachbarn zu unterstützen und auch diesen Staaten eine Perspektive auf Wohlstand und damit Stabilität zu geben. Das war auch das Ziel der ENP im Mittelmeer-­Raum. Die Wissenschaft entwickelte aus d­ iesem Vorgehen das Modell eines normativen Imperiums EU, das in der Lage sei, sein Umfeld durch seine Werte und Normen zu prägen und den Raum der Stabilität, der Rechtsstaat­lichkeit und des Wohlstandes auszudehnen.1 Der unter der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 erfolgreich auf die Schiene gesetzte Reformvertrag, der schließ­lich Lissabonner Vertrag genannt werden sollte, beendete die Krise über die institu­tionelle Verfassung der EU. Mit dem Euro war bereits 1999 der Kitt für den Zusammenhalt der EU gefunden; der Euro gewann seither interna­tional Reputa­tion. Die opt-­out-­Staaten Großbritannien, Dänemark und Schweden würden unter den zwölf neuen Mitgliedern keine dauerhafte Verstärkung erhalten – die europäische Währung bewährte sich. Die Europäische Union: Keine heile, völlig krisenfreie Region, aber ein gut aufgestelltes Europa, umgeben von einem „ring of friends“ und überzeugt: „Wir sind zu unserem Glück vereint.“ 2 Weniger als acht Jahre s­ päter hat sich das Bild radikal geändert: Die EU ist umgeben von einem „ring of wars“, deren Folgen sie außen- und innenpolitisch zu spüren bekommt und die vorhandene Zentrifugalkräfte verstärken. In et­lichen EU-Ländern sind substanzielle Teile ihrer Bevölkerung, auch ihrer Parteien, nicht mehr der Meinung, dass die Europäer „zu ihrem Glück vereint“ sind, sondern sie streben aus der EU hinaus. Mit der Weltwirtschafts- und Staatsschuldenkrise ist der Euro seit inzwischen mehr als einem halben Jahrzehnt ebenfalls in der

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Krise. Große Teile der EU verharren in einer hartnäckigen Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit, besonders in der Jugend, der Zukunft Europas. Ein hoher Teil der Jugend­lichen sieht seine Lebenschancen zerrinnen. Na­tionalismus, lang geächtet im Nachkriegseuropa, bricht sich wieder Bahn. Die Bedrohungen und Gefährdungen sind multidimensional und z. T. diffus. Schlimmer noch: Sie branden von außen und innen an die EU. Welche äußeren Faktoren sind es, die die EU herausfordern, und wie kumulieren äußere mit inneren Herausforderungen und Krisen? Welche Antworten hat die EU auf die wohl massivste Problemlage seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor fast 65 Jahren? Reichen ihre innere Kohäsion und ihre äußere soft power, um den Herausforderungen standzuhalten? Herausforderung auf Jahrzehnte: Migra­tion Einige europäische Staaten haben bereits eine große Flüchtlingswelle nach dem Fall der Berliner Mauer und der geopolitischen Neuordnung des Kontinents erlebt: die Flüchtlinge der Balkankriege. Die kriegerischen Auseinandersetzungen beim Zerfall Jugoslawiens haben fast ein Jahrzehnt gedauert. Die EU hat mit ihren zivilen und militärischen Mitteln einen noch immer gefährdeten Zustand des Nicht-­Krieges herstellen sowie durch ihre andauernde Präsenz und die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft der jugoslawischen Zerfallsprodukte – der acht neuen Staaten – einen fragilen Frieden bewahren können. Allerdings bewegt die schlechte ökonomische Lage dort weiterhin viele Menschen, ihre Zukunft in der EU zu suchen. Die rasant ansteigenden Asylbewerberzahlen im Januar 2015 in Deutschland zeigen, dass der Migra­tionsdruck auch aus dieser Region noch immer stark ist. Ebenso beacht­lich sind die Wanderungsbewegungen in der Europäischen Union selbst. Aus den Staaten, die seit Jahren nicht aus der Wirtschaftskrise herausfinden, sucht ein Teil der jüngeren Arbeitskräfte nach einer Zukunft in anderen Ländern, was dort zu isola­tionistischer Abwehrhaltung und grundsätz­ licher Kritik an der Integra­tion führt – wie in Großbritannien, wo die EU-Freizügigkeit zu emo­tional geführten Abschottungsdebatten führt, weit mehr als bei der Zuwanderung aus den früheren Kolonien. 1,7 Millionen Bürger der EU lebten 2012 in einem anderen EU-Land.3 Die der Selbsttötung des tune­sischen Gemüsehändlers Bouazizi folgenden Umstürze, Unruhen und Bürgerkriege im Mittelmeer-­Raum sind auch ein knappes halbes Jahrzehnt nach ihrem Beginn nicht eingedämmt. Im Gegenteil: Libyens Sicherheitslage hat sich konstant verschlechtert. 2015 kann man es einen zerfallenden, wenn nicht gar zerfallenen Staat nennen, ein „Somalia an der Mittelmeerküste“. Es ist ein Brutbett für Stammeskämpfe, Kriminalität und islamistischen Terror von al Qaida und IS. Auch von hier machen sich Menschen auf den Weg nach Europa. Das Land ist zugleich Transitland für Flüchtlinge anderer Provenienz. In Syrien steht die interna­tionale Staatengemeinschaft den Kämpfen – gegen

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Assad, gegen Rebellen, Schiiten gegen Sunniten und IS gegen alle – machtlos gegenüber oder befördert sie gar noch durch Uneinigkeit und gegensätz­liche Interessen. Wie die Kämpfe in absehbarer Zeit zu einem Ende kommen könnten und die zerstörte Wirtschaft und Infrastruktur so rasch wieder hergestellt werden könnte, dass sie die Rückkehr der Flüchtlinge aus dem Ausland und der Binnenflüchtlinge ermög­licht, ist nicht erkennbar. Jeder zweite Syrer ist Flüchtling.4 Libanon und Jordanien haben syrische Flüchtlinge aufgenommen, die zahlenmäßig, ökonomisch und gesellschaft­lich die ohnehin schwachen Staaten überfordern: In Jordanien, dessen ethnische Zusammensetzung aufgrund der hohen Zahl an Palästinensern und einer großen Zahl irakischer Flüchtlinge bereits heikel ist, ist nach offiziellen Zahlen mehr als jeder zehnte Einwohner ein syrischer Flüchtling.5 Gemäß den Angaben des jordanischen Königs gibt das Land jedoch „shelter to 1.4 million Syrian refugees, which is 20 per cent of the popula­tion … This is more than the equivalent of France hosting the entire popula­tion of Belgium.”6 Genauso prekär ist die Lage im multi­ethnischen, multireligiösen Libanon, der selbst erst 1990 einen Bürgerkrieg beenden konnte, aber innenpolitisch instabil blieb. Auf dessen ca. 5,8 Millionen Einwohner kommen 408.438 bei UNRWA registrierte palästinen­sische, irakische und syrische Flüchtlinge.7 Die Migra­tionsströme gefährden die politische Stabilität der gesamten Region. Der Jemen, gelegen an einer der wichtigsten Schifffahrtsrouten der Welt, der Ölader der globalen Wirtschaft, ist ebenfalls in ethnische und religiöse Gewalt zerfallen und erlebt einen Stellvertreterkrieg z­ wischen Iran und Saudi-­Arabien. Das Land ist ein weiterer safe haven für islamistische Terrorgruppen. Auch hier haben die Kämpfe Flüchtlingsbewegungen ausgelöst. Ägypten, der politisch bedeutendste arabische Staat hat mit einer erneuten Militärregierung eine prekär bleibende Stabilität hergestellt – ein Landesteil, der Sinai, ist für den Staat nicht kontrollierbar – auch hier sind Basen von Terrorgruppen; sie gefährden den EU-Partner Israel. Dies benennt ledig­lich einige Staaten um das Mittelmeer, in denen Menschen durch militärische Auseinandersetzungen um ihre Zukunft gebracht werden und fliehen werden. Je länger die Kämpfe dauern – und dies zeichnet sich ab, auch wegen der Involvierung von Drittstaaten mit gegensätz­lichen Interessen, wie in Syrien und im Jemen –, desto schwerer wird die Reintegra­tion in das Heimatland. Jenseits des arabischen Gürtels, in Subsahara-­Afrika, sind die Bürgerkriege im Sudan und in Mali, Nigeria, Kamerun und Tschad mit Boko Haram und anderen islamistischen Gruppen Ursache für Elend. Auch hier, das ist eines der Charakteristika der gewaltsamen Auseinandersetzungen im letzten Jahrzehnt, ist sogleich eine ganze Region involviert, wird gleichzeitig eine Reihe von Staaten auf Jahrzehnte politisch, wirtschaft­lich und gesellschaft­lich destabilisiert. Die Beschaffung von finanziellen Mitteln durch Kriminalität (Entführungen, Erpressungen, Drogen- und Menschenhandel) oder eroberten Ressourcen unterhält die Kampfhandlungen. Die Staat­lichkeit der Länder am Mittelmeer und in Subsahara-­Afrika erodiert, sie zerfallen in Stammesgebiete,

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beherrscht von Stammesführern oder (religiösen) Warlords. Die EU muss sich darauf einstellen, dass ihre Mittel (und die der interna­tionalen Staatengemeinschaft) nicht ausreichen, diese Territorien in naher Zukunft zu befrieden und Staat­lichkeit wiederherzustellen – Afghanistan hat gezeigt, wie begrenzt die Mög­lichkeiten sind, auf kulturell fremde Gesellschaften einzuwirken. In Subsahara-­Afrika, aber auch im arabischen Raum, ist es zudem die wachsende, extrem junge Bevölkerung, die die Migra­tion über Jahrzehnte in Gang halten wird. So sind beispielsweise gut 37 Prozent der Jordanier unter 15 Jahren.8 In Niger liegt der Altersmedian bei 15 Jahren.9 Insgesamt gilt für den afrikanischen Kontinent, dass die Bevölkerung mit 2,5 Prozent rasch weiterwächst und obgleich ein Teil des Wachstums auf eine längere Lebenserwartung zurückgeht, wird die Bevölkerungszahl erst in Jahrzehnten stabil bleiben, weil geburtenstarke Jahrgänge noch in das gebärfähige Alter kommen. Die Fertilität ist in Subsahara-­ Afrika ledig­lich von 6,7 (1970) auf 5,1 (2014) zurückgegangen, geringer als von den UN erwartet.10 Die afrikanische Bevölkerung wird sich in gut einer Genera­ tionen verdoppeln: von 1,1 Milliarden (2014) auf 2,4 Milliarden (2050). Die geringen Lebenschancen vieler Menschen bieten Warlords und der organisierten Kriminalität reich­lich Potenzial für Söldner- und Privatarmeen – geradezu eine Garantie für wachsende Gewalt. Man muss davon ausgehen, dass die für große Massen geringen Chancen für ein Leben in Sicherheit und Wohlstand zu Wanderungsbewegungen über das Mittelmeer führen werden – unabhängig von dringend erforder­lichen EU-Regelungen für die Migra­tion und die Aufnahme von Flüchtlingen. Das Mare nostrum war bereits in der Antike eher verbindend als trennend. Heute wird es als Grab von tausenden Flüchtlingen zu einer Herausforderung an die europäische Wertegemeinschaft und stellt den Ansatz der normative power Europe 11 – mit soft power interna­tional Normen auf der Basis humanitärer Werte zu setzen – auf eine harte Probe. Für die EU folgt daraus die zweifache – enorme – Herausforderung: Einerseits eine Einwanderungspolitik zu gestalten, die den Tod von Flüchtlingen vermeidet und die EU offen hält für politisch Verfolgte, andererseits alternden und risikoscheuen, in ihrer Identität unsicheren EU -Bürgern den Sinn und Gewinn von Zuwanderung zu vermitteln. 1,7 Millionen Menschen sind 2012 von außerhalb in die EU-27 gezogen, 33,5 Millionen der 2013 in der EU Lebenden sind nicht in ihr geboren worden; 20,4 Millionen hatten keine der EU-Staatsbürgerschaften.12 Hinzu kommt die EU -Binnenwanderung, die ebenfalls „fremde“ Kulturen und Sprachen mit sich bringt. Für eine Völkerwanderung in dieser Größenordnung muss die Außen- und Sicherheitspolitik der EU vielerlei Hebel ansetzen: in der Entwicklungspolitik und bei der humanitären Hilfe, mit ökonomischen Anreizen zu good government in den Ursprungsländern, in der Bekämpfung von Schleuserbanden, mit Asylantragsstellen vor Ort, mit rotierender Arbeitsmigra­tion und mit Integra­ tionsmaßnahmen in der EU  – um nur einige der mög­lichen Instrumente und Aufgaben der Diplomatie anzusprechen.

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Russlands Neo-­Imperialismus – Herausforderung und Gefahr Die Aussage aus den 1990er Jahren, Deutschland sei „von Freunden umzingelt“ bezog sich nicht nur auf die unmittelbaren Nachbarn, sondern vor allem auf Russland, mit dem die EU eine strate­gische Partnerschaft anstrebte und das bald zur Mitarbeit in interna­tionalen Organisa­tionen wie der G7 und dem NATO Russland-­Rat eingeladen wurde – aufgrund deutscher und europäischer Initiative. Die EU schloss mit Russland das Partnerschafts- und Koopera­tionsabkommen. Es verlängert sich seit 2007 ledig­lich automatisch um ein Jahr, weil es nicht gelang, eine neue Vereinbarung auszuhandeln. Russland und die EU wollten in den „Vier Räumen“ – Wirtschaft; Freiheit, Sicherheit und Justiz; äußere Sicherheit; Forschung, Bildung und kulturelle Aspekte – zusammenarbeiten. Diese Verhandlungen wurden nach der rus­sischen Interven­tion in Georgien 2008 ausgesetzt. An der Europäischen Nachbarschaftspolitik und in der Öst­lichen Partnerschaft der EU (seit 2009) wollte es sich nicht beteiligen. Will man eine Zäsur nennen, die Wladimir Putins veränderte Politik gegenüber dem Westen und der EU erkennbar machte, so ist spätestens seine Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 zu erwähnen.13 Dass der 2012 wiedergewählte Präsident Putin ein mit europäischen Werten nicht kompatibles innenpolitisches Konzept vertritt, konnte bei einer Analyse seiner „gelenkten Demokratie“ und seines Vorgehens gegen Freiheitsrechte, Rechtsstaat­lichkeit und Medien bereits in den ersten beiden Amtsperioden erkannt werden. Zu einer Herausforderung für die EU wurden schließ­lich die Annexion der Krim 2014 und die hybride Kriegsführung im Osten der Ukraine. Der Bruch des Völkerrechts und die Invasion mit undeklarierten Spezialkräften und „Freiwilligen“ in der Krim und Ostukraine trafen die EU unvorbereitet. Das Vorgehen des Präsidenten ist nicht nur begleitet von einem Propaganda-­Krieg in Russland und im Westen in einem Ausmaß, das selbst im Kalten Krieg unbekannt war. Es ist auch gekoppelt an eine Strategie zur Desintegra­tion der Europäischen Union. Der Kreml kann hier bei den heterogenen Interessen der Regierungen ansetzen sowie bei rechts- und linksextremen Strömungen in der Bevölkerung. Wer sowjetische Reisekader in den 1980er Jahren auf Tagungen zum europäischen Integra­tionsprozess traf, wurde spätestens beim abend­lichen Wein mit der Auffassung konfrontiert, dass die EG mit Sicherheit auseinanderfallen werde. Die Version nach 1991 lautete: Die UdSSR ist auseinandergebrochen, auch der Verbund der EU wird zerfallen – der Unterschied z­ wischen der von na­tionalen Regierungen gewünschten und bei Wahlen durch Bürger legitimierten EG/EU-Integra­tion und dem mit Gewalt hergestellten Zwangsverband Sowjetunion wurde kaum je verstanden. Das liegt zum Teil daran, dass Moskau die EU bis heute als Gründung und Arm der USA versteht, nicht als eigenständiges Interesse der Europäer. Dieser rus­sischen Hoffnung auf Zerfall wird nun durch gezieltes Vorgehen des Kremls nachgeholfen. Die zunehmende Heterogenität und unterschied­liche

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„Sozialisa­tion“ der 28 Mitgliedsstaaten und die unterschied­lich stark ausgeprägten Abhängigkeiten, z. B. im Energiebereich, erleichtern den Einfluss. Die EU ist aufgrund der Staatsschulden- und Wirtschaftskrise innenpolitisch geschwächt und unter Druck von Bürgern, die diese Misere nicht schlechter na­tionaler Regierungsführung zuschreiben, sondern (mit Hilfe der Öffent­lichkeitspolitik ihrer gescheiterten Parteien und Regierungen) der Europäischen Union. Die ernste ­soziale Schieflage insbesondere in den Südländern aufgrund der lang anhaltenden Rezession und mangelnder Strukturreformen sowie die Sorge der Bürger um die eigene wirtschaft­liche Zukunftssicherung potenziert sich mit weiteren Faktoren, die nun voll zur Geltung kommen: Mit den Folgen der Globalisierung, d. h. mit dem Druck auf Wettbewerbs- und Innova­tionsfähigkeit der Volkswirtschaften und mit der raschen Veränderung aller Lebensbereiche durch die Modernisierung und äußere Einflüsse; mit dem Druck auf die Arbeitsmärkte durch EU interne Freizügigkeit bei gleichzeitig rasch wachsenden Einwandererzahlen aus nicht EU-Ländern; und schließ­lich mit der wachsenden Komplexität und folgend der Intransparenz des immer weitere Bereiche umfassenden europäischen politischen Prozesses. Kurz: Euro- und Wirtschaftskrise, Globalisierung und Vertiefung der Integra­tion führen bei einem Teil der europäischen Bürger zu Identitätsproblemen, zu einem Gefühl der Trennung von ihren Wurzeln, wofür die EU verantwort­lich gemacht wird. Diese negativen Synergieeffekte spiegeln sich in Ausländer- und EU-Feind­lichkeit, im Verlangen nach Abschottung und „Rückgewinnung na­tionaler Souveränität“. Noch nie waren so viele Repräsentanten EU-kritischer Parteien im Europäischen Parlament vertreten wie nach den Europawahlen 2014.14 Erst als die europhobe britische Elite die Ablehnung der EU mit Immigra­tionsproblemen verknüpfte, konnte UKIP populär werden. So brauchte auch Pegida die Migra­tion, um zu einem Massenprotest zu kommen. Die Euro-­Problematik allein blieb zu sehr eine Elitenangelegenheit, um einen größeren Resonanzboden zu finden. Moskau knüpfte an dieser Befind­lichkeit an. Es sucht den Kontakt zu rechten wie linken Kritikern der EU und fördert sie, indem es sie in ihrer Argumenta­tion unterstützt, mit Krediten versorgt (Front Na­tional)15 oder sie im Kreml hochrangig empfängt. Trotz der Behauptung, Russen in der Ukraine müssten vor Faschisten gerettet werden, zögert Putin nicht, engen Kontakt zu na­tionalistischen, rechtspopulistischen und (extrem) rechten Parteien und Gruppierungen auch mit faschistischen Zügen zu suchen. Ob Jobbik in Ungarn, Ataka in Bulgarien, Front Na­tional in Frankreich, UKIP in Großbritannien, Goldene Morgenröte in Griechenland, Wahre Finnen, die niederländische Partij voor de Vrijheid oder die NPD in Deutschland – sie dürfen sich von Moskau als Träger wahrer europäisch-­ abendländischer Werte gewürdigt fühlen. Mitglieder der AfD sympathisieren mit Putin, ebenso Pegida. 150 Rechtsradikale aus Westeuropa konnten sich einer Einladung nach Sankt Petersburg zum Austausch der anti-­demokratischen Allianz auf dem „Russian Na­tional Forum“ erfreuen – ausgerechnet in der Stadt, in

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der Hunderttausende der Belagerung des na­tionalsozialistischen Deutschland zum Opfer fielen. Der rus­sische Vize-­Premierminister Dimitrij Rogosin plant die Gründung eines Koordina­tionsrates – eine „Na­tionalistische Interna­tionale“ 16. Entscheidendes Kriterium für Moskau ist die Ablehnung der EU und des transatlantischen Bündnisses, deshalb ist dem autoritären, na­tional-­konservativen rus­sischen Führer auch die Koopera­tion mit der Linken willkommen: Syriza in Griechenland, Die Linke in Deutschland, Podemos in Spanien, um nur einige zu nennen. Ideolo­gische Anknüpfungspunkte für die rus­sische Politik sind aus der europäischen Krise geborene na­tionalistische Reflexe und die Rufe nach Rückgewinnung na­tionaler Souveränität zur vermeint­lichen Stärkung des Staates gegenüber äußeren Einflüssen (Globalisierung, USA, Konzerne, TTIP, Einwanderung) sowie die Rückkehr zu vermeint­lich alten christ­lichen, „abendländischen“ und mora­lischen Werten. Eine einheit­liche Haltung Europas gegenüber der Verletzung des Völkerrechts und der verschleierten Invasion in der Ost-­Ukraine war bereits bisher nur schwer zu erreichen. In einer Reihe von Regierungen im post-­sowjetischen Raum sind noch immer in Moskau ausgebildete Eliten in wichtigen Funk­tionen. Ungeachtet des ungarischen Schicksals 1956 und des tschechischen 1968 sind die Regierungen von Viktor Orban und Premierminister Bohuslav Sobotka nachsichtig gegenüber der rus­sischen Ukraine-­Politik und zögern, die Sank­tionen mitzutragen. Milos Zemans konnte den Verdacht nicht entkräften, dass sein Präsidentschaftswahlkampf 2013 von Lukoil gesponsert wurde. Viktor Orban kooperiert mit Moskau beim Bau eines neuen Atommeilers und hat sich verpflichtet, Brennstäbe nur aus Russland zu beziehen. Zur Gas- und Ölabhängig­keit mittelosteuropäischer Staaten, darunter Ungarns, werden freiwillig neue hinzugefügt. Der griechische Premierminister Tsipras hofft auf einen Vorschuss auf Transferzahlungen für eine künftige Gaspipeline. Altbundeskanzler Schröder steht auf der Gehaltsliste der Nord Stream, Teil des Staatskonzerns Gazprom, und hat viel Verständnis für die rus­sische Politik. Russland sieht sich als letzte Bas­tion wahren Christentums. So gewinnt der Kreml Parteien und Politiker als Sprachrohr für die rus­sische Politik. Moskaus hybride Kriegsführung betrifft also nicht nur die Ukraine. Es geht bei ihr in der EU um mehr als pro-­rus­sische Propaganda. Dazu gehört der Einsatz der Gaslieferungen als politisches Instrument, das nicht nur die Ukraine betrifft sondern in reduzierten Gaslieferungen und Drohungen auch EU-Staaten. Ferner sind die EU und ihre Mitgliedsstaaten seit Beginn der Ukraine-­Krise einem massiven Anstieg von Cyberangriffen ausgesetzt, die offenbar auch staat­lich gesteuert sind. Ein Ziel ist es offenbar, die baltischen Staaten zu verunsichern und zu destabilisieren. Anfang 2015 tauchten facebook-­Seiten auf, die Vilnius als Volksrepublik bezeichneten und Soldaten mit polnischen Insignien zeigten, die ein Referendum und die Annexion Litauens forderten. Aufgrund der polnischen und rus­sischen Minorität schürte dies Ängste in der litauischen Bevölkerung

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und Misstrauen gegen den EU-Partner Polen.17 Putins wiederholte Würdigung des Hitler-­Stalin-­Paktes als hervorragende Politik schürte die Verunsicherung der öst­lichen EU-Mitglieder. Ziel Moskaus ist es, die „größte geopolitische Katastrophe im 20. Jahrhundert“ so weit wie mög­lich rückgängig zu machen. Es geht Putin um die „geopolitische Katastrophe“, nicht wie west­liche Parteigänger Russlands verständnisvoll interpretieren um eine große humanitäre Katastrophe beim Zerfall der UdSSR (die es nicht gab). Dies hat die EU zu spät erkannt. Welche Ziele hat der Kreml? Erstens will Russland seinen Einfluss auf die postsowjetischen Staaten zurückgewinnen und sie dazu in eine Eura­sische Union integrieren. Unklar ist jedoch, wie weit der territoriale Anspruch reicht. Die EU sieht sich mit dem Anspruch konfrontiert, eine Politik der Akzeptanz eingeschränkter Souveränität von Staaten ­zwischen der EU und Russland zu praktizieren – einschließ­lich des Bruchs bestehender rus­sischer Verträge und der Zerstörung der europäischen Ordnung nach 1990. Extreme Na­tionalisten, wie Alexander Dugin mit (zeitweiligem?) Einfluss auf Putin, wollen rus­sische Macht weit über die Ukraine, Moldau und Weißrussland nach Westen hinaus ausgedehnt sehen. Das bedeutet, dass sich die baltischen Staaten und Polen in ihrer Sicherheit bedroht sehen. Zweitens versucht Russland – wie seit 1945 – den westeuropäischen Gegenpol zu schwächen, den Westen entlang des Atlantiks zu spalten und damit auch die NATO zu zerstören. Drittens soll der Aufbau von demokratischen, prosperierenden Staaten verhindert werden, der auf die rus­sische Innenpolitik ausstrahlen und rus­sischen Einfluss auf die postsowjetischen Staaten begrenzen könnte. Dazu gehört auch, eine EU- und NATO-Mitgliedschaft der öst­lichen Nachbarn der EU auf Dauer unmög­lich zu machen – die jedoch 2013/14 nicht zur Diskussion stand und damals auch langfristig von der EU nicht angestrebt wurde – wohl jedoch von der Bevölkerung der Ukraine. Nahziel ist es, eine einheit­liche europäische Politik der Eindämmung von Russlands west­lichem Expansionsstreben zu verhindern. Der Grexit, ein Austritt oder Herausstolpern Griechenlands aus dem Euro – vielleicht aufgrund der Annahme, mit Moskau bessere Bedingungen aushandeln zu können als mit der EU –, würde Europa in mehrfacher Hinsicht gravierend schwächen: Es könnte die Büchse der Pandora öffnen für weitere Austritte, z. B. nach dem britischen Referendum 2017, oder eine neue Krisenwelle für den Euro bedeuten. Nicht zuletzt aber bedeuteten Grexit und Brexit eine signifikante geopolitische Veränderung im Sinne Moskaus: Nicht nur die EU wäre geschwächt, sondern auch die NATO und ihre Südostflanke am Ausgang des Schwarzen Meeres; dies zu einem Zeitpunkt, in dem auch Erdogans zunehmend autoritäre Regierung sich in Aussicht auf eine neue rus­sische Pipeline Moskau zuwendet und in politischen Fragen, wie Syrien, einen anderen Kurs verfolgt als EU und NATO . Ein Sieg der EU -Gegner im Austritts-­Referendum würde eine weitere erheb­liche Schwächung der EU -Außen- und Sicherheitspolitik bedeuten, zu

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deren substanziellen Trägern Großbritannien gehört, ganz zu schweigen von der wirtschaft­lichen und finanziellen Leistungskraft der EU. Mit der Ukraine-­Krise steht die einzigartige postmoderne Friedensgemeinschaft EU vor der harten Konfronta­tion mit Machtpolitik, von der sie überrascht wurde. Ihre soft power und ihre normative Ausstrahlung im Rahmen der ENP hatten zwar die ukrainischen Bürger mehrheit­lich überzeugt, sich der der EU anzunähern oder gar ihr beizutreten. Bei der Konfronta­tion mit Russland, das auf massive hard power setzt, die Krim annektierte und die Ostukraine de facto abtrennt, boten die mageren hard power-­Instrumente der EU keine Abschreckung. Die bisher nie eingesetzten battle groups schreckten nicht. Ökonomische hard power, Sank­tionen gegen Russland, sind erst längerfristig wirksam. Die nach der Krim-­Annexion zunächst nur schwachen Sank­tionsmaßnahmen haben in Moskau wohl die Hoffnung geweckt, die EU werde nicht in der Lage sein, geschlossen zu handeln, sowie die Illusion, durch rasche Erfolge Fakten schaffen zu können, um sie zu unterlaufen. Inzwischen geht es im Konflikt mit Russland nicht mehr allein um die Stabilisierung der Ukraine, sondern ganz fundamental um die Sicherheit der öst­lichen Mitglieder und die Glaubwürdigkeit des Artikel 5 der NATO. Darüber hinaus geht es um die Stabilität des interna­ tionalen Systems und das interna­tionale Recht. Terroristische Bedrohung Die Bedrohung der Europäischen Union durch Terrorismus ist seit Jahren gegeben, jedoch ist sie durch die Nähe der Kampfgebiete terroristischer Organisa­ tionen in Syrien und Libyen und die Entstehung neuer, besonders brutaler terroristischer Gruppierungen gewachsen. Großanschläge wie am 11. September 2001 mögen unwahrschein­licher geworden sein, jedoch können auch Anschläge kleineren Ausmaßes in den Mitgliedstaaten der EU Elend, Verunsicherung und wirtschaft­liche Belastungen zur Folge haben. Neben Attentätern von außen gehören zunehmend Konvertiten oder in der europäischen Gesellschaft sozia­ lisierte Migranten oft der zweiten Genera­tion zu den Gefährdern. Aus dem Afghanistan-­Krieg nach 1979 haben wir gelernt, dass radikalisierte Islamisten, die in Kämpfen geschult und brutalisiert wurden, anschließend als interna­tionale Terror-­Söldner in anderen Staaten kämpfen und auch als terroristisches Potenzial in Europa gefürchtet werden müssen. Dies könnte in besonderem Maße für die aus den Kämpfen in der Mittelmeer-­Region nach Europa zurückkehrenden Menschen zutreffen. Die Reak­tion auf den Anschlag auf Charlie Hebdo und ein jüdisches Geschäft in Paris am 7. Januar 2015 mit 15 Ermordeten zeigte ein hohes Maß an Verwundbarkeit, vor allem aber den Druck auf west­liche Werte, wie Meinungsfreiheit, und den European way of life. Da sich der Terrorismus gegen die west­liche Welt insgesamt richtet und die gewaltsame Durchsetzung des Islam zum Ziel hat, kann sich die EU nicht von Bemühungen fernhalten,

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die Ausbreitung von z. B. dem IS zu stoppen bzw. rückgängig zu machen. Die Unterstützung von reformbereiten Staaten im Mittelmeer-­Raum, z. B. Tune­siens, und der Einsatz des bemerkenswert breiten EU-Instrumentariums von der Entwicklungshilfe, Rechts- und Verwaltungsberatung bis hin zur Entsendung stabilisierender zivil-­militärischer Kräfte kann nur begrenzt dem Zerfall von Staaten in anderen Kulturräume entgegengesetzt werden. Dennoch ist es die EU, die über das breiteste Instrumentarium mit der ENP, der GASP und ESVP verfügt und aufgrund ihrer historischen Verbindung gute Kenntnisse in dem Raum hat. Nur gemeinsam kann Europa handlungsfähig und stark sein Jede der genannten Herausforderungen allein stellt die Europäische Union vor schwer zu bewältigende Aufgaben. Um die innere Kohäsion nicht weiter zu belasten, sollten Balkanstaaten erst aufgenommen werden, wenn sie zweifelsfrei die Beitrittskriterien erfüllen – die Aufnahme weiterer nicht-­beitrittsreifer Staaten als Vollmitglieder kann sich die EU nicht erlauben. Ihre Entscheidungsprozesse, ihre Instrumente und die Kompetenz- und Machtverteilung ­zwischen Regierungen und EU-Institu­tionen sind nicht auf die kumulierten Probleme eingestellt, nicht zuletzt wegen der gleichzeitig existierenden inneren Zerreißproben. Der amerikanische pivot to Asia und der Wille der USA, nicht mehr in allen Regionen als Weltpolizist in erster Linie Verantwortung zu tragen, wird die Europäer zwingen, ihre Kompetenzen zu bündeln und aufgrund strate­gischer Überlegungen einzusetzen. Auch wenn die Strategien zur Krisen­bearbeitung in den Hauptstädten und Brüssel oft hart umstritten sind, gibt es keine Lösung jenseits der Koopera­ tion im europäischen Verbund. Dass ein europäischer Na­tionalstaat keine der angesprochenen Herausforderungen – oder weniger euphemistisch: Gefährdungen – heute noch allein bewältigen kann, dürfte allen Regierungen bekannt sein. Bezüg­lich der damit geforderten Solidarität und nicht zuletzt vertieften Koopera­tion bzw. Integra­tion gibt es jedoch unterschied­liche Vorstellungen. Für alle hier betrachteten außenpolitischen Problemfelder gilt, dass na­tionale Regierungen herausgefordert sind, ihren Bürgern argumentativ zu vermitteln, dass ihre na­tionale Sicherheit vor den von außen heranbrandenden Risiken nicht durch Rekurs auf na­tionale Souveränität, Abschottung und Alleingänge zu bewältigen sind. Die Europäische Union ist jedoch die größte Wirtschaftsmacht der Welt. Sie verfügt über einen beträcht­liche Hebel, wenn es gilt, im Zeitalter der Globalisierung die Interessen ihrer Bürger durchzusetzen und im Systemwettbewerb zu bestehen. Sie ist geübt in der Verwendung ökonomischer und diplomatischer Mittel und sie verfügt über eine breite Palette zivil-­ militärischer Instrumente. Soft power oder ökonomische hard power ersetzen jedoch den Mangel an militärischer harter Macht nicht: „The irony of soft power is that it often requires hard power policies to become effective.“ 18 Das Defizit an hard power kann die EU nur mit Hilfe der NATO ausgleichen, die die

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Abschreckungskapazität der USA als entscheidendes Element bietet. Aber es gilt auch zu vermitteln, dass für politischen Einfluss auf einen Gegner, der auf militärische Macht setzt, am Ende harte Macht zählt. Europäische Integra­tion war (und ist) ein Friedensprojekt, aber immer auch ein Konzept der Selbstbehauptung europäischer Werte. Dabei führt kein Weg an vertiefter Integra­tion vorbei: in der Flüchtlingspolitik, der Terrorismusbekämpfung und der Auseinandersetzung mit aggressiven Nachbarn. Das Paradox ist: Souveränität über die eigene, na­tionale Zukunft gibt es nur als europäische Souveränität. Die Ukraine-­Krise zeigt aber auch, dass es die Regierungen waren – genauer gesagt zwei: Deutschland und Frankreich – oder mit Polen zuweilen drei – die, wenn auch nach intensiver Informa­tion der Partner, allein oder im Verbund mit den USA versuchten, Krisenmanagement zu betreiben und die EU hinter einer gemeinsamen Haltung zu vereinen. Insbesondere die Rolle Berlins als einigende, vermittelnde Führungsmacht in und außerhalb der EU war bemerkenswert, zumal sie in den Hauptstädten offenbar sogar gewünscht wurde. Das könnte auf eine je nach Krise geteilte Macht hinweisen: Deutschland bei Fragen öst­licher EUGrenzen, Frankreich im Mittelmeer-­Raum, Großbritannien im Orient. Die EU ist insbesondere in dem Moment dieser akuten Sicherheitsbedrohung in das assistierende, zweite Glied gerückt, trotz einer Hohen Vertreterin für die EUAußen- und Sicherheitspolitik und eines Europäischen Auswärtigen Dienstes; beide wirkten nur koordinierend. Nur auf na­tionaler Ebene konnte schnell und geschlossen genug auf die Landnahme im öst­lichen EU-Nachbarland reagiert werden. Damit zeigte sich deut­lich, dass in Fragen von Krieg und Frieden in der Auseinandersetzung mit einer militärisch hoch gerüsteten Macht die Machtpotenziale, die Schnelligkeit der Reak­tion und die Legitimierung von Verhandlungsmandaten noch in den Händen der großen EU-Mitglieder liegen – und sich jeweils diejenigen in der Verantwortung fühlen, die am unmittelbarsten von den Problemen betroffen und zudem handlungsfähig und -willig sind. Letzteres traf auf Großbritannien in letzter Zeit nicht zu – was insgesamt als Schwächung für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik gesehen werden muss. Gemeinhin sind Krisen probate Katalysatoren für die Vertiefung der EU und so war abzusehen, dass die Forderung nach einer europäischen Armee wieder auftauchen würde. „[E]ine gemeinsame Armee der Europäer würde Russland den Eindruck vermitteln, dass wir es ernst meinen mit der Verteidigung der Werte der Europäischen Union“ 19, sagte Kommissionspräsident Jean-­Claude Juncker. Grundsätz­lich ist das richtig – nur in weite Zukunft gesprochen, denn der Weg zu einer derart glaubwürdigen Armee ist lang und teuer. Er setzt mehr Einigkeit in den Interessen und Zielen der Mitgliedstaaten voraus, als in der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003, ihrem Update von 2008 oder den bisher vergeb­lichen Bemühungen erkennbar ist, sie an gegenwärtige Bedrohungslagen anzupassen. Richtig ist, wie Juncker konstatiert: „Eine ­solche Armee würde uns helfen, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten

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und gemeinsam die Verantwortung Europas in der Welt wahrzunehmen.“ 20 In Anbetracht der inneren Lage der EU erscheint es dabei wahrschein­licher, dass eine verstärkte Zusammenarbeit außerhalb des vertrag­lichen Rahmens zustandekommt, als dass eine umfäng­liche Reform des Lissabonner Vertrages eine gemeinsame Armee etablieren könnte. Es fragt sich aber auch, ob in Hinblick auf Mächte wie Russland eine europäische Armee ohne feste Ankoppelung der USA tatsäch­lich genügend Abschreckungspotenzial aufbringen würde. Der einzig gangbare Weg besteht vorläufig darin, die Koopera­tion z­ wischen NATO und EU zu vertiefen, die GSVP und den europäischen Pfeiler der NATO handlungsfähig zu machen. Ohne die USA und die NATO gibt es keine Sicherheit. Allerdings zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, dass die USA, „leading from behind“ (Obama), nicht länger willens sind, primärer Sicherheitsgarant in Europa zu sein. Stalins Imperialismus hat wesent­lich zum europäischen Einigungsprozess beigetragen. Der Aufbau einer besonders schnellen NATO-Spezialtruppe unter starker europäischer Beteiligung ist ein erster Schritt. Vielleicht wird man einmal sagen können, Putin habe die Europäer end­lich überzeugt, zumindest innerhalb des NATO-Rahmens eine handlungsfähige europäische Rapid Reac­tion Force aufzustellen. Denn in dieser Frage wie in den anderen Sicherheitsbedrohungen gilt Jean Monnets Erkenntnis: „Die Menschen akzeptieren Veränderungen nur, wenn sie notwendig sind, und sie erkennen das Notwendige nur in der Krise.“

1 Vgl. Ian Manners: Normative Power Europe: A Contradic­tion in Terms?, in: Journal of Common Market Studies 40 (2002) 2, S. 235 – 258; Richard Rosecrance: The European Union: a New Type of Interna­tional Actor, in: Jan Zielonka (Hg.): Paradoxes of European Foreign Policy. Den Haag 1998, S. 15 – 23.; Jan Zielonka: Europe as a global actor: empire by example?, in: Interna­tional Affairs 84 (May 2008) 3, S. 471 – 484. 2 Erklärung anläss­lich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge (Berliner Erklärung), 25. März 2007, https://web.archive.org/web/20070927204801/ http://eu2007.de/de/News/download_docs/Maerz/0324-RAA/German.pdf. – So auch der treffende Titel der Autobiographie von Hans-­Gert Pöttering: Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg. Köln/Weimar/Wien 2014. 3 http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-­explained/index.php/Migra­tion_and_migrant_ population_statistics#Migra­tion_flows. Aktualisierung soll 2015 erfolgen. 4 Von knapp 21 Millionen Syrern sind gemäß UNHCR rund 3 Millionen ins Ausland geflüchtet, rund 6,5 Millionen sind Binnenflüchtlinge. 5 Das Land hat 6,5 Millionen Einwohner. Über 50 Prozent der Bevölkerung sind Palästinenser (in Städten bis zu 90 Prozent), 200.000 Iraker kamen mit dem Irak-­Konflikt als Flüchtlinge. Die offizielle Zahl der registrierten syrischen Flüchtlinge liegt bei 620.000, hunderttausende Weitere leben vermut­lich unregistriert im Lande.

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6 Remarks by His Majesty King Abdullah II Ibn Al Hussein European Parliament, Strasbourg, 10 March 2016, http://www.europarl.europa.eu/resources/library/media/2015031 1RES33409/20150311RES33409.pdf. 7 Auch hier wird die tatsäch­liche Zahl mit ca. eine Million Flüchtlingen weit höher geschätzt. 8 United Na­tions – Department of Economic and Social Affairs, Popula­tion Division, Policy Sec­tion: World Popula­tion Policies Database, Country Profiles, Popula­tion Indicators, Jordan, 2013 http://esa.un.org/PopPolicy/about_database.aspx. 9 Afrika erreicht den Bevölkerungshöchststand voraussicht­lich erst 2050. Der Anteil der unter 30-Jährigen liegt derzeit nach UN -Quellen ­zwischen 55 Prozent (Algerien) und 70 – 74 Prozent (z. B. Somalia, Nigeria, Eritrea…). Lilli Sippel/Tanja Kiziak/Franziska Woellert/Reiner Klingholz: Afrikas demografische Herausforderung. Wie eine junge Bevölkerung Entwicklung ermög­lichen kann. Berlin-­Institut für Bevölkerung und Entwicklung, S. 4, http://www.berlin-­institut.org/fileadmin/user_upload/Afrika/Afrikas_ demografische_Herausforderung.pdf. 10 Daten des Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung, http://www.berlin-­institut. org/laenderdatenbank.html. 11 Manners: Normative Power Europe. 12 http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-­explained/index.php/Migra­tion_and_migrant_ population_statistics#Migra­tion_flows. 13 Rede des rus­sischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Konferenz zu Fragen der Sicherheitspolitik, in deutscher Übersetzung durch russland.ru, 43. Münchner Sicherheitskonferenz, 10. Februar 2007. 14 Vertreter von EU -kritischen Parteien: Während von den knapp 100 errungenen Sitzen die rechtsaußen verortete Frak­tion Europa der Freiheit und Direkten Demokratie (EFFD) rund die Hälfte stellt, setzt sich die andere Hälfte aus Frak­tionslosen zusammen, Daniela Kietz/Nicolai von Ondarza: Das neue Machtgefüge im Europäischen Parlament, SWPAktuell 47 (2014), S. 1 (http://staging.swp.3pc-­server.de/fileadmin/contents/products/ aktuell/2014A47_ktz_orz.pdf). 15 Front Na­tional soll von einer Bank unter Kontrolle des Kreml 9 Millionen Euro als erste Tranche eines 40 Millionen Kredits erhalten haben, in: FAZ, 20. November 2014. 16 Neonazi-­Treffen in Moskau: Moskaus rechtsradikale Interna­tionale, in: Spiegel-­Online Politik, 23. März 2015 (http://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-­rechtsextremisten-­ treffen-­sich-­in-­sankt-­petersburg-­a-1025108.html). 17 Matthew Czekaj: Russia’s Hybrid War Against Poland, in: The Jamestown Founda­tion, http://www.jamestown.org/regions/russia/single/?tx_ttnews[tt_news]=43851&tx_ttnews[ backPid]=48&cHash=6664bc6617883f89da9d42a95bdef87 f#.VUmzapMmP6O. 18 Kristian L. Nielsen: EU Soft Power and the Capability-­Expecta­tions Gap, in: Journal of Contemporary European Research 9 (2013) 5, S. 737. 19 EU-Sicherheitspolitik: Juncker fordert Aufstellung einer europäischen Armee, in: Spiegel online, 8. März 2015 (http://www.spiegel.de/politik/ausland/juncker-­fordert-­aufstellung-­ einer-­europaeische-­armee-­a-1022380.html). 20 Ebd.

Herausforderungen und Chancen für die digitale Gesellschaft in Europa Günther Oettinger

Nirgendwo sind die Herausforderungen, aber auch die Chancen, so groß wie in der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei geht es keineswegs nur um Online-­Dienste, wie man meinen könnte, sondern um alle wirtschaft­lichen und gesellschaft­lichen Aktivitäten, die eng mit den digitalen Netzen verknüpft sind oder sein werden. Fast alle Innova­tionen der letzten 20 Jahre basieren auf digitalen Technologien, selbst wenn sie in anderen Branchen stattfinden. Minimal-­invasive ­Chirurgie wird vom Computer aus gesteuert, Fracking wird von Computermodellen simuliert, Auspark-­Assistenten sind digital vernetzte Sensoren. Die digitalen Wirtschaft geht daher weit über das hinaus, was man normalerweise mit digital assoziiert – Internet, Social Media, Tablets, Smart Phones. Diese sind sicher­lich sehr prägende technolo­gische Innova­tionen an sich, aber sie sind auch die Instrumente, mit denen sich die digitale Welt immer weiter in die „alte“ Welt ausdehnt. Und das geschieht rasend schnell. Vor einem Jahr noch hatte kaum jemand in Europa vom Taxi-­Wettbewerber Uber oder vom Hotel-­Substitut Airbnb gehört. Heute kennt sie jedes Kind. Digitale Dienste, wenn sie erst mal existieren, können sich schnell weiterentwickeln. Sie werden sich auch kaum aufhalten lassen, selbst wenn man wollte. Höhere Effizienz, schnelleres Anpassen an Verbrauchererwartungen und so gut wie keine zusätz­lichen Kosten für weitere, zusätz­liche Kunden geben ihnen langfristig gesehen entscheidende Wettbewerbsvorteile. Allerdings kann man ihre Entwicklung beeinflussen. Und das sollte man auch. Rahmenbedingungen einzuhalten und Steuern zu zahlen, muss auch für innovative digitale Dienste genauso selbstverständ­lich sein wie für alle anderen. Doch um Einfluss zu haben, muss Europa – und Deutschland – eine aktive Rolle spielen. Wir müssen die digitale Gesellschaft in Europa weiter ent­wickeln, denn wenn wir es nicht tun, wird dies woanders geschehen und wir haben keine Gestaltungsmög­lichkeit. Nirgendwo ist das wichtiger als auf dem Arbeitsmarkt. Durch die digitalen Innova­tionen werden viele derzeitige Berufsbilder entweder verschwinden, auf viel weniger Beschäftigte schrumpfen, oder radikal verändert werden. Eine Studie, die viel Aufsehen erregt hat, schätzt, dass in den USA 47 Prozent aller Beschäftigten in den nächsten zwanzig Jahren durch Computer ersetzt werden könnten. In Europa sind es sogar 54 Prozent.

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Doch gleichzeitig schafft die Digitalisierung natür­lich auch neue Arbeitsplätze, und zwar nicht nur für Computerprofis, sondern auch in der Industrie und in anderen Dienstleistungsbranchen. Wenn man die Veränderungen positiv mitgestaltet, dann kann die Digitalisierung netto Arbeitsplätze schaffen, auch und gerade im verarbeitenden Gewerbe. Industrie 4.0 kann man in dieser Hinsicht ohne falsche Bescheidenheit als bespielhaft bezeichnen. Wenn man aber versucht, die Veränderungen so weit wie mög­lich zu bremsen, riskieren wir, dass neue Arbeitsplätze zwar geschaffen werden, aber eben nicht in Europa sondern anderswo. Aus europäischer Sicht gibt es daher zwei Punkte, deren aktive Gestaltung besonders wichtig ist. Erstens müssen wir die ganze Gesellschaft auf dem Weg ins digitale Zeitalter mitnehmen. Zweitens gilt es, einen wirk­lichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen. Ein digitales Zeitalter für alle Das digitale Zeitalter braucht vor allem zweierlei: einen leistungsfähigen digitalen Netzzugang, wo immer man ist, und digitale Kompetenzen, die so weit verbreitet sind wie Lesen und Schreiben. Ohne leistungsfähigen Netzzugang – und leistungsfähig ist dabei ein Begriff, der sich weiterentwickelt – können die Bürger viele Vorteile der Digitalisierung nicht in Anspruch nehmen. Deswegen ist schon heute ein Hochgeschwindigkeitsnetz ein ganz wichtiges Element für die Wohnungssuche. Wo das Netz nicht schnell genug ist – und es gibt da noch einige Löcher in Deutschland – finden es die Gemeinden schwieriger, für Neubewohner attraktiv zu sein. Die andere Grundvoraussetzung ist digitale Kompetenz. Und zwar sowohl auf der Bürger- und Verbraucherseite, wo Grundkenntnisse erforder­lich sind, um am zunehmend digitalen Leben teilzunehmen, als auch auf der Unternehmensseite, wo angewandte Kenntnisse für die allermeisten Angestellten und spezialisierte Kenntnisse für die digitalen Profis gebraucht werden. Insbesondere bei den letzteren hat Europa einen Nachholbedarf. Während die Nachfrage nach Digitalprofis steigt, stagniert die Zahl der Berufsanfänger. Zwar ist Deutschland in dieser Hinsicht seit einigen Jahren eine positive Ausnahme, aber angesichts der demographischen Entwicklungen Deutschlands sollten die Resultate der Bildungs- und Ausbildungssysteme der anderen Mitgliedstaaten ein wichtiges Anliegen der deutschen Industrie sein, und zwar nicht nur der Betriebe, die in anderen Ländern produzieren, sondern aller Betriebe – zumindest ein Teil ihrer zukünftigen Belegschaft wird dort ausgebildet werden. Das flächendeckende Hochgeschwindigkeits-­Internet und die Vermittlung der erforder­lichen digitalen Kompetenzen sind im Übrigen nicht nur ­soziale Notwendigkeiten, sondern auch eine Voraussetzung für wirtschaft­lichen Erfolg. Und eine effizientere digitale Verwaltung kann erst dann die Papierverwaltung komplett ersetzen, wenn alle Bürger daran teilnehmen können. Solange

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das nicht der Fall ist, müssen zwei Verfahren parallel geführt werden, was die Effizienz erheb­lich reduziert. Ein digitaler Binnenmarkt Dass europäische Bürger, mehr als zwanzig Jahre nach Vollendung des europäischen Binnenmarkts, heute noch häufig feststellen müssen, dass Online-­Shops sie nicht beliefern, weil sie in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, darf nicht so bleiben. Was auch immer die Hindernisse sind – Copyrightlizenzen, die nur na­tionale Verbreitung erlauben; Markenunternehmen, die Einzelhändlern nicht erlauben, über die Grenze zu liefern; Bankkarten, die nicht akzeptiert werden; Etikettierungspflichten in einer anderen Sprache; und viele andere – eine derartige Situa­tion hat mit einem europäischen Markt nicht viel gemein. Die Schaffung eines wirk­lichen digitalen Binnenmarkts ist aber auch für Unternehmen und für unsere Wettbewerbsfähigkeit von größter Bedeutung. Online-­Dienste werden sich nicht entwickeln können, wenn sie an jeder EUGrenze gebremst werden. Ein bekannter music-­streaming Anbieter hat fünf Jahre gebraucht, um in der ganzen EU auf dem Markt zu sein. Kein Wunder, dass viele neue digitale Unternehmen in die USA abwandern. Ohne einen digitalen Binnenmarkt werden sich auch viele neue Technologien langsamer durchsetzen. Eine permanente Fernüberwachung eines herzkranken Patienten, die im Auslandsurlaub durch Roaming-­Gebühren zum unbezahlbaren Luxus wird; ein Ferndiagnosesystem für installierte Industriemaschinen, dessen Informa­tionen nur verspätet vom ausländischen Netz übertragen werden; ein Cloud Computing Anbieter, der Rechenzentren in 28 Mitgliedsländern eröffnen muss, um Datenschutzanliegen Rechnung zu tragen: Dies sind nur ein paar Beispiele, wie Innova­tionen ohne digitalen Binnenmarkt gebremst werden können. Digitale Industrie Wenn wir es schaffen, für einen wirk­lichen digitalen Binnenmarkt auf der Grundlage eines weit verbreiteten Hochgeschwindigkeitszugangs zu sorgen, und den Arbeitnehmern ausreichend digitale Fähigkeiten zu vermitteln, dann werden wir in Europa von der nächsten digitalen Innova­tionswelle, dem industriellen Internet, noch mehr profitieren als von der Entstehung des rein digitalen Internets. Das verarbeitende Gewerbe ist auch heute noch das Rückgrat der europäischen Wirtschaft mehr als in den USA, in Deutschland mehr als in Europa. Wenn der Industriezweig aber noch weiter ausgebaut werden soll, geht dies natür­lich nur mit neuen industriellen Technologien, nicht mit der Rückkehr zu Altbewährtem. 3-D Drucker sind ein Beispiel, wie die digitale Technologie dem verarbeitenden Gewerbe zu einer Renaissance verhelfen kann.

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Für den Mittelstand gilt dies umso mehr – nur 14 Prozent der Mittelständler verkaufen auch per Internet und noch ein kleinerer Prozentsatz online ins Ausland. Dabei könnten gerade die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) von der Digitalisierung profitieren: neue Märkte, Einsparungen von Kosten durch Produk­tions- und andere Prozesse. Daher fördern die EU -Kommission unter dem Namen „ICT Innova­tion for Manufacturing SMEs“ Projekte, bei denen teilnehmende Unternehmen mit digitalen Methoden experimentieren können. „Digitale Wirtschaft“ und „Industrie/Mittelstand“ sind keine Gegensätze, genauso wenig wie „Digitale Gesellschaft“ und „Gesellschaft“. Heute sind sie vereinbar, morgen werden sie untrennbar sein.

Von der Suche nach einem Fundament für alte und neue Instrumente Europäischer Kulturpolitik*1 Doris Pack

„Tausche Goethe gegen Molière“ oder „Hände weg vom Abendland“? Kulturpolitik auf europäischer Ebene ist, soviel darf unterstellt werden, für die meisten Bürger (und Redak­tionsstuben) vor allem eines: terra incognita. Auch in ­diesem Fall bestätigen Ausnahmen die Regel: So weist die bewährte Initiative „Kulturhauptstadt Europas“ einen hohen Bekannt- und Beliebtheitsgrad auf. Und auch das von Hans-­Gert Pöttering angestoßene und untrennbar mit seinem enormen persön­lichen Engagement verbundene Vorhaben, ein „Haus der Europäischen Geschichte“ aufzubauen, konnte mediale und öffent­liche Aufmerksamkeit wecken. Kein Wunder, denn es handelt sich um ein äußerst ambi­tioniertes und in dieser Form einmaliges Projekt, das derzeit von zahlreichen renommierten Wissenschaftlern und Experten aus allen Teilen Europas entwickelt und unterstützt wird. Dabei sollen bewusst verschiedene Perspektiven und Interpreta­tionen der europäischen Geschichte präsentiert werden. Mit seinem innovativen, mehrsprachigen und multimedialen Konzept wird das im Brüsseler Parc Léopold angesiedelte Museum die europäische Kulturlandschaft dauerhaft bereichern. Gleichwohl dürfte die Frage nach Zielen, Inhalten, Instrumenten und Prota­ gonisten Europäischer Kulturpolitik jenseits dieser wenigen Gegenbeispiele vor allem Ratlosigkeit erzeugen. Dies ist angesichts der Komplexität Europäischer Politik im Allgemeinen und der Vielzahl der auf EU-Ebene bearbeiteten Politikfelder zwar durchaus plausibel, in mindestens zweierlei Hinsicht aber auch bedenkenswert. Zum einen führt es dazu, dass EU -Kulturpolitiker in der Regel unterhalb der öffent­lichen Wahrnehmungsschwelle agieren. Folg­lich bleiben interne und interinstitu­tionelle Diskussions- und Entscheidungsprozesse weitgehend unbeachtet, und damit auch unhinterfragt und unkommentiert – ein aus demokratietheoretischer, legitimatorischer Sicht wenig erfreu­liches Schicksal, das die Kulturpolitik allerdings mit mehreren anderen EU-Politikfeldern teilt. Politische Erfolge in ­diesem Bereich taugen daher kaum für politische PR. Dass die Anliegen des Kultursektors dadurch unattraktiv für die politische Klasse sind und auf kurz oder lang unter den Tisch fallen, lässt sich glück­licherweise jedoch nicht belegen. Im Gegenteil: Im langjährigen Kampf um den Erhalt der Buchpreisbindung und der staat­lichen Filmförderung oder auch in der Frequenzpolitik (also der Regelung von Nutzungsrechten für Funkfrequenzen, bei

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der Theater, Konzerthäuser und andere kulturelle Einrichtungen auf politischen Beistand angewiesen sind) haben sich die EU-Kulturpolitiker immer wieder als durchsetzungsfähig erwiesen und ihren Einfluss mit Erfolg geltend gemacht. Die Beispiele zeugen zudem davon, dass Kulturpolitik auch auf europä­ ischer Bühne mehr ist als schöngeistiges Gerede oder das Verteilen von Fördermitteln. Sie steht im legitimen und natür­lichen Wettstreit der verschiedenen gesellschaft­lichen und politischen Interessen und muss sich dabei immer wieder neu behaupten, wobei ihre Akteure weder eine Vorzugsbehandlung erwarten dürfen noch von Vornherein auf verlorenem Posten stehen. Hilfreich und geboten wäre es dennoch, wenn beispielsweise im Fall der breit und emo­tional geführten TTIP -Debatte hinsicht­lich dessen kultureller Implika­tionen nicht nur lärmende Panikmache, sondern auch das frühzeitige (und wiederum erfolgreiche!) Agieren der Kulturpolitiker des Europaparlaments wahrgenommen würde: Diesen ist es gelungen, das EU-Parlament auf die „excep­tion culturelle“, also eine Herausnahme des audiovisuellen Bereichs und kultureller Dienstleistungen, festzulegen. Da ein solches Handelsabkommen ohne die Zustimmung des Parlaments nicht in Kraft treten kann, ist dies weit mehr als ein Randaspekt, der in der öffent­lichen Diskussion aber fast nie zur Kenntnis genommen wird. Geringe öffent­liche Aufmerksamkeit und mediale Vernachlässigung sind aber vor allem auch deshalb erstaun­lich und erklärungsbedürftig, weil mit EUKulturpolitik implizit oder explizit durchaus hohe und vielfältige Erwartungen verbunden sind: Mit Recht wird von ihr mehr eingefordert als pflichtschuldiges Advokatentum zugunsten des kulturellen Sektors in tagespolitischen Fragen. Aber was eigent­lich genau? Was kann, was soll EU-Kulturpolitik leisten? Und vor allem: wie? Die kulturpolitisch bedeutsamen EU-Rechtsnormen und die damit verbundenen Auslegungen und Interpreta­tionen liefern ein buntes Bild. Auf der Prioritätenliste ganz oben rangieren die „Erhaltung und der Schutz des europäischen kulturellen Erbes“ (so auch der Wortlaut des Artikels 167 des Lissabon-­Vertrags) bei gleichzeitiger Wahrung na­tionaler und regionaler Vielfalt. Während Skeptiker der Europäischen Integra­tion dies vor allem als Gebot der Zurückhaltung deuten, damit „Brüssel“ die na­tional verstandenen Kulturtradi­ tionen nicht auf dem Altar des Europäischen Einigungsprojekts opfern möge, wittern Föderalisten und andere Integra­tionsfreunde vor allem eine große Chance: Sie bringen Europäische Kultur(-politik) mit dem Leitbild einer EU-weit geteilten Identität und der Vision (wohl eher: Utopie) einer einzigen Europäischen Öffent­ lichkeit in Verbindung, wobei nicht immer deut­lich wird, in welchem Verhältnis diese Konzepte stehen sollen: Ist eine gemeinsame Öffent­lichkeit nun Voraussetzung für eine geteilte Identität, nur ein wichtiger Teilaspekt bzw. Bestandteil derselben oder eine lo­gische Konsequenz hieraus? Oder doch eher umgekehrt? Und wo findet in ­diesem Gedankenkonstrukt die Kultur(-politik) ihren Platz?

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So diffus, häufig auch oberfläch­lich und phrasenhaft Konzepte von Identität, Kultur und Öffent­lichkeit verwendet werden und so überladen und abstrakt viele dieser Vorstellungen sein mögen: Dass der Identitätsbegriff bei der Suche nach einem Sinn stiftenden Fundament Europäischer Kulturpolitik eine gewisse Rolle spielen muss, ist offenkundig: Historisch spielt die Kultur spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung stets eine zentrale Rolle bei der Identitätsbildung und -wahrung. Und umgekehrt ist der Rückgriff auf weithin geteilte Vorstellungen kollektiver (und kultureller) Identität unverzichtbar, um Gegenstandsbereich und Ausrichtung von Kulturpolitik zu bestimmen. Eine nicht fundierte, unreflektierte Kulturpolitik, die bloß irgendwie in eine gemeinsame (europäische) Identität münden soll, dürfte kaum erfolgsver­ sprechend sein. Da sie aber auch nicht der reinen Instrumentalisierung dienen darf, als bloßes Werkzeug zur Verwirk­lichung eines politisch vorab fix definierten Identitätsverständnisses, wandelt sie stets auf schmalem Grat. Politisch-­kulturelle Gemeinschaften sind vorgestellte Gemeinschaften und wie wir seit Benedict Andersons Untersuchungen über jene imagined communities und die Herausbildung na­tionaler Identitäten wissen, sind geglaubte Gemeinsamkeiten hierfür wichtiger, als objektiv feststellbare. Definiert und von anderen Gemeinschaften abgegrenzt wird die eigene community dabei maßgeb­lich über historische Ereignisse, politische Normen sowie vor allem auch über die als gemeinsam erkannten Elemente einer kollektiven Kultur. Der Na­tionalstaat moderner Prägung stellt tradi­tionell einen zentralen, natür­ lichen Bezugspunkt des menschlichen Selbstverständnisses dar, wobei na­tionale Identitätsbildung auf einen Fundus klar identifizierbarer Anknüpfungspunkte zurückgreifen kann. Ein weitaus weniger eindeutiges Bild ergibt sich, wenn die europäische Dimension mit integriert wird als Teil einer dann „hybriden Identität“, die ein Zugehörigkeitsgefühl zu gleich mehreren politischen Gemeinschaften (z. B. Na­tion, „Europa“) zum Ausdruck bringt. So ist zunächst einmal auch alles andere als evident, was genau Kulturpolitik im europäischen Maßstab „erhalten“, „schützen“ und „fördern“ soll, worüber auch die reflexhaften Repliken „die Vielfalt!“ und „das Kulturerbe!“ nicht hinweg täuschen können. Denn es handelt sich bei Lichte betrachtet einstweilen ledig­lich um rhetorische Leerformeln, die es mit Sinn und Inhalt zu füllen gilt. Und ob dies wiederum ausreicht, eine gemeinsame Identität der EUropäer und ein Fundament für EU-Kulturpolitik zu skizzieren, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. All diese Zusammenhänge und Schwierigkeiten werden im Winter 2014/2015 auch auf vielen deutschen Straßen und Plätzen offenbar: Eine Bewegung, die bereits in ihrem Namen die Begriffe „Patriotisch“ und „Europäer“ kombiniert, Deutschtümelei mit der Sorge um das so genannte „Abendland“ verbindet, illustriert ein eben solches hybrides Identitätsverständnis, wenngleich das Bekenntnis zum Okzident zugegebenermaßen häufig nur notdürftig eine chauvinistische und na­tionalistische Gesinnung übertüncht.

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Bemerkenswert ist es dennoch, dass ein Teil der Anhänger eine spezi­fische Form europäischer Identität für sich entdeckt und dabei auf ein gängiges Muster der (per se nicht verwerf­lichen, sondern bei der Identitätssuche natür­lichen) Abgrenzung zurückgreift, näm­lich das einer religiös-­kulturell gezogenen Trennlinie. Stellvertretend hierfür steht der AfD-Spitzenfunk­tionär Konrad Adam, der seine Sympathie mit der Pegida-­Bewegung in einem Interview ausdrück­lich mit deren „kulturell-­historischer Dimension“ begründet und als selbst ernannter „Liebhaber der europäischen Literatur“ alarmiert konstatiert: „Die europäische Kultur ist bedroht!“ Kurz darauf verweist Adam auf das Frauenbild des türkischen Präsidenten Erdogan, wobei unklar bleibt, inwieweit d­ ieses geeignet ist, den europäischen Literaturkanon und die Wahrung der Menschen- und Grundrechte, um die er sich ebenfalls besorgt zeigt, hierzulande zu „bedrohen“. Seine Defini­tion von Europäischer Kultur und kultureller Identität vor allem in Abgrenzung zum Islam greift hingegen eine bis ins Mittelalter zurückgehende Argumenta­tion auf, die allerdings auf tönernen Füßen steht – heute mehr denn je. Natür­lich ist die (Kultur-)Geschichte der Europäer untrennbar mit dem Christen­tum verbunden. Aber neben dem Judentum gilt dies eben unter anderem auch für den Islam, wie schon ein oberfläch­licher Blick auf die europäische Kunst- und Kulturgeschichte zeigt. Dass es zudem Muslime waren, die seinerzeit das während des finsteren europäischen Mittelalters in der Arabischen Welt sorgsam gesammelte und bewahrte antike Wissen aus Naturwissenschaft, Philosophie und Technik zurück nach Europa brachten (Ernst Bloch sprach diesbezüg­lich von Zeiten, in denen „im Morgenland ein helleres Licht brannte“ als hierzulande sowie von der Arabischen Kultur als „Quellgebiet der Aufklärung“), führt nicht nur das Credo einer angeb­lichen Wissenschaftsfeind­lichkeit des Islam ad absurdum: Eine Europäische Identität und Kulturpolitik, die vor allem auf Abwehrmechanismen und einer puristischen Verteidigungshaltung gegen eine herbeigeredete religiös-­kulturelle Invasion beruht, erscheint vor ­diesem Hintergrund geschichtsvergessen und insgesamt völlig abwegig. Dies gilt noch dazu angesichts der Entwicklung zu säkularisierten, oft auch areligiösen Gesellschaften in Europa, die man bedauern mag, gleichwohl aber zur Kenntnis zu nehmen hat. An alternativen Konzep­tionen europäischer Identität besteht indes kein Mangel, wie die Soziologin Gudrun Quenzel aufzeigt, indem sie gleich elf solcher europäischen Selbstbeschreibungen unterscheidet, darunter neben der des „christ­lichen Abendlandes“, auch die einer „ästhetischen Einheit“ (Bezugspunkt: Kunstgeschichte), einer sogenannten Wertegemeinschaft oder eines vornehm­lich durch zivilisatorischen und technischen Fortschritt charakterisierten Europas.1 Die Vielzahl konkurrierender Identitätsentwürfe korrespondiert mit unter­ schied­lichen Sichtweisen, wer jeweils als „die Anderen“ angesehen wird. Zum wichtigsten Gegenüber wird, wie Quenzel anhand einer Analyse der

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entsprechenden Diskurse aufzeigt, „der Osten“. Hierunter subsumiert werden als externe Andere wahlweise der Orient, Asien, Russland oder auch häufig die Türkei. Die diskursive Dominanz Westeuropas führt dazu, dass die imaginierten Trennlinien aber auch erstaun­lich oft quer durch den Kontinent verlaufen, ja selbst durch die EU an sich: Mittel- und osteuropäische Länder, die teilweise längst Mitglied der Europäischen Union sind oder denen man eine Mitgliedschaft zumindest fest in Aussicht gestellt hat, geraten so unvermittelt auf die Seite „der Anderen“: Während zumindest die baltischen Staaten kulturell zunehmend als Teil eines europäischen (hier: EU -)Ganzen akzeptiert werden, bleiben weite Teile des Balkans bis in die Gegenwart außen vor. Verwirft man auch die auf einer solchen Trennung beruhenden Entwürfe als für die heutige EU nicht tragfähig und wünschenswert, schwindet die Auswahl an mög­lichen Identitätskonstruk­tionen zusehends. Der politische Taschenspielertrick besteht nun darin, kurzerhand sämt­liche Kulturen – es sind weit mehr, als die EU Mitglieder hat, – und deren Erbe zu vereinnahmen und gewissermaßen zu europäisieren. Bei d­ iesem vorgestellten Tauschgeschäft steuert jede Na­tion ihre anerkannten Koryphäen aus Vergangenheit und Gegenwart bei: Goethe wird dann auch zum Franzosen, auf ­Molière dürfen ebenso die Deutschen stolz sein, und auch van Gogh oder El Greco werden kurzerhand zu Vorzeigekünstlern aller Europäer umfunk­tioniert. Und mit der Aufnahme eines neuen Mitgliedstaats weitet sich dieser exklusive Kreis „unserer“ Künstler, Kreativen und sonstigen Kulturschaffenden automatisch aus. So simpel diese Vorstellung – aus unzähligen Kulturen wird wie von Zauber­ hand eine additiv konstruierte Europäische Kultur – auch ist, besteht ihre Attraktivität vor allem darin, dass kein Land und keine Region außen vor bleiben muss und auch Skeptiker sich zunächst einmal nicht um die viel beschworene „Vielfalt“ sorgen müssen, denn die Rückbesinnung auf die na­tionale (Kultur-) Ebene bleibt zu jeder Zeit mög­lich. Dieser Entwurf eines Kultur-­Europas, das sich ausschließ­lich über die Summe seiner Teile definiert, ist daher trotz seiner unbestreitbareren Trivialität durchaus naheliegend, vermag aber durch den letzt­lich doch arg künst­lichen und theoretischen Charakter kaum Identität stiftende Kraft zu entfalten. Denn letzt­lich bleibt doch jede (na­tionale) Gemeinschaft für sich und zu Ende gedacht bliebe in ­diesem Nebeneinander die so umsorgte kulturelle Vielfalt dann am besten gewahrt, wenn man sich vor allem um ihre Einzelteile kümmert, was naturgemäß nicht Bestandteil Europäischer Kulturpolitik sein kann. Deren Aufgabe bliebe dann darauf beschränkt, das Publikum zu animieren, hin und wieder über den na­tionalen kulturellen Tellerrand hinauszuschauen. Doch vielleicht führt die Suche nach einem gemeinsamen Band, dass die imagined community der EUropäer zu einigen vermag, ja doch noch zum Erfolg: Gemeinsam ist den Gesellschaften der Mitgliedstaaten näm­lich vor allem das

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Bekenntnis und die gelebte Praxis einer spezifischen Form der „Kanalisierung und Zivilisierung von Konflikten“ (G. Quenzel). Es ist diese gewachsene Diskussions-, Streit- und Konfliktkultur, die das demokratische Selbstverständnis innerhalb der EU wesent­lich kennzeichnet und in ihrer hiesigen Ausprägung auch ein Alleinstellungsmerkmal darstellt. Problemlösung, Kompromisssuche und Verständigung werden dabei nicht nur in einer Art und Weise institu­tionalisiert und ritualisiert, die allgemeinen demokratischen Gepflogenheiten entspricht: Als entscheidendes historisches Charakteristikum und zugleich Herz der europäischen kulturellen Identität macht der franzö­sische Philosoph Edgar Morin ein produktives Spannungsverhältnis der geistigen Auseinandersetzung aus, das er als „Dialogik“ bezeichnet: Dieses „befruchtende Aufeinandertreffen von Unterschieden, Antagonismen, Konkurrenzen und Komplementaritäten“ ist geprägt vom Wettstreit verschiedener Denktradi­tionen, Machtzentren und Gesellschaftsentwürfen. Polyzen­ trismus und Heterogenität werden so, wie Hartmut Kaelble anmerkt, zu einer für Europa typischen Errungenschaft umgedeutet (und aufgewertet). Voraussetzung für die schöpferische Kraft dieser Gegensätze sind öffent­liche Diskursräume, in denen sich die Beteiligten mit gleichen Mitwirkungsrechten und -mög­lichkeiten begegnen. Die seit jeher vorhandene transna­tionale Komponente der Dialogik sowie ihre aktive Kultivierung ist aber nicht nur aus historischer Sicht interessant. In der heutigen Europäischen Union hat der Modus der Dialogik eine enorme politische Aufwertung erfahren, indem er über gemeinsame Organe institu­tionalisiert und verstetigt wird. Die mittelbare Folge sind kollektiv beschlossene Gesetze, Regeln und Normen, die für 500 Millionen Europäer gelten. Eine dergestalt auf Dialog und Dialogik beruhende Europäischen Union ist also eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sich zu einer bestimmten Form der Verständigung, Konfliktbewältigung und Diskussionskultur bekennen, und zwar mög­lichst unter Einbeziehung aller, naturgemäß auch des Kreativ- und Kultursektors. Europäische Kulturpolitik muss ­diesem Gedankengang folgend vor allem Foren schaffen, in denen künstlerische Konstruk­tionen der Wirk­lichkeit grenzüberschreitend verfügbar gemacht, die Posi­tionierungen und Debattenbeiträge von Kunstschaffenden vorgestellt und diskutiert werden können, und dies unter Beteiligung eines mög­lichst breiten, transna­tionalen Publikums. Eine hieran ausgerichtete Kulturpolitik zielt auf eine kulturelle europäische Öffent­lichkeit ab, die ein Äquivalent bzw. eine Dimension politischer Öffent­ lichkeit(en) darstellt. Diese Herleitung liefert einen Begründungszusammenhang und eine Richtschnur sowohl für altbewährte als auch für neuere kulturpolitische Instrumente, wie sich im Folgenden anhand zweier Beispiele illustrieren lässt.

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Kein kulturpolitisches Werkzeug ist geeignet, alle Zielgruppen gleichermaßen zu erreichen. Wenn aber insgesamt mög­lichst viele Bürger erreicht werden sollen, so liegt es nahe, Film und Kino eine hohe Bedeutung beizumessen, denn Attraktivität und Popularität visueller Botschaften sind ungebrochen: Mit der Lautsprache hat sich der Mensch zwar ein spezifisches Werkzeug geschaffen, das Kommunika­tion auf verbalem Wege zum primären Mittel der Verständigung gemacht und den Horizont des homo sapiens dadurch sprunghaft erweitert hat. Doch auch durch die Erfindung der Lautsprache wurde, wie der Kommunika­ tions- und Medienforscher Siegfried Frey feststellt, „der über Jahrmillionen hinweg evolu­tionär entstandene Mechanismus der sensorischen Eindrucksbildung keineswegs ausser Kraft gesetzt“. Ganz im Gegenteil: Seit camera ­obscura und Daguerreotypie, den Vorläufern der modernen Fotografie, spätestens aber seitdem „die Bilder laufen lernten“ faszinieren visuelle Medien die Menschen, wirken anregend, anziehend und wahrhaftig – ein Bild sagt schließ­lich mehr als tausend Worte und, um ein ähn­liches Sprichwort aus dem eng­lischen Sprachraum zu bemühen, „Seeing is believing“. Wirk­lich? Dass vor allem bewegte Bilder geschickt eingesetzt zur Manipula­ tion und Irreführung taugen, zeigen unzählige Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart. Zugleich wissen wir heute, dass nonverbales Verhalten beim Betrachter unwillkür­lich und unmittelbar einen Prozess der „Meinungsbildung“ auslöst, der bereits nach einer Viertelsekunde in ein nur noch schwer zu korrigierendes (und naturgemäß oberfläch­liches) Urteil mündet. Eine gewisse Anfälligkeit, dass „die Korrektur von Vor-­Urteilen durch Nach-­Denken immer seltener stattfindet“ (S. Frey), ist also zweifellos gegeben. Vorsicht ist also angebracht, wenn Politik sich des Instruments Film bemächtigt. Und es waren ganz wesent­lich ihre Erfahrungen mit der (US-)Filmindustrie, die Adorno und Horckheimer einst zu ihrer pessimistischen These einer Kulturindustrie inspirierten, die im Rahmen der „Dialektik der Aufklärung“ letztere zum „Massenbetrug“ degenerieren lässt. Der zeitgenös­sische Europäische Film taugt jedoch nicht dazu, diese Einschätzungen zu bestätigen. Und es ist durchaus mög­lich, Politik und Kino zusammenzubringen, ohne damit unlautere Absichten zu verfolgen. Europäische Filmemacher sind in aller Regel weder fremdgesteuert noch willfähriges Werkzeug kapitalistischer oder ideolo­gischer Interessen, sondern souveräne, fein- und eigensinnige Beobachter der gesellschaft­lichen, politischen und wirtschaft­lichen Begebenheiten. Sie erzählen große und kleine Geschichten aus allen Teilen Europas, die uns beeindrucken, berühren, beängstigen und belustigen; nicht um zu manipulieren und von Wichtigerem abzulenken, sondern ganz im Gegenteil: Ihre Filme werfen ein neues Licht auf uns vertraute ­Themen und Räume oder lenken unsere Aufmerksamkeit auf unbekannte und vernachlässigte Seiten des (Zusammen-)Lebens in Europa.

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Der gesellschaft­lichen und kulturellen Bedeutung des Films trägt die Europäische Union seit vielen Jahren durch ihr Förderprogramm MEDIA Rechnung, das es in vielen Fällen überhaupt erst ermög­licht hat, Filmprojekte zu verwirk­ lichen, die dann s­ päter vielfach prämiert und vom Publikum goutiert wurden. Seit 2007 ergänzt das Europäische Parlament ­dieses klas­sische Instrument der Kulturförderung durch die innovative und dynamische Initiative des LUXFilmpreises, die ihr Potenzial trotz einer bereits bemerkenswerten Entwicklung noch bei weitem nicht ausgeschöpft hat. Der LUX -Preis wird nicht aus dem regulären Kulturetat der EU finanziert, sondern über jene Mittel, die dem Europäischen Parlament für Öffent­lichkeitsarbeit zur Verfügung stehen. Basierend auf der Einsicht, dass all die Plakate, Flyer und Broschüren nur sehr begrenzt geeignet sind, Interesse für europäische und europapolitische Fragen zu wecken und Informa­tionen zu vermitteln, wurde der LUX-Preis nicht nur als kultur-, sondern auch als kommunika­tionspolitisches Instrument entwickelt. Dieser Ansatz wird konsequent verfolgt: Im Rahmen der LUX -Filmtage werden die von einer Jury aus Expertinnen und Experten der Filmindustrie ausgewählten drei Wettbewerbsfilme einem breiten Publikum quer durch Europa präsentiert. Die Werke werden dazu in sämt­liche der 24 EU -Amtssprachen übersetzt und zur gleichen Zeit in allen Mitgliedstaaten vorgeführt. Tausende Zuschauer, darunter zahlreiche Schulklassen, erhalten so Gelegenheit, F ­ acetten einer ebenso vielfältigen wie lebendigen Kinolandschaft kennenzulernen, die ansonsten vor allem aufgrund von Sprachbarrieren unter dem Problem des mangelnden grenzüberschreitenden Vertriebs zu leiden hat. Die Filme regen an zu nicht immer einfachen Debatten über gesellschaftspolitische Fragen der Gegenwart; darüber, wie die Europäer mit Diskriminierung und Marginalisierung von Minderheiten, mit religiös motivierter Gewalt, Sterbehilfe oder mit Asylsuchenden umgehen, wobei Filme nicht als besonders „schwere Kost“ gelten müssen, um in die engere Auswahl zu kommen. Zusätz­lich erhält jeder Zuschauer die Gelegenheit, für seinen persön­lichen Favoriten zu stimmen; der Publikumspreis wird also von einer riesigen Jury aus EU-Bürgern bestimmt. Den ästhetischen und thematischen Reichtum des Europäischen Films, gepaart mit der Wirkmächtigkeit und der inspirierenden Wirkung des Mediums insgesamt, über den LUX-Filmpreis für kulturpolitische Zwecke zu n­ utzen, bietet einmalige Chancen, zumal Film und Kino nicht für polemische Einklassifizierungen in Hoch- und Massenkultur taugen und ganz nebenbei auch die Medien­ kompetenz junger Europäer gefördert wird. Auch eine zweite kulturpolitische Initiative hat bewiesen, dass sie geeignet ist, die Europäer zusammenzubringen, den Kunstschaffenden eine Stimme und ein Forum zu geben, zum Austausch und gegenseitigen Kennenlernen anzuregen, Konflikte und Unterschiede zu illustrieren, aber auch Wege zu ihrer produktiven Überwindung aufzuzeigen: Die Idee der „Kulturhauptstadt Europas“, die

Alte und neue Instrumente Europäischer Kulturpolitik

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zwischenzeit­lich auch in mehreren anderen Erdteilen aufgegriffen und adaptiert wurde, geht zurück auf die ehemalige Schauspielerin und griechische Kulturministerin Melina Mercouri. Entstanden vor nunmehr drei Jahrzehnten auf Basis der klas­sischen Identitätsvorstellung eines „Europas der Na­tionen“, hat sich die Initiative der Kulturhauptstädte zu einem tourismusträchtigen Publikumsmagneten weiterentwickelt: Sie bringt heute mehr Menschen zusammen – übrigens weit über die EU hinaus – als jede andere kulturelle Veranstaltung mit europäischem Bezug und leistet so einen großen Beitrag zu einer Kulturpolitik, die dem oben skizzierten Anspruch folgend die Integra­tion der Kultur- und Kreativbranche in den europäischen Diskurs sicherstellen und dabei mög­lichst viele persön­liche Begegnungen ermög­lichen soll. Und zusätz­lich stellen die Kulturhauptstädte immer wieder eindrucksvoll zur Schau, dass Investi­tionen in kulturelle Güter und Infrastruktur auch ökonomisch lohnenswert sein können. Die in jüngerer Zeit des Öfteren praktizierte (und weiter zu intensivierende) programmatische Verzahnung z­ wischen den jeweiligen Kulturhauptstädten, ihren Vorläufern und Nachbarregionen nimmt Abstand von einer rein auf die jeweilige Metropole isolierten Zurschaustellung städtischer Kulturgeschichte und -landschaft. Sie vermag es neue, oftmals gegenläufige und kontroverse Perspektiven auf jene zeitgenös­sischen Debatten und Herausforderungen aufzuzeigen, die die Europäer beschäftigen. Der LUX-Filmpreis und die Europäischen Kulturhauptstädte – zwei völlig unterschied­liche Ansätze, die aber auf ihre ganz eigene Art zeigen, dass viele Unterschiede und Widersprüche in Europa nicht nivelliert und verschwiegen werden müssen, sondern enormes schöpferisches (Erkenntnis-)Potenzial beinhalten. Das Gänsefüßchen-­Brüssel mit seinen EU-Organen und politischen Akteuren ist zweifellos das politische Zentrum der Europäischen Union und das dortige Geschehen verdient unser aller Aufmerksamkeit – mehr noch als bislang. Die Europäischen Institu­tionen sind besser als ihr Ruf und EU-Politik ist spannender als vielen Europäern bewusst ist. Um sie davon zu überzeugen und zugleich anzuregen, sich einzumischen und zu posi­tionieren, bedarf es aber mehr als einiger Imagefilmchen und volkspädago­gischer, moraltriefender Appelle. Eine EU-Kulturpolitik, die auch unkonven­tionelle, unbequeme und provokante Werke einer breiten Öffent­lichkeit zur Diskussion anbietet, ist das beste Gegenmittel gegen Vertrauenskrisen, politische Apathie und Entfremdung. Es gibt zu viele Kunst- und Kulturschaffende, von denen wir nicht wissen, dass sie uns mit ihren Werken den Spiegel vorhalten können, dass sie mit ihren ganz eigenen Mitteln wertvolle Impulse liefern und auf diese Art helfen können, einander besser zu verstehen, zu streiten und unser gemeinsames Leben in Europa zu gestalten. Es liegt in unserem ureigensten Interesse, sie besser kennenzulernen.

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Doris Pack

*1 Der Beitrag wurde verfasst unter Mitarbeit von Matthias Balzert, M. A., Politik- und

Medienwissenschaftler, von 2010 bis 2014 Parlamentarischer Mitarbeiter im Europäischen Parlament. 1 Vgl. Gudrun Quenzel: Konstruk­tionen von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld 2005.

Erfahrungen eines Präsidenten der Europäischen Kommission Romano Prodi

Zehn Jahre sind seit dem Ende meiner Erfahrung als Präsident der Europäischen Kommission vergangen: ein Zeitraum, der lang genug ist, um nüchtern und sach­lich auf die fünf Jahre meines Mandats zurückzublicken, das vielleicht zu kurz war, um es objektiv in den langen geschicht­lichen Hintergrund des Aufbaus der Europäischen Union einzureihen – vor allem wenn man die Probleme und Schwierigkeiten bedenkt, die anschließend innerhalb und außerhalb der Union aufgetreten sind. Ich möchte trotzdem diese ­kurzen Betrachtungen beginnen, indem ich vor allem die grundlegenden Anregungen in Erinnerung rufe, die mich bei der Zusammensetzung der EU -Kommission angeleitet haben; also die Bildung eines Teams von EU-Kommissaren mit starken persön­lichen Fähigkeiten und politischer Erfahrung, die nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern auch eine gute äußere Sichtbarkeit ihrer Arbeit sicherstellen sollten. Ich war der starken Überzeugung, dass ein EU-Kommissar zwar vorrangig ein Mannschaftsspieler sein muss, aber auch ein starkes und sichtbares Verhältnis zu seinem Ursprungsland haben sollte, um so seine Verbindung mit der Europäischen Union noch weiter zu verstärken. Ein EU-Kommissar muss also einerseits im Leben der EU-Kommission als Teamplayer agieren und gleichzeitig in seinem Herkunftsland, das er auf eine bestimmte Weise auch repräsentiert, präsent sein. Die Tatsache, dass ich damals das Team an erste Stelle rückte, konnte natür­ lich als Schwäche des Präsidenten interpretiert werden, und ich streite nicht ab, dass dies in der ersten Phase der Laufzeit der EU -Kommission der Fall war. Trotzdem war ich nicht einmal für einen Moment versucht, meine Strategie zu ändern, eben weil ich schon vom damaligen Zeitpunkt aus sehen konnte, wie stark die Zentrifugalkräfte anwuchsen und wie der Grad an Populismus zusammen mit einigen Elementen der Entfremdung in Bezug auf Brüssel anstieg. Die Medien ganz Europas, allen voran die angelsäch­sischen, sprachen nicht nur von einer fernen Bürokratie (was bezüg­lich vieler Gesichtspunkte sogar auch wahr sein konnte), sondern beschrieben täg­lich eine EU-Kommission, die auf zentralistische Art und Weise ohne jeg­liche Kontrolle eine enorme Menge an Ressourcen verwaltete. Täg­lich stellte ich den Unterschied ­zwischen Wahrnehmung und Realität fest, als ich während tausender Treffen in den unterschied­ lichen europäischen Ländern vielen Leuten begegnet bin, die die europäische Wirk­lichkeit kennenlernen wollten. Im Dialog im Anschluss an diese Treffen

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Romano Prodi

fragte ich meine Gesprächspartner immer, wie hoch der Anteil des europä­ ischen BIP am europäischen Haushaltsplan sei. Mit Ausnahme weniger Fachexperten schätzten die Gesprächspartner Zahlen von über zehn Prozent, was mindestens das Zehnfache des realen Betrags ausmachte, da der EU-Haushalt die Ein-­Prozent-­Marke nie erreichte. Gegenüber dieser verzerrten Wahrnehmung fand ich es also nötig, durch die Kraft und Sichtbarkeit der EU-Kommissare aus den unterschied­lichen Ländern, wieder ein Gefühl der Nähe ­zwischen Brüssel und allen EU-Ländern herzustellen. Um glaubhaft zu sein, musste dieser Prozess selbstverständ­lich von einer gründ­lichen Überarbeitung der Verfahren und der Transparenz der Arbeit der EU -Kommission selbst begleitet werden. Die sofort umgesetzte Reform hat die Verfahren bezüg­lich der Ausgaben und die Arbeitsweisen der europäischen Institu­tionen tiefgehend erneuert und modernisiert. Auch wenn diese den wachsenden Populismus nicht aufhalten konnte, so hat sie doch die Verfahrensweisen transparenter gemacht und diese, im Gegensatz zum Großteil der Bürokratie der meisten Mitgliedstaaten, den Leuten viel näher gebracht und verständ­licher gemacht. Der Teamgeist der Kommission war nicht nur nötig, um den komplizierten Prozess der internen Reformen umzusetzen, sondern um insbesondere auch die drei Entwürfe von geschicht­licher Tragweite zu gestalten, die zum kennzeichnenden Moment des Jahrfünfts meiner EU-Kommission werden sollten. Es handelte sich hierbei um die EU-Osterweiterung auf einige Länder der ehemaligen Sowjetunion, um die konkrete Umsetzung des Euro und um die Teilnahme an den gemeinsamen Anstrengungen zusammen mit dem Europäischen Rat und Parlament, eine neue Verfassung ins Leben zu rufen. Die Teamarbeit der EU-Kommission hat sich auf diese Ziele und bei gleichzeitigem Bewusstsein der geschicht­lichen Tragweite der Ziele selbst konzentriert. Dieses Bewusstsein hat gleichzeitig die Verbindung unter den EU-Kommissaren gestärkt und half dabei, die Unterschiede aufgrund der verschiedenen Ursprungsländer und politischen Richtungen zu überwinden. Mit dem Ziel, diese großen gemeinsamen Projekte umzusetzen, wurde die politische Stärke der einzelnen EU-Kommissare in eine Rolle der wachsenden Effizienz von Seiten der gesamten EU-Kommission umgesetzt. Es handelte sich hierbei jedoch nicht um einen einfachen und automatischen Prozess. Wir erinnern uns alle an die Anstrengungen der häufigen und langen Versammlungen der EU-Kommission, die sich anscheinend ständig gerade in Verhandlungen befand; auch weil allen Versammlungen Vorgespräche mit den internen Funk­tionären und den verschiedenen Vertretern der Länder vorangingen. Diese komplizierten Prozesse werde ich an dieser Stelle nicht im Detail beschreiben: ich möchte nur als Beispiel an die Intensität der politischen Leidenschaft und das Ausmaß des fach­lichen Engagements des EU-Erweiterungsprozesses von fünfzehn auf fünfundzwanzig Mitgliedsstaaten erinnern.

Erfahrungen eines Präsidenten der Europäischen Kommission

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Es handelte sich um eine enorme Aufgabe, indem die EU-Gesetzgebung in 31 unterschied­liche Kapitel unterteilt und die Anpassung aller zehn Kandidatenländer an diese Rechtsnormen und Regierungspraktiken diskutiert wurde. In ­diesem Prozess mussten sich Strenge und Flexibilität die Waage halten, um eine Einheit­lichkeit der Regeln der gesamten EU garantieren zu können, während gleichzeitig sichergestellt werden musste, dass der Weg für alle realistisch und erreichbar war. Ein Prozess, in dem die EU-Kommission die Pflicht hatte, Strenge und Entschlossenheit unter Beweis zu stellen, jedoch gleichzeitig in der Lage sein musste, mit allen Kandidatenländern ohne Vorrang oder Präferenzen zu verhandeln und dabei die Schwierigkeiten und Probleme der einzelnen Parlamente und verschiedenen Regierungen miteinzubeziehen. Dieses schwierige Netzwerk konnte nur vervollständigt werden, da alle Komponenten der EU-Kommission das Ziel der Erfüllung eines großen historischen Prozesses grundsätz­lich teilten, der mit dem Fall der Berliner Mauer begonnen hatte. Der bedeutendste Tag meiner Präsidentschaft der EU-Kommission kann somit nur der 1. Mai 2004 sein, als man in Dublin den Zutritt von zehn neuen Mitgliedsstaaten zur EU feierte. Für mich war dies ein besonders emo­tionaler Moment, da ich ihn sowohl damals wie auch noch heute als das bedeutendste Beispiel des Exports der Demokratie erachtete, das es jemals gegeben hat. Eben weil die Erweiterung mit dem Bewusstsein umgesetzt wurde, dass nur ein tiefgründiger und mitgetragener Dialog den Wirkungskreis der Demokratie erweitern kann. Obwohl die Gemeinschaftswährung nicht von allen EU -Ländern übergenommen wurde, war die Einführung des Euro ein Augenblick von historischer Wichtigkeit. Sie wurde im Bewusstsein verfolgt, dass man hiermit das Konzept des „modernen Staats“ selbst änderte, der nach dem Westfä­lischen Frieden stets seine Grundlagen in einer eigenen Armee und Währung sah. Fünfzig Jahre nach dem Scheitern eines Aufbaus eines europäischen Heeres hat man den Weg symbo­lisch mit der Währungsunion wieder aufgenommen. Als wir, zusammen mit dem österreichischen Bundeskanzler, um Mitternacht der Silvesternacht 2001/2002 in Wien den ersten symbo­lischen Kauf mit der neuen Währung tätigten, konnten wir nicht ahnen, dass die lange Wirtschaftskrise den Euro auf eine harte Probe stellen sollte, bevor man die institu­tionellen Änderungen umsetzen konnte, deren schnelle Verwirk­lichung wir für äußerst wichtig erachteten. Trotzdem lassen diese aufgetretenen Schwierigkeiten nicht an der Größe der Entscheidung und dem positiven Beitrag zweifeln, den die Währung der zukünftigen Rolle Europas in der globalisierten Welt verleihen kann. Obwohl die neue Verfassung ein Projekt ist, das mit viel Mühe, großen Schwierigkeiten und einer vorbild­lichen Kompromissfähigkeit bezüg­lich der jeweilig unterschied­lichen Ausgangsposi­tionen angegangen wurde, wurde sie von den franzö­sischen und niederländischen Referenden gestoppt. Ich erinnere mich daran, dass, als am 29. Oktober 2004 in Rom der „Vertrag über eine

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Romano Prodi

Verfassung für Europa“ feier­lich unterzeichnet wurde, unsere Freude darüber sicht­lich durch das Bewusstsein der Schwierigkeiten bei den nötigen Ratifizierungen gedämpft war; auch weil die Arbeit, die zur Ausarbeitung und letztend­ lichen Übernahme ­dieses Textes geführt hat, weder leicht noch geradlinig verlaufen ist. Wir teilten dennoch die vorherrschende Meinung, dass der historische Prozess der Europäischen Union nicht zum Stillstand kommen würde und dass die Völker dasselbe Bewusstsein der Notwendigkeit teilten, die Gültigkeit des Kompromisses zu bestätigen, den die EU-Kommissionsmitglieder in den langen Vorarbeiten erreicht hatten. Wir irrten uns vielleicht, weil wir uns aufgrund der vorher erreichten Ergebnisse falsche Hoffnungen gemacht hatten, auch wenn die nachfolgende Geschichte gezeigt hat, wie nachteilig das Ausbremsen des Einigungsprozesses genau zu dem Zeitpunkt gewesen war, in dem dieser aufgrund des beschleunigten Globalisierungsprozesses noch dringender geworden war. Was ich hier geschrieben habe, ist selbstverständ­lich nur eine Zusammenfassung meiner Erfahrung als Präsident der Europäischen Kommission, da auch noch andere Ergebnisse erwähnt werden müssten: von der Reform der Agrarpolitik bis zur Reform der Handelspolitik, von den neuen Regeln des Wettbewerbsrechts bis hin zur Vertiefung der Regional- und Sozialpolitik. Doch dies ist weder die Gelegenheit noch der Ort für eine analytische Darlegung dessen, was in fünf Jahren der Präsidentschaft erreicht wurde. Der Rahmen dieser Festschrift ermög­licht es mir nicht auszudrücken, wie umfangreich die zusammen mit dem Parlament verwirk­lichte Arbeit war; eine Arbeit, zu der Hans-­Gert einen außerordent­lichen Beitrag geleistet hat. Denn obwohl er tief in seinem Herkunftsland und seiner politischen Richtung verwurzelt war, hat er sich stets an das Bewusstsein gehalten, dass die Ziele der EU immer über den länderspezifischen und partei­lichen Zielen stehen müssen. Am Ende meiner Betrachtungen möchte ich unterstreichen, wie das „Mannschaftsspiel“ der EU-Kommission uns alle verändert hat. Nach fünf Jahren gemeinsamer Arbeit sind auch die Ziele, Strategien und Arbeitsmethoden aller EU-Kommissare eins geworden. Eine Arbeitsmethode, die so selbstverständ­lich geteilt wurde, dass sie nicht geändert werden musste, nur weil die Europäische Union von fünfzehn auf fünfundzwanzig Länder erweitert wurde. Nach fünf Jahren gemeinsamer Arbeit hat sich die Stärke der einzelnen EU-Kommissare tatsäch­lich in die Stärke der EU-Kommission umgewandelt.

Europa braucht eine industrielle Zukunft Herbert Reul

Die Europäische Union kann auf eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte zurückblicken, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann. Die EU hat ihren Erfolg vor allem klugen Köpfen zu verdanken, die in den entscheidenden Momenten die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Entscheidungen, die nicht nur mit dem Wohl des eigenen Staates verknüpft sind, sondern vor allem europäisch und auch global geprägt sind. Wir können stolz sein, einen solchen großen Europäer wie Hans-­Gert Pöttering in unseren Reihen zu haben, dessen Lebensweg eng mit der Geschichte der EU verknüpft ist, und der die Geschicke der EU und des Europäischen Parlaments lange Zeit entscheidend mit gelenkt hat. Wir Europäer müssen aber vor allem in diesen schwierigen Zeiten weiter für den Erhalt und ein erfolgreiches Bestehen der EU in der Welt kämpfen. Europas Zukunft hängt entscheidend von der Stärke seiner Industrie ab. Sie ist das Rückgrat europäischen Wirtschaftswachstums und Kern unserer Wettbewerbsfähigkeit. Die Politik muss allerdings für die richtigen Rahmenbedingungen sorgen. Es werden von Politikern zu viele Luftschlösser gebaut und zu wenig konkret umgesetzt, wenn es darauf ankommt. Industrie ist die zentrale Drehscheibe für die Organisa­tion von Wertschöpfungsketten in Europa. Vor allem für das Industrieland Deutschland eine wichtige Quelle des gesellschaft­lichen Wohlstands. Sie ist ein unerläss­licher Absatzmarkt für andere Wirtschaftszweige. So erzeugt erhöhte Nachfrage nach industrieller Produk­tion zusätz­liche Wertschöpfung in der europäischen Gesamtwirtschaft. Drei Viertel aller Warenexporte der EU sind Industriegüter und machen mehr als die Hälfte aller Gesamtausfuhren aus. Das produzierende Gewerbe prägt also entscheidend Europas Bild in der Welt. Die Industrie trägt zudem wesent­lich zum Erreichen der europaweit verabredeten Marke, 3 Prozent der jähr­lichen Wirtschaftsleistung in Forschung und Entwicklung zu investieren, bei. Zwei Drittel der Investi­tionen in d­ iesem Bereich werden EU-weit von der Industrie geleistet. Der Rest wird von staat­ licher Seite beigetragen. Der industrielle Sektor ist für 52 Millionen Arbeitsplätze in Europa verantwort­ lich – 32 Millionen hängen direkt von der Industrie ab, 20 Millionen indirekt. Allein 3.5 Millionen Arbeitsplätze entstehen EU-weit durch die Nachfrage der deutschen Industrie nach Vorleistungen. Im eng verflochtenen europäischen Arbeitsmarkt ist also der Erhalt, Erfolg und Ausbau des produzierenden Gewerbes unerläss­lich für das Wohlergehen aller europäischen Bürger.

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Herbert Reul

Die europäische Industrie hat in den letzten Jahren allerdings an Zugkraft eingebüßt. Es gibt europaweit viele strukturelle Probleme, die angepackt werden müssen. Gleiches gilt für die deutsche Wirtschaft: die Fassade glänzt, aber das Fundament bröckelt. Viele Anzeichen deuten darauf hin. Zunächst ist zu beobachten, dass der Anteil der Industrie an der EU-weiten Wertschöpfung zurückgeht. Er ist von 18 Prozent in 2001 auf 15,1 Prozent in 2013 gesunken. Dabei gibt es große Unterschiede ­zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten. Deutschland liegt deut­lich über, Frankreich deut­lich unter dem europäischen Durchschnitt. Insgesamt gingen in den vergangenen Jahren ein paar Millionen Industriearbeitsplätze verloren. Zudem sorgt die Europäische Energie- und Klimapolitik dafür, dass Energiepreise in die Höhe getrieben werden. Das hat natür­lich nicht nur einen Einfluss auf die Stromrechnungen der Bürger, sondern auch auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Aktuelle Produk­tionskosten, vor allem die der energieintensiven Unternehmen steigen und das politische und wirtschaft­ liche Umfeld ist für neue Investi­tionen zu unsicher. Dies führt beispielsweise dazu, dass große Unternehmen wie BASF und Siemens derzeit lieber in den USA investieren und Europa den Rücken kehren. Abzuwarten bleibt, wie sich in dieser Hinsicht die aktuelle Entwicklung des Ölpreises für Europa auswirkt. Im weltweiten Vergleich müssen alle etablierten Industriestaaten aufpassen, dass sie in Zeiten globaler Kräfteverschiebung, den Anschluss nicht verlieren. Der Anteil europäischer Industrieländer an allen Exporten des verarbeitenden Gewerbes ist von 50 Prozent in 1995 auf 40 Prozent in 2011 gesunken. Auch der Anteil Europas an der weltweiten industriellen Wertschöpfung sinkt stetig. Dabei ist die Standortqualität Europas im interna­tionalen Vergleich noch immer sehr hoch – der Schwachpunkt sind die hohen Kosten. Zu den 25 weltweit umsatzstärksten Unternehmen zählen nur noch neun europäische. All diese Anzeichen sollten uns Politiker dazu anhalten, end­lich mehr von dem umzusetzen, was wir so oft predigen. In den vergangenen Jahren sind die Beteuerungen vieler Politiker, die europäische Industrie stärker zu fördern und zu s­ chützen, mehr Schein als Sein. Viele Initiativen sind regelrecht industriefeind­lich. Dabei ist aber vor allem die Summe der Einzelmaßnahmen problematisch. Im Bereich der Energie- und Klimapolitik und auch im Bereich der Verkehrspolitik wird die Priorität oft bedingungslos auf Umwelt- und Klimaschutz gelegt, ohne dabei die Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie, sowie die Kosten für Staat und Bürger zu berücksichtigen. In anderen Bereichen initiiert die Europäische Kommission sektor- oder technologiespezifische Begünstigungen. Das wiederum geht immer auf Kosten der vernachlässigten, weniger geförderten Sektoren. Im Bereich der Energiepolitik sollte die Politik alle mög­lichen Formen der Energiegewinnung vorantreiben. Der globale Energiebedarf steigt stetig an, und wir können es uns nicht leisten auf bestimmte Formen der Energiegewinnung von heute auf morgen zu verzichten.

Europa braucht eine industrielle Zukunft

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Die EU hat sich auf die Fahnen geschrieben, Forschung und Exzellenz bis zum Jahr 2020 besonders zu fördern. Sinnvollerweise, denn nur mit massiven Investi­tionen in die Forschung kann es in Europa zukunftsweisende Innova­tionen geben, die die europäische Wettbewerbsfähigkeit erhalten. Es gibt aber immer wieder Bestrebungen, die im 8. Forschungsrahmenprogramm Horizont 2020 veranschlagten Gelder für andere Zwecke zu n­ utzen. So schlug Kommissionspräsident Juncker vor, milliardenschwere, forschungsbezogene Mittel für das vorgeschlagene Investi­tionspaket im Bereich von Infrastrukturmaßnahmen zu ­nutzen. Diese sind zwar auch dringend notwendig, aber darunter sollten andere Bereiche nicht leiden. Problematisch ist auch, dass eine Umwidmung bereits veranschlagter und verplanter Mittel stets bedeutet, dass die Mittel verzögert eingesetzt werden. Es muss also eine generelle Kehrtwende in der europäischen Politik geben. Ohne wettbewerbsfähige, innovative Industrie wird Europa im globalen Kräftemessen abgehängt und von aufholenden Industriena­tionen überholt. Die Industrie ist dabei der beste Rettungsschirm für Europa – er muss aber auch aufgespannt werden. Alle zukünftigen regulatorischen Maßnahmen sollten einem Wettbewerbscheck zur Industrieförderung unterzogen werden. Die Stärkung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit muss Querschnittaufgabe für alle Politikbereiche sein und nicht nur mit Einzelinitiativen gefördert werden. Zudem brauchen das produzierende Gewerbe und die europäische Wirtschaft insgesamt stabile und einheit­liche politische Rahmenbedingungen. Permanente Politikwechsel lassen keine langfristige Planung in Unternehmen zu, was wiederum zu großer Unsicherheit führt und letzt­lich ein Investi­tions- und Innova­ tions-­Hemmer darstellt. Am vereinbarten 20-Prozent-­Ziel für die Industrie bis 2020 muss festgehalten werden und das Ziel sollte darüber hinaus weitergeführt werden. Wenn es uns nicht gelingt in Europa attraktive Rahmenbedingungen zu schaffen, wird Europa vom Industrieriesen zum Zwerg schrumpfen und damit unser Anteil an globalen Exporten, so wie auch unser Wohlstand, deut­lich sinken. Auch brauchen wir in Europa eine Energie- und Klimapolitik, w ­ elche die Industrie nicht überfordert. Ein großer Teil davon hängt an einem stabilen Strompreis. Es ist ein riesiges Problem für die Unternehmen, ständig mit einem schwankenden Strompreis kalkulieren zu müssen. Wenn unser Strompreis langfristig zu hoch bleibt, werden Unternehmen in aufstrebenden Ländern wie China, Indien oder Brasilien produzieren lassen und Europa somit hunderttausende Arbeitsplätze verlieren. Investi­tionen in die europäische Verkehrs- und Energieinfrastruktur sind unerläss­lich und essentiell für den Erhalt und Ausbau der Standortattraktivität Europas. Weitere Teile der Standortattraktivität sind der Abbau von Bürokratie und Erleichterung von Unternehmensgründung, auch durch die Ausbildung von fehlenden Fachkräften und den unerläss­lichen Netzwerken, die dafür benötigt werden.

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Vor allem aber muss Europa mehr in Digitalisierung und digitale Vernetzung investieren. Der Kontinent darf bei der vierten Industrialisierungswelle nicht abgehängt werden. Die Erfolgschancen dafür stehen gut – vorausgesetzt es werden jetzt die richtigen Weichen gestellt. Breitbandausbau muss schnell vorangetrieben werden, auch in den entlegenen Winkeln der Mitgliedsstaaten, und Digitalisierung muss durchgesetzt werden bei der Mobilität, in den europäischen Fabriken, sowie in den Haushalten der Bürger. Um Innova­tionen und technischen Fortschritt in ­diesem Bereich voranzutreiben bedarf es eines digitalen Binnenmarktes und einheit­licher Regelungen im Bereich von Datenschutz, Cybersicherheit, Urheberrecht und E-Commerce. Europa braucht eine starke industrielle Basis und die europäische Politik sollte alles daran setzen, erzielte Erfolge zu halten und mit mehr Mut und Wertschätzung diese Basis auszubauen.

Blick zurück Blick nach vorn Herman Van Rompuy

I. Einführung Wir befinden uns in einer Zeit der politischen Erneuerung der Europäischen Union. Seit den Europawahlen hat ein neuer Fünfjahreszyklus begonnen: Die neue Europäische Kommission hat ihre Arbeit aufgenommen; der Europäische Rat hat einen neuen Präsidenten, Donald Tusk – meinen Nachfolger –erhalten. So ist dies ein guter Zeitpunkt für einen „Blick zurück, Blick nach vorn“, wobei ich gerne aus der Erfahrung meiner fünf Amtsjahre schöpfe. In ­diesem Beitrag zu Ehren unseres Freundes Hans-­Gert Pöttering möchte ich drei Reflexionsstränge darlegen. Erstens zur Wirtschaftskrise und zur gegenwärtigen Wirtschaftslage; zweitens einige praktische und institu­tionsbezogene Erläuterungen zum Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, einschließ­lich der Rolle des Organs im Bereich der auswärtigen Politik; drittens und schlussend­lich: eine breiter angelegte Reflexion darüber, wie die Menschen Europa heute erleben und wie die Union mehr Fürsorge und Schutz bieten kann. II . Wirtschaft­liche Herausforderungen

Die Wirtschafts- und Finanzkrise – sie ist unumgäng­licher Ausgangspunkt sowohl für den Blick zurück, als auch für den Blick nach vorn. Die nächsten fünf Jahre werden zwangsläufig beeinflusst durch die Zeit, die wir gerade hinter uns lassen. Europa hat sich gewandelt. Es ist eine schwierige, bisweilen schmerz­liche Zeit gewesen. Die Solidarität ­zwischen unseren Ländern ist auf die Probe gestellt worden. Aber wir haben all dies überwunden. Die wichtigste Lehre aus der Krise im Euro-­Raum ist, dass wir unsere gegenseitige Abhängigkeit voll und ganz erkannt haben. Was in einem unserer Länder geschieht, kann sich auf alle auswirken. Das Schicksal eines Landes mit 10 Millionen Einwohnern (wie Griechenland) wirkt sich auf das gesamte Währungsgebiet mit seinen 350 Millionen Menschen, ja sogar auf die globale Wirtschaft aus. Den Regierungen ist all dies bewusst geworden, allerdings haben sie dafür eine gewisse Zeit gebraucht. Und die öffent­liche Meinung hat dies auch erkannt – jedoch hat sie dafür, was ganz natür­lich ist, noch mehr Zeit gebraucht. Wir haben die existentielle Bedrohung des Euro-­Raums überwunden; wir haben die Schlacht gewonnen – auch gegen all die Unglückspropheten und Spekulanten!

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Die andere wichtige Lehre aus der Krise ist gewesen, dass wir – um mit dieser gegenseitigen Abhängigkeit umzugehen – „mehr Europa“ brauchten und noch immer brauchen (dies ganz gewiss im Euro-­Raum). Wir müssen die Wirtschaftsund Währungsunion stärken. Vieles, was in den letzten Jahren getan wurde, hat d­ iesem Ziel gedient, und im Ergebnis verfügen wir heute ganz klar über eine solidere WWU-Architektur als vor fünf Jahren: mit besserer haushaltspolitischer und makroökonomischer Aufsicht, mit Rettungsfonds und auch mit der durch die Europäische Zentralbank gewährleisteten Aufsicht über alle Banken im Euro-­Raum. Dies ist der Beginn der Bankenunion – wahrschein­lich der größte Schritt in der europäischen Integra­tion seit Einführung des Euro selbst. Aber es wird noch mehr getan werden müssen, und zwar insbesondere bei der wirtschaftspolitischen Koordinierung. Man kann keine gemeinsame Währung haben und gleichzeitig 19 voneinander getrennte Wirtschaftspolitiken. Ein Mindestmaß an Konvergenz ist unerläss­lich. Hier ist einer der Punkte, in dem ich persön­liches Bedauern empfinde. Bei der wirtschaftspolitischen Koordinierung wäre ich lieber noch weiter gegangen, als wir in meiner Amtszeit zu beschließen vermochten. Der Vorschlag, den ich hierzu vorgelegt habe, fand nicht genügend Unterstützung. Aber: Eine Lösung kann man übergehen, ein Problem kann man nicht übergehen. Natür­lich geht es heute bei der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte um anderes. Es geht um Wachstum, um Reformen, um die Frage, wie wir die richtige Balance – innerhalb der Länder und z­ wischen ihnen – finden können. Die Wirtschaftskrise zieht sich länger hin, als wir erwartet oder gehofft hatten, nach der Rückkehr der Finanzstabilität im Euro-­Raum im Herbst 2012. Woran liegt das? Das Wachstum ist vor allem deshalb schwach, weil unser Potenzial für strukturelles Wachstum schwach ist; heute liegt es bei etwa 0,5 Prozent. Ursache hierfür sind die hohe Arbeitslosigkeit und das zu niedrige Investi­tionsniveau. Im Grunde ist Wachstum die Summe aus der Zunahme an Arbeitsstunden und an Produktivität. Beide Faktoren geraten durch fehlende Arbeitsplätze und fehlende Investi­tionen unter Druck. Auf diese Weise stößt eine „konjunkturelle“ Rückkehr des Wachstums sehr bald an strukturell bedingte Grenzen. Abgesehen davon hat es negative äußere Faktoren gegeben. Die geopolitische Unsicherheit hat sich auf das Vertrauen in Europa ausgewirkt, und die Leistungsfähigkeit der BRIC-Länder – schwächer als prognostiziert im Falle Chinas und ganz einfach schwach im Falle Russlands und Brasiliens – hat unsere Ausfuhren und somit das exportabhängige Wachstum einiger unserer Länder belastet. Wir sollten die Ursachen des schwachen Wirtschaftswachstums nicht bei der Währungspolitik suchen, was sich anbieten würde. Auch sollten sie nicht bei der Haushaltspolitik gesucht werden, da die Nettoauswirkungen der Haushalte auf das Wachstum in d­ iesem Jahr neutral gewesen sind. In den letzten Jahren hat Europa haushaltspolitische Flexibilität gezeigt, indem es nicht so sehr auf

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die nominalen Defizitwerte, sondern auf das strukturelle Defizit Nachdruck gelegt hat. Ein Beleg dafür sind die zusätz­lichen Fristen, die im Jahr 2013 für bestimmte Länder vereinbart wurden, um ihnen die Mög­lichkeit zu geben, die im Vertrag von Maastricht vorgesehene Obergrenze von 3 Prozent einzuhalten. Nun müssen wir uns auf die Strukturreformen konzentrieren. Sie sind in allen Ländern notwendig (auch in Deutschland). Die Welt ist in ständigem Wandel begriffen: Niemand kann sich auf den gestrigen Anstrengungen oder den heutigen Lorbeeren ausruhen. Eine oberste Priorität ist die Verbesserung der Funk­tionsweise der Arbeitsmärkte. Es geht um die Bekämpfung der Dualität z­ wischen „Insidern“ und „Outsidern“, näm­lich ­zwischen denjenigen, die einen Arbeitsplatz mit einem festen Vertrag haben, und denjenigen, die einer prekären Beschäftigung nachgehen oder überhaupt keine Arbeit haben – sehr häufig Frauen, junge Menschen, Einwanderer. Diese Dualität ist in vielen Ländern ein Hauptgrund für den steilen Anstieg der Arbeitslosigkeit während der Krise. Weitere wesent­liche Strukturreformen betreffen den Binnenmarkt und auch die Energieunion, den digitalen Binnenmarkt sowie natür­lich den Forschungsund Innova­tionsraum. Die Staats- und Regierungschefs haben die Absicht der neuen Europäischen Kommission begrüßt, in den nächsten drei Jahren zusätz­liche Investi­tionen im Umfang von bis zu 300 Milliarden Euro anzustoßen. Die Verantwortung, die den Mitgliedstaaten bei den Reformen, aber auch bei den Investi­tionen zukommt, ist enorm. Und vergessen wir nicht: Investi­tionen fördern heißt, wirtschaft­lich gesehen, auf der Nachfrageseite und auf der Angebotsseite handeln! Die derzeitige Wirtschaftslage ist kompliziert, da wir nicht nur ein zu geringes Wachstum haben, sondern auch eine außergewöhn­lich niedrige Infla­tion – bei den Ländern des Euro-­Raums ausgeprägter als bei den übrigen Mitgliedstaaten. Dies belastet sowohl die öffent­liche als auch die private Verschuldung (die zu hoch sind) und infolgedessen auch die Investi­tionen. Deshalb müssen wir ohne Tabus, ohne Furcht, ohne Obsessionen und ideologiefrei Mittel und Ressourcen mit einer Mischung aus kurz- und langfristigen Zielen – unter Beachtung der Grundprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion – mobilisieren. Unser gesamtes sozioökonomisches System ist auf Wachstum und Beschäftigung aufgebaut. Dessen sind sich alle durchaus bewusst. Lassen Sie mich noch eine strate­gische Bemerkung anfügen. Wenn wir den Menschen in den kommenden Jahren keine greifbaren Ergebnisse hinsicht­ lich Wachstum und Beschäftigung präsentieren können, wenn wir nicht zeigen können, dass all diese Opfer und Anstrengungen Früchte tragen, dann wird der europäische Gedanke unter sehr starken Druck geraten. Das euronegative Votum bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 hindert die Organe der EU nicht daran, weiterhin zu funk­tionieren. Aber ohne Perspektive und Hoffnung auf ein besseres Leben können die nächsten

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europäischen Wahlen und die kommenden na­tionalen Wahlen ein Desaster werden. Als Fazit lässt sich sagen: Es steht viel auf dem Spiel. Wir müssen uns dessen in vollem Umfang bewusst sein. Die kommenden fünf Jahre sind genauso kritisch wie die vergangenen fünf Jahre. III . Der Europäische Rat unter den EU -Institu­tionen

Mit Hinsicht auf die Interessen Hans-­Gert Pötterings, möchte ich einige institu­ tionsbezogene Überlegungen über meine Erfahrungen im Amt und darüber, wie ich die mir übertragene Aufgabe ausgestaltet habe, darlegen. Für mich war das Amt genauso neu wie für jedermann. Ich wurde am 19. November 2009 gewählt. Ich werde das nie vergessen. Ich hatte eine Presse­ erklärung vorbereitet, in der ich meine Vorstellungen angedeutet habe. Immer noch wert, daraus zu zitieren. Es passiert nicht so häufig, dass man sich eine alte Erklärung erneut anschauen kann, ohne zu erröten. Damals sagte ich: „Ich bin der Meinung, dass jedes Land aus Verhandlungen als Sieger hervorgehen sollte. (…) Als Präsident des Europäischen Rates werde ich jedem gut zuhören und dafür sorgen, dass unsere Beratungen Ergebnisse für alle bringen.“ Ich sagte auch: „Es ist viel über das Profil des künftigen Präsidenten (…) debattiert worden, es gibt aber nur ein mög­liches Profil, und zwar eines des Dialogs, der Einheit und des Handelns.“ 1 Die Rechtsexperten werden wissen, dass im EU-Vertrag die Rolle und die Aufgaben des Europäischen Rates und seines Präsidenten in gerade einmal einigen wenigen Zeilen dargelegt werden. Dieses Organ hat keine Gesetzgebungsbefugnis und ist nicht an Entscheidungen im Rahmen der Exekutivverwaltung beteiligt. Es ist im Wesent­lichen ein politisches Organ, dessen Rolle darin besteht, die allgemeine Richtung festzulegen. Oder wie es in der Sprache des Vertrags heißt: „Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforder­lichen Impulse und legt ihre allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest.“ 2 Das Organ ist nicht dazu berufen, am Tagesgeschäft teilzunehmen – die anderen EU -Organe erledigen dies viel besser im Rahmen der wohlerprobten „Gemeinschaftsmethode“ –, aber es soll in Ak­tion treten, wenn besondere Fälle auftreten: Änderung des Vertrags, Ausrichtung des Haushalts und auch Umgang mit Krisen. Dem Vertrag (und dem, was nicht darin steht) kann man zudem entnehmen, dass der Präsident des Europäischen Rates eine relativ kurze Amtszeit hat (zweieinhalb Jahre, einmal verlängerbar), über keine Haushaltsverantwortung, keine eigene Verwaltung und kein Ernennungsrecht und nur einen sehr kleinen Mitarbeiterstab verfügt. Es ist schon recht paradox: Der Europäische Rat gilt allgemein als die höchste politische Autorität in der Union, aber die Stellenbeschreibung und die formalen

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Kompetenzen seines Präsidenten sind eher vage, man könnte sogar sagen: dürftig. Daher hängt eine Menge davon ab, was man damit macht oder daraus macht! Ich kann es auch anders formulieren: Alles, was formell nicht vorgesehen war, musste informell geschaffen werden. Und das beginnt mit etwas ganz Einfachem: Vertrauen aufbauen. Vertrauen aufbauen ist in meinen Augen vielleicht die wichtigste Aufgabe eines Präsidenten des Europäischen Rates. Unter den Staats- und Regierungschefs, den Institu­tionen, den Ländern Vertrauen aufbauen ist die Grundlage für politische Entscheidungsfindung. Dies gilt besonders, wenn die Entscheidungen schwierig sind und wenn sie im Konsens zu treffen sind, wie dies im Europäischen Rat in der Regel der Fall ist. Wie baut man Vertrauen auf? Indem man auf die Menschen zugeht, ihnen zuhört und ihre Ansichten berücksichtigt. So ist es mir während meiner gesamten Amtszeit ein Anliegen gewesen, alle Mitglieder des Europäischen Rates in ihrer eigenen Hauptstadt – grundsätz­lich einmal im Jahr – zu besuchen. Wenn man mit den Präsidenten und Premierministern in ihrem eigenen Arbeitsumfeld – von Helsinki bis Nikosia und von Dublin bis Sofia – spricht, erlangt man eine viel bessere Vorstellung davon, was sie wirk­lich bewegt. Und als regel­ mäßiger Besucher in den Regierungspalästen in anderen Hauptstädten muss ich doch feststellen, dass die meisten dieser Ört­lichkeiten – ich möchte nicht sagen prachtvoll oder luxuriös –, auf jeden Fall aber schöner sind als unsere eher im Sowjetstil gehaltenen Büros in Brüssel. Alle meine Bemühungen, Vertrauen aufzubauen, haben sich in Zeiten der Not und der Krise ausgezahlt. Leider mussten wir s­ olche Zeiten durchleben. Die Euro-­Krise und die Lage in der Ukraine treten in ­diesem Zusammenhang deut­lich hervor. Ein paar Worte möchte ich zur Rolle des Europäischen Rates während jeder dieser beiden Krisen sagen. Es stimmt, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise erkennbar von Europas Staats- und Regierungschefs höchstpersön­lich angegangen wurde – vor allem in den Jahren 2010 bis 2012. Es gab zwei offensicht­liche Gründe dafür. Erstens ging es um eine Menge Geld. Die Staatsschuldenkrise – wie zuvor die Bankenkrise – machte den Zugriff auf das Geld der Steuerzahler erforder­ lich. Der gemeinsame EU-Haushalt ist relativ klein (rund ein Prozent des BIP), weshalb die Organe der Union nicht in entscheidender Weise selbst in Ak­tion treten konnten. Die Mitgliedstaaten mussten sich darum kümmern. Und die Beträge waren so enorm, dass in den meisten Ländern die Entscheidung nur auf höchster politischer Ebene – in all den Palazzi Chigi und Quirinalspalästen der gesamten Union – getroffen werden konnte. Dass na­tionale Geldmittel benötigt wurden und somit die einzelnen Staats- und Regierungschefs und die na­tionalen Parlamente eingebunden werden mussten, war ganz einfach gelebte Wirk­lichkeit. Zweitens sind die Grenzen von Institu­tionen, die auf zugeteilten Kompetenzen beruhen, in Zeiten der Krise rasch erreicht. Die Union kann nur in den Bereichen

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handeln, für die ihr die Regierungen gemeinsam das Mandat erteilt haben. Aber wenn wir Neuland betreten und wenn neue Regeln erlassen werden müssen, ist der Europäische Rat gut geeignet, seinen Beitrag zu leisten. Aber auch wenn wir gezwungen waren, diesen „zwischenstaat­lichen“ Weg zu gehen, so sind doch stärkere zentrale Institu­tionen aus all unseren Arbeiten hervorgegangen. Der Kommission wurde die vermut­lich noch nie dagewesene Befugnis übertragen, die na­tionalen Haushaltspläne und Wirtschaftspolitiken zu überprüfen. Das Europäische Parlament hat an Einfluss gewonnen. Im Frühjahr 2015 hat die Europäische Zentralbank mit der Beaufsichtigung sämt­licher Banken des Euro-­Raums begonnen. Solche Kompetenzverschiebungen erfordern natür­lich die vorherige Zustimmung aller betroffenen Länder. Damit komme ich zur Rolle des Europäischen Rates im Bereich auswärtige Angelegenheiten. Während die ersten zwei bis drei Jahre durch die Wirtschaftskrise beherrscht wurden, hat sich im vergangenen Jahr unser politisches Augenmerk stärker auf die Welt um uns herum gerichtet. Und insbesondere auf die Ukraine, was naheliegt. Die Krise in der Ukraine war und ist die schwerste Bedrohung der europä­ ischen Sicherheitsordnung seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Invasion der Krim im März 2014 hat einen Wendepunkt dargestellt. Selbstverständ­lich hat es davor bereits folgenschwere Ereignisse in der Ukraine gegeben und es gibt sie immer noch – aber diese Invasion ist der Wendepunkt gewesen. Wenn man in Grenzen eingreift, greift man in den Frieden ein. Anfang März 2014 habe ich eine dring­liche, außerordent­liche Tagung zur Ukraine einberufen. (Dies war erst der zweite derartige Gipfel im Bereich auswärtige Angelegenheiten; der erste – zu Libyen – fand drei Jahre zuvor statt und war ebenfalls sehr wichtig.) Auf der Tagung zur Ukraine – nach der Invasion der Krim – hat der Europäische Rat die Reak­tion der Union dargelegt. Gegenüber der Ukraine: politischer Beistand – mit dem Assoziierungsabkommen – und Unterstützung der Reformen. Gegenüber Russland: Sank­tionen in drei Stufen, um Russland zur Änderung seines Verhaltens zu bewegen. Seither sind wir d­ iesem dualen Ansatz treu geblieben. Der Europäische Rat befasst sich nicht allzu häufig mit auswärtigen Angelegenheiten. In der Regel überlassen die meisten Präsidenten und Premierminister diese Fragen ihren Außenministern (genauso wie sie – in normalen Zeiten – die finanziellen Angelegenheiten lieber ihren Finanzministern überlassen!). Aber wenn es hochpolitisch wird, als es zu einer Angelegenheit der Stabilität auf dem Kontinent, der Energieabhängigkeit, der Sank­tionierung Russlands und damit wiederum der mög­lichen Beeinträchtigung unserer Volkswirtschaften geworden ist, da wollten alle Staats- und Regierungschefs persön­lich einbezogen werden, und dies ist ja auch die ganze Zeit geschehen. Und zweifelsohne wird unter meinem Nachfolger Donald Tusk diese Einbeziehung der Staats- und

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Regierungschefs im Rahmen der Krise in der Ukraine so lange wie nötig fortgesetzt werden. Nach meinen Erfahrungen hat es sich also erwiesen, dass der Europäische Rat, wenn der richtige Druck da ist, durchaus zu handeln vermag. Wenn wir es wirk­lich müssen, ist es mög­lich, 28 Staats- und Regierungschefs, 28 Länder in einen Gleichklang zu bringen. Das ist nicht leicht, aber es ist mög­lich. Ich frage mich heute, wie man diese Handlungsfähigkeit für Europa auch dann bewahren kann, wenn es keine unmittelbare Krise gibt oder kein äußerer Druck herrscht. Das wird viel schwerer sein. Auf jeden Fall wird dies von der Europäischen Kommission und ihrem Initiativ­sinn abhängen und auch – was immer man denken mag – von der Fähigkeit Frankreichs und Deutschlands (denen sich andere anschließen), zu gemeinsamen Lösungen zu gelangen. Natür­lich sind dies nur zwei Länder von 28 Ländern, aber sie repräsentieren zwei politische und wirtschaft­liche Denkweisen innerhalb der Union und ohne ihre Zustimmung zu einer gemeinsamen Richtung werden die Dinge sehr schwierig. Ihre Zustimmung reicht als Voraussetzung nicht aus, ist aber häufig eine notwendige Vorbedingung. Dies ist jedenfalls meine Erfahrung. Und gerne überlasse ich es meinem Nachfolger, zu beweisen, dass ich hier im Irrtum bin! Wenn die Rede von Deutschland und Frankreich – nicht zu vergessen von Italien und den anderen Ländern – ist, lassen Sie mich auch das Vereinigte Königreich erwähnen. In den nächsten fünf Jahren wird es uns vor eine der entscheidenden Herausforderungen stellen. Wir müssen alles daran setzen, die Union zusammenzuhalten. „Besser zusammen!“ Mein Eindruck ist, dass die anderen Mitgliedstaaten bereit sind, im gegebenen Fall zuzuhören, zu sprechen, zu verhandeln, sofern die Grundwerte und Grundprinzipien unserer Union geachtet werden. IV. Wie die Menschen die Europäische Politik erfahren

Bitte erlauben Sie mir, im dritten und letzten Teil meines Beitrags einige abschließende Überlegungen anzustellen. Schaut man sich die vergangenen Jahre und die enttäuschende Wirtschaftslage an, so steht eindeutig fest, dass „Europa“ während der Krise nicht populär geworden ist – ganz im Gegenteil. Deshalb sind die nächsten fünf Jahre so wichtig. Aber es gibt auch eine Krise der Politik im Allgemeinen – auf allen Ebenen. Nun nach der Finanzkrise herrscht sogar ein allgemeines Unbehagen, das zusammenhängt mit der Funk­tionsweise unserer Volkwirtschaften, mit der Verteilung des Wohlstands, der Steuerlast, mit der Vertiefung der Ungleichheiten. Ganz zu schweigen von der Angst vor Globalisierung, vor Migra­tion, vor Gewalt von Fanatikern. Natür­lich – kleine Nuance – sind populistische Parteien in einer Reihe von Ländern bereits Jahre vor Ausbruch der Finanzkrise und der Euro-­Krise

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aufgetaucht. Jeden Tag müssen wir dafür kämpfen, „Angst in Hoffnung zu verwandeln“. Sicher, es gibt auch eine spezielle europäische Dimension ­dieses Problems. In meinen Augen geht es dabei aber nicht nur um Institu­tionen und Wahlen. Ganz grundsätz­lich sollte sinnvollerweise betrachtet werden, wie die Menschen die Union wahrnehmen und sich zu ihr verhalten. Wie sie sie erleben. Und diesen Punkt würde ich gerne zum Abschluss näher ausführen. Beginnen muss ich mit einer traurigen Beobachtung. Offenbar machen heute die Menschen Europa dafür verantwort­lich, dass sie sich ohnmächtig und übergangen fühlen – wo unsere Union doch aufgebaut wurde, um sie stärker zu machen und damit sie ihre Geschicke wieder selbst in die Hand nehmen. Um diese Ernüchterung der Öffent­lichkeit besser begreifen zu können, besteht – wie ich im Mai 2014 in einer Rede in Aachen, als mir der Karlspreis verliehen wurde, dargelegt habe – eine Mög­lichkeit darin, sich einmal anzuschauen, wie unsere Union von den Menschen vor allem als Raum und kaum jemals als Ort wahrgenommen wird. Raum und Ort sind näm­lich nicht dasselbe. Ein Ort bedeutet Schutz, Stabilität und Zugehörigkeit. Er ist ein Heim, in dem sich Menschen zuhause fühlen. Ein Raum dagegen ermög­licht Bewegung und bietet Chancen. Es geht um Richtung, Geschwindigkeit und Zeit. Als Menschen brauchen wir beides. Einen Raum, in dem wir fliegen können, und ein Nest, das wir unser eigen nennen können. Wir sind sehr einfache Geschöpfe! Bei Europa stand immer der Raum im Mittelpunkt. Lassen Sie uns einmal darüber nachdenken. Von Anbeginn an war es kennzeichnend für Europa, dass Grenzen beseitigt wurden, für Waren, für Arbeitnehmer und für Investi­tionen, damit Menschen und Unternehmen sich frei bewegen, Initiativen ergreifen und Chancen wahrnehmen konnten. Sogar heute noch – auf so unterschied­lichen Gebieten wie Energie, Telekommunika­tion oder digitale Wirtschaft – geht es darum, Grenzen abzubauen und diesen großen gemeinsamen Raum zu schaffen. Aber wir haben Europa nie als Heimat, als Zufluchtsort begriffen, und heute zahlen wir den Preis dafür. Jahrzehntelang ist es gut gegangen. Die offenen Grenzen boten gewaltige Mög­lichkeiten, im Ausland zu arbeiten, Handel zu treiben, zu studieren. Und die Folgen dieser ganzen Öffnung wurden überwiegend abgefedert – durch Wirtschaftswachstum und durch die Wohlfahrtsstaaten, die parallel dazu aufgebaut wurden. Im Wesent­lichen sah die Arbeitsteilung während jener Jahre so aus, dass Europa öffnete und die na­tionalen Regierungen schützten. Niemand erwartete etwas anderes. Aber die Dinge haben sich geändert. Die Globalisierung setzt die Wohlfahrtsstaaten unter Druck. Die Krise hat den Institu­tionen der Europäischen Union eine neue Rolle aufgenötigt. Das Ergebnis ist ein dramatischer und schneller Wandel: Während Europa jahrzehntelang ganz für Öffnung, Liberalisierung, Befreiung, Emanzipierung, Ermächtigung stand, wird es jetzt plötz­lich gleichgesetzt mit Einmischen,

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Verurteilen, Vorschreiben, Diktieren, Maßregeln ja sogar Bestrafen. Europa, dieser große „Eröffner“ von Chancen wird von vielen nunmehr als unwillkommener „Eindringling“ wahrgenommen, der Freund der Freiheit und des Raums bedroht in ihren Augen ihren Schutz und ihren Ort. Wir müssen das richtige Gleichgewicht finden. Die Union muss auch für Schutz stehen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Union nur den Unternehmen nutzt, sie muss auch den Arbeitnehmern Vorteile bringen, nicht nur den „mobilen“, sondern auch den „sesshaften“, nicht nur denen, die über Diplome und Fremdsprachenkenntnisse verfügen, sondern allen Bürgern; und die Menschen dürfen nicht nur als Verbraucher betrachtet werden, die billige Produkte und eine große Auswahl wollen, sondern auch als Arbeitnehmer, die in anderen vielleicht Konkurrenten sehen, die ihren Arbeitsplatz bedrohen. Wie finden wir ­dieses richtige Gleichgewicht? Was den Schutz anbelangt, so erwarten die Menschen von der Europäischen Union zweierlei. Erstens, dass sie bei Problemen, die einzelne Länder eindeutig nicht allein bewältigen können, einschreitet. Bei globalen und grenzüberschreitenden Fragen wollen die Menschen wirk­lich, dass Europa ihre Interessen verteidigt und Bedrohungen abwehrt. Zweitens, dass die Union bei den Dingen, um die sich am besten die na­tionalen Regierungen kümmern sollten, nicht im Wege steht. In anderen Fällen wiederum muss die Union gerade wegen ihrer Größe behutsam auftreten. Nicht stören, sondern vertraute Orte des Schutzes und der Zugehörigkeit achten – angefangen von na­tionalen Wohlfahrtssystemen über regionale Tradi­tionen und Identitäten bis hin zu lokalen Käsespezialitäten. Aus dieser Perspektive ist die Botschaft der Bürger an die Union eindeutig: „Die Union muss mehr Stärke nach außen zeigen und mehr Fürsorge nach innen.“ 3 Für mich besteht eine der wichtigsten Herausforderungen der Zukunft darin, das Vertrauen der Menschen in unsere Union wiederzugewinnen. Und ich vertraue voll und ganz darauf, dass sich der neue Führungsstab dieser bedeutenden Verantwortung geradeheraus stellen wird.

1 Herman Van Rompuy, Pressekonferenz am 19. November 2009. 2 Art. 15 (1) EU-Vertrag. 3 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Tagung 26./27. Juni 2014, Anlage 1, „Strate­ gische Agenda für die Union in Zeiten des Wandels“, Punkt 2.

Erfahrungen eines Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Santer

Die politische Lage sowie die Entwicklung der Europäischen Union in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts kann man nicht begreifen ohne dem Faktor der zunehmenden Politisierung der Institu­tionen Rechnung zu tragen, der zu einer tieferen Demokratisierung führte: Die Aufwertung des Europäischen Parlaments Die Tatsache, dass das Europäische Parlament 1979 direkt gewählt wurde, ohne dass man sich auf eine Erweiterung seiner Befugnisse einigen konnte, hat sich im Nachhinein bitter gerächt. Das Frustra­tionsgefühl des direkt gewählten Parla­ ments war groß, und so hat es zu Recht versucht, seine Befugnisse auszuweiten. Dadurch, dass in den verschiedenen Verträgen der Union insgesamt neue Aufgabenbereiche zugeteilt wurden, etwa im Bereich des Umweltschutzes, der Forschung und der Stärkung der Kohäsion durch die Einheit­liche Europäische Akte sowie die Wirtschafts- und Währungsunion, Bildung, Kultur, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz und Sozialpolitik durch den Maastrichter Vertrag wurde der Druck des Parlaments immer stärker. Die Mitwirkungsrechte wurden ausgeweitet, und in allen Fragen des Binnenmarktes, in denen der Minister­rat Mehrheitsentscheidungen trifft, wurde dem Parlament grundsätz­lich das Mitentscheidungsrecht zugestanden. Das Europäische Parlament wurde somit institu­ tionell weitgehend gleichrangig mit dem Ministerrat. Wenige na­tionale Parlamente haben diese institu­tionelle Revolu­tion zur Kenntnis genommen, und als sie sich der Tragweite der neuen Bestimmungen bewusst wurden, hat sich eine neue Front des Argwohns gegenüber dem Europäischen Parlament gebildet. Der Ruf nach einer Neuaufteilung der Kompetenzen gemäß dem Subsidiaritätsprinzip wurde immer lauter. Darüber hinaus versuchte das Parlament seine Muskeln gegenüber den anderen Institu­tionen spielen zu lassen, um seinen politischen Einfluss geltend zu machen. Die Kommission ist die einzige Institu­tion, die gegenüber dem Parlament verantwort­lich ist. Obschon Kommission und Parlament eigent­lich objektive Verbündete gegenüber Ministerrat und Europäischem Rat sein müssten, wurde gelegent­lich die Kommission nolens volens Opfer der parlamentarischen Einpeitscher. Dies habe ich in eigener Sache erfahren, als ich Kommissionspräsident war, und ich möchte sagen: in demokratischer Weise durchgestanden. Da ich noch keine Autobiographie geschrieben habe und mich persön­lich noch nie

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öffent­lich über die Demission meiner Kommission äußerte, erlaube ich mir an dieser Stelle, persön­liche Anmerkungen hierzu zu machen. Die schwierige Suche nach einem Kommissionspräsidenten Ich selbst war kein Präsidentschaftsanwärter. Es lagen damals unter anderem drei Kandidaturen vor, zwei von Beneluxpräsidenten, Jean-­Luc Dehaene und Ruud Lubbers, sowie vom britischen Vizepräsidenten Sir Leon Brittan. Der aussichtsreichste Kandidat war Dehaene. Als außenstehender Beneluxministerpräsident wurde ich von meiner Partei, der EVP, beauftragt, eine Einigung ­zwischen meinen Kollegen herbeizuführen. Dies sollte in einer vertrau­lichen Zusammenkunft bei einem Notar in der Nähe von Maastricht geschehen. An ­diesem Treffen nahm auch Wilfried Martens als Parteivorsitzender teil. Es kam nicht zu der gewünschten Einigung, ledig­lich in einer Verfahrensfrage, der zufolge derjenige Kandidat, der bei der anstehenden Abstimmung weniger Stimmen erhielt, sich zugunsten seines Kollegen zurückziehen sollte. Es kam dann zur Abstimmung auf dem Gipfel in Korfu. Dehaene erhielt sieben oder acht Stimmen. Lubbers drei oder vier, Brittan eine. Aber es kam nicht zur Anwendung unseres vereinbarten Verfahrens, da weder Dehaene noch Lubbers anwesend waren, und die Botschaft wahrschein­lich nicht an ihre Stellvertreter weitergeleitet wurde. So vertagte der von den Strapazen des Tages sicht­lich gezeichnete Andreas Papandreou die Sitzung umgehend auf den nachfolgenden Morgen. Kaum in unser gemeinsames Hotel zurückgekehrt, wurden wir wieder in die Sitzung zurückbeordert, um eine Einigung herbeizuführen. Dies war erfolglos, und ich beobachtete, wie während der Nacht intensive diplomatische Bewegungen im Hotel stattfanden! Tags darauf nach der Eröffnung der Sitzung fragte Papandreou, ob keiner der Kandidaten sich zugunsten von Dehaene zurückziehen möchte. Stille in der Runde, bis John Major das Wort ergriff um zu sagen, dass er keinesfalls mit einem Kandidaten Dehaene einverstanden sein könne, ohne allerdings Gründe für diese Erklärung, die einem Veto gleichkam, zu geben. So waren wir in einer Sackgasse gelandet. Papandreou machte einen letzten Versuch, in dem er den scheidenden Kommissionspräsidenten Delors fragte, ob dieser nicht bereit sei, sein Mandat um ein Jahr verlängert zu sehen, um in der Zwischenzeit eine Klärung herbeizuführen. Dieser erklärte damals sibyllinisch: „Ich war Präsident einer Kommission von zwölf Mitgliedern, ich möchte nicht Präsident einer Kommission von 15 Mitgliedstaaten sein.“ Als ich ­später Präsident einer Kommission von 15 Mitgliedstaaten wurde, wurde mir bewusst, was Delors mit seiner Aussage bezweckte. Helmut Kohl, der auf Papandreou folgende Ratspräsident, ergriff darauf das Wort, um zu erklären, dass die angehende deutsche Präsidentschaft eine Lösung vor den Sommerferien finden werde. Er berief kurzerhand eine Sitzung des Europäischen Rates für den 15. Juli in Brüssel ein.

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Sofort wurden Spekula­tionen laut über die offene Kandidatur. Namen von markanten Persön­lichkeiten wurden ins Feld geführt: Peter Sutherland, Giuliano Amato, Poul Schlüter und andere. Schließ­lich rief mich dann am 7. Juli, während des G7-Gipfels in Neapel, Kohl zu Hause an, um mir klarzumachen, dass ich nach Rücksprache mit allen anderen Mitgliedern des Rates der einzige sei, der Zustimmung fände. Ich fühlte mich geehrt, sagte Kohl allerdings, dass ich nicht kandidiere, da ich eben erst nach gewonnener Wahl mein neues Kabinett gewählt hätte, das am 13. Juli vereidigt werden sollte. Kohl ließ nicht locker und gab mir zu verstehen, dass die Präsidentschaft der Kommission für ein kleines Land von übergeordneter Bedeutung sei. Er gab mir dann Bedenkzeit bis Sonntagmorgen, den 8. Juli. Nach Rücksprache mit dem Großherzog und der Ordnung meiner etwaigen Nachfolge in der Person von Jean-­Claude Juncker habe ich dann meine Zustimmung gegeben. Mein neues Kabinett wurde aber trotzdem am 13. Juli vereidigt, und am 15. Juli wurde ich im Europäischen Rat mit stehenden Ova­tionen bedacht. Die Rolle des Europäischen Parlaments bei der Kommissionsinvestitur Trotz der Annahme der Kandidatur ließ ich mich zunächst als Ministerpräsident vereidigen. Denn hier kam wieder das Europäische Parlament ins Spiel. Das Parla­ment sollte seine Zustimmung geben, dies geschah in der Vergangenheit mittels einer Konsulta­tion des Parlamentspräsidiums, in dem die einzelnen Frak­tionen vertreten sind. Zwar hatte Helmut Kohl am Rande des Europä­ ischen Rates vom 15. Juli das Präsidium konsultiert. Dies beschloss allerdings, dass es zu einer öffent­lichen Debatte im Parlament mit abschließender Abstimmung kommen sollte. Dies war eine rein politische Entscheidung. Ich war selbstverständ­lich bereit, dem Wunsch des Parlaments nachzukommen, war mir aber des ­Risikos voll bewusst. Es war schließ­lich ein neu gewähltes Parlament, das natür­licherweise hier eine vorzüg­liche Mög­lichkeit sah, seine raison d’être und seine politische Rolle zum Ausdruck zu bringen. Ich habe auch deut­lich gemacht, dass ich als guter Demokrat die Entscheidung des Parlaments annehmen würde. Darüber hinaus beschloss das Parlament, ein Hearing der zukünftigen Kommissionsmitglieder durchzuführen und nach dieser Anhörungsprozedur eine kollektive Abstimmung über die gesamte Kommission vorzunehmen. Ich war der erste Präsidentschaftskandidat, der diese parlamentarischen Hürden nehmen musste. Aus Respekt gegenüber dem Willen des Parlaments, um nach außen nicht die Entscheidung vorweg nehmen zu wollen, blieb ich also Premier­ minister meines Landes. Es ist überflüssig zu betonen, dass diese Prozedur sich alles andere als einfach gestaltete. Kontrovers waren die Debatten in einem neu gewählten Parlament, das sich seiner Vormachtstellung bewusst war, und in denen offensicht­ lich nicht meine Person zur Diskussion stand – ich wurden eher zur Geisel des

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Europäischen Rates –, sondern die Beziehung des Parlaments zum Europäischen Rat und dem Ministerrat. Ich überstand die Abstimmung, allerdings nur mit einer Mehrheit von etwas mehr als 20 Stimmen. Die Vertreter der kleineren Staaten, egal welcher politischen Gruppierung sie angehörten, stimmten für mich. Nach heftigen Diskussionen stimmte auch die gesamte EVP-Frak­tion mit Ausnahme eines Abgeordneten für mich. Auch die Kommissare hatten Mühe, sich bei den Hearings durchzusetzen. Es gab einige, die sich herber Kritik ausgesetzt sahen. In diesen Fällen musste ich selbst eingreifen, um etwaige Bedenken zu zerstreuen. Allerdings wurde dann die Kommission insgesamt mit einer Zweidrittelmehrheit im Amt bestätigt. Zu Recht weist Werner Weidenfeld in seiner Bilanz der europäischen Integra­ tion für 2005 auf die neue Politisierung hin, und grundsätz­lich bin ich mit Bezug auf meine eigene Erfahrung mit ihm einverstanden wenn er schreibt: „Für die politische Emanzipa­tion des Parlaments gegenüber den na­tionalen Regierungen war dies vielleicht ein Befreiungsschlag. Und letzt­lich hat auch das Europä­ ische Parlament kein Interesse an einer schwachen Kommission. Ihm ging es vielmehr darum, die Muskeln auch gegenüber den Mitgliedstaaten spielen zu lassen, die immer noch die Fäden bei der Zusammensetzung der Kommission in der Hand haben. Ohne eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Kommission wird das Parlament aber nicht auskommen – denn beide sitzen im selben europapolitischen Boot.“ Ich würde hinzufügen: Aber nur die Kommission ist verantwort­lich vor dem Parlament, nicht der Ministerrat. Der Rücktritt der Kommission Santer Am Ende des Mandats der Kommission, bereits im Vorfeld der 1999 anstehenden Direktwahl des Parlaments, kam es zur Anhäufung von sogenannten Korrup­tions- und Missmanagementsfällen, die zu einer Trübung der Beziehungen ­zwischen Kommission und Parlament führten. Bis auf zwei Fälle lag auch hier der Ursprung der Probleme Jahre, wenn nicht gar ein Jahrzehnt, vor dem Amtsantritt meiner Kommission. Ich persön­lich habe nie die Verantwortung auf meine Vorgänger abgeschoben, weil ich der Meinung war, als Repräsentant einer Institu­tion und in dieser Kontinuität die volle Verantwortung übernehmen zu müssen. In der Krisensitua­tion, die sich zur offenen Auseinandersetzung mit dem Parlament entfachte, gebe ich zu, dass seitens der Kommission zwei strate­ gische Fehler begangen wurden. Erstens haben die Kommissare, die mit den zuständigen Parlamentsausschüssen in Kontakt waren (zum Beispiel mit dem Haushaltsausschuss), die Entschlossenheit des Parlaments unterschätzt. Als die Probleme auf den Tisch der Kommission kamen, lag das Kind bereits im Brunnen und alle Schlichtungsanstrengungen, die ich als Präsident unternahm, kamen zu spät. Zu verhärtet waren damals schon die Fronten. Zweitens war es falsch, mich von meinen britischen

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Kollegen überreden zu lassen, nach dem Vorbild des britischen Unterhauses einen sogenannten Ausschuss unabhängiger Sachverständiger einzusetzen und dessen Schlussfolgerungen zu akzeptieren. Der Todesstoß gegen die Kommission kam letztend­lich nicht vom Parlament, sondern von d ­ iesem Ausschuss, der zwar nach Prüfung der einzelnen Kritikpunkte bis auf eine Kommissarin alle Kommissare weißwusch, aber in seinen Schlussfolgerungen, die keinen Bezug auf die vorgebrachten Kritiken aufwiesen, die kollektive Verantwortung der Kommission anmahnte. Wir waren zu blauäugig anzunehmen, der „Ausschuss unabhängiger Sachverständiger“ wäre überpartei­lich, und wir übersahen, dass verschiedene Mitglieder aufgrund früherer Funk­tionen und parteipolitischen Ansichten noch ein paar Hühnchen mit der Kommission zu rupfen hatten. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass diese Schlussfolgerungen auch nicht einstimmig abgefasst wurden. So demissionierte gleich anschließend ein Mitglied aus „persön­lichen“ Gründen, ein anderes gab in Interviews zu verstehen, dass es die Schlussfolgerungen nicht so radikal verstanden hätte. Trotz alledem: Der Schaden war angerichtet, und Politiker und Journalisten stürzten sich auf das Dokument! Die Kommission hatte zwei Mög­lichkeiten: Sich dem Parlament zu stellen und womög­lich in einem Misstrauensantrag zu unterliegen, oder zu demissionieren. Nach langen Diskussionen wählten wir den zweiten Weg, die kollektive Demission, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, wir waren am Ende unseres Mandats angelangt und hatten das von uns vorgesehene Legislativprogramm vollständig umgesetzt. Zweitens, und das war der springende Punkt, den nur wenige Beobachter zur Kenntnis genommen haben: Der Vertrag sieht vor, dass die Kommission nach dem notwendigerweise zu erfolgenden Rücktritt nach einem Misstrauensvotum im Parlament bis zur Einsetzung einer neuen Kommission nur noch geschäftsführend tätig sein kann. Bei einer kollektiven individuellen Demission dagegen – jedes Mitglied muss einzeln zurücktreten – kann der Ministerrat der Kommission das Vertrauen schenken, wodurch die Kommission befugt wird, ihre Aufgaben in voller Handlungsmacht auszuüben und gegebenenfalls neue Initiativen zu entwickeln. Nach Rücksprache mit der deutschen Ratspräsidentschaft wählten wir diesen Weg. Am Tage der Demission am 15. März 1999 hatte ich in Brüssel ein Gespräch mit Bundeskanzler Gerhard Schröder, der natür­lich die ganze Angelegenheit bedauerte, mir aber und auch der Kommission das Vertrauen zusicherte, was dann auch der Ministerrat formell bestätigte. Das erlaubte uns, alle Legislativvorschläge der auf dem Berliner Gipfel beschlossenen Reformen der Agenda 2000 durchzuziehen und auch neue Initiativen zu ergreifen. So wurde etwa noch vor dem Abgang der Kommission die Reform des Wettbewerbsrechts in die Wege geleitet. Ich selbst wurde einen Tag s­ päter von meiner Partei zur Überraschung und zum Entsetzen vieler Parla­mentarier zum Spitzenkandidaten bei den bevorstehenden Direktwahlen des Europäischen Parlaments bestimmt. Ich hatte einen entsprechenden Erfolg

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und erhielt mehr Präferenzstimmen als alle Spitzenkandidaten der konkurrierenden Parteien zusammen! Ich habe eine direkte Schlussfolgerung aus dieser leidvollen Erfahrung gezogen, näm­lich dass die Rolle und Funk­tion des Kommissionspräsidenten, besonders in einer erweiterten Union – ich war schließ­lich der erste Präsident einer Kommission mit 20 Kommissaren aus 15 Mitgliedstaaten – gestärkt werden muss. Ihm sollte ein weit größeres Mitspracherecht bei der Bestellung der Kommissare eingeräumt werden. Das Kollegium muss bei einer Erweiterung gestrafft werden. Doch vor allem muss dem Kommissionspräsidenten das Recht zugestanden werden, ein individuelles Mitglied unter gewissen Bedingungen zu entlassen und eine neue Kompetenzverteilung innerhalb der Kommission vorzunehmen. Ich habe heute die Genugtuung festzustellen, dass diese Auffassung weite Kreise gezogen hat und in den nachfolgenden Verträgen in Ansatzpunkten aufgenommen wurde. Meine Schlussbemerkung Während meiner Amtsperiode als Kommissionspräsident war Hans-­Gert ­Pöttering ein angesehenes Mitglied des Europäischen Parlaments und hat mir stets ein uneingeschränktes Vertrauen entgegengebracht. In seiner Autobiographie 1 hat er seine Einschätzung zum Ausdruck gebracht. Ich zitiere: „Für Jacques Santer, der sich als überzeugter Europäer und vorbild­licher Christdemokrat engagiert für die Arbeiten der Kommission eingesetzt hatte – war dies außerordent­lich bitter. Aber er trug diese Situa­tion mit Würde und Anstand. Ich habe immer höchsten Respekt vor Jacques Santer gehabt.“ Dies beruht bis zum heutigen Tag auf gegenseitige Einschätzung. Hans-­Gert Pöttering hat sich ohne Zweifel für Europa und ihren Bürgern verdient gemacht! Ich überbringe dem Jubilar meine besten Glückwünsche und hoffe und erwarte, dass er seine reichhaltige Erfahrung auch weiterhin in den Dienst der Gemeinschaft einbringen wird.

1 Vgl. Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg. Köln u. a. 2014, S. 179.

Utopie „Großer Sprung“ Realistisch und pragmatisch: Ziel und Weg Europas formulieren und gestalten Wolfgang Schäuble

Wie wir in Europa vorankommen – und wie nicht Veröffent­lichungen und Reden zu Europa im 21. Jahrhundert arbeiten sich immer wieder an dem ab, was es in Europa alles nicht gibt – angeb­lich wie tatsäch­ lich: keine Politische Union, keine Vorstellung von der sogenannten Finalität Europas, keine Begeisterung für Europa, keine Dankbarkeit für das europäische Friedenswerk, kein europäisches Kulturbewusstsein, keine große europäische Erzählung. Verbunden mit der beliebten Klage über die scheinbare Unzuläng­ lichkeit der heutigen Politikergenera­tion werden dann meist große Visionen von Europa entwickelt und der „große Sprung“ nach vorne gefordert. Aber mit großen Visionen ist das so eine Sache. Der Mensch ist, wie I­ mmanuel Kant gesagt hat, „aus so krummem Holze“ gemacht, dass daraus „nichts ganz Gerades gezimmert werden“ kann. Oft haben „große Sprünge“ katastrophale Folgen für die Menschen gehabt, weswegen Karl Popper gegen Totalitarismen jeder Art das korrigierbare Vorgehen Schritt für Schritt empfahl. Auch verläuft Geschichte meist anders als gedacht – das Jahr 2014 hat dies erneut gezeigt: Das Jahr der Erinnerung an den Beginn des E ­ rsten Weltkriegs vor hundert Jahren entwickelte sich zu einem Jahr bedrückender Gegenwart – ob in der Ukraine, im Irak oder in Syrien. Wer kannte schon Anfang 2014 Lugansk? Wer Kobane? Das nach dem Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren ausgerufene Ende der Geschichte hat es nicht gegeben. Hinzu kommt: Solange der Mensch einigermaßen zufrieden ist, mag er in der Regel keine großen Veränderungen. Sie kommen deshalb meist erst in der Folge großer Krisen, verlaufen dann aber oft ebenfalls nicht gradlinig; dies war bereits bei der Franzö­sischen Revolu­tion und ihren Folgen zu beobachten, und in der Gegenwart erneut beim „arabischen Frühling“. Veränderungen gibt es natür­lich trotzdem. Die Geschichte ist in vielen Bereichen über die Na­tionalstaaten hinweggeschritten. Schon in den Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts hat sich gezeigt, dass die Ordnungsfunk­tion der Na­tionalstaaten, die sich seit dem Westfä­lischen Frieden mit Gewaltmonopol und Interven­tionsverbot herausgebildet hatte, immer stärker erodiert. Im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen, asymmetrischer Kriegführung, religiös verbrämtem gewalttätigem Fundamentalismus, Klimawandel und globalisierten Finanzmärkten wird die Dring­lichkeit neuer Formen transna­tionaler Governance noch größer. Die Na­tionalstaaten sind nicht obsolet, aber ergänzungsbedürftig.

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Deswegen haben wir in Europa den alles in allem erfolgreichen Weg der europäischen Einigung gewählt. Und in dieser Linie bewegen wir uns seitdem weiter vorwärts, mal schneller, mal langsamer, in „trial and error“, flexibel und korrekturfähig, im Ergebnis aber gar nicht so schlecht. Wir sollten auch heute nicht die Unrealisierbarkeit eines „großen Sprungs“ in Europa betrauern, sondern jetzt tun, was machbar ist. Natür­lich brauchen wir dringend Vertragsänderungen in Europa. Ohne Vertragsänderungen ist vieles, was an weiterer Integra­tion notwendig ist, schwieriger zu erreichen, gerade für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Aber solange wir Vertragsänderungen noch nicht zustande bringen, weil sie nur einstimmig bei Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten mög­lich sind, arbeiten wir im gegebenen Rechtsrahmen weiter. Es gibt genügend Aufgaben, deren Lösung Europa heute ganz unmittelbar voranbringt. Und es gibt genügend Wege, die wir dazu gehen können. Wenn wir – wie oft in den Jahren der Schuldenkrise in der Eurozone – nur intergouvernemental, nur mit zwischenstaat­lichen Absprachen und Verträgen vorankommen können, gehen wir eben so voran, auch wenn das nicht ideal ist. Wenn Primärrechtsänderungen und Fortschritte auf der Ebene der europäischen Institu­tionen und Verfahren mög­lich sind, dann ergreifen wir diese Mög­lichkeit. Wenn na­tionale Wirtschaftspolitiken Hebel sind, dem eigenen Land und damit auch der gesamten europäischen Gemeinschaft zu helfen, dann sollen die Mitgliedstaaten dies ­nutzen. Wenn eine Gruppe von Mitgliedstaaten in einem Bereich vorangehen will und kann, dann soll sie dies tun und den anderen zeigen, dass es sich lohnt, nachzuziehen. Manchmal geht es in Europa oder auch interna­tional dann doch schnell: Eine gemeinsame europäische Finanzaufsicht und gemeinsame Abwicklungsregeln schienen lange Zeit unmög­lich; sie sind innerhalb von nur zwei Jahren erreicht worden. Auch ein automatischer Informa­tionsaustausch in der Steuerverwaltung schien lange wenig realistisch. Inzwischen haben bereits über sechzig Staaten die entsprechende Vereinbarung unterzeichnet – und die na­tionalen Rechtsgrundlagen dafür werden zurzeit geschaffen. Auch mit unserer Initiative gegen die Erosion der Steuerbasis und Gewinnverschiebungen großer Unternehmen sind wir in Europa weiter, als die meisten noch vor wenigen Jahren für denkbar gehalten haben. Unvollkommene europäische Institu­tionen dürfen keine Entschuldigung dafür sein, nichts zu tun. Auch ohne vollkommene Institu­tionen können vernünftige Vereinbarungen geschlossen und eingehalten werden. Noch einmal: Es stehen viele Wege offen, Europa zu stärken, auch ohne den „großen Sprung“ nach vorn. Wie wir in Europa dorthin kamen, wo wir jetzt stehen Von Beginn der europäischen Einigung an war dies die Lage: Mehr Integra­tion wäre immer besser gewesen, aber die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten standen

Utopie „Großer Sprung“

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meist einer noch stärkeren Integra­tion nicht sehr freund­lich gegenüber. In der Mehrheit der europäischen Staaten war und ist das so, im Einzelnen unterschied­ lich, aber insgesamt doch zunehmend, auch in Deutschland, und selbst dann, wenn man generell für die europäische Integra­tion ist. Es bleibt eine Daueraufgabe, dafür zu arbeiten, dass diese Haltung sich ändert. Diejenigen, die engagiert für die europäische Einigung waren, haben nach 1945 immer gesagt, man müsste eine richtige politische Union bilden. Der Gedanke ist also nicht neu, aber er ist zum ersten Mal 1954 beim Versuch des Aufbaus einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft gescheitert – im franzö­sischen Parla­ment. Danach und seither haben sich die Europäer darauf verlegt, dort voranzugehen, wo es Zustimmung dafür gibt: bei der wirtschaft­lichen Integra­tion. In d­ iesem Bereich war der Nutzen für die Menschen von Beginn an konkret und offensicht­lich. Die darauf aufbauenden Entscheidungen haben die europäische Einigung insgesamt zu einer Erfolgsgeschichte gemacht. In den 1980er Jahren hat dann der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors argumentiert, dass wir den erreichten Stand wirtschaft­licher Integra­tion auf die Dauer nur würden halten können, wenn wir eine gemeinsame Währung schaffen. Er hatte Recht. Dies war übrigens lange vor dem Fall der Berliner Mauer. Es ist historisch nicht richtig, die Währungsunion als den deutschen „Preis“ für die europäische Unterstützung der Wiedervereinigung Deutschlands zu bezeichnen. Die Währungsunion ist vielmehr der erfolgversprechende Versuch Europas, sich in eine Verfassung zu bringen, in der es den Anforderungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist. Der Euro hat sich als ein heilsamer Zwang für alle Mitglieder der Eurozone erwiesen, besser und damit interna­tional wettbewerbsfähiger zu werden. Dies ist auch der Nutzen der Krisen seit dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank ­Lehman Brothers 2008 – wenn wir sie ­nutzen. Schon Winston Churchill soll gesagt haben: „Never let a good crisis go to waste.“ Die gemeinsame europäische Währung hat die Erwartungen ihrer Befürworter erfüllt: Der Geldwert ist stabil. Die Wirtschaft – sowohl kleine wie große Unternehmen – profitiert stark vom Euro sowohl im Export wie im europäischen Binnenmarkt, nicht zuletzt durch geringere Wechselkursrisiken. Die Rolle des Euro als eine der bedeutendsten Reservewährungen der Welt nimmt zu, und dies, obwohl die institu­tionellen und politischen Rahmenbedingungen der gemeinsamen Währung nicht ideal sind. Es gab in den 1990er Jahren eine große Debatte, ob man erst eine politische Union oder erst die Währungsunion schaffen sollte. Bibliotheken von Büchern zur Währungsunion sagen uns seither, eine Währungsunion ohne eine Fiskal- und Wirtschaftsunion funk­tioniere nicht. Aber wenn wir es andersherum gemacht hätten, hätten wir heute noch keine gemeinsame Währung. Wir würden immer noch über die Gestaltung einer politischen Union diskutieren. Deswegen haben wir beim Euro denselben Weg eingeschlagen wie er bereits nach dem Scheitern der Europäischen

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Verteidigungsgemeinschaft eingeschlagen wurde: erst einmal zu beginnen mit dem, was mög­lich ist, und dann Schritt für Schritt weiterzugehen. So kam es zum Stabilitäts- und Wachstumspakt. Da es keine Vergemeinschaftung von Fiskal- und Wirtschaftspolitik gab, musste man intergouvernemental Vereinbarungen treffen. Wir haben uns dann aber in Europa leider nicht an die gemeinsamen Vereinbarungen gehalten – Deutschland und Frankreich gingen hier mit schlechtem Beispiel voran. Und eben dies ist heute wieder Kern der Debatte: Ob wir in Europa das, was wir nicht vergemeinschaftet haben, uns aber gegenseitig versprochen haben zu tun – ob wir das einhalten. Wir haben viel verabredet, um das Regelwerk des Stabilitätspakts zu stärken, um ihn zu reparieren – aber wieder eben weitgehend, insbesondere im Fiskalvertrag, intergouvernemental; es gibt noch keine Instanz, die das Einhalten der gemeinsamen Regeln und Vereinbarungen wirk­lich erzwingen kann. Aber wenn sie nicht eingehalten werden, verliert Europa viel Vertrauen. Wir haben dies in den Jahren der letzten Krisen immer wieder erleben müssen – mit schmerzhaften Folgen für alle Europäer. Einen erneuten Vertrauensverlust der interna­tionalen Gemeinschaft in Europa können wir uns nicht leisten. Die Krise in und um die Ukraine, die noch nicht völlig überwundene Krise im Euroraum und die gewaltigen globalen Herausforderungen: All dies zwingt uns Europäer, unablässig und konsequent an uns zu arbeiten, an unserer Wettbewerbsfähigkeit und an unseren politischen Strukturen. Es geht darum, im weltweiten Systemwettbewerb den Erfolg unseres europäischen Lebensmodells unter schwierigen Bedingungen auch künftig zu beweisen. Wir müssen in Europa mehr erwirtschaften, um unsere „soft power“ zu erhalten, aber auch, um moderne und wirkungsvolle „hard power“ finanzieren zu können. Auch dafür, aber vor allem, um im technolo­gischen Wettbewerb mithalten zu können, brauchen wir nachhaltiges Wachstum. Dies erreichen wir vor allem durch zukunftsträchtige Investi­tionen und diese nur durch neues Vertrauen in Europa. Für ­dieses so wichtige Vertrauen in Europa haben wir in den letzten Jahren hart gearbeitet – nicht zuletzt indem die europäische Politik immer wieder Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit bewiesen hat: Wir haben die Institu­tionen der Währungsunion verbessert, untereinander Solidarität geübt, Regeln verschärft und Verfahren eingeführt, die eine solide Haushaltspolitik und eine nachhaltige Wirtschaftspolitik in Europa wahrschein­licher machen. Der Euroraum wie die Europäische Union insgesamt stehen heute strukturell besser da als zu Beginn der Krise. Viele Mitgliedstaaten haben begonnen, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch tiefgreifende Reformen zu stärken. Mit der unvermeidbaren Verzögerung sinkt auch die Arbeitslosigkeit in Europa wieder. Auch die Finanzmärkte sind heute besser reguliert: Banken müssen mehr Eigenkapital vorhalten. Die neuen Haftungsregeln in der Bankenunion verringern zusätz­lich das Risiko aus Banken­schieflagen für die Steuerzahler. Investoren nehmen die Banken genauer in den Blick und sind risikobewusster geworden.

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Wo wir in Europa hin müssen All dies zeigt, dass die neuen oder verschärften Regeln, ­welche die Politik als Antwort auf die Krisen der vergangenen Jahre gegeben hat, zu wirken beginnen. Dies ist vielleicht nicht die schlechteste Nebenwirkung unserer krisenhaften Zeit: Wir konnten und können beweisen, dass Politik auch im 21. Jahrhundert Gestaltungsmacht hat. Klar wird dabei aber auch, dass wir diese Gestaltungsmacht in Europa noch besser bündeln müssen. Europa wird in der globalisierten Welt nicht als loser Verbund stets neu und mühsam sich zusammenraufender Na­tionalstaaten bestehen können. Wir brauchen ein stärkeres Europa, vor allem für die großen und übergreifenden Fragen, die kein Staat alleine lösen kann. Die Europäische Union sollte sich im Wesent­lichen auf die Sicherstellung eines fairen und offenen Binnenmarktes, auf Handel, Finanzmarkt und Währung, Klima, Umwelt und Energie sowie Außen- und Sicherheitspolitik konzentrieren – auf die Bereiche also, in denen nur die europäische Ebene nachhaltig erfolgreich handeln kann. Gleichzeitig brauchen wir aber eine größere Bereitschaft, das Subsidiaritätsprinzip konsequent anzuwenden. Dieses Prinzip wird leider öfter gepriesen als beherzigt. Wir müssen die Zuständigkeiten z­ wischen den Ebenen in Europa klarer verteilen: So viele Zuständigkeiten wie mög­lich sollten dezentral bei Kommunen, Regionen, auch bei den Mitgliedstaaten, verbleiben oder wieder zu ihnen zurückkehren. Allein das, was sinnvoll nur auf europäischer Ebene entschieden werden kann, muss auch durch europäische Institu­tionen entschieden werden. Wenn die Aufgaben dort angesiedelt werden, wo sie am besten bewältigt werden können, dann sollte auch jede Ebene in Europa künftig die Gesetzgebungskompetenz und die Vollzugskompetenz für ihre Zuständigkeiten erhalten. Dafür brauchen wir keine europäische Verwaltung in der Fläche. Es genügt, dass europäisch getroffene Beschlüsse ohne Abstriche umgesetzt werden. Für ein solches Europa brauchen wir langfristig bessere recht­liche Grundlagen. Die europäische Realität des Jahres 2015 spiegelt sich nur bedingt im Vertrag von Lissabon wider. Wir müssen den Weg zurück zum Kern der Institu­tionen und Verfahren der Europäischen Union finden. Anpassungen der Verträge sind nötig, um die Institu­tionen zu stärken, besser demokratisch zu legitimieren und der Gemeinschaftsmethode wieder mehr Gewicht zu verleihen. Das Bemühen um Demokratisierung und dadurch um Legitimität setzt allerdings voraus, dass europäische Mehrheitsentscheidungen von den Bürgerinnen und Bürgern dann auch als legitime Entscheidungen anerkannt werden. Dies hängt wiederum davon ab, wie weit sich die Europäer mit Europa identifizieren. Identität ist die Grundlage von freiheit­lich gegründeter Legitimität jeder politischen Ordnung. Dies hat entscheidend mit Kommunika­tion und Öffent­lichkeit zu tun, durch die erst Zusammengehörigkeit wachsen kann. Darauf muss man in Europa sorgsam achten. Wenn man glaubt, künst­lich etwas bauen zu können,

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das in der Wirk­lichkeit von den Menschen nicht mitgetragen wird, dann wird man damit zwangsläufig scheitern. Deshalb habe ich mit anderen für die Schaffung von mehr Öffent­lichkeit und Identifika­tion die Direktwahl des Kommissionspräsidenten immer wieder ins Gespräch gebracht. Die Entwicklung geht langsam in diese Richtung. Ein entsprechend klug integriertes Europa wäre dann ein sich ergänzendes, ineinander greifendes System von Demokratien verschiedener Reichweite und Zuständigkeiten: eine na­tional-­europäische Doppeldemokratie. Wir wären Bürger unserer na­tionalen Demokratien und einer europäischen Demokratie zugleich. Aber die dafür notwendige Bereitschaft zur Kompetenzübertragung auf Europa ist bei der Mehrzahl der Mitgliedstaaten und ihrer Bevölkerungen eben zurzeit nicht vorhanden. Insofern schließt sich der Kreis: Wir müssen weiterhin mit den unvollkommenen Instrumenten und Institu­tionen, die wir heute haben, Europa voranbringen – und uns dafür in den kommenden Jahren auf Felder konzentrieren, die für Wachstum, Beschäftigung und Investi­tionen entscheidend sind: Wir brauchen solide Staatsfinanzen – ohne sie herrscht ein Klima der Unsicherheit und des Misstrauens, in dem nur schwer etwas gedeiht. Wir müssen die Finanzmärkte weiter so regulieren, dass sie wieder stärker der Realwirtschaft nützen. Wir müssen die begonnenen Strukturreformen auf den Arbeitsmärkten voranbringen, den Binnenmarkt weiter vertiefen, das transatlantische Freihandelsabkommen abschließen und schäd­lichen Steuerwettbewerb eindämmen. Und wir brauchen für Europa eine Energieunion und eine digitale Union. Um all dies wirkungsvoll voranzutreiben, sollten wir die bewährte europä­ische Methode fortführen, Kerne der Zusammenarbeit in der Europäischen Union zu bilden und kleinere, besonders koopera­tionsbereite Gruppen von Mitgliedstaaten vorangehen zu lassen. „Verschiedene Geschwindigkeiten“ oder eine „variable Geometrie“, mit offenen Türen für die übrigen Mitgliedstaaten, haben wir längst in vielen Bereichen – ob im Schengen-­Raum oder bei der Arbeit an einer Finanztransak­tionssteuer. Vor allem der Euroraum bildet eine Art Kerneuropa und zieht immer wieder weitere EU-Mitglieder an – zuletzt Litauen. Auch Bulgarien und Rumänien wollen beitreten, was allerdings grundlegende Reformen und Veränderungen in beiden Ländern voraussetzt. Man kann übrigens auch institu­tionell vor Vertragsänderungen schon entscheidende Schritte vorankommen: Man könnte zum Beispiel der Europäischen Kommission als Ganzes, als Kollegium, oder einem einzelnen Kommissar, wie im Wettbewerbsrecht, das Recht geben, na­tionale Haushalte zurückzuweisen, die dem europäischen Recht, den gemeinsamen Regeln, insbesondere dem Vereinbarten im Fiskalvertrag, nicht entsprechen. Dies würde nicht die Auflösung des na­tionalen Budgetrechts bedeuten. Denn wie das Parlament eines Mitgliedstaats seinen Haushalt an die Regeln anpasst, ob es beispielsweise Ausgaben kürzt oder Einnahmen erhöht, bleibt weiterhin seine Sache. Allein die Regeln müssen eingehalten werden. Den Einwand, dies wäre ein Verstoß gegen die

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na­tionale Souveränität, wenn man die Einhaltung von Regeln in Europa durch Institu­tionen erzwinge, kann ich nicht nachvollziehen. Schließ­lich beruht das europäische Projekt nicht zuletzt darauf, dass wir gemeinsam Regeln schaffen, in der Erwartung, dass wir uns alle daran halten. Und eben sämt­liche dieser Vereinbarungen wurden und werden vom na­tionalen Gesetzgeber ratifiziert. Der „große Sprung“ in ein bundesstaat­liches Europa, der immer wieder gefordert wird, noch dazu angeführt von Deutschland – auch dies wird uns oft empfohlen, zuletzt wieder öffent­lich diskutiert durch das mediale und politische Echo auf die Thesen des Europa-­Historikers Brendan Simms aus Cambridge –, ist dagegen eine ganz und gar unpolitische Vorstellung in der Gemengelage, in der wir uns auf absehbare Zeit befinden; undenkbar auch in d­ iesem Europa, wie es nun einmal historisch gewachsen ist: 28 gleichberechtigte Na­tionen in der Europäischen Union. Dies ist keine Phrase. Dies ist die Realität – und gar keine schlechte: Wenn wir dies weiterhin gut hinbekommen, können wir ein Modell für transna­tionale Governance bleiben, nach der die Welt im 21. Jahrhundert angesichts der vielen nur global zu lösenden Fragen und Herausforderungen so dringend sucht. Meine Vorstellung von einem auch institu­tionell gut aufgestellten Europa ist eine von Europas Bürgerinnen und Bürgern eindeutig legitimierte europäische Legislative, Exekutive und Judikative neben den na­tionalstaat­lichen Demokratien – das föderale Europa als doppelte Demokratie. Aber in eine s­ olche europäische Zukunft führt kein einmaliger „großer Sprung“, sondern nur das geduldige Vorangehen auf den Wegen, die sich immer wieder öffnen, mal schneller durch Krisen, mal langsamer ohne sie. Kurz: Wer eine Vorstellung davon hat, wie die Zukunft gestaltet werden sollte, der sollte ihr entgegen gehen – Schritt für Schritt.

Erfahrungen eines Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz

Seit nunmehr sechs Jahren durchlebt Europa eine schwere Krise, die gleichzeitig Wirtschafts- und Finanz-, Vertrauens- sowie s­ oziale, institu­tionelle und politische Krise ist. Wenn es uns nicht gelingt, end­lich Lösungen für diese Krisen zu finden, dann droht Europa zu scheitern. Denn Europa, diese beispiellose historische Erfolgsgeschichte – 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – ist bedroht. Dieser Befund mag überraschen, vor allem wenn man sich vor Augen führt, dass das, was in Europa seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde eine der größten zivilisatorische Errungenschaften ist, die unser Kontinent je gesehen hat. Nach den Verheerungen und Verwüstungen des Krieges reichten sich Erzfeinde zur Versöhnung die Hände und wurden Freunde; Nachbarn r­ issen trennende Mauern ein und öffneten Grenzen; Diktaturen wurden zu Demokratien und Europa zur Rechtsgemeinschaft. Das ist in der Geschichte unseres Kontinents beispiellos. Es gibt so vieles, auf das wir in Europa stolz sein können und worum uns die Menschen auf anderen Kontinenten beneiden: Frieden, Wohlstand, eine freie Presse, ­soziale Absicherung, das Streikrecht, das Recht Parteien und Gewerkschaften zu gründen, unabhängige Gerichte und die Waffengleichheit vor Gericht, die Freiheit von Wissenschaft und Forschung, die Unverletz­lichkeit der Wohnung, die Abschaffung von Kinderarbeit, das Verbot von Folter und Todesstrafe. Die Liste ist lang. Europa ist gefährdet Dennoch mache ich auf meinen Reisen ins Ausland eine Erfahrung immer wieder. Je weiter ich mich von Europa entferne, desto begeisterter sind die Menschen von der EU und von den Errungenschaften unseres Kontinents. Je näher ich jedoch Europa wieder komme, desto schlechter wird die Stimmung und desto schlechter wird über Europa geredet. Woran liegt das? Die Gründe sind vielschichtig. Erstens schüren anti-­euro­ päische Parteien mit billigem Populismus Angst und wollen den Menschen weismachen, dass ohne die EU alles besser wäre. Welch ein Irrtum! Es ist absurd angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu glauben, jetzt sei die große Stunde der Na­tionalstaaten gekommen. Zugleich machen rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien gegen ganze Volksgruppen,

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Glaubensgemeinschaften, Homosexuelle oder andere Minderheiten Stimmung. Diese Parteien stehen für eine zynische Politik, die Europa schon einmal in die Katastrophe geführt hat. Zweitens wenden sich viele Menschen von Europa ab und begegnen der EU mit Desinteresse und Gleichgültigkeit, weil ihnen Europa als zu abstrakt, als zu weit weg erscheint, als eine Macht, auf die der Einzelne keinen oder nicht ausreichend Einfluss nehmen kann und die sich schlicht in zu viele Lebensbereiche der Menschen einmischt. Eigent­lich sind wir in einer Situa­tion, in der wir die europäische Zusammenarbeit in einigen Bereichen vertiefen müssten, in der wir also mehr Europa brauchen. Und genau in dieser Situa­tion ist die Zustimmung zur EU auf einem Tiefpunkt angelangt. Die Idee Europas, näm­ lich, dass Völker und Staaten zusammen arbeiten, um über Grenzen hinweg in gemeinsamen Institu­tionen gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen, weil sie gemeinsam stärker sind als allein – diese Idee wird von der überwältigenden Mehrheit der Menschen unterstützt. Aber immer weniger Menschen verbinden diese Idee mit der EU wie sie sich heute präsentiert. Wir müssen deshalb die EU reformieren und verbessern, wenn wir die Idee von Europa verteidigen wollen. Und wir müssen verloren gegangenes Vertrauen z­ wischen Europa, seinen Institu­tionen und den Menschen zurückgewinnen. Deshalb muss die EU auch lernen, sich zurückzunehmen. Sie soll und darf nicht alles regeln, sondern sie muss sich auf das Wesent­liche und die großen Fragen konzentrieren und die Dinge regeln, die sie besser macht als der Na­tionalstaat. Im Umkehrschluss heißt dies jedoch auch, dass in den Hauptstädten eingesehen werden muss, dass kein Land alleine die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen kann. Überall da, wo der Na­tionalstaat offensicht­lich an Grenzen stößt, müssen wir der EU dann auch die Mittel an die Hand geben, um effektiv zu handeln, etwa im Bereich der weltweiten Handelsbeziehungen, beim Kampf gegen die Spekula­tion, gegen Steuerflucht und gegen Steuervermeidung, bei der Bekämpfung des Klimawandels, im Bereich der Migra­tionsfragen oder bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. Drittens hat das über Jahre praktizierte Spiel der na­tionalen Regierungen Spuren hinterlassen: Erfolge reklamieren Berlin, Paris oder Warschau für sich, Misserfolge werden auf Brüssel geschoben. Oder anders gesagt: Der Erfolg ist na­tional, der Misserfolg europäisch. Hier zeigt sich, dass sich in den letzten Jahren eine viel zu starke Exekutiven-­Fixierung in die europäische Politik eingeschlichen hat – und das hat weder der europäischen Demokratie noch der Qualität der Entscheidungen gut getan! Bei aller Kritik an der EU dürfen wir deshalb eines nicht vergessen: Die EU ist nur so stark und erfolgreich, wie ihre Mitglieder sie stark und erfolgreich sein lassen. Viertens schließ­lich nehmen wir zu vieles als selbstverständ­lich hin. Uns muss aber klar sein: Unumkehrbar ist weder die europäische Integra­tion noch der durch sie geschaffene Frieden und Wohlstand. Der Satz Europa ist ohne Alternative

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ist falsch. Alles hat eine Alternative, auch Europa. Doch wie sähe diese aus? Die Alternative wäre weniger Zusammenarbeit, weniger Wohlstand, weniger Sicherheit. Die Alternative lautet: 28 Währungen, D-Mark, Gulden, Franc, Lira, Drachme und die vielen anderen Währungen, die alle völlig abhängig von Dollar und Yen sind und die uns zum währungspolitischen Spielball machen. Die Alternative lautet: Das Hochziehen von Grenzen, d. h. lange Schlangen an den Schlagbäumen und eine neue, enorme Bürokratie für die Unternehmen. Die Alternative lautet: Kein wirkungsvoller Verbraucherschutz, das Absinken von Sozial- und Umweltstandards. Wir Europäer lassen uns auseinanderdividieren, indem wir dem Irrglauben aufsitzen, ausgerechnet jetzt sei die große Stunde des Na­tionalstaats gekommen. Das ist die Alternative! Ein Jahrhundert der Weltregionen Werfen wir einen Blick in die Zukunft: 2050 werden wir Europäer gerade noch 5,4 Prozent der Weltbevölkerung stellen. 2050 wird kein EU-Land mehr Mitglied im Club der G7 sein – auch Deutschland nicht mehr. 2050 wird die ­Triade China-­USA-Indien die Weltwirtschaft dominieren. Das sind Zahlen, die nachdenk­lich machen. Das 21. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Weltregionen. Der chine­sische Staatschef Xi Jinping hat es einmal wie folgt beschrieben: Wir Chinesen mit 1,3 Milliarden Einwohnern sind eine Weltregion, unsere indischen Nachbarn mit ihren 1,1 Milliarden Einwohnern sind auch eine Weltregion, die USA sind eine Weltregion, Lateinamerika mit den aufsteigenden Mächten Brasilien und Mexiko ist eine Weltregion, die südostasiatischen Staaten, die ASEAN wollen sich eine gemeinsame Währung geben – allein ihr Mitglied Indonesien hat 250 Millionen Einwohner, dreimal so viel wie die Bundesrepublik – sind eine Weltregion, Afrika mit seiner rasant wachsenden Bevölkerung und seinem immensen Potenzial kann eine Weltgeion werden. So, sagt Xi Jinping: Das ist die Entwicklung der Welt. Was ist mit Euch Europäern? Seid ihr auch eine Weltregion? Das ist die Frage vor der wir Europäer stehen: Welche Rolle wollen wir im 21. Jahrhundert spielen? Wollen wir unsere Interessen durchzusetzen und die Globalisierung nach unseren Werten mit gestalten? Wollen wir unser demokratisches und soziales Gesellschaftsmodell bewahren? Wie wollen wir den neuen Herausforderungen wie dem Klimawandel, dem interna­tionalen Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität oder Migra­tionsbewegungen begegnen? Es geht also nicht um die Frage Europa Ja oder Nein, es geht um die Frage, welches Europa wir wollen, wie es aussehen und ­welche Erwartungen es erfüllen soll. Und wir müssen all jenen, die Europa abwickeln wollen entgegenhalten, dass ihre Alternative verheerend wäre für die Menschen in Europa.

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Aufbau einer transna­tionalen Demokratie Klar ist, dass wir die EU reformieren, ja vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Hierzu gehört ganz ohne Zweifel ihre weitere Demokratisierung. Ein Meilenstein für die europäische Demokratie war die Europawahl 2014. Bei der Europawahl 2014 ging es um nichts Geringeres als um den Aufbau einer echten transna­tionalen Demokratie. Die Wahl war eine Zeitenwende in der demokratischen Entwicklung Europas. Erstmals waren mehr als 400 Millionen Wähler zur Wahl aufgerufen mit ihrer Stimme auch darüber zu entscheiden, wer Präsident der EU-Kommission wird. Ein Experiment, das es in der Geschichte noch nicht gegeben hat. Was auf der na­tionalen Ebene als normal und selbstverständ­lich gilt, näm­ lich die Exekutive nach einer Wahl einzusetzen, sie in ihrer Arbeit durch die Gesetzgebung zu beauftragen und die Durchführung dieser Arbeit zu überwachen, fehlte auf der europäischen Ebene bislang. Eine überwältigende Mehrheit etwa im Europäischen Parlament hatte dies vor der Europawahl bemängelt und daraus die Konsequenz gezogen, dass nur jemand an die Spitze der nächsten Kommission gelangen soll, der sich zuvor als Kandidat bei den Bürgerinnen und Bürgern vorgestellt und um ein Mandat beworben hat. Auf Deutsch heißt ein solcher Mensch Spitzenkandidat. Dieses Wort hat Eingang auch in viele andere europäische Sprachen gefunden. Es ist ein europäisches Wort geworden. Die großen Parteien traten mit gesamteuropäischen Spitzenkandidaten, gesamt­europäischen Programmen und gesamteuropäischen Wahlkampagnen an. Es gab einen echten Wahlkampf mit Köpfen und Konflikten, jeder Kandidat stellte sein Programm vor und verteidigte es in mehreren TV-Duellen, die in ganz Europa ausgestrahlt wurden. Die verschiedenen Spitzenkandidaten wurden in einem europäischen Verfahren von europäischen Parteien unter Mitwirkung von 27 Regierungschefs nominiert; die Konservativen kürten ihren Kandidaten in Dublin, die Sozialdemokraten in Rom, die Liberalen in Brüssel, die Linken in Madrid, die Grünen per online-­Abstimmung. Die Spitzenkandidaten zogen mit dem Anspruch in den Wahlkampf, dass sie Kommissionspräsident werden. Die Menschen hatten damit eine echte Wahl z­ wischen echten Alternativen, z­ wischen Spitzenkandidaten und deren Programmen für die Zukunft der EU . Eine s­ olche Auseinandersetzung kennen wir alle aus na­tionalen Wahlkämpfen. In Europa gab sie das bisher nicht. Beendet wurde mit der Europawahl 2014 nicht zuletzt die unselige Praxis, dass die Staats- und Regierungschefs das Amt des Kommissionspräsidenten hinter verschlossenen Türen auskungeln und ihren erstaunten Untertanen nach geheimen Beratungen einen Kommissionspräsidenten vorschlagen, dessen Namen buchstäb­lich niemand in Europa vorher auf dem Zettel hatte.

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Demokratische Zeitenwende Der Spitzenkandidaten-­Prozess stellt mit den Worten Jürgen Habermas’ einen „politischen Quantensprung“ dar, der darüber hinaus ohne langwierige Vertragsänderungen durchgesetzt werden konnte. Mit Fug und Recht kann deshalb von einer demokratischen Zeitenwende in Europa gesprochen werden. Denn 2014 gelang es erstmals, dass der neue Kommissionspräsident aus einer öffent­lichen Wahl hervorging und er seine Legitima­tion vor allem aus einer Mehrheit im Europaparlament erlangte. Somit bewegen wir uns mehr und mehr in Richtung eines europäischen Parlamentarismus und eines transna­tionalen Gewaltenteilungsmodells. Selbst das deutsche Bundesverfassungsgericht hatte in seiner viel kritisierten Entscheidung zur Drei-­Prozent-­Sperrklausel die Mög­lichkeit einer solchen demokratischen Weiterentwicklung eingeräumt und damit eine europäische Parlamentarisierung gedank­lich vorweggenommen. Auch wenn ich naturgemäß das Urteil des Verfassungsgerichts im Ergebnis für falsch halte, ist dieser Aspekt bei genauer Analyse zumindest ermutigend. Dagegen blieben andere Einwände gegen die Europawahl zu sehr gebunden in den aktuellen institu­ tionellen Strukturen und Verfahren: So wurde postuliert, dass die europäischen Spitzenkandidaten nicht „automatisch“ die Anwärter für den nächsten Kommissionspräsidenten ­seien. Weiterhin wurde behauptet, das Aufstellen gemeinsamer europäischer Spitzenkandidaten sei eine Wählertäuschung, weil man nur Kandidaten auf den na­tionalen Listen wählen könne und die europäischen Spitzenkandidaten auf keiner europäischen Wahlliste auftauchten. Diese Einwände übersahen in ihrer zwanghaften Ablehnung des neuen Verfahrens das Offensicht­liche: Dass auch nach bundesdeutscher Verfassung nicht „automatisch“ die Spitzenkandidaten das Amt des Regierungschefs erhalten, sondern dass dieser Anspruch in einer jahrzehntelangen Praxis eingeübt wurde und sich allein daraus ergibt, dass es ein Hohn für die Demokratie wäre, wenn nicht einer der zur Wahl stehenden Kandidaten das Amt bekommen würden, für das er nominiert und von den Bürgern gewählt wurde, sondern eine willkür­lich bestimmte dritte Person. Ähn­lich verhält es sich mit der Kritik, dass die europäischen Spitzenkandidaten nur in ihren Heimatländern auf den Wahlzetteln standen und sie dadurch eben nicht europaweit wählbar waren. Auch hier hilft der Blick auf die gängige Praxis in Deutschland, wo man beispielsweise die amtierende deutsche Bundeskanzlerin ausschließ­lich in Mecklenburg-­Vorpommern und ihren damaligen sozialdemokratischen Herausforderer ausschließ­lich in Nordrhein-­Westfalen direkt wählen konnte. Obwohl also eine direkte Wahl nur dort mög­lich war, wo Angela Merkel und Peer Steinbrück auf den jeweiligen Landeslisten kandidierten, haben die

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Wähler zu Recht darauf vertraut, dass ihr Kreuz eine unmittelbare Auswirkung darauf hat, wer nächster Bundeskanzlers in Deutschland wird. So war es auch bei der Europawahl: In Deutschland war ein Kreuz bei CDU/CSU eine Stimme für Jean-­Claude Juncker und eine Stimme für die SPD unterstützte meine Kandidatur als Kommissionspräsident. Ebenso verhielt es sich in allen anderen EUMitgliedsländern, wo man entsprechend seiner Parteien- oder Personenpräferenz seine Wahl treffen konnte. Ein weiterer Punkt, der oftmals gegen den Spitzenkandidaten-­Prozess vorgebracht wurde, war, dass eine Politisierung der Europäischen Union scheitern müsse, da es in Europa bislang keine europäische Öffent­lichkeit gebe. Die Herausforderungen aber, vor denen unser Kontinent steht, sind bereits europäisch bzw. global. Den Bürgerinnen und Bürgern Europas das Recht zuzugestehen, über die Parlamentswahl die Spitze ihrer Exekutive zu besetzen, bedeutet daher nicht, eine unreife Frucht zu pflücken. Es bedeutet, den Menschen dort mehr politische Verantwortung und demokratische Entscheidungsmacht zu geben, wo ihr alltäg­liches Leben, ihre Familie und ihre Arbeit längst nicht mehr nur von na­tionalen Rahmenbedingungen abhängen. Es ist natür­lich richtig, dass die Existenz einer europäischen Öffent­lichkeit mit der Politisierung Europas zusammenhängt; allerdings sehe ich nicht, wie sich ein öffent­liches Bewusstsein herausbilden sollte, ohne, dass Europäer über die europäischen Fragen auch reale Wahlmög­lichkeiten haben und sich darüber politisieren können. Der Spitzenkandidaten-­Prozess ermög­lichte darüber hinaus eine Entwicklung, die für die europäische Demokratie ungemein wichtig ist. Er führt zu mehr Konfronta­tion ­zwischen den im EP vertretenen Parteien, zu lebhafteren Debatten und Auseinandersetzungen. Das ist für jede Demokratie unerläss­lich. Nur im Streit können echte Alternativen entwickelt werden, ­zwischen denen die Bürgerinnen und Bürger auswählen können. Zugleich ist die Sichtbarkeit europäischer Parteien jener Motor, mit dem eine europäische Öffent­lichkeit erst in Fahrt kommen kann. Ohne sie wird es uns nicht gelingen, europäische ­Themen europaweit zu diskutieren und von den na­tionalen Logiken loszulösen. Es gibt kein Zurück Richtig ist, dass europaweit die Wahlbeteiligung mit 43 Prozent in etwa gleich geblieben ist und dass das Modell Spitzenkandidat nicht überall funk­tioniert hat. Während in Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Schweden, Finnland und Litauen teilweise deut­lich mehr Menschen an die Urne gegangen sind, ist in anderen Ländern die Wahlbeteiligung auf ein erschreckend niedriges Niveau gesunken. Auch wenn diese Tatsache alarmierend ist, darf eine niedrige Wahlbeteiligung nicht als Argument herangezogen werden, um politische Legitimität grundsätz­lich zu verneinen. Täte man dies, würde man auch so manchem

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Ministerpräsidenten, Landrat oder Oberbürgermeister in den Mitgliedstaaten seine Legitimität abzusprechen. Eines ist klar: Alle Versuche, das Rad zurückzudrehen, und über den Kommissionspräsidenten in Zukunft wieder am Votum der Menschen vorbei zu entscheiden, sind zum Scheitern verurteilt. Die Geschichte lehrt, dass Parlamente sich ihre Rechte und die der Menschen erkämpfen müssen – und dass sie sich einmal erkämpfte Rechte nicht wieder nehmen lassen. Ich bin fest davon überzeugt, dass bereits weit vor den nächsten Europawahlen 2019 eine intensive europaweite Debatte einsetzen wird, wer für die unterschied­lichen Parteien als Kandidat und Kandidatin für das Amt des Kommissionspräsidenten antreten und dass das Kandidatenkarussell voll besetzt sein wird. Und ich bin überzeugt, dass der Wahlkampf 2019 noch europäischer werden und eine noch größere europäische Dimension haben wird. Mit der Europawahl 2014 und der sich anschließenden Wahl Jean-­Claude Junckers zum Kommissionspräsidenten sind wir einen immensen Schritt zu einem demokratischeren Europa gegangen. Natür­lich funk­tionierte dieser neue Prozess nicht ohne Reibung, allein deshalb, weil mit ihm eine Neuordnung verbunden war. Manche haben an Einfluss eingebüßt – aber die Bürger haben erheb­liche Macht dazu gewonnen. Wir hängen existentiell voneinander ab Angesichts der mehrfachen Krise, in der Europa sich befindet und die ich beschrieben habe, und angesichts der Undurchschaubarkeit der gegenwärtig wirkenden Kräfte und Zusammenhänge ist der Wunsch mancher nach einem Rückzug in die vermeint­liche na­tionalstaat­liche Idylle verständ­lich. Aber es wäre gefähr­lich, sich dieser Illusion hinzugeben. Abschottung verspricht keine Lösung, im Gegenteil: Wir hängen existentiell voneinander ab. Wollen wir unsere Handlungsfähigkeit und unsere Demokratie wahren, dann brauchen wir Europa. Wenn wir nicht zusammenhalten, wenn wir uns in unsere Einzelteile zerlegen, dann driften wir in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit ab. Bündeln wir allerdings die Macht der 28 Staaten, unserer 500 Millionen Menschen und des reichsten Binnenmarktes der Welt, dann können wir etwas bewegen. Ich bin fest davon überzeugt: ein starkes, ein einiges Europa wird die Herausforderungen der Zukunft meistern können.

Bürokratieabbau als Chance für Europa Edmund Stoiber

Ich bin ein Schüler von Franz Josef Strauß, dessen Geburtstag sich in d­ iesem Jahr zum 100. Mal jährt. Als junger Abgeordneter und dann vor allem als sein Generalsekretär habe ich in den 1970er Jahren die großen ideolo­gischen Auseinandersetzungen miterlebt und auch mitgestaltet. Das große Schlagwort lautete damals: „Freiheit oder Sozialismus“ – und es war klar: Wir kämpften leidenschaft­lich für die Freiheit. Am 9. November 1989, als in Deutschland die Mauer fiel und sich der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus abzeichnete, war ich mir ganz sicher: Die Freiheit hat gesiegt. Sozia­lismus, Staatswirtschaft, staat­ liche Bevormundung, Einschränkung von Freiheit und Selbstverantwortung haben verloren, sie werden sozusagen im Orkus der Geschichte verschwinden. Heute, im Jahr 2015 stelle ich fest: Ich habe mich erheb­lich getäuscht. Die Freiheit hat sich in den letzten 24 Jahren nicht die Bahn gebrochen, wie ich es erwartet hatte. Natür­lich geht es heute nicht mehr um „Freiheit oder Sozialismus“ im damaligen Sinne. Aber es geht um einen anderen, ähn­lichen Antagonismus: Auf der einen Seite stehen nach wie vor Wettbewerb, Selbstverantwortung und Freiheit. Und auf der anderen Seite steht heute der umfassend planende, wirtschaftende, vorsorgende und betreuende Staat. Kurz gesagt: Es geht heute in unserer Gesellschaft ganz wesent­lich um die Frage „Freiheit oder Sicherheit“. Was hat das nun alles mit Bürokratie zu tun? Sehr viel! Denn das gesellschaft­ liche und politische Klima in Deutschland und in ganz Europa verlangt ganz eindeutig vor allem nach mehr Sicherheit und nach Einschränkung der Marktwirtschaft. Das ist das oberste Leitmotiv und die Erwartung einer großen Mehrheit der Bevölkerung. Lebensmittel, Arzneien, Bauwerke, Straßenverkehr, Arbeitswelt, Finanzwirtschaft: die große Mehrheit der Menschen will größtmög­liche Sicherheit – nur bitte unbürokratisch. Sie will, dass „nichts passiert“. Und wenn etwas passiert, dann wird sofort der Ruf laut: „Wie konnte das geschehen? Gab es denn da keine Regelung? Hat das denn niemand kontrolliert?“ Diese gewachsene Skepsis gegen die Mechanismen des freien Marktes, auch gegen die Soziale Marktwirtschaft, ist überaus bedenk­lich. In ­diesem Klima wird ein immer dichterer Teppich von Regelungen über das Land gelegt. Auf allen Ebenen arbeiten in ganz Europa tausende Politiker und ebenso viele Beamte unentwegt daran, das Leben der Menschen zu verbessern. Niemand will ja das Leben der Menschen verschlechtern – jedenfalls würde ich das niemandem unterstellen. Die Methode der Verbesserung sind Regeln, Gesetze, Vorschriften. Darum drehen sich der gesamte politische Betrieb und die Aktivitäten der Verwaltungen.

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Europa steht bei dieser Entwicklung ganz vorne. Denn sage und schreibe 85 Prozent aller Rechtsbefehle, die auf uns in Deutschland niederprasseln, haben ihren Ursprung nicht in München oder Berlin, sondern in Brüssel. Warum ist das so? Weil in den letzten Jahrzehnten immer mehr Kompetenzen von den Na­tionalstaaten auf die EU übertragen wurden. Europa regelt, weil es die Kompetenz hat. Natür­lich ist die Frage der Bürokratie auch auf der bayerischen und auf der deutschen Ebene ein Thema. Da gibt es auch genügend Bürokraten. Aber wegen der wachsenden Zuständigkeiten ist es vor allem auch ein europäisches Thema. Denn es wird natür­lich exzessiv in Brüssel von all diesen Zuständigkeiten Gebrauch gemacht. Jedes Jahr erlässt die Europäische Union über 1.000 neue Verordnungen. Eine wesent­liche Ursache für die Zunahme europäischer Regelungen gerade auch im Bereich des Umwelt-, Gesundheits- und Lebensmittelrechts ist, dass im Binnenmarkt europäisches Recht die unterschied­lichen Vorschriften in 28 Mitgliedstaaten ersetzt. Dies erleichtert den Unternehmen in hohem Maße ihre Tätigkeit und wird von diesen auch immer wieder eingefordert. Allerdings wird die Binnenmarkt-­Klausel des EU-Vertrages von der EU immer noch zu extensiv ausgelegt, um immer mehr Bereiche immer detaillierter und damit auch bürokratischer zu regeln. Die echte politische Diskussion über neue Regelungen findet in den Mitgliedstaaten allerdings oft erst statt, wenn die Grundsatzentscheidungen in Brüssel schon längst getroffen sind, weil die wachsende Bedeutung Europas für die Rechtsetzung immer noch viel zu wenig gesehen wird. Und dann gibt es immer wieder Regelungen, die keine Akzeptanz finden und für Unmut sorgen, zum Beispiel die neuen, energiesparenden Glühbirnen oder die konkreten Umsetzungen der Öko-­Design-­Richtlinie mit stromsparenden Staubsaugern oder Föns. Es geht letzt­lich beim Thema der Regulierung um das Spannungsfeld ­zwischen Freiheit und Selbstverantwortung auf der einen und Sicherheit durch den Staat auf der anderen Seite. Die Auflösung ­dieses Spannungsfeldes liegt nicht mehr in der De-­Regulierung, im Abbau von Gesetzen. Das war noch der Ansatz von Maggie Thatcher in den 1980er Jahren. Ich sage aus meiner Erfahrung: Das ist vorbei, dafür gibt es überhaupt keinen gesellschaft­lichen Konsens. In unserer komplexen und komplizierten Welt wird es tendenziell immer mehr Regelungen geben. Und deshalb ist es so wichtig, diese so wenig belastend wie mög­ lich auszugestalten und nicht nur pauschal einen Bürokratievorwurf gegen Brüssel zu erheben. Worum es geht, ist also das richtige Maß. Dafür sehe ich zwei große Maßstäbe. Erstens: Weniger Gängelung in den Fragen des täg­lichen Lebens – von der Krümmung der Gurke bis zum Salz auf der Brez’n – und mehr Leitplanken in den wirk­lich großen Fragen – vom Klimaschutz bis zu europäischen Standards im Datenschutz. Und zweitens: ein Minimum Mut zur Lücke. Wer maximale Sicherheit will, der wird sie ohne Vorschriften und Kontrollen nicht bekommen. Vorschriften

Bürokratieabbau als Chance für Europa

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und Kontrollen, das ist die Bürokratie. Jeder, der weniger Regulierung fordert, muss sich die Frage stellen: Bin ich zu Abstrichen an der Sicherheit bereit? Zu mehr Risiko? Hans-­Gert Pöttering weiß, er ist ein außerordent­lich unvorsichtiger Mann. Denn er trägt – soweit ich weiß – ledig­lich einen Gürtel, damit seine Hose nicht rutscht. Der Gürtel könnte aber auch reißen. Also sollte er doch sicherheitshalber auch noch Hosenträger anlegen. Und wenn nun doch alles schief geht, der Gürtel platzt und die Hosenträger reißen? Dann sollten er doch lieber auch noch Hose und Hemd mit einer Sicherheitsnadel verbinden. Die meisten Vorschriften sind heute nach dem Prinzip der Dreifach-­Sicherung konzipiert. Hier kann man und hier muss man auch ansetzen. Wir sollten uns öfter auf eine Sicherung verlassen. Der Gürtel ist sicher genug. Das ist eigent­ lich das, was man heute smart regula­tion nennt. Sieben Jahre lang habe ich mich ehrenamt­lich für mehr Bürgernähe und weniger Bürokratie in der EU engagiert. Den Abschlussbericht dieser Arbeit der High level Group zum Bürokratieabbau habe ich Ende letzten Jahres an den noch amtierenden Kommissionspräsidenten Barroso und dann auch an seinen Nachfolger Jean-­Claude Juncker übergeben. Mit den Ergebnissen der letzten sieben Jahre bin ich sehr zufrieden. Wir haben deut­lich mehr erreicht, als ich selbst erwartet hatte: Das gilt zum einen für die Zahlen: 33 Milliarden Euro Entlastung für die europäischen Unternehmen aufgrund unserer Vorschläge. Für Deutschland beträgt die Entlastung rund 6,5 Milliarden Euro. Vor allem aber schreibe ich uns auf die Fahnen, dass wir durch unsere ständigen Mahnungen und Hinweise einen Umdenkungsprozess in der Kommission und in Brüssel insgesamt mit angestoßen haben. Präsident Barroso gebührt dabei ein großes Kompliment: Er hat eine Art politscher Revolu­tion angezettelt, indem er mit der jahrzehntelangen Grundeinstellung gebrochen hat, jede noch so detaillierte EU-Regelung sei automatisch gut für die europäische Integra­tion. Er hat erkannt, dass „Weniger“ manchmal auch „Mehr“ sein kann. Und er hat mit seiner „Rede zur Lage der Union“ im September 2013 endgültig eine Richtungsänderung der EU-Politik eingeleitet, als er sagte: „Die EU soll sich in großen Fragen stark engagieren und in kleineren Fragen zurückhalten.“ Barrosos Nachfolger Jean-­Claude Juncker knüpft mutig an diese Aussagen an und macht ernst. Zum ersten Mal wird das Empfinden der Bevölkerung, dass die EU zu viel Bürokratie verursacht, zum Maßstab der Politik gemacht. Das ist ein Quantensprung und eine große Chance für die Europäische Union. Dieser innere Reformprozess ist nach meiner Überzeugung unumkehrbar: Es wird nicht mehr so bürokratisch sein können, wie es einmal war. Es wäre jedenfalls bis vor kurzem unvorstellbar gewesen, dass der herausgehobene erste Vize-­ Präsident Frans Timmermans in erster Linie die Aufgabe hat, für eine bessere Rechtsetzung und weniger Bürokratie zu sorgen. Und dass er dazu sogar ein Vetorecht bekommen soll. Gleiches gilt für den unabhängigen Ausschuss für

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Regulierungskontrolle, mit dem meine zentrale Forderung weitgehend erfüllt wird. Bis dato galt es als ausgeschlossen, dass externe Persön­lichkeiten außerhalb der Kommission einem solchen Ausschuss angehören und dass die Mitglieder des Ausschusses unabhängige Vollzeitbeschäftigte sein sollen. Das kann zu dem Bürokratie-­Check vor jeder neuen Rechtsetzung führen, den ich seit Jahren fordere. Es darf kein Gesetz mehr beschlossen werden, bei dem nicht vorher die Bürokratiekosten auf Euro und Cent beziffert sind. Das müssen unabhängige Experten berechnen. Und dann muss die Politik entscheiden und auch die Verantwortung dafür übernehmen. Dies hat sie bisher oft nicht getan und den Vollzug des Gesetzes lautstark kritisiert. Meine Arbeit ist also durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen. Unter diesen Umständen wollte ich mich dem Werben Jean-­Claude Junckers nicht entziehen, meinen Rat und meine Erfahrungen als Sonderberater der EU-Kommission weiter ehrenamt­lich zur Verfügung zu stellen. Bürokratie ist für die meisten Unternehmen eine schlimmere Geisel als etwa zu hohe Steuern. Bürokratie schnürt den Unternehmergeist ab. Mit Gürtel, Hosenträger und Sicherheitsnadel werden wir kein neues Wirtschaftswunder für die Europäische Union schaffen. Bürokratieabbau wirkt wie ein kostenloses Konjunkturprogramm für Wachstum und Beschäftigung, weil es keine Gegenfinanzierung braucht. Noch wichtiger ist aber die politische Dimension: Aus Umfragen wissen wir, dass in Deutschland 43 Prozent der Bevölkerung die EU in erster Linie mit Bürokratie verbinden. Der EU -Durchschnitt liegt immerhin bei 26 Prozent. Das kann man nicht so hinnehmen, wenn den Europagegnern nicht Tür und Tor geöffnet werden soll. Die Europäische Union muss den Bürgern signalisieren: „Wir haben verstanden!“ Sie kann es sich schlicht nicht mehr leisten, wegen irgendwelcher Nebensäch­lichkeiten am Pranger zu verstehen. Um den Populisten von Strache über die AfD und Beppe Grillo bis hin zu Marine Le Pen nicht noch mehr Raum zu geben, muss die Europäische Union der Bürokratie den Kampf ansagen! Bürokratieabbau ist eine Chance für Europa. Sie muss jetzt, in dieser Legislaturperiode entschlossen genutzt werden!

Geisteshaltung und Europäischer Humanismus Jean-­Louis Tauran

Europa verdankt seine Identität weder einem Territorium noch einer Ethnie, sondern „einer Geisteshaltung”, seiner Kultur; und der Grundstock dieser Kultur ist christ­lich. Tatsäch­lich gibt es einen europäischen Humanismus christ­ lichen Ursprungs. Man darf sicher­lich nicht die Präsenz des Judentums, den Beitrag der arabischen Philosophie und die Fragestellungen der Aufklärung unterschätzen, aber unter diesen Instanzen hat nur die katho­lische ­Kirche zur Bildung der meisten europäischen Institu­tionen wie Schulen, Universitäten, Krankenhäuser beigetragen. Dieser europäische Humanismus hat – mit Ausnahme eines Großteils des vergangenen Jahrhunderts – eine Diskussion ­zwischen Glauben und Vernunft mög­lich gemacht. Ein der Transzendenz gegenüber offener Humanismus, der noch heute – trotz der Säkularisierung und des Relativismus im heutigen Umfeld – den Christen erlaubt (und ganz allgemein allen Gläubigen), sich dem Vorrang der Ethik in Bezug auf die momentan vorhandenen Ideologien, der zentralen Stellung des Menschen im Vergleich zu den Dingen, die Überlegenheit des Geistes über die Materie zu entsinnen. Dementsprechend beinhaltet der Vertrag der Europäischen Union die „Werte der Union”: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaat­lichkeit und die Wahrung der Menschenrechte (Art. 1 und 2). „Nicht die Europäische Union hat diese Werte gewählt, sondern es waren vielmehr diese geteilten Werte, die zu ihrem Entstehen geführt haben und die zur treibende Kraft geworden sind, die die verschiedenen Na­tionen, die sich nach und nach angeschlossen haben, zum Kern der Gründerstaaten hingezogen haben.“ 1 Wie kann man ­dieses Europa definieren? Wie ein „Zusammenleben” nach Regeln, die gemeinsam vertreten werden, Regeln, die sich an den im Verfassungsvertrag aufgezählten Werten inspirieren: Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität, Nichtdiskriminierung. Man könnte sagen, dass Europa „mehr vom Willen als vom Erbe abhängig ist” (Pierre de Charentenay). Man sollte sich aber zuerst den Hintergrund der europäischen Politik der 1950er Jahre ins Gedächtnis rufen. Obwohl Frankreich durch den Marshall-­Plan unterstützt wurde, war das Land 1950 im Vergleich zu Deutschland großen wirtschaft­lichen Schwierigkeiten ausgesetzt, während Deutschland seine Wirtschaft erfolgreich wieder aufbaute. Die Überlegenheit der deutschen Stahlindustrie ließ einen neuen Krieg befürchten. Die Geschichte hat näm­lich den Beweis erbracht, wie wichtig für Deutschland und Frankreich die Kontrolle der Produk­tionsgebiete von Kohle und Stahl sind,

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die sich beide Länder teilen. Eine kleine Gruppe von Personen wird daraufhin ­zwischen dem 16. April und dem 16. Mai den zukünftigen EGKS-Vertrag (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) ausarbeiten, dessen geistiger Vater Jean Monnet war. Es ist ganz offenkundig, dass er dabei vordergründig die Vereinigung der wesent­lichen Interessen der europäischen Staaten unter einem rein politischen Gesichtspunkt anstrebte, d. h. den Wohlstand und den Frieden in einem mittlerweile gemeinsam geteilten Schicksal. Es folgten die Römischen Verträge und der Euratom-­Vertrag. Alle diese Dokumente haben folgende Punkte gemein: 1.) gemeinsame wirtschaft­liche Ziele; 2.) Schaffung von unabhängigen Institu­tionen zu deren Überwachung (Kommission und Gerichtshof); 3.) Freier Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und nicht zuletzt Personenverkehr in einem gemeinschaft­lichen Raum. Ich denke, dass der gemeinschaft­liche Aufbau an einer Stelle aus den Mémoires von Jean Monnet sehr gut zusammengefasst ist: „Die Perspektiven, die sich heute für Europa eröffnen, sind dadurch mög­lich geworden, daß die Länder Europas eingewilligt haben, ihre wirtschaft­lichen Probleme nicht mehr länger als na­tionale, sondern als gemeinsame Probleme zu sehen. Um sie zu lösen haben sie eine neue Methode gemeinschaft­lichen Handelns übernommen.“ 2 Auch wenn Europa aufgrund von wirtschaft­lichen Interessen entstanden ist, so kann man nicht bestreiten, dass es auch ein geistiges Anliegen gab. Mehrmals wird in den Dokumenten der damaligen Zeit von der Vereinigung Europas als Faktor des Friedens für die Kontinente und die ganze Welt gesprochen. Ich möchte hier eine Seite aus dem Buch von Robert Schuman „Pour l’Europe” nicht unerwähnt lassen: „Dieser Gedanke eines wiederversöhnten, einigen und starken Europas soll von nun an das Motto der jungen Genera­tion sein, die einer end­lich von Haß und Angstbefreiten Menschheit dienen wollen, einer Menschheit, die nach langem Streit wieder die christ­liche Brüder­lichkeit lernt.“ 3 Das Christentum „hat den Vorrang der inneren Werte erkannt, die allein den Menschen adeln. Das allgemeine Gesetzt der Nächstenliebe und Barmherzigkeit hat aus jedem Menschen unseren Nächsten gemacht, auf ihm beruhen seitdem die gesellschaft­lichen Beziehungen der christ­lichen Welt … Wenn wir also in der zeitgenös­sischen Politik tiefe Spuren des christ­lichen Denkens finden, so darf das Christentum doch nicht von einem politischen Regime in Anspruch genommen oder mit einer Regierungsform – und sei sie demokratisch – identifiziert werden. In ­diesem Punkte wie in anderen muß man einen Unterschied ­zwischen dem Reich Cäsars und dem Gottes machen. Diese beiden Gewalten haben jede ihre eigenen Verantwort­lichkeiten. Die ­Kirche muß über die Achtung der natür­lichen Gesetze und der enthüllten Wahrheiten sorgen; ihre Rolle ist hingegen nicht, konkrete Dinge zu beurteilen, die von den praktischen

Geisteshaltung und Europäischer Humanismus

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Gesichtspunkten der Opportunität und den Mög­lichkeiten der psycholo­gischen und historischen Entwicklung abhängen. Die Aufgabe der verantwort­lichen Politiker besteht darin, die beiden Standpunkte, den geistigen und den profanen, in einer oft delikaten, aber notwendigen Synthese miteinander zu versöhnen … Zwischen diesen beiden Forderungen, der einen unveränder­lichen, auf die Prinzipien bezogenen Doktrin und der einen weisen Anwendung der wechselnden äußeren Umstände, denen man für das Leben der Völker wie das der Einzelpersonen Rechnung tragen muß, besteht jedoch kein unüberbrückbarer Gegensatz.“ 4 Resümee Mir kommt in den Sinn, dass all diese Versuche zum Dialog ­zwischen den religiösen Vertretern und den Verantwort­lichen der Politik nichts anderes sind als die Suche, Gott einen Platz im Leben der Gesellschaft zu geben. Es scheint mir, dass die Gründerväter sehr ähn­liche Erfahrungen geteilt haben: –– Sie sind in der Nähe unsicherer Grenzen aufgewachsen. –– Sie haben totalitäre Regime bekämpft. –– Sie waren überzeugte Christen. Sie haben sehr viele gemeinsame Überzeugungen geteilt: –– Der Friede wir durch die Versöhnung der Völker geschaffen werden. –– Im Krieg sind alle Übel zusammengefasst. –– Die Schwächung von Deutschland ist keine Lösung. –– Ein vereintes Europa wird ein Europa des Wohlstands sein. Sie haben sich geeinigt, das Bündnis von Europa ausgehend von der Wirtschaft zu beginnen, um die Zusammenarbeit ­zwischen den Staaten und den Völkern zu fördern und eines Tages zur politischen Einheit zu gelangen. Letztend­lich waren die „Gründerväter von Europa” überzeugt, dass Europa den Frieden nicht durch ein Mächtegleichgewicht (wie nach dem Wiener Kongress von 1815) erreichen würde, sondern durch Verzeihen und Versöhnung.

1 Rede von Benedikt XVI. an den Delega­tionsleiter der Kommission der EU beim Heiligen Stuhl, 19. Oktober 2009. 2 Jean Monnet: Erinnerungen eines Europäers. Baden-­Baden 1988, S. 560 (frz. Originalausgabe: Memoires. Paris 1976). 3 Robert Schuman: Für Europa. Hamburg/Genf/Paris 1963 (frz. Originalausgabe: Pour l’Europe. Paris 1963), S. 54. 4 Ebd., S.  70 – 73.

The challenge for Europe in the years ahead Towards a new Euro-realism Donald Tusk

On 1 December 2014, I arrived in Brussels from Warsaw to take up the presi­ dency of the European Council. For the Union’s institu­tions, it was the final act of a season of political renewal that had started with the European elec­tions. For me personally, it was the beginning of a new life, a great honour and – as I had no doubt at the time – a great challenge. As expected, the months that followed were far from boring. Europe would endure terrorist attacks, aggression against our neighbours, aircraft tragedies, maritime emergencies and the dangerous uncertainty of the Greek situa­tion. For most of these challenges, the European Council – with myself as its chair – was called upon to help organise the continent’s response. I have always been drawn to the idea of ‘Europe’ as a community that became a Union in order to strengthen its na­tion states, not to replace them. (Alan ­Milward put the idea nicely in his ‘The European Rescue of the Na­tion State’, published in the early 1990s, but still relevant today.) My experiences in Communist Poland mean I will never believe in political utopias. But I do believe that the European Union is robust enough to navigate its current difficulties because we have the right values. History will bear this out. The events of 2015 – coupled with the political dynamics around the Greek situa­tion and Britain’s European debate – show that our Union has indeed reached a crossroads, often prematurely announced in the past. The crossroads is the current political moment, just as Europe’s economy returns to sustained growth. One path from this crossroads goes, respectively, towards an obscurity and inwardness that Europe has never known in modern times. The other path, which I believe we are taking, leads to the birth of a new euro-realism. This is a destina­tion where the Union is certainly not perfected, but where we do not give up on its perfectibility. It is also a place where popular expecta­tions of the European Union and political delivery by the Brussels institu­tions are more closely aligned than perhaps they have been hitherto. The reader might expect me to develop such an idea with reference to the most important issue facing the Union today, and one that dominates much of my time: the economy and the vitality of economic and monetary union. That is certainly a dominant concern and one most directly linked to Europe’s future. But I would like instead to begin with the migra­tion debate and the future of the Schengen area of passport-free travel. These are issues which also matter to the man and woman on the street and which are also shaping European politics. In

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addi­tion, there are parallels between Schengen and the eurozone: rules, trust, solidarity and responsibility are central to the opera­tion of both. In the south, a toxic mix of poverty, state failure in Libya, a demographic boom in Africa and networks of ruthless and well-informed smuggling gangs have made the Mediterranean a place of spectacular tragedy. Understandably, front-line member-states have called for help. And the European Union, rightly, has mobilised into ac­tion. We tripled the size of our maritime border opera­tions off the coasts of Italy and Greece. We launched a naval mission to confront the smugglers directly. And we dispatched EU personnel and assistance to the worst affected parts of our common border to screen irregular arrivals and interview those in need of interna­tional protec­tion. At the European Council throughout 2015, the European institu­tions and member states negotiated and debated their way towards a new approach which involves mobilising trade, development and diplomacy in order to incentivise the countries of origin and transit to work with us on the return of irregular arrivals. In other words, we are getting there, albeit slowly and under great pressure of events. This issue has seen Europe struggle with the meaning of its own values, informed by the European humanist tradi­tion and tradi­tion of providing asylum to those in need of refuge. Leaders agree on the need for European states to respect their responsibilities under the Geneva Conven­tion. That is why European Council in June was able to agree on the reloca­tion and resettlement of 60,000 refugees in addi­tion to the 600,000 applica­tions that member-states are dealing with each year. During this period, a great deal of our time was spent debating the legal balance between Brussels and the member states on immigra­tion and asylum policy. This brought home to me the price of focusing on tangential, and often legalistic, issues instead of fully confronting the actual substance of crises. A more euro-realist approach would have begun by asking: “The Schengen area is one of Europe’s most precious achievements. Whose job is it to take care of it? How can we make it more robust during the current crisis?” In future, to preserve and extend passport-free travel, we cannot be deaf to the idea that membership of Schengen entails not only rights but also responsibilities; that governance matters. Not just for the politics of the European Union but for maintaining public consent for open borders and the asylum system. The public must know the system works and see it working. The future of Schengen also relies greatly on whether the European Union can construct a func­tioning internal security policy. I underlined the importance of this to the European Parliament in the first address I made in Strasbourg. The January 2015 terrorist atrocities by Islamic extremists against Charlie Hebdo and the attack in Copenhagen a few weeks later highlighted the need to do more on cross-border security at European level. So too have subsequent events in Europe and across the world from Tunisia to Kuwait.

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I remember walking with President Holland, Chancellor Merkel and many others during the leaders’ march from Republique to Na­tion on 12 January. Not unreasonably, the French people demanded that their government make them safe. That request applied by extension to the European Union, and still does. This is why the European Council in February produced a solid counterterrorism work-plan that has resulted in a significant increase in the quantity and quality of intelligence on Islamist radicals being shared between European governments, as well as various other improvements in security co-opera­tion. One of the key priorities for the February European Council was to create an EU system for sharing passenger name records. PNR is a security tool that is accepted as standard elsewhere in the developed world. It has become a sine qua non to help police tackle serious and organised crime in an age of m ­ obility. Yet at the time of writing the required legisla­tion was only passing through the European Parliament at a glacial rate, despite having already been under discussion for several years. It is not credible that Europe’s main response to a terrorist attack in January 2015 is delivered only the following December, or perhaps even later. The march from Republique to Na­tion must reach a euro-­ realist destina­tion called Union. Immigra­tion and domestic security have become intimately linked to foreign policy in a way which I could not have imagined when I first entered politics. One example is our neighbour Tunisia, which was attacked last March by the same dark ideology that has struck France twice so far at the time of writing. Tunisia is a proud, young North African democracy that is threatened by Islamic extremists, as is neighbouring Libya. Furthermore, our ability to manage our borders depends on our capacity to work with a range of na­tions outside the European Union. We need to make ‘co-opera­tion’ a working reality to ensure global mobility is an orderly process based on rules and norms that apply equally to us, our partners and the migrants themselves. The European Union is beginning this process anew, after several inconclusive attempts in the past, notably with the Valletta Conference, to be held with African countries in November 2015 and in our bilateral discussions with other neighbours. Key steps have already been taken. But in the uphill struggle to convince countries of origin to work with us on immigra­tion, it will be essential that the Union’s different policies – migra­tion, security, development, trade – work together with the foreign policy structures to deliver a sense of control over migratory flows. No one policy area or group of professionals can afford to act as if their concerns are separate from this emergency. This is what Spain realised and achieved so well with its West African migra­tion policy in 2008. Legalistic thinking and the tyranny of process for the sake of process are not nearly as important as showing the Union can achieve real results quickly. I am talking here about migra­tion but that truism applies to all the other priorities facing us: counter-terrorism, climate change, humanitarian aid and our efforts to

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support the independence of Ukraine. The European Union cannot be a ‘house divided against itself’, as the biblical proverb goes. How well it co-ordinates internally matters greatly for its credibility. To think that it can be otherwise is deeply unwise. If there is one area in which I hope above all for the emergence of a new Euro-realism, it is Britain’s European debate. The UK’s decision to hold a refe­ rendum on EU membership before the end of 2017 is a fateful one for Europe. It is a choice that I respect fully. I have always observed that Britain’s debate can often be more about feelings than truths, a venerable tradi­tion that probably goes back before 1066. I do hope that the coming debate will be one that is constructive for the UK and for Europe. If the discussion is not substantive and based on hard facts, the historian in me fears that it will be a missed opportunity, also for the Union as a whole. If one is honest, there are very few na­tional debates on Europe that are not based on gut feeling, even when these arise from clear mispercep­tions. So perhaps it is unfair to expect more of Britons than of any other member state. However, I do expect Britain to honour the fundamental principles of the European Union which apply equally to all countries. It is hard to imagine a Europe without the UK . I hope that I never have to. As to Britain’s calls for reform, I have always supported the idea that the European Union can and should work better. Indeed as I do my work day-to-day it is hard not to look at the European institu­tions through the critical eye of a former Prime Minister. I think a first great challenge is greater accountability and the need to avoid what might be called in my Eastern European homeland, ‘political hypocrisy’. Elsewhere, this is known as the need for Europe to deliver and to stick to what it says it will do. In other words: European Union cannot just be words. It cannot exist just to opine, especially in areas where it has no formal power. There are constitu­tional boundaries which must and will be respected. But, to my mind, that would be more lastingly achieved by the kind of fundamental change in working culture I have tried to express here rather than embarking on a treaty revision process that would take the rest of this decade to complete. As Shakespeare might have put it, “the fault, dear Brutus, lies not in our stars, but in ourselves”. The above are just a few impressions from two or three important policy areas that dominated events in 2015. But I could continue on across the board. When I say a change in working culture is needed, I am not just talking about the institu­ tions only but also at na­tional level as regards European co-opera­tion. As I said in the beginning, I have the impression that the next weeks and months will be absolutely ground-breaking for European integra­tion. Our political project that has always seemed a monotonous set of venerable institu­tions is increasingly becoming like a volcano for public frustra­tions. It may lie dormant for quite some time. But equally, it may erupt anytime and we will probably come close to an erup­tion for real change to begin.

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I am sometimes asked “what is your vision for Europe”? To a great degree, the President of the European Council is bound by the consensus of that institu­ tion, and rightly so. It is a role in which one ‘leads from behind’, through the practice of consulta­tion and the power of persuasion. I certainly have a vision for the Council’s work which is that what its decisions should always pass a ‘double test’ of adding significant value each time we conclude something, and be a proper reflec­tion of what leaders have actually agreed politically, not merely the final stop on the bureaucratic express. But in terms of a broader vision, I believe that the Union today faces existential enemies and challenges within. Both must be confronted and the sooner the better. The European Union must and will be part of the solu­tion, not a fresh source of problems. It is a servant, not a master. Not being a source of problems means delivery to the member states and European citizens with a policy process that is as intelligible as possible. ‘Constructive ambiguity’ may have worked in the past during Europe’s long holiday from history, which might be said to have ended around 2005 with the rejec­tion of the constitu­tional treaty. Up to that point, ‘constructive ambiguity’ was indeed necessary to build Europe. But, to keep Europe, we now need clarity. History is back in Europe with a vengeance. Our old ways of working will no longer suffice. Lazy assump­tions are being challenged and interrogated. Although it has always been and will always be a consensual project, the Union must become a bit more comfortable with conflict because we have entered a time of political confronta­tions. This is actually a very exciting time, not a period of anxiety. In the Europe I would like to see by the end of this decade, the European Union is a cosmopolitan beacon of rising prosperity and a globally responsible actor. Russia is a respectful and respected neighbour. Britain is as content a member of the Union as she is cherished. Mobility within the Union is secure and extendable to others who reach our standards. And European citizens clearly recognise themselves and their values in a common political project firmly rooted in realism.

Das Europäische Parlament als europäischer Gesetzgeber Klaus Welle

Als 1979 die erste Direktwahl der Abgeordneten zum Europäischen Parlament stattfand, war von der wichtigen Rolle, die das Europäische Parlament heute ausfüllt, noch wenig zu spüren. Heute entscheidet das Europäische Parlament über 90 Prozent aller europäischen Gesetzgebung auf Augenhöhe mit dem Rat der Europäischen Union. Das Parlament beschließt über EU -Finanzinstrumente und Ausgaben-­Pro­ gramme; es entscheidet unter anderem mit bei der Gesetzgebung in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Energie, der Bankenaufsicht und in den Bereichen Justiz und Inneres sowie bei spezifischen Strafrechtsangelegenheiten. Bei vielen interna­tionalen Verträgen einschließ­lich Handelsabkommen hat es sogar das letzte Wort. Für viele politische Beobachter ist Hans-­Gert Pöttering untrennbar mit dieser positiven Entwicklung des Europäischen Parlaments verbunden. Er gehört zur Gründergenera­tion des Europäischen Parlaments. Zum ersten Mal gewählt 1979 bei der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament, hat er in den 35 Jahren seiner Tätigkeit als Europaabgeordneter wesent­lich dazu beitragen, aus den ursprüng­lich geringen Kompetenzen das Maximum herauszuholen und das Parlament zu jener starken und selbstbewussten Institu­tion aufzubauen, die sie heute ist. Es ist Politikern wie Hans-­Gert Pöttering zu verdanken, dass das Europäische Parlament sowohl zum Gesetzgeber auf Augenhöhe mit dem Rat als auch zum gleichberechtigten zweiten Arm der Haushaltsbehörde der Europäischen Union wurde. Als Präsident des Europäischen Parlaments von 2007 bis 2009 hatte er einen wesent­lichen Anteil daran, dass nach den negativen Referenda in Frankreich und den Niederlanden über den Europäischen Verfassungsvertrag der 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon verwirk­licht werden konnte: ein Quantensprung in der europäischen Einigung. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hat sich aber das „Geschäftsmodell“ der Europäischen Union nachhaltig verändert. Krisenmaßnahmen, die, an einem Tag in Brüssel beschlossen, bereits am nächsten Tag mit direkten Auswirkungen auf die Menschen spürbar wurden, rückten Prozesse und Entscheidungen der Europäischen Union in einer noch nie dagewesenen Intensität in der Mittelpunkt des Lebens der Menschen. Damit wuchs exponentiell auch die Notwendigkeit demokratischer Legitimierung des Handelns der Europäischen Union. Einer Legitimierung, die von Anfang an und den gesamten Beschlussfassungsprozess begleitend, vom Europäischen

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Parlament als einzige direkt gewählten Vertretung der Bürgerinnen und Bürger Europas gesichert werden muss. Diese verstärkte Rolle und zusätz­liche Verantwortung des Europäischen Parlaments basiert aber nicht ausschließ­lich auf den erfolgten Änderungen der Europäischen Verträge. Das Europäische Parlament hat seine Posi­tion in der Praxis gestärkt. Anders ausgedrückt: Das Parlament hat die Spielräume innerhalb der bestehenden Verträge maximal genutzt. Verfassungswirk­lichkeit entsteht durch Praxis. Angesichts der politischen und wirtschaft­lichen Entwicklungen hat das Europäische Parlament seine Rolle als Gesetzgeber neu überdacht. Das Parlament ist gleichberechtigter Gesetzgeber im Europäischen Prozess und zugleich wesent­ licher politischer Akteur auf der Brüsseler Bühne. Damit ist eine Konzentra­tion auf den eigent­lichen Gesetzgebungsakt allein nicht mehr ausreichend und die Ausdehnung der parlamentarischen Aktivitäten auf den gesamten Zyklus der Gesetzgebung unumgäng­lich. Ziel ist eine aktive und intensive Mitgestaltung während des gesamten Politik- und Legislativprozesses, vom Agenda-­Setting über die Konsulta­tion bis hin zur Überprüfung und Kontrolle der Umsetzung des Beschlossenen. Heute versteht das Europäische Parlament seine Rolle als pro-­aktiver Gesetzgeber im Interesse und Auftrag der Bürgerinnen und Bürger darin, dass es mit seiner Arbeit den gesamten legislativen Kreislauf abdeckt und in allen vier Phasen ­dieses Zyklus eine tragende Rolle einnimmt: –– Mitbestimmung der politischen Agenda: Das Europäische Parlament strebt eine frühzeitige inhalt­liche Posi­tionierung an, um so die jähr­lichen Arbeitsprogramme der Europäischen Kommission als auch deren Mehrjahresprogramm nachhaltig beeinflussen zu können. –– Konsulta­tion: In den Bereichen in denen die Europäische Kommission tätig werden möchte, führt das Europäische Parlament verstärkt eigene Konsulta­ tionen wesent­licher Akteure durch. –– Gesetzgebung: In ­diesem Kernbereich der parlamentarischen Tätigkeit verstärkt das Europäische Parlament seine Kompetenz durch eine effizientere Unterstützung der Arbeit seiner Mitglieder. –– Überprüfung: Das Europäische Parlament legt ein größeres Augenmerk auf eine fristgerechte Umsetzung und eine korrekte Implementierung europäischer Gesetze und Regelungen. Besonderes Augenmerk gilt den delegierten Rechtsakten und der tatsäch­lichen Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates. In den vergangenen Jahren hat das Europäische Parlament in diesen vier Bereichen seine Arbeitsmethoden angepasst und modernisiert, sowie neue Funk­ tionen und zusätz­liche Unterstützung für die Abgeordneten eingeführt. Damit wird das Parlament zu einem entscheidenden Akteur quer durch alle Phasen der europäischen Gesetzgebung (vgl. Grafik 1).

Das Europäische Parlament als europäischer Gesetzgeber

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1. Das Setzen der Agenda Am Beginn eines Gesetzgebungsprozesses steht die Themensetzung. Zu w ­ elchen Fragen soll die Union überhaupt gesetzgeberisch tätig werden? Auf europäischer Ebene ist man schnell dazu verleitet, diese Aufgabe der Europäischen Kommission zuzuweisen. Tatsäch­lich empfiehlt sich hier jedoch ein Blick auf Artikel 17 des Vertrags über die EU: „Die Kommission (…) leitet die jähr­liche und die mehrjährige Programmplanung der Union mit dem Ziel ein, interinstitu­ tionelle Vereinbarungen zu erreichen.“ Die Kommission hat mit dem Vertrag von Lissabon nun die Vertragspflicht, alles dafür zu tun, eine interinstitu­tionelle Vereinbarung über die Programmplanung herbeizuführen. Was das Europäische Parlament will, ist also von Bedeutung; und ebenso ist von Bedeutung, was der Rat möchte. Dennoch haben die EU-Institu­tionen mehr als fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon noch kein funk­tionierendes Verfahren für die Umsetzung ­dieses Artikels und die Ausarbeitung einer interinstitu­tionellen Vereinbarung zur Programmierung etablieren können. Vorbesprechungen zu den jähr­lichen Arbeitsprogrammen der Kommission und die Konsulta­tion mit den parlamentarischen Ausschüssen erfüllen noch nicht die Vertragsverpflichtung. Die Tatsache, dass der Kommissionspräsident jetzt nach den Wahlen zum Europäischen Parlament aus den Spitzenkandidaten der europäischen politischen Parteien und durch das Europäische Parlament gewählt wird, hat jedoch einen neuen Kontext geschaffen. Der Prozess der inter-­institu­tionellen Planung gewinnt an Schwung. Sowohl Rat als auch Kommission sind bereit, die Bestimmungen von Artikel 17 in die Praxis umzusetzen. Dies ist keine reine Formalität. Wer die Agenda bestimmt, bestimmt auch 80 Prozent der Ergebnisse. Das Europäische Parlament hat daher über die letzten Jahre schrittweise eine Methode entwickelt, um zu einem echten Partner im Prozess der Agendasetzung werden zu können. Am Anfang steht ein bereits seit Jahrzehnten vom Parlament genütztes Instrument, der Initiativbericht, mit dem die Mitglieder ihre Meinung darüber äußern können, ­welche ­Themen auf ­welche Art und Weise auf europäischer Ebene angegangen werden sollten. Um einen nachhaltigeren Beitrag zum Setzen der Agenda zu leisten, nützt das Europäische Parlament auch den sogenannten legislativen Initiativbericht. Basierend auf Artikel 225 des Vertrages, kann das Parlament auf diese Art „mit der Mehrheit seiner Mitglieder die Kommission auffordern, geeignete Vorschläge zu Fragen zu unterbreiten, die nach seiner Auffassung die Ausarbeitung eines Unionsakts zur Durchführung der Verträge erfordern“. Im Rahmenabkommen ­zwischen dem Parlament und der Kommission hat sich die letztere dazu verpflichtet, binnen drei Monaten nach Annahme eines legislativen Initiativ­ berichts eine konkrete Antwort zu geben, spätestens nach einem Jahr einen Legislativvorschlag vorzulegen oder, falls sie keinen Vorschlag vorlegt, dem Europäischen Parlament die Gründe dafür mitzuteilen.

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Nun ist es eine Sache, in einem Bericht politische Forderungen zu erheben, eine andere hingegen, diese Forderungen auch mit Fakten, Argumenten und Zahlen untermauern zu können. Seit nunmehr mehr als drei Jahren hat das Europäische Parlament daher das Konzept der „Kosten des Nicht-­Europa“ wiederbelebt und zu einer Reihe an zentralen legislativen Forderungen grundlegende Studien in Auftrag gegeben. Diese Studien erheben auf seriöser wissenschaft­licher Basis, w ­ elche Kosten den Bürgern Europas durch das Nichtvorhandensein einer europäischen Regelung in einem bestimmten Bereich entstehen, und liefern damit eine wirtschaft­liche Begründung für die Vorteile europäischen Handelns: die „Kosten des Nicht-­Europa“. Sie liefern die ökonomische Begründung für Ak­tion auf europäische Ebene. Auch wenn dies innovativ klingen mag, so ist es doch „nur“ die Wiederaufnahme einer alten Idee: Schon vor mehr als 25 Jahren war der Cecchini Bericht über den Binnenmarkt Grundlage für die Agenda zur Schaffung des Binnenmarktes. Dieser Bericht berechnete zum ersten Mal die wirtschaft­lichen und finanziellen Vorteile, würden eine ganze Reihe na­tionaler Regeln durch europäische Gesetzgebung ersetzt. Diese Methode geriet über die letzten zwanzig Jahre fast in Vergessenheit. Die öffent­liche Debatte verlegte sich stattdessen auf die Kosten Europas. Es ist jetzt höchste Zeit, den Ansatz der Kosten des Nicht-­Europa wiederzubeleben, denn nur so kann festgestellt werden, wo die potentiellen Vorteile einer weiteren Integra­tion wirk­lich liegen. Das Europäische Parlament hat bereits zu fast zwanzig zentralen Themenbereichen Studien zu den Kosten des Nicht-­Europa ausgearbeitet. Zusammengefügt ergeben sie ein strate­gisches Bild, eine Art Fahrplan für Europa, mit dem jähr­lich bis zu 1.000 Milliarden Euro an zusätz­lichem Wachstum – und ohne zusätz­liche Schulden – erzeugt werden könnten. Das Arbeitsprogramm der Juncker-­Kommission reflektiert in großem Umfang diese strate­gischen Prioritäten des Parlaments: Digitales Europe, Binnenmarkt, Dienstleistungen und ein vervollständigter Rahmen für den Euro. Zugleich kann diese Übung auch als Methode dienen, um das Subsidiaritätsprinzips zu opera­tionalisieren. Falls in einen Politikbereich bedeutende Kosten des Nicht-­Europa nachgewiesen werden können, dann entspräche es auch dem Subsidiaritätsprinzip, in d­ iesem Bereich eine europäische Regelung anzustreben. Wenn jedoch im Gegenteil s­ olche Kosten des Nicht-­Europa nicht vorhanden sind, dann ist es auch angemessen, diesen Politikbereich der na­tionalen Ebene zur Regelung zu überlassen. 2. Zweite Phase: Konsulta­tion Die zweite Phase des Gesetzes-­Zyklus betrifft die Konsulta­tion, also den Austausch und den Dialog mit allen interessierten Parteien in einem bestimmten Politikbereich. Dazu ist es wichtig anzumerken, dass heute bereits viele Politikbereiche europäischer Gesetzgebung unterliegen und europäische Regelungen bereits, teilweise seit langem, in Kraft sind. Dies bedeutet in Folge, dass ein

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bedeutender Teil der legislativen Arbeit des Europäischen Parlaments gesetz­liche Anpassungen oder Neufassungen betrifft. Das Arbeitsprogramm der Kommission für 2014 enthielt 42 Vorschläge zur Anpassung existierender Gesetzgebung. Die Aufgabe einer effizienten Gesetzesüberarbeitung bedingt aber, dass die Erfahrungen mit den bestehenden Regelungen in ihrer Umsetzung auf na­tionaler und regionaler Basis gesammelt und ausgewertet werden. Nur wenn man weiß wie, wo und warum etwas funk­tioniert hat – oder eben was nicht funk­tioniert hat, kann man sinnvolle Verbesserungen erreichen. Das Europäische Parlament hat eine Reihe von Mög­lichkeiten, um diese notwendige Erfahrung einzusammeln. Der Peti­tionsausschuss des Europäischen Parlaments ist der direkteste Zugang, um konkrete Informa­tionen über die Auswirkungen von Gesetzen vor Ort zu bekommen. Das Peti­tionsrecht ist ein im EU-Vertrag festgeschriebenes Grundrecht (Artikel 20 und 24 V-EU), das es den Bürgern ermög­licht, ihre Bedenken in Bezug auf europäische Gesetzgebung, Politiken und Programme auszusprechen und ein Handeln auf europäischer Ebene einzufordern. Peti­tionen geben einen ausgezeichneten Hinweis auf Probleme, die Bürger mit existierender Gesetzgebung und ihrer Umsetzung in den Mitgliedstaaten haben. Wenn viele Bürger eine Peti­tion im Peti­tionsausschuss zum selben Problem einreichen ist es wahrschein­ lich, dass irgendwo etwas falsch läuft und entsprechend angepasst werden sollte. An zweiter Stelle sei der Europäische Rechnungshof genannt. Auch dieser spielt eine wichtige Rolle in der Sammlung und Aufarbeitung von Erfahrungen sowie in der Umsetzung und Anwendung europäischen Rechts in den Mitgliedstaaten. Und tatsäch­lich ändert der Rechnungshof derzeit schrittweise den Schwerpunkt seiner Arbeit in diese Richtung und führt verstärkt Leistungsprüfungen aus, die über die Kontrolle der Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Rechnungsführung und der zugrunde liegenden Vorgänge hinausgehen und die tatsäch­liche Kosten-­Nutzen Effizienz bewerten. Der Rechnungshof untersucht also, ob Gesetzgebung vor Ort funk­tioniert und ob Finanzierungsprogramme auch tatsäch­lich die beabsichtigten Vorteile erzeugen. Dies ist auch die Methodik des Rechnungshofes der Vereinigten Staaten von Amerika, des Government Accountability Office. Es überprüft, ob Gesetze funk­tionieren und wo Probleme liegen und stellt den Mitgliedern des US Kongresses die notwendige Informa­tion über Versäumnisse in den Ausgabenprogrammen zur Verfügung. Diese Untersuchungsergebnisse des Europäischen Rechnungshofes sind entscheidend, wenn es darum geht, existierende Gesetzgebung abzuändern. Sie bieten, ohne zusätz­liche Kosten, einen wichtigen Rückmeldemechanismus von der na­tionalen und lokalen Ebene über die Auswirkung der europäischen Programme und der EU-Gesetzgebung. Damit jedoch der europäischen Gesetzgeber die Ergebnisse der Arbeit des Rechnungshofes auch tatsäch­lich in vollem Umfang verwerten und in die Überarbeitung der Gesetzgebung einfließen lassen kann, muss sich der Arbeitsplan des Rechnungshofes zeit­lich und thematisch auch am Arbeitsprogramm der Kommission orientieren.

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An dritter Stelle ­seien die zwei europäischen Beratungsausschüsse genannt. 2013 hat das Europäische Parlament mit dem Wirtschaft- und Sozialausschuss sowie mit dem Ausschuss der Regionen Vereinbarungen getroffen, um das Wissen und die Erfahrungen der ökonomischen und sozialen Akteure sowie der lokalen Gebietskörperschaften besser in die legislative Arbeit des Europäischen Parlaments einfließen lassen zu können. Der Ausschuss der Regionen bezieht sein Wissen und seine Erfahrung direkt von der europäischen regionalen Ebene, während der Wirtschaft- und Sozialausschuss über ein starkes Netzwerk an Wirtschafts- und Sozialakteuren verfügt. Sie bieten daher eine wertvolle Informa­tionsquelle über die Art und Weise, wie existierende europäische Gesetzgebung lokal umgesetzt und von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Gemeinden, Städten und Ländern empfunden wird. Das Koopera­tionsabkommen sieht nun vor, dass diese Beiträge von den Ausschüssen des Europaparlaments zunehmend zur Verbesserung der Gesetzgebung verwendet werden als lokale Folgenabschätzung der europäischen Gesetze. Eine weitere wichtige Rolle im Konsulta­tionsprozess spielen die na­tionalen Parlamente. Der Vertrag von Lissabon hat den na­tionalen Parlamenten zum ersten Mal eine formelle Rolle gegeben, in dem sie aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beitragen sollen (Artikel 12 V-EU). Zurzeit ist den na­tionalen Parlamenten durch Protokoll 2 des Vertrags von Lissabon das Recht eingeräumt, Legislativakte, die nicht unter die exklusive Kompetenz der EU fallen, eingehend zu prüfen. Über diese vertrag­liche Rolle hinaus hat der Präsident des Europäischen Parlaments den na­tionalen Parlamenten angeboten, ihre Ansichten über existierende Gesetzgebung, deren na­tionale Umsetzung sowie die Notwendigkeit einer mög­lichen Anpassung mit dem Europäischen Parlament zu teilen. Dies sollte auch im Zentrum der zukünftigen Entwicklungen in der Zusammenarbeit mit den na­tionalen Parlamenten stehen: die Nutzung ihres Expertenwissen bezüg­ lich der Umsetzung europäischer Gesetzgebung und die Kontrolle der Auswirkungen der Gesetzgebung vor Ort. Auch diese Aufgaben sollten idealerweise auf Basis des Arbeitsprogrammes der Kommission geplant werden. Mit dieser Akzentverschiebung ändert sich auch die Rolle der na­tionalen Parlamente: sie haben nicht mehr nur das Recht, Nein zu sagen, sondern können einen positiven Beitrag zur Verbesserung der Gesetzgebung auf EU-Ebene leisten. Einen fünften Zugang zu Informa­tionen kann das Europäische Parlament durch die Konsulta­tion der Interessensvertretungen erhalten. Das Parlament bemüht sich nicht allein auf Brüsseler Ebene, sondern mit Hilfe seiner Informa­ tionsbüros in allen Mitgliedstaaten auch na­tionale Interessensvertretungen, na­tionale politische Parteien, Nicht-­Regierungsorganisa­tionen, Gewerkschaften, Unternehmensvertretungen oder Think-­Tanks in den Gesetzgebungsprozess miteinzubeziehen. Ihre Ansichten über existierende Gesetze und die mit einer mög­lichen Anpassung verbundenen Herausforderungen müssen ebenfalls in den Konsulta­tionsprozess des Parlaments eingebunden werden.

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Last, but not least ­seien die Ausschuss-­Anhörungen genannt. Wenn spezi­ fisches Wissen für die Abgeordneten gefordert ist, bieten Ausschuss-­Anhörungen und öffent­liche Anhörungen den parlamentarischen Ausschüssen eine externe Expertise, die für die Ausarbeitung von Legislativberichten oder im Rahmen der Verhandlungen von Außenhandelsabkommen besonders relevant sind. Diese Anhörungen sind eng mit der Legislativ- und Überprüfungsarbeit verknüpft und tragen erheb­lich dazu bei, das Wissen der Abgeordneten zu erhöhen. Eine eigens neu eingerichtete Abteilung zur Folgenabschätzung aus nachträg­ licher Sicht (Ex-­Post Impact Assessment) trägt alle diese Informa­tionen und Erfahrungen über die Wirkung und Leistung existierender Gesetze zusammen und stellt diese in kompakter Form den Abgeordneten zur Verfügung. Auf diese Weise erhalten die Europaabgeordneten die Mög­lichkeit, die Ergebnisse der umfangreichen Konsulta­tionen des Parlaments direkt für ihre eigene parlamentarische und legislative Arbeit zu verwenden. 3. Gesetzgebung Die dritte Phase des Legislativzyklus betrifft die eigent­liche Gesetzgebung und damit den tradi­tionellen Kern parlamentarischer Arbeit. Um in ­diesem Bereich bestmög­lich agieren zu können, ist Kompetenz und Wissen unumgäng­lich. Es gäbe wohl wenig Teureres für die Mitgliedstaaten als ein Parlament, das bei der Gesetzgebung weder Expertise noch Kompetenz beweisen kann. Wenn aus Mangel an Informa­tion schlechte Gesetze erlassen werden, erzeugt dies Vertrauensverlust bei den Bürgern, Kosten für Wirtschaft und die öffent­liche Hand – kurz einen schwierig wieder gut zu machenden Schaden. Aus d ­ iesem Grund ist eine effiziente, kompetente und flexible Unterstützung der Mitglieder durch Expertise entscheidend. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat das Europäische Parlament daher viel investiert, um sein eigenes Expertenwissen zu stärken und so die Mitglieder in der Ausübung ihrer parlamentarischen Tätigkeit besser unterstützen zu können. Auf Ebene der Ausschüsse wurden die sogenannten Policy Departments gestärkt, jene Abteilungen, die für die Arbeit der Mitglieder in den Ausschüssen direkte und spezialisierte Expertise entweder selbst bereitstellen oder durch externe Studien organisieren. Weiter wurden die Ausschuss-­Sekretariate ausgebaut, um der teilweise drastischen Erhöhung ihrer Kompetenzen und Aufgaben durch den Lissabonner Vertrag gerecht zu werden. Zudem hat das Europäische Parlament viel Wert auf die Verbesserung der sprach­lichen sowie juristischen Qualität seiner Gesetzgebung gelegt. Wenn Gesetze schlecht entworfen oder ungenau formuliert sind oder wenn sich bei den 24 Arbeitssprachen der Europäischen Union inhalt­liche Unterschiede in der Übersetzung ergeben, werden die negativen Auswirkungen bei der Umsetzung spürbar. Aus ­diesem Grund wurde mit dem Dienst der Sprachjuristen ein Service entwickelt, der

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inzwischen über die rein juristisch korrekte Übersetzerarbeit weit hinaus geht und von Anfang des Gesetzgebungsprozesses an individuelle Abgeordnete begleitet, berät und bis hin zur Verabschiedung eines gemeinsam mit dem Rat beschlossenen Textes das hohe Niveau der sprach­lichen und juristische Qualität garantiert. Außerdem hat das Europäische Parlament seine eigene Tätigkeit im Bereich der ex-­ante Folgenabschätzung massiv ausgebaut. Dadurch kann das Parlament unabhängig von der Folgeabschätzung der Kommission eigene Untersuchungen über die Auswirkungen von Änderungsanträgen zu Vorschlägen der Kommission durchführen und die Entscheidungsfindung in den Ausschüssen dadurch mit mehr Expertise unterfüttern. Schlussend­lich hat das Europäische Parlament seit November 2013 seinen eigenen Wissen­schaft­lichen Dienst geschaffen, den European Parliament Research Service (EPRS), der gemeinsam mit den Policy Departments für die wissen­schaft­liche Unterstützung der Abgeordneten zuständig ist. Zentraler Aspekt der Arbeit des EPRS ist die Unterstützung individueller Mitglieder durch die Aufarbeitung aktueller und relevanter T ­ hemen für alle Abgeordneten des Hauses. Diese Maßnahme ist von großer Bedeutung, denn neunzig Prozent der Abgeordneten sind nicht Mitglieder desjenigen Ausschusses, der diesen Vorschlag diskutiert und ausgearbeitet hat. Dennoch tragen sie alle durch ihre Abstimmung im Plenum die Verantwortung gegenüber den Bürgern mit. Sie müssen daher in die Lage versetzt werden, ihre eigene Arbeit zu d­ iesem Thema in ihrer Frak­tion aktiv mitgestalten bzw. gegenüber den Bürgern, der Öffent­lichkeit und den lokalen Interessenvertretungen die Tätigkeit des Parlaments gründ­lich erklären zu können. 4. Überprüfung (Scrutiny) Die vierte und letzte Phase des legislativen Zyklus betrifft die Überprüfung und Kontrolle angenommener Gesetze. Der Prozess der Gesetzgebung ist mit der Annahme im Plenum nicht abgeschlossen. Ein Gesetz entfaltet erst dann seine Wirkung, wenn es umgesetzt und angewandt wird. Gerade bei europäischer Gesetzgebung, deren Erfolg in nahezu allen Fällen an einer korrekten Umsetzung und Anwendung in 28 Mitgliedstaaten zu messen ist, kommt der laufenden Kontrolle eben dieser Umsetzung durch den Gesetzgeber eine­­ausschlaggebende Rolle zu. Die zentralen Fragen dabei sind folgende: Werden die Gesetze tatsäch­lich, vollständig, sinngemäß und zeitgerecht umgesetzt? Bringen sie den intendierten Mehrwert? Wie wird ihre Qualität von den Bürgern bewertet? Ist die Umsetzung kostengünstig? Die Mitglieder des Europäischen Parlaments legen besonders viel Wert auf diese Fragen, da sie ihren Wählern verpflichtet sind. Es ist von zentraler Bedeutung, ob Europa die Erwartungen der Bürger erfüllt oder nicht, ob und w ­ elche konkreten Ergebnisse europäischen Handelns es gibt und was passiert, wenn die Mitgliedstaten ihren Aufgaben und Verpflichtungen nicht ausreichend nachkommen.

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Aus all diesen Gründen hat das Europäische Parlament über die letzten Jahre hinweg einen Schwerpunkt auf die Kontrolle der Implementierung gelegt. Die Überprüfung der korrekten Anwendung europäischer Gesetze ist weit davon entfernt, nur eine technische Angelegenheit zu sein. Sie wird vor allem in Bezug auf die gesamten Angelegenheiten der Eurozone zunehmend wichtig. Hier kommen wir zurück zum Argument der „Änderung des europäischen Geschäftsmodells“. Zahlreiche Entscheidungen, die im Zuge der Krise auf europäischer Ebene angenommen wurden, hatten direkte Auswirkungen auf das Alltagsleben der Bürger: Ausgleichsprogramme, Eingriffe der Troika, länderspezifische Empfehlungen, Maßnahmen zur Bankenaufsicht, um nur einige zu nennen. Nicht nur ihr Zustandekommen, auch ihre Umsetzung und Auswirkungen müssen demokratisch überprüft werden. So wird seit 2014 die Bankenaufsicht auf europäischer Ebene ausgeführt. Das ist ein gewaltiger Unterschied zur Zeit vor der Krise: Die Basis des wirtschaft­ lichen Systems wird nicht mehr durch die Mitgliedstaaten, sondern auf europäischer Ebene durch eine europäische Institu­tion, die Europäische Zentralbank, kontrolliert. Genau dann erhebt sich aber die Frage, wer auf europäischer Ebene die Verantwortung für diese Entscheidungen trägt. Im Fall der Bankenaufsicht kann die Europäische Zentralbank dann nicht wie bei der Währungspolitik ihre Unabhängigkeit geltend machen, sondern muss die Verantwortung gegenüber dem Europäischen Parlament übernehmen. Aus ­diesem Grund hat das Parlament mit der EZB ein inter-­institu­tionelles Abkommen zur Überprüfung der Bankenaufsichtsentscheidungen vereinbart, die durch den Wirtschaft- und Währungsausschuss des EP ausgeführt wird und dem Parlament neue und teilweise weitreichende Kontroll- und Aufsichtsmög­lichkeiten einräumt. Zugleich muss das Europäische Parlament die Kommission als europäische Exekutive für die Umsetzung der europäischen Gesetzgebung sowie für die Verpflichtungen, die sie auf europäische Ebene eingegangen ist, rechenschaftspflichtig machen. Deshalb hat das Parlament auch seine eigenen Kompetenzen im Bereich der wirtschaftspolitischen Steuerung gestärkt und eine spezielle Abteilung zur wirtschaftspolitischen Steuerung eingerichtet, die die Entscheidungen im Rahmen der Wirtschaft- und Währungsunion laufend überprüft. Auch wird ständig der Umsetzungsstand der Na­tionalen Reformprogramme verfolgt. Als weiteres Beispiel im Bereich der Umsetzungskontrolle ist die Finanzmarkt-­ Gesetzgebung zu nennen, die in der Folge der Finanzkrise angenommen wurde und nun durch delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte umgesetzt wird. Es werden 480 derartiger delegierter Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte erwartet, und das Europäische Parlament hat in Bezug auf delegierte Rechtsakte ein Vetorecht. Dementsprechend hat das Parlament neue Strukturen geschaffen, um mit Hilfe von Spezialisten in jedem Ausschusssekretariat delegierte Rechtsakte schneller und genauer überprüfen zu können. Das Europäische Parlament hat zur Stärkung seiner demokratischen Überprüfungskapazitäten im Juni 2014 auch eine Einheit innerhalb des Direktorates für

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Folgenabschätzung und europäischen Mehrwert eingerichtet, die systematisch die Umsetzung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates verfolgt. Auf Basis der Arbeit dieser neuen Abteilung können die Abgeordneten nun umso informierter den Dialog mit dem Präsidenten des Europäischen Rates führen, wenn er nach jeder Sitzung des Europäischen Rates vertragspflichtig vor dem Parlament Bericht erstattet. Schlussfolgerung Das Europäische Parlament hat sein Ziel erreicht, als gleichberechtigter Gesetzgeber und auf Augenhöhe mit dem Rat zu agieren. Angesichts der vertrag­lichen und politischen Entwicklungen der letzten Jahre sowie des neuen wirtschaft­lichen Kontexts im Zuge der Finanzkrise hat das Europäische Parlament seine Rolle als Gesetzgeber weitergedacht. Die tradi­tionelle Konzentra­tion auf die Bearbeitung und Annahme von Gesetzesvorschlägen allein ist nicht mehr ausreichend. Eine Ausdehnung der parlamentarischen Aktivitäten auf den kompletten Zyklus der Gesetzgebung ist unabdingbar. Wir haben uns für die nun laufende 8. Legislaturperiode zum Ziel gesetzt, den gesamten Politik- und Legislativprozess vom Agenda-­Setting über die Konsulta­ tion bis hin zur Überprüfung und Kontrolle der Umsetzung der beschlossenen Gesetze aktiv und intensiv mitzugestalten. Zwar fehlt noch das formelle Verfahren, damit sich die EU-Institu­tionen in Umsetzung des Artikel 17 auf eine gemeinsam beschlossene Programmplanung verständigen können, die Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 und die darauffolgende Wahl des Kommissionspräsidenten aus der Reihe der Spitzenkandidaten der europäischen politischen Parteien durch das Europäische Parla­ ment hat jedoch eine Eigendynamik geschaffen. Als designierter Präsident der Europäische Kommission hat Jean-­Claude Juncker dem Europäischen Parlament ein Zehn-­Punkte Programme vorgelegt, das eine ganze Reihe zentraler Forderungen des Parlaments übernimmt und diese mit den vom Europäischen Rat in seiner „Strate­gischen Agenda für die EU“ für die kommenden fünf Jahren aufgetragenen Punkten kombiniert. Dieses Zehn-­ Punkte-­Programm und seine konkrete Umsetzung durch das Arbeitsprogramm der Kommission für 2015 bieten eine feste Grundlage für die gemeinsame Arbeit durch das europäische institu­tionelle Dreieck bestehend aus dem Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission. Vor 35 Jahren wurde das Europäische Parlament nur konsultiert. Heute ist es vollwertiger Gesetzgeber der Europäischen Union. Nichts geht mehr ohne ­dieses Parlament, alles nur noch gemeinsam mit den Abgeordneten ­dieses Hauses sowohl vertrag­lich als auch politisch. Eine aktive Mitgestaltung der europäischen Agenda und eine Ausdehnung der parlamentarischen Aktivitäten auf den gesamten ­Zyklus der Gesetzgebung sind die lo­gische Folge der gestiegenen Verantwortung des Europäischen Parlaments als europäischer Gesetzgeber (vgl. Grafik 2).

Members Research Service

Legality Check

Trilogue negotiations

EP’s own ex-ante I.A.

Legal Text

N TI

Contribution of Standing Delegations Workshops

MEPs

Policy performance appraisal

Commission proposal

Policy Department Studies

OwnInitiative Reports

AGEN DA G

al ro ti c

Y

(Re-) Start

ESPAS

Committee hearings

SU

Think Tanks; Policy Research; EPLO (since ‘09); National Parliaments

Social partners; Organised Interests

Plenary

Scrutiny on Delegated Acts

Scrutiny on Implementing Acts

Scrutiny on Transposition

N

Committee Scrutiny

ISL

ECB & Funds

L EG

Implementation reports

SCR

U

i

P ol

Eurozone Scrutiny

Political Work Programme

Expert Groups

Court of Auditors performance audits

Petitions review

Inter-Inst. Programming

Cost of NonEurope Map

Leg. Own Initiative Reports

Consultative Committees

Cost of NonEurope Reports

Consultation with Nat. Parl.

Klaus Welle, Secretary-General of the EP v.31, 25 June 2015

EP’s stakeholder dialogue

Annual Work Programme

Compuls. Review Review

CON

G ro

EP’s own ex-post I.A.

European Council Scrutiny

Pol

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ps

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G TIN

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T SE

IO N AT LT cal

Completing the Legislative Cycle

e-citizens, political parties, NGOs, social partners, citizens’ initiatives, petitions, EPIOs

Think Tanks Research

OECD Policy Planners

Das Europäische Parlament als europäischer Gesetzgeber 485

€ 7 bn* Donor coordination € 0.8 bn

Common Deposit Guarantee Scheme

€ 5 bn*

Improved coordination of fiscal policies

€ 25 bn

Water legislation

€ 26 bn

Common Security and Defence

€ 9 bn

Combatting VAT fraud

€ 22 bn

European Research Area

* annualised one-off losses in the event of a crisis

€ 82 bn

Completing Reform of Financial Services Sector

€ 21 bn*

Banking Union to avert a new financial crisis

€ 415 billion

Digital Single Market

Cross-border transfer of company seats € 0.04 bn Codification of Private International Law € 0.1 bn

OTHER AREAS:

€ 250 bn

Codification of Passenger Rights € 0.355 bn European Arrest Warrant € 0.043 bn Cross-border Voluntary Activity € 0.065 bn

€ 68 bn

Transatlantic Trade Agreement (TTIP)

€ 3 bn

€ 11 bn

Single European Transport & Tourism Areas

€ 13 bn

European Mutual Society EU Law of Administrative Procedure

Information and consultation of workers

€ 7 bn

Combatting violence against women

€ 17 bn

Common Unemployment Insurance Scheme

To be assessed: • •

€ 615 billion

Equal pay for equal work

1597 billion

Single Market for Consumers and Citizens

TOTAL: ± €

Integrated Energy Markets

Cost of NON-EUROPE Map 486 Klaus Welle

Von der gemeinsamen Währung zur Europäischen Armee Karl von Wogau

Derzeit erleben wir wieder einmal eine der Krisen der Europäischen Union. Die permanente Insolvenz Griechenlands stellt das Währungssystem und den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft auf die Probe. Gleichzeitig haben die Ereignisse in der Ukraine gezeigt, dass Europa größere Anstrengungen für seine Sicherheit unternehmen muss. Aus ­diesem Grunde hat Jean-­Claude Juncker die Schaffung einer Europäischen Armee gefordert. Angela Merkel hat sich dieser Forderung angeschlossen. Die Reak­tion auf diese Initiative war verhalten positiv. Eine eigent­lich zu erwartende starke Gegenreak­tion aus Großbritannien blieb aus. Häufig wurde allerdings die Frage gestellt, ob es realistisch sei, zu erwarten, dass ­dieses Vorhaben in absehbarer Zeit zu verwirk­lichen sei. Ein Blick auf die Zahlen zeigt jedoch, dass eine Verstärkung der Zusammenarbeit unbedingt notwendig ist. Die Mitgliedsländer der Europäischen Union geben derzeit jähr­lich 195 Milliarden für Verteidigung aus. Das ist mehr als das Doppelte der rus­sischen Ausgaben für Verteidigung. Dennoch ist es die allgemeine Auffassung, dass wir ohne die Hilfe unserer amerikanischen Verbündeten nicht dazu in der Lage sind, unsere eigene Sicherheit zu garantieren. Darum ist es notwendig, darüber nachzudenken, wie die Effizienz unserer Ausgaben in ­diesem Bereich verbessert werden kann. Ein bisschen pooling und sharing, die Wundermittel der derzeitigen Diskussion, dürfte hier nicht ausreichen. Wir müssen uns der Frage stellen, ob wir dazu in der Lage sind, uns aus eigenen Kräften gegen jede mög­liche Bedrohung zu verteidigen. Dabei sollten wir uns der Tatsache bewusst sein, dass ein reicher Kontinent wie Westeuropa, der nicht dazu in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, gefähr­lich lebt. Henry K ­ issinger schildert d ­ ieses Dilemma verschiedent­lich in seinen Memoiren. Er schreibt, dass die Europäer immer wieder erwarten, dass die Amerikaner das Leben ihrer Soldaten und ihrer Bürger für die Sicherheit Europas riskieren. Europa sei aber nicht dazu bereit, dazu den notwendigen eigenen Beitrag zu leisten. Bei den Diskussionen im Vorfeld der Währungsunion haben wir immer wieder erklärt, dass die Währungsunion nicht mög­lich sei ohne die gleichzeitige Schaffung einer Politischen Union. Die Währungsunion wurde geschaffen, bei der Politischen Union sind wir auf dem halben Weg stehen geblieben. An dieser Stelle ist es notwendig, zu klären, was unter einer Politischen Union zu verstehen ist. In der derzeitigen wirtschaftspolitischen Diskussion hört man immer wieder die Meinung, eine Politische Union bestehe darin, alles

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und jedes zu harmonisieren. Das wäre der falsche Weg. Die Stärke Europas ist seine Vielfalt und der fried­liche Wettbewerb z­ wischen den Mitgliedsländern. Der unverzichtbare Kern einer Politischen Union ist vielmehr eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Verteidigung. Das war schon die Idee der Väter Europas bei der Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahre 1952. Damals gab es bereits ganz konkrete Vorbereitungen für die Schaffung einer Europäischen Armee. Leider ist die Ratifizierung ­dieses Vertrages im August des Jahres 1954 in der franzö­ sischen Na­tionalversammlung gescheitert, Im Jahr 1979 wurde das Europäische Parlament zum ersten Male direkt gewählt. Damals war Verteidigung kein Thema der Europäischen Politik. Es war Hans-­Gert Pöttering, der das Thema erneut aufgriff. Im Auswärtigen Ausschuss wurde unter seinem Vorsitz ein Unterausschuss für Sicherheit und Abrüstung eingerichtet. Das Wort „Verteidigung“ musste allerdings sorgfältig vermieden werden, weil es dafür keine Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft gab. Der Grund für einen neuen Anfang waren die Kriege auf dem Balkan und insbesondere das Massaker von Srebrenica. Wie viele andere Europäer habe ich es damals als eine Schande empfunden, dass wir nicht dazu in der Lage gewesen sind, ­dieses Blutvergießen zu verhindern beziehungsweise zu beenden. Es war eine Situa­tion entstanden, in der ein Bürgerkrieg nur durch den Einsatz von Streitkräften beendet werden konnte. Damals haben die Na­tionalstaaten Europas versagt. Das scheinbar so mächtige Europa hatte weder die erforder­ lichen Strukturen noch die Mög­lichkeiten um einzugreifen. Schließ­lich haben unsere Verbündeten von der anderen Seite des Atlantik das Problem für uns gelöst. Wenn wir heute über Europäische Verteidigung nachdenken, müssen wir uns zunächst die Frage stellen, warum denn eigent­lich die Sicherheitsprobleme Europas mit seinen 500 Millionen Bürgern und einem Bruttoinlandsprodukt von mehr als 10.000 Milliarden Euro von 300 Millionen Amerikanern gelöst werden müssen, hinter denen eine etwa g­ leiche Wirtschaftsleistung steht. Wir müssen uns auch der Frage stellen, in welchem Umfang wir dazu bereit sind, uns auch außerhalb der Europäischen Union für unsere Werte einzusetzen, beispielsweise bei Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine gemeinsame Verteidigung setzt aber auch voraus, dass ein Bewusstsein einer gemeinsamen europäischen Identität, gemeinsamer Werte und gemeinsamer Sicherheitsinteressen entsteht. Was ist bisher geschehen? Die ersten Beschlüsse auf dem Weg zu einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik kamen in einer ungewohnten Konstella­tion zustande. In der Vergangenheit waren es immer Frankreich und Deutschland gewesen, die gemeinsam europäische Initiativen entwickelt hatten. Jetzt waren es Frankreich

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und Großbritannien, die in St. Malo 1998 eine Europäische Identität im Bereich der Sicherheit forderten. Dieses führte zu den Beschlüssen des Europäischen Rates in Köln und Helsinki, wonach der Europäischen Union bis zu 60.000 Soldaten und Soldatinnen für Kriseneinsätze zur Verfügung stehen sollten. Auf dieser Grundlage entwickelte Javier Solana, der damalige Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die heute noch gültige Sicherheitsstrategie der Europäischen Union. Diese beginnt mit der Feststellung, dass kein Land in der Lage ist, die komplexen Probleme der heutigen Zeit im Alleingang zu lösen und dass die Europäische Union als Zusammenschluss von Staaten, die ein Viertel des Bruttosozialproduktes weltweit erwirtschaften, dazu bereit sein sollte, Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mitzutragen. Des Weiteren wird festgestellt, dass jedes Jahr 45 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung sterben, und dass Sicherheit eine der Vorbedingungen für jede wirtschaft­liche und kulturelle Weiterentwicklung ist. Wichtigstes Charakteristikum der Europäischen Sicherheitsstrategie ist ihr breiter Ansatz, die enge Verzahnung von zivilen und militärischen Instrumenten der Krisenbewältigung und das Ziel einer Weltordnung auf der Grundlage eines wirksamen multilateralen Systems im Rahmen der Charta der Vereinten Na­tionen. Diese Grundlagen unserer Sicherheitsstrategie gelten noch heute. Was sich jedoch seit dem Jahr 2003 grundsätz­lich verändert hat ist das geopolitische Umfeld. Die Einleitung der Sicherheitsstrategie von 2003 beginnt mit der Aussage, dass Europa noch nie so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen ist. Heute könnte man diesen Satz nicht mehr so niederschreiben, wenn man die Situa­tion in der Ukraine und im Nahen und Mittleren Osten betrachtet. Daraus müssen die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Strukturen Auf der Grundlage der Beschlüsse von Helsinki und Köln wurden die notwendigen Strukturen zu ihrer Durchführung geschaffen. Instrumente des Rates sind das Politische und Sicherheitspolitische Komitee und die Europäische Verteidigungsagentur, deren Aufgabe es ist, einen Europäischen Markt für Rüstungsgüter zu schaffen und die Sicherheitsforschung zu fördern. Dazu kommt die Schaffung einer zivil-­militärischen Planungsdirek­tion, die sowohl für die zivilen als auch für die militärischen Aspekte der Krisenbewältigung zuständig sein soll. Das Europäische Parlament hat einen Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung eingerichtet, der von mir geleitet wurde. Dazu kommt jetzt der Europäische Auswärtige Dienst, der auf der Grundlage des Vertrages von Lissabon geschaffen wurde. Damit steht der Hohen Vertreterin

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Karl von Wogau

für die Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, ein Instrument zur Verfügung, um eine kompetente und wirksame gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten. Bisherige Einsätze Die bisherigen Einsätze im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zeigen die gesamte Spannweite sicherheitspolitischer Aufgaben. Sie reichen von der Unterstützung beim Aufbau eines rechtsstaat­lichen Justizsystems und der Entsendung von Beobachtern bis hin zu Einsätzen von Streitkräften unter der Führung der Europäischen Union. Ein gutes Beispiel für die Kombina­tion verschiedener Instrumente der Sicherheitspolitik war die Ak­tion der Europäischen Union bei der Krise in Georgien im August 2008. Einerseits der diplomatische Einsatz des Ratspräsidenten Nicolas Sarkozy in Tiflis und Moskau, der zu einem Waffenstillstand führte, und andererseits die Entsendung von 300 Beobachtern in die Krisenregion. Ihre Aufgabe ist es, die Situa­tion zu analysieren, die Rückkehr von Flüchtlingen zu beobachten und zum Abbau der Spannungen und zur Stabilisierung der Lage ­zwischen den Parteien beizutragen. In ­diesem Falle wurde die Europäische Union dem Anspruch gerecht, Konflikte in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft aus eigener Kraft zu lösen. Die Grenzen dieser Fähigkeit wurden deut­lich bei dem Konflikt in Libyen. Damals war ich der Auffassung, dass das Problem weniger militärischer als vielmehr politischer Art sei. Darum sei es besser, das Instrumentarium der Europäischen Union einzusetzen und nicht das der NATO. Dieses scheiterte aber mit der Begründung, dass die Fähigkeiten der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht ausreichten, um kurzfristig eine Flugverbotszone über Libyen einzurichten. Wohin soll es gehen? Für das Europäische Parlament war die Situa­tion der Soldaten und der Zivilpersonen in gemeinsamen europäischen Einsätzen von besonderer Bedeutung. Dieses Thema wurde von Hans-­Gert Pöttering, dem damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, aufgegriffen. Bei der Berliner Sicherheitskonferenz im Jahr 2008 stellte er das Konzept SAFE (Synchronized Armed Forces Europe) vor. Dieses Konzept beinhaltet die Forderung nach einem europäischen Soldatenstatut, das Ausbildungsstandards, Einsatzdoktrin und Handlungsfreiheit im Einsatz, Fragen der Pflichten und Rechte der Soldaten sowie das Qualitätsniveau der Ausrüstung, der medizinischen Versorgung und die ­soziale Absicherung im Falle von Tod, Verwundung und Dienstunfähigkeit regelt. Später wurde ­dieses durch den Vorschlag ergänzt, einen Wehrbeauftragten des Europäischen Parlamentes zu ernennen.

Von der gemeinsamen Währung zur Europäischen Armee

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Bei jedem Besuch von Streitkräften unter der Führung der Europäischen Union fällt auf, wie unterschied­lich die Ausrüstung der verschiedenen na­tionalen Kontingente ist. Dabei kann man feststellen, dass die Defizite bei zivilen und militärischen Einsätzen oft dieselben sind. Auch bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen geht es um Aufklärung, Naviga­tion, Telekommunika­tion sowie Luft-, See- und Landtransport. Darum ist zu überlegen, wo in diesen Bereichen die bestehende Zusammenarbeit weiter verstärkt werden kann. Derartige Mög­lichkeiten bestehen in den Bereichen der Aufklärung, der Naviga­tion, der Telekommunika­tion und des Transports. Große Projekte, insbesondere im Bereich der Satelliten, der Drohnen und der Sicherheitsforschung sollten aus dem Haushalt der Europäischen Union finanziert werden, wie das schon bei den Projekten Galileo und Kopernikus stattgefunden hat. Schließ­lich ist zu überlegen, in welcher Weise das Konzept der battle groups weiter entwickelt werden könnte. Unter anderem sollten diejenigen Länder, die Träger multina­tionaler Corps wie beispielsweise des Eurocorps sind, überlegen, ob sie im Rahmen einer Permanenten Strukturierten Zusammenarbeit dazu bereit wären, diese Einheiten der Europäischen Union permanent zur Verfügung zu stellen.

Die bunte Vielfalt Europas ist Sache seiner Bürger Christian Wulff

I. Bei einer Festschrift aus Anlass eines 70. Geburtstages denke ich auch an das Geburtsjahr des Jubilars: 1945. Deutschland lag in Trümmern, als Hans-­Gert Pöttering geboren wurde. Seinen Vater lernte er nie kennen. Er fiel in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Nur wenige Visionäre dachten in dieser Zeit daran, nur ein Jahrzehnt ­später die Grundlage für ein neues Europa zu schaffen, ein Europa des Friedens und der Freiheit. Doch es gab diese Visionäre. Wer hätte gedacht, dass es wieder großes Vertrauen in Deutschland geben würde? Aber es gab diese Visionäre. Es gab sie sogar schon früher. 1922 schrieb Richard Coudenhove-­Kalergi: „Das kontinentale Europa von Portugal bis Polen wird sich entweder zu einem Überstaat zusammenschließen oder noch im Laufe ­dieses Jahrhunderts politisch, wirtschaft­lich und kulturell zugrunde gehen.“ Ein knappes Vierteljahrhundert ­später, unmittelbar nach Ende des grausamen Weltkriegs, forderte Winston Churchill in seiner Rede an der Züricher Universität die „Vereinigten Staaten von Europa“. Es ist eine historische Tat von Robert Schuman, Jean Monnet, Konrad ­Adenauer, Alcide De Gasperi, Charles de Gaulle und anderer Politiker die Perspektive dafür in den 1950er Jahren gegen na­tionale Interessen verwirk­licht zu haben. Nachbarländer, die bis dahin eine Reihe blutiger Kriege ausgefochten hatten, schlossen Frieden. Endgültig. Innerhalb der Europäischen Union ist ein kriegerischer Konflikt nicht mehr vorstellbar. 505 Millionen Bürger der Europäischen Union werden keine Kriege mehr gegeneinander führen, Grenzen haben ihren trennenden Charakter verloren Die Europäische Union ist einmalig. Ihre Einmaligkeit liegt in dem interkulturellen politischen Raum, den verantwortungsvolle Europäer seit den Römischen Verträgen geschaffen haben. Sie haben eine Union von inzwischen 28 Na­tionen aufgebaut, die einerseits ihre na­tionale Eigenständigkeit wahren, andererseits Grenzen aufgehoben haben. Über 505 Millionen Unionsbürger bewegen sich frei in dieser Union und tauschen sich beruf­lich, sozial und kulturell miteinander aus. Eine vergleichbare politische Union für Millionen Menschen, die neben ihrer na­tionalen Staatsangehörigkeit auch die Rechte von Bürgern der Europäischen Union wahrnehmen können, gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Keine der Na­tionen mit vielen Sprachgruppen wie Russland, Indien oder China

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pflegt wie die Europäische Union mit ihren 24 Amtssprachen in dieser Form die kulturelle Vielfalt und achtet die na­tionale Eigenständigkeit einer Reihe von Mitgliedsländern gleichermaßen, auch wenn deren Bevölkerungszahl bei nur ein Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union liegt. Die weltweit einmalige Vision der Europäischen Union liegt darin, eigenständige Na­tionen „in Vielfalt zu einen“, wie es der Leitspruch der Europäischen Union ausdrückt.

II. Historisch ist der Prozess der europäischen Integra­tion als Friedensprojekt gelungen. Doch dies reicht nach meiner Überzeugung nicht aus, um die Mehrheit der Bevölkerung in den einzelnen Na­tionen für Europa zu gewinnen. Selbst in den Gründungsstaaten der EWG wenden sich bedeutende gesellschaft­liche Gruppen von Europa eher ab. In Frankreich, England und Deutschland sind neue politische Gruppierungen entstanden, die sich ganz wesent­lich als Europagegner profilieren. Ihr Einfluss reicht inzwischen in die Mitte des Wählerspektrums. Für mehrere Mitgliedsländer der EU stellt sich die Frage, ob weiterhin überhaupt na­tionale Mehrheiten für Regierungen ohne Europagegner gebildet werden können. Hinzu kommen Mitgliedsländer, die unter starken Wirtschafts- und Finanzproblemen leiden und sich zunehmend von maßgeb­lichen Beschlüssen der EU abwenden wie Griechenland, Ungarn und auch Italien. In den Augen vieler EU-Bürger ist die Europäische Union inzwischen zu einer Ansammlung von Staaten geworden, die in einem multikulturellen Nebeneinander miteinander konkurrieren anstatt zu einer Versammlung von Staaten, die sich gegenseitig befördern, über interkulturelle Brücken neue Entwicklungen anstoßen, aus denen die Mitgliedsländer neue Impulse schöpfen. Dies spiegelt sich auch in den Wahlergebnissen zum Europäischen Parlament. 2014 ist die Wahlbeteiligung auf einen neuen Tiefstand gesunken. Und es sind so viele Euroskeptiker oder Vertreter von na­tionalkonservativen Parteien gewählt worden wie noch nie. Von insgesamt 751 Abgeordneten der Mitgliedsländer lehnen rund 100 die EU ab. Sie werden mit ihrem Denken die EU nicht gestalten können. Sie werden es nicht einmal versuchen. Wie konnte es dazu kommen? Und ­welche Konsequenzen hat das?

III. In den na­tionalen politischen Debatten ist die Bedeutung des Prozesses der europäischen Integra­tion unzureichend vermittelt worden. Die EU wurde na­tional weithin für ungelöste Probleme verantwort­lich gemacht und als Hindernis für

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na­tionale Vorhaben dargestellt. Hans-­Gert Pöttering zählt zu jenen führenden Politikern der Europäischen Union, die von Beginn an und als Mitglied des Parlaments seit 1979 dazu aufgerufen haben, positiv die Reichweite und Wirksamkeit, letzt­lich auch die Erfolge des Prozesses der europäischen Integra­tion für die eigene Na­tion darzustellen. Dieses ist aber in einem nur unzureichenden Maß geschehen, so dass die EU vielen vorwiegend als Kostenfaktor, als übermächtiges Gebilde der Verwaltung und interna­tionalen Gesetzgebung erscheint. Die na­tionalen Gesellschaften wurden nicht in die tatsäch­liche Entwicklung der europäischen Vernetzung eingebunden. Gleichzeitig nehmen die Bürger nun wahr, dass das Na­tionale, die eigene Kultur und Sprache nicht mehr die obersten und alleinigen Ordnungskriterien darstellen. Kein EU-Bürger ist mehr allein mit seiner Na­tion, seiner Sprache, seiner Religion und Lebensform. Sprache und Lebensform sind nur eine unter anderen, die alle eine vergleichbare Achtung und Anerkennung verlangen. Auch kein größeres Unternehmen kann das europäische Beziehungsgeflecht mehr übergehen, wenn es erfolgreich bestehen will. Die Rechte der EU-Bürger reichen in vielen Punkten auch im Nachbarland an die na­tionalen Staatsangehörigkeitsrechte heran. Die gleichrangige Präsenz „der anderen“, die nicht dem eigenen Volk angehören, nicht die eigene Muttersprache sprechen, ist Realität in der Europäischen Union geworden. Insofern berührt die kulturelle Vielfalt der Union, die nun zur Wirk­lichkeit im Alltag der Menschen in unseren Städten geworden ist, die Identität jedes einzelnen Menschen. Mehrsprachigkeit, kulturelle und religiöse Vielfalt sind Kennzeichen der Europäischen Union.

IV. „Wir haben so viele verschiedene Kulturen auf heimat­lichem Boden. Dieser Reichtum darf nicht nivelliert werden; er muss das vereinte Europa prägen.“ Dieser Satz des vor zehn Jahren verstorbenen Wiener Kardinals Franz König gilt auch heute. Um ihn mit Leben zu füllen, sind aber eine Reihe von Aufgaben zu leisten. Beispiel Mehrsprachigkeit: Sie wird in den Städten gelebt, ist aber noch nicht als grundlegendes Prinzip für die Gestaltung von erfolgreichen Schullaufbahnen anerkannt und eingeführt. Beispiel Religionen: In jeder europäischen Metropole werden auf Dauer die großen Weltreligionen gelebt. In Berlin gibt es nicht nur einen Evange­lischen und einen Katho­lischen Bischof mit vielen Kirchengemeinden, den Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland, sondern auch mehrere buddhistische Tempel sowie 76 eingetragene Moscheen. Doch die Tatsache, dass die Muslime zur zweiten großen Religionsgemeinschaft in Deutschland und der Europäischen

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Union geworden sind, scheint viele Bürger zu beunruhigen. „Eine der großen Weltreligionen, mit etwa 1,5 Milliarden Anhängern weltweit und zugleich die mit etwa 4 Millionen Menschen größte Religionsminderheit in Deutschland, wird von einem großen Teil der eigent­lich religionstoleranten Bürger gewissermaßen als unerwünscht eingestuft.“ 1 Dieses Ergebnis des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung über die Wahrnehmung des Islam in Deutschland erfüllt mich mit Sorge. Die Religionsfreiheit ist eines der Grundprinzipien, das in Europa für alle gilt. Gerade in Deutschland tragen wir hierfür eine besondere Verantwortung. Muslime sind einst als sogenannte Gastarbeiter aktiv angeworben worden. Allerdings hatten weder in Frankreich noch in Deutschland die verantwort­lichen Politiker von den notwendigen kulturellen und sozialen Folgen der Anwerbepolitik gesprochen. Die Folgen wurden ignoriert. Inzwischen ist die entstandene kulturelle Vielfalt Europas nicht mehr zu übersehen. Einige befürchten, sie könne die je eigene Kultur in Frage stellen. Dieser Eindruck konnte auch entstehen, weil den Bürgern der Mehrwert, den die Öffnung der Grenzen und die Begegnung mit fremden Kulturen beinhalten, nicht vermittelt wurde. Aus einer Reihe von Minderheiten, die als ausländische Gastarbeiter nach Deutschland gerufen wurden, sind europäische Bürger geworden, ihre Lebensform und Kultur spiegelt den Reichtum Europas, wie es Kardinal König gesagt hat. Ihre Sprachen zu pflegen, sie in öffent­lichen Schulen zu vermitteln würde jungen Menschen neue Mög­lichkeiten erschließen, in einem erweiterten europäischen Raum ihre je eigene kulturelle Identität zu finden. Daraus ergibt sich eine neue pädago­gische Aufgabe für die Schulen: Junge Menschen zu befähigen, der gelebten kulturellen Weite in ihrem Land ins Auge zu sehen, zusammen mit Schülern anderer Herkunft zu lernen, dabei selbst inmitten einer Welt im Wandel verbind­liche Orientierung zu finden. Dieses beinhaltet interkulturelles Lernen, die Verarbeitung von kultureller Differenz, Mehrsprachigkeit bis hin zur Befähigung zum interreligiösen Dialog. Nicht nur Minderheiten sind in Europa dafür zu gewinnen. Es sind auch die na­tionalen Mehrheiten auf eine mehrsprachig-­interkulturelle Umwelt in Europa vorzubereiten. Nur zusammen mit den Schülern der Mehrheit werden die notwendigen sprach­lichen und interkulturellen Lernprozesse auf Seiten der Minderheiten in den öffent­lichen Schulen erfolgreich verlaufen. Junge Menschen müssen gemeinsam befähigt werden, ihre zukünftige Umwelt kreativ mit anderen zu gestalten.

V. Das Ziel besteht darin, durch interkulturelles Lernen ein in Vielfalt geeintes Europa gemeinsam zu bauen. Grenzen zu überschreiten weitet den je eigenen Handlungsraum, jeder Wandel beinhaltet neue Impulse. An die Stelle des Verlusts von na­tionalen Strukturen muss der Mehrwert erfahren werden, der sich

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aus Mehrsprachigkeit, kultureller Differenz und dem interreligiösen Dialog für die Bürger der Europäischen Union ergibt. Eine fremde Sprache, die gelernt wird, stellt keine Bedrohung dar. Sie gefährdet weder die eigene Sprache noch vermischt sie der Lernende mit seiner Muttersprache. Vielmehr erweitert sie den kommunikativen Handlungsraum. Entsprechend wird es in der Europäischen Union darum gehen, zu erkennen, dass Wandel und Verschiedenheit dann, wenn man sie verarbeitet, zu einer Quelle für neues Erkennen und kreative Lösungen werden. Diese Erfahrung wird Menschen unterschied­licher Herkunft verbinden und gemeinsame Kräfte zur Entwicklung der Lebensräume in Europa freilegen.

VI. In meiner Heimatstadt, der Friedensstadt Osnabrück, hat Professor Peter Graf viele Jahre das Institut für Migra­tionsforschung und Interkulturelle Studien geleitet. Er ist inzwischen emeritiert und hat einen sehr klugen Vorschlag gemacht, den ich unterstütze: Die Einrichtung eines Kollegs der Kulturen, das z. B. im Auftrag der Europäischen Union den kulturellen Wandel und seine Bedeutung für individuelle Orientierung für die Bürger in der Europäischen Union untersucht. Es soll zum gemeinsamen Studium der Kulturen, Sprache und Religionen in Europa einladen. Ziel des Kollegs wäre, die kulturelle Differenz in einer Weise zu verarbeiten, dass übergreifende Strukturen sichtbar werden, die neue Impulse für den Umgang mit Verschiedenheit beinhalten und Lösungen für bestehende Probleme vorschlagen. Dabei sollten sich die Studien in besonderer Weise auf die kulturelle, die sprach­liche und weltanschau­lich-­religiöse Sozialisa­tion der nachwachsenden Genera­tion als junge Unionsbürger richten. Für sie muss Europa zu einer Chance in ihrer Bildungs- und Berufswelt werden, damit sie die Fähigkeit und den Willen entfalten können, selbst die Europäische Union zusammen mit anderen kreativ zu gestalten. Dabei werden Fragen der Orientierung auf dem Weg bestimmend sein, um das eigene Selbst inmitten einer Welt der Vielfalt zu finden und im Austausch mit anderen zu verwirk­lichen. Denn am Ende können nur die Bürger das Schicksal Europas lenken und bestimmen. Die Zukunft gehört denen, die weltoffen Angst vor Fremden und Fremdem abbauen und durch ein gedeih­liches Miteinander ablösen. Als Hans-­Gert Pöttering heranwuchs, erlebte er, wie aus einst verhassten Kriegsgegnern vertrauensvoll zusammenarbeitende Partner wurden. Wir sollten uns immer wieder vor Augen halten, was für ein Wunder das war. Vielleicht bewahrt uns das vor allzu viel Überheb­lichkeit, wenn wir über andere Weltregionen sprechen, in denen wir Konflikte geradezu für naturgegeben zu halten scheinen. Hans-­Gert Pöttering jedenfalls war fasziniert von dieser Entwicklung und wurde zum begeisterten Europäer. Wir brauchen viel mehr dieser begeisterten Europäer.

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Wenn die Europäische Union ihr hohes Ziel erreichen will, einen weltweit einmaligen politischen Raum zu schaffen, der ihre Bürger befähigt, inmitten von kultureller Vielfalt einen freien Raum für individuelle Orientierung und Selbstverwirk­lichung zu finden, dann muss die Union mög­lichst viele junge Europäer befähigen, selbst in die offenen Weltmeere der Kulturen hinauszufahren. Mit ihren Booten sollen sie dabei nicht mehr nur wie die Segler aus vergangenen Zeiten entlang der Küste des eigenen Landes übers Meer fahren, von einer vertrauten Markierung des eigenen Landes zur nächsten. Sie müssen vielmehr lernen und befähigt werden, mit großen Karten der Orientierung aufs offene Meer der Kulturen, Sprachen und Religionen hinauszufahren. Gelingt ihnen ­dieses, so werden sie neue Welten erkunden, erweiterte Karten der Orien­ tierung erlernt haben und mit neuen Erfahrungen aus fremden Welten bereichert nach Hause zurückkehren.

1 Vgl. Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland. Religionsmonitor. Bertelsmann Stiftung. Gütersloh 2015, S. 31.

Lebenslauf

Ausbildung und akademische Laufbahn 15. September 1945 1966 1968 – 1973

1971 1973 1974 1976 1976 – 1979 1989 1995

Geburt in Bersenbrück (Niedersachsen) Abitur, anschließend zwei Jahre Wehrdienst, Reserveoffizier Studium der Rechtswissenschaften, Politik und Geschichte an den Universitäten Bonn und Genf sowie an dem dortigen Institut des Hautes Études Inter­na­tionales Studienaufenthalt an der Columbia University in New York Erstes juristisches Staatsexamen Promo­tion zum Dr. phil. Zweites juristisches Staatsexamen Wissenschaft­licher Angestellter Berufung zum Lehrbeauftragten der Universität Osnabrück Berufung zum Honorarprofessor der Universität Osnabrück

Politische Tätigkeiten und Ehrenämter 1974 – 1980 1974 – 1976 1976 – 1980 1979 – 2014

1981 – 1991 1984 – 1994 1990 – 2010 1994 – 1999

Vorsitzender des CDU-Stadtverbandes Bersenbrück Kreisvorsitzender der Jungen Union im Landkreis Osnabrück Europapolitischer Sprecher der Jungen Union ­Niedersachsen Mitglied des Europäischen Parlaments (einziger Abgeordneter, der dem Europäischen Parlament seit der ersten Direktwahl im Jahr 1979 bis 2014 ununterbrochen angehörte) Landesvorsitzender der Europa-­Union Niedersachsen Vorsitzender des Unterausschusses „Sicherheit und Abrüstung“ des Europäischen Parlaments Kreisvorsitzender der CDU im Landkreis Osnabrück Stellvertretender Vorsitzender der EVP-Frak­tion im Europäischen Parlament

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Lebenslauf

1994 – 1996

Leiter der Arbeitsgruppe „Regierungskonferenz 1996“ von EVP und EVP-Frak­tion, auf deren Vorschläge die EVP-Posi­tion für den Vertrag von ­Amsterdam erarbeitet wurde 1996 – 1999 Leiter der Arbeitsgruppe „Erweiterung der Europäischen Union“ von EVP und EVP-Frak­tion 1997 – 1999 Präsident der Europa-­Union Deutschland 1999 – 2007 Vorsitzender der Frak­tion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) und Europäischer Demokraten (EVP-ED) im Europäischen Parlament 1999 – 2009 Mitglied im Bundesvorstand der CDU Deutschlands, Präsidiumsmitglied 1999 – 2009 Mitglied im Präsidium der Europäischen Volkspartei (EVP) Januar 2007–Juli 2009 12. Präsident des Europäischen Parlaments seit der ersten Direktwahl 2008 – 2009 Präsident der Parlamentarischen Versammlung Europa-­Mittelmeer EMPA 2008 – 2014 Vorsitzender der Arbeitsgruppe für den Nahen Osten im Europäischen Parlament 2008 zusammen mit André Leysen Mitbegründer des „Europäischen Karlspreises für die Jugend“ seit 2008 Vorsitzender des Kuratoriums für die Errichtung eines „Hauses der Europäischen Geschichte“ seit 2010 Mitglied im Direktorium des „Europäischen ­Karlspreises“ seit Januar 2010 Vorsitzender der Konrad-­Adenauer-­Stiftung seit Juli 2014 Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments Auszeichnungen (in Auswahl) 1995 2002

2006 2007

Robert-­Schuman-­Medaille der EVP-Frak­tion Großes Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ‚Mérite Européen en or‘, Luxemburg Ehrendoktor der Babeş-­Bolyai-­Universität in Cluj-­Napoca (Klausenburg), Rumänien Großkreuz des päpst­lichen Gregoriusordens Ehrendoktor der Universität Opole (Oppeln), Polen Walter-­Hallstein-­Preis, Frankfurt am Main

Lebenslauf

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

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Ehrendoktor der Warmia und Mazury Universität Olsztyn (Allenstein), Polen Großkreuz des Verdienstordens der Republik I­ talien, „Cavaliere di Gran Croce Ordine al Merito della Repubblica Italiana“ Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Bersenbrück Orden des Großfürsten Jaroslaw des Weisen, „Řád prince Jaroslava Moudrého“ (Nejvyšší ­ukrajinské vyznamenání), Ukraine „Drei-­Sterne-­Orden“ der Republik Lettland (Großkreuzkommandeur) Ben-­Gurion-­Medaille der Ben-­Gurion-­Universität, Jerusalem Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland Ehrendoktor der Korea Universität Seoul René-­Cassin-­Medaille für Menschenrechte des Konsultativrates Jüdischer Organisa­tionen Kommandeur der Franzö­sischen Ehrenlegion Großkreuz des Zivilen Verdienstordens des Königreichs Spanien Auszeichnung mit dem Deutsch-­Polnischen Preis Ehrendoktor der Universität Miguel de Cervantes, Santiago de Chile Ehrendoktor der Bahçeşehir Universität Istanbul, Türkei Kardinal-­Opilio-­Rossi-­Medaille der Arbeitsgemeinschaft Katho­lischer Verbände in Wien Großkomturkreuz der Republik Polen Komturkreuz des Ordens für die Verdienste um die Republik Litauen Großkreuz des Verdienstordens der Republik Ungarn „Marienland-­Kreuz“ I. Klasse der Republik Estland Großkreuz des Sterns von Rumänien Ehrendoktor der Universität Wrocław (Breslau), Polen Ehrendoktor der Universität Ateneo de Manila, Philippinen Ehrenbürger von Opole (Oppeln), Polen Ehrenprofessur von der Päpst­lichen Katho­lischen Universität Argentiniens (UCA)

Publikationen (in Auswahl)

Hans-­Gert Pöttering hat zahlreiche Beiträge, Aufsätze, Artikel und Bücher zur europäischen Politik veröffent­licht. Hier sollen nur einige genannt werden. –– Adenauers Sicherheitspolitik 1955 – 1963. Ein Beitrag zum deutsch-­ amerikanischen Verhältnis. Mit einem Vorwort von Hans-­Adolf Jacobsen (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 10). Düsseldorf 1975 [Disserta­tion] –– Mit Frank Wiehler: Die vergessenen Regionen. Plädoyer für eine solidarische Regionalpolitik in der Europäischen Gemeinschaft. Baden-­Baden 1983 (auch Niedersäch­sische Landeszentrale für Politische Bildung. Hannover 1983) –– Mit Ludger Kühnhardt: Europas vereinigte Staaten. Annäherungen an Werte und Ziele (Texte+Thesen 237). Zürich 1991 –– Mit Ludger Kühnhardt: Weltpartner Europäische Union (Texte+Thesen 252). Zürich 1994 –– Die Einigung Europas in der Perspektive des Jahres 2000 (Brüsseler Vorträge der Konrad-­Adenauer-­Stiftung 12). Bonn 1995 [Antrittsvorlesung als Honorarprofessor an der Universität Osnabrück] –– Mit Ludger Kühnhardt: Kontinent Europa. Übergänge, Grenzen (Texte+Thesen 276). Zürich 1998 –– Von der Vision zur Wirk­lichkeit. Auf dem Weg zur Einigung Europas. Bonn 2004 –– Im Dienste Europas. Reden aus den Jahren 2007 – 2009. Mit einem Vorwort von Helmut Kohl. Bonn 2009 –– Mit Gerd Kaldrack (Hg.): Eine einsatzfähige Armee für Europa: die Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach Lissabon (Forum Innere Führung 34). Baden-­Baden 2011 –– Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg. Köln/Weimar/ Wien 2014 –– Mein Europa: Werte, Überzeugungen, Ziele. Freiburg/Br. 2015

Autoren und Herausgeber Albright, Madeleine, geb. 1937, PhD, 1993 bis 1997 Botschafterin der USA bei der UNO, 1997 bis 2001 Außenministerin der USA, seit 2001 Vorsitzende der Albright Group, seit 2009 der Albright Stonebridge Group, Vorstandsvorsitzende des Na­tional Democratic Institute for Interna­tional Affairs Balkenende, Jan Peter, geb. 1956, Prof. Dr. jur. Dr. h. c. mult., 1998 bis 2002 Mitglied des niederländischen Parlaments, 2002 bis 2010 Ministerpräsident des Königreichs der Niederlande, Partner Corporate Responsibility bei EY, Professor für Governance, Institu­ tions and Interna­tionalisa­tion an der Erasmus Universität Rotterdam und Vorsitzender des Deutsch-­Niederländischen Forums Bartholomäus I., geb. 1940, seit 1991 griechisch-­orthodoxer Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel Barroso, José Manuel Durão, geb. 1956, PhD, seit 1980 Mitglied der Partido Social Democrata (PSD), 1992 bis 1995 Außenminister Portugals, 2002 bis 2004 Ministerpräsident, 2004 bis 2014 Präsident der Europäischen Kommission Bartoszewski, Władysław, (1922 – 2015), Prof., 1990 bis 1995 polnischer Botschafter in Wien, 1995 und 2000 bis 2001 polnischer Außenminister Bocklet, Reinhold, geb. 1943, 1979 bis 1993 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1993 bis 1998 Bayerischer Staatsminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie 1998 bis 2003 für Bundes- und Europaangelegenheiten, 1994 bis 2003 Mitglied des Ausschusses der Regionen, seit 1994 Mitglied des Bayerischen Landtags, seit Oktober 2008 1. Vizepräsident des Bayerischen Landtags Bode, Franz-­Josef, geb. 1951, Dr. theol., seit 1995 Bischof von Osnabrück, 1996 bis 2010 Vorsitzender der Jugendkommission der Deutschen Bischofskonferenz, seit 2010 Vorsitzender der Pastoralkommission Borodziej, Wlodzimierz, geb. 1956, Professor am Historischen Institut der Universität Warschau, Co-­Direktor des Imre-­Kertész-­Kollegs an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena, Vorsitzender des Wissenschaft­lichen Beirats des entstehenden Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel Brickwedde, Fritz, geb. 1948, 1991 bis 2013 Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt, seit 2013 Präsident des Bundesverbands Erneuerbare Energien, Vorsitzender der CDU-Stadtratsfrak­tion und des CDU-Kreisverbands Osnabrück Brok, Elmar, geb. 1946, seit 1980 Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 1989 Vorsitzender des CDU-Bundesfachausschusses Außen-, Sicherheits- und Europapolitik, 1999 bis 2007 und seit 2012 Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments, seit 2002 Präsident der Europäischen Union Christ­lich-­ Demokratischer Arbeitnehmer Buzek, Jerzy, geb. 1940, Prof. Dr., 1981 Leitung des ersten Solidarność-­Kongresses, 1997 bis 2001 Ministerpräsident von Polen, seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2009 bis 2012 dessen Präsident, seit 2014 Vorsitzender des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie Calderone, Christian, geb. 1977, seit 2001 Mitglied des Stadtrats von Quakenbrück, 2007 Vorsitzender der CDU-Stadtratsfrak­tion, seit 2010 Vorsitzender des Kreisverbands Osnabrück-­ Land und stellvertretender Vorsitzender des Bezirksverbands Osnabrück-­Emsland, seit 2013 Mitglied des Niedersäch­sischen Landtags

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Autoren und Herausgeber

Daul, Joseph, geb. 1947, 1999 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2007 bis 2014 Vorsitzender der Frak­tion der Europäischen Volkspartei (EVP), seit November 2013 Vorsitzender der Europäischen Volkspartei Dzurinda, Mikuláš, geb. 1955, 1997 bis 2000 Vorsitzender der Partei der Slowakischen Demokratischen Koali­tion, 1998 bis 2006 Ministerpräsident der Slowakei, 2000 bis 2012 Vorsitzender der Partei der Slowakischen Demokratischen und Christ­lichen Union, 2010 bis 2012 Außenminister, seit Dezember 2013 Präsident des Wilfried Martens Centre for European Studies (WMCES) Ebner, Michl, geb. 1952, 1979 bis 1994 Mitglied der italienischen Abgeordnetenkammer, 1994 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2008 Präsident der Handels-, Industrie-, Handwerks- und Landwirtschaftskammer Bozen Ferber, Markus, geb. 1965, seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1999 bis 2014 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament, seit 1999 Mitglied im Parteivorstand der CSU, seit 2000 Landesvorsitzender der Europa-­Union Bayern, seit 2005 Bezirksvorsitzender der CSU Schwaben Friedrich, Ingo, geb. 1942, Dr. rer. pol., 1979 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe, 1993 bis 2011 stellvertretender CSUParteivorsitzender, 1999 bis 2007 Vizepräsident und Quästor des Europäischen Parlaments, seit 2009 Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats Hassemer, Volker, geb. 1944, Dr. jur., 1981 bis 1983 und 1991 bis 1996 Berliner Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz, 1983 bis 1989 Senator für kulturelle Angelegenheiten, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Zukunft Berlin und Vorsitzender der Geschäftsführung der EWIV A Soul for Europe Hintze, Peter ,geb. 1950, seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1991 bis 1992 Parla­ mentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Frauen und Jugend, 1992 bis 1998 Generalsekretär der Christ­lich Demokratischen Union Deutschlands, seit Oktober 2002 Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP), 2005 bis 2013 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, seit Oktober 2013 Vizepräsident des Deutschen Bundestags Hugo, Manfred, geb. 1942, 1969 bis 2002 Vorsitzender Richter am Landgericht Osnabrück, 1972 bis 1994 Bürgermeister von Bohmte, 1993 ehrenamt­licher und 2002 bis 2011 hauptamt­ licher Landrat des Landkreises Osnabrück Hütter, Hans Walter, geb. 1954, Dr. phil., seit 2007 Präsident und Professor der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Jacobsen, Hans-­Adolf, geb. 1925, Prof. (em.) Dr. Dr. h. c. mult., 1969 bis 1991 Ordinarius am Seminar für Politische Wissenschaft der Rheinischen Friedrich-­Wilhelms-­Universität Bonn Janša, Janez, geb. 1958, 1990 bis 1994 Verteidigungsminister von Slowenien, seit 1995 Vorsitzender der Slowenischen Demokratischen Partei, 2004 bis 2008 und 2012 bis 2013 Ministerpräsident von Slowenien, im ersten Halbjahr 2008 Präsident des Europäischen Rates Juncker, Jean-­Claude, geb. 1954, 1984 bis 1989 Minister für Arbeit und Beigeordneter Minister für den Haushalt, 1989 bis 1995 Minister für Arbeit und Finanzen, 1990 bis 1995 Vorsitzender der luxembur­gischen Christ­lich Sozialen Volkspartei, 1995 bis 1999 Minister für Arbeit und Beschäftigung, der Finanzen und Staatsminister für das Schatzressort, 1995 bis 2013 Premierminister von Luxemburg, 2005 bis 2013 Erster ständiger Vorsitzender der Euro-­Gruppe, seit 2014 Präsident der EU-Kommission Karas, Othmar, geb. 1957, 1995 bis 1999 Generalsekretär der Österreichischen Volkspartei, seit 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2012 bis 2014 Vizepräsident des Europäischen Parlaments

Autoren und Herausgeber

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Kauder, Volker, geb. 1949, seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestags, Januar bis Dezember 2005 Generalsekretär der Christ­lich Demokratischen Union Deutschlands, seit 2005 Vorsitzender der CDU/CSU-Frak­tion im Deutschen Bundestag Kelam, Tunne, geb. 1936, 1992 bis 2004 Mitglied des Estnischen Parlaments, 1993 bis 1995 Vorsitzender der Estnischen Na­tionalen Unabhängigkeitspartei, 2002 bis 2005 Vorsitzender der Vaterlandsunion, seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments Köhler, Horst, geb. 1943, Dr. rer. pol., 1990 bis 1993 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, 1993 bis 1998 Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, 2000 bis 2004 Geschäftsführender Direktor des Interna­tionalen Währungsfonds, seit 2003 Honorarprofessor an der Universität Tübingen, 2004 bis 2010 Bundespräsident Kühnhardt, Ludger, geb. 1958, Prof. Dr. phil., seit 1997 Direktor am Zentrum für Europäische Integra­tionsforschung und Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-­Wilhelms-­Universität Bonn Kues, Hermann, geb. 1949, Dr. rer. pol., 1991 bis 1994 Landesgeschäftsführer der CDU Niedersachsen, seit 1994 Vorsitzender der Ludwig-­Windhorst-­Stiftung, 1994 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestags, 2005 bis 2013 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Lamassoure, Alain, geb. 1944, 1986 bis 1989 und 1993 bis 1997 Mitglied der franzö­sischen Na­tionalversammlung, 1993 bis 1995 Minister für Europäische Angelegenheiten, 1995 bis 1997 Haushaltsminister und Sprecher der franzö­sischen Regierung, 1989 bis 1993 und seit 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2009 Vorsitzender im Haushaltsausschuss des Europäischen Parlaments Lammert, Norbert, geb. 1948, seit 1980 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1989 bis 1994 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, ab 17. November 1994 beim Bundesminister für Wirtschaft, 1997 bis 1998 beim Bundes­ minister für Verkehr, 2002 bis 2005 Vizepräsident und seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestags, seit März 2001 stellvertretender Vorsitzender der Konrad-­Adenauer-­Stiftung Langen, Werner, geb. 1949, Dr. rer. pol., 1983 bis 1994 Mitglied des Rheinland-­Pfälzischen Landtags, 1990 bis 1991 Minister für Landwirtschaft, Weinbau und Forsten, seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2006 bis 2012 Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament Marx, Reinhard, geb. 1953, Prof. Dr. theol., 2002 bis 2007 Bischof von Trier, seit 2008 Erzbischof von München und Freising, seit 2010 Kardinal, seit 2012 Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft, seit 2013 Mitglied des Kardinalrats im Vatikan, seit 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz McAllister, David, geb. 1971, 1998 bis 2014 Mitglied des Niedersäch­sischen Landtags, 2002 bis 2003 Generalsekretär der CDU in Niedersachsen, 2003 bis 2010 Vorsitzender der CDUFrak­tion im Niedersäch­sischen Landtag, seit 2008 Vorsitzender der CDU in Niedersachsen, 2010 bis 2013 Ministerpräsident, seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments Méndez de Vigo, Íñigo, geb. 1956, Mitglied der Partido Popular, 1992 bis 2011 Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2011 Minister für Europäische Angelegenheiten in Spanien Merkel, Angela, geb. 1954, Dr. rer. nat., seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1991 bis 1994 Bundesministerin für Frauen und Jugend, 1994 bis 1998 für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, 1998 bis 2000 Generalsekretärin der CDU, seit 2000 Vorsitzende der CDU, 2002 bis 2005 Vorsitzende der CDU/CSU-Frak­tion im Deutschen Bundestag, seit 2005 Bundeskanzlerin Milinkievič, Alaksandr, geb. 1947, Dr. rer. nat., 1978 bis 2000 Dozent an der Physika­lischen Fakultät der Universität Hrodna, 1990 bis 1996 Vizebürgermeister von Hrodna, 2005

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Kandidat der weißrus­sischen Opposi­tion für die Präsidentschaftswahl 2006, 2006 Träger des Sacharow-­Preises des Europäischen Parlaments, seit 2006 Vorsitzender der „Bewegung für die Freiheit“ Napolitano, Giorgio, geb. 1925, seit 1953 Mitglied der Abgeordnetenkammer (für insgesamt 10 Legislaturperioden), 1981 bis 1986 Vorsitzender der PCI-Frak­tion der Abgeordnetenkammer, 1989 bis 1992 und 1999 bis 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1992 bis 1994 Präsident der Abgeordnetenkammer, 1996 bis 1998 Innenminister Italiens, seit 2005 Senator auf Lebenszeit, 2006 bis 2015 Staatspräsident Nassauer, Hartmut, geb. 1942, 1974 bis 1994 Mitglied des Hes­sischen Landtags, 1987 bis 1990 Vorsitzender der CDU-Frak­tion, 1990 bis 1991 hes­sischer Innenminister, 1994 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1999 bis 2006 Vorsitzender der CDU/CSUGruppe im Europäischen Parlament, 2006 bis 2009 stellvertretender Vorsitzender der EVP-Frak­tion im Europäischen Parlament Neubert, Hildigund, geb. 1960, 1997 bis 2003 Mitarbeiterin des „Bürgerbüro e. V. – Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur“, 2003 bis 2013 Landesbeauftragte von Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, 2013 bis 2014 Staatssekretärin in der Thüringer Staatskanzlei, stellvertretende Vorsitzende der Konrad-­Adenauer-­Stiftung Neuss, Beate, geb. 1953, Prof. Dr. phil., Professorin für Interna­tionale Politik an der Technischen Universität Chemnitz, seit 1997 Vertrauensdozentin der Konrad-­Adenauer-­Stiftung an der TU Chemnitz, stellvertretende Vorsitzende der Konrad-­Adenauer-­Stiftung Niebler, Angelika, geb. 1963, Dr. jur., seit 1995 Mitglied des Bezirksvorstandes des CSUBezirksverbands Oberbayern, seit 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1999 bis 2009 Bezirksvorsitzende der Frauen-­Union Oberbayern, seit 2009 Mitglied im Vorstand und Präsidium der CSU, seit 2009 Landesvorsitzender der Frauen-­Union Bayern, seit 2014 Vorsitzende der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament Nossol, Alfons, geb. 1932, Prof. Dr. theol., 1977 bis 2009 Bischof von Oppeln, seit 1999 ­Titularerzbischof von Oppeln Oettinger, Günther, geb. 1953, 1984 bis 2010 Mitglied des Baden-­Württember­gischen Landtags, 1991 bis 2005 Vorsitzender der CDU-Frak­tion, 2005 bis 2010 Ministerpräsident, 2010 bis 2014 EU-Kommissar für Energie, seit 2014 EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft Pack, Doris, geb. 1942, 1974 bis 1983 und 1985 bis 1989 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1989 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2009 bis 2014 Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung im Europäischen Parlament Pöttering, Benedict, geb. 1983, Sparkassen- und Bankkaufmann, Betriebswirt, Tätigkeit in der strate­gischen Unternehmensentwicklung eines pharmazeutischen Unternehmens, 2002 bis 2009 Kreisvorsitzender der Jungen Union Osnabrück-­Land, 2012 bis 2014 stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungen Union, 2011 bis 2015 stellvertretender Vorsitzender der jungen Europäischen Volkspartei (YEPP) Pöttering, Johannes, geb. 1977, Rechtsanwalt, Stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Landesvereinigung der Unternehmensverbände Nordrhein-­Westfalen, 1996 bis 2006 Mitglied des Rates der Stadt Bad Iburg, 2001 bis 2006 Vorsitzender der CDU-Stadtratsfrak­ tion, 2002 bis 2012 stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungen Union, 2010 bis 2014 stellvertretender Vorsitzender der CDU im Landkreis Osnabrück Prodi, Romano, geb. 1939, Prof., 1971 bis 1999 Professor für Industriepolitik an der Universität von Bologna, 1982 bis 1989 und 1993 bis 1994 Präsident der italienischen Staatsholding

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IRI, 1996 bis 1998 und 2006 bis 2008 Ministerpräsident von Italien, 1999 bis 2004 Präsident der Europäischen Kommission, seit 2012 UN-Sonderbeauftragter für die Sahel-­Zone

Reul, Herbert, geb. 1952, 1985 bis 2004 Mitglied des Nordrhein-­Westfä­lischen Landtags, 1991 bis 2003 Generalsekretär der CDU Nordrhein-­Westfalen, seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2009 bis 2012 Vorsitzender des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie, seit 2012 Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament Rinsche, Günter, geb. 1930, Diplom-­Volkswirt, Dr. rer. pol., 1964 bis 1979 Oberbürgermeister von Hamm, 1979 bis 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1989 bis 1999 Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe und Mitglied im Vorstand der EVP-Frak­tion, 1995 bis 2001 Vorsitzender der Konrad-­Adenauer-­Stiftung Rompuy, Herman Van, geb. 1947, M. A., 1988 bis 1995 Mitglied des bel­gischen Senats, 1988 bis 1998 Staatssekretär für Finanzen, 1993 bis 1995 stellvertretender Premierminister und Haushaltsminister, 1995 bis 2008 Mitglied der Abgeordnetenkammer, 2007 bis 2008 Parla­mentspräsident, 2008 bis 2009 Premierminister von Belgien, 2009 bis 2014 Präsident des Europäischen Rats Santer, Jacques, geb. 1937, Dr. jur., 1974 bis 1982 Parteipräsident der luxembur­gischen Christ­lich Sozialen Volkspartei, 1975 bis 1979 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1979 bis 1984 luxembur­gischer Finanz-, Arbeits- und Sozialminister, 1984 bis 1995 Premierminister, 1984 bis 1989 Finanzminister, 1989 bis 1995 Schatzminister sowie Minister für kulturelle Angelegenheiten, 1995 bis 1999 Präsident der Europäischen Kommission, 1999 bis 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments Sarkozy, Nicolas, geb. 1955, 1988 bis 2002 Mitglied der franzö­sischen Na­tionalversammlung, 1993 bis 1995 Haushaltsminister und Regierungssprecher, 2002 bis 2004 Innenminister, 2004 Minister für Finanzen, Wirtschaft und Industrie, 2004 bis 2007 und seit 2014 Vorsitzender der Union pour un mouvement populaire (UMP) bzw. seit 2015 der Partei Les Républicains, 2007 bis 2012 Staatspräsident Schäuble, Wolfgang, geb. 1942, Dr. jur., seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1984 bis 1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, 1989 bis 1991 und 2005 bis 2009 Bundesminister des Innern, 1991 bis 2000 Vorsitzender der CDU/CSU-Frak­tion im Deutschen Bundestag, 1998 bis 2000 Vorsitzender der Christ­lich Demokratischen Union Deutschlands, seit 2009 Bundesminister der Finanzen Schorlemer, Reinhard Freiherr von, geb. 1938, 1971 bis 1990 Kreisvorsitzender des CDUKreisverbands Bersenbrück bzw. Osnabrück-­Land, 1974 bis 1980 Mitglied des Niedersäch­ sischen Landtags, 1980 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestags Schoser, Franz, geb. 1933, Dr. rer. pol., 1980 bis 2001 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handels(kammer)tages Bonn, Berlin Schüssel, Wolfgang, geb. 1945, Dr. jur., 1979 bis 1989 und 2008 bis 2011 Mitglied des österreichischen Na­tionalrats, 1989 bis 1995 Wirtschaftsminister, 1995 bis 2007 Vorsitzender der Österreichischen Volkspartei, 1995 bis 2000 Außenminister, 2000 bis 2007 Bundeskanzler, 2007 bis 2008 Vorsitzender der ÖVP-Frak­tion im Na­tionalrat, seit 2011 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Na­tionen Schulz, Martin, geb. 1955, seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2000 bis 2004 Vorsitzender der SPD-Gruppe, 2004 bis 2009 Vorsitzender der Sozialistischen Frak­tion, 2009 bis 2012 Vorsitzender der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D-Frak­ tion), seit 2012 Präsident des Europäischen Parlaments Stoiber, Edmund, geb. 1941, Dr. jur., 1974 bis 2008 Mitglied des Bayerischen Landtags, 1978 bis 1983 Generalsekretär der Christ­lich Sozialen Union, 1988 bis 1993 bayerischer

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Staatsminister des Innern, 1993 bis 2007 Ministerpräsident, 1999 bis 2007 Parteivorsitzender der CSU, seit 2007 Leiter der EU-Sachverständigengruppe zum Bürokratie-­Abbau Stuth, Reinhard, geb. 1956, 1985 bis 1989 Persön­licher Referent von Bundespräsident R ­ ichard von Weizsäcker, 1999 bis 2001 Berater für Europapolitik der CDU/CSU-Frak­tion im Deutschen Bundestag, 2001 bis 2008 Staatsrat und Bevollmächtigter der Freien und Hansestadt Hamburg beim Bund, bei der Europäischen Union und für auswärtige Angelegenheiten, 2008 bis 2009 Staatsrat für Kultur und Medien, 2010 bis 2011 Senator für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg Tajani, Antonio, geb. 1953, 1994 Pressesprecher von Premierminister Silvio Berlusconi, 1994 bis 2004 und seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2002 Vizepräsident der Europäischen Volkspartei, 2008 bis 2010 EU-Kommissar für Verkehr, 2010 bis 2014 für Industrie und Unternehmen Tauran, Jean-­Louis, geb. 1943, Dr. theol., 1990 bis 2003 Sekretär im Staatssekretariat des Vatikan, 2003 Ernennung zum Kardinaldiakon, seit 2007 Präsident des Päpst­lichen Rates für den Interreligiösen Dialog und Leiter der Päpst­lichen Kommission für religiöse Bezie­ irche hungen zu den Muslimen, seit 2014 Kardinalkämmerer der Heiligen Römischen K Thielen, Michael, geb. 1959, 1991 bis 1995 Referent der CDU/CSU-Frak­tion im Deutschen Bundestag, 1995 bis 1998 Leiter des Ministerbüros und des Leitungsstabes im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBWFT), 1999 bis 2005 Bereichsleiter in der CDU-Bundesgeschäftsstelle, 2006 bis 2008 Staatssekretär des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, seit 2008 Generalsekretär der Konrad-­ Adenauer-­Stiftung Tusk, Donald, geb. 1957, 1980 Mitglied der Gewerkschaft Solidarność, 1991 bis 1993 Mitglied des Sejm, 1997 bis 2001 Mitglied des Senats, 2001 bis 2005 Vizepräsident des Sejm, 2003 bis 2014 Vorsitzender der Bürgerplattform, 2007 bis 2014 Ministerpräsident von Polen, seit 1. Dezember 2014 Präsident des Europäischen Rates Vogel, Bernhard, geb. 1932, Prof. Dr. phil., Dr. h. c. mult., 1976 bis 1988 Ministerpräsident von Rheinland-­Pfalz und 1992 bis 2003 von Thüringen, 1989 bis 1995 und 2001 bis 2009 Vorsitzender der Konrad-­Adenauer-­Stiftung, seit 2010 Ehrenvorsitzender Wahlers, Gerhard, Dr. phil., geb. 1959, seit 1990 Mitarbeiter der Konrad-­Adenauer-­Stiftung, seit 2003 Leiter der Hauptabteilung Europäische und Interna­tionale Zusammenarbeit, seit 2007 stellvertretender Generalsekretär der Konrad-­Adenauer-­Stiftung Weber, Manfred, geb. 1972, 2002 bis 2004 Mitglied des Bayerischen Landtags, 2003 bis 2007 Vorsitzender der Jungen Union Bayern, seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2009 bis 2014 Vorsitzender der CSU-Grundsatzkommission, seit 2014 Vorsitzender der EVP-Frak­tion im Europäischen Parlament Welle, Klaus, geb. 1964, 1994 bis 1999 Generalsekretär der Europäischen Volkspartei, 1999 bis 2004 Generalsekretär der Frak­tion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament, 2007 bis 2009 Kabinettschef des Präsidenten des Europäischen Parlaments, seit 2009 Generalsekretär des Europäischen Parlaments Wissmann, Matthias, geb. 1949, 1973 bis 1983 Bundesvorsitzender der Jungen Union, 1976 bis 2007 Mitglied des Deutschen Bundestags, 1993 Bundesminister für Forschung und Technologie, 1993 bis 1998 Bundesminister für Verkehr, seit 2007 Präsident des Verbandes der Automobilindustrie Wogau, Karl von, geb. 1941, Dr. jur., 1979 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, 1994 bis 1999 Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft, Währung und Industriepolitik, 2004 bis 2009 Vorsitzender des Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung, seit 2010 Generalsekretär der Kangaroo Group

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Wulff, Christian, geb. 1959, 1994 bis 2008 Landesvorsitzender der CDU in Niedersachsen, 1998 bis 2010 stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender, 2003 bis 2010 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, 2010 bis 2012 Bundespräsident, seit 2013 Rechtsanwalt in Hamburg

HANS-GERT PÖTTERING (HG.)

POLITIK IST DIENST FESTSCHRIFT FÜR BERNHARD VOGEL ZUM 80. GEBURTSTAG ZUSAMMENGESTELLT UND BEARBEITET VON MICHAEL BORCHARD UND HANNS JÜRGEN KÜSTERS

Immer wieder hat Bernhard Vogel sich in die Pflicht nehmen lassen. Jeden Dienst, zu dem er sich verpflichten ließ, hat er in außerordentlichem Maß erfüllt. »Politik ist Dienst« gilt für Bernhard Vogel in besonders treffender Weise. Politik ist für ihn Dienst – Dienst für die Menschen, Dienst für das Gemeinwohl, Dienst aus Überzeugung für das Wohl der Menschen. In Reden hat Bernhard Vogel gerne und häufig Zitate verwandt, die – zusammen mit seinen eigenen Bonmots – Ausgangspunkt der Beiträge von über fünfzig Autoren dieser Festschrift sind. Jeder Beitragende hat zu einem ausgesuchten Zitat seine Gedanken zu Papier gebracht und damit einen persönlichen Bezug zum Jubilar hergestellt. Mit Beiträgen von Angela Merkel, Norbert Lammert, Uwe Tellkamp, Klaus Naumann, Roman Herzog, Kurt Biedenkopf, Rita Süssmuth u. a. 2012. 320 S. GB. MIT SU. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-21087-8

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HANS-GERT PÖTTERING

»WIR SIND ZU UNSEREM GLÜCK VEREINT« MEIN EUROPÄISCHER WEG

Hans-Gert Pöttering ist der einzige Abgeordnete, der seit der ersten Direktwahl im Jahr 1979 ununterbrochen dem Europäischen Parlament angehört. In führenden Positionen, etwa als Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (1999–2007) und als Parlamentspräsident (2007–2009), hat er die Entwicklung der Europäischen Union begleitet und mitgestaltet. Nach 35 Jahren endete sein Mandat am 1. Juli 2014. In seiner Autobiographie erinnert er sich nicht nur an die zahlreichen Begegnungen mit Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Gesellschaft, sondern schildert Entscheidungsprozesse in den Institutionen der Europäischen Union. Pötterings Weg in der Europapolitik und sein Blick auf die europäischen Zusammenhänge spiegeln seine Zuversicht wider, die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen bewältigen zu können. Dieser Titel liegt auch als Epub für eReader, iPad und Kindle vor. Alle Anmerkungen, das umfangreiche Personenregister, sowie die Weblinks sind in diesem zitierfähigen E-Book interaktiv. 2., DURCHGESEHENE AUFLAGE 2015, CA. 570 S. CA. 71 FARB. UND S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-50196-9

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