Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag [Reprint 2017 ed.] 9783110921458, 9783110065466

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German Pages 1078 [1084] Year 1976

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Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag [Reprint 2017 ed.]
 9783110921458, 9783110065466

Table of contents :
Inhalt
Grußwort
Strafrecht, Allgemeine Lehren
Zur Kritik der Strafrechtskritik
Perennial Problems of Criminal Law
Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Zur Problematik des Verbrechensaufbaus
Probleme der „Postpendenzfeststellung“ im Strafverfahren
Die kriegerische Handlung und die Grenzen ihrer strafrechtlichen Rechtfertigung
Vorsatz und Schuld bei ungewisser Tätervorstellung über das Vorliegen strafbarkeitsausschließender, insbesondere rechtfertigender Tatumstände
Der „Täter hinter dem Täter“ — eine notwendige Rechtsfigur?
Bemerkungen zum „Täter hinter dem Täter“
Straflose Teilnahme?
Dogmatische Überlegungen zur Teilnahme am erfolgsqualifizierten Delikt nach § 18 StGB
Zum Begriff der „besonderen persönlichen Merkmale“
Zur Bedeutung des § 28 StGB für die Teilnahme am unechten Unterlassungsdelikt
Die Strafzumessung und ihr Ruf
Absehen von Strafe (§60 StGB n.F.)
Richterliche Aussetzung des Strafrestes auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe?
Das revidierte schweizerische und österreichische strafrechtliche Maßnahmenrecht zum Vergleich
Deutsche und österreichische Strafrechtsreform
Strafrecht, Besonderer Teil
Das „Erzieherprivileg“ im Strafrecht
Bemerkungen über Normativität und Faktizität im Ehrbegriff
Straf- und währungsrechtliche Aspekte des Geldwesens
Zur Frage der Vorteilsabsicht bei der Steuerhinterziehung (§392 AO)
Strafrechtlicher Schutz gegen irreführende Werbung (§ 4 UWG)
Entpönalisierung des Arbeitsrechts
Grenzüberschreitender Umweltschutz und Strafrecht
Kriminalpolitik — Kriminologie — Anthropologie
Konstanten kriminalpolitischer Theorie
Was ist eigentlich kritisch an der „kritischen Kriminologie“?
Ziele und Probleme wirtschaftskriminologischer Forschung
Gehalt und Erklärungswert funktionaler Kriminalitätstheorien
Kriminalität und Identität
Strafvollzugsreform und Klassifikation
Zur historischen Kriminologie
Zur Strukturanalyse des organisierten Verbrechens
Strafrechtsnorm, Schuld und soziale Wirklichkeit
Über den Wandel ethischer Anschauungen
Existentielle Frustration als ätiologischer Faktor in Fällen von aggressivem Verhalten
Über Anlage und Zwillingsforschung
Forensische Psychologie Und Psychiatrie
Die Ermittlung des subjektiven Tatbestands Grundsätzliches über „Psychologie und Recht“
„Subjektiver Tatbestand“ und Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit
Zur Problematik des psychologischen Sachverständigen
Die Bedeutung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs für das Strafrecht
Zur Psychopathologie und Dynamik destruktiver Tropismen
Strafprozessrecht
Zur gerichtlichen Fürsorgepflicht im Strafprozeß und ihren Grenzen
Zum Ruf nach dem sogenannten Kronzeugen
Über den Aktenverlust im Strafprozeß
Billigkeitserwägungen in Verfahrensurteilen des Bundesgerichtshofs
Gegenwart und Zukunft des Privatklageverfahrens
Verkehrsrecht — Recht Der Ordnungswidrigkeiten
Zur Problematik der Entziehung der Fahrerlaubnis für die Führung von Kraftfahrzeugen durch die Gerichte und der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörden
Die Bindungswirkung von Verkehrszeichen im Ordnungswidrigkeitsverfahren
Wie weit reicht § 30 des Ordnungswidrigkeitengesetzes?
Ostrecht — Zivil- Und Zivilprozessrecht — Öffentliches Recht
Der sowjetkommunistische Einparteienstaat und seine ideologische Begründung
Zur Schadensersatzhaftung mit und ohne Verschulden im neuen Zivilgesetzbuch der DDR
Nemo minus iuris transferre potest, quam ipse habet, oder warum Erbteilungsverbote so kraftlos sind
Chancengleichheit vor Gericht Utopien und Möglichkeiten
Der Entschädigungspflichtige beim enteignungsgleichen Eingriff
Rechtsgeschichte — Rechtstheorie
Vom Crimen vis zur Nötigung
Zur Theorie und Praxis der Reformation als innerkirchliches Widerstandsrecht
Dialektik, Topik und „konkretes Ordnungsdenken" in der Jurisprudenz
Biographie
Bibliographie
Marginalie

Citation preview

FESTSCHRIFT FÜR RICHARD LANGE ZUM 70. GEBURTSTAG

FESTSCHRIFT FÜR RICHARD LANGE ZUM 70. GEBURTSTAG

Herausgegeben von GÜNTER WARDA, HERIBERT WAIDER, REINHARD VON HIPPEL, DIETER MEURER

w DE

G

1976 Walter de Gruyter • Berlin • New York

Gedruckt mit Unterstützung von Dr. iur. h. c. Bruno Uhl, der Pierburg-Stiftung und des HUK-Verbandes

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Festschrift für Ridiard Lange zum 70. [siebzigsten] Geburtstag / hrsg. von Günter W a r d a . . . Richard Lange zum 29. April 1976 dargebr. von Gottfried Baumgärtel. . . — 1. Aufl. — Berlin, New Y o r k : de Gruyter, 1976. ISBN 3-11-006546-0 N E : Warda, Günter [Hrsg.]; Lange, Ridiard: Festschrift

© Copyright 1976 by Walter de G r u y t e r & Co., vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung, J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, K a r l J . Trübner, Veit & Comp., 1 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. P r i n t e d in Germany Satz und Druck: Saladrudc, 1 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgwerbe-GmbH, Berlin 61

RICHARD LANGE zum 29. April 1976 dargebracht von GOTTFRIED PAUL

H.

BAUMGÄRTEL, BRESSER,

REINHARD

EDUARD

DREHER,

BEINE, KARL

PAUL

BOCKELMANN,

ENGISCH,

VIKTOR

E.

FRANKL, E R W I N R . FREY, K A R L H E I N R I C H FRIAUF, A R N O L D GEHLEN f , K A R L H E I N Z GÖSSEL, J E R O M E H A L L , W I N F R I E D H A S S E M E R , HELLMER,

WILHELM

HERSCHEL,

REINHARD

VON

JOACHIM

HIPPEL,

HANS

J O A C H I M H I R S C H , R I C H A R D M . H O N I G , H E R M A N N JAHRREISS, H A N S H E I N R I C H JESCHECK, G Ü N T H E R K A I S E R , A R T H U R K A U F M A N N ,

HILDE

KAUFMANN, GERHARD KEGEL, GÜNTER KOHLMANN, WILFRIED KÜPER, E R N S T - J O A C H I M L A M P E , W I N F R I E D L A N G E R , K L A U S LÜDERSSEN, M A N FRED M A I W A L D , H E L L M U T H M A Y E R , B O R I S M E I S S N E R , A R M A N D GEN,

DIETER

MEURER,

HEINZ

MÜLLER-DIETZ,

DIETRICH

MER-

OEHLER,

H A R R O O T T O , K L E M E N S P L E Y E R , G E R H A R D P R O S T , J Ü R G E N R Ö D I G F> CLAUS ROXIN,

FRIEDRICH

SCHAFFSTEIN,

GÜNTER

SCHEWE,

WERNER

SCHMID, RUDOLF SCHMITT, FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER, H A N S G Ü N T E R S C H W E N C K , I G N A Z S E I D L - H O H E N V E L D E R N , G Ü N T E R SPENDEL, KLAUS

STERN,

UNDEUTSCH,

FRIEDRICH

THEO

J.

VOGLER,

STUMPFL, HERIBERT

KLAUS WAIDER,

TIEDEMANN, GÜNTER

H A N S WELZEL, OSKAR WENZKY, H E R M A N N W I T T E R .

UDO

WARDA,

Inhalt Köln:

DIETRICH OEHLER,

Grußwort

XV

Strafredit, Allgemeine Lehren PAUL BOCKELMANN,

München:

Zur Kritik der Strafrechtskritik JEROME H A L L ,

San Francisco/Cal.:

Perennial Problems of Criminal Law A R T H U R KAUFMANN,

9

München:

Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz JÜRGEN RÖDIG

1

27

f> Gießen:

Zur Problematik des Verbrechensaufbaus WILFRIED KÜPER,

Münster i.

39

W.:

Probleme der „Postpendenzfeststellung" im Strafverfahren. Ein Beitrag zur Logik und Dogmatik der Wahlfeststellung

65

Köln: Die kriegerische Handlung und die Grenzen ihrer strafrechtlichen Rechtfertigung

97

H A N S - G Ü N T E R SCHWENCK,

GÜNTER WARDA,

Bochum:

Vorsatz und Schuld bei ungewisser Tätervorstellung über das Vorliegen strafbarkeitsausschließender Umstände G Ü N T E R SPENDEL,

119

Würzburg:

Der „Täter hinter dem Täter" — eine notwendige Rechtsfigur? . .

147

München: Bemerkungen zum „Täter hinter dem Täter"

173

CLAUS ROXIN,

HARRO OTTO,

Marburg:

Straflose Teilnahme? K A R L HEINZ GÖSSEL,

197 Erlangen:

Dogmatische Überlegungen zur Teilnahme am erfolgsqualifizierten Delikt nach § 18 StGB WINRICH LANGER,

219

Marburg:

Zum Begriff der „besonderen persönlichen Merkmale"

241

Inhalt

Vili THEO VOGLER,

Gießen:

Zur Bedeutung des § 28 StGB für die Teilnahme am unechten Unterlassungsdelikt Marburg:

REINHARD VON H I P P E L ,

Die Strafzumessung und ihr Ruf HEINZ MÜLLER-DIETZ,

285

Saarbrücken:

Absehen von Strafe (§ 60 StGB n. F.). Dogmatische und kriminalpolitische Probleme einer neuen Rechtsfigur EDUARD D R E H E R ,

R.

FREY,

303

Bonn:

Richterliche Aussetzung des Strafrestes auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe? ERWIN

265

323

Zürich:

Das revidierte schweizerische und österreichische Maßnahmenrecht zum Vergleich H A N S - H E I N R I C H JESCHECK,

strafrechtliche

347

Freiburg i. Br.:

Deutsche und österreichische Strafrechtsreform

365

Strafrecht, Besonderer Teil FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER, Regensburg: Das „Erzieherprivileg" im Strafrecht

391

München/Heidelberg: Bemerkungen über Normativität und Faktizität im Ehrbegriff

401

K A R L ENGISCH,

GERHARD P R O S T ,

Köln/Düsseldorf:

Straf- und währungsrechtliche Aspekte des Geldwesens G Ü N T E R KOHLMANN,

419

Köln:

Zur Frage der Vorteilsabsicht bei der Steuerhinterziehung (§ 392 AO)

439

Bielefeld: Strafrechtlicher Schutz gegen irreführende Werbung (§ 4 UWG)

455

ERNST-JOACHIM LAMPE,

WILHELM HERSCHEL,

Köln/Bonn:

Entpönalisierung des Arbeitsrechts

477

Köln: Grenzüberschreitender Umweltschutz und Strafrecht

489

IGNAZ SEIDL-HOHENVELDERN,

Inhalt

IX

Kriminalpolitik — Kriminologie — Anthropologie WINFRIED HASSEMER, F r a n k f u r t a . M . :

Konstanten kriminalpolitischer Theorie

501

GÜNTHER KAISER, F r e i b u r g i. B r . :

Was ist eigentlich kritisch an der „kritischen Kriminologie?" . . . . KLAUS TIEDEMANN, F r e i b u r g i. B r . :

Ziele und Probleme wirtschaftskriminologisdier Forschung

521 541

D I E T E R MEURER, K ö l n :

Gehalt und Erklärungswert funktionaler Kriminalitätstheorien . . JOACHIM HELLMER, K i e l :

Kriminalität und Identität

555 573

H I L D E KAUFMANN, K ö l n :

Strafvollzugsreform und Klassifikation

587

HELLMUTH MAYER, K i e l :

Zur historischen Kriminologie

597

OSKAR WENZKY, K ö l n :

Zur Strukturanalyse des organisierten Verbrechens

613

ARMAND MERGEN, M a i n z :

Strafrechtsnorm, Schuld und soziale Wirklichkeit

627

ARNOLD GEHLEN F , A a c h e n :

Über den Wandel ethischer Anschauungen

639

VIKTOR E. FRANKL, Wien/San Diego (Cai.) : Existentielle Frustration als ätiologischer Faktor in Fällen von aggressivem Verhalten

649

H A N S WELZEL, B o n n :

Über Anlage und Zwillingsforschung

659

Forensische Psychologie und Psychiatrie PAUL H . BRESSER, K ö l n :

Die Ermittlung des subjektiven Tatbestands. Grundsätzliches über „Psychologie und Recht"

665

X

Inhalt

G Ü N T E R SCHEWE,

Gießen:

„Subjektiver Tatbestand" und Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit UDO UNDEUTSCH, K ö l n :

Zur Problematik des psychologischen Sachverständigen HERMANN WITTER,

J.

703

Homburg (Saar):

Die Bedeutung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs für das Strafrecht FRIEDRICH

687

STUMPFL,

723

Wien:

Zur Psychopathologie und Dynamik destruktiver Tropismen

737

Strafprozeßrecht MANFRED MAIWALD,

Hamburg:

Zur gerichtlichen Fürsorgepflicht im Strafprozeß und ihren Grenzen

745

Köln: Zum Ruf nadi dem sogenannten Kronzeugen

765

H E R M A N N JAHRREISS,

W E R N E R SCHMID,

Kiel:

Über den Aktenverlust im Strafprozeß RICHARD

M.

HONIG,

781

Göttingen:

Billigkeitserwägungen in Verfahrensurteilen des Bundesgerichtshofs

805

Köln: Gegenwart und Zukunft des Privatklageverfahrens

815

H A N S JOACHIM H I R S C H ,

Verkehrsredit — Recht der Ordnungswidrigkeiten REINHARD BEINE,

Köln/Düsseldorf:

Zur Problematik der Entziehung der Fahrerlaubnis für die Führung von Kraftfahrzeugen durch die Gerichte und der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörden KLAUS STERN,

839

Köln:

Die Bindungswirkung von Verkehrszeichen im Ordnungswidrigkeitsverfahren

859

Freiburg i. Br.: Wie weit reicht § 30 des Ordnungswidrigkeitengesetzes?

877

R U D O L F SCHMITT,

Inhalt

XI

Ostrecht — Zivil- und Zivilprozeßredit — öffentliches Redit BORIS MEISSNER,

Köln:

Der sowjetkommunistische Einparteienstaat und seine ideologische Begründung KLEMENS PLEYER

und

P E T E R VON W N U C K ,

Köln:

Zur Schadensersatzhaftung mit und ohne Verschulden im neuen Zivilgesetzbuch der D D R GERHARD KEGEL,

889

911

Köln:

N e m o minus iuris transferre potest, quam ipse habet, oder warum Erbteilungsverbote so kraftlos sind Köln:

GOTTFRIED BAUMGÄRTEL,

Chancengleichheit vor Gericht — Utopien und Möglichkeiten K A R L HEINRICH FRIAUF,

927 943

Köln:

Der Entschädigungspflichtige beim enteignungsgleichen Eingriff . . . .

963

Rechtsgeschichte — Rechtstheorie F R I E D R I C H SCHAFFSTEIN, Göttingen: V o m Crimen vis zur Nötigung. Eine Studie zur Tatbestandsbildung im Gemeinen Strafrecht HERIBERT WAIDER,

Köln:

Zur Theorie und Praxis der Reformation als innerkirchliches Widerstandsrecht KLAUS LÜDERSSEN,

983

Frankfurt a.

1001

M.:

Dialektik, Topik und „konkretes Ordnungsdenken" in der Jurisprudenz

1019

Biographie

1043

Bibliographie

1045

Marginalie

1059

Das Wichtigste für den Menschen ist der Mensch. Wer ängstlich abwägt, sagt gar nichts. Nur die scharfe Zeichnung, die schon die Karikatur streift, macht eine Wirkung. Theodor Fontane

Grußwort Richard. Lange zu seinem 70. Geburtstag in der ihm dargebrachten Festschrift ein wissenschaftliches Grußwort zu schreiben, ist mir Ehre und Freude zugleich. Das literarische Werk des Jubilars ist so umfassend, daß es fast alle Bereiche der Kriminalwissenschaft deckt. Uberall in diesem Rahmen hat Richard Lange etwas zu sagen, und was er ausführt, geht gleich unmittelbar an die Wurzel der wissenschaftlich durchleuchteten Erscheinungen. Nicht nur in den Kerngebieten des Strafrechts und der Kriminologie, sondern vor allem auch in den Nebengebieten, dem Jugend-, dem Wirtschafts-, dem Ordnungswidrigkeiten-, dem Verkehrs- und dem Rundfunkstrafrecht usw. arbeitete er, um die Aussagen, die für das Strafrecht des Strafgesetzbuches vorgelegt wurden, auf die Gültigkeit f ü r die Randgebiete mit zu überprüfen. Ein ganz besonderes Anliegen betrifft die Beschäftigung mit dem Recht der Ostzone und der D D R , eines Gebietes, in dem er einige Zeit unmittelbar nach dem Kriege auch wirkte. Es soll hier nicht auf jede Schrift eingegangen werden, sondern es sollen nur die wesentlichen Linien des Schaffens verfolgt werden. Mit der Habilitationsschrift über die notwendige Teilnahme schnitt Lange ein ganz aktuelles Problem an. Er trat damals schon f ü r die Straflosigkeit dessen ein, der an der Begünstigung seiner selbst teilnimmt, was nunmehr den gesetzlichen Niederschlag in der Neuformulierung der §§ 257 f StGB gefunden hat. Auch beschäftigte er sich näher mit dem internationalen Strafrecht. Als Präsident der Thüringischen Landesversammlung als Parteiloser in seiner Eigenschaft als Dekan in Jena konnte er unmittelbar auf die Reform des Strafrechts Einfluß nehmen und bewirken, daß erstmals im Jahre 1946 in einem Gesetzbuch der Verbotsirrtum in fast gleicher Weise wie jetzt geregelt wurde ( § 5 8 StGB auf Grund des Thüringischen Anwendungsgesetzes). Die mehreren Neuauflagen des Kohlrausch-Lange seit 1950 zeigen Lange als einen sicheren Kommentator, der immer wieder neuen Wein in alte Schläuche zu füllen vermag. Der Kommentar ist nur noch gering mit den früheren Auflagen zu vergleichen und setzt ganz andere Akzente. In der Tatbestandserfassung, der Behandlung der Teilnahme, der Irrtumslehre, im Besonderen Teil insbesondere für Hochverrat, Staatsgefährdung, Landesverrat, f ü r die Rauschtat, f ü r deren Behandlung er schon früher eigene Lösungen entwickelt hatte,

XVI

Dietrich Oehler

und in anderen Bereichen zeigt Richard Lange neue Wege auf. Es ist ihm ein besonderes Anliegen, darauf hinzuweisen, daß Unkenntnis der Normen der verwalteten Welt etwas wesentlich anderes ist als Feindschaft gegen die elementaren Rechtsnormen menschlichen Zusammenlebens. Man muß bedauern, daß dieser Kommentar seit der 43. Auflage nicht mehr neu erschienen ist, wenn auch einzelne Partien ihre Fortsetzung in der Bearbeitung der jüngsten Ausgabe des Leipziger Kommentars in den Abschnitten über Zurechnungsfähigkeit, die Tötungsdelikte u. a. gefunden haben. Durch Langes ganzes Denken zieht sich immer wieder der Gedanke des Rechtsstaats. An ihm maß er auch das berühmte Kontrollratsgesetz Nr. 10, das bedenklich mit gerade den Grundsätzen umging, deren Verletzung es anderen anlastete. Bald wendete sich Lange dem in Mitteldeutschland geltenden Recht zu. Bis in die jüngste Gegenwart nahm er zu den Problemen, die mit dem nunmehrigen DDR-Recht für uns verbunden sind, Stellung. Es war einerseits die Tatsache, daß die Rechtsprechung der Staatsmacht zu dienen hatte, andererseits aber auch die allmählich immer mehr festzustellende Wandlung in der Auffassung der Strafzwecke, von der Spezialprävention zu denen der Vergeltung und Abschreckung, die klar herausgestellt wurden. Niemand hat sich der wissenschaftlichen Erfassung und Durchdringung des ostzonalen Strafrechts so gewidmet wie Lange. Auch warnte er immer, Recht gleich Recht in Ost und West zu setzen, damit nicht ungerechtfertigte Tendenzen sich im Auslieferungs- und Asylrecht ausbreiteten. Einen ganz großen Teil der Arbeiten über mehr als zwei Jahrzehnte macht die leidenschaftliche Beschäftigung mit der Strafrechtsreform aus. Als Mitglied der großen Strafrechtskommission ging es Richard Lange insbesondere um die Staatsschutzdelikte, den Mißbrauch von Rauschgiften, den Schutz der Arbeitskraft und die Tötungsdelikte. Im Laufe der fortschreitenden Arbeiten, insbesondere, nachdem sich stärkere und nicht unbedenkliche Auflockerungserscheinungen in der Reform zeigten, trat er in allen möglichen Veröffentlichungen, Büchern, Abhandlungen, Zeitschriften, Festschriften und auch Zeitungen gegen unverantwortliche Erweichungen des strafrechtlichen Schutzes der Bundesrepublik als ganzer und des geordneten Zusammenlebens der Bürger, gegen gewaltsame und unkontrollierbare Demonstrationen und gegen Terror und Anarchie ein. Immer wandte er sich gegen eine wirklichkeitsfremde Erfassung der Täter und potentiellen Täter als solcher Menschen, die nur innerlich geläutert zu werden braudien und durch Gewährung eines weitestgehend ausgemessenen rechtlichen Freiraums wieder für die Gemeinschaft zurück-

Grußwort

XVII

Zugewinnen sind. Der Verharmlosung der Bosheit von Tätern, deren Wille zur Vernichtung fremder Rechtswerte und Güter evident ist, dem modischen Herunterspielen von unübersehbaren Gefahren für die Staatsbürger durch entweder zwielichtige Handlungen, wie etwa f ü r Kinder durch Pornographiedarstellungen in Schrift und Rundfunk, oder durch politisch geschickt getarnte Verunsicherung, Verbreitung von Angst und vermeintlichem Zwang zur Resignation trat er nachdrücklich und fest entgegen. In „Die Krise des Strafrechts" betont er, daß durch Umstellen der Möbel man keinen neuen Raum gewinnt und daß es nicht nutzt zu renovieren, wenn das Dach brennt. Er stützt sich für seine Argumentation nie auf unkontrollierbaren ideologischen Unterbau, auf der Wirklichkeit abgekehrte soziologische Vorstellungen oder subjektive Zweckinhalte, sondern stets auf jedermann zugängliche, veröffentlichte, wissenschaftliche, rechtliche, soziologische und weitere erfahrungswissenschaftliche Untersuchungen, die allerdings manchen politischen Traumvorstellungen entgegenlaufen und von deren Vertretern gern übergangen werden. Auf die Verkennung der Realität durch den Gesetzgeber, wenn er glaubt, die Rechtsnormen nur für politisches Schönwetter machen zu müssen und dafür für sich die Berufung auf die sogenannte Wirklichkeit beanspruchen zu können, wies er oft hin. Keine Partei hatte sich dieser euphoristischen kriminalpolitischen Zukunftsstimmung entziehen können. Es bedurfte erst des Auftretens der Terroristen, damit der kriminalideologische Nebel zerteilt wurde und die Wirklichkeit wieder in das Bewußtsein des Gesetzgebers zurückkehrte. Der nunmehr einsetzende Zickzackkurs, die überhasteten und zum Teil unausgewogenen Reformen, das immer wieder zutage tretende Eingeständnis, die rauhe Wirklichkeit doch verkannt zu haben, das schlagartige Aufhören der Beschwichtigungsmanöver der politisch Verantwortlichen und die jetzt eigenartig wirkende Demonstration der Staatsmacht machen überaus deutlich, daß der Gesetzgeber sich lieber auf fundierte wissenschaftliche Veröffentlichungen in kriminalpolitischen Fragen stützen sollte, als Wunschvorstellungen anheimzufallen. Hin und H e r des Gesetzgebers erzeugen nur Staatsverdrossenheit, eine gefährliche Erscheinung in der rechtsstaatlichen Demokratie. Lange warnte immer wieder vor diesen unheilvollen Folgen unwissenschaftlichen Vorgehens des Gesetzgebers. In diesen Zusammenhang gehört auch neuestens seine Stimme gegen die durchgreifende Verringerung des strafrechtlichen Eigentumsschutzes durch eine Fülle von strafrechtlichen und strafprozessualen Maßnahmen, die das Bewußtsein der Achtung fremden Eigentums auf die Dauer unterminieren können. Schon längere Zeit beschäftigt sich Lange mit dem Verkehrsrecht und der Verkehrskriminologie. Eine Fülle von Veröffentlichungen

XVIII

Dietrich Oehler

deckt die verschiedensten aktuellen Fragen genauso wie die Grundprobleme, etwa ob das defensive Fahren Empfehlung oder Rechtspflicht sein solle, oder ob die Abgrenzung von Büß- und Strafrecht sachgerecht vorgenommen ist, oder was der Gesetzgeber aus den Verkehrsunfallzahlen zu entnehmen habe. In den letzten Jahren wendet sich Lange immer mehr, und zwar umfassend, der Kriminologie zu. Zunächst sind es mehrere Veröffentlichungen auf dem Gebiete des juristischen Krankheitsbegriffes, der Zurechnungsfähigkeit, der modernen auf das Strafrecht bezogenen Anthropologie und der juristischen Bedeutung des ärztlichen Sachverständigen, die da zeigten, an welchen Leitlinien sich das Denken orientieren sollte. Im Buche über das Rätsel Kriminalität legte er dann gesammelt die Ergebnisse jahrelangen Denkens und Forschens nieder. Es ist kein kühl geschriebenes Buch, sondern eines, hinter dem ein von innerer Erfülltheit stehendes Bild vom Menschen sich findet. Hier wird um dieses gerungen. Den Ausgangspunkt bildet die Sinnhaftigkeit des Menschen, die, wie schon im Beitrag zum Handbuch der Neurosenlehre betont, mit der Empirie in Zusammenklang gebracht wird. Lange ist gegen die Zerlegung des Menschen in einzelne Faktoren, die unabhängig voneinander betrachtet werden könnten. Zum Teil gehöre immer das Ganze, wie die Kathedrale mehr als die Summe ihrer Pfeiler oder die Symphonie mehr als die Addition ihrer Töne ist. Er wendet sich gegen die Verdrängung normativer Momente aus der kriminologischen Forschung und will Kriminologie und Strafrechtswissenschaft stets an die Tatsachen rückbinden. Dazu gehört auch die Verwerfung des Ratten- und Maschinenmodells, des strikten Behaviourismus f ü r die Auffassung vom Menschen. Vielmehr wendet sich Lange den anthropologischen und soziologischen Forschungen von Lorenz, Gehlen, Frankl u. a. zu. Er nimmt gegen alle verabsolutierenden Modelle Stellung, vor allem auch gegen die Psychoanalyse, wenn er ihnen auch auf ihren beschränkten Teilgebieten Aussagekraft freimütig zugesteht. Er tritt f ü r eine Metakriminologie ein, die nicht wie einfach manche Kriminologie irgendwelche auf begrenztem Gebiet gewonnene Tatsachen kurzfristig generalisiert, sondern die vielmehr diese und die Werte interpretiert und systematisch im Rahmen der Erfassung des Menschen als eines Ganzen aufbereitet. Richard Lange ist immer tolerant im dogmatischen wie im kriminologischen Bereich. Er wollte nie eine Schule gründen. Jegliche Intransigenz ist seinen Schriften fern. Das macht seine Arbeiten auch so anziehend. Er will überzeugen, Andersdenkenden läßt er ihr Recht, er schließt sie nicht überheblich von der Wahrheit aus.

Grußwort

XIX

Seine Sprache ist und bleibt in allen Lagen schön und auch in der Auseinandersetzung sehr gepflegt. E r weiß glänzend zu formulieren. Manche treffende Wort- und Satzbildungen sind in den kriminalwissenschaftlichen Sprachgebrauch übergegangen. Er kann in den vielen Vorträgen, die er hielt, und vor allem seine Studenten durch die ausdrucksvolle Sprache und die gezielten Formulierungen fesseln. Bis zur letzten Minute wirkt sein Vortrag unmittelbar anziehend, immer wieder neue Aspekte und Ausblicke vermag er souverän zu eröffnen. Das Dasein als Gelehrter ist ihm alles. Jegliche andere Tätigkeit ist jener ganz und gar untergeordnet. In den akademischen Ämtern ging er nie auf, sondern wußte immer der Wissenschaft den Vorrang zu geben. Als Prüfungsvorsitzender war er stets ausgeglichen sine ira et studio gegenüber den Kandidaten. Mit dem siebzigsten Geburtstag liegt ein reiches Gelehrtenleben hinter dem Jubilar voll politischer Spannung, Aufregung und Überraschungen, wenn man die Stationen und Zeiten seiner einzelnen Wirksamkeiten ansieht, aber vor allem von großem Erfolg bei den Studenten, in der Wissenschaft und der Wirkung gegenüber der interessierten juristischen Öffentlichkeit. Sein umfassendes, ja fast unübersehbares, eine ungewöhnliche Breite deckendes Werk spricht für sich seine eigene Sprache. Der Ausbau und die Erhaltung des Rechtsstaates, die Sorge, daß wir die uns bisher einmalig in unserer Geschichte gegebene Chance, ihn zu sichern, leichtfertig verspielen könnten, die Bewahrung der Rechtswerte vor kriminellen Angriffen und die gerechte und humane Behandlung des Rechtsbrechers sind die zentralen Themen, um die Richard Langes Schaffen kreist. Es bleibt noch, dem Jubilar Gesundheit und eine reiche Schaffenskraft zu wünschen, die der Wissenschaft weiterhin vielerlei Erkenntnis und Vertiefung zu schenken vermag. Dietrich Oehler

STRAFRECHT, ALLGEMEINE LEHREN

Zur Kritik der Strafrechtskritik* PAUL BOCKELMANN

Die Verneinung des Strafrechts fußt zu allen Zeiten und so auch heute auf folgendem primitiven Gedankengang: Strafe setzt Schuld, Schuld aber setzt einerseits Moral voraus, d. h. einen Grundbestand ethischer Postulate, die alle Menschen als richtig anerkennen, und andererseits Freiheit, d. h. Willensfreiheit, Unabhängigkeit des Willensentschlusses vom Zwange gleichviel welcher Notwendigkeit. Diese Verknüpfungen sind unausweichlich. Denn nur wenn man den Willensentschluss an einer Sollensnorm messen kann, läßt sich gegebenenfalls das Urteil fällen, daß er fehlerhaft ist, und nur wenn der Handelnde sich frei entschließen kann, läßt sich auf die Verfehlung dessen, was er soll, ein Schuldvorwurf gründen. N u n gibt es aber weder Moral noch Freiheit. Was bei oberflächlicher Betrachtung als Moral erscheint, ist in Wahrheit nichts als ein Kodex von Verhaltensnormen, den die herrschende Oberschicht den Unterdrückten aufnötigt. U n d Freiheit existiert nur als Freiheitsgefühl. Dies aber ist das Produkt einer Selbsttäuschung. In Wahrheit ist der Willensentschluss des Menschen wie alle Phänomene der natürlichen Welt nichts als ein Resultat blind waltender Ursachen. Damit entfällt die Möglichkeit von Schuld und mit ihr das Recht zu strafen. Es gibt daher nur eine zulässige und sinnvolle Reaktion auf das Verbrechen. Sie besteht in der Prävention, und zwar in Spezialprävention, d. h. in der Herstellung der Sozialtauglichkeit dessen, der sich durch seine T a t als untauglich erwiesen hat. Nach diesem Denkschema hat sich noch jede Strafrechtskritik gerichtet. Unterschiede der Begründungen, welche die jeweilige Kritik vorführt, erklären sich aus den Unterschieden der Ideologien, auf die sich die Kritiker stützen, meist ohne zu merken, daß ihre vermeintlich wissenschaftlich fundierten Lehrgebäude Ideologien wie andere auch sind. N u r die ideologische Verfestigung der spezialpräventiven Strafrechtstheorien macht begreiflich, daß diese Lehren durch die Aufdeckung der Widersprüche, in die sie sich verwickeln, nicht zu erschüttern sind. In Widerspruch geraten sie oftmals schon zu den allgemeinen Denkweisen der Epoche, in der sie auftauchen. Die — nicht * D a s Folgende ist das überarbeitete und ergänzte Vorwort, das der Verfasser zu einem am 24. Februar 1969 von dem Jubilar in der C a r l Friedrich von SiemensStiftung in München-Nymphenburg gehaltenen V o r t r a g über „ D i e Krise des S t r a f redits und seiner Wissenschaften" beigesteuert hat.

2

Paul Bockelmann

nur in den Überzeugungen einzelner hervortretende, sondern den Charakter einer von vielen getragenen geistigen Bewegung annehmende — Leugnung der Willensfreiheit trifft gewöhnlich zusammen mit generell erhobenen, leidenschaftlichen Forderungen nach der Befreiung des Menschen aus allen denkbaren Abhängigkeiten und namentlich von staatlichem Zwang — ohne daß auch nur gefragt würde, welchen Sinn die Freistellung des Menschen von diesen oder jenen staatlichen oder gesellschaftlichen Bindungen haben kann, da doch, so meint man, der Mensch gar nicht imstande ist, von der Freiheit nach freiem Willen Gebrauch zu machen. Indessen ist es mit dieser Meinung auch dem eifrigsten Deterministen in Wirklichkeit gar nicht Ernst. Denn er denkt nicht daran, aus seiner Grundanschauung etwa die Folgerung zu ziehen, daß das Zivilrecht den Grundsatz der Privatautonomie, das Staatsrecht die Institution der Wahl aufgeben müsse, weil der Mensch mangels Willensfreiheit gar keine verantwortliche Willenserklärung abgeben und keinen wirklichen Wahlakt vollziehen könne. Vielmehr werden die Privatautonomie und das Wahlrecht, die doch die Freiheit des Menschen zu ausschließlich selbstbestimmten Entscheidungen voraussetzen, nirgends in Frage gestellt. Die Freiheit pflegt man nur mit Bezug auf das Strafrecht, in dem ihre Last zu tragen ist, zu leugnen. Aber selbst hier bleibt man nicht folgerichtig. Denn mit der Uberzeugung, daß der Rechtsbrecher nur so handelt, wie er handeln muß, verbindet man ganz naiv die Vorstellung, daß aber der Richter, der Therapeut, der Pädagoge, der Vollzugsleiter usw. handeln und wollen können, wie sie wollen. Denn wenn man ihnen diese Freiheit nicht zuschriebe, dann könnte man nicht mehr annehmen, daß sie imstande seien, die zur Resozialisierung des Gestrauchelten geeigneten Mittel nach Massgabe ihrer Einsicht und frei vom Zwang eines kausal bestimmten Muß auszuwählen, und dann würde die Resozialisierung zu einer Denkunmöglichkeit. Mit diesen Aporien sind die Schwierigkeiten einer einseitig spezialpräventiven Straf- oder besser: Antistraftheorie noch nicht erschöpft. Auch wenn es richtig sein sollte, daß es keine Willensfreiheit und daher keine Schuld gibt, so wäre damit zwar — vielleicht — bewiesen, daß Strafe nicht sein darf — aber es wäre noch längst nicht bewiesen, daß Prävention statthaft ist. Ob die Gesellschaft zur Anpassung des Unangepassten berechtigt ist, darüber zerbricht sich aber kein Präventionstheoretiker den Kopf. Dabei versteht sich doch diese Berechtigung nicht etwa von selbst — ganz gewiß nicht in einer Gesellschaft, der die Bereitschaft zur Anpassung als Charakterfehler gilt. Freilich glaubt man, die Befugnis zur Anpassung des Rechtsbrechers mit dem Bedürfnis der Rechtsordnung nach Verteidigung gegen ihn begründen

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zu können. Aber verteidigen darf man nur, was seinerseits Daseinsrecht hat, und inwiefern läßt sich solch ein Recht für die jeweils geltende Ordnung in Anspruch nehmen? Jede an die Wurzeln gehende Sozialkritik verneint dies Recht, und muß nicht in der Tat, wer erst einmal die Moral als das willkürliche Zwangsgesetz der herrschenden Schicht entlarvt hat, die Rechtsordnung mit ganz demselben Unwerturteil belegen? Damit aber bestreitet er der Gesellschaft die Legitimation, sie zu schützen. Übrigens erfordert die Verteidigung gar nicht die Anpassung des Unangepaßten, dem Bedürfnis nach Verteidigung könnte vielmehr die sichere Verwahrung genügen. Man wende nicht ein, daß die Anpassung im Vergleich dazu ein Minus und deshalb erlaubt sei. Das Gegenteil ist richtig. Denn Anpassung bedeutet, auch wo sie sich auf bloße Dressur beschränkt, eine Änderung des Charakters der Anzupassenden, tangiert also die Persönlichkeit des jeweils Betroffenen viel ernster als die Verwahrung. Schließlich und endlich versagt die Idee der reinen Spezialprävention vor dem Problem, das die richtige Behandlung der nicht rückfallverdächtigen, also nicht resozialisierungsbedürftigen Kapitalverbrecher einerseits, der höchst rückfallgefährdeten und also besonders resozialisierungsbedürftigen Leichtkriminellen andererseits stellt. Niemand, der die Schuldstrafe ablehnt, hat bisher den Mut zu der in der Konsequenz seiner Anschauungen liegenden Forderung gehabt, man müsse den KZ-Schergen, der sich durch Jahrzehnte straffreien Lebens als angepaßt erwiesen hat, laufen lassen, weil Strafe nun einmal nicht sein darf und Resozialisierung in seinem Fall nicht nötig ist. Niemand ist aber auch imstande gewesen, der Strafe, die solch ein Scherge nach allgemeiner Uberzeugung verdient hat, einen spezialpräventiven Sinn unterzuschieben. Und niemand wird bereit sein, f ü r den Zustandsverbrecher, der immer wieder straffällig wird, aber immer nur Bagatelltaten begeht, die langfristige Einsperrung zu verlangen, nur weil es einer solchen Detention bedürfte, wenn man ihn wirklich „bessern" wollte. Aber es wird auch niemand ernstlich die These vertreten, daß die vielen kleinen Delikte, die solch ein Täter begeht, einfach straflos gelassen werden müßten. Denn dass, wenn man sie straflos ließe, jene Bagatellkriminalität gewaltig anschwellen würde, das wird — leider — durch die kriminologische Erfahrung bewiesen. Es bleibt also gar nichts anderes übrig, als auf die Taten jener Kleinkriminellen immer wieder mit Strafen zu reagieren, die gerechterweise dem Gewicht des einzelnen Delikts angepaßt sein müssen, also nur geringfügig sein können, und die deshalb, das steht von vornherein fest, einen Resozialisierungseffekt gar nicht zu erzielen vermögen.

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Mit alledem soll keineswegs behauptet werden, daß die klassische, indeterministisch orientierte Vergeltungstheorie die richtige Straftheorie sei. Nicht nur daß die Willensfreiheit sich nicht beweisen läßt — es steht vielmehr so, daß konsequenter Indeterminismus genau so ins Absurde führt wie folgerichtiger Determinismus. Wenn nämlich der Willensentschluß frei von jeder Notwendigkeit, schlechthin ursachlos zustande käme — so hätte er selbst in der Person des Wollenden keine Ursache. Der Entschluß zum Handeln, auch zum verbrecherischen Handeln, müßte dann als ein zufälliges Ereignis betrachtet werden, und der Handelnde hätte nur die Funktion des Mediums, an dem dieses Ereignis in Erscheinung tritt. Damit wäre das Band zerschnitten, das den Entschluß mit der Person verknüpft, die ihn faßt, und damit hörte alle Zurechnung auf. Also wäre der schuldvergeltenden Strafe der Boden entzogen. Es zeigt sich hiernach, daß die Lösung der Grundfragen des Strafrechts nicht von der Entscheidung des Freiheitsproblems abhängig gemacht werden kann. Es zeigt sich zugleich, daß eine doktrinäre Kriminalpolitik, die sich darauf beschränken wollte, ausschließlich die Vorstellungen einer bestimmten und gleichviel welcher Strafrechtsideologie zu verwirklichen, unfehlbar scheitern müßte. Die Strafrechtspflege muß sich an der kriminologischen Erfahrung orientieren. Diese lehrt, daß keine Rechtsgemeinschaft darauf verzichten kann, zur Bewährung ihrer Rechtsordnung dasjenige Mittel der sozialethischen Mißbilligung sozialschädlichen Verhaltens zu gebrauchen, das in der Verhängung von Kriminalstrafen zur Verfügung steht. Bewährung der Rechtsordnung bedeutet nicht etwa Ausrottung der Kriminalität. Dazu ist keine Strafrechtspflege imstande. Die Rechtsordnung bewähren heißt weiter nichts als ihre Unverbrüchlichkeit dadurch verbürgen, daß gegen ihre Verletzung Sanktionen unter dem Vorzeichen differenzierender sozialer Unwerturteile verhängt werden. Das ist nicht Abschreckung mit dem Ziel, jeden, der in Versuchung gerät, von der Tat, die ihm verlockend erscheint, abzuhalten. Dies Ziel ist unerreichbar. Sondern es ist die Bekräftigung des Ernstes der rechtlichen Verhaltensnormen, es ist Wegweisung, Zeichensetzung. Daß es solcher Zeichensetzung bedarf, beweist die Tatsache, daß es in jeder Periode vorübergehenden Rechtsstillstandes (wie zuletzt nach dem Zusammenbruch von 1945) oder teilweiser faktischer Suspendierung der Strafrechtsordnung (wie in den Konzentrationslagern) sofort zu schwersten Erschütterungen des sozialen Gefüges kommt. Das Strafgesetz kann die Befolgung sittlicher Normen nicht garantieren, aber es darf sie nicht desavouieren. Aus der Unentbehrlichkeit rechtlicher Weisungen folgt freilich nicht, daß die jeweils gegebenen sachlich richtig sind. Ihre Inhalte

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bedürfen deshalb ständiger kritischer Überprüfung. Aber im Kernbereich des Strafrechts erspart die Konvergenz der Ansichten über die Sachgerechtheit der geltenden Normen den Nachweis ihrer Evidenz, und für die Randbereiche gilt, daß demjenigen, der Änderungen fordert, die Last zufällt, seine Ansicht zur herrschenden zu machen. Solange ihm das nicht gelungen ist, bleibt die Anwendung des positiven Rechts legitim, weil sie immerhin im — freilich beschränkten — Rahmen des Möglichen die Sicherheit und Berechenbarkeit des Rechtes garantiert. Wichtiger noch als die niemals ganz gelingende Angleichung des materiellen Gehalts der rechtlichen Verhaltensnormen an die Idealtypen der absoluten Gerechtigkeit ist die, natürlich auch nur annäherungsweise mögliche, Erzielung des bestmöglichen Wirkungsgrades der auf ihre Verletzung anzusetzenden Sanktionen. Auch dabei ist Rücksicht auf die Erfahrung geboten. Sie bestätigt, daß auf die Dauer nur diejenige Reaktion der Rechtsordnung auf geschehenes Unrecht effektiv ist, die der begangenen T a t adäquat ist. Nichts als das Verlangen nach Adäquanz von Tat und Rechtsfolge drückt der S a t z aus, daß Strafe Schuld voraussetzt und daß beide einander entsprechen müssen. Seine empirische Richtigkeit kann keine metaphysische Spekulation über die Existenz oder die Nichtexistenz von Schuld in Frage stellen. Praktisch folgt jeder dem Schuldprinzip. Auch der eingeschworene Determinist lehnt die blosse Erfolgshaftung ab, auch der eifrigste Verfechter der Devise „Heilen statt S t r a f e n ! " leugnet nicht, daß die Heilung eben darin besteht, dem Kriminalpatienten die Einsicht zu vermitteln, daß er nicht nur Patient, sondern ein für sich selbst und seine Taten verantwortlicher Mensch ist. Dann hat die Gruppentherapie einen Erfolg erzielt, wenn die Gruppe dem Störrischen auf seine Beschönigungsversuche die Antwort gibt: Das kannst D u dem Direktor erzählen, nicht uns! Bei alledem ist die Skepsis gegen den Schuldgedanken nicht ohne Wert. Sie bewahrt vor der Versuchung, aus der Einsicht, daß jede Strafe Schuld voraussetzt, den Grundsatz abzuleiten, daß jede Schuld Strafe fordert, daß die Strafe jedesmal das Maß der Schuld ausschöpfen und daß ihr Vollzug in der Ubelszufügung zwecks Vergeltung bestehen müsse. Damit rechtfertigt jene Skepsis eine pragmatische Handhabung des Schuldprinzips, d. h. den gelegentlichen Verzicht auf Strafe, wo er aus kriminalpolitischen Gründen angezeigt erscheint, und die Orientierung des Vollzuges am Zweck der Spezialprävention. D a s Schuldprinzip als solches bleibt davon unberührt. Die Schuldstrafe wird schon durch die in unzähligen Beobachtungen bestätigte Tatsache gerechtfertigt, daß Strafen, die wenigstens von der Mehrheit als schuldadäquat empfunden werden, dazu geeignet sind,

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einen wesentlichen Beitrag zur Steuerung des sozialerheblichen Verhaltens der Menschen zu leisten, daß aber überschärfte Strafen nicht abschrecken, sondern abstumpfen, und daß der Verzicht auf Strafe in Fällen, in denen die sozialethischen Überzeugungen Strafe fordern, depravierend wirkt. Pragmatische Handhabung des Schuldprinzips bedeutet aber überdies, daß sich die staatliche Reaktion auf kriminelles Verhalten nicht in der Bestrafung des Täters zu erschöpfen braucht. Mit der schuldvergeltenden (und auf Generalprävention zielenden) Strafe kann die spezialpräventiv orientierte blosse Maßregel kombiniert werden. Gegebenenfalls kann sie die Strafe oder wenigstens den Vollzug der Strafe ersetzen. Dies deshalb, weil die Aporien des Freiheitsproblems es möglich machen, vorwerfbares Verhalten und Auswirkungen angeborener Anlagen sowie milieu- und erziehungsbedingte Fehlentwicklungen als komplementäre Faktoren zu betrachten, aus denen die kriminelle Tat resultiert. Auf jenes antwortet die Rechtsgemeinschaft mit der Strafe, auf diese mit der ausschließlich die Spezialprävention anstrebenden Maßregel. Beide sind freilich nur dem „Normalen" gegenüber angebracht. Dabei ist unter „Normalität" nicht etwa der Habitus eines „Normalmenschen" zu verstehen. Anormal ist nicht der, dessen geistig-seelische Verfassung von der eines solchen Idealtypus abweicht. (Käme es darauf an, so gäbe es überhaupt keine Normalen, gleichviel, was man sich unter jenem Typus vorstellte). Anormal — wenn auch womöglich nur in dem Sinne, daß ihre an sich normale Entwicklung noch nicht bis zur vollen Reife gediehen ist — sind vielmehr solche Personen, bei denen das innere Steuerungsgefüge ihres Handelns von dem der meisten (und deshalb „normal" Genannten) abweicht, so daß sie rechtswidrige Taten nach Motivationszusammenhängen begehen, die bei der Mehrheit nicht vorkommen. Sie verfehlen sich etwa deshalb, weil sie bloßen Einbildungen erliegen (wie der Wahnkranke), weil sie die Wirklichkeit unrichtig deuten, weil in ihrem Triebleben die Gewichte falsch verteilt sind, weil sie Zwängen unterliegen oder als Jugendliche gegen Versuchungen wehrlos sind, denen ein Erwachsener widersteht. Für diese Menschen ist eine Behandlung nach den Methoden des Straf- und des Massregelvollzuges, selbst nach den eines allein auf Resozialisierung ausgerichteten Vollzuges, nicht die richtige Behandlung. Sie bedürfen einer besonderen, gegebenenfalls einer zusätzlichen Erziehung oder Therapie. Sie gehören in die Hand des Erziehers oder des Arztes. Der Strafrichter ist für sie nur insoweit zuständig, als es seine — zur Wahrung der Rechtsstaatlidikeit ihm vorbehaltene — Aufgabe ist, sie davor zu behüten, mit den allein für die Normalen tauglichen Strafen und Massregeln belegt zu werden

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und sie denjenigen Arten der Behandlung zu unterwerfen, die der Eigenart ihres persönlichen Wesens angemessen sind. Den anderen aber, den normalen Kriminellen ist mit Strafen und mit den für sie bestimmten Massregeln zu begegnen. Die Berechtigung dazu gründet sich auf das empirische Faktum, daß der normale Mensch normalerweise imstande ist, rechtlichen Geboten zu folgen und rechtlichen Verboten sich zu fügen. Warum er es vermag, muß und darf dahingestellt bleiben. Daran, daß er es vermag, kann keine Strafrechtskritik etwas ändern — so wie keine Antikritik es erklären kann.

Perennial Problems of Criminal Law* JEROME HALL"'*

That crime and punishment are perennial problems is plain; indeed, from ancient Greek drama to Shakespeare, Goethe, Dostoyevski and onwards into the present, they have raised the most subtle questions about "the human situation". The relevant legal problems have recently become so complicated that even scholars who have spent many years studying them are puzzled and discouraged. It is not so much the clash of competent opinions that is disturbing as it is the tide of history moved by global, uncontrollable forces, wide-spread tragedy, and the advance of psychiatry that engenders compassion for those who "fall by the wayside" and troubles our best efforts to cope with crime. If we are not to succumb to skepticism or futility regarding the volume of crime in this country, we must take careful stock of what we are doing and what should be done to improve our situation. The commonly prescribed remedy is empirical research. If only we knew whether this or that penalty deterred potential offenders; if only we knew the effect of various types of peno-correctional treatment on rehabilitation, and so on1. Since we know so little, the need seems obvious — increase our knowledge by sociological, psychiatric and other empirical research. But the mills of intensive empirical research have been grinding out voluminous "findings" these many years, and still we lack the required answers; we remain very much in the dark. There must be something wrong with what we are doing, not least with the call for more empirical research. Without disparaging sound social reseach, it is submitted that our principal problems is — what exactly is the problem? More fully, the most urgent need is to scrutinize the terms we employ and make them clear and precise, discover guiding lines and theories that make the study of criminal law and empirical research significant, and adopt a sound peno-correctional policy. * Genehmigter Nachdrudc aus: The Hofstra Law Review, Volume 1, No. 1, Spring 1973. ** Professor of Law at the University of California Hastings College of the Law; Distinguished Service Professor Emeritus, Indiana University. 1

See Logan, Evaluation Research in Crime and Delinquency: 63 J. Crim. L. C. & .P S. 378 (1972).

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Reappraisal,

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Conceptual Analysis Such basic terms as "crime", "criminal law", "punishment" and "retribution" are still very ambiguous. For early Italian positivists, crime was "natural", to be defined, in disregard of criminal law, as anti-social or harmful behavior; this continues to be defended in some sociological quarters. For others, crime is any behavior forbidden by criminal law, and criminal law is law that prescribes "punishment". But are rules imposing strict penal liability "really" criminal law and is a privation imposed on innocent persons "punishment" in the same sense as a privation imposed on a robber or a thief? Thus, for still others, crime and punishment have moral connotations. Inevitably, empirical research and discussions that proceed in innocent neglect of the conceptual ambiguities do not advance knowledge. Where one person speaks about crime as unrelated to law, while another speaks of crime as based on voluntary harm-doing forbidden by criminal law, while a third speaks of any behavior, including inadvertent negligence (which contradicts the criteria of volition which he also includes in "mens rea") the construction of a relevant body of knowledge is greatly handicapped. "Retribution" is also a word with a long history in moral philosophy where its connotations are desert, proportionality, justice and rational inquiry. But in psychological discussions and in many judicial opinions, including very recent ones by justices of the United States Supreme Court, "retribution" is synonymous with "vengeance". Obviously, if one writer has the former meaning in mind, while another thinks of emotional retaliation, discussions are not profitable. In this instance, current usage has so emphasized the latter meaning that the only remedy may be to drop "retribution" entirely, and speak of justice or of just punishment. There is also disagreement regarding inadvertent negligence; there are archaic laws and technicalities, e. g., legal distinctions drawn between larceny by trick and criminal fraud, which may not be socially significant; and there is the difference between arbitrarily imposed commands and norms which have grown spontaneously from custom and a long series of judicial decisions. Plainly, the demarcation of a uniform field of data relevant to "criminal law" is not possible by sole reliance on formal prescriptions in terms of "punishment". The need for concomitant conceptual analysis is also unmistakable.

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Guiding Lines of Organization The need to discover guiding lines is evident by mere reference to the amorphous literature on criminal procedure and administration. I am not referring to studies of particular problems or segments of procedure or administration but to collections of data and discussions which are little more than reports of current events. Last year, a defendant was arrested two blocks from his house, and the house was searched. Last month, the defendant was arrested in front of his house; yesterday, the arrest was at his doorstep. Decisions a, b and c were rendered. A stomach pump used by a police officer to secure evidence is disapproved, but its use by a doctor is legal. And so on. The acquisition of knowledge of procedure requires much more than the compilation of an endless series of discrete decisions on different facts. What is needed is a rational organization of the data, and the only semblance of that in the current literature is a chronological arrangement of materials, e. g., from police to preliminary examination to prosecution, trial and so on. Such an historical approach may have its uses, but if we are to understand criminal procedure we must organize the data along rational lines, as has been done to a significant degree with the substantive criminal law. For example, to recall some relevant considerations: (1) Criminal procedure, no less than civil procedure, is pointed at issues raised in the substantive law. Unless the substantive questions are held in view, procedure becomes a sort of game, interesting in itself, no doubt, but leaving unexplored opinions concerning delay, the influence of voir dire examinations on jurors and the like. The scholar should advance beyond such commonplace observations; he should explore and explicate the relation of procedure to substance, and thereby add to our knowledge of both procedural ans substantive criminal law. (2) The relation of procedure to substantive law involves the logic of criminal procedure, including distinctions between proof and persuasion and the study of relevance with regard to each of them. More important still, this necessitates the articulation of the basic purpose of procedure — to discover the truth of the allegations set out in the indictment or information. (Of course, the drama of a criminal trial is a warranted collateral pursuit.) (3) The logic of criminal procedure is tied to, and is often limited by, adherence to values other than truth, e. g., the restrictions set by the Bill of Rights. Confession is very relevant to the truth of a substantive charge, but we do not tolerate the use of confessions compelled by the "third degree". Evidence directly in point may not be

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gotten by invading the privacy of the defendant's home. The truth of the State's allegations must be established beyond a reasonable doubt despite the fact that in many cases reasonable jurors have solid grounds for believing that the defendant is guilty. Thus, a variety of humane values limits the efficiency of purely logical adjudication. (4) Finally, there is the historical institutional factor to be considered; it bears the marks of a distinctive culture and the operation of chance or accident. Among the nations there are different organizations of police, prosecutorial offices, judiciary, jury and correctional institutions. These agencies have acquired many practices, techniques and standards that were not legally prescribed, e. g., waiver of the felony, "bargaining", in our system. We can set the officials and their practices in meaningful contexts in relation to the rules of criminal procedure logically related to the issues and purposes of the substantive law, limited by the Bill of Rights and other values. Other models and functions than that outlined above may be employed; what is certain is that some rational organization of the materials is an essential prerequisite to the acquisition of knowledge of the criminal law system.

Analysis and Empirical Research I have been discussing the need for conceptual clarity and guidelines as conditions of advance of knowledge of criminal law. These matters also concern the common opinion that empirical research will solve our problems. For example, in studies of the effectiveness of law, i. e., deterrence and rehabilitation, if one scholar studies deterrence on the supposition that any law sanctioned by "punishment" is a criminal law while another scholar limits criminal law to rules concerning voluntary harm-doing by persons whose mens rea is either an intention to commit that sort of harm or the reckless commission of it, the results are not comparable. There are other uncertainties about "effectiveness". I am not concerned here with the difficulties involved in studies of deterrence due to a negative factor, the number of potential criminals who did not commit crimes, or with the difficulties of studying only those who are "known" to have committed crimes or with comparisons of crime rates in Sweden and the United States. My concern here is with the lack of elucidation of "effectiveness", "deterrence", "rehabilitation", and other concepts. A legislature passes a law to produce certain changes, but these results should be distinguished from immediate and remote consequences. Results are aimed at and are in-

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trinsic to action; consequences are external to action. The purpose of a housing law, e. g., is to provide better housing for poor people. The result may be that some people are provided with better housing but a direct consequence may be that the new housing increases juvenile delinquency in those neighborhoods. Capital punishment may deter some potential killers, but the consequences may be so unfortunate as to outweigh the advantageous results. Remote consequences cannot be definitely known, and that alone limits the utility of social research. A small start has been made by distinguishing specific from general deterrence. The latter needs detailed explication with reference to the complexities involved, e. g., the "sense of justice", learning theories, efficiency of police, prosecution, trial and peno-correctional treatment. There are also quantitative uncertainties. Is a law effective if 80 % or 70 % or 50 °/o of the population obey it? Suppose only 20 °/o obey it, but no one would have acted in the desired way if there were no law on the subject? Similar questions should be asked about "rehabilitation". A current hypothesis seems to be that imprisonment has utterly failed if, after serving several years, a convict who previously spent 25 years in the worst sort of ghetto is again convicted after his release and return to the same environment. The same sort of specious "finding" is based on the fact that a large proportion of prison populations has a criminal record, when what needs to be known is the proportion of all those released in a past given period of time who later commit serious crimes. Rehabilitation involves the restructuring of an entire personality; statistical studies on recidivism hardly touch that difficult problem. The other principal barrier to the solution of our problems by large-scale research is the lack of confrontation of opposed viewpoints. This is characteristic of the current educational scene where each department isolates its students, especially graduate students, from other departments; thus, a department of philosophy or history may have perspectives diametrically opposed to those held in the departments of sociology or political science but "never the twain shall meet"! Similar ideologies dominante large-scale research on the problems of crime. The leader has deep convictions and since that is what motivates action, grants are made by foundations on the supposition that they are helping to solve major problems when, in fact, they are subsidizing one side of a debate. What should be insisted on is that adequate provision must be made for research based on contrary viewpoints. This need not mean that the funds must be equally divided; it does mean much more than the mere symbolic presence of

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a "devil's disciple" who can simply be ignored. Enough should be allocated to support research by a substantial minority who oppose the prevailing opinions. The same deliberate opposition of contrary and contradictory perspectives should guide the planning of symposia, public discussions, and the operation of public offices. There would be numerous benefits: on the negative side, a limitation on the pouring out of biased findings. Positively, there would be clarification of issues, rationally guided research, and recognition that we deal with problems that science alone cannot solve. It is not my purpose to depreciate the importance of sound empirical research or to ignore the fact that it contributes to conceptual analysis, the discovery of guiding lines of organization and theoretical inquiry. I have submitted: (1) that sound empirical research depends on the above types of analysis and synthesis; (2) that even the soundest empirical research cannot provide solutions of our problems; it can inform the practical judgment of those who seek solutions of these problems; and (3) that we should discover the extent of our present knowledge by the deliberate use of methods that assure the adequate presentation of opposed perspectives, data, and theories.

Peno-Correctional Policy The most difficult requirement of progress towards solution of the crime problem is the determination of a sound peno-correctional policy. "Policy" is a very extensive term. There are short-range and long-range policies; particularistic and integrative policies; policies regarding scope, objectives and sentencing; policies that in vole values that are relatively malleable, e. g., regarding certain sexual relations, and policies involving absolute values, e. g., that no person should be dehumanized and that pain should not be inflicted on anyone unless there are very good reasons to do that. Policies are, also, feasible, possible, or Utopian.

A.

Objectives

The determination of the sound objectives of the peno-correctional system touches every phase of both research and practical work in the field of criminal law. Since it is widely agreed that deterrence and rehabilitation are sound objectives (although in the present mood only rehabilitation is espoused by many advocates of reform) the

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principal current issues concern that of justice. The confusion regarding "retribution" has been noted, and it should only be added that this misconception has the unfortunate effect of allowing the question of justice to be ignored. To be sure, the value of justice is so ingrained that it is often implicit in discussions that say nothing about it; but the problems of justice are difficult and they should be carefully articulated if a sound policy is sought. N o one would advocate or condone amputation of the hands of thieves even if that were the most effective deterrent. N o one advocates punishment of psychotic offenders. N o one condones punishing an innocent person even in a situation where that would prevent considerable harm, e. g., by appeasing mob spirit. The prohibition against cruel punishment, all of the other guarantees of the Bill of Rights and the presumption of innocence make no sense unless justice is valued. But if retribution in its ethical sense is excluded, punishment can be defended only on grounds of deterrence or rehabilitation. Thus the justice of what is done to convicts it ignored — until tragedy strikes and we are brought up short by the realization that we have lost sight of what is most precious in criminal law. Few, if any, would disagree with the above observations about what should not be done. But when justice calls for punishment of guilty persons, the difficulties start. Is it possible to have justice in the above negative directions and, also, to make no distinctions between what is done to the robber or arsonist and what is done to or for those who sacrifice their lives for others, for students who need financial help or for ordinary decent persons who harm no one? Is it possible to maintain the principle of legality as a limitation on official action and at the same time allow offenders to escape the plain orbit of relevant penal law? Is it possible to make sense of praise and reward if no one is blamed or punished? The greatest defect in much of the current approach to crime is the failure to appreciate that even as regards privations, criminals should be treated as moral beings, not as animals to be conditioned 2 . That, more than anything else, is what our common law of crime means; that is what the common man understands. It is also what public officials lose sight of and many philosophers and social scientists ignore. A revived appreciation of the common law of crimes could do much to correct the current imbalance. It is a discipline that has its roots in ancient Greek philosophy and the religious tradition of the * See Morris, Persons and Punishment, 52 The Monist 475 (1968), reprinted in Theories of Punishment 76 (S. Grupp, ed. 1971).

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West. It starts, say, with Bracton and continues thence for more than 700 years in the most detailed, refined, and articulated record of moral experience and deliberation to be found anywhere. The principles of this law, stated in terms of legality, mens rea, voluntary conduct, harm, causation and punishment rest finally on the view that man is a responsible person. This has not been interpreted in a fixed or dogmatic way; it is a perspective that has grown and deepened through the ages. While we continue to improve it, we cannot abandon these ultimate principles unless we are prepared to accept a mechanistic or paternalistic view of man, e. g., one that may be garbed in the well-motivated attire of "treatment". Punishment is the public, realistic condemnation of harmful, immoral, legally forbidden conduct; it is an implication of the basic principles of the moral life. Those principles could not survive the demise of just punishment. Without discussion, which the limits of this paper exclude, it is submitted that a sound policy has three aspects — justice, deterrence and rehabilitation — and that the neglect of any one of them leads to fallacies in analysis and research 3 . But although a sound policy, an integrative one, is essential not only for productive social research but also to the maintenance and improvement of the criminal law, it will not suffice simply to recognize that all three of the stated objectives must be considered. A policy cannot decide specific cases, as Holmes has taught us; there are many individual factors to be considered (some of which will be discussed later) and there is no easy solution of this phase of the problem. There is also the difficult problem of economic cost. A recent newspaper report stated, in substance, that the annual cost of maintaining juvenile delinquents in reformatories ranges from almost $ 11,000 to $ 19,000 for each juvenile, and this was contrasted with the annual cost of $5,700 of attending Harvard University. There are limits on what can be spent on peno-correctional institutions. An even more difficult question concerns the limits on the quality of life in penal institutions if imprisonment is not to stimulate violation of law instead of deterring it 4 . There is, also, the question of possible conflict between the above objectives; e. g., is it possible to be just and at the same time rehabilitate offenders? 3 J. Hall, General Principles of Criminal Law 3 0 4 — 3 0 7 (2d ed. 1960); Hall, Justice in the 20th Century, 59 Calif. L. Rev. 752, 7 5 5 — 7 5 8 (1971). 4 Professor ]. Andenaes, no hard "retributionist" by any standard, writes: " [ T ] h e humanizing of penal practice must be kept within certain limits if it is not to lead to an undermining of respect for law and authority." 43 J . Crim. L. C. & P. S. 195 (1952), reprinted in Theories of Punishment, supra note 2, at 159.

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I believe defensible solutions can be reached regarding all of these difficult problems and that they will be compatible with the integrative theory. But this calls for the use of sound practical judgment aided by clear analysis of each problem in the light of presently available knowledge, not for postponement on the basis of optimistic hopes that future empirical research will supply the necessary answers. B. The Scope of Criminal

Law

A major perennial question of policy concerns the scope of criminal law. The history of criminal law shows spontaneous rather than carefully studied changes, often responsive to special interests or to passing public opinion. The premise of this discussion is that the morality of criminal law is improved when behavior that is not plainly immoral has been removed from its orbit and, perhaps, transferred to that of non-penal law. This purpose is served when strict penal liability is so treated; whether even that disposition is defensible may be doubted, but the consequent strengthening of the criminal law seems evident. A second move in that direction, dating at least from the beginning of this century, concerns the so-called "victimless crimes". However, the current emphasis on "victimless" is misleading in its implications that all crimes must have specific individuals as victims and that the harms must be inflicted on unwilling persons. T r a f f i c violations, tax offenses and political crimes need not have specific victims. Similary, it is fallacious to assume that all crimes are contra voluntas; consent to mayhem or to fights that cause public disorder is not a defense, and consent is not even theoretically applicable to political crimes. The focus should be on the harm, i. e., whether it is the kind of harm that calls for use of the punitive sanction. Unfortunately, discussions of this problem have been carried on in terms of a sharp dichotomy — harm or no harm. In fact, it is always possible to find some harm, some undesirable result or consequence; since no man is an island, if he hurts himself the community is harmed. Quoting J . S. MILL, including passages where he advocates governmental intervention, does not help to elucidate this criminal law problem. Instead, what needs study is the relative crudeness of criminal law, the possibly preferable use of non-punitive law, the use of non-legal agencies, and the value of individual autonomy which, like the presumption of innocence, should place the burden of proof on those who advocate control by criminal law.

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Emphasis on "victimless" has another unfortunate consequence: it lumps together gambling, prostitution, addiction, and homosexuality. But each of these differs importantly from the others; the respective solutions may also be expected to differ. If we make necessary distinctions and recognize that very different social problems are involved, we will advance beyond the intuition that something is wrong with our present handling of these problems. We can strengthen the criminal law and subject fewer persons to its onerous sanctions by improving its moral quality in still other directions. The felony-murder rule leading to convictions of murder in the first degree regardless of the lack of even recklessness is still in vogue in this country and it leads to sharp disagreements among able judges. The objective standard of liability, especially in criminal homicide, also subjects some convicted persons to a higher degree of criminal liability than they deserve. In both of the above respects we can profit from the recent advance of English criminal law 5 . On the other hand we are making conisderable progress, especially in California, by the use of "diminished capacity" to approach nearer to just treatment; but that vague concept is very much in need of the sort of analysis discussed above if it is to serve as a definite standard of adjudication. Finally, apart from various subsidiary problems in other parts of the criminal law, there is the problem of inadvertent negligence. Here, too, the submission has been that such conduct should be removed from the orbit of penal liability and treated civilly 6 . Although opinion on this question remains divided, recent discussions by scholars not previously involved definitely support that thesis 7 . With regard to all of the above possibilities of narrowing the scope of criminal law, it should be noted that we lack the justifica5 The 1957 Homicide Act (5 & 6 Eliz. 2, c. 11) and the 1967 Criminal Justice Act, Sec. 8. 6 Hall, Negligent Behavior Should be Excluded from Penal Liability, 63 Colum. L. Rev. 632 (1963). 7 See, e. g., Fine and Cohen, Is Criminal Negligence a Defensible Basis for Penal Liability?, 16 Buffalo L. Rev. 749 (1967); Wasserstrom, H.L.A. Hart and the Doctrines of Mens Rea and Criminal Responsibility, 35 U. Chi. L. Rev. 92, 102—104 (1967); and Note, Negligence and the General Problem of Criminal Responsibility, 81 Yale L. J. 949 (1972). The only recent article I have seen that supports criminal liability for inadvertent negligence is Fletcher, The Theory of Criminal Negligence: A Comparative Analysis, 119 U. Pa. L. Rev. 401 (1971). Professor Fletcher accepts the prevailing German position on this subject. Reflecting this influence is his confusion of inadvertent negligence with what in common law analysis is recklessness. See, id., first full paragraph on page 426.

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Perennial Problems of Criminal Law

tion for the present indiscriminate treatment of those problems that may be allowed past generations whose non-punitive legal institutions and non-legal facilities were relatively crude or wholly inadequate. In this century our administrative agencies have been developed to a level undreamed of in past ages; our social services have likewise advanced to points where they can make substantial contributions. We are not, therefore, faced with the simple alternative that confronted lawyers in the 18th century — either to use the crude apparatus of the penal law or to do nothing at all. We are fortunately in a position where we can refer large areas of deviant behavior to other institutions while, at the same time, by circumspect narrowing of it, we can strengthen the criminal law.

C. Indeterminate

Sentences

Versus Definite

Penalties

It has long seemed axiomatic that the individualization of treatment provided by wide indeterminate sentences marked a great advance over earlier insistence on specific penalties. The differences among offenders and the circumstances of their wrong-doing seemed and still seem obviously to call for very different degrees of punishment and types of treatment. The fact that judges are not often expert in non-legal disciplines and the assumed availability of competent specialists, augmented by confidence in the social disciplines, led to the transfer of decision-making regarding sentences from judges limited by specific rules of law to administrative boards largely unfetterd by law, who, presumably, would make a careful study of each offender. Recent events have taken a turn which calls for a reappraisal of this policy. They began with the abandonment of legality in European dictatorships and the dramatic reminder that the use of power unlimited by definite rules of law can lead no to wise, compassionate treatment but to gross injustice and the abuse of elementary human rights. More recently, the criticism of indeterminate sentences by inmates of penitentiaries and their representatives has become articulate, sometimes strident. Studies of judicial decisions have revealed great disparities which cannot be rationally explained on the basis of available data. Parole boards are charged with arbitrarily freeing some offenders while continuing for years the imprisonment of others who are not distinguished in terms of the crime or the circumstances or the offenders' characteristics. There are insinuations of political influence and of reliance on fortuitous characteristics, e. g., whether

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an inmate is clever enough to make a favorable impression on the guards. There are questions about the competence of the boards, about the time they actually spend in studying the individual inmate, and there are serious doubts about the availability of objective knowledge to guide this very important decisions. Third, is the influence of recent Supreme Court decisions, especially Gault and Furmarfi. Gault dealt with the juvenile court, where individualization has had its greatest appeal; that decision and succeeding ones legalized juvenile court procedure to the point of bringing it very close to the formality of the criminal trial. Despite the judicial avowal not to interfere with the benevolent treatment of juveniles, criticism was not restricted to the trial; juvenile correctional institutions were even more severely criticized and were assumed to be punitive in their actual operation. Whether this criticism of procedure and treatment in cases of juveniles was warranted or mistaken, its indubitable effect, when joined to return to the rule of law as regards the juvenile court, is to raise serious doubts about the individualization of "treatment" and its corollary — the extensive indeterminate sentence. Furman has a more direct relation to the indeterminate sentence; for, if there is a single thesis running through the majority opinions, it is that subjection to the capital penalty as now managed, i. e., within the discretion of judges and juries, is arbitrary, capricious and without any "meaningful basis for distinguishing" the cases where it is imposed from the others; it is a mere "lottery". Inevitably, the question arises — how or why is the case different as regards life imprisonment instead of a shorter maximum term, imprisonment to 20 years instead of to 5 years or, indeed, as regards innumerable other indeterminate sentences? The capital penalty is distinctive in some ways, but it is like long term of imprisonment in that all are severe privations. If the execution of some criminals is arbitrary or fortuitous, on what ground or by reference to what available evidence can the disparities that run through the entire system of indeterminate sentencing be defended? Finally, and perhaps most persuasive, is the experience of the small, homogeneous, literate Scandinavian countries which had embraced the indeterminate sentence as the plain road to progress and humane treatment. Professor Andenaes, the distinguished Norwegian scholar, reports: 9 8

In re Gault, 387 U. S. 1 (1967); Furman v. Georgia, 408 U. S. 238 (1972). / . Andenaes, The Future of Criminal Law, Crim. L. Rev. 621—622 (Nov. 1971). 9

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A t least in the Scandinavian countries the trend in recent years has been a w a y f r o m the sanctions of indeterminate duration back to the traditional system of fixed sentences meted out by the court. This change in the trend is not due to theoretical speculation, but to experience and research.

The above developments, arising from different sources, leave us no choice except to reopen and reexamine the question of the indeterminate sentence. A first step in that direction is to fix the limits of defensible disagreement. It will be agreed, I believe, that we cannot return to 18th century classicism — to impose a specific penalty for each crime regardless of the offender's characteristics and the circumstances of his crime 10 . On the other hand, we cannot ignore the recent criticism of the indeterminate sentence, noted above. We are drawn therefore to explore intermediate positions, e. g., to take certain criteria as the basis for definite limitation on official discretion, leaving it to operate within more restricted areas than the present very wide range allows. For example, only for illustration, not to suggest that it is a defensible solution, let us attend to a present indeterminate provision of, say, 1 to 10 years' imprisonment. Among criteria that are candidates for definite statutory provision or for the legal regulation of parole boards are the following: conviction of a previous felony, being armed with a lethal weapon, the use of such a weapon in the infliction of a physical injury on the victim, and confirmed addiction to a "hard" drug. (Other criteria, e. g., dangerousness and evidence of mental disease, are relatively subjective.) Instead of 1 to 10, the sentence in a particular case would be 1—2.5, 2.5—5, 5—7.5 or 7.5 —10. An offender who was found to have all four of the above characteristics would be sentenced to 7.5—10 years; i. e., the parole board would have discretion to discharge him any time after he had served 7.5 years, but not before. And so on as regards the other criteria, depending on whether there were one, two or three of them 11 . There are obvious objections to such a proposal, e. g., why give equal weight to each of the four criteria? H o w defend any combination of them against other combinations or why treat a combination of two of them as equivalent to combinations of two other criteria? 10 The usual account of 18th century penal law is little more than a myth since even at the peak of classical penology there were many ways of avoiding or mitigating the rigor of the substantive law. See, e. g., Hall, Theft, Law and Society, ch.4 (2d ed. 1952). 11 See Judge M. E. Frankel's discussion of "a scheme of quantification" in his lecture on Lawlessness in Sentencing, 41 U. Cin. L. Rev. 1, 47—48 (1972). "If this sounds crass and mechanical, I press it nonetheless as a goal preferable to the void in which we now operate." Id. at 48,

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That there are infinite differences among offenders and the circumstances in which they acted is so obvious and it has so impressed able judges, lawyers and scholars that all of the recent well-known reports (the Model Penal Code, the Modell Sentencing Act, and the American Bar Association's project on Sentencing Alternatives and Procedures) recommend continued reliance on wide discretion. The A. B. A. project focused on a narrow difference between the two models: it supported the Model Sentencing Act and rejected the Model Penal Code's statutory provision of minimum sentences. The fact that the New York Commission rejected some of the Model Penal Code's provisions and preferred to substitute legal controls did not alter the view that wide indeterminacy is desirable. Although the A. B. A. Committee was well-informed regarding great disparities in the judges' sentences, there is little, if any, evidence in its report that defects and injustices in the operation of parole were considered or, indeed, that any serous criticism of the policy of indeterminate sentences was discussed. This is not stated as criticism of that distinguished Committee the A. B. A. report was published in 1967, i. e., before the very recent widely publicized complaints of inmates of prisons and before Furman was decided and, apparently, without consideration of the Scandinavian experience. In the light of these recent developments, it is possible to formulate the present problem in more realisitc terms. The question is not whether the indeterminate sentence is better in theory than any system of fixed penalties. Plato's Statesman is abundant proof of the preferability of decision by philosopher-kings unfettered by law. But that dialogue terminated with the equally persuasive argument that, lacking philosopher-kings, the best solution available in any actual state is the rule of law. Why should not that apply to a significant degree to decisions regarding the years of imprisonment that must be served? It could be shown, I think, that our traditional preference in the resolution of doubts is to give priority to the rule of law as a necessary curb on administration. The relevant, specific question is, what legal limits should be placed on administration? O f first importance in dealing with this problem is recognition of the fact that this is a problem for informed practical judgment, not one that can be solved by empirical research. Second, if the decision is one to be made by informed practical judgment, who should make that decision and how should it be reached? In our system, that kind of judgment is made by the legislature, hopefully, after full and free discussion in which opposed points of view and conflicting sets of data were considered. There is

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considerable evidence in the above reports that rehabilitation and deterrence were foremost in the minds of the committees; evidence of an equal concern for justice is scant. Able legislators and thoughtful laymen, had they been members of those committees, might have called attention to the importance of this essential component of a sound penal policy. Third, account should be taken of the fact that there is wide recognition of the need for evidence of the grounds of decision by judges and parole boards and for the availability of these records to the public 12 . This much, at least, seems plain — the indeterminate sentence can no longer be accepted on faith; the rule of law can no longer be ignored on the ground that there are always differences among offenders and situations. We do not abolish the law on criminal homicide because each case is different or because an act of euthanasia stimulates compassion rather than prosecution. We should not allow the justice of the substantive law to disintegrate in the mere belief that individualization unchecked by law actually provides a higher degree of justice. Opinions will differ regarding this; perhaps a common ground can be reached if the enactment of statutes along the above-indicated lines were postponed, say, for five years and, as a first measure, judges and parole boards were required to state the standards and types of fact which they employed in reaching their decisions and, also, to say in their reports why particular combinations of them led to the various decisions. The common run of person understands the potential advantages of individualization; what they need to know is whether important decisions regarding sentences, release and detention were made on rational grounds and in conformity with recognized standards of justice. If that evidence cannot be produced, we should turn to legislation for substantial restoration of the rule of law.

Theories of Criminal Law and Theories About Criminal Law In a large sense "theory" connotes knowledge or understanding. In a narrower sense, e. g., that of "molecular theory" a theory is a set of interrelated concepts which unifies and explains a large range of data. A theory of criminal law depends on the elucidation of relevant concepts, on guiding lines implied in the rational interrelation of 12 See The Challenge of Crime in a Free Society 179 (Pres. Comm. L a w Enf. A d m . Just. 1967). But the focus of study of the task force was on "rehabilitative treatment." Task Force Report: Corrections 16 (1967).

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those concepts, and on its expression of a sound penal policy. Just as any scientific theory is verified by reference to fact, so does the validity of a criminal law theory depend on its coherence with actual criminal law, not with anyone's idealization of that law. The ambiguity of "criminal law" raises problems regarding theories of that law; and the alleged neutrality of theory (or of relevant social science) is contradicted by any criminal law theory's inevitable connotations of value or policy. It is possible here to give only the most summary statement of the principal theories of criminal law and salient differences among German, English and American theories. In broad terms it may be said that all of these criminal law theories distinguish: (1) an external element — facts and behavior, (2) the legality of the behavior and (3) the subjective element, the factor of personal guilt. The dominant type of German criminal theory (which, outside the common law world, is more influential than any other theory) deals with the above elements in chronological order. In England, again oversimplifying, the dominant view, probably influenced by parliamentary supremacy and Bentham, is based on a practical, formal definition of criminal law focused on "punishment" 13 . In the United States, an effort has been made to construct a detailed, systematic theory of criminal law which takes account of the above elements in a single level of analysis. Based on the ethical premise that only voluntary harm-doing should be subjected to penal liability, it distinguishes and interrelates rules, doctrines and principles of criminal law 14 . Criminal law and legal scholarship would be greatly advanced if the above theories were subjected to critical comparison. Theories of criminal law should be distinguished from theories about criminal law. A theory of criminal law is a structure of immanent, interrelated ideas; e. g., the principles referred to above are derived from the union of the rules and doctrines. Such a theory represents the discovery of unifying concepts inherent in the criminal law. A theory about criminal law may be a sociological, psychiatric or anthropological theory, e. g., that criminal law evolves from certain conditions; that it represents the interests of a dominant class or competition among classes; that it reflects instincts and drives that are of psychiatric significance; that it is a rational dialectic of the moral life, and so on. Research on "criminal law" is sometimes 13 There are, of course, many variations in English criminal theory. For example, the position of the later Professor Turner and of Professor G. Williams on inadvertent negligence challenges the dominant model. 14 Hall, supra note 3, ch. 1. This theory is summarized in 77 Ethics 1 5 — 1 6 (No. 1 1966) and in 9 Ariz. L. Rev. 360 (1968).

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carried on by social scientists in complete disregard of the significance of the legal concepts that are expressed in that law. The result may be an interesting contribution to behavioralism; it does not advance knowledge of the criminal law. There is an alternative to this sort of study, one, indeed, that has the highest credentials in social science. I refer to the fact that the founders of many social disciplines were legal scholars. Weber was a professor of law before he turned to economics and sociology; Durkheim was also trained in law. The contributions of Maine to anthropology, of the German Historical School to history and social science, and of many legal scholars to political science are wellknown 15 . These scholars not only kept in view the rational significance of the law, they also applied that knowledge in their development of the social sciences16. In sum, theories about criminal law, including the sociology of criminal law, depend on theories of criminal law. The paramount importance of theory has become more fully appreciated as a result of the closer cultural relations among scholars of many countries, especially in the past 25 years. I am not referring to the occasional meetings of international societies but to the much more frequent exchange of ideas among legal scholars that has recently become possible. This means that the criminal law scholar of the future will address his best efforts to an international audience of scholars. The ultimate challenge is to construct a universal body of knowledge of criminal law and its administration.

J. Hall, Comparative Law and Social Theory 111—114 (1963). E. g., Weber's theory of "types" and of social action was influenced by his legal training. 15

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Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ARTHUR KAUFMANN I.

Mit schöner Regelmäßigkeit wird seit hundert Jahren — davor gab es dergleichen freilich auch schon — die Abkehr vom Schuldstrafrecht, bisweilen vom Strafrecht überhaupt, gefordert und propagiert. Der jüngste derartige Appell ging von Arno Plack aus, der, wie schon so mancher vor ihm, mit einem wortgewaltigen Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts vor die Öffentlichkeit getreten ist 1 . Daran ist nichts aufregend Neues. Kein Geringerer als G U S T A V R A D B R U C H hatte einst auch im Sinn, das Strafrecht durch ein Maßnahmenrecht abzulösen, „das besser als Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht wäre" 2 — aber als er dann seinen StrafgesetzEntwurf verfaßte, da hielt er ausdrücklich am Schuldprinzip fest 3 . Dasselbe zeigte sich in der Sowjetunion und auch in Skandinavien, wo man — mehr oder weniger nach dem Vorbild des italienischen Entwurfs von Enrico Ferri — ein „Sanktionenrecht" ohne „Strafen" einführen wollte und wo man mittlerweile ausdrücklich oder stillschweigend den Schuldgedanken zur Hintertür wieder hereingelassen hat 4 . Gegenüber solchen Extremforderungen kann man also getrost zur Tagesordnung übergehen. Etwas anderes ist es mit den Stimmen, die am Schuldgedanken festhalten, ihn aber „entschärfen" wollen, indem sie die Bedeutung der Schuld herunterzuspielen versuchen. Dahin gehört beispielsweise die Auffassung Roxins, wonach die Schuld die Strafe nicht begründe, sondern nur begrenze, und der damit die „Lösung" des Schuldproblems gefunden zu haben vermeint: da die Schuld bloß ein „Begren1

Plack, P l ä d o y e r f ü r die Abschaffung des Strafrechts, 1974 (510 Seiten!). Zuletzt in: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 265; siehe auch schon: G r u n d z ü g e der Rechtsphilosophie, 1914, S. 73 ff. 3 Gustav Radbruchs E n t w u r f eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (1922), hrsg. v o n Eberhard Schmidt, 1952, besonders S. 60 f.: „Die D u r c h f ü h r u n g des Schuldprinzips". 4 Vgl. f ü r die S o w j e t u n i o n : Radbruch-Zweigert, E i n f ü h r u n g in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1969, S. 150; f ü r die D D R : Maurach, Verbrechen u n d S t r a f e nach dem neuen Strafgesetzbuch der D D R , in: Maurach-Meissner (Hrsg.), 50 J a h r e Sowjetunion, 1969, S. 156 ff., u n d Fr.-Chr. Schroeder, Schuld als Entscheidung — Zur Regelung der „Schuld" im Strafgesetzbuch der D D R , in: J a h r b . f. Ostrecht 1973, S. 9 ff.; f ü r S k a n d i n a v i e n : Andenaes, Z S t W 69 (1957), 651 ff., bes. 655. — Z u m G a n z e n eingehend: Richard Lange, D a s Rätsel K r i m i n a l i t ä t , 1970, passim; derselbe: Die Krise des Strafrechts u n d seiner Wissenschaften, 1969, passim. 2

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Arthur K a u f m a n n

zungselement" sei, könne man die Frage, ob es Schuld — und Freiheit! — überhaupt gibt, getrost in der Schwebe lassen 5 . Wäre das richtig, so könnte man ausnahmslos alle Verbrechensvoraussetzungen in der Schwebe lassen, denn jedes Merkmal, an das die Strafe gek n ü p f t wird, begrenzt diese zugleich — et vice versa (das folgt logisch zwingend aus dem Gesetz des reziproken Verhältnisses von Begirffsinhalt und Begriffsumfang) 8 . Natürlich kommt der Schuld im Strafrecht eine rechtsstaatlich äußerst wichtige Limitationsfunktion zu 7 . Aber gerade deswegen kann man ihre Existenz und ihre Feststellung nicht dahingestellt sein lassen. Das Schuldproblem verliert nichts an Gewicht, wenn man die Augen vor ihm verschließt. N u n begegnet man immer wieder der Meinung, strafrechtliche Schuld setze „Willensfreiheit" voraus (ein treffenderer Ausdruck wäre „Freiheit zur Selbstbestimmung"), diese Freiheit aber lasse sich, jedenfalls in concreto, nicht wissenschaftlich beweisen, und also müsse man von einer Begründung der Strafe durch die Schuld Abstand nehmen. Das ist leicht gesagt. Doch wie will man denn — um nur ein Problem herauszugreifen — die „Schuldunfähigkeit" im Sinne des § 20 StGB erklären: die mangelnde Schuld infolge der Unfähigkeit, „das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln"? Es ist nicht beabsichtigt, im Rahmen dieses kleinen Beitrags näher auf das Freiheitsproblem einzugehen. Es können nur einige wenige Bemerkungen und Andeutungen gemacht werden 8 . Wer die Kürze dieser Darstellung tadelt, sei auf Nietzsche hingewiesen: „Etwas Kurz-Gesagtes kann die Frucht und Ernte von vielem Lang-Gedachten sein: aber der Leser, der auf diesem Felde Neuling ist und hier noch gar nicht nachgedacht hat, sieht in allem Kurz-Gesagten etwas 5

Roxin, JuS 1966, 377 ff., bes. 384 f. Siehe näher Arthur Kaufmann, JZ 1967, 553 ff., bes. 555. Zutreffend gegen Roxin auch Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, i m : Handbuch der forensischen Psychiatrie, hrsg. v o n Göppinger und Witter, Band I, Teil A, 1972, S. 13 ff., bes. S. 18 f. — Roxin hat seine A u f f a s s u n g neuerdings modifiziert, w a s hier im einzelnen nicht dargelegt werden kann; vgl. Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 29 f., sowie: „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, in: Grundfragen der gesamten Strafrechtswissenschaft — Festschr. f. Heinrich Henkel, 1974, S. 171 ff. — Zum Streitstand auch Haffke, MSchrKrim. 1975, S. 46 ff. 7 D a s darzulegen, w a r ein H a u p t a n l i e g e n meiner Monographie „Das Schuldprinzip", 1961; 2. Aufl. 1976. 8 Ich verweise des näheren auf: Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie im W a n del, 1972, S. 321 ff. A n meiner Darstellung des Freiheitsproblems in: D a s Unrechtsbewußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts, 1949, S. 102 ff., halte ich nicht fest. — Ähnlich w i e im T e x t : Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, 1967, S. 63 ff. Vgl. auch Kohlrausch-Lange, Strafgesetzbuch, 39. u n d 40. Aufl. 1950, A n m . III zu § 51 (in der 43. Aufl. 1961 ist die einschlägige Stelle gekürzt). 6

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Embryonisches, nicht ohne einen tadelnden Wink an den Autor, daß er dergleichen Unausgewachsenes, Ungereiftes ihm zur Mahlzeit mit auf den Tisch setze 9 ." Es ist oft beteuert worden, daß der ganze Streit um das Freiheitsproblem für das Strafrecht überhaupt nicht relevant sei, weil insbesondere mit dem „psychologischen" Merkmal der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB nicht „Willensfreiheit" gemeint sei, sondern etwas viel Elementareres und Einfacheres: die „normale Motivierbarkeit", wie man es vielfach genannt hat 10 . Dazu ließe sich sagen, daß mit dieser Redeweise doch auch wieder nur der Freiheit ein anderer N a m e gegeben wird. Indessen wollen wir das auf sich beruhen lassen. Wichtig ist die Frage, wie denn diese „normale Motivierbarkeit" festgestellt werden kann. Die Antwort kann nur lauten: „Normale Motivierbarkeit" läßt sich um kein Jota anders ermitteln als die — nicht indeterministisch verstandene 11 — Freiheit, nämlich einzig durch ein analogisches Verfahren. Wollen wir wissen, ob ein Straftäter „normal motivierbar" ist, so sind wir, wie auch sonst in der Wissenschaft, zu allererst auf unsere Erfahrung angewiesen. Sie muß uns darüber Auskunft geben, ob sich auch ein „Durchschnittsmensch" in der äußeren und inneren Lage des Täters ebenso wie dieser verhalten haben würde oder nicht 12 . Die 9 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, II, 1, 127 (Werke, hrsg. von Karl Schlechta, 1. Bd., 7. Aufl. 1973, S. 786 f.). 10 Statt vieler weiterer Hinweise: Mezger, Schuld und Persönlichkeit, 1932, bes. S. 19 ff. Im selben Sinne spricht Mezger a. a. O . auch von der „sozialen A d ä q u a n z der Persönlichkeit des Täters". 11 Freiheit besteht nicht in einem Nein zur kausalen Determination, vielmehr in deren Oberdetermination (genauer müßte man sagen: schon in der Möglichkeit solcher Oberdetermination), d. h. im H i n z u f ü g e n einer eigenen Determinanten besonderer Art, die nicht aus dem Kausalgefüge der Welt stammt, sondern aus ihrem Sinngefüge. Es ist ein weit verbreiteter — auch in der noch zu analysierenden Schrift von Ellscheid und Hassemer anzutreffender — Irrtum, d a ß mit der A u f deckung kausaler Determinanten Freiheit eingeengt oder gar verneint werde. Nicht die Aufhebung irgendeiner Determination zeichnet den sittlichen Willen aus, sondern das Hinzutreten einer neuen, nicht ein Minus an Determination, sondern gerade ein Plus an Determination. Ein solches Plus an Determination lassen die Kausalprozesse sehr wohl zu, denn sie sind ja nicht von vornherein auf ein Endziel festgelegt, sondern laufen gleichgültig ab, und eben darum sind sie f ü r den, der ihre Gesetzlichkeit durchschaut, lenkbar. Es gibt kein Gesetz, das besagt, d a ß zu den kausalen Determinanten eines Kausalnexus nicht noch anderweitige Determinanten hinzutreten könnten — das Kausalgesetz besagt nur, d a ß die Kausalverläufe nicht ein Minus an Determination zulassen. Vgl. n ä h e r : Rechtsphilosophie (Fn. 8), bes. S. 322 ff. mit weiteren Literaturhinweisen. 12 G u t hierzu und zum folgenden: Rudolphi, Onrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, 1969, S. 25 ff.

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Arthur Kaufmann

Feststellung der — wie auch immer verstandenen — Schuld (oder Verantwortlichkeit) geschieht also seit eh und je und ganz notwendig per analogiam, das heißt der Täter wird verglichen mit einem aus unserem Erfahrungswissen gebildeten Konstrukt — nicht etwa mit einem leibhaftigen Durchschnitts- oder Normalmenschen, denn ein solcher wurde bislang von keinem Weibe geboren. Durchschnittlichkeit oder Normalität „an sich" gibt es nicht, sondern immer nur „im Hinblick auf", und das bedeutet, daß schon die Feststellung dessen, was als „durchschnittlich", als „normal" oder auch als,,normal motivierbar" anzusehen ist, ein analogisches Verfahren darstellt. Oder so ausgedrückt: Der Durchschnittsmensch, der als Maßstab für die strafrechtliche Schuldfähigkeit herhalten muß, ist weder ein Abstraktum, noch aber auch konkrete Wirklichkeit, er ist vielmehr ein Typus und steht als solcher mit dem einen Bein in der Welt des Wahrnehmbaren, mit dem anderen in der Welt des Intelligiblen. Deshalb läßt sich ein Schuldurteil nie ausschließlich auf Erfahrung gründen. Das hat aber mit Indeterminismus nichts zu tun. Auch wer die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von dem Problem der Willensfreiheit trennt, wird nicht anders verfahren können, als daß er aus dem erfahrungsgemäßen Verhalten wirklicher Menschen einen „Normalmenschen" konstruiert, um dann von diesem erdachten Modell wiederum auf die Fähigkeiten wirklicher Menschen zu schließen. Solange man im Straf- oder Maßnahmenrecht „Normale" anders behandelt als „Nicht-Normale", solange wird man sich dieses analogischen Verfahrens bedienen müssen. Der „Analogieschluß", von dem hier die Rede ist, ist nichts anderes als jener vieldiskutierte Brückenschlag vom Sein zum Sollen bzw. vom Sollen zum Sein, der theoretisch immer wieder verdächtigt, im Rechtsleben aber stets praktiziert worden ist. Verdächtigt wurde er, weil die Analogie weder Deduktion noch Induktion ist, sondern, was schon Aristoteles wußte 1 3 , eine Verbindung zwischen beiden: eben jene Brücke, die, weil nicht auf festen Pfeilern ruhend, sondern elastisch zwischen zwei Pylonen aufgehängt, von den Methodendualisten für allzu schwankend erachtet wird. Aber über diese Brücke müssen wir, auch wenn uns dabei schwindelt 14 . Es ist keine Frage, der sogenannte Analogieschluß führt niemals zu gesicherten, apodiktischen, sondern immer nur zu problematischen, aporetischen Urteilen. Aber wer glaubt, „daß sich die strafrechtliche Theorie nicht wie andere Wissenschaften ungeklärte Grundprobleme Aristoteles, Analytica prior, II, 2 4 ; Rhetorik, I, 1357 b, 25 ff. Näher zur Problematik der Analogie: Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie (Fn. 8), S. 272 ff. 13

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leisten kann" 1 5 , der gibt sich offenbar der wirklichkeitsfremden Illusion hin, es sei möglich, wissenschaftliche Grundprobleme abschließend zu „klären". Es ist in der Tat unmöglich, „Schuld" und „Freiheit" mit den Mitteln des Strafprozeßrechts — und auch mit anderen Mitteln — so eindeutig zu erforschen, daß kein ungelöster Rest mehr bleibt. Doch ebenso steht es auch mit vielen anderen Kategorien, mit denen der Strafrichter, vor allem bei der Strafzumessung (§ 46 StGB), arbeiten muß: die „Beweggründe" des Täters, seine „Gesinnung", das Maß seiner „Pflichtwidrigkeit", sein „Vorleben" . . . , dann aber auch solche Momente wie „Gefährlichkeit", „Unrechtsbewußtsein", „potentielle Verbotskenntnis" und viele andere mehr. Wie immer man ein Straf- oder Maßnahmenrecht fundiert, es wird notwendig auf problematischen Prämissen und Grundlagen errichtet sein, und die Ergebnisse, zu denen der Strafrichter gelangt, werden nie Wahrheitsgewißheit verbürgen.

II. Unlängst haben Günter FAlscbeid und Winfried Hassemer einen interessanten Versuch unternommen, einerseits das Schuldprinzip aus dem Strafrecht zu eliminieren und doch andererseits nicht den bekannten Aporien der Defense sociale (die „totale Unbestimmtheit" der zu verhängenden Maßnahmen 16 ) zu verfallen. Das Rezept hierfür erscheint verblüffend einfach. Ellscheid und Hassemer schlagen vor, das Schuldprinzip durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu ersetzen, womit dann auch erreicht werde — und das ist ihr Hauptanliegen —, daß die Strafe ihren Vorwurfscharakter verlöre 17 . Wenden wir uns zunächst der Frage zu, ob der Schuldgrundsatz wirklich so ohne weiteres durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abgelöst werden kann. Die Meinung, die das bejaht, geht ersichtlich von der Vorstellung aus, daß beide Grundsätze auf derselben Ebene liegen, oder gar, daß das Schuldprinzip „nichts anderes ist, als die strafrechtliche Ausprägung jenes allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit', dem als Ausfluß des Rechtsstaatsgedankens Verfassungsrang zukommt" 18 . Indessen, so liegen die Dinge nicht. Zwar ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein Teilaspekt des 15 Ellscheid ¡Hassemer, Strafe ohne Vorwurf, in: Civitas — Jahrbuch für Sozialwissenschaften, 9. Bd., 1970, S. 27. 16 Siehe Richard Lange, Das Rätsel (Fn. 4), S. 63 ff., bes. S. 82. 17 EllscheidIHassemer, a. a. O. (Fn. 15), S. 27 ff. X8 So Calliess, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1974, S. 187. Vgl. auch Zip}, Die Strafmaßrevision, 1969, S. 55 ff.

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Arthur Kaufmann

Schuldgrundsatzes, aber eben nur ein Teilaspekt und auch nicht der primäre 19 . Die Bedeutung des Schuldprinzips ist eine dreifache. Als erstes und wichtigstes besagt es, daß die Schuld — wie Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit — ein strafbegründendes und damit zugleich auch strafbegrenzendes materielles Verbrechensmerkmal ist, daß also jede Strafe notwendig Schuld voraussetzt. Diesen Aspekt — und nur diesen — hatte das Bundesverfassungsgericht im Auge, als es erklärte, dem Schuldgrundsatz komme verfassungsrechtlicher Rang zu, da er im Rechtsstaatsprinzip begründet sei20. Die zweite Bedeutung des Schuldprinzips liegt in der Kongruenz zwischen Unrecht und Schuld. Die Schuld muß alle Elemente des konkreten Unrechts umfassen, es darf also keine schuldindifferenten Unrechtsmerkmale geben, und es genügt auch nicht eine auf bloß unbestimmtes Unrecht gerichtete Schuld (also Absage an die aus dem kanonischen und gemeinen Recht stammende Lehre vom „versari in re illicita"). Diesen Aspekt des Schuldprinzips, nämlich „daß sich äußere und innere Tatseite decken müssen", hat auch der Bundesgerichtshof ausdrücklich anerkannt: „Das Erfordernis der Entsprechung von Unrecht und Schuld ist heute in der Schuldlehre herrschender Grundsatz" 21 . D a ß dieser Grundsatz nicht rein verwirklicht, sondern z. B. durch „objektive Strafbarkeitsbedingungen" durchbrochen ist, ist kein Gegenargument, sondern bestätigt vielmehr das Prinzip. Drittens schließlich bedeutet das Schuldprinzip, daß die Strafe schuldangemessen sein muß, daß sie jedenfalls nach oben durch die Schuld begrenzt wird (eine Unterschreitung des Schuldmaßes, etwa aus spezialpräventiven Gründen, ist nach allgemeiner Meinung zulässig22). In diesem Sinne heißt es in § 2 Abs. 2 des Alternativ-Entwurfs eines Strafgesetzbuches 23 : „Die Strafe darf das Maß der Tatschuld nicht überschreiten". Allgemeiner gehalten und weniger präzis ist die Formel des § 4 6 Abs. 1 StGB: „Die Schuld des Täters ist Gundlage f ü r die Zumessung der Strafe". Nicht zu bezweifeln ist, daß auch damit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Schuld und Strafe ausgedrückt werden soll. 19

Zutreffend Schmidbauer, Strafrecht, Allg. T., 2. Aufl. 1975, S. 108 f., der präzis zwischen dem Schuldgrundsatz und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterscheidet. 20 So ganz unmißverständlich BVerfG, JZ 1967, 171. 21 BGHSt. 10, 35 ff., 38. 22 In meinem Buch: Das Schuldprinzip, 1961, S. 205 f., habe ich eine solche Untersdireitung des Schuldmaßes nur für ausnahmsweise zulässig erklärt; daran halte ich nicht fest. 23 2. Aufl. 1969.

Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Aus dem Gesagten ergibt sich, daß nur in dieser dritten Hinsicht von einer Ersetzung des Schuldprinzips durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gesprochen werden kann. Die beiden erstgenannten Bedeutungen des Schuldprinzips liegen ganz außerhalb der Dimension des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und können daher auch nicht von diesem übernommen oder ersetzt werden. Ellscheid und Hassemer schweigen sich denn auch über diese Seite des Problems völlig aus. Von einer gänzlichen Eliminierung des Schuldprinzips aus dem Strafrecht kann nach alledem also keine Rede sein. Aber auch im Hinblick auf die dritte Bedeutung des Schuldprinzips — Schuldangemessenheit der Strafe — müssen ernste Bedenken gegen den Vorschlag von Ellscheid und Hassemer angemeldet werden. Im Gegensatz zum Schuldprinzip, das, wie gesagt, materiellen Charakter hat, ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als solcher ein rein formales Prinzip: die Proportion, die Beziehung, das Verhältnis (habitudo) eines Seienden zu einem anderen. Um welche Seienden es sich dabei handelt, sagt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht24. Ein Blick in die Geschichte des Strafrechts zeigt denn auch, daß man dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ganz verschiedene Inhalte gegeben hat. Das mosaische Gesetz: Haupt um Haupt, Auge um Auge, Zahn um Zahn war, historisch gesehen, eine Absage an die bis dahin geltende maßlose Rache und eine Anerkennung des Grundsatzes der Proportion zwischen Tat und Sühne. Ebenso steht es mit dem kantianischen Talionsprinzip, ja gerade bei Kant hat der Grundsatz des gerechten Verhältnisses von Verbrechen und Strafe seine schärfste Ausprägung erfahren: „Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) . . . kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle anderen sind hin und her schwankend und können, anderer sich einmischenden Rücksichten wegen, keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten." 23 Hier zeigt sich auch, daß sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weit eher in einem Erfolgs- und Vergeltungsstrafrecht verwirklichen läßt als in einem Schuldstraf recht, weil die Strafe viel leichter an der Schwere der Tat als an der Schwere der Schuld meßbar ist und weil man im Grunde nur Taten „vergelten", d. h. mit Entsprechendem 24 Jescheck kann dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur deswegen „materielle Natur" zusprechen, weil er ihn sogleich inhaltlidi bestimmt; vgl. Lehrbuch des Strafrechts, Allg. T., 2. Aufl. 1972, S. 17. 25 Kant, Metaphysik der Sitten; Der Reditslehre zweiter Teil, § 49, E : Vom Straf- und Begnadigungsrecht (Werke, hrsg. von Wilhelm Weiscbedel, Bd. IV, 1960, S. 454; Hervorhebung im Original).

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zurückzahlen kann, nicht jedoch die Schuld (was wäre denn das Äquivalent für sie?) 26 . D a m i t stellt sich nun aber die Gretchenfrage, die wir an Ellscheid und Hassemer richten müssen: Woran bemessen sie denn die Höhe der Strafe, wenn nicht an der Schuld des Täters? Es läge nahe, daß sie den 1969 neu eingeführten 2. Absatz des § 4 2 a S t G B (jetzt § 62 S t G B ) , der den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Maßregeln der Besserung und Sicherung normiert 2 7 , entsprechend auf das ganze Strafrecht ausgedehnt wissen wollen, zumal sie sich dezidiert für ein einspuriges Strafrecht, das nicht mehr zwischen Strafen und M a ß regeln unterscheidet, aussprechen. Im Ergebnis hieße das, daß alle strafrechtlichen Sanktionen nach A r t und Schwere im rechten Verhältnis zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr stehen müssen. Oder so ausgedrückt: Das Schuldprinzip wäre insoweit durch ein Gemisch aus T a t - und Gefährlichkeitsprinzip ersetzt. Erstaunlicherweise erwähnen Ellscheid und Hassemer diesen im Strafgesetzbuch positivierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aber gar nicht. U n d auch sonst sagen sie kaum etwas Inhaltliches über die Beziehungsglieder Straftat und strafrechtliche Sanktion. N u r ganz vage und allgemein wird argumentiert: „Rechtsbruch und darauf folgende staatliche Reaktion müssen in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden, wobei diese Aufgabe das Problem mit umfaßt, ob in Anbe-

tracht der objektiven

Bedeutung einer Tat für die Gesellschaft eine

strafrechtliche Maßnahme überhaupt vertretbar erscheint." Und an anderer Stelle: „Von entscheidender Bedeutung wäre es, aus dem Ganzen der Rechtsordnung, insbesondere aus der Verfassung, zu entwickeln, welche Wertigkeit Freiheit und Eigentum des einzelnen

Straftäters im Verhältnis zu den vorgegebenen

kriminalpolitischen

Zielsetzungen zukommt." 2 8 Mehr erfährt der Leser über das „angemessene Verhältnis" zwischen Rechtsbruch und staatlicher Reaktion nicht. Auch wenn man berücksichtigt, daß es sich hier um einen programmatischen Aufsatz handelt, wird man sagen müssen, daß Ell26 Das habe ich wiederholt ausgeführt, damit bisher aber keine Resonanz gefunden. Vgl. etwa: Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Schuldgedankens im Strafrecht, in: JZ 1967, 553 ff., 556 f.; Der Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches und das Erbe Radbruchs, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 1968, S. 324 ff., 334 f.; Schuldstrafrecht und Resozialisierung, in: Radius 1970, Heft 2, S. 37 ff. 27 Die Rechtsprechung hatte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für das Maßregelrecht bereits vorher anerkannt; siehe BGHSt. 20, 232, und dazu Gribbohm, JuS 1967, 349 ff. 28 Ellscheid/Hassemer, a. a. O. (Fn. 15) S. 43, 45 (Hervorhebungen von mir). Die im Text zitierten Stellen sind nicht sinnentstellend verkürzt.

Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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scheid und Hassemer vor dem eigentlichen Problem des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nämlich seiner inhaltlichen Bestimmung, kapituliert haben. Nur eine allgemeine Stoßrichtung kann man erkennen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens: Das Strafrecht soll verobjektiviert werden. Die kriminalrechtlichen Sanktionen sollen an der „objektiven Bedeutung einer Tat für die Gesellschaft" gemessen werden, und von Schuld soll, wenn überhaupt, nur „in einem objektiven Sinn" die Rede sein, nämlich als einer „Schuld, die nicht von den individuellen Handlungsmöglichkeiten des Delinquenten her konzipiert wird, sondern von der objektiven Verfehlung einer Pflicht, von den Anforderungen der anderen her" 2 9 . Hier wird also ersichtlich ein Schritt vom Schuld- zum Erfolgsstrafrecht gemacht, und das heißt, wenn man die geschichtliche Entwicklung berücksichtigt, ein Schritt nach rückwärts 30 . — Zweitens greifen Ellscheid und Hassemer ganz unverkennbar die Idee der Defense sociale auf, die sie lediglich durch den Verhältnismäßigkeisgrundsatz modifizieren möchten. Damit aber sind sie ganz in die Nähe der „Neuen Defense sociale" von Marc Ancel31 gerückt, die sie jedoch bedauerlicherweise nirgendwo in ihre Reflexionen und Argumentationen einbezogen haben. Aber auch wenn sie es getan hätten, wäre für die inhaltliche Bestimmung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sicher nicht viel zu gewinnen gewesen.

III. Nach alledem muß wohl festgestellt werden, daß der Versuch Ellscheids und Hassemers, ein Strafrecht ohne Vorwurfscharakter zu begründen, fehlgeschlagen ist 32 . Man kann das Schuldprinzip nicht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ersetzen. Aber auch wenn das möglich wäre, behielte die Strafe oder die Maßregel ihren mißbilligenden Charakter. Da sollte man sich nichts vormachen. Welche Sanktion EllscheidIHassemer, a. a. O. (Fn. 15) S. 43, 40. Gustav Radbruch hatte sich in seinem Entwurf (vgl. Fn. 3, S. 61) noch „eine Verfeinerung der Sthuldlehre" zum Ziel gesetzt. — Vgl. zu dem im Text Gesagten auch Mangakis, Über die Erfolgs- und Schuldhaftung als Kategorien geschichtlicher Betrachtung, in: ZStW 83 (1971), 283 ff. 31 Ancel, La Defense sociale nouvelle, 1954. Vgl. hierzu Melzer, Die Neue Sozialverteidigung und die deutsche Strafrechtsreformdiskussion, 1970; ders. in: J Z 1970, 764 ff.; Richard Lange, Das Rätsel (Fn. 4), S. 63 ff. — Hinweise auch schon bei Hans Joachim Schneider, in: ZStW 79 (1967), 946 ff., sowie in: J Z 1968, 36 f. 32 Vgl. auch die Kritik von Haffke, a. a. O. (Fn. 6), S. 50. 29

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auch immer man wegen oder auch nur aus Anlaß einer kriminellen Tat verhängt, sie wird immer einen Tadel zum Ausdruck bringen, und sie wird von dem Delinquenten stets auch so verstanden werden. Mit Recht geißeln Ellscheid und Hassemer den in der Unterscheidung von Strafen und Maßregeln liegenden „Etikettenschwindel" 33 . Aber die Konsequenz ist nicht die, daß man aus der Strafe das Tadelselement eliminieren könnte und sollte, vielmehr ist es umgekehrt so, daß auch die schuldunabhängige Maßregel einen Vorwurf gegen den Täter beinhaltet. Es ist doch eine reine Fiktion, wenn man so tut, als hätte die Verurteilung zu einer Maßregel der Besserung und Sicherung im Sinne der §§ 61 ff. StGB keine sozialethische Valenz! Nun meinen Ellscheid und Hassemer, dieses Festhalten am sozialethischen Vorwurf gegenüber dem Straftäter sei nur die Folge einer die Dogmatik begleitenden und auslegenden Ideologie 34 . Daran ist sicher etwas Richtiges. Aber wenn in diesem Zusammenhang schon von Ideologie die Rede ist, dann muß man auch die heute willig aufgegriffene „Sündenbock-Ideologie" zitieren, wonach an einer Straftat die ganze Mitwelt und vieleicht auch das Opfer schuld ist, nur nicht der Täter selbst 35 . Kein Zweifel, auch an dieser „Sündenbock-Doktrin" ist etwas Wahres. In gewisser Hinsicht delinquiert der Verbrecher in der Tat stellvertretend für die Gesellschaft 36 . Aber man lasse die Kirche im Dorf! Die Mitschuld der Gesellschaft an den in ihrer Mitte begangenen Verbrechen soll nicht zerredet werden; hier ist kriminalpolitisch noch vieles zu bestellen. Das ändert indessen nichts daran, daß der an einer Straftat primär Schuldige noch allemal der (schuldfähige) Täter selber ist! Bei alledem sollte man doch auch nicht verkennen, daß eine „Strafe ohne Vorwurf" am allerwenigsten vom Bestraften selbst verstanden würde. Ein Täter, dem man erklärte, daß ihm wegen seiner Tat weder eine Schuld angelastet noch ein Vorwurf gemacht werde, ein solcher Täter würde jede kriminalrechtliche Sanktion als ungerecht empfinden, und er würde ohne Zweifel auch nicht bereit sein, an seiner ResoEllscheid/Hassemer, a. a. O. (Fn. 15), S. 38. Ellscheid/Hassemer, a. a. O. (Fn. 15), S. 36. 3 5 Vgl. statt vieler anderer nur Naegeli, Das Böse und das Strafrecht, in: Stillstand und Fortentwicklung im schweizerischem Recht; St. Galler Festgabe 1965 zum schweizerischen Juristentag, 1965, S. 263 ff.; ders., Die Gesellschaft und die Kriminellen — Ausstoßung des Sündenbocks, in: Verbrechen — Schuld oder Schicksal?, hrsg. von W. Bitter, 1969, S. 40 ff., und Hassemer, Schuld als soziales und sozialwissenschaftliches Phänomen, in: RuG 1971, 17 ff. (jeweils dort auch weitere Literatur). 3 6 So Noll, Die ethische Begründung der Strafe, 1962, S. 16, und im Anschluß an ihn Arthur Kaufmann, Die Strafvollzugsreform, 1971, S. 48. 33

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Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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zialisierung mitzuwirken. Auch Ellscheid und Hassemer erkennen an, daß bei „manchen Häftlingen" die Schuld ein „therapeutisches Mittel" sei, um sie an ihre Verantwortung gegenüber dem Verletzten und der Gesellschaft zu mahnen und in eine solche Verantwortung einzuüben 37 . Wenn sie dann aber hinzufügen, daß hier nicht der Tadel oder der Vorwurf therapeutisch wirke, so widerspricht das allen pädagogischen und psychologischen Erfahrungen. Freilich ist es in der Praxis leider noch die Regel, daß „der Tadel des Urteils ohne Konsequenz" bleibt, daß er „im Strafvollzug nicht aufgenommen, nicht realisiert" wird 3 8 . Aber davon, daß es notwendig so sein müßte, kann eine Rede sein. Man kann das Schuldprinzip durchaus in einem an der Resozialisierungsidee orientierten Strafvollzug fruchtbar machen 39 . Man muß es nur wollen. Eines freilich ist Ellscheid und Hassemer unumwunden zuzugeben: Ein Schuldurteil ist sittlich nur dann zu verantworten, wenn sich „der Verurteilende auf die Person des zu Veruteilenden einläßt, mit ihm in eine personale Kommunikation eintritt, an der Schuld des anderen teilhat und sie versteht" 40 . Eben davon aber könne, so meinen sie, keine Rede sein. Im Strafverfahren gebe es keine personale Kommunikation zwischen Richter und Angeklagtem, denn über dem Verhältnis beider stehe immer der „Zwang des Gesetzes" 41 . Das ist ein schwerwiegender Einwand, den man nicht auf die leichte Schulter nehmen darf. Und man muß einräumen, daß dieser Einwand für die derzeitige Praxis leider weitgehend zutrifft. Indessen, was folgt daraus? Die Konsequenz kann doch nur sein, daß man die Verhältnisse ändern muß! Und auch hier kommt es „nur" darauf an, daß man diese Veränderung der Verhältnisse wollen muß, das Gesetz steht dem nicht entgegen. Oder was hindert daran, den Grundsatz des § 46 Abs. 1 StGB, wonach die Schuld des Täters Grundlage für die Strafzumessung ist, gerade auch im Sinne einer personalen Kommunikation zwischen Richter und Angeklagtem zu verstehen? Und wer sagt, daß der „Zwang des Gesetzes" den Richter zum Subsumtionsautomaten machte? Die moderne Hermeneutik hat den Richter doch längst von diesem scheinbaren Zwang befreit und EllscheidIHassemer, a. a. O. (Fn. 15), S. 33. Ellscheid/Hassemer, wie Fn. 37. 39 Wie ich mir das vorstelle, habe ich wiederholt dargelegt. Vgl. insbes. die in Fn. 26 und 36 zitierten Arbeiten, sowie dazu H a f f k e , a. a. O. (Fn. 6), S. 46 ff. 40 Ellscheid/Hassemer, a . a . O . (Fn. 15), S. 32 (Hervorhebung von mir), im Anschluß an Arthur Kaufmann, Schuldprinzip (Fn. 7), S. 197 ff. 41 Ellscheid/Hassemer, a . a . O . (Fn. 15), S. 32 f. Kritisch dazu Haffke, a.a.O. (Fn. 6), S. 51 f. 37

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Arthur Kaufmann

ihm den Weg vom Funktionär zur Richterpersönlichkeit geebnet42. Hier in der Praxis müßte die Reform ansetzen und nicht da, wo die Gegner des Schuldstrafrechts reformieren zu müssen glauben.

IV. Ellscheid und Hassemer haben das Schuldprinzip und die mit ihm verbundenen Prämissen mit scharfsinnigen und tiefbohrenden Einwänden problematisiert. Solche Problematisierung tut not. Allzu leicht wird immer wieder über die Aporien des Schuldgedankens hinweggegangen, allzu gerne macht man es sich in einem dogmatisch verfestigten Schuldstrafrecht bequem. Wer den Schuldgedanken vertritt, darf es nur mit schlechtem Gewissen tun, nur mit dem Bewußtsein, daß die Schuldstrafe zwar unausweichlich notwendig, aber doch zutiefst frag-würdig: des ständigen Infragestellens wert und bedürftig ist. Richard Lange, zu dessen Ehre dieser kleine Aufsatz geschrieben wurde, hat diese Tragik des Strafrechts nie verkannt. Er, der maßgebend an der Strafrechtsreform mitgearbeitet hat, sah deren „letztes und tiefstes Dilemma": Das moderne Strafrecht muß sich auf die Erfahrungswissenschaften von den Ursachen und Erscheinungsformen des Verbrechens stützen. Aber wir wissen nicht und werden es niemals wissen, wo dieser Boden trägt und wie weit man ihn belasten kann. Angesichts dieser Problematik bleibt uns nur, daß wir neben den Bruchstücken erfahrungswissenschaftlich vermittelter Wirklichkeit „die Rückbindung an die andere Wirklichkeit festhalten, die in dem noch tragfähigen Bestand lebendiger sozialer Sinngebungen, Werte und Institutionen liegt. Sie zu schützen, ist die eigentliche Aufgabe des Strafrechts. Auf sie müssen sich daher seine Normen beziehen, ihnen müssen sie entsprechen. Das ist nur möglich, wenn sie weiterhin auf Schuld und Strafe aufbauen. Diese Grundpfeiler nicht aushöhlen zu lassen, ist die Hauptaufgabe derjenigen, die das neue Strafrecht anzuwenden haben." 43

4 2 Dazu Arthur Kaufmann, Richterpersönlichkeit und richterliche Unabhängigkeit, in: Einheit und Vielfalt des Strafrechts — Festsdir. f. Karl Peters, 1974, S. 295 ff. 43 Richard Lange, Strafrechtsreform — Reform im Dilemma, 1972, S. 127 f.

Zur Problematik des Verbrechensaufbaus * JÜRGEN RÖDIG F

Die systematischen Passagen, die dem von Richard Lange betreuten Kommentar des Strafgesetzbuches zu seinem so hohen Ansehen verholfen haben, belegen in paradigmatischer Weise den Satz, daß ein hinreichender Grad von Vollständigkeit nicht zwingend an einer bestimmten Anzahl von Seiten abgelesen zu werden vermag. Je allgemeiner die Fassung eines Rechtsgedankens gelingt, desto größer ist die Menge der implicite behandelten Fälle; desto geringer wird zugleich das Risiko, daß die im Rahmen einer Berücksichtigung des Einzelfalls angenommenen Rechtssätze miteinander zu kollidieren beginnen und zu Differenzierungen zwingen, die ihrerseits der Harmonisierung bedürfen. Jedoch gerade jene Allgemeinheit, der das rechtliche Dogma seine Bindekraft verdankt, kann sich nur anhand des Einzelfalls bestätigen. Wie jedes Gegenbeispiel die zu weit geratene Hypothese falsifiziert, so geht juristische Systematik mit dem ersten Sachverhalt, anhand dessen sie sich nicht bewährt, in bloßen Schematismus über. Und zwar in einen Schematismus, dessen Aufrechterhaltung mehr Mühe kosten kann als grundlegende Arbeiten an einem im Ansatz neuen System. Was sich im Rahmen solchen Zurechtbiegens als wirklichkeitsnahes Hantieren mit bewährten Grundsätzen ausnimmt, verzehrt tatsächlich in unvertretbarem Ausmaß die von wissenschaftlichem Fortschritt geforderte Energie. Keine Methode ist zu exakt und keine exakte Methode zu neu, um für die systematische Erfassung einer auch noch so bescheidenen Fallgruppe bemüht zu werden, ja bemüht werden zu müssen. Funktional verstandene Dogmatik stellt nach alledem keinen Rechtfertigungsgrund für Theorielosigkeit dar. Kein Wunder also, daß es gerade der große Dogmatiker verstand, dem Mitarbeiter des von ihm mitdirigierten Instituts immer wieder Mut zum Betreten neuer Wege zu machen. Solcher Ermutigung bedarf es, unnütz zu sagen, schon der Gefahr von Irrwegen halber. Möge der Jubilar es gleichwohl verantworten können, den Verfasser auf seiner im folgenden beschrittenen Wanderung recht lange zu begleiten.

I. Dogmatik, Methodik und Methodologie der zeitgenössischen Lehre vom Verbrechen Die zeitgenössische Lehre v o m Verbrechen nimmt in Vergleich mit anderweitigen Doktrinen zum geltenden Recht eine prima facie impo* Es handelt sich um die autorisierte K u r z f a s s u n g einer längeren Abhandlung, deren Abdruck den R a h m e n eines Festschriftenbeitrags gesprengt hätte. Die umfassendere Bearbeitung des Themas w i r d voraussichtlich als eigenständige Veröffentlichung vorgelegt werden. D i e Herausgeber

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Jürgen Rödig

nierende Sonderstellung ein. Ungeachtet der unterschiedlichen Erscheinungsformen scheint hinsichtlich der entscheidenden Ordnungsgesichtspunkte Übereinstimmung zu bestehen. Nahezu allseitiger Anerkennung erfreut sich namentlich die — bekanntlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebende — Gliederung der Straftat in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Zwar ist vielfach strittig, welche Elemente des Verbrechens im Rahmen welcher der genannten Verbrechensstufen diskutiert werden sollten. Um so mehr muß es erstaunen, daß diese Stufen allem Anschein nach die Funktion einer gleichsam „gemeinsamen Sprache" wahrzunehmen vermögen, mit deren Hilfe zumindest eine sinnvolle Diskussion der diversen Standpunkte betreffs der systematischen Einordnung einzelner Verbrechenselemente gelingt1. Die einzelnen Verbrechensstufen scheinen sich nun aber nicht nur als Anknüpfungsmomente für grundlegende strafrechtsdogmatische Lehrsätze zu bewähren; mit dem dogmatischen Stufenbau des Verbrechens geht vielmehr die entsprechende Struktur eines geradezu für allgemeinverbindlich erklärten Aufbaus der Lösung strafrechtlicher Fälle einher. Zwar vermag eine bestimmte juristische Methodik, den Begriff der „Methodik" i. S. eines Schemas für das Vorgehen beim Lösen eines gegebenen Problemtyps verstanden2, nicht die Allgemeinheit von Methodologie — also einer Lehre über Methoden — in Anspruch zu nehmen; jede juristische Methodik ist durch die einschlägigen dogmatischen Lehrsätze gebunden sowie darüberhinaus durch gewisse Konventionen geprägt, die zwar dem jeweiligen methodologischen Erkenntnisstand möglichst entsprechen, jedoch nicht ihrerseits fortwährend diskutiert werden sollen. Allein selbst diese Einschränkung vorausgesetzt, die sich jedwede — definitionsgemäß problem-orientierte — Methodik gefallen lassen muß, scheint die derzeit im Grundsatz durchweg anerkannte Methodik für den Aufbau strafrechtlicher Fälle weithin aus sich heraus verständlich zu sein. Namentlich ihrer scheinbaren logischen Stringenz hat die zeitgenössische Verbrechenslehre so etwas wie ihre „Selbstverständlichkeit" und damit ihre — denn auch immer wieder hervorge1 Wenn Scbmidhäuser (Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1970, S. 132 unter Nr. 4) mit Bezug auf Belings (Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 7) Verbrechensbegriff richtig ausführt, daß durdi die drei ersten der diesen Begriff charakterisierenden Merkmale — eben Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld — „das Gespräch noch heute bestimmt wird", so trifft dies gerade in dem im Text bezeichneten, nicht-übertragenen, Sinne zu. 2 Im Rahmen seiner von G. B. Jäsche herausgegebenen Logik (1876, S. 13, 21 f.) bestimmt Kant die Methodik denn auch im Gegensatz zur reinen Logik, welche von der Individualität der Objekte zu abstrahieren vermag, als „aus der Natur der Wissenschaft selbst hergenommen".

Zur Problematik des Verbrechensaufbaus

41

hobene — Stabilität 3 zu verdanken. Diese resultiert im wesentlichen aus der Tatsache, daß diese Lehre eine vergleichsweise verläßliche A n t w o r t auf die Frage erlaubt, an welcher Stelle jeweils welches Verbrechenselement geprüft werden müsse. D e r Bearbeiter ist insoweit der Mühsal eigenen Räsonnements enthoben. Allein es fragt sich, ob die dem Bearbeiter abgenommene, gleichsam im Verbrechensaufbau selbst enthaltene, Denkbarkeit das Attribut logischer Zwangsläufigkeit verdient. Sie verdient es nicht.

II. Logische Voraussetzungen 1. Die Reihenfolge

der Verbrechensstufen

in logischer

Sicht

Der Einfachheit halber lassen wir vorerst anderweitige strafrechtliche Folgen der Straftat als die Strafbarkeit des Täters, den Begriff der „Strafbarkeit" im engeren Sinne der Verhängung von Sanktionen 3 Ein Blick in die strafrechtliche Dogmengeschichte bestätigt die gehegte Vermutung. Die f ü r den heute üblichen A u f b a u des Verbrechens maßgebenden Schriften, auf die wir im folgenden jeweils aus gegebenem systematischen Anlaß ad hoc eingehen werden, nehmen sich zum Teil geradezu wie einführende Literatur zur traditionellen Logik aus. Eichen und Linden, Adlernasen und Habichtsnasen helfen Ernst Beling (a. a. O., S. 24 „Baumarten", 26 „Nasenlehre") Beispiele bilden f ü r die Illustration von logisdien Gesetzmäßigkeiten, auf welche die Bestimmung des Verhältnisses von Tatbestandsmäßigkeit u n d Rechtswidrigkeit gegründet werden soll. August Finger hat sich schon 1903 in einer hochinteressanten Studie über T a t bestandsmerkmale und Bedingungen der Strafbarkeit (GA 50, 1903, S. 32—59) vor der Verwendung mathematischer Symbole nicht gescheut. Z w a r werden die logischen Grundlagen des Verbrechensaufbaus heute kaum mehr in expliziter Fassung vorgetragen. Charakteristisch f ü r den zeitgenössischen Diskussionsstil ist demgegenüber jene Gegenüberstellung von „klassifikatorischer Systematik" einerseits und einem „teleologisch auf die Strafe ausgerichteten System" andererseits, die wir in dem (sonst) so vorzüglichen Lehrbuch Schmidhäusers (Fn. 1, S. 145 sub 31) antreffen können. Tatsächlich sind Klassifikationen kein Selbstzweck, sondern gleichsam ein N e b e n p r o d u k t einer im — weiten! — Rahmen logischer Konsistenz ausschließlich sachlich determinierten Axiomatik. Hieraus zu schließen, der zeitgenössische Verbrechensaufbau habe sich von seiner logischen Bedingtheit inzwischen gleichsam „emanzipiert", wäre indessen verfehlt. Scheint es doch vielmehr, als feierten die logischen G r ü n d e von gestern gerade deshalb, weil sie mittlerweile nicht mehr ausgesprochen — geschweige denn einer Debatte unterworfen — werden, heute ihre schönsten Triumphe. Als Indiz f ü r diese A n n a h m e sei erneut die A r t der zeitgenössischen Diskussion ins Treffen geführt, und z w a r namentlich die relative Konstanz der trotz aller Meinungsverschiedenheiten verwendeten Kategorien T a t bestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Was die Struktur des Verbrechensa u f b a u s anlangt, so scheint es sich geradezu um ein systematisches Naturereignis, um so etwas wie ein rechtslogisch ein f ü r allemal gültiges Verbrechensmodell mit wechselndem strafrechtspolitischem Inhalt, zu handeln.

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wie namentlich einer Freiheitsstrafe verstanden, außer Betracht. Der Begriff der Strafbarkeit sei ferner aus Gründen, die bald einsichtig werden, streng unter dem Gesichtspunkt des Rechtsanwendungsprozesses konzipiert 4 . Wir nennen jemanden „strafbar" insoweit und nur insoweit, als die zur Verhängung von Strafe berufenen staatlichen Organe berechtigt und verpflichtet sind, den Betreffenden in bestimmtem Ausmaß mit einer bestimmten Art von Strafe zu belegen. Im Sinne eines „materiellen" 5 StrafbarkeitsbegrifFes soll hierbei davon ausgegangen werden, daß jene Organe über ein zutreffendes Bild des jeweils strafrechtlich relevanten Ausschnitts aus der Wirklichkeit verfügen. Von der Verhängung einer Strafe ist natürlich deren Vollzug zu unterscheiden, und es könnte als lebensvoller erscheinen, unter „Strafbarkeit" die Berechtigung und Verpflichtung zum Vollzug einer bereits verhängten Strafe zu verstehen. Indessen lassen sich bekanntlich weder Art noch Ausmaß der Strafe allein aufgrund der Straftat bestimmen; über ein derart perfektes Strafrecht, das dem Strafrichter nur noch die Deklaration einer gleichsam über der Tat schwebenden Strafe auferlegt, verfügen wir — glücklicherweise — nicht. Ist die zu vollziehende Strafe nun aber durch deren Verhängung bedingt, dann empfiehlt es sich, dem Begriff der Strafbarkeit die an das verhängende Staatsorgan adressierte Norm zugrunde zu legen. Soll das zur Verhängung von Strafe berufene Staatsorgan berechtigt und verpflichtet sein, einen Täter in concreto mit Strafe zu belegen, so müssen offenbar bestimmte Voraussetzungen festgestellt worden sein. Es muß sich um alle Voraussetzungen der Strafbarkeit handeln. Wir haben es, anders gewendet, mit einem in ihrer Gesamtheit hinreichenden Inbegriff von Bedingungen für die Strafbarkeit des Täters zu tun. Ob wir diese Bedingungen als Eigenschaften der Tat, als Eigenschaften des Täters oder gar — logisch so abwegig nicht! 6 — als Eigenschaften von Zeitpunkten auffassen sollen, ob wir stattdessen zweckmäßigerweise von (2- oder mehrstelligen) Beziehungen sprechen sollen, die sich jeweils auch auf jene Bezugspunkte beziehen: diese und ähnliche Fragen dürfen im Rahmen einer nicht spezifisch axiomatisch ansetzenden Analyse dahingestellt bleiben. Von Interesse ist hingegen, daß die jeweils in 4 Die Vorgehensweise stimmt insoweit mit derjenigen überein, die mir zugleich bei der Analyse des Anspruchs- sowie des Prozeßgegenstandsbegriffs geboten zu sein schien; vgl. Rödig, Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, §§ 4 5 , 4 8 . 5 Zu den Grenzen solcher materieller Betrachtungsweise siehe Rödig (Fn. 4), § 25.4. 6 Siehe diesbezüglich die Formulierung eines Fundamentalschemas für das Bestehen von Ansprüchen bei Rödig, Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme, 4.3, in: Datenverarbeitung im Recht, Band 1, 1972, S. 170 ff. (202 f.) sowie in: Münchener Ringvorlesung EDV und Recht, 1973, S. 49 ff. (86 f.).

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ihrer Gesamtheit hinreichenden Bedingungen der Strafbarkeit ohne Einschränkung an logischer Allgemeinheit als sogenannte Konjunktion, d. h. als durch „und" zusammengefaßt, gedacht werden können. Läßt man zu, daß einzelne Konjunktionsglieder ihrerseits komplex strukturiert, und zwar namentlich negativ oder disjunktiv („oder") formuliert sind (die konjunktive Innenstruktur eines Konjunktionsglieds kann offenbar vernachlässigt werden) 7 , dann ist jede Beschreibung der für eine Bestrafung in ihrer Gesamtheit hinreichenden Strafbarkeitsbedingungen auf die erwähnte Normalform zu bringen. Diese Normalform, die durchaus natürlicher Betrachtungsweise entspricht, legen wir fortan zugrunde. So verlangen wir etwa für die Bestrafung des Diebes, daß er fremden Gewahrsam gebrochen hat und (!) daß er eigenen Gewahrsam begründet hat oder (!) neuen Gewahrsam eines Dritten begründet hat und (!) daß er bei Begehung der Tat nicht (!) einer krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB erlegen war und — (!) so weiter. Die konjunktive Zusammenfassung von Aussagen ergibt eine wahre Aussage genau dann, wenn sämtliche der zusammengefaßten Aussagen wahr sind. An welcher Stelle welches Konjunktionsglied diskutiert wird, ist in logischer Hinsicht ohne Belang. Wenn man gleichwohl darauf besteht, daß jeweils zunächst die Merkmale der Tatbestandsmäßigkeit, dann die Merkmale der Rechtswidrigkeit und im Anschluß hieran die Merkmale der Schuld des Täters erörtert werden, so läßt sich diese Forderung mithin nur noch unter denkökonomischen Aspekten erheben. Es könnte ja sein, daß das Vorliegen eines Schuldmerkmals das Vorliegen sämtlicher Rechtswidrigkeitsmerkmale, das Vorliegen eines Rechtswidrigkeitsmerkmals das Vorliegen sämtlicher Tatbestandsmerkmale und daß mithin das Vorliegen eines Schuldmerkmals das Vorliegen sämtlicher Tatbestandsmerkmale impliziert. Träte zu derartigen Implikationen der Umstand hinzu, daß die Merkmale einer früheren Verbrechensstufe typischerweise „griffiger" — eben leichter konstatierbar — als die einer späteren sind, so könnte man sich die genannten Besonderheiten durchaus im Sinne des zeitgenössischen Schemas für die Lösung strafrechtlicher Fälle zunutze machen. Jedoch keine dieser Besonderheiten trifft zu. Nicht nur können Schuldmerkmale — etwa der Umstand, daß der Täter bei Tatbegehung mindestens vierzehn Jahre alt ist — leichter als Tatbebestandsmerkmale und vollends leichter als Rechtswidrigkeitsmerkmale nachprüfbar sein. Von jenen zuvor behandelten logischen Ab7 A und ( B und C ) ist mit ( A und B ) und C äquivalent, weshalb m a n bei der Zusammenfassung v o n mehr als zwei Konjunktionsgliedern denn auch häufig — t r o t z 2-Stelligkeit der Konjunktion — a u f innere K l a m m e r u n g verzichtet.

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hängigkeiten im Verhältnis der Kategorien Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld kann nicht die Rede sein. Die Schuldfähigkeit des Täters dank Überschreitung der Vierzehn-Jahres-Grenze (vgl. § 19 StGB) setzt weder die Erfüllung eines Straftatbestandes noch gar die rechtswidrige Erfüllung eines Straftatbestandes voraus. Eine Notwehrlage kann vorliegen ohne daß derjenige, der sich in dieser Lage befindet, eine tatbestandsmäßige Handlung — begeht8. Ein Verhalten wie etwa das durch Unachtsamkeit bedingte Beschädigen einer Sache kann rechtswidrig sein, ohne daß eine gesetzliche Verbrechensfixierung existiert9. Was namentlich das Verhältnis von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit anlangt, so wird dem Anschein logischer Abhängigkeit immer wieder durch Formulierungen dahin Vorschub geleistet, es komme im Rahmen der Rechtswidrigkeits-Prüfung darauf an, ein Unwerturteil über die zuvor als tatbestandsmäßig erkannte Handlung zu fällen 10 . Gegenstand dieses Urteils scheinen die im Rahmen der 8

Mißverständlich insoweit Hirsch in seiner sonst so tiefgründigen Monographie über die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960). Wenn Hirsch a. a. O., S. 309 lehrt, jede Rechtfertigung setze ein normwidriges Verhalten voraus, dann trifft dies in einem sozusagen operativen Sinne sicherlich zu. Ein im vorhinein als normgerecht befundenes Verhalten braucht nicht im nachhinein legitimiert zu werden. Vergegenwärtigt man sich indessen, d a ß jeder Rechtfertigungsgrund letztlich nichts anderes als eine rechtlich relevante Tatsache ist, dann setzt das Vorliegen dieser Tatsache offenbar gerade nicht die Realisierung von Straftatbeständen voraus. Die Notwehrlage kann auch ohne Verteidigungshandlung des Angegriffenen bestehen, die beispielsweise den Tatbestand einer Körperverletzung erfüllt. 9 Tatbestandsmäßigkeit (im Sinne der gesetzlichen Fixierung sämtlicher belastender Verbrechensmerkmale) einerseits und Rechtswidrigkeit andererseits stellen also voneinander unabhängige Kriterien dar. Geht man davon aus, d a ß die S t r a f barkeit sowohl Tatbestandsmäßigkeit als auch Rechtswidrigkeit voraussetzt, so hat man natürlich, wenn man mit der Behandlung der Tatbestandsmäßigkeit beginnt, im Anschluß hieran nur noch die Rechtswidrigkeit zu erörtern. Genauso hätte man, wenn man mit der Behandlung der Rechtswidrigkeit begönne, im Anschluß hieran nur noch nach der Tatbestandsmäßigkeit, also nach der Existenz einer entsprechenden Fixierung der belastenden Verbrechensmerkmale de lege lata, zu fragen. N u n könnte man f ü r die erste der genannten Vorgehensweisen ins Treffen führen, die Existenz einer gesetzlichen Fixierung belastender Verbrechensmerkmale stelle immerhin eine wichtige Vorarbeit f ü r die Herausarbeitung von Rechtswidrigkeit dar. Jedoch gerade insoweit w ü r d e sich die zeitgenössische Verbredienslehre — vorausgesetzt, sie wollte dies — nicht auf Belings Lehre vom Verbrechen berufen können: Laut Beling (Fn. 1, S. 27) kann durchaus „ f ü r rechtswidrige schuldhafte, also strafwürdige, Handlungen durch nachträgliche Aufstellung eines neuen Verbrechenstypus die Sühne ermöglicht" werden. Lediglich ein „angebliches" Unrecht werde dem Täter durch nachherigen Straferlaß zugefügt. 10 Paradigmatisch Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1972, S. 152; Maurach, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1971, S. 154 f.

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Tatbestandsmäßigkeit bejahten Strafbarkeitsbedingungen zu sein. Es wird also der Eindruck erweckt, als vollziehe sich die Prüfung der Rechtswidrigkeit auf einer logisch höheren Ebene. Mißverständlicher sind die Dinge kaum zu beschreiben. Was mit dem anspruchsvollen Titel „Unwerturteil über die Tatbestandserfüllung" firmiert, stellt in Wirklichkeit nichts anderes als ein Abhaken zusätzlicher Strafbarkeitsbedingungen dar. Diese Bedingungen sind insbesondere nicht minder tatsächlichen Charakters als die zuvor geprüften Merkmale der Tatbestandsmäßigkeit. Das Fällen eines Unwerturteils, das über die Anwendung schon vorhandener rechtlicher Wertungen hinausgeht, liegt dem Bearbeiter strafrechtlicher Fälle, sofern er nicht gerade Rechtsfortbildung betreibt, nicht ob. Die erforderlichen Unwerturteile sind vielmehr bereits in Gestalt der anzuwendenden Rechtsnormen gegeben. Die Anwendung dieser Rechtsnormen läuft auf das Prüfen der hiernach rechtlich relevanten Tatsachen hinaus, mag die Interpretation der einschlägigen Rechtsbegriffe auch mitunter — sog. „wertausfüllungsbedürftige" Begriffe (Erik Wolf) — einen Nachvollzug gesetzgeberischer oder ähnlicher Wertungen erforderlich machen. Des Nachvollzuges derartiger Wertungen kann es aber nicht minder bei der Interpretation von Strafbarkeitsbedingungen bedürfen, die im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit diskutiert zu werden pflegen11. Halten wir das Ergebnis der bisher angestellten Überlegungen fest. Strafbarkeitsbedingungen sind rechtlich relevante Sachverhaltsmomente. Diese Momente sind weder aufgrund unterschiedlichen logischen Ranges noch auch nur dank interner Implikationen in eine logisch zwingende Reihenfolge zu bringen. Was die Kategorien von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld angeht, so muß es daher bei dem sehr viel bescheideneren Versuch des Nachweises der Zweckmäßigkeit einer entsprechenden Klassifizierung von Strafbarkeitsbedingungen bewenden. 1 1 D a s Besteigen einer künstlichen zweiten Stufe v o n logisch höherer Ordnung k o m m t namentlich bei der R e d e von „tatsächlichen Voraussetzungen von Rechtfertigungsgründen" zum Ausdruck. In Wirklichkeit stimmt der Reditfertigungsgrund mit seinen „tatsächlichen Voraussetzungen" überein. D e r T ä t e r kann sich natürlich in einem I r r t u m über die hinsichtlich des Rechtfertigungsgrundes einschlägigen N o r m e n befinden. Aus der Möglichkeit eines solchen Irrtums folgt jedoch nicht, d a ß die genannten N o r m e n einen Bestandteil des Rechtfertigungsgrundes bilden. Sowohl die zutreffende als auch die unzutreffende Vorstellung des T ä t e r s über die einschlägigen N o r m e n sind vielmehr wiederum P h ä n o m e n e tatsächlicher — wenngleich psychischer — A r t ; es handelt sich demnach um F a k t e n , die erst dank rechtlicher N o r m e n rechtliche R e l e v a n z — sei es z u m Nachteil, sei es zum Vorteil des Täters — zu entfalten vermögen. Sofern eine Rechtsnorm als Gegenstand der Vorstellung des T ä t e r s fungiert, sinkt sie in Wirklichkeit in die Ebene der Sachverhalte herab.

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2. Zur Dreiteilung

der

Verbrechensstufen

Ungeachtet des magischen Gehalts, welcher der Zahl 3 zukommen mag, sind Dreiteilungen 12 unter dem Gesichtspunkt der Logik im Grundsatz von Übel. Die Begründung liegt auf der Hand. Sei eine Menge von — logisch gleichrangigen — Objekten gegeben. Gegeben sei ferner eine Eigenschaft, die von jedem dieser Objekte sinnvoll — d. h. mit dem Ergebnis einer wahren oder falschen Aussage — behauptet werden kann. Dann ist mit Hilfe dieser Eigenschaft, falls sie manchmal zutrifft, manchmal nicht, eine vollständige Ordnung in die genannten Objekte zu bringen. Die gesamte Menge wird in genau zwei Teilmengen zerlegt, die sich zueinander komplementär verhalten 13 . In der traditionellen Logik pflegte diesbezüglich von „vollständigen Dichotomien" gesprochen zu werden. Kommt nun aber anstelle solcher Zweiteilung eine Unterteilung in drei Teilmengen heraus, so müssen wenigstens zwei Eigenschaften als Gliederungsgesichtspunkte verwendet worden sein. Auf der anderen Seite wird man erwarten, daß der Einsatz zweier Gliederungsgesichtspunkte zumindest für den Normalfall nicht etwa eine Dreiteilung, sondern eine Vierteilung ergibt: Scheint es doch, als müsse jede der Teilmengen, die aus der Anwendung des ersten Gliederungsgesichtspunkts resultiert, mit Hilfe des zweiten Gliederungsgesichtspunktes erneuter Zweiteilung fähig sein. D a ß eine jener Teilmengen sich gegen die Anwendung des zweiten Gliederungsgesichtspunkts sperrt, sollte korrekterweise jeweils dargetan werden. Was die Dreiteilung der Strafbarkeitsbedingungen in Merkmale der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld anbelangt, so tritt die Unvollständigkeit jener Untergliederung zu den genannten Bedenken erschwerend hinzu. So kann man zwar anführen, die sogenannten „objektiven Strafbarkeitsbedingungen" bräuchten vom Vorsatz des Täters, eine Vorsatztat vorausgesetzt, nicht erfaßt zu werden. Aber auf die eigene Schuldfähigkeit i. S. etwa des Ausbleibens einer krankhaften seelischen Störung braucht sich der Vorsatz des Täters sinnvollerweise gleichfalls nicht zu beziehen 14 . 12

Von „Dreiteilungen" ist nur im technischen Sinne von Klassifikationen über gegebenen Gegenstandsbereichen die Rede; es geht also nicht um Fragen wie die nach dem zweckmäßigen Gliedern wissenschaftlicher Abhandlungen usf. 13 Eine Menge B heißt „Komplement" einer vorausgesetzten Menge A genau dann, wenn für alle (Elemente) x gilt: x gehört genau dann zu B, wenn x nicht zu A gehört. Geht man hierbei lediglich von Elementen eines begrenzten Gegenstandsbereichs aus, so pflegt von einem „relativen", sonst von einem „absoluten" Komplement gesprochen zu werden. 14 Das für die Abgrenzung gerade der objektiven Strafbarkeitsbedingungen offenbar erforderliche Kriterium bleibt also geradezu systematisch im Dunkeln. Was angesichts des Odiums einer Verlegenheitslösung, das der Kategorie der objektiven Strafbarkeitsbedingungen bei schuldstrafrechtlicher Betrachtungsweise anhaftet, so unverständlich nicht ist.

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Wir dürfen daher lediglich vermuten, daß die hier zur Diskussion stehende Dreiteilung auf so etwas wie einer „Kreuzung mehrerer Gliederungsgesichtspunkte" beruht. Um welche Kriterien es sich hierbei im einzelnen handelt, bleibt — in einer f ü r derartige Kreuzungen charakteristischen Weise — im Dunkeln. Hinreichender Anlaß f ü r wissenschaftliche Detektivarbeit ist vorhanden.

III. Kategoriale Analyse 1. Tatbestand als Regel. Insbesondere Indizwirkung auf ungesicherter wahrscheinlichkeitstheoretischer

des Tatbestandes Grundlage

Während der das Liszt-Belingsdie System kennzeichnende Gegensatz von außen und innen — mag er auch anspruchsvoll als Gegensatz von Objektivität und Subjektivität bezeichnet werden — längst als ungeeignet f ü r die Strukturierung der Straftat i. S. des zeitgenössischen Verbrechensaufbaus erkannt worden ist, scheint an jener so unglückseligen Konzeption des Tatbestandes als eines Regel-Unrechts noch immer festgehalten zu werden. Wiederum firmiert freilich eine und dieselbe Betrachtungsweise mit den unterschiedlichsten Namen. So sieht man die tatbestandsmäßige Handlung als Verwirklichung von Strafbarkeitsbedingungen dergestalt an, daß die Verwirklichung dieser Bedingungen „in der Regel" zur Strafbarkeit des Handelnden führt; nur „ausnahmsweise" stünden solcher Strafbarkeit das Vorliegen von Rechtfertigungs- oder auch das Vorliegen von Schuldausschließungsgründen entgegen 15 . Wie jedes Regel-Ausnahme-Verhältnis, so stellt nun aber auch das soeben bezeichnete nichts anderes als eine etwas beschönigende Beschreibung logischer Widersprüchlichkeit dar. Wird ein Grundsatz allgemeiner ausgesprochen, als er gilt, so läßt sich aus diesem Grundsatz in Verbindung mit jeder seiner Durchbrechungen ein logischer Widerspruch erzeugen 16 . Dieses Faktum stört nicht allein aus logischen Gründen. Es erschwert oder verhindert die Anwendung des geltenden Rechts, wie an anderer Stelle 17 näher darSiehe etwa Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1968, S. 253. Siehe Rödig (Fn. 6), 4.1. 17 Ein Großteil der Rechtssatzkollisionen, die im Rahmen des geltenden Rechts beklagt werden müssen, rührt v o n nicht hinreichend als solchen erkennbaren RegelAusnahme-Verhältnissen her, die sich mitunter nicht allein auf einzelne Rechtssätze, sondern auf ganze Rechtsinstitute (s. etwa die bürglich rechtlichen Institute des Kondiktions- und Vindikationsrechts) beziehen; siehe Fn. 4, e t w a § 46.8. 15

16

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getan worden ist, in einem nicht immer genügend erkannten Ausmaß. Die jeglicher Präzisierung spottende Unterscheidung der Regel von der Ausnahme ist um so verwunderlicher, als jede Regel ohne logische N o t sowie auch ohne praktische Schwierigkeiten zu einem tragfähigen Grundsatz umformuliert werden kann. Es kommt ganz einfach darauf an, die Voraussetzungen der Ausnahme-Bestimmungen in Voraussetzungen der Regel-Vorschrift zu transformieren. Solche Transformation ist offenbar mit so etwas wie einer Änderung des Vorzeichens der entsprechenden Voraussetzung verbunden. Was beispielsweise zuvor als positiv gewendete Voraussetzung für rechtmäßiges Handeln in Notwehr erschien, tritt nunmehr als negativ gefaßtes Konjunktionsglied i. S. einer von mehreren Bedingungen für die Strafbarkeit des Täters auf 1 8 . Mit wachsender Anzahl von Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründen nimmt naturgemäß die Anzahl jener negativ gefaßten Strafbarkeitsbedingungen zu. Doch solche negativ gefaßten Bedingungen lassen sich nicht minder wie positiv formulierte Bedingungen bündeln 19 , so daß man es also keineswegs nur noch mit jenen so gerne beschworenen 20 Gespenstern von unübersehbar langen Rechtssätzen zu tun zu haben braucht. Im übrigen brauchen negativ gefaßte Strafbarkeitsbedingungen nicht etwa mit Notwendigkeit aus Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründen hervorgegangen zu sein. Vielmehr lassen sich zahlreiche Strafbarkeitsbedingungen, die bislang — und zwar auch von Gegnern der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen — im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit geprüft worden sind, ebenso negativ wie positiv formulieren 2 1 . Dieser Umstand ist durch bekannte Ambivalenzen der Umgangssprache bedingt. H a t sich der Täter einer gesetzlichen Unterhaltungspflicht entzogen (vgl. § 170 b StGB), so kann man genausogut sagen, er habe sich ihr nicht unterworfen. O b man davon spricht, jemand habe ein Geheimnis nicht gewahrt, oder aber davon, der Betreffende habe es geoffenbart (vgl. § 203 Abs. 1 StGB), ist einerlei. Die Zufälligkeit der negativen Formulierung tritt namentlich im Zusammenhang mit Unterlassungsverbrechen ans Licht 2 2 . Vorerst gilt es festzuhalten, daß

Insoweit treffend Finger (Fn. 3), S. 35. Vgl. Rödig/Thieler-Mevissen, Die Regel-Ausnahme-Technik des Gesetzgebers in logischer Sicht, in: Rödig-Baden-Kindermann, Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1975, S. 88 ff. 2 0 So sieht bereits Finger (Fn. 3, S. 37) in einer logisch schwer nachvollziehbaren Weise das „richtige" Verhältnis zwischen Regel und Ausnahme gefährdet. 21 Jescbeck (Fn. 10), S. 190 spricht von „echten" Tatbestandsmerkmalen, die negativ gefaßt sind. 2 2 Vgl. Rödig, Die privatreditlidie Pflicht zur Unterlassung, in: Rechtstheorie, 1972, S. 1 ff. (4 f.). 18 19

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die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Tatbestandsmerkmalen ähnlich unzuverlässig wie die Unterscheidung der Ausnahme von der Regel ist 23 . Mit der Konzeption der Tatbestandsmäßigkeit als eines regelmäßigen Unrechts hängt die Auffassung des Tatbestandes als einen Typus zusammen. N u n kann man unter rechtlich relevanten Typen sehr unterschiedliche Phänomene verstehen. So wird man im Rahmen historisch ausgerichteter Gesetzesanwendung — und zwar durchaus sinnvollerweise — wissen wollen, welche Arten von Sachverhalten den Verfassern des Gesetzes bei der Formulierung von gesetzlichen Tatbeständen („Tatbestand" diesmal im morphologischen Sinne gemeint) vorgeschwebt haben; geht beispielsweise die künftige Tatbestandsverwirklichung über die Verwirklichung jener Sachverhaltsarten hinaus, so wird man mit Recht nach der Notwendigkeit einer Restriktion des Gesetzes (also nicht nur dessen restriktiver Auslegung) fragen. Was nun aber die Typisierung von Straftaten anbelangt, so erbringen Vorschriften wie die des § 32 StGB (Notwehr) oder auch die des § 3 5 StGB (Notstand) hinreichenden Beweis d a f ü r , d a ß es nicht erst einer Reduktion der Verbrechensbeschreibungen des Besonderen Teils auf die vom Gesetzgeber in Wirklichkeit angeschauten Handlungsbilder bedarf. Es kann sich also nicht um eine an den Intentionen des Gesetzgebers orientierte subjektive, sondern es m u ß sich um eine objektive Typik handeln. Solche objektive T y p i k aber kommt, wenn überhaupt, so offenbar nur durch ein hohes M a ß von — objektiver — Wahrscheinlichkeit jeweils d a f ü r zustande, d a ß tatbestandsmäßige Handlungen zugleich rechtswidrige (sowie schuldhafte) Handlungen sind. Von einer derartigen Wahrscheinlichkeit, die auf einen Vergleich der Anzahl tatbestandsmäßiger Taten mit der Anzahl tatbestandsmäßiger und rechtswidriger (sowie schuldhafter) Taten gestützt werden müßte, kann nun aber nicht entfernt die Rede sein. Beschwichtigende Verbalisierungen dieses Phänomens wie beispielsweise der H i n weis darauf, gewisse Tatbestände — wie etwa der des § 240 Abs. 1 StGB — seien eben „offen" 2 4 , führen nicht weiter; in Wirklichkeit wird mit der Zulassung offener Tatbestände der gewählte Ausgangs-

23 D i e an sich schon logisch angreifbare Unterscheidung der Ausnahme v o n der Regel w i r d mitunter kurioserweise für eine bestimmte Reihenfolge der Prüfung v o n Verbrechensmerkmalen ins Treffen geführt: Sei noch keine Regel vorhanden, so gebe es nidits, w a s der Durchbrechung durch eine Ausnahme fähig sei. A l s o sei jeweils zunächst die Tatbestandsmäßigkeit im Sinne des Regel-Unredits zu prüfen (Welzel, D a s Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 80). — Eine Diskussion dieses Arguments erübrigt sich angesichts des vorseitig Ausgeführten. 24

H i e r z u siehe insbes. Welzel

(Fn. 23), S. 82 f.

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punkt beim Tatbestand als eines — naturgemäß geschlossenen! Typus verlassen 25 .

2. 7.um wertenden

Charakter

der Prüfung

von



Rechtswidrigkeit

Die Umformulierbarkeit von Rechtfertigungs- und Schuldausschliessungsgründen in allgemeine Strafbarkeitsbedingungen, deren Struktur mit den bislang im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit diskutierten Verbrechensmerkmalen übereinstimmt, ist logisch schwerlich zu bestreiten. Wenn die herrschende Lehre es dennoch bei der Dreigliedrigkeit des Verbrechensaufbaus beläßt, so offenbar auch gewisser nichtformaler Gesichtspunkte wegen, welche vornehmlich im Zusammenhang mit der Ablehnung der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen vorgetragen worden sind. Den Anstoß scheint wiederum Ernst Beling26 gegeben zu haben. Es handelt sich um Belings (anfängliche) Lehre vom Verbrechen, nach welcher die Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit im Gegensatz zur Bejahung der Rechtswidrigkeit auf keinem Werturteil beruhe. Die tatbestandsmäßige Handlung erscheint hiernach geradezu als wertfrei, als „an sich nicht rechtswidrig". Nun hat sich Beling freilich die E x i stenz von Strafbarkeitsbedingungen vorhalten lassen müssen, die nach seiner Auffassung zwar im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit erörtert werden müßten, jedoch durchaus eine Wertung i. S. des Nachvoll2 5 Auf ungesicherter wahrscheinlichkeitstheoretischer Grundlage baut schließlich die Konzeption der Tatbestandsmäßigkeit als eines Indizes für rechtswidrige (sowie schuldhafte) Tatbegehung (vgl. Welzel, a. a. O., S. 80; richtig dagegen etwa Schmidhäuser, a. a. O., S. 229 vor Nr. 10) auf. Eine mit einem derartigen Indizienbegriff operierende Kriminalistik würde schwerlich unser Vertrauen genießen. Gerade einer Jurisprudenz, die bisweilen von „formal" spricht, wenn es eine Ansicht als unrichtig zu bezeichnen gilt, steht der fortwährende stillschweigende Bezug auf letztlich in der Tat formale Kriterien nicht wohl an. Will man sich sdion derartiger Kriterien bedienen, so sollte man sich hierzu nicht nur bekennen, sondern darüber hinaus die einschlägigen — wenn auch mitunter komplizierten — Gesetzmäßigkeiten beachten. Im übrigen vermag ich im Augenblick keinen Anlaß für die Herstellung wahrscheinlichkeitstheoretischer Verhältnisse zwischen Teilmengen von Strafbarkeitsbedingungen zu sehen. Listet man die Voraussetzungen der Strafbarkeit im Sinne einer — ungeordneten — Menge von Konjunktionsgliedern auf, so kommt es auf die Bestätigung jedes dieser Konjunktionsglieder an; mit der bloßen Wahrscheinlichkeit des Vorliegens jeweils weiterer Strafbarkeitsbedingungen aufgrund des Vorliegens bereits bestätigter Strafbarkeitsbedingungen ist es nicht getan. 2 6 Die Untersuchungen über Tatbestandlichkeit halten sich, wie Beling S. 147) einmal bemerkt, „auf streng neutralem Boden".

(Fn. 1,

Z u r P r o b l e m a t i k des Verbrechensaufbaus

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zuges einer legislatorischen Wertung erforderten 27 . Das Auftreten sogenannter normativer Tatbestandsmerkmale ist heute denn auch allgemein anerkannt 28 . Wenn man die Merkmale der Rechtswidrigkeit gleichwohl noch immer von denen der Tatbestandsmäßigkeit glaubt sondern zu können, so naheliegenderweise deshalb, weil man in puncto Rechtswidrigkeit eine andere Art von Wertung als in puncto Tatbestandsmäßigkeit für angebracht hält. So wird beispielsweise vertreten, das Urteil über die Rechtswidrigkeit der Tat baue im Gegensatz zu dem über deren Tatbestandsmäßigkeit auf der Berücksichtigung der gesamten Rechtsordnung auf 2 9 . Jedoch auch über das Vorliegen von Merkmalen wie das der Fremdheit i. S. des § 242 Abs. 1 StGB läßt sich nur mit Hilfe nichtstrafrechtlicher Normenkomplexe befinden 30 . Des weiteren heißt es 31 , für die Diskussion der Rechtswidrigkeit einer Tat sei eine auf den Einzelfall bezogene Wertabwägung charakteristisch; die unterschiedlichen Normen als Hüter der miteinander kollidierenden Rechtsgüter träten einander selbständig gegenüber, und zwar auf die Weise, daß Wertung und Gegenwertung jeweils nur in den Grenzen der Erforderlichkeit sowie der Verhältnismäßigkeit miteinander in Einklang gebracht werden könnten. Zu dieser Sicht der Dinge ist fürs erste zu bemerken, daß es bei der Prüfung der Strafbarkeit eines Verhaltens allemal darauf ankommt, einen Einzelfall unter die einschlägigen Normen zu subsumieren. Zum zweiten leuchtet ein, daß es in dem Maße, in welchem die in den einschlägigen Normen vorkommenden Begriffe „wertausfüllungsbedürftig" sind, eines Nachvollzuges legislatorischer Wertungen bedarf. Solcher Nachvollzug kann sich, wie drittens zugegeben sei, auf die angesichts des jeweiligen Falles relevanten Wertungen beschränken. Hieraus indessen viertens schließen zu wollen, das Ergebnis der Wertung sei durch die Würdigung des Einzelfalles — unter Berücksichtigung von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit — bedingt, wäre geradezu verheerend. Entschieden zu bestreiten ist bereits der Ausgangspunkt, daß mehrere jeweils für verbindlich gehaltene Normen miteinander überhaupt in einen Konflikt zu ge2 7 Siehe M. E. Mayer, D e r Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 2. Aufl. 1 9 2 3 , S. 12, 184 ff. 2 8 Vgl. e t w a Jescheck (Fn. 10), S. 2 0 3 f. 2 9 Nicht umsonst pflegt gerade im Z u s a m m e n h a n g mit der Rechtfertigung tatbestandsmäßiger T a t e n der Gesichtspunkt der „Einheit der Rechtsordnung" ins Treffen geführt zu w e r d e n ; siehe e t w a B G H S t . 11, 2 4 1 ( 2 4 4 ) . 3 0 Ober die Fremdheit entscheidet nach Welzel ( F n . 2 3 ) , S. 3 4 0 „das bürgerliche Recht". 3 1 Ich beziehe mich insoweit namentlich a u f Formulierungen Jeschecks (Fn. 10, S. 1 8 9 ) , die als repräsentativ für die heute vorherrschende Auffassung angesehen werden dürfen.

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raten vermöchten, der eben anhand des Einzelfalles behoben werden müsse 32 . Diesem Ausgangspunkt liegt sichtlich die Verwechslung des Handlungsrechts mit dem — freilich irreführend so genannten — Erfolgs-„Unrecht" in Gestalt der Beeinträchtigung rechtlich geschützter Güter (etwa Zerstörung eines Hauses infolge Einschlagens eines Blitzes) zugrunde. Geht man von derartigem Erfolgsunrecht aus, dann kommt es in der Tat zu Kollisionen der bezeichneten Art. So kann etwa, was die Notwehr betrifft, das Rechtsgut der Gesundheit des Angreifers mit dem Rechtsgut der Gesundheit des Angegriffenen kollidieren. H a t man sich indes vergegenwärtigt, daß für eine strafrechtliche Betrachtung letztlich lediglich das Handlungsunredit ausschlaggebend sein und daß es auf das Erfolgsunrecht allenfalls im Hinblick auf das Vorliegen von Handlungsunredit ankommen kann, dann fällt die Duldbarkeit von miteinander kollidierenden Rechtsnormen weg. Rechtliche Normen schützen nicht rechtliche Güter an sich33. Sie schützen diese Güter vielmehr erst auf dem Umweg über die Einflußnahme auf das Verhalten von Menschen. Würden derartige Verhaltensnormen einander widersprechen, so stünde dem zur Rechtsanwendung berufenen Organ — und zwar nicht erst aufgrund des Einzelfalles — jegliche Regelung offen; das simultane Auftreten einander widersprechender Sätze ist in Wirklichkeit ein Sonderfall von Falschheit, und aus einer falschen Aussage folgt, wie schon die scholastischen Logiker wußten, jede („ex falso quodlibet sequitur") 34 . Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit würden nur noch den 32

Vom soeben skizzierten Fall der Unverträglichkeit von N o r m e n , die Anspruch auf Verbindlichkeit erheben, ist scharf der leider nicht seltene Fall zu unterscheiden, d a ß gesetzliche Vorschriften, die zumindest partiell zu weit geraten sind, bereits vor ihrer Anwendung miteinander in Einklang gebracht werden müssen. 33 Trefflich lehrt Gallas (Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen in: ZStW 67 (1955), S. 1 ff. (15)), daß „das Recht nicht nur Maßstäbe f ü r das Erwünscht- oder Unerwünschtsein eines sozialen Zustandes (Sein- oder Nichtseinsollen) enthält, vielmehr zugleich einen Inbegriff von Verhaltensnormen (Tun- oder Nichttunsollen) darstellt, durch die der gewollte Zustand realisiert werden soll". Aus diesem Umstand ist freilich nicht nur — dies der von Gallas a. a. O . diskutierte Zusammenhang — auf das Erfordernis einer H a n d l u n g als eines in welcher Richtung auch immer „willentlichen Verhaltens" zu schließen. Willentlichkeit ist vielmehr überdies im Hinblick auf die Befolgung einer Handlungsmaxime zu verlangen, die schon des von ihr erhobenen Geltungsanspruchs wegen realisierbar sein muß. Ist eine solche Maxime nicht formulierbar, weil jedes f ü r den Normadressaten infrage kommende Verhalten zu einer (nach Voraussetzung gleichwertigen) Rechtsgutsverletzung f ü h r t , w i r d jenem Handlungsunrecht die Grundlage entzogen, innerhalb dessen sich ein Erfolgsunrecht erst auswirken könnte. 34 Eine (extensive) Implikation nimmt den Wahrheitswert Falschheit nur bei wahrem Implikans und falschem Implikat a n ; die Implikation ist also insbesondere bei widersprüchlichem Implikans stets w a h r , ohne d a ß es auf die Richtigkeit des Implikats oder gar auf dessen Inhalt ankommt.

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Zur Problematik des Verbrechensaufbaus

rechtsstaatlichen M a n t e l für freie Rechtsschöpfung auf d e m Gebiet des Strafrechts liefern. E s g i b t n a c h a l l e d e m l e d i g l i c h eine

f ü r die K o n s t i t u t i o n des

Ver-

brechens m a ß g e b l i c h e A r t v o n Rechtswidrigkeit85. D i e Frage, o b ein rechtswidriges V e r h a l t e n zugleich strafbar sein soll, steht auf

einem

anderen

reicht

Blatt;

auch

für

zivilrechtliche

Schadensersatzpflicht

bekanntlich nicht jede widerrechtliche Schädigung aus. Für die

ver-

wirrende

Ver-

Konzeption

der z w e i t e n

Stufe

des

zeitgenössischen

b r e c h e n s a u f b a u s d ü r f t e nicht z u l e t z t die bereits e r w ä h n t e Sicht Rechtswidrigkeit

als des Ergebnisses

standsmäßige Tat" verantwortlich

eines

„Urteils über die

der

tatbe-

sein36. Z u d e n Bestandteilen

der

35 Dem steht auch nicht entgegen, d a ß einige Autoren zwischen positiv und „lediglich" negativ begründeter Reditswidrigkeit glauben unterscheiden zu sollen. So sieht sich etwa Welzel (Fn. 23, S. 80 f.) zur Begründung von Reditswidrigkeit nur mit H i l f e genereller N o r m e n in der Lage. N u r „in bestimmten Fällen" träten derartigen Verbotsnormen Erlaubnissätze entgegen und schlössen die Rechtswidrigkeit der Tatbestandsverwirklichung aus. Tatsächlich haben Erlaubnissätze nicht minder generell als Verbotssätze zu sein. Geht man von Verbotssätzen und Erlaubnissätzen in der Allgemeinheit aus, in der sie auftreten, so w i r d deutlich, d a ß sie schon vor Anwendung auf den jeweils zur Debatte stehenden Sachverhalt miteinander harmonisiert werden müssen. Erst mittels solcher Harmonisierung kommt eine N o r m zustande, die als kompetente Richtschnur f ü r menschliches Verhalten zu dienen und insofern der Begründung der Reditswidrigkeit eines Verhaltens zugrundegelegt zu werden vermag. Mit der unglücklichen Rede vom Tatbestand als der „Verbotsmaterie", deren sich auch Welzel a. a. O. befleißigt, w i r d den Rechtssätzen des Besonderen Teils eine qualitative Selbständigkeit zugedacht, die sie weder wahrnehmen sollen noch wahrnehmen wollen. Aus der gesetzgebungstechnisch bedingten N o t der Isolierung einzelner Rechtssätze, die vor jeder Anwendung erst einmal zu einer überhaupt anwendungsfähigen N o r m zusammengesetzt werden müssen, wird die Tugend „positiver" Unrechtsbegründung gemacht. Während noch Max Ernst Mayer (Fn. 27, S. 52, 182) jenen isolierten Rechtssatz als bloße ratio cognoscendi einzuordnen versteht, haben wir es nach Welzels Sicht der Dinge beim Tatbestand in Wirklichkeit durchaus mit einer ratio essendi zu tun. N u r vor diesem H i n t e r g r u n d wiederum ist Welzels ( a . a . O . , S. 81) Empörung betreffs der Gleichstellung der Tötung eines Menschen in N o t w e h r mit der Tötung einer Mücke nadizuvollziehen — ein Gleichnis übrigens, das sich in der Literatur immer wieder antreffen läßt und das seine Suggestivwirkung selten verfehlt. Tatsächlich geht es nicht darum, ob ein Mensch nach Maßgabe der Lehre von den negativen T a t bestandsmerkmalen nur so viel wert wie eine Mücke ist. Von Interesse ist vielmehr allein, ob Gesichtspunkte f ü r eine Unterscheidung mehrerer, strafrechtlich unterschiedlich relevanter Klassen von „Rechtmäßigkeit" angeführt werden können. 36

N u r so erklärt sich ja auch das verbreitete Mißverständnis, die Einbeziehung negativer Tatbestandsmerkmale schränke positive Merkmale ein. So schreckt Gallas (Fn. 33, S. 1 ff. (28)) vor der Konsequenz zurück, Töten in N o t w e h r sei kein Töten mehr. Ähnlich Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 241 mit der Forderung, d a ß negative Merkmale keine „verneinende Einschränkung positiv formulierter Tatbestandsmerkmale" bewirken dürfen. Zu alledem treffend neuerdings Jutta Minas von Savigny, Negative Tatbestandsmerkmale, 1972, S. 78—82.

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Straftat scheinen hiernach rechtliche Normen zu gehören, und zwar möglicherweise sogar solche, die erst anläßlich des zu beurteilenden Einzelfalles aufgestellt worden sind 37 . In Wirklichkeit sind diese Normen, wiederum vom Fall der richterlichen Rechtsfortbildung abgesehen, schon vorhanden. Dies kann nicht genug hervorgehoben werden. Wie im Rahmen der Prüfung von Tatbestandsmäßigkeit (oder Schuld), so ist auch im Rahmen der Prüfung von Rechtswidrigkeit lediglich das Vorliegen einzelner Sachverhaltsmomente zu untersuchen. U m welche Sachverhaltsmomente es sich hierbei handelt, ergibt sich aus den einschlägigen Normen, welche, sofern es überhaupt einer Harmonisierung bedarf, bereits vor Anwendung auf den gegebenen Rechtsfall miteinander in systematischen Einklang gebracht werden mußten 38 .

3. Konturierung der Tatbestandsmäßigkeit unter dem Aspekt der Garantiefunktion des Tatbestandes Eine Tat kann sowohl nach Art. 103 Abs. 2 GG als auch nach § 1 StGB „nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". Nun wird jedoch die Strafbarkeit einer Tat bekanntlich nur zum Teil durch Verbrechensmerkmale bestimmt, die im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit geprüft zu werden pflegen. So kann die Strafbarkeit des Täters davon abhängig sein, ob er sich bei Tatbegehung in einer Notwehrlage be37 So kann es denn auch nicht wunder nehmen, daß man den Begriff des „Rechtfertigungsgrundes" weniger im Sinne der tatsächlichen Voraussetzungen einer Berechtigung — siehe insoweit auch den „Grund" eines (prozessualen) Anspruchs nach Maßgabe des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO — als vielmehr im Sinne der berechtigenden Rechtsnorm versteht mit dem Ergebnis, daß Tatbestandsmerkmale und Rechtfertigungsgründe logische Kommensurabilität einbüßen. Verbrechensmerkmale können nur in rechtlich relevanten — sei es „inneren", sei es „äußeren" — Tatsachen bestehen. 3 8 Der Vollständigkeit halber sei noch bemerkt, daß eine unterschiedliche Qualifizierung von Strafbarkeitsbedingungen auch nicht auf den Umstand gegründet werden kann, daß manche dieser Bedingungen mit Hilfe von Gebots- oder Verbotssätzen, andere dagegen mit Hilfe von Erlaubnissätzen formuliert zu werden pflegen (mißverständlich Welzel a. a. O. S. 80 f.; ]escheck a. a. O., S. 189). Die sogenannten „deontischen Modalitäten", wie man Gebote, Verbote und Erlaubnisse auch nennt, sind bekanntlich gegeneinander austauschbar. So können wir beispielsweise anstatt von der Erlaubnis einer durch Notwehr gedeckten Handlung davon sprechen, es sei nicht verboten, gegen den Angreifer Notwehr zu üben. Das Verbot einer Körperverletzung läßt sich sowohl durch das Gebot der Unterlassung der Körperverletzung als auch durch die Verneinung der Erlaubnis zur Begehung einer Körperverletzung zum Ausdruck bringen. Ein tieferer rechtlicher Sinn wohnt dem Gebrauch gerade dieser oder jener der deontischen Modalitäten nicht inne.

Zur Problematik des Verbrechensaufbaus

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fand oder nicht, ob er einem Verbotsirrtum aufsaß oder nicht usw. Diese und ähnliche Umstände kommen indessen lediglich i. S. einer Entlastung des Täters in Betracht, so daß der Tatbestand seine Garantiefunktion allem Anschein nach in einem engeren Sinne durchaus wahrzunehmen vermag: Vorherige Information des — potentiellen — Täters über die ihn belastenden Strafbarkeitsbedingungen. Zwar wird der Täter solchermaßen auf eine gleichsam asymmetrische Weise informiert. Über belastende Umstände erfährt er mehr als über solche, die ihm zu seiner Entlastung gereichen. Allein es scheint im Zweifelsfalle die angenehmere Irreführung zu sein, daß jemand mehr als nötig anstatt weniger als nötig gewarnt wird 3 9 . Nehmen wir der Einfachheit halber einmal an, wir hätten es ausschließlich mit Tatbeständen zu tun, die hinsichtlich der Bestimmtheit der den Täter belastenden Umstände keine Wünsche offen lassen. Dann fragt es sich gleichwohl, welche Relevanz dem Kriterium der Bestimmtheit für eine systematisch adäquate Gliederung der Strafbarkeitsbedingungen zukommt. Für die Beantwortung dieser Frage kann die Frage nach dem Adressaten der N o r m nicht unberücksichtigt bleiben. Dem (potentiellen) Täter liegt die Auflistung sämtlicher Verbrechenselemente nicht ob. Deshalb kann es bereits im Ansatz nicht gelingen, den Verbrechensaufbau aus der Perspektive des (potentiellen) Täters heraus zu strukturieren. Maßgeblich muß vielmehr die Perspektive des über die Strafbarkeit der T a t Urteilenden sein. Der 3 9 Freilich will schon die Behandlung der sogenannten unechten Unterlassungsdelikte in das soeben skizzierte, friedliche Bild nidit recht passen. Zwar hat man in Ergänzung des Begriffs der Garantenpflidit, welcher der Unterlassende unterworfen sein muß, alsbald das entsprechende Tatbestandsmerkmal der Garantenstellung entworfen (zur begrifflichen Klärung: B G H S t . 16, 155 (157)). Jedoch die Garantenstellung pflegt ausschließlich von der Garantenpflicht her konzipiert zu werden, und für deren Diskussion wiederum ist der im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung gepflogene, eher allgemein gehaltene, Stil charakteristisch: Die Vorschrift des § 13 Abs. 1 S t G B liest sich denn auch wie ein Ausdruck gesetzgeberischer Resignation. Das Fehlen der erforderlichen Bestimmtheit nimmt sich um so bedauerlicher aus, als es auf das Vorhandensein einer Garantenstellung nicht nur bei dieser oder jener besonderen Tat, sondern bei einer Mannigfaltigkeit von Taten ankommen kann. Auf der anderen Seite sind die kodifikatorischen Schwierigkeiten, denen sich der Gesetzgeber bei der Fixierung der Garantenstellung ausgesetzt sah, nicht zu verkennen. Die Voraussehbarkeit künftiger Tatbestandsverwirklichung kann auch im Hinblick auf Umstände, die den Täter belasten, mißlingen. Dem Gesetzgeber bleibt in diesem Fall gar keine andere Wahl als die einer mehr oder minder verblümten Resignation. Die weniger verblümte Resignation verdient freilich im Vergleich mit der mehr verblümten den Vorzug; das Aussprechen des schon heute weithin praktizierten Satzes „nulla poena sine judicio" hätte vermutlich überwiegend heilsame Folgen — insbesondere für das Selbstverständnis unserer höheren Strafgerichte, denen auf diese Weise die Garantiefunktion ihrer Judikate für den potentiellen Täter noch bewußter gemacht werden könnte.

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Jürgen Rödig

Urteilende hat sich, soll es zu einer Verurteilung kommen, in der Tat mit sämtlichen Strafbarkeitsbedingungen zu befassen; ihm ist denn auch mit einer funktionsgerechten Gliederung dieser Bedingungen gedient. Was nun aber die Perspektive des Rechtsanwenders betrifft, so stößt die Garantiefunktion des Tatbestandes mit der für sie charakteristischen Zielrichtung ins Leere. Die Tatbestände unseres Strafrechts brauchen keine Magna Charta für die deutsche Richterschaft zu bilden. Legt man die Perspektive des Richters zugrunde, mit der sich die Perspektive des das Strafrecht studierenden Fallbearbeiters weitgehend deckt, so ist die Bestimmtheit der einschlägigen Strafbarkeitsbedingungen dort zu prüfen, wo es auf die Vorwarnung des Täters sachlich ankommt: Sie ist zu prüfen im Zusammenhang mit der Möglichkeit eines Verhotsirrtums des Täters sowie vor allem im Zusammenhang mit der Frage, ob dieser Irrtum für den Täter vermeidbar war oder nicht. Diesen systematischen Rahmen vorausgesetzt, sollte man sich nicht scheuen, mit der Unbestimmtheit einzelner Strafbarkeitsbedingungen praktische Folgen zugunsten des Täters zu verbinden; nunmehr kann insbesondere die von Täter zu Täter variierende, nicht zuletzt durch Erziehung, Ausbildung, Umwelt und Sprachgewohnheit beeinflußte, Auffassungsgabe hinlänglich berücksichtigt werden. Die für den Begriff der Tatbestandsmäßigkeit im Sinne der Garantiefunktion des Tatbestandes maßgebenden Gesichtspunkte kommen im Rahmen des hier vorgeschlagenen Verbrechensaufbaus nach alledem erst innerhalb der zweiten Verbrechensstufe zum Tragen 40 .

IV. Abriß eines normspezifischen, zweistufigen Verbrechensaufbaus 1.

Grundgedanken

Unterscheidet man sowohl zwischen den einschlägigen Normen als auch insbesondere zwischen deren Adressaten, so ergibt sich ein zweistufiger Verbrechensaufbau nahezu zwangsläufig wie folgt. Wir haben es fürs erste mit einer allgemeinen, insbesondere an den (potentiellen) Täter adressierten Handlungsanweisung zu tun. Die Verletzung dieser 40 Wenn schon der Verbrechensaufbau, was seine systematischen Aspekte anlangt, von der Garantiefunktion des Tatbestandes nicht zu profitieren vermag, so erscheint es als erst recht verfehlt, wenn auch noch die zivilrechtliche unerlaubte Handlung auf analoge Weise in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und (objektivierte!) Schuld zu gliedern versucht wird; hierzu Rödig, Erfüllung des Tatbestandes des § 823 Abs. 1 BGB durch Schutzgesetzverstoß, 1973, S. 48 ff.

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Anweisung ist für sich genommen noch nicht „mit Strafe bedroht". Die genannte Handlungsanweisung sagt dem (potentiellen) Täter, wie man sich in dieser oder jener, jedoch jeweils bestimmten, Situation verhält 4 1 . Sämtliche einschlägigen Bestimmungen der Rechtsordnung sind in der an den Täter adressierten Verhaltensmaxime zusammengefaßt. Der gesetzestechnische Umstand, daß manche jener einschlägigen Bestimmungen in diesem, andere in einem anderen Kodifikat oder an einer anderen Stelle desselben Kodifikats geregelt sind, daß andere wiederum vielleicht nur „gewohnheitsrechtlich" gelten, findet keine Berücksichtigung. Wie man sich von Rechts wegen richtig verhält, läßt sich erst entscheiden, wenn sämtliche der regelungstechnisch bedingten Kollisionen im Verhältnis der einschlägigen Rechtssätze zuvor behoben worden sind. Ich darf auch an dieser Stelle 4 2 die Unterscheidung des jeweils durch regelungstechnische Zufälligkeiten geprägten, etwa als Inhalt eines Gesetzesparagraphen anzutreffenden, einzelnen Rechtssatzes von der den intendierten Regelungsgehalt adäquat zum Ausdruck bringenden, rechtlichen Norm empfehlen. Für die Frage, wie man sich beispielsweise in einer Notwehrlage von Rechts wegen richtig verhält, kann offenbar weder allein der Rechtssatz des § 223 Abs. 1 S t G B noch allein der des § 32 Abs. 1 S t G B (i. V. m. § 32 Abs. 2 S t G B ) ausschlaggebend sein; eine Richtschnur dahingehend, wie man sich in der bezeichneten Lage verhält, ist vielmehr erst in der entsprechenden N o r m als gleichsam der rechtlichen „Resultante" sämtlicher einschlägiger Rechtssätze enthalten. Von der an den (potentiellen) Täter adressierten Handlungsanweisung ist zum zweiten die an das zur Verhängung von Strafe berufene staatliche Organ adressierte N o r m betreffend die A r t sowie die Voraussetzungen einer strafrechtlichen Einwirkung auf den Täter zu scheiden. Pars pro toto sei von „Strafnorm" die Rede. Auch diese Strafnorm stellt lediglich das Ergebnis des Zusammenspiels sämtlicher einschlägiger Rechtssätze dar. Die Unterschiede zwischen der Strafnorm sowie der an den (potentiellen) Täter gerichteten Handlungsanweisung sind im übrigen mit Händen zu greifen. So ist der amtsrechtliche Charakter der Strafnorm unverkennbar; demgegenüber braucht die verletzte Handlungsanweisung keineswegs zum Sonderrecht der zu strafrechtlicher Einwirkung berufenen Staatsorgane zu

41 Der Klarheit halber sei angemerkt, daß eine positive Antwort auf die Frage, wie man sich in der Situation des (potentiellen) Täters zu verhalten habe, durchweg in der Angabe mehrerer jeweils rechtlich gebilligter Verhaltensweisen wird bestehen können. 42

Siehe bereits Rödig

(Fn. 4), § 46.3.0.

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gehören. Der fundamentale Unterschied zwischen der verletzten Handlungsanweisung einerseits sowie der Strafnorm andererseits tritt namentlich im Zusammenhang mit der Einordnung von Strafbarkeitsbedingungen wie etwa derjenigen der Schuldfähigkeit des Täters deutlich zutage. D a s Fehlen der Schuldfähigkeit ist für den Regelungsgehalt der an den Täter adressierten Handlungsanweisung ohne Belang. Es ist nicht Sache des Täters, im Zusammenhang mit der Frage, ob er eine allgemeine Hadlungsanweisung einhalten möchte oder nicht, über seine eigene Schuldfähigkeit zu räsonnieren. Ähnlich verhält es sich mit dem bereits angesprochenen Unrechtsbewußtsein, insbesondere mit der hinlänglichen Kenntnis der verletzten H a n d lungsanweisung, durch deren Einhaltung die Mindestvoraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben der Mitglieder der betreffenden Rechtsgemeinschaft garantiert werden soll, will als solche befolgt sein, mehr nicht. Umgekehrt reicht für die vorsätzliche Verletzung der Handlungsanweisung die Kenntnis der hiernach relevanten Sachverhaltsmomente aus. Der Täter braucht, was beispielsweise die Begehung eines Totschlags ( § 2 1 2 Abs. 1 S t G B ) betrifft, lediglich die einschlägigen Sachverhaltsmomente gegenwärtig zu haben. Er muß wissen, daß die von ihm begangene Handlung den Tod eines Menschen zur Folge haben werde; er muß die Handlung ferner in Kenntnis der Möglichkeit wenigstens eines weiteren Verhaltens vorgenommen haben, aufgrund dessen der Tod jenes Menschen (jedenfalls auf die eingetretene Art und Weise) ausgeblieben sein würde. Darüber hinaus ist weder der Nachvollzug der gesetzgeberischen Wertungen bezüglich des Tötungsverbots noch auch nur die Kenntnis von dessen Strafbarkeit zu verlangen. Die zuletzt genannten Merkmale, die man übrigens ebensogut als solche der T a t wie solche des Täters ansehen kann, sind vielmehr lediglich für die Art der strafrechtlichen Einwirkung auf den Täter von Bedeutung. Sie interessieren also erst im Rahmen von Stufe 2 des hier vorgeschlagenen Verbrechensaufbaus. Innerhalb dieses Rahmens, aber auch nur innerhalb dieses Rahmens, ist hinsichtlich einer strafrechtlich angemessenen Reaktion auf die vom Täter realiter — und zwar in Kenntnis aller Tatumstände! — begangene Normverletzung individuell zu differenzieren 4 3 , 4 4 . 4 3 Durch die scharfe Trennung v o n T a t u m s t ä n d e n einerseits sowie v o n Voraussetzungen strafrichterlicher E i n w i r k u n g andererseits läßt sich der namentlich von Gustav Radbruch (Zur S y s t e m a t i k der Verbrechenslehre, in: Festgabe f ü r R e i n h a r d v o n F r a n k z u m 70. Geburtstag, B d . 1, 1930, S. 1158 ff. (171)) so überzeugend erhobenen F o r d e r u n g nach einer Ausrichtung des Verbrechensaufbaus anhand des Systems der strafrechtlichen Folgen des Verbrechens Rechnung tragen. Nicht zuletzt ist in S t u f e 2 der systematisdi angemessene O r t f ü r eine V e r a n k e r u n g von S t r a f zumessungsgründen gefunden. Jedoch es braucht, wie schon erwähnt, bei der S t r a f e

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2. Einordnung

der

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Fahrlässigkeitstat

Im Zusammenhang mit der Einordnung der Fahrlässigkeitstat hat schon mancher Verbrechensaufbau einer, wie man wohl sagen darf, Zerreißprobe unterworfen werden müssen. Unproblematisch war diese Frage naturgemäß solange, wie man Vorsatz und Fahrlässigkeit gleichermaßen als Schuldformen glaubte qualifizieren zu dürfen mit dem Ergebnis, daß Elemente der Willentlichkeit und solche der Vorwerfbarkeit friedlich nebeneinander auftreten konnten. Sobald man jedoch die Norm Verletzung von deren Vorwerfbarkeit zu sondern sucht, will nur noch die entsprechende Strukturierung der Vorsatztat gelingen. Demgegenüber hat die Fahrlässigkeitstat dem Anschein nach im engeren Sinn nicht zu bewenden. Mit der Konstatierung der Normverletzung ist längst nicht alles des für die Anwendung eines modernen Strafrechts Erforderlichen gesagt. Die Normverletzung als solche stellt vielmehr lediglich eine Störung des Gemeinschaftslebens dar, die zur Erforschung der Ursachen Veranlassung gibt. So bleibt insbesondere die Frage nach der Realisierbarkeit jener so sympathischen Strafrechtskonzeption zu erwägen, die von dem nur mühsam rationalisierbaren Begriff der Vergeltung vollends absieht und die Einwirkung auf den Täter bereits ausschließlich unter den Gesichtspunkten einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Betreuung des Täters sowie des Selbstschutzes der Gemeinschaft motiviert. 4 4 Von praktischem Interesse dürfte insbesondere die Behandlung einiger Fallgestaltungen sein, die noch immer unter dem Gesichtspunkt des allenfalls entschuldigenden Notstandes gesehen zu werden pflegen. So hatten zu Anfang des zweiten Weltkrieges, als die systematische Tötung von Geisteskranken begann, die später wegen Mordes oder doch wegen Beihilfe zum Mord angeklagten Anstaltsärzte nur deshalb bei der Aufstellung sogenannter „Verlegungslisten" mitgewirkt, weil sie durch Aufopferung der hoffnungslosesten Patienten wenigstens einigen hoffnungsvolleren Anstaltsinsassen wahrheitswidrig Arbeitsfähigkeit bescheinigen und auf diese Weise das Leben retten konnten. Hätten die Angeklagten jegliche Mitwirkung verweigert, so wären linientreue Funktionäre an ihre Stelle getreten; diese hätten vermutlich keinen oder doch eine sehr viel geringere Anzahl von Patienten verschont. In derartigen Fällen ist die Rechtsordnung um eine Antwort auf die Frage, wie man sich von Rechts wegen richtig verhält, verständlicherweise verlegen. Die Berufung auf das allgemeine Tötungsverbot führt so wenig weiter wie der Hinweis auf das zweifellos zu beklagende Erfolgsunrecht. Maßgebend kann vielmehr allein die situationsbezogene Handlungsanweisung sein. Die Wirklichkeit besteht nicht aus Tatbeständen im Sinne der Rechtssatzstruktur. Sie setzt sich vielmehr ausschließlich aus einzelnen Situationen zusammen. Diese und nur diese bilden den Anlaß für den Versuch der Beeinflussung menschlichen Verhaltens mit Hilfe rechtlicher Normen. Kann kein Verhalten vorgeschrieben werden, bei dessen Vornahme das eingetretene oder ein dem eingetretenen ähnliches Erfolgsunrecht entfiele, dann kommt auch keine Normverletzung in Betracht. Ist keine Norm verletzt, dann hat der Angeklagte eben rechtmäßig gehandelt. Der Verdruß darüber, daß dem Handelnden keine bessere Richtschnur an die H a n d gegeben werden konnte, sollte seinen Niederschlag nicht in Rechtmäßigkeitskategorien zweiter oder gar dritter Klasse finden dürfen. Die Prüfung der Strafbarkeit ist nach alledem bereits im Rahmen der ersten Stufe mit negativem Ergebnis zu Ende zu führen.

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sämtlichen der bislang angestrengten systematischen Bemühungen erfolgreich zu trotzen vermocht45. Das ist auch nicht verwunderlich. Wenn man unter fahrlässiger Tatbegehung die ungewollte Verletzung, von Sorgfaltspflichten versteht und dem Täter vorhält, er habe die Gebotenheit von Sorgfalt entweder pflichtwidrig verkannt oder aber zwar erkannt, jedoch pflichtwidrig auf das Ausbleiben einer Verletzung des der Sorgfalt bedürftigen Rechtsguts vertraut 46 , dann haben wir es in Wirklichkeit ausschließlich mit Elementen der Vorwerfbarkeit zu tun. Das Faktum der Normverletzung ist durch den Hinweis darauf, wie sich der Täter pflichtgemäß hätte verhalten sollen, nicht zu belegen. In tatsächlicher Hinsicht bewendet es in Wirklichkeit bei der Registrierung des eingetretenen Schadens, mithin bei einem schuldstrafrechtlich nicht eben tragfähigen Verbrechensmoment. Den angesichts sämtlicher Konsequenzen allein gangbaren Ausweg aus diesem Dilemma vermag ich lediglich in der Auffassung der Fahrlässigkeitstat als einer besonderen Art von Vorsatztat, und zwar in der Konzeption der Fahrlässigkeitstat als eines erfolgsqualifizierten (vorsätzlichen) Gefährdungsdelikts, zu erblicken. Der Sorgfaltsverstoß wird, wie man sieht, zum Inhalt eines im traditionellen Sinne „tatbestandsmäßigen" Handlungsunrechts gemacht. An die Stelle der Verursachung des Erfolges, die zu einer meines Erachtens nicht gerechtfertigten Parallelisierung der Fahrlässigkeitstat mit der Vorsatztat beigetragen hat, tritt die Verwirklichung einzelner — wiederum möglichst präzise zu fixierender — Momente der Sorglosigkeit. Bereits mit der Verwirklichung dieser Umstände ist das erforderliche Handlungsunrecht gegeben. Daß Strafe gleichwohl allenfalls im Falle des Erfolgseintritts verwirkt sein soll, ist zwar prozeßpraktisch indessen verständlich47. Gleichwohl wird man sich von einer einheitlichen Betrachtung der Fahrlässigkeitstat einerseits sowie des Gefährdungsdelikts andererseits, die ohnehin vom gemeinsamen Hintergrund der versuchten Straftat her gesehen werden können, gewisse Anregungen für die Strafrechtsdogmatik versprechen dürfen. Faßt man die Fahrlässigkeitstat auf die soeben skizzierte Weise als Sonderfall der Vorsatztat auf, so ergeben sich hinsichtlich der Einordnung der Fahrlässigkeitstat in den hier vorgeschlagenen zweistufi4 5 Auch Schmidhausen (Fn. 1, S. 346 sub 101) Forderung, es gelte das Tatbewußtsein, das wir für die Vorsatztat verlangen, im Falle der Fahrlässigkeitstat durch dessen „Erlangbarkeit (Potentialität)" zu ersetzen, weist m. E. keinen gangbaren Weg. 4 6 Siehe etwa Jescheck (Fn. 10), S. 426. 4 7 Insoweit — doch auch nur insoweit — treffend Lüderssen, Artikel „Strafrecht", in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hrsg. von A. Görlitz, 1972, S. 474 ff. (475).

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gen Verbrechensaufbau keine Probleme. D a ß der Verfasser es bei der genannten Hypothese beläßt, deren Aussichten auf Beifall gering sein dürften, möge unter dem Gesichtspunkt jener Narrenfreiheit gesehen werden, deren sich der — ohnedies rechtstheoretisch infizierte — Zivilrechtler in Sachen Strafrecht erfreut.

V. Ergebnis Das Ergebnis der im Rahmen dieser Studie angestellten Überlegungen werde mit Hilfe einer Graphik zusammengefaßt (S. 64). Statt vom Aufbau des Verbrechens ist in der gebotenen Allgemeinheit von der Struktur eines korrekturbedürftigen Verhaltens die Rede. Die Bestrafung des Täters stellt offenbar nur eine von mehreren Möglichkeiten einer „Läuterung" des menschlichen Zusammenlebens dar. Ähnliche Korrekturen werden sich im Wege eines Systems von anderweitigen Maßregeln erreichen lassen, die freilich nicht wie die Strafe den Anschein eines geradezu arithmetischen Ausgleichs des begangenen Unrechts zu erwecken vermögen und schon deshalb im Vergleich mit der Strafe gern ins Hintertreffen geraten. Macht man sich demgegenüber die Funktion der einzelnen Einwirkungsmöglichkeiten klar, so leuchtet es ein, daß Strafe und Maßregel allenfalls die Begehung einer Normverletzung (linke Seite der Graphik) zur gemeinsamen Voraussetzung haben. Zwar wird man, was das korrekturbedürftige Verhalten im allgemeinen betrifft, die Verletzung vergleichsweise grundlegender Normen verlangen. Allein, es nimmt sich eher als Zufall aus, daß es haargenau dieselben Normen sein sollen, die bei vorwerfbarer Verletzung mit Strafe und andernfalls mit einer Maßregel bewehrt sind; gerade ein um optimales Verständnis der Motivation des Täters bemühtes „Straf"-Recht wird sich die Orientierung des sozialschädlichen Verhaltens anhand des strafbaren Verhaltens auf die Dauer nicht leisten können. So erklärt es sich denn auch, daß die rechte Seite unserer Graphik, welche die Voraussetzungen spezifischer Verhaltenskorrektur betrifft, im Vergleich mit der linken Seite bereits im Ansatz horizontal — und nicht wie jene vertikal — gegliedert ist. Die bisher pauschal verwendete Kategorie der Tatbestandsmäßigkeit zerfällt gleichsam in ihre Funktionen. Es kommt fürs erste darauf an, aus der Menge der Normverletzungen die Menge derjenigen Handlungen herauszugreifen, die zudem mit Strafe bedroht sind. Dieses Auswahlverfahren bleibt von der Tatsache unbeschadet, daß es o f t gerade erst die generelle Strafdrohung ist, die wir f ü r die Herausarbeitung der die Situation des Täters bestimmenden Rechtslage benötigen. Was zum zweiten die erforderliche Warnung des potentiellen Täters im Sinne des Feuerbachschen Latinismus' anlangt, so haben wir es lediglich mit einer von mehreren Voraussetzungen f ü r das Normverletzungsbewußtsein des Täters zu tun. Dieses ist denn auch der rechte systematische Ort f ü r die

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E r ö r t e r u n g v o n F r a g e n w i e e t w a d e r j e n i g e n n a c h d e r n o t w e n d i g e n Bestimmtheit der G r u n d s ä t z e b e t r e f f e n d die G a r a n t e n s t e l l u n g bei sogenannt e n u n e c h t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e n . A b e r auch d a s V e r b o t d e r a n a l o g i a i n m a l a m p a r t e m ist i n d e m e r w ä h n t e n Z u s a m m e n h a n g z u d i s k u t i e r e n . A l s G e g e n p r o b e f ü r die Richtigkeit der hier vorgeschlagenen differenzierend e n Sicht d e r D i n g e lassen sich w i e d e r u m d i e M a ß r e g e l n z u r S i c h e r u n g u n d B e s s e r u n g ins T r e f f e n f ü h r e n . D i e s m a l ist eine v o r h e r i g e W a r n u n g des T ä t e r s o f f e n b a r nicht a u f dieselbe W e i s e w i e i m H i n b l i c k a u f dessen S t r a f b a r k e i t z u v e r l a n g e n ; so sollte sich d e r T ä t e r d i e — w e n n g l e i c h v o n i h m nicht n o t w e n d i g als solche e m p f u n d e n e — C h a n c e e i n e r p s y c h i a t r i schen o d e r g a r p s y c h o t h e r a p e u t i s c h e n B e h a n d l u n g nicht erst d u r c h p r ä zisen N a c h v o l l z u g der potentiellen S t r a f d r o h u n g erdienen müssen. 48

Von der Struktur der korrekturbedürftigen H a n d l u n g , insbesondere von der Verbrechensstruktur, ist die jeweils adäquate T a k t i k f ü r das Lösen von Fällen scharf zu unterscheiden. Für die Adäquatheit einer Taktik werden wir namentlich deren logische Stringenz, aber auch so etwas wie die Ökonomie des Denkens zu verlangen haben. Zur logischen Stringenz w i r d wiederum der — an anderer Stelle näher behandelte — Gesichtspunkt der Beweisvollständigkeit gerechnet werden müssen. Gerade unter dem Gesichtspunkt der Vollständigkeit tritt die Unterschiedlichkeit von Verbrechensstruktur und Lösungstaktik deutlich hervor. Struktur und T a k t i k treffen, wenn überhaupt, so nur im Falle des kompletten Verbrechens zusammen. Jedoch in diesem Fall ist die Reihenfolge der Lösungsschritte im Hinblick auf die Gleichwertigkeit von Konjunktionsgliedern ohnehin ohne Belang. Was dagegen die Ablehnung der Strafbarkeit anlangt, so genügt es, sich auf den Beweis des Ausbleibens einer notwendigen Bedingung derselben zu konzentrieren. Eine dieser Bedingungen besteht darin, d a ß die verletzte N o r m überhaupt mit Strafe bewehrt ist. In diesem Sinne k a n n man, was die P r ü f u n g der Strafwürdigkeit eines Verhaltens anlangt, gut und gern mit der Tatbestandsmäßigkeit im Sinne der Durchmusterung eines Rechtssatzes des Besonderen Teils des Strafgesetzes (oder eines nebenstrafrechtlichen Rechtssatzes) „anfangen". Aber man kann, wenn beispielsweise keine Möglichkeit zur Vermeidung des eingetretenen Erfolgsunrechts a u f gezeigt zu werden vermag, auch mit dem Fehlen der verletzten — individuellen — N o r m „anfangen". M a n kann „anfangen" mit dem Nachweis, daß der H a n d e l n d e innerhalb des gesamten zur Diskussion stehenden Zeitraumes nur seiner — übergeordneten — Pflicht genügte, so d a ß sich eine Erörterung der verschiedenartigsten strafrechtlichen Gesichtspunkte im vorhinein erübrigt. Steht nur die Verhängung von Strafe zur Debatte, so stellt die P r ü f u n g der Schuldfähigkeit bei gegebenem Anlaß nicht nur einen logisch unangreifbaren A n f a n g , sondern vielleicht sogar zugleich das praktisch so erfreuliche Ende der Untersuchungen d a r ; anders als im Falle des Normverletzungsbewußtseins ist betreffs der Schuldfähigkeit gerade nicht je nach A r t der begangenen Regelwidrigkeit zu differenzieren. K o m m t wiederum Teilnahme in Betracht, so kann es sich lohnen, trotz Schuldunfähigkeit des H a u p t t ä t e r s zuerst einmal die Begehung einer Regelwidrigkeit zu konstatieren. In der richterlichen Praxis scheinen wir die hier empfohlene Elastizität in puncto Fallaufbau längst gepflogen zu finden. Demgegenüber gilt es festzustellen, d a ß der an der Universität gebräuchliche schulmäßige Lösungsweg nicht so sehr ein Plus an Theorie denn vielmehr ein Plus an Schematismus bedeutet. Von Schematismus ist hierbei freilich keineswegs in nur negativem Sinne die Rede. Die Gleichförmigkeit des Vorgehens erhöht etwa die Verständigungsmöglichkeiten im Verhältnis mehrerer Bearbeiter.

Zur P r o b l e m a t i k des Verbrechensaufbaus

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Den kleinsten gemeinsamen Nenner der links aufgeführten — übrigens auf Vollständigkeit bedachten — Liste von Erscheinungsformen einer Normwidrigkeit bildet offenbar die wissentliche Verletzung einer Verpflichtung zu mindestens abstraktem Rechtsgüterschutz, und zwar ohne die Notwendigkkeit eines entsprechenden „Erfolges" (in Gestalt der tatsächlichen Verletzung des geschützten Guts oder auch — was wohl die exaktere Ausdrucksweise ist — in Gestalt der Verletzung des Substrats des vorausgesetzten Rechtsguts). Dieses Resultat spiegelt die bereits aufgestellte, in puncto Strafwürdigkeit streng schuldstrafrechtlich konzipierte, These von der Versuchsstruktur als der Grundform des Verbrechens wider. J a wir haben es sogar lediglich mit der hinreichenden Dokumentation eines auf Rechtsgutsge/ä^r^KMg gerichteten Willens des regelwidrig Handelnden zu tun. Und in der Tat, anders als der zivilrechtlich ausgleichsbedürftige Schaden kommt der strafrechtlich relevante (Miß-)Erfolg nur im Wege der verschiedenartigsten Appelle an natürliches Empfinden über die Funktion eines bloßen Indizes für die „Korrekturbedürftigkeit" des Täterverhaltens hinaus 48 .

A u f der andern Seite muß man fragen, ob nicht jene „ A n s t r e n g u n g des B e g r i f f s " (um einmal ausnahmsweise mit Hegel zu reden), die das B e f o l g e n eines allenfalls typischerweise zweckmäßigen Schemas erspart, dem Studierenden tatsächlich erspart werden sollte. K o m m t es doch gerade d a r a u f an, dem Studierenden immer wieder Gelegenheit zur Entwicklung v o n Lösungsstrategien bei der Behandlung konkreter Problemlagen zu bieten. Vollends verkennt ein Schematismus seine Grenzen dann, wenn er die D o g m a t i k v o n Rechtsgebieten sowie die Struktur v o n Rechtsfiguren — wie eben des Verbrechens — ebenso unbemerkt wie wirkungsvoll zu determinieren beginnt.



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b Nicht aber die Brücke zwischen kriminalpolitischer Theorie und praktischer Kriminalpolitik. Das liegt nicht etwa daran, daß sich die Kriminalpolitik um eine Konzeption ihrer selbst nicht kümmerte; es liegt vielmehr daran, daß es diese Konzeption noch nicht gibt. Vor allem Entscheidungen über Kriminalisierung und Entkriminälisierung Treffende Beschreibung bei Lange, Rätsel Kriminalität, S. 24 f. Vgl. etwa Rätsel Kriminalität, S. 97 f.; Strafrechtsreform, S. 91 ff. 3 9 Desiderat bleibt freilich ein genaueres Integrationsmodell philosophischanthropologischer und empirisch-kriminologischer Daten. 4 0 Diese Folgen müssen freilich bewertet werden. Insofern kann von einer Überlagerung der kriminalpolitischen zugunsten der kriminologischen Theorie keine Rede sein. D a z u ausführlicher weiter im Text unter 4 c dd. 4 1 Idi würde bei dem Versuch einer Begründung darauf abstellen, daß sich die Gesetze „plausibler" Argumentation bzw. der Akzeptation von Entscheidungen bzw. gesellschaftliche „kognitive Schemata" (dazu Habermas, Wahrheitstheorien, in: Wirklichkeit und Reflexion. Festschrift für W. Schulz, 1973, S. 246) geändert haben. Freilich muß man auch diese Veränderungen wiederum auf deren Determinanten hin befragen. 37

38

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(wie z . B . bei der Reform der Sexualdelikte oder des § 2 1 8 42 ), über den Einsatz strafrechtlicher Sanktionen (wie z. B. bezüglich Umfang und Ausgestaltung des Geldstrafensystems 43 ) sowie über die Transposition von Straf- und Strafrechtszielen in das StGB und die StPO (wie z. B. bei der radikalen Verschärfung materiellen und formellen Strafrechts im Blick auf anarchistische Gewalttäter) folgen nicht aus einer Konzeption, sondern aus alltagstheoretischen Vermutungen des Gesetzgebers, aus kurzgeschlossenen „Wertüberzeugungen" und aus Rücksichtnahme auf die (meist empirisch nicht festgestellte, sondern strategisch „eingeschätzte") „öffentliche Meinung". Eine „Tendenzwende" folgt der anderen, sie nimmt ihre Vorgängerin jeweils wieder zurück 44 , und die Kriminalpolitik bildet getreulich ab, was sich innenpolitisch an Machtverschiebungen zwischen den politischen Parteien sowie zwischen den Parlamenten einerseits und konfliktfähigen gesellschaftlichen Gruppen andererseits registrieren läßt. Das hat u. a. die Konsequenz, daß sich dogmatische Rechtswissenschaft und Rechtsprechung immer häufiger mit Fragen konfrontiert sehen, die der Strafgesetzgeber konstant hätte beantworten müssen, daß sie folglich immer intensiver kriminalpolitisch argumentieren 45 — um so mehr, als der Gesetzgeber nicht nur in inhaltlichen Entscheidungen, sondern auch in der Wahl seiner Entscheidungskriterien (Alltagstheorien, „Wertüberzeugungen", „öffentliche Meinung") inkonsistent ist 46 . Es wäre nun freilich naiv anzunehmen, eine ausgearbeitete kriminalpolitische Theorie könne die Kriminalpolitik konstant halten. 42 Dazu jetzt Rüpke, Schwangerschaftsabbruch und Grundgesetz. Frankfurt am Main 1975. 43 Dazu jetzt treffend Naucke, Tendenzen in der Strafrechtsentwiddung. Karlsruhe 1975, S. 6 ff. 44 Vgl. etwa die wechselhafte Geschichte des kriminalpolitisch hoch bedeutsamen Rechts der Untersuchungshaft; ich habe sie in meinem Buch Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 80 ff., unter Gesichtspunkten einer kriminalpolitischen Theorie analysiert. 45 Vgl. auch die ähnliche Einschätzung von Naucke, Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, S. 52 ff.; ausführlicher und mit Beispielen meine Arbeit Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 199 ff. 46 Mit aller Vorsicht dürfte vermutet werden, daß bei der Reform der Sexualdelikte Wertüberzeugungen von einem „humanen" oder „modernen" Strafrecht, bei der Ausdehnung des Geldstrafensystems alltagstheoretische Vermutungen über die spezial- und generalpräventive Wirkung von Freiheits- versus Geldstrafe auf finanziell potente Tätergruppen und bei der aktuellen „Effektuierung" des Strafrechts gegen anarchistische Gewalttäter die Rücksicht auf die „öffentliche Meinung" im Vordergrund standen und entscheidungsleitend waren. Es wäre ein vielversprediender Ansatz zu einer empirisch gestützten kriminalpolitischen Theorie, könnte man solche und strukturgleiche Vermutungen durch eine methodisch solide Textanalyse der relevanten Materialien überprüfen.

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Natürlich werden die gerade erwähnten derzeit brisanten Entscheidungen zu Kriminalisierung und Entkriminalisierung und zum Sanktionenkatalog weiterhin Ergebnisse politisch durchgesetzter Freiheitsund Ordnungsvorstellungen sein. Sieht man jedoch genauer zu, so zeigen sich zwei Aspekte, welche die fundamentale Bedeutung einer anspruchsvollen kriminalpolitischen Theorie für die Praxis des Gesetzgebers erkennen lassen. Zum ersten: Der Bereich, in dem Entscheidungen nicht durch argumentative Auseinandersetzung, gemeinsames Lernen und Konsens über gewünschte Folgen, sondern vielmehr dadurch getroffen werden, daß sich „Wertüberzeugungen" mehrheitlich durchsetzen, ist um so größer, je weniger man über die Phänomene weiß, die zur Entscheidung anstehen, und je weniger Einigkeit über die Abfolge von Entscheidungsschritten erzielt werden kann 47 . Die kontroverse Durchsetzung von Wert- bzw. Zielpräferenzen ist im idealen Fall ein relativ spätes Stadium von kriminalpolitischen Entscheidungsprozessen, dem Informationen über die relevanten Phänomene, Konsens über ihre Einschätzung und über den Modus des sie betreffenden Entscheidungsverfahrens vorausgehen können. J e weniger es gelingt, Entscheidungsprozesse zu zerkleinern, Folgen von Entscheidungen zu differenzieren und einzeln zu bewerten sowie das eigentliche Präferenzproblem zu isolieren, desto geringer ist die Chance von Konsens und desto größer ist die Gefahr, daß Diagnose- und Präferenzschritte durcheinandergehen: daß das „gesamte" Entscheidungsproblem zu einer Frage kontroverser „Wertüberzeugungen" wird. Dies ist das Erscheinungsbild aktueller theorieloser Kriminalpolitik. Am Beispiel: Wem zur Entkriminalisierung der nicht-qualifizierten männlichen Homosexualität nicht mehr einfällt als daß die entsprechenden Strafbestimmungen antiquiert, inhuman und ohne die Legitimation eines Rechtsgüterschutzes sind, der kann nur auf ein politisches Klima hoffen, in dem sich mehrheitlich dieselben Vorstellungen über Modernität, Humanität und Rechtsgutsprinzip durchsetzen; er muß zugleich vor einer entsprechenden „Tendenzwende" bangen, die seine Kriminalpolitik falsifizieren dürfte. Das Präferenzproblem ist durch die Begriffe der Modernität, der Humanität und des 4 7 Ausführliche Entwicklung dieser Erkenntnis und Erprobung am Beispiel des Kartellstrafrechts bei Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle. Abduktion und Falsifikation von Hypothesen im juristischen Entscheidungsprozeß. Frankfurt am Main 1972, vgl. insbes. S. 72 ff. 4 8 Ich habe in meinem Buch Theorie und Soziologie des Verbrechens versucht, das Problem des Rechtsgüterschutzes über die aufgeführte Begrifflichkeit hinaus unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten zu rekonstruieren, vgl. vor allem S. 192 ff.

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Rechtsgutsprinzips verdedkt, das Entscheidungsproblem kann nur „im ganzen" verhandelt und gelöst werden 48 . Zum zweiten: Eine kriminalpolitische Entscheidung ist um so weniger kontrollierbar, je weniger sie über die für sie relevanten Entscheidungsdaten explizit mitteilt und je undurchsichtiger bzw. schlechter strukturiert ihr Prüfverfahren ist. Im schlimmsten Fall kann man dem Entscheidungsergebnis nur beitreten oder es bekämpfen. Im idealen Fall wird es nach Voraussetzung und Verfahren prüfbar. Eine kriminalpolitische Theorie hätte hier dieselbe Leistung zu erbringen, wie man sie etwa von der dogmatischen Rechtswissenschaft verlangt: „intellektuell überprüfbare und öffentlich einsichtige Kriterien für die Handhabung des Bewertungsspielraums anzugeben 49 ", so wie ihn der Strafgesetzgeber sieht. Nur wenn ein solches Argumentationsmuster existiert, hat es Sinn, kriminalpolitische Entscheidungen schon vom Verfahren her zu kritisieren und darauf zu dringen, daß Gesetze kriminalpolitischer Theorie befolgt werden.

Nachdem die Beziehungen kriminalpolitischer Theorie zu Kriminologie und Kriminalpolitik absehbar sind, wird es möglich, aus diesen einige Schlußfolgerungen abzuleiten, die für eine kriminalpolitische Theorie als verbindlich gelten können. aa) Kriminalpolitische Theorie muß erreichen, daß kriminalpolitische Behauptungen überprüfbar werden. Sie muß deshalb ein strafgesetzgeberisches Argumentationsmuster ausarbeiten, in dem empirische Feststellungen von normativen Setzungen klar unterschieden werden können und mit dessen Hilfe die Grenzen heutigen empirischen Wissens gegenüber Einschätzungen und Prognosen erkennbar werden. Diese Forderung mag trivial klingen; sie ist aber beim aktuellen Zustand kriminalpolitischer Theorie und Praxis höchst bedeutsam und folgenreich. Seit der Strafgesetzgeber die Folgen seiner Entscheidungen wenigstens argumentativ mit einzubeziehen pflegt, zeichnen sich seine Begründungen durch ein Gemenge dreier heterogener Elemente aus: Behauptungen über jetzige Wirklichkeit, Prognosen künftiger Wirklichkeit (meist als prognostizierte Wirkungen der zu begründenden kriminalpolitischen Entscheidung) sowie Bewertungen jetziger Dies kann allerdings nur als kleines Teilstück einer kriminalpolitischen Theorie gelten. 4 9 So Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: Hermeneutik und Dialektik. Festschrift für Gadamer (ed. Bubner u. a.). Tübingen 1970, Bd. II, S. 316.

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und künftiger Wirklichkeit. Jedes dieser Elemente verlangt differente Prüfverfahren, wenn es im Kontext verstanden und auf seine Richtigkeit hin kontrolliert werden soll. Eine kriminalpolitische Entscheidung, die Feststellung eines Zustandes, Prognose von Wirkung und die „Wertüberzeugungen" des Entscheidenden vermischt, entzieht sich weithin nicht nur wissenschaftlicher, sondern auch demokratischer Kontrolle. Kriminalpolitische Theorie könnte ihre Aufgabe damit beginnen, diese drei Elemente in Begründungen kriminalpolitischer Entscheidungen zu isolieren und von da aus Schritt für Schritt konkretisierte Argumentationsgesetze zu entwickeln. Am Beispiel: Spätestens seit dem 1. StrRG spielt der Minderjährigenschutz im Sexualstrafrecht eine zentrale Rolle. Eine kriminalpolitische Entscheidung, die sich auf dieses Rechtsgut beruft, kann damit argumentativ in sehr verschiedener Weise umgehen. Sie kann etwa die Verführung Minderjähriger als besonders verwerflich bezeichnen, sie kann aber auch Schäden beim Minderjährigen durch Verführung behaupten, und sie kann sich — dies der Normalfall — auf beides zugleich stützen. Nach dem Vorangegangenen ist klar, daß jedes dieser Argumente different begründet werden muß: Stützt sich der Gesetzgeber (auch) auf Verwerflichkeitsvorstellungen „der" (welcher?) Bevölkerung, und wie hat er sie festgestellt? Aus welchem normativen Rahmen rechtfertigt sich die Verwerflichkeitsvorstellung des Gesetzgebers selber? Welche Schäden werden für welche Opfergruppen nach welchen Tatsituationen behauptet bzw. vorausgesagt, und auf welche Erkenntnis stützen sich diese Behauptungen bzw. Prognosen? Wird mit der kriminalrechtlichen Sanktion (nur) Unrechtsvergeltung oder (auch) Rechtsgüterschutz bezweckt? Wenn beide Zwecke verfolgt werden: Sind sie im konkreten Fall miteinander vereinbar, oder verhindert der eine die Erreichung des anderen? Wenn (auch) Rechtsgüterschutz bezweckt wird: Warum und wie wird gerade von einer (und warum von dieser?) kriminalrechtlichen Sanktion Rechtsgüterschutz erwartet? Welche anderen Steuerungsmittel bzw. „flankierenden Maßnahmen" wurden gesehen, und warum wurden sie abgelehnt?, usw. Fragen dieser Art sind für den Strafgesetzgeber in der aktuellen Situation fast sämtlich nicht zu beantworten. Er weiß die Antwort nicht, und es ist bei vielen Fragen noch nicht einmal mit einiger Sicherheit absehbar, ob und wann er die Antwort wissen wird. Die Aufgabe kriminalpolitischer Theorie kann deshalb derzeit nicht darin liegen, auf einer Aussetzung der Strafgesetzgebung bis zu dem Zeitpunkt zu bestehen, wo die Grundlagen dieser Gesetzgebung geklärt sind. Sie kann und muß aber darauf bestehen, daß die Grenzen relevanten Wissens aufgedeckt werden und daß dann eine Verhandlung über die

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Frage stattfindet, ob eine Kriminalisierung aufgrund dieses begrenzten Wissens verantwortet werden kann („in dubio pro Übertäte"). Das aber kann sie nur, wenn mit ihrer Hilfe zuvor geklärt ist, wo der Mangel relevanten Wissens durch das Bekenntnis zu Werten verkleistert worden ist. Denn erst wenn absehbar ist, wo sich der Strafgesetzgeber zu Recht auf Wissen beruft und wo er es bei dem Ausdruck von Uberzeugung belassen muß — und genau das scheint mir das Dilemma derzeitiger Kriminalpolitik zu sein — , kann man mit dem Prinzip „in dubio pro übertäte" praxisnah und mit der Hoffnung auf praktische Konsequenzen argumentieren. Dies ist im übrigen ein Punkt, an dem die Verarbeitung kriminologischer Erkenntnisse in einer kriminalpolitischen Theorie sehr spezifisch und differenziert geleistet werden kann. bb) Kriminalpolitische Theorie muß die Beziehungen der Kriminalpolitik zu anderen Steuerungsmitteln sozialer Kontrolle aufarbeiten. Wenn man eine Konstante in der bisherigen kriminologischen Diskussion feststellen kann, dann ist es die Behauptung über die begrenzte Rolle der Kriminalpolitik bei der Verarbeitung sozialer Konflikte aus Abweichung. Ich habe oben 50 kursorisch gezeigt, welche verschiedenen und verschiedenartigen Phänomene die kriminologischen Theorien als „Ursachen des Verbrechens" isolieren und wo sie folglich Veränderungs- und Steuerungsbedingungen sehen. Niemand wird in Kenntnis dieser Phänomene behaupten können, Kriminalpolitik sei das einzige oder auch nur das am besten geeignete Mittel zur Steuerung der schweren („rechtsgutsverletzenden") Abweichung. Von diesen Erkenntnissen macht die Kriminalpolitik bislang keinen Gebrauch 51 . Sofern sich die Begründungen kriminalpolitischer Entscheidungen überhaupt zur Frage der Sanktionierung einlassen, überschreiten sie das Feld strafrechtlicher Überlegungen nicht. Das ist kaum zu verstehen. Denn wenn man, wie es ja ganz allgemeine Ansicht ist, den „Schutz der Rechtsgüter" oder gar die „Eindämmung des Verbrechens" will, dann muß man die Mittel der Zielerreichung auf breitester Grundlage in die Überlegungen miteinbeziehen und darf sich den Erfolg nicht von vornherein dadurch verbauen, daß man nur

U n t e r 3 b undc. Rühmliche A u s n a h m e e t w a der Alternativ-Entwurf mit seinen Überlegungen zu nicht-strafrechtlichen rechtsgutsschützenden M a ß n a h m e n bei der Sdrwangerschaftsunterbrediung; vgl. A E - B T . S t r a f t a t e n gegen die Person I, Gesetzestexte und Begründungen (ed. Jürgen Baumann u. a.). Tübingen 1 9 7 0 , S. 2 4 ff., 3 7 ff. Ähnliche Tendenzen verfolgt auch der (Alterriativ-)£«itt>«>'/ eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl (ed. Gunther Arzt u. a.). Tübingen 1 9 7 4 , vgl. v o r allem S. 9 f. 50

51

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in einer Richtung, nämlich der kriminalrechtlichen, sucht, während das einschlägige Wissen von ganz anderen Steuerungsmitteln spricht. Fruchtbarster Ansatzpunkt für eine kriminalpolitische Theorie scheint mir unter diesem Aspekt das Phänomen der „Generalprävention zu sein 52 . Der Topos bezeichnet auf der einen Seite die hier gemeinte Aufgabe (faktische Wirkung der Kriminalpolitik auf künftige schwere Abweichung), auf der anderen Seite aber schottet er kraft Herkommens eine kriminalpolitische Theorie vor weiterführenden Fragen ab (die generalpräventive Wirkung der Strafrechtspflege wird immer behauptet, aber nie geprüft). Eine zureichende Beschäftigung mit der Generalprävention muß sich von der Fessel befreien, die in der vorgängigen Legitimationsfunktion dieses Topos liegt, sie muß den generalpräventiven Anspruch prüfen. Dies ist jedoch so lange ohne jede Aussicht auf Erfolg, als man — wie bisher — nach der generalpräventiven Wirkung „der" Strafrechtspflege fragt. Für diese Frage gibt es keine experimentelle Situation, und es ist darüber hinaus zu erwarten, daß differente Teilbereiche der Strafrechtspflege ganz differente generalpräventive Wirkungen haben — ja, daß die Frage der Generalprävention jeweils ganz anders gestellt werden muß. Anders ist die Forschungslage jedoch, wenn kriminalpolitische Theorie von den Angeboten der Kriminologie Gebrauch macht, also — Strafrechtspflege als ein Steuerungsmittel neben anderen begreift; — Abweichungs- und Abweichertypen auseinanderhält und — den differenten Typen differente Steuerungsmittel zuweist. Sollte das auch nur bis hin zu einer Theorie mittlerer Reichweite gelingen, so sind doch wichtige Folgen für die Kriminalpolitik zu erwarten. Man wäre nicht nur imstande, auf kriminelle Abweichung differenzierter und mit besseren Erfolgsaussichten zu reagieren (und würde so die aktuelle Tendenz der Strafrechtspflege zur Individualisierung 53 in rational prüfbaren Einzelschritten entwerfen können), sondern würde längerfristig auch eine Entkriminalisierung erwarten dürfen, die sich nicht auf „Modernität" ö. ä., sondern auf Instrumente sozialer Kontrolle berufen könnte, die den jeweiligen Abweichungskonflikt besser und mit weniger Folgeschäden verarbeiten als die Strafrechtspflege.

6 2 Eine Fülle weiterführender Konzepte findet sich in der nodi nicht veröffentlichten Münchner Habilitationsschrift von Bernhard Haffke über „Tiefenpsychologie und Generalprävention". 5 3 Vgl. wiederum Naucke, Tendenzen in der Straf rechtsentwicklung, S. 5, 25, 40 ff.

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ccj Vielleicht die derzeit wichtigste Konstante kriminalpolitischer Theorie ist die Notwendigkeit, neben dem Phänomen der Kriminalität das Phänomen der Kriminalisierung zu verarbeiten. Das setzt zuerst einmal voraus, daß die Erkenntnisse des symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie und des labeling approach rezipiert werden. Bedeutsamer ist aber — und das will ich hier skizzieren — deren Umsetzung in kriminalpolitische Kategorien. Die These der „Definitionsansätze", Kriminalität sei nicht das Ergebnis von isolierbaren kriminogenen Faktoren, sondern sei gesellschaftliche Zuschreibung des Merkmals „kriminell" gegenüber bestimmten Individuen und Gruppen, gibt in dieser Fassung für eine kriminalpolitische Theorie nichts her. Denn so sagt sie nur, Kriminalpolitik sei ein Stigmatisierungsinstrument unter anderen. Eine Konzeption von Kriminalpolitik muß das — und die zahlreichen konkretisierenden Untersuchungen zu Definitionsmechanismen der einzelnen Instanzen der Strafrechtspflege — zur Kenntnis nehmen. Will sie es aber theoretisch verarbeiten, so muß sie doch wiederum nach „Faktoren" fragen, also nach Determinanten, die Zuschreibungsprozesse bedingen. Agenten informeller und formeller sozialer Kontrolle handeln vermutlich nicht zufällig, sondern funktional. Diese Funktionen54 müssen Gegenstand einer kriminalpolitischen Theorie sein. Werden die Definitionsansätze in dieser Richtung weitergedacht, so versprechen sie in der Tat eine zureichende Konzeption von Kriminalpolitik. Denn der labeling approach und die ihm verwandten Theorien behaupten ja nicht weniger, als daß sie kriminalpolitisches Handeln hintergründig beschreiben. Kriminalpolitik wäre also mit einer kriminologischen Theorie ihrer selbst konfrontiert. Über diese strukturale Einsicht hinaus zwingen die Definitionsansätze dazu, beim Phänomen Kriminalität „die andere Seite der Medaille" zu reflektieren, indem sie den Aspekt der Kriminalisierung in den Vordergrund stellen. Gleichgültig, zu welchen vorläufigen Ergebnissen die gerade erst begonnene Diskussion führen wird, so ist doch eine Konstante klar: Die Kriminalpolitik ist an der Kriminalität produktiv beteiligt. Sie bildet nicht ab, was „immer schon" und frag5 4 Vorsichtige A n s ä t z e einer solchen Fragestellung jetzt bei Meudt, Stigmatisierung sozialer Abweidier als Identitätsstrategie, in: Soziale Welt 26 (1975), 4 5 — 5 7 . Meudt versucht, mit Modellen aus Psychoanalyse, symbolischem Interaktionismus und Behaviorismus zu zeigen, d a ß Stigmatisierung eine Strategie z u m Schutz bedrohter Identität sei. Ich vermute, d a ß über einen solchen A n s a t z hinaus die „klassischen" Funktionen v o n K r i m i n a l p o l i t i k wie Abschreckung, Schutz und Durchsetzung v o n f ü r die Gesellschaft lebenswichtigen N o r m e n , E i n d ä m m u n g des Verbrechens, Verteidigung der Rechtsordnung definitionstheoretisch rekonstruierbar sind.

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los kriminelle Abweichung ist, sondern wählt strategisch unter alternativen Definitionen. Diese „Wahl" hat ihre Determinanten, und sie hat ihr Verfahren 55 . Übersieht man dies, so verzerrt man die Wirklichkeit kriminalpolitischen Handelns und verstellt sich letztlich die Möglichkeiten, alternative Kriminalpolitik mit Gründen zu entwerfen. dd) Die bis hierhin entwickelten Konstanten kriminalpolitischer Theorie verdanken sich vor allem dem Forschungsstand der Kriminologie 56 . Ein letztes Datum steht im Zusammenhang mit dem Strafrechtssystem und der Kriminalpolitik 5 7 : Kriminalpolitische Theorie hat die Prinzipien auszuarbeiten und zu integrieren, welche die Kriminalpolitik aus den übrigen Instanzen sozialer Kontrolle herausheben und sie legitimieren 58 . Eine Konzeption von Kriminalpolitik, die sich einlinig auf „Eindämmung des Verbrechens" oder „effektive soziale Kontrolle mit den Mitteln des Strafrechtssystems" richtet, ist spezifisch verkürzt. Sicherlich hat Kriminalpolitik, wie andere Instanzen sozialer Kontrolle auch, die Funktion von „Verbrechensbekämpfung" bzw. Abweichungskontrolle, und diese Funktion ist Datum kriminalpolitischer Theorie. Sie macht aber nicht das Spezifikum von Kriminalpolitik aus. „Gerechtigkeit", „Gleichbehandlung von Fällen", „Magna Charta des Verbrechers", in dubio pro libertate", „Rückwirkungsverbot", „gesetzlicher Richter", „Gesetzesbindung", „Waffengleichheit im Verfahren" — diese und ähnliche Prinzipien gehören zum Selbstverständnis der Strafrechtspflege, aber sie sind noch nicht kriminalpolitisch rekonstruiert. Offensichtlich aber „binden" sie kriminalpolitisches Handeln. Für eine Konzeption der Kriminalpolitik kann es nicht ausreichen, diese Grundsätze hinzunehmen — etwa weil sie verfassungsrechtlich verankert sind — und an ihnen die Grenzen möglicher Kriminalpolitik, etwa der „Verbrechensbekämpfung", zu markieren, sie lediglich als restriktive Bedingungen „effektiver" Verbrechensverfolgung zu tolerieren.

5 5 Vgl. etwa Gusfield, Symbolic Crusade. Status Politics and the American Temperance Movement. Urbana 1963; Treiber, Widerstand gegen Reformanstalten — Die Vetomacht der „institutionellen Opposition" der politischen Repräsentanten, in: Steinen (ed.), Der Prozeß der Kriminalisierung. München 1973, S. 8 1 — 1 0 4 . 5 6 Vgl. oben unter 4 a. 5 7 Vgl. oben unter 4 b. 5 8 Da die Prinzipien an anderer Stelle (vgl. Theorie und Soziologie des Verbrechens, bes. S. 194 ff.; Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, bes. S. 133 ff.) im einzelnen dargelegt sind, kann ich mich hier darauf beschränken, ihre Funktion für eine kriminalpolitische Theorie zu zeigen.

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Kriminalpolitische Theorie muß diese Prinzipien nicht als restriktive Daten von Kriminalpolitik rekonstruieren, sie muß erweisen, daß mit der wachsenden Mißachtung dieser Grundsätze auch die Legitimation der Strafrechtspflege entfällt. Spezifikum von Kriminalpolitik gegenüber anderen Instanzen sozialer Kontrolle ist nicht ihre so verstandene „Effektivität", sondern ihre Verrechtlichung, die Formalisierung der Abweichungskontrolle; „effektive" Sozialkontrolle kann von rechtlich nicht gebundenen Instanzen wesentlich nachdrücklicher gewährleistet werden. Solange die genannten Prinzipien einer kriminalpolitischen Theorie nur als restriktive Bedingungen von Kriminalpolitik verstehbar sind, muß erwartet werden, daß sie in Zeiten, denen es — aus welchen Gründen auch immer — auf „effektive Verbrechensbekämpfung" ankommt, bald außer Funktion geraten.

Was ist eigentlich kritisch an der „kritischen Kriminologie"? GÜNTHER KAISER

I.

Der Trend zur Polarisierung in Gesellschaft und Wissenschaft hat auch die Kriminologie nicht verschont. Deren pluralistisches System ist für neue Strömungen wahrscheinlich besonders offen und empfänglich. So hat sich in den ersten 70er Jahren international eine Reihe vorwiegend jüngerer Kriminalsoziologen zu einer Richtung zusammengefunden, die sich „neue", „radikale" oder „kritische" Kriminologie nennt1. Zu fragen ist, ob es sich dabei nur um eine weitere der zahlreichen Gegenwartsströmungen kriminologischen Denkens handelt, welche die bisherigen Kontroversen noch vermehrt, oder um eine zukunftsträchtige Richtung, die uns eine „kopernikanische Wende" 2 ankündigt? Zwar gehört zu ihrem Ausgangspunkt erwartungsgemäß die Kritik an der „alten" Kriminologie. Ob aber diese Kritik begründet ist, und die „neue" Kriminologie überdies den beabsichtigten „positiven Konsensus" findet, d. h. eine gemeinsame theoretische Grundlage, erscheint immerhin zweifelhaft. Deshalb sollen einige der Fragen näher untersucht werden. Es entspricht normaler Wissenschaftsentwicklung, wenn von Zeit zu Zeit die alten Denkstrukturen fragwürdig werden und zerbrechen. So spiegelt auch kriminologisches Denken heute den Aufgaben- und Theorienwandel im letzten Jahrzehnt wider. An Zweifeln, wachsender Kritik und Neuentwürfen werden die Veränderungen sichtbar. Dabei kann das Attribut „kritisch" natürlich nicht meinen, daß die Kritik erst mit der dahingehenden Selbsteinschätzung einer Denkrichtung entstanden ist. Vielmehr kennzeichnet es nur eine Phase innerhalb der Wissenschaftsentwicklung. Derartige Veränderungen 1 Vgl. Kaufmann, H.: Kriminologie zum Zweck der Gesellschaftskritik? JZ 27 (1972), 78—91; Opp, K.-D.: Die „alte" und die „neue" Kriminalsoziologie. Eine kritische Analyse einiger Thesen des labeling approach. K r i m J 4 (1972), 32—52; Arbeitskreis Junger Kriminologen (abgekürzt: A J K ) : Zu einem Forschungsprogramm für die Kriminologie. KrimJ 5 (1973), 241—259; ders. (Hrsg.): Kritische Kriminologie. Beiträge zu einer Standortbestimmung. München 1974, 7 ff.; Kaiser, G.: Kriminologie. 2. Aufl. Karlsruhe 1973, 127; ders., Stand und Entwicklung der kriminologischen Forschung in Deutschland. Berlin, New York 1975, 27 ff. 2 Mannheim, H.: Pioneers in Criminology. London 1960, 15.

Günther Kaiser

522

pflegt m a n neuerdings in A n l e h n u n g a n Kuhn auszudrücken 3 .

als

Paradigmawechsel

Wohl erscheint zweifelhaft, ob solche Wandlungen durchweg von F o r t schritten der Erkenntnis und von Neuentdeckungen begleitet sind. Immerhin veranlaßt der Paradigmawechsel die Wissenschaftler, die Welt ihres Forschungsbereiches mit anderen Augen zu betrachten. Man kann sagen, daß sie nunmehr für eine andere Welt empfänglich geworden sind. Mit diesem Vorgang ändern sich gleichzeitig Sprache und Begriffe, Problemstruktur und Normen der wissenschaftlichen Arbeit 4 . Die berühmten „drei berichtigenden Worte des Gesetzgebers", die „ganze Bibliotheken . . . zu Makulatur" werden lassen 5 , finden also wissenschaftlich im Paradigmawechsel ihre Entsprechung. Lehrbücher als das pädagogische Vehikel für das Fortbestehen der normalen Wissenschaft müssen dann ganz oder teilweise neugeschrieben werden. Ein Teil des Wettstreits zwischen den rivalisierenden Paradigmata geht um die Gefolgschaft der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, der nicht durch Beweise entschieden werden kann 6 . Dies gilt auch für die K r i m i n o l o g i e . I m L a u f e ihrer Wissenschaftsgeschichte ist w i e d e r h o l t

die neue K o n z e p t i o n

gefordert,

vermutet

u n d beschrieben w o r d e n 7 . D a s S p e k t r u m reicht v o n den „neuen H o r i z o n t e n " i m Sinne Ferris Kriminologie"

von

u n d Barnes/Teeters8 Schlapp/Smith

bis zu der jeweils „neuen

und

D a r a n l ä ß t sich überdies erkennen, d a ß „neue

Taylor/Walton/Young9. Kriminologie"

nicht

erst eine Bezeichnung der 7 0 e r J a h r e ist. V i e l m e h r w i r d deutlich, d a ß fast jede G e n e r a t i o n mit

„ i h r e r " K r i m i n o l o g i e a u f t r i t t , die sie als

„ n e u " u n d selbstverständlich „kritisch" begreift. S o brach auch E n d e d e r 6 0 e r J a h r e in der kriminologischen Diskussion der B u n d e s r e p u blik ein Streit aus, der in seiner Grundsätzlichkeit u n d H e f t i g k e i t alle Kuhn, Th.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M. 1973. Kuhn, Th.: a. a. O. (Anm. 3), S. 150, 182. 5 v. Kirchmann, ].: Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848). Sonderausgabe Darmstadt 1966, 24. 6 Kuhn, Th.: a. a. O. (Anm. 3), S. 183, 192, 196. 7 Vgl. Mannheim, H.: a . a . O . (Anm. 2), S. 1 ff.; Jeffery, C.: The Historical Development of Criminology. In: Pioneers in Criminology, ed. by H. Mannheim. 2nd Ed. Montclair/N. J. 1972, 458—498. 8 Ferri, E.: I nuovi orizzonti del diritto e della procedura penale. Bologna 1881; Barnes, H., Teeters, N.: New Horizons in Criminology. 1st Ed. Englewood Cliffs/N. J. 1943, S. X : "The title of the book . . . does not imply for a moment that the authors believe that they alone have discovered the need for a new attitude toward crime or have been the first to portray the essentials of the current revolution in criminology". 9 Schlapp, M., Smith, E.: The New Criminology. A Consideration of the Chemical Causation of Abnormal Behaviour. New York 1928; Taylor, J., Walton, P., Young, ].: The New Criminology. For a Social Theory of Deviance. London 1973. 3 4

Was ist eigentlich kritisch. an der „kritischen K r i m i n o l o g i e " ?

523

bisherigen kriminologischen Erörterungen in der Nachkriegszeit in den Schatten stellte 10 . Die Kontroverse wurde von einer Richtung ausgelöst und genährt, die Bezeichnungen wie „labeling approach" ebenso abdeckt wie „neue", „kritische" oder „radikale" Kriminologie. Manche Wissenschaftler sprechen wegen der so entschieden veränderten Lage neuerdings auch von der „verunsicherten Kriminologie" 11 , was sicherlich ein Nahziel der jungen Kritiker erfüllt. Kaum weniger als der sogenannte Paradigmawechsel, zum Teil als Ausdruck konkurrierender Kompetenzansprüche verschiedener Berufsgruppen und Generationen, dient wahrscheinlich die Aufnahme von „Kriminologie, Jugendstraf recht, Strafvollzug" als Wahlfachgruppe in die juristische Ausbildung als Antriebskraft kriminologischen Denkens der Gegenwart. Nicht zuletzt deshalb scheinen sich die Unterschiede zwischen den kriminologischen Lehrbüchern in Grundposition und Systematik stärker hervorzuheben als im Inhalt der behandelten Aspekte. Mögen sich in der Kriminologie nunmehr auch integrative Tendenzen zu einer Hauptströmung verstärken 12 — sei es durch den Ubergang einst rebellischer Jungkriminologen ins Establishment oder sei es durch den „Zwang" zur Kanonisierung kriminologischen Wissens für die juristische Ausbildung —, so liefern doch in der gegenwärtigen Situation die Anhänger jener Richtung, die sich „kritisch" nennt, noch immer Anregung und Neuerung. Dabei versteht es sich von selbst, daß die „kritische" Kriminologie nicht auf das Bundesgebiet beschränkt bleibt, vielmehr einer internationalen Strömung folgt, der sie auch die Etikettierung entnimmt. Freilich kann festgestellt werden, daß sich publizistische Beiträge zur Kritik traditioneller Kriminologie und Versuche, Gegenmodelle zu entwickeln, vor allem im angloamerikanischen und nordwesteuropäischen Bereich häufen. Die Gründung einer „ U n i o n of Radical Criminologists" in den U S A 1 3 sowie der „European G r o u p for the S t u d y of Deviance and Social C o n t r o l " 1 4 und die Neuformulierung der Ziele des „Arbeitskreises junger Kriminologen" 1 5 im Bundesgebiet belegen dies. Sie sind Indikatoren für eine Grundauffassung, die sich bezogen auf die von ihnen so apostro10 Kaufmann, H.: V o r w o r t zu W. R ü t h e r : Abweichendes Verhalten und „labeling a p p r o a c h " . K ö l n u. a. 1975, V ; Sessar, K.: M o d e r n e T e n d e n z e n in der deutschen Kriminologie, ö s t e r r . J Z 30 (1975), 59 ff. (60). 11 Mergen, A.: Verunsicherte Kriminologie. H a m b u r g 1975, insb. S. 9 ff. 12 Kaufmann, H.: V o r w o r t . A. a. O . (Anm. 10), S. V . 1 3 Siehe d a z u die E r k l ä r u n g zur G r ü n d u n g einer U n i o n of R a d i c a l Criminologists v o n Schwendinger, H.: R a d i c a l C r i m i n o l o g y . K a p i t a l i s t a t e 1 (1973), 3 9 ; Reasons, Ch.: T h e " O l d " and the " N e w " C r i m i n o l o g y . A m J C r i m . 65 (1975), 560. 14 Humphries, D.: R e p o r t on the C o n f e r e n c e of the E u r o p e a n G r o u p f o r the S t u d y of D e v i a n c e and Social C o n t r o l . C r i m e a n d Social Justice 1 (1974), 11—17. 15 AJK: Kritische Kriminologie, a. a. O . (Anm. 1), S. 7 ff.

524

Günther Kaiser

phierte „alte", „traditionelle" gegensätzlich und neu begreift.

oder

„Behandlungs"-Kriminologie

als

Gleichwohl wurden die Schwächen der traditionellen Kriminologie nicht erst von den „kritischen" Kriminologen der Gegenwart entdeckt. Ehe die neue Richtung Publizität und mit ihr Gestalt gewinnen konnte, wurde die „alte" Kriminologie bereits von Riebard Lange wiederholt und unnachsichtig kritisiert 1 6 . Die Einwände des Jubilars richteten sich vor allem gegen die veralteten Begriffe der traditionellen Kriminologie, deren Anlage-Umwelt-Modell, Kausaldogma und positivistische Verbrechensbetrachtung 17 . Ferner zielte seine Kritik gegen die Beschränkung auf die Spezialprävention und gegen die Ausklammerung der Generalprävention 1 8 . Gerade hierbei handelt es sich um einen Forschungsgegenstand, der international zunehmend Bedeutung gewinnt 1 9 , ein Trend, von dem allerdings die „kritische" Kriminologie noch nichts weiß. Kann man dem Jubilar vielleicht auch nicht in allen seinen Ansichten folgen 20 , so läßt sich doch heute nicht verkennen, daß die von Lange bereits vor knapp zwei Jahrzehnten erhobenen Einwände noch immer oder erneut beunruhigend modern anmuten. Er hat damit der Entwicklung weit vorauseilend der Sache nach viel von dem vorweggenommen, was die gegenwärtige Kriminologie beschäftigt. Zu dieser Bewegung haben freilich einem veränderten Zeitgeist folgend auch „labeling approach", „neue" Kriminologie oder neuerdings gar „kritische" Kriminologie beigetragen.

16 Weithin die bisherigen Überlegungen zusammenfassend Lange, R.: Das Rätsel Kriminalität. Was wissen wir vom Verbrechen? Frankfurt/M., Berlin 1970. 17 Lange, R.: Wandlungen in den kriminologischen Grundlagen der Strafrechtsreform. In: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860—1960. Bd. 1. Karlsruhe 1960, 345 ff. (373); ders.: Das juridisch-forensisch-kriminologische Grenzgebiet. Vom Standpunkt des Juristen. In: Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, 5. Bd. München, Basel 1961, 4 0 4 f f . (433, 435); ders.: Das Rätsel Kriminalität, a . a . O . (Anm. 16), S. 325, 342; ders.: Strafrechtsreform. Reform im Dilemma. München 1972, 91 ff.

18

Lange, R.: Wandlungen, a. a. O. (Anm. 17), S. 363; ders.: A. a. O. (Anm. 16),

S. 170. 1 9 Vgl. Kaiser, G.: Die Frage nach der Generalprävention heute. In: Verkehrsdelinquenz und Generalprävention. Tübingen 1970, 351—365; Jescheck, H.-H.: Strafrechtsreform in Deutschland. SchwZSt. 91 (1975), 1—44 (16); Palmer, M.: Andenaes and the Theory of Deterrence. AmJCrim. 66 (1975), 106: " . . . t h e time has arrived for the idea of deterrence." Der Schwedische National Council for Crime Prevention veranstaltete im Hinblick auf die Bedeutung und Notwendigkeit dieser Forschungsfrage im Juni 1975 eine internationale „Conference on General Deterrence". 20 Zur Kritik an seiner Position Kaiser, G.: Moderne Kriminologie und ihre Kritiker. In: Kriminologie — morgen. Hamburg 1964, 63 ff.

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II. Zum Ausgangspunkt, ja „zum polemischen Kontext" vieler Vertreter einer „neuen" Kriminologie gehört die Kritik an der „alten", der „traditionellen" Kriminologie. Die Kritikpunkte richten sich im wesentlichen auf die Veränderung des Gegenstandsbereichs, insbesondere gegen die Beschränkung auf die Untersuchung der Täterpersönlichkeit, ferner gegen den unterstellten gesellschaftlichen Konsensus über Normen und Werte und gegen die legitimationswissenschaftliche Funktion 21 . Darüber hinaus zielen die Anhänger der „kritischen" Kriminologie auf die Aufdeckung der Interessengebundenheit der Instanzen sozialer Kontrolle, die Illegitimierung der herrschenden Normen und Verfahrensweisen in dem Kriminalisierungsprozeß sowie die Neuverteilung der Forschungsressourcen und die Reorganisation der Kriminologie als Wissenschaft22. Die Herausbildung dieser Grundauffassung und des Programms wird ohne die Veränderung der wissenschaftlichen Lage nicht verständlich. Denn bekanntlich ist die Entwicklung der Kriminologie auch in der Bundesrepublik während des letzten Jahrzehnts durch die zunehmende Beteiligung von Sozialwissenschaftlern an kriminologischer Forschung und Theoriebildung deutlich mitbestimmt 23 . Die ehemals nahezu vollständig in den Händen von Juristen und Psychiatern liegende kriminologische Forschung und die Praxisbedürfnissen folgende Täterorientierung wurden daher zunehmend auf dem Hintergrund sozialwissenschaftlichen Erkenntniswandels kritisiert. Vor allem der sich aus der Tradition des symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie ableitende „labeling- oder EtikettiemngsAnsatz hat dazu beigetragen, den als „erkenntnistheoretischen Sündenfall" apostrophierten Mangel der traditionellen Kriminologie 24 be21 AJK: Zu einem Forschungsprogramm, a . a . O . (Anm. 1) S. 241 f.; Clinard, M.: Some Implications of "The New Criminology". IntJCrim. 2 (1974), 85—91 (86ff.); Sykes, G.: The Rise of Critical Criminology. AmJCrim. 65 (1974), 206—213 (208 f.). 22 AJK: Kritische Kriminologie, a . a . O . (Anm. 1), S. 13. Hinsichtlich des Anspruchs auf Neuverteilung der Forschungsmittel und der Reorganisation der gesamten Kriminologie scheint eine deutsche Besonderheit vorzuliegen. 23 So z . B . Sack, F.: Theorie und Praxis der Kriminalsoziologie. In: Kriminalsoziologie, hrsg. v. F. Sack und R. König. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1974, X V I I — X X I I (XVIII); ferner Kaiser, G.: Stand und Entwicklung, a . a . O . (Anm. 1), S. 33, 39. 24 Sack, F.: Kriminalität als gesellschaftliche Legitimierungsproblematik — Kriminologie als Legitimationswissenschaft. In: Institut für Gesellsdiaftspolitik in Wien, Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriminalsoziologie (Hrsg.): Recht und Politik. Wien 1975, 19—31 (24); ferner Peters, D., Peters, H.: Legitimationswissenschaft. Zur sozialwissenschaftlichen Kritik an der Kriminologie und an einem Versuch, kriminologische Theorien zu überwinden. In: A J K (Hrsg.): Kritische Kriminologie. München 1974, 113—131 (116).

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wüßt zu machen. Er rückte demgemäß das Konzept eines wechselseitigen Prozesses in den Vordergrund 25 . Die Diskussion um den labeling approach hat außerdem die theoretische Auseinandersetzung aus einer bloß kriminologie-internen, wissenschaftsbezogenen und methodologischen Kritik herausgeführt. Sie hat im Rahmen sozialwissenschaftlichen Engagements in kriminologischen Fragen überdies soziologisches Selbstverständnis im Sinne einer „Oppositionswissenschaft"26 eingebracht. Erwartungsgemäß löste die Rezeption des labeling approach im Bundesgebiet zeitweise eine heftige Diskussion aus 27 . Die Gegenüberstellung von Täterforschung und sozialem Reaktionsansatz 28 führte dazu, daß eine ungestörte Konzentration auf Probleme der Ursachenforschung nicht mehr möglich ist 29 . Die analytische Trennung der Erscheinung „Kriminalität" in einen Verhaltens- und einen Definitionsaspekt förderte eine theoretische und empirische Ausrichtung der kriminologischen Betrachtung auf den Definitionsprozeß staatlicher Kontrollinstanzen. Sekundär richtete sich der Blick auch auf das Anzeigeverhalten der Opfer. Wie unbeabsichtigt gerade diese Forschungskonsequenz für „kritische" Kriminologen noch immer ist, zeigt die programmatische Festlegung des Arbeitskreises Junger Kriminologen auf die „von Kriminalisierung bedrohten und betroffenen Menschen" 30 . Von Opferaspekten ist demgemäß keine Rede. Eine Vorverlagerung der Verantwortlichkeit für Selektionsprozesse auf Opfer und Anzeigeerstatter schwächt nämlich die mögliche Kritik an der Strafrechtspraxis ab. Die Strafjustiz erscheint „sogar als Balanceakt

2 5 Dazu Becker, H.: Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance. Glencoe 1963 (deutsch Neuwied 1973), S. 8 ff.; Quensel, St.: Sozialpsychologische Aspekte der Kriminologie. Stuttgart 1964. Insb. S. 40 ff. 28 König, R.: Soziologie als Oppositionswissenschaft und als Gesellschaftskritik. In: Soziologische Orientierung. Köln, Berlin 1965, 17—28. 2 7 Einen guten Überblick mit umfassenden Belegen der Diskussion im deutschsprachigen Bereich bietet Rüther, W.: Abweichendes Verhalten und „labeling approach". Köln u. a. 1975. 2 8 Dazu Eisenberg, U.: Einführung in die Probleme der Kriminologie. München 1972, S. 61 ff., 148 ff.; Kaiser, G.: Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle. Frankfurt/M. 1972, 35 f.; Kerner, H.-J.: Straftaten, Straftäter und Strafverfolgung. Bemerkungen zu offenen Fragen an der kritischen Kriminologie. In: Kritische Kriminologie, a. a. O. (Anm. 1), S. 190. 2 9 Dazu allerdings schon Göppinger, H.: Erforschung der Zusammenhänge der Kriminalität und Erprobung neuer Methoden zur Behandlung Krimineller. Die Justiz 1965, 2 7 8 — 2 8 3 (279 f.); Kaiser, G.: Kriminologie, a . a . O . (Anm. 1), S. 114 mit Nachweisen. 30 Ohle, K., Blandow, }.: Bericht der Arbeitsgruppe „Rahmenentwurf für kriminologische Curricula". K r i m J 7 (1975), 140.

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zwischen Täter- und Opferinteressen"31. Kein Wunder, daß viktimologische Betrachtungen noch immer nicht zum Thema „neuer" Kriminologie geworden sind32. Folglich fand auch die Rezeption von Opferbefragungen hierzulande nahezu vollständig außerhalb der „kritischen" Kriminologie statt. Abgesehen davon ist die Kritik an Grundbegriffen wie Verbrechen und Kriminalität sowie die Infragestellung der Aussagekraft der Kriminalstatistik nur solange begründet, wie die Vertreter des traditionellen Paradigmas von Tat und Täter sich beharrlich weigern, begrifflich-theoretische Abänderungen an ihrer Position vorzunehmen und die Perspektive des Definitions- und Selektionsprozesses in das kriminologische Forschungsprogramm aufzunehmen. Eine solche Annahme ist aber generell nicht mehr gerechtfertigt. Daher ist zu fragen, ob die sich als kritisch verstehenden Kriminologen nicht einen Popanz an traditioneller oder herrschender Kriminologie aufrichten, der nicht (mehr) existiert, den freilich anzugreifen um so leichter fällt. Mitunter tritt der „labeling"-Ansatz mit dem Anspruch auf, alte Fragestellungen vollständig zu ersetzen und überflüssig zu machen. Man kann aber auch die Auffassung vertreten, daß es sich bei ihm nur um die andere Seite derselben Medaille handelt, also um eine Abwandlung oder Ergänzung der alten Theorienansätze. Für beide Richtungen lassen sich Vertreter finden33. Welcher Ansicht man auch folgt, man wird nicht übersehen können, daß die Kriminologie in Lehre und Forschung durch die Aufnahme und Integration der Kritik sich erheblich gewandelt und ihren Gegenstandsbereich erweitert hat 34 . Wenn man berücksichtigt, daß die heute herrschende Kriminologie neben den weitgefaßten Blickfeldern des Verbrechens und der Verbrechenskontrolle auch Täter- und Opfer-Aspekte mit in die Betrachtung einbezieht, so wird man unschwer zu der Auffassung gelangen müssen, daß nicht die herrschende, sondern die „kritische" Kriminologie von einem verengten Objektbereich ausgeht. Die erkenntnistheoretische Kritik des Interaktionismus ist also von der kriminologischen Haupt31 Pilgram, A.: D i e junge Kriminologie und die alte Kriminalpolitik. K r i m i n a l soziologische Bibliographie 1 ( 1 9 7 4 ) , 1 1 7 — 1 2 0 ( 1 1 9 ) . 32 Becker, H.: Labelling T h e o r y Reconsidered. I n : Outsiders. N e w Y o r k 1 9 7 3 , S. 1 5 9 — 1 8 8 ; ferner Kerner, H.-J.: A . a. O . ( A n m . 2 8 ) , S. 199. 3 3 F ü r die Ausschließlichkeit des K o n t r o l l p a r a d i g m a s spricht sich Keckeisen, W.: Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens. München 1974, aus; für eine Integration z. B . Opp, .K-D.: Abweichendes Verhalten. D a r m s t a d t , N e u w i e d 1 9 7 4 , 11 sowie Kerner, H.-J.: A . a. O . ( A n m . 2 8 ) , S. 1 9 0 ff. 34 Kaiser, G.: Kriminologie, a. a. O . ( A n m . 1), S. 8 ; Schaffstein, F.: Kriminologie und Strafrechtskommentare. I n : Festschrift für H . H e n k e l . Berlin, N e w Y o r k 1 9 7 4 , 2 1 5 ff. ( 2 2 7 ) .

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Strömung inzwischen aufgenommen und theoretisch verarbeitet, partiell auch wie im angloamerikanischen Bereich in praktische Kriminalpolitik umgesetzt worden. Im übrigen kann man diesen Trend daran ablesen, daß sich international die Verteilung von Forschungsprojekten auf Verhaltens- und Kontrollaspekte abweichenden Verhaltens inhaltlich langsam angleicht. Der uferlose Verbrechens- und Delinquenzbegriff, die stärker bewußt werdenden Kriminalitätsprobleme und die hohe Gefangenenrate in den USA 3 5 gaben zunehmend zu kriminologischen und kriminalpolitischen Überlegungen Anlaß. Sie führten auf dem Gedankengut des „labeling approach" aufbauend zu der Problemlösung der sogenannten „diversion". Dieser Begriff, zunehmend den Charakter einer Zauberformel annehmend, meint die „Umleitung" gegenüber dem System der Kriminaljustiz durch entlastende und entstigmatisierende Strategien 36 . Auch die Diskussion der „discretionary justice" 37 läßt darauf schließen, daß man die Kritik an weiteren Erkenntnislücken, die sich hierzulande wahrscheinlich weniger bedrängend ergeben als in Ländern, deren Strafverfahren vom Opportunitätsprinzip bestimmt wird, bereitwillig aufnimmt. Damit hat das Kontrollparadigma den Großteil seines kritischen Potentials und damit auch seiner Anziehungskraft für seine ursprünglichen Anhänger verbraucht. Diese haben sich daher zunehmend als „kritische" Kriminologie konstituiert oder sind in diese Richtung abgewandert. Die Aussage, daß die Abkehr von der ätiologischen Basis empirischer Forschung Kriminologie kritisch gemacht habe 38 , hat für den angloamerikanischen Bereich der 60er Jahre und für die Bundesrepublik noch Anfang der 70er Jahre ihre Berechtigung gehabt. Doch als Grundlage für einen kritischen Anspruch ist die interaktionistische Perspektive heute nurmehr eine notwendige, keinesfalls eine aus3 5 Dazu Kaiser, G., u . a . : Strafvollzug. Karlsruhe 1974, 20 f. Zu nodi weit höheren Gefangenenraten kommen Waller, I., Chan, ].: Prison Use: A Canadian and International Comparison. Criminal Law Quarterly 1975, 4 7 — 7 1 (58), mit ungefähr 200 Strafgefangenen auf 100 000 Einwohner. 38 Nimmer, R.: Diversion. The Search for Alternative Forms of Prosecution. American Bar Foundation. Chicago 1974; ferner Kaiser, G.: Role and Reactions of the Victim and the Policy of Diversion in Criminal Justice Administration. In: Festschrift für W . Nagel. Deventer/Niederlande 1976 (im Erscheinen), mit ausführlichen Nachweisen. 37 Reiss, A.: Discretionary Justice in the United States. IntJCrim. 2 (1974), 1 8 1 — 2 0 5 ; Thomas, D.: The Control of Discretion in the Administration of Criminal Justice. In: Crime, Criminology and Public Policy, ed. by R. Hood, London 1974, 139—155. 38 Nagel, W.: Critical Criminology. Abstracts on Criminology and Penology 11 (1971), 1 - 5 (2).

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reichende Bedingung39. Soweit der „labeling approach" Erkenntnis und Bewußtmachung der erwähnten Wissenslücken in der Durchdringung der Verbrechensprobleme fördern wollte, hat er diese Aufgabe erfüllt. Dies wird z. B. deutlich anhand der Stellungnahmen aus dem Lager der Polizei, die inzwischen auch in den Untersuchungsbereich der Kriminologie einbezogen worden ist. Zwar bricht hin und wieder die Abneigung gegen „Ausschließlichkeitsansprüche", „Politisierung" oder „Heilslehren" durch 40 . Doch überwiegen wohl die Stimmen, die dem „labeling approach" oder der „neuen" Kriminologie einen bestimmten Stellenwert im Rahmen polizeilicher Arbeit und Ausbildung einräumen wollen 4 1 . Ob wissenschaftslogisch unmöglich 42 oder nicht, der „labeling"-Ansatz ist zumindest teilweise in den Prozeß „normaler Wissenschaft" 43 eingefügt. H a t ihn aber die normale Wissenschaft als soziologische Dimension „vereinnahmt", so läßt sich sein Verlust an Dynamik und Brisanz nicht mehr übersehen.

III. Demgegenüber wurden Gesellschafts- und Ideologiekritik als Bestandteile einer „kritischen" Kriminologie thematisiert 44 . Sie sind damit zu Begriffen geworden, die „kritische" von „normaler" Kriminologie teilweise trennen. Die Kritik der „kritischen" Kriminologie schließt partiell auch eine Kritik gegenüber dem „labeling approach" ein, soweit sich dieser mit Einwänden gegenüber traditionellen Erkenntnismethoden begnügt. Methodenkritik dieser Art kann zu einem besseren Verständnis des kriminellen Verhaltens verhelfen. Sie 39 Sack, F.: Definition von Kriminalität als politisches Handeln: Der labeling approach. KrimJ 4 (1972), 3—31 (25). 40 Ender, K.: Zur „neuen Kriminologie" insb. zur labeling-Theorie. Kriminalistik 29 (1975), 196—200 (196). 41 "Walter, D.: Die neue Kriminologie und der Standort der Polizei. Recht und Politik 11 (1975), 23—28; Plate, M.: Die neue Kriminologie und der Standort der Polizei — zugleich ein Beitrag zur Curriculumrevision. Kriminalistik 29 (1975), 154—157; sowie die Diskussion zu dem Vortrag von Peters, H.: Die Polizei als Instanz sozialer Kontrolle. In: Möglichkeiten und Grenzen kriminalistisch-kriminologischer Forschung. Polizeiführungsakademie Hiltrup 1975, S. 153 ff., 169 f. 42 Keckeisen, W.: A . a . O . (Anm. 33); ähnlich Peters, D., Peters, H.: A . a . O . (Anm. 24), S. 124. 43 Zu den Begriffen normale Wissenschaft und Paradigmawechsel Kuhn, P.: A. a. O. (Anm. 3), S. 45, 79, 182 f. 44 So z.B. Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.): Kritische Kriminologie. München 1974, S. 7 ff.; Quinney, R. (Hrsg.): Criminal Justice in America. A Criticai Understanding. Boston 1974, 16 ff.; Taylor, /., Walton, P„ Young, /.: Criticai Criminology. London, Boston 1975, 4.

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bleibt aber dem Bedürfnis verpflichtet, das Verbrechen zu kontrollieren. Denn „mein Verständnis vom Kriminellen nimmt mir nicht den Wunsch, ihn zu kontrollieren" 45 . Die Einführung der politischen Dimension in die Kriminologie, vermittelt durch „labeling approach" und konflikttheoretischen Ansatz46, weist zwar auf die Abhängigkeit der Kriminalität von der politischen Ordnung. Gleichwohl besteht ein weitergreifendes Erkenntnisbedürfnis gegenüber der herrschenden Politik hinsichtlich ihrer eigenen Auswirkungen. „Kritische" Kriminologie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Abhängigkeit der Normkonformität von der politischen Ordnung und will sich dieser Abhängigkeit in wissenschaftlicher Analyse zuwenden. In diesem Sinne kann sie einen beachtlichen Beitrag für die Kriminologie insgesamt leisten, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sie die Notwendigkeit der Kriminalitätskontrolle beachtet47. Doch gerade in dem funktionalen, systemtheoretischen Sinne wird Sozialkontrolle von den Vertretern einer „kritischen" Kriminologie abgelehnt. Strafrechtliche Kontrolle kann danach in gesellschaftskritischer Sicht nur in Verbindung mit der sie tragenden politischen Ordnung gesehen werden. Dies heißt wiederum, daß sich die kritische Komponente nicht nur auf methodologische Mängel der wissenschaftlichen Erfassung der einzelnen Erkenntnisobjekte politischer Ordnung einerseits und Kontrolle durch Recht andererseits erstrecken darf, sondern die Fragen der Zielorientierung beider Objekte umfassen muß. „Radikale" oder „kritische" Kriminologie will also hier nicht bei der Beschreibung verharren, sondern Methoden entwickeln, welche die Verwirklichung der Gesellschaftsformen, die ihre eigene Kritik voraussetzt, ermöglichen48. Kritik in diesem Sinne soll konstruktiv sein. Sie muß danach nicht nur angeben, was mit Mängeln behaftet ist, sondern wie der gesellschaftliche Zustand nach Beseitigung der Mängel auszusehen hat. Es sollen also auch die möglichen Alternativen aufgezeigt werden49.

45 Christie, N.: The Delinquent Stereotype and Stigmatization. Report for the 1st Section — 7 t h International Congress on Criminology. Belgrad 1973, 1—21 (6). 49 Turk, A. T.: Criminology and Legal Order. Chicago 1969; Nagel, W.: Critical Criminology, a . a . O . (Anm. 3 8 ) ; Schumann, K.: Gegenstand und Erkenntnisinteressen einer konflikttheoretischen Kriminologie. In: A J K (Hrsg.): Kritische Kriminologie. München 1974, 6 9 — 8 4 . 47 Sykes, G.: The Rise of Critical Criminology, a. a. O. (Anm. 21), S. 213. 48 T a y l o r , I., Walton, P., Young, ].: Critical Criminology in Britain: Review and Prospects, a. a. O. (Anm. 44), S. 24. 49 Quinney, R.: Critique of Legal Order. Crime Control in Capitalist Society. Boston 1973, V.

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IV. Die sicher als Antikritik gedachte Frage „Kriminologie als Gesellschaftskritik"?50 schließt die Existenz „kritischer" Kriminologie nicht notwendig aus. Dennoch bleibt zu fragen, ob sich hier im Rahmen der Kriminologie noch eine wissenschaftliche Kommunikation erreichen und was „kritische" Kriminologie an empirischer Forschung übrig läßt. Diese Überlegung führt zu der weiteren Frage, an welchem Ziel sich Kriminologie orientieren soll, und welchen Interessen sich Wissenschaft überhaupt verschreiben kann. Die möglichen Antworten sind aufgrund der Diskussion über Positivismus und Werturteil schon vorformuliert: Sozialtechnologie oder Wissenschaft als Berechnung objektiver Wirklichkeitszusammenhänge auf der einen und Sozialemanzipation auf der anderen Seite 51 . Die Kritik auf dem an Sozialtechnik reduzierten Selbstverständnis eines kritischen Rationalismus besteht darin, daß Fragen der politischen Zielorientierung aus dem wissenschaftlichen Diskurs als prinzipiell unentscheidbar ausgeschaltet werden. Hieran entzündet sich die Kritik, eine derartige Kriminologie habe die Funktion, politisches Handeln zu legitimieren 52 , Kriminologen seien deshalb Apologeten der herrschenden Verhältnisse. Sack versucht dies anhand des Verhältnisses zwischen Verbrechensbegriff und täterbezogener Kriminologie zu verdeutlichen 5 3 . Der Verbrechensbegriff und damit das Strafrecht sind Momente der allgemeinen Sozialkontrolle und somit Herrschaft im technischen Sinne. Diese ist nach Max Weber in der denkbar stärksten Art auf die Selbstrechtfertigung durch den Appell an Prinzipien ihrer Legitimation angewiesen 5 4 . Eine derartige Selbstrechtfertigung besorge die traditionelle Kriminologie, indem sie versuche, das kriminelle Individuum in bezug auf seine Verantwortung und Zurechenbarkeit der H a n d l u n g zu analysieren. Die permanenten Versuche der Kriminologie seit Lombroso, Unterschiede physischer oder psychischer Art zwischen K o n f o r m e n und Nichtkonformen festzustellen, deuteten darauf hin, daß die strafrechtliche Sozialkontrolle die Degradierung und die „Vorenthaltung von Lebenschancen" be-

Kaufmann, H.: A . a. O . (Anm. 1). Vgl. Habermas, ].: Technik und Wissenschaft als Ideologie. F r a n k f u r t 1968, 166; Apel, K.-O.: Wissenschaft als Emanzipation? I n : W. Dallmayr (Hrsg.): Materialien zu Habermas' Erkenntnis und Interesse. F r a n k f u r t 1974, 318—348 (318 f.). 52 Sack, F.: K r i m i n a l i t ä t als gesellschaftliche Legitimierungsproblematik, a. a. O . (Anm. 24), S. 21. 53 Sack, F.: A . a. O., S. 29. 54 Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. 4. Aufl. Tübingen 1956, 549. 50

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inhalte 65 . Dies solle durch empirische Nachweise der Unterschiedlichkeit gerechtfertigt werden. Obwohl die Relevanz von Persönlichkeitsunterschieden längst nicht auf das strafrechtliche Verfahren beschränkt ist, sondern die Vergabe positiver sozialer Plazierungschancen, also solche sozialen Aufstiegs, entscheidend mitbestimmt, richtet sich die Betrachtungsweise vor allem gegen das Strafrecht. Strafrecht als repressives System muß danach beseitigt werden. Denn dem radikalen Menschen- und Gesellschaftsbild, das „kritische" Kriminologie in diesem Sinne voraussetzt 56 , widerspricht die Ausübung von Herrschaft in jeder Form. Eine kritische Theorie des Strafrechts57 dürfe aber nicht bei einer bloßen „Enthüllungskriminologie" stehenbleiben, die versuche, die Kriminalität der Herrschenden zu denunzieren. Denn Enthüllung der herrschenden Kriminalität trage implizit die Anerkennung des Straf rechts in sich, basiere somit auf „einer gedankenlosen und atheoretischen Empörung" 5 8 . Die Aufgabe einer „kritischen" Kriminologie bestehe vielmehr darin, eine Gesellschaft gedanklich zu umreißen und vorzuzeichnen, in dem die Tatsachen menschlicher Vielfalt nicht mehr den Kriminalisierungsansprüchen der jeweils Herrschenden unterworfen seien59. D i e Erweiterung eines kriminologischen Ansatzes auf die „sich bewegenden Machtkonstellationen" 6 0 ergibt freilich nicht zwangsläufig eine gesellschaftskritische Konzeption. D i e Thematisierung vermeintlich tabuisierter Bereiche f ü r die kriminologische Forschung m a g z w a r allgemein von einem Hauch von D y n a m i k und Fortschrittlichkeit begleitet sein, wie z. B. die Propagierung einer konflikttheoretischen, handlungstheoretischen 6 1 , marxistisch-interaktionistischen 6 2 oder politökonomischen Analyse der Gegenstände kriminologischer Erkenntnis 6 3 . Doch bleibt das kritische Potential hierbei auf die Enthüllung

65 Sack, F.: A . a . O . , S. 29; so audi Quinney, R.: A . a . O . (Anm. 49), S. 26; ähnlich Peters, D., Peters, H.: A. a. O. (Anm. 24), S. 122 f. 58 Quinney, R.: The Ideology of L a w : Notes for a Radical Alternative to Legal Oppression. Issues 7 (1972), 1—35 (33). 57 Quinney, R. (Hrsg.): Criminal Justice in America. A. a. O. (Anm. 44)» S. 16 ff. 58 Taylor, /., Walton, P., Young, }.: Aussichten für eine radikale kriminologische Theorie und Praxis. In: A J K (Hrsg.): A. a. O. (Anm. 44), S. 96. 59 Taylor, ]., Walton P., Young ].: The N e w Criminology, a . a . O . (Anm. 9), S. 282. 60 Schumann, .K: A. a. O. (Anm. 46), S. 72. 61 Haferkamp, H.: Zur Notwendigkeit handlungstheoretisdier Analysen der Kriminalität und der Kriminalisierung. In: A J K (Hrsg.): A . a . O . (Anm. 44), S. 44—68. 62 Sack, F.: Definition von Kriminalität, a. a. O. (Anm. 39). 6 3 Dazu Chambliss, W. ].: Machtpolitik mit Gesetzen — zur politischen Ökonomie des Rechts. K B 2 (1975), 1—15.

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beschränkt oder auf das, was man dafür hält. Die Analyse schwer zugänglicher Gegenstandsbereiche dient zwar ganz allgemein gesprochen der Anreicherung von Wissen und setzt Ideologiekritik voraus. Im Falle der Analyse des Rechts und dem Aufzeigen der Abhängigkeiten von der politökonomischen Basis könnte dies begrenzt zu einer „Entmystifizierung" der Gesetze und Institutionen sozialer Kontrolle 64 sowie zu einer Entideologisierung der Sichtweite führen, falls nicht — wie so häufig — zugleich eine neue Ideologie „mitgeschleppt" oder eingehandelt würde. In der Logik der Ideologiekritik liegt allerdings der Übergang zur Gesellschaftskritik nicht eingeschlossen. Ideologiekritik kann auch auf einem sozialtechnischen Verständnis von Wissenschaft und damit auf einer szientistischen Unparteilichkeit beruhen 65 .

V. „Alle Unparteilichkeit ist künstlich. Der Mensch ist immer parteiisch und tut sehr recht daran. Selbst Unparteilichkeit ist parteiisch. Er war von der Partei der Unparteiischen" 66 . Diese Sätze mögen eine weitere Kritik verdeutlichen, die letztlich wiederum auf das Wissenschaftsverständnis eines kritischen Rationalismus oder einer logischen Empirie bezogen ist. Becker hat schon 1967 mit seinem Aufsatz „Auf welcher Seite stehen wir?" diese Problematik angerissen. Er ist zu der Erkenntnis gelangt, daß ein moralisches Engagement oder eine Parteinahme des "Wissenschaftlers für den „under-dog" nötig sei. Unter diesem wird vornehmlich der Kriminelle, nicht aber das O p f e r verstanden. Solches Engagement ist Teil der heutigen „kritischen" Kriminologie geworden. Es lassen sich allerdings zwei Positionen unterscheiden. So folgt der A J K der Erwartung, daß theoretische und sonstige Aktivitäten in folgenreiche Instrumente der Veränderung gesellschaftlicher Wirklichkeit transformiert werden können 67 . Eine solche Position klingt auch in etwas anderer Ausprägung bei britischen Autoren an. Danach wird gefordert, daß die Erkenntnis ökonomischer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zur Überwindung von Kriminalitätsproblemen tiefgreifende Änderungen der sozialen Struktur nötig machten 68 . Dabei

64 Reasons, Cb.: The Politicizing of Crime, the Criminal and the Criminologists. AmJCrim. 64 (1973), 471—477 (471). 65 Vgl. Lejerenz, H.: Aufgaben einer modernen Kriminologie. Karlsruhe 1967, 9. 66 Becker, H. S.: Whose Side are we on? Social Problems 14 (1967), 239—247. 67 Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.): A. a. O. (Anm. 44), S. 12. 68 So Schur, E. M.: Our Criminal Society. Englewood Cliffs/N. J. 1969, 337.

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sollten sich die politischen Strategien an den Interessen der arbeitenden K l a s s e orientieren 6 9 . D i e Entwicklung solcher Strategien solle in A b ä n d e rung der M e t h o d e der teilnehmenden Beobachtung, die normalerweise Subkulturen oder soziale Situationen u n v e r ä n d e r t läßt, z u einer M e t h o d e der a k t i v e n T e i l n a h m e an solchen Prozessen stattfinden. N a c h diesem V e r s t ä n d n i s sind Wissenschaft u n d Politik in sachlicher u n d personeller Hinsicht z w a r getrennt. D i e K r i t i k richtet sich nur gegen die T r e n n u n g im personellen Bereich, gegen die V e r f ü g b a r k e i t v o n Wissen durch nicht kontrollierbare Personen. A u s diesem V e r s t ä n d n i s leitet sich auch der V o r w u r f der Legitimationswissenschaft ab, die das als neutral perzipierte Wissen zu schlechten Zwecken benutze. A n d e r e Vertreter einer „kritischen" K r i m i n o l o g i e richten ihre K r i t i k gegen die T r e n n u n g v o n Wissenschaft u n d Politik im sachlichen Bereich, d. h. bezüglich des Untersuchungsgegenstandes 7 0 . M i t der E i n f ü h r u n g der B e g r i f f e legitim u n d illegitim sollen Geltungsansprüche zur Diskussion gestellt werden, die eine politische Perspektive in die E r f a s s u n g dessen, w a s abweichend oder kriminell ist, einbringen. N a c h einem solchen Verständnis k a n n Abweichung nicht nur unter dem f u n k t i o n a l e n A s p e k t des Sichverhaltens gesehen werden, sondern muß gleichzeitig auf seine Geltungsansprüche, b z w . deren L e g i t i m i t ä t , untersucht werden. Besonders deutlich w i r d diese P r o b l e m a t i k bei den sogenannten politisch motivierten Verbrechen, deren Ansprüche auf L e g i t i m a t i o n meist verbalisiert mitgeliefert w e r d e n 7 1 . D i e K r i t i k a n dieser Sichtweise a b w e i c h e n d e n V e r h a l t e n s ließ allerd i n g s nicht l a n g e a u f sich w a r t e n . D a b e i w u r d e v o r a l l e m d i e B e f ü r c h tung

geäußert,

ein solches t h e o r e t i s c h e s

Konzept

der

Kriminologie

w ü r d e sich a u f e i n e p o l i t i s c h e I d e o l o g i e r e d u z i e r e n u n d w i s s e n s c h a f t liches V e r f a h r e n d u r c h s o z i a l e n P r o t e s t e r s e t z e n 7 2 . D i e K r i t i k a n d e r Ausschaltung von

Geltungsansprüchen

aus

dem

Verfahren geht vor allem v o n d e m marxistischen tischen"

Kriminologie

aus73.

Die

wissenschaftlichen Zweig

der

Kriminalisierungsansprüche

„kristaat-

licher H e r r s c h a f t , n i e d e r g e l e g t in d e n S t r a f g e s e t z e n , w e r d e n a l s i l l e g i tim, weil Kapitalinteressen dienend, angesehen. Allerdings greift der

Young, ].: Working Class Criminology. In: A. a. O. (Anm. 44), S. 86. Quinney, R.: The Social Reality of Crime. Boston 1970, 313. 71 Vgl. auch das Konzept moralischer Begründung abweichenden Verhaltens bei Schaf er, S.: The Political Criminal. The Problem of Moralitiy and Crime. New York, London 1974. 72 Jeffery, C.: The Historical Development of Criminology, a. a. O. (Anm. 7), S. 434. 73 Werkentin, F., Hofferbert, U., Baurmann, M.: Kriminologie als Polizeiwissenschaft oder: Wie alt ist die neue Kriminologie? K J 1972, 221—252; Qttinney, R.: A . a . O . (Anm. 44); Taylor, /., Walton, P., Young, ]. (Hrsg.): A . a . O . (Anm. 44). 69

70

Was ist eigentlich kritisch an der „kritischen Kriminologie"?

535

pauschale Verweis auf Repression durch kapitalistische Gesellschaftsstrukturen und den sich hieraus ableitenden Staat 74 zu kurz. Denn damit besteht für eine so betriebene politische Kriminologie die Gefahr des bloßen Polemisierens. Der wissenschaftliche Nachweis von Geltungsberechtigung oder Legitimation kann durch derartige Vorwürfe keineswegs geführt werden. Freilich zeigen sich die Unterschiede bei der „kritischen" Kriminologie einer AJK-Provenienz, deren mögliche Vehikel des gesellschaftlichen Wandels durchaus stabilisierende Kräfte wie Gewerkschaften und politische Parteien sind 75 . Eine solche Position unterscheidet sich jedoch wissenschaftspolitisch von einem Standpunkt, welcher der Wissenschaft wohl ein politisches Mandat zugesteht, unter politischem Engagement des Wissenschaftlers allerdings dessen Engagement als Staatsbürger versteht 76 . Eine im Sinne des marxistischen Zweiges kritische Perspektive kriminologischer Theorie müßte konsequenterweise nicht nur in einer paradigmatischen, sondern auch in einer institutionellen Abgrenzung und Ausgliederung aus dem kriminologischen Wissenschaftsbetrieb enden. Daher gibt weniger die Tatsache einer „intellektuellen Spielerei" 77 oder der gänzlichen Abstraktheit und mangelnder empirischer Belege bzw. der Unmöglichkeit einer Operationalisierung 78 zu denken. Vielmehr ist es die zu praktischer Verwirklichung drängende Negation des Staates, der mit ihm verbundenen Einrichtungen sowie der überkommenen wirtschaftlichen Strukturen. Nicht zufällig sehen „radi-

74

So z. B. bei Quinney, R.: The Ideology of Law, a. a. O. (Anm. 56), S. 33. Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.): A. a. O. (Anm. 1), S. 13. 76 So Mannheim, H.: Über einige neuere Entwicklungstendenzen in der kriminologischen Forschung. MschrKrim. 40 (1957), 1 ff. (3).; Kaiser, G.: Kriminologie. 1. Aufl. Kalrsruhe 1971, 35 ff., 164 f. 17 Jones, H.: Bookreview: The N e w Criminology. For a Social Theory of Deviance, by J. Taylor, P. Walton, J. Young. Journal of Penology and Crime Prevention 14 (1974), 94—95; vgl. auch den polemischen Vergleich von Ericson, R. V.: British Criminology: A new Subject or old Politics? CanJCrim. 16 (1974), 352—360 (352), der die N e w Criminology mit dem Neuen Testament in Beziehung setzt. 78 Clinard, M.: A . a . O . (Anm. 21), 90; Szabo, D.: Some Thoughts on the N e w Criminology. AmJCrim. 65 (1975), 554—559 (558). Dieser Vorwurf kann im übrigen audi durch die Aufnahme von Chambliss, W. / . : The Political Economy of Crime: A Comparative Study of Nigeria and the United States. In: Sylvester, S. F., Sagarin, E. (Hrsg.): Politics and Crime. N e w York 1974, 17—30, in die Reihe der Texte der Critical Criminology nicht ausgeräumt werden. Auch Coulter, ] . : Whats Wrong with the N e w Criminology? Sociological Review 22 (1974) 119—135 (119), fragt nach der Möglichkeit der Umsetzung eines solchen Modells in empirische Forschung. 75

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kale" Kriminologen den Ursprung für ihre Kritik in den Studentenrebellionen, Bürgerrechtsbewegungen und den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt 79 . Hier zeigt sich Kritik in Gestalt einer vollständigen Ablehnung der bestehenden Sozialordnung. Das Problem „kritischer" Kriminologie ist dann nicht mehr kriminelles Verhalten in seinen verschiedenen Ausprägungen und Auswirkungen. Vielmehr ist es jetzt die staatliche Kontrolle und deren Überwindung. Diesen E x t r e m p u n k t auf einem K o n t i n u u m v o n kritischen Positionen haben allerdings die meisten der sich als kritisch verstehenden K r i m i n o logen nicht als Ausgangspunkt gewählt. So findet sich bei den v o m Arbeitskreis Junger Kriminologen veröffentlichten Beiträgen einer „ K r i tischen K r i m i n o l o g i e " 8 0 niemand, der prinzipiell auf empirische Ü b e r prüfung oder das Instrumentarium der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie verzichten wollte. Sogar für ihre K r i t i k selbst w i r d die verbale Bereitschaft bekundet, sie der empirischen U b e r p r ü f u n g durch Interview-Technik zu unterwerfen 8 1 .

In Wirklichkeit freilich ist die Bereitschaft, sich der Kritik außerhalb der „kritischen" Kriminologie zu stellen, sehr begrenzt. Damit hängt auch die fehlende oder verminderte Bereitschaft „kritischer" Kriminologen zusammen, sich von interdisziplinären Positionen aus kritisieren zu lassen, selbst wenn die gewählten Fragestellungen nur interdisziplinär bearbeitet werden können. So überrascht nicht selten die verbreitete Unkenntnis über Strafrecht, Strafverfahren, Strafrechtspraxis und Kriminalstatistik, obwohl gerade diesen Einrichtungen gegenüber mit Kritik nicht zurückgehalten wird. Das fehlende oder lückenhafte Wissen über die kriminologische Hauptströmung sowie die weitgehend interne Kommunikation der „kritischen" Kriminologen zeigen die Grenzen der Offenheit. Freilich finden sich geschlossene Kommunikationszirkel nicht nur hier. Da es sich aber aufgrund ideologischer Selektivität jeweils um relativ feste Kommunikationssysteme innerhalb des gesamten kriminologischen Spektrums handelt, ist bestenfalls Kenntnisnahme und Polemik möglich, doch keine wissenschaftliche Verständigung oder gegenseitige Beeinflussung. Sollte sich damit eine wissenschaftlich positive Funktion verbinden, so allein die, daß kriminologisches Denken vor der Erstarrung bewahrt wird. 7 9 So Platt, T.: Prospects for a Radical Criminology in the United States. Crime and Social Justice 1 (1974), 2 — 1 0 (2). 8 0 Ausgenommen den Beitrag von Baurmann, M., Hofferbert, M.: A. a. O. (Anm. 44), S. 158—189. 81 Brüsten, M.: Kritische Kriminologen empirisch geprüft, a. a. O. (Anm. 44), S. 212—230.

W a s ¡st eigentlich kritisch an der „kritischen K r i m i n o l o g i e " ?

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Die Forderung, daß sich „kriminologische Analyse auf die sozialen Institutionen und Mechanismen zu erstrecken habe, durch die Kriminalität produziert, verwaltet, bekämpft und erhalten wird" 82 , bewegt sich im Rahmen einer kriminologieinternen Kritik gegenüber der Einschränkung des kriminologischen Erkenntnisgegenstandes auf die Täterpersönlichkeit. Sie schließt aber die Untersuchung des Täters und der Tat nicht aus. Daher reicht eine solche Perspektive kaum, um den Anspruch „kritische" Kriminologie zu rechtfertigen. Denn eine solche Kriminologie wäre nur solange kritisch, als ihr Forschungs- oder Theorieansatz sich nicht durchgesetzt hätte. Wie ausgeführt sind jedoch Anzeichen erkennbar, die darauf hinweisen, daß die Untersuchung der strafrechtlichen Sozialkontrolle zum Bestandteil „normaler" Kriminologie geworden ist. Von einer Tabuisierung kann, wenn überhaupt, jedenfalls insoweit nicht gesprochen werden. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob hier nicht ein Tabu behauptet wird, um dem eigenen Anspruch, nämlich sich als „neu" und „kritisch" zu profilieren, überhaupt Rechnung zu tragen. So ergibt auch die Durchsicht des AJK-Programms 83 wenig Kritisches, vielleicht außer der Tatsache, daß der A J K beabsichtigt, mit durchaus herkömmlichen Mitteln (aktive Mitarbeit in politischen Organisationen, Stellungnahmen in Massenmedien) eine andere Kriminalpolitik als die herrschende zu betreiben. Wie aber diese neue Kriminalpolitik konkret aussehen soll, wird jenseits zeitkritischer Essays nicht ersichtlich. Auch der von Sack8i vorgeschlagene Rückgriff auf die „New Criminology" der Engländer Taylor, Walton und Young bleibt in dem alten Rahmen befangen. Offenbar bezweckt er lediglich die Abnabelung der Kriminologie von einer „strafrechtlich-forensisch-psychiatrischen Tradition". Während sich aber die britische Richtung „neuer" Kriminologie nur als kritisch zur Hauptströmung begreift, die im übrigen nicht in Frage gestellt wird 85 , drängt Sack anscheinend auf eine vollständige Veränderung des kriminologischen Wissenschaftsgefüges. Dies ist aber weder möglich noch nötig. Überdies scheinen die Perspektiven einer „kritischen" Kriminologie nicht sehr klar zu sein. Für einen neuen Entwurf fehlt es schon an dem nötigen positiven Konsens der Anhänger dieser Richtung und an einem konsistenten Satz von Ideen und Begriffen. Von einer „Einheit" ist man daher Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.): A. a. O. (Anm. 44), S. 12. Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.): A. a. O. (Anm. 44), S. 13. 84 Sack, F.: Theorie und Praxis der Kriminalsoziologie, a. a. O. (Anm. 23), S. X X I . 85 Cohen, St.: Criminology and the Sociology of Deviance in Brit. In: Deviance and Social Control, ed. by P. Rock and M. Mclntosh. London 1974, 1—40 (3 f., 6). 82 83

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weit entfernt 86 . Es bleibt deshalb nur die Kritik am Strafrecht, an Strafjustiz und an den Strafjuristen übrig87 sowie an jenen, die als Legitimationswissenschaftler verdächtigt oder entlarvt werden sollen. Abgesehen davon, daß sich eine solche polemische Position von einem Standort außerhalb des juristischen Fachbereichs sehr leicht formulieren läßt, geht es natürlich um handfeste Fragen der Macht, nämlich über Sozialisationsprozesse auch bei Juristen und jungen Kriminologen zu verfügen. Ein Programm jedoch, geschweige eine neue Kriminologie, die diesen Namen verdiente, wird nirgends sichtbar. Was bleibt also? Die vorläufige Bilanz zeigt folgende Aspekte: Als Pluspunkt ist in erster Linie zu vermerken, daß die neueren Richtungen unbeabsichtigt die Kriminologie wieder an das Recht herangeführt haben, wenn freilich in Europa die Trennung nie so deutlich und scharf ausfiel wie in Nordamerika. Mit der Einführung oder genauer dem partiellen Zurückholen der rechtssoziologischen Dimension in die Kriminologie brachten sie das Strafrecht wieder in den Blick und führten paradoxerweise trotz kritischer Distanznahme zur Wiederannäherung88. Ferner ist die beträchtliche Erweiterung des Untersuchungsbereichs durch Einbeziehung von Polizei, Justiz und Strafvollzug hervorzuheben. Gegenstand der Forschung ist nunmehr das gesamte System der strafrechtlichen Sozialkontrolle einschließlich der Konzepte und Handlungsmuster sowie des Verbrechensbegriffs. Außerdem hat die neue Entwicklungsrichtung, z. T. unter Rückgriff auf naturrechtliche Tendenzen89, auch die kriminologischen Überlegungen zu einem materiellen Verbrechensbegriff angeregt. Analysen zur politischen Kriminalität, aber auch zu Sexualdelikten, Verkehrsdelikten und Wirtschaftsstraftaten liefern dafür Zeugnis. Gerade hieran wird deutlich, wie sehr der materielle Verbrechensbegriff eine rechtspolitische Funktion erfüllt. Auf diese Weise wird die Tatsache, daß Verbrechen und Verbrechensbegriff der Gesellschaft zur Bewältigung anheimgegeben sind, ausdrücklich betont. Allerdings wird dabei der zeitüberdauernde Grund- oder Kernbestand des strafbaren Un86 Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.): A . a . O . (Anm. 44), S. 11; optimistischer hingegen Wolf}, / . : Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Kriminologie. KZfSoz. 26 (1974), 3 0 1 — 3 1 5 (311). 8 7 Dazu Kürzinger, ].: Die Kritik des Strafrechts aus der Sicht moderner kriminologischer Richtungen. ZStW 86 (1974), 2 1 1 — 2 3 4 ; Jescheck, H.-H.: Strafreditsreform in Deutschland, a. a. O. (Anm. 19), S. 1—44 (13 f.). 88 Kaiser, G.: Strafreditsvergleichung und vergleichende Kriminologie. In: Strafrecht und Strafreditsvergleichung. Colloquium anläßlich des 60. Geburtstags von H . - H . Jescheck, hrsg. v. G. Kaiser und Th. Vogler. Freiburg 1975, 79—91 (86). 8 9 Vgl. Steinert, H.: Statusmanagement und Kriminalisierung. In: Der Prozeß der Kriminalisierung, hrsg. von H . Steinert. München 1973, 9 ff. (12); Naucke, W.: Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung. Karlsruhe 1975, 38.

W a s ist eigentlich kritisch a n der „kritischen K r i m i n o l o g i e " ?

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rechts90 nicht selten verkannt. Mit der Abhängigkeit der Kriminalstatistik von den Handlungsmustern der Polizei und Justiz wird außerdem auf die begrenzte Aussagekraft der kriminalstatistischen Analyse hingewiesen. Demgegenüber wird die Dunkelfeldforschung betont. Freilich läßt sich auf der anderen Seite nicht verkennen, daß das erfragte Verhalten zur Dunkelfeldkriminalität in seiner Aussagekraft weithin überschätzt wird, als ob wir alle Mörder, Räuber, Erpresser, Einbrecher und Notzüchter wären. Der häufig vorzufindende Wissensmangel „kritischer" Kriminologen gegenüber Strafrecht, Strafverfahren, Kriminalstatistik und der Rezeptionsfähigkeit ausländischer Annahmen und Befunde zu diesem Bereich begünstigt die Fehleinschätzung. Auch ist nicht zu übersehen, daß nur selten handfeste empirische Beweise angeboten werden. Daher gelangen die Betrachtungen kaum über den Rang zeitkritischer E,ssays — wie neuerdings verbreitet in den Sozialwissenschaften91 — hinaus. Häufig wird zur Beweisführung auf ein vereinfachtes Schichtenmodell zurückgegriffen. Die danach geordneten Daten sollen dann beweisen, was man ohnehin schon zu wissen meint. Auch fehlt bislang ein konsistenter Satz von Ideen und Begriffen, so daß „kritische" Kriminologie bisher kaum mehr leistet als eine Orientierung. Aber selbst diese Perspektive läßt bedrängendaktuelle Gegenwartsfragen wie Opferaspekte und Tendenzen zur Privatjustiz, Erpressung, Verkehrsdelinquenz oder Generalprävention außer Betracht. Im übrigen fehlt den „kritischen" Kriminologen sehr häufig der „lange Atem", ohne den die Forschung keine aussagekräftigen Ergebnisse vorlegen kann. Einleuchtende und dem gegenwärtigen Verhaltenshorizont entsprechende Augenblicksergebnisse genügen jedoch auf die Dauer nicht. Was also ist erreicht? Wie die „Neue Schule" der Positivisten vor einhundert Jahren hat auch die „neue" oder „kritische" Kriminologie die weithin verfestigte Hauptströmung „aufgerüttelt . . ., recht rücksichtslos und mit unnötigem, unerfreulichem Lärm, aber mit glücklichem Erfolg" 9 2 . So gesehen kennzeichnet sie eine fraglos wichtige Phase kriminologischen Denkens in der Wissenschaftsentwicklung, die aber notwendig auch die „kritische" Kriminologie einmal hinter sich läßt. 90

Lange, R.:

Das

juridisch-forensisch-kriminologische Grenzgebiet, a. a. O . des Strafrechts. Berlin 1 9 7 2 , 3 4 .

Jescheck, H.-H.: Lehrbuch Lepsius, M.: Eine Wissenschaft in

( A n m . 16), S. 4 3 5 ;

9 1 Vgl. der Stagflation. Die deutsche Soziologie: Z u wenig Empirie — zu viel Essayistik / E i n Überblick über die gegenwärtige Situation. F A Z 7 9 v . 5. 4. 75. 92 v. Liszt, F.: Kriminalpolitische Aufgaben ( 1 8 9 2 ) ; abgedruckt in: Strafrechtliche A u f s ä t z e und V o r t r ä g e . Bd. 1. Berlin 1905, 2 9 0 ff. ( 2 0 7 ) .

Ziele und Probleme wirtschaftskriminologischer Forschung K L A U S TIEDEMANN

Richard Lange ist einer der ersten und wenigen Strafrechtslehrer, die bereits früh die Bedeutung und Besonderheit eines Gebietes erkannt und wegweisend beleuchtet haben, welches weithin als flüchtige Ausnahmeerscheinung angesehen wurde und erst seit wenigen Jahren in den Blickpunkt des allgemeinen, und zwar auch des ausländischen und internationalen Interesses am Straf recht gerückt ist: des Wirtschaftsstrafrechts. Die berühmte Kontroverse zwischen Lange und Welzel zur Behandlung des Verbotsirrtums im Nebenstrafrecht1 wurde nur vordergründig und als Folge der bedenklichen Vereinheitlichungstendenz des neueren Strafgesetzgebers zugunsten der Systemlehre Welzels entschieden. In der Rechtslehre hat sich dagegen ganz überwiegend der Standpunkt Langes der Sache nach durchgesetzt2, so daß auch nach dem neuen Allgemeinen Teil des StGB und des OWiG innerhalb der gesetzlich verordneten sog. Schuldtheorie die von Lange für das Nebenstrafrecht entwickelten Ergebnisse weiterhin und weitgehend gelten. Was hier im Wege der Gesetzesinterpretation nicht nur möglich bleibt, sondern geradezu geboten ist: die stete Abwägung und Überprüfung, ob die Anwendung der sog. Schuldtheorie in der jeweiligen Fallkonstellation nicht entgegen dem vom Gesetz (§§ 17 StGB, 11 Abs. 2 OWiG) erweckten Anschein zum Vorsatzausschluß führt, grenzt in anderen Bereichen des neuen Allgemeinen Teils an die richterliche Absage gegenüber dem Gesetzgeber: So paßt der durch §§ 22 StGB, 13 Abs. 1 OWiG übernommene Ansatzgedanke beim Versuch zwar trefflich und anschaulich auf Gewalt-, nicht dagegen auf zahlreiche Wirtschaftsdelikte, aber auch nicht auf die im Ordnungswidrigkeitenrecht besonders häufigen Unterlassungsdelikte. Hier 1 Lange, J Z 1956, 73 ff., 519 ff. sowie 1957, 233 ff.; Welzel, J Z 1956, 238 ff. sowie 1957, 130 f. 2 Umfangreiche Nachw. dazu bei Tiedemann, ZStW Bd. 81 (1969) S. 869 (876 f.) Fußn. 22; sachlich übereinstimmend aus neuester Zeit insbes. Bockelmann, Strafrecht Allgemeiner Teil (2. Aufl. 1975) S. 79 (für Blankettstrafgesetze); Cramer, Grundbegriffe des Rechts der Ordnungswidrigkeiten (1971) S. 71 f.; Rudolphi, in SK StGB (1975) § 16 Rn. 19, § 17 Rn. 1; Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil I (1971) S. 31; vgl. auch Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil (2. Aufl. 1972) S. 346.

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bleibt nur die wiederum zuerst von Lange vorgeschlagene Lösung 3 , insoweit auch nach neuem Recht auf die unmittelbare Gefährdung des betroffenen Rechtsgutes abzustellen und damit letztlich dem Gesetzgeber um der Anwendbarkeit des neuen Rechts willen den Gehorsam zu verweigern. D a ß derartige Vorgehensweisen die vom heutigen Strafgesetzgeber zutreffend in den Vordergrund gerückte Bestimmtheit des Strafrechts und die verfassungsrechtlich garantierte Sicherheit der Strafrechtspflege gravierender als manche andere vom Gesetzgeber für wichtig gehaltene Fragen beeinträchtigen, liegt auf der H a n d . De lege lata führen nur die Vorschläge Langes aus diesem durch übertriebenes Systemdenken entstandenen Dilemma heraus. Nachdem Lange in Aufsätzen, Literaturberichten und Handwörterbuchartikeln seit langem und immer wieder auf Existenz und Partikularität des Wirtschaftsstrafrechts hingewiesen hatte, mehrt sich in seinen neueren Publikationen die Behandlung des tatsächlichen Gegenstandes des Wirtschaftsstraf rechts: der Wirtschaftskriminalität. Wir nehmen diese Äußerungen, Anregungen und Hinweise zum Anlaß, den seit vielen Jahren bestehenden mündlichen, brieflichen und literarischen Dialog mit dem hochverehrten Jubilar fortzusetzen und eine Bestandaufnahme, aber auch eine Würdigung der Ziele und Probleme wirtschaftskriminologischer Forschung zu versuchen.

I. Wirtschaftskriminologie als wissenschaftliche Erforschung der Formen, Bedingungen, Folgen und Täter von Wirtschaftsdelikten findet zwar in der längst etablierten Wirtschaftskriminalistik 4 ihr Analogon, ist jedoch in der Bundesrepublik als empirischer Teil der Kriminologie seit Jahrzehnten vernachlässigt. Konkrete Einzelaussagen finden sich bis in die jüngste Vergangenheit hinein nahezu ausschließlich in einzelnen Dissertationen. Insbesondere die früher von v. Weber angeleiteten Doktorarbeiten zur Konkurs-, Wein- und Zollkriminalität 5 , die später von Geerds betreuten Arbeiten zur Lebensmittelfälschung, zur trügerischen Reklame und zum Versicherungsbetrug sowie zu den Lange, Strafrechtsreform (1972) S. 34 f. Dazu vor allem und zusammenfassend Zirpins-Terstegen, Wirtschaftskriminalität (1963). 5 Ullrich, Konkursdelikte unter besonderer Berücksichtigung des Landgerichtsbezirks Essen (usw.), iur. Diss. Bonn 1961; Neubauer, Konkursdelikte im Landgerichtsbezirk Düsseldorf, iur. Diss. Bonn 1963; H. Meyer, Die Delikte gegen das Weingesetz im Landgeriditsbezirk Koblenz (usw.), iur. Diss. Bonn 1967; G. Müller, Der Schmuggel im Hauptzollamtsbezirk Kleve, iur. Diss. Bonn 1965. 3

4

Ziele u n d P r o b l e m e wirtschaftskriminologischer Forschung

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Konkursdelikten und zur Wirtschaftskorruption 6 sowie einige singulare Dissertationen insbesondere wiederum zur Konkurskriminalität 7 , aber auch zur Wechsel- und Scheckkriminalität 8 , und schließlich neueste Schriften insbesondere zu den Bilanzdelikten 9 sind das zwar nicht unerhebliche, aber doch auch nicht besonders repräsentative Ergebnis dieser insgesamt recht verstreuten und punktuellen Bemühungen. Vor allem ist ein Vergleich und damit eine systematische, theoriegeleitete Auswertung der vorgenannten Arbeiten dadurch erschwert, wenn nicht geradezu unmöglich gemacht, daß die meisten dieser Publikationen von unterschiedlichen methodischen Ansätzen ausgehen, das eruierte empirische Material — in der Regel Strafakten — sich auf einen engen zeitlichen und räumlichen Bereich bezieht und bald mehr der kriminologische, bald mehr der strafrechtsdogmatische, zuweilen auch der wirtschaftswissenschaftliche oder rechtspolitische Aspekt im Vordergrund steht. Aber auch die deutschen Lehrbücher der Kriminologie widmen der Wirtschaftskriminalität bislang nur zögernd und tastend ihre Aufmerksamkeit, sei es — wie die grundlegenden Werke von Göppinger und Mannheim — unter dem tradierten, täterorientierten Gesichtspunkt der White-collar-Delikte, sei es — so die Einführung von Kaiser — unter insgesamt eher skeptischer Einbeziehung neuerer rechtspolitischer Strömungen, sei es schließlich — so die Broschüre von Schneider — unter nahezu ausschließlicher Beschränkung auf die US-amerikanische Kriminalsoziologie, deren einschlägiges Forschungsinteresse vorher bereits Lange lehrbuchartig ausführlich und kritisch dargestellt hatte 10 . N u n ist zwar die US-amerikanische Kriminalsoziologie, vor allem mit den bekannten Arbeiten Sutherlands, unbestritten Ausgangspunkt 6 Landry, Inverkehrbringen und Herstellen gesundheitsschädlicher Gegenstände, iur. Diss. Kiel 1966; P. Schmidt, D i e trügerische Reklame, iur. Diss. Kiel 1965; Schad, Betrügereien gegen Versicherungen, iur. Diss. Kiel 1965; Hammerl, Die Bankrottdelikte, iur. Diss. Frankfurt 1970; Sievers, Bestechung und Bestechlichkeit v o n Angestellten, iur. Diss. Kiel 1963. 7 Skrotzki, Konkursdelikte, iur. Diss. H a m b u r g 1963. 8 Eicke, Strafbarkeit der sog. Wechselreiterei, iur. Diss. Mainz 1959; Meincke, Zum Problem des Strafrechtsschutzes gegen die Begebung ungedeckter Schecks, iur. Diss. H a m b u r g 1967. 9 Marker, Bilanzfälschung und Bilanzverschleierung, staatswiss. Diss. Mainz 1968; Nelles, Aktienrechtliche Bilanzdelikte, iur. Diss. Münster 1974; Neuhäuser, Bilanzdelikte als Deckungshandlungen für zeitlich vor- bzw. nachgelagerte Betrugsund Insolvenzdelikte, wirtschafts- und sozialwiss. Diss. K ö l n 1973; Sieben u . a . , Bilanzdelikte (1974). 10 Göppinger, Kriminologie (2. Aufl. 1973) S. 406 ff., 413 ff.; Kaiser, Kriminologie (2. Aufl. 1973) S. 170 ff.; Schneider, Kriminologie (1974) S. 87 ff.; Lange, D a s Rätsel Kriminalität (1970) S. 136 ff. u. ö.

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und Anstoß f ü r alle modernen Bemühungen um den Wirtschaftsdelinquenten und die Wirtschaftsdelinquenz gewesen. D a ß jedoch Sutherlands gezielt sozialkritischer Ansatz f ü r ein Gesamtkonzept wirtsdiaftskriminologischer Forschung zu eng, da zu einseitig ist, war in der ausländischen wie in der deutschen Kriminologie bald erkannt. Freilich hat die Anlehnung an, wenn nicht: die Fixierung auf die nicht mehr ganz neue kriminologische Forschung in den USA und ihre weitgehend soziologischen Forschungsmethoden die deutsche Wissenschaft offenbar gehindert, auch nur davon Kenntnis zu nehmen, daß die criminalité d'affaires in Frankreich bereits seit langem ein literarisch aufgearbeiteter Gegenstand von Forschung und Lehre ist, daß eine spezielle Wirtschaftskriminologie in Belgien entworfen wurde, daß einschlägige Bemühungen in den Niederlanden seit wenigstens zwei Jahrzehnten existieren 11 . Auch unsere eigenen wirtschaftskriminologischen Bemühungen sind sicherlich von Einseitigkeit nicht frei. Jedoch sollen Ziele, Probleme und Methoden dieser Bemühungen offengelegt und damit zur Diskussion gestellt werden, wobei selbstverständlich in einem so jungen Gebiet wie der Kriminologie gegenüber dem noch jüngeren Teilgebiet der Wirtschaftskriminologie alle methodischen Ansätze und Überlegungen nur vorläufig sein und eher Vorbereitungen und Versuche als Vollendungen darstellen können.

II. Das Ziel unserer seit einer Reihe von Jahren durchgeführten wirtschaftskriminologischen Untersuchungen ist erklärtermaßen ein rechtspolitisches. Nicht die zweckfreie, sondern die auf das Ziel einer Reform des Strafrechts (durch Erkenntnis der Delinquenz-Phänomenologie) und einer Verbesserung des Wirtschaftsrechts (durch Auffindung der Ursache für diese Delinquenz) gerichtete Analyse eines möglichst umfassenden empirischen Materials erscheint uns als angemessener Grundansatz gegenwärtiger wirtschaftskriminologischer Forschung. Damit soll nicht eine gesellschaftspolitische oder gesellschaftskritische Leittheorie verifiziert oder falsifiziert werden. Vielmehr geht es darum, das tatsächliche Material in einer möglichst repräsentativen Form aufzudecken und zu untersuchen. Mit dieser 11 Vgl. nur Delmas-Marty, Droit penal des affaires (1973); Larguier, Droit penal des affaires (2. Aufl. 1975); Kellens, Revue de science criminelle 1974, 807 ff. (vgl. audi besonders dem., Banqueroute et Banqueroutiers, 1974); Schaff meister, ZStW Bd. 85 (1973) S. 782 (789 ff.) mit Nadrw. zum niederländischen Schrifttum.

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Zwecksetzung ist bereits angedeutet, daß wir Wirtschaftskriminologie nicht als einen feststehenden Begriff, sondern eher als Arbeitshypothese verstehen. Den allgemeineren erkenntnistheoretischen Zusammenhang dieser funktionalen und damit vorläufigen Begriffsbildung können wir hier aus Raumgründen nicht weiter vertiefen 1 2 . Für die Zweckmäßigkeit, wenn nicht Richtigkeit dieses unseres Ansatzes möchten wir uns vorab beispielhaft im internationalen Bereich neben der gleichsam ex officio rechtspolitisch motivierten Entschließung der 8. Europäischen Justizministerkonferenz in Stockholm 1973 auf die 12. Konferenz der Direktoren der Europäischen Kriminologischen Institute berufen; diese vom Europarat im J a h r e 1976 ausgerichtete Konferenz verfolgt als Fernziel erklärtermaßen die Vereinheitlichung und Verbesserung der Rechtsvorschriften zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität:. Aus der ausländischen Kriminologie mag weiter etwa der theoretische Ansatz des jungen belgischen Kriminologen G. Kellens hervorgehoben werden, der unter Bezugnahme auf Pinatel als Ziel einer kritischen Wirtschaftskriminologie die „construction d'une société plus juste, creuset d'un système plus juste de justice criminelle" und als ihren Gegenstand „ce qui échappe à la justice au sens strict, et pourquoi" bezeichnet 13 . D e r Notwendigkeit, die Wichtigkeit dieser rechtspolitischen Arbeit im einzelnen auszuführen, hat uns der Jubilar durch seine eigenen neuesten Veröffentlichungen enthoben: E r berichtet u. a. von der systematisch-dogmatischen Einstellung des deutschen Bundesjustizministeriums, im Bereiche der Vermögensdelikte keine Fahrlässigkeitsinkriminierungen zu schaffen 14 , und weist am Beispiel der Subventionserschleichung — in Übereinstimmung mit unseren eigenen Uberlegungen 15 — darauf hin, wie verfehlt diese generalisierende Haltung für eine zutreffende legislatorische Behandlung der Wirtschaftsdelikte ist. In der T a t hat sich das Bundesjustizministerium erst unter dem Eindruck des von uns vorgelegten und ausgewerteten Materials — mehr als achthundert Strafverfahren sowie zusätzliches Material der Banken, Wirtschaftsaufsichtsbehörden und anderer Stellen — inzwischen mit dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität bereitgefunden, die Sozialschädlichkeit auch der lediglich grob fahrlässigen Subventionserschleichung in einem entsprechenden Straftatbestand (§ 2 6 4 n. F. S t G B ) anzuerkennen. M a ß 12 Einige Hinweise dazu bei Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht (1969) S. 3 Fußn. 7. 13 Kellens, Revue de science criminelle 1974, 821. 1 4 Strafreditsreform S. 18 f., 32 f. 15 Tiedemann, Subventionskriminalität in der Bundesrepublik ( 1 9 7 4 ) ; vgl. auch bereits: Die Verbrechen in der Wirtschaft, 1. Aufl. 1970 S. 30, 2. Aufl. 1972, S. 17 f.

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gebend für diese Entscheidung dürfte vor allem der Gesichtspunkt des Umfanges und der Art der festgestellten Delinquenz (einschließlich der Gesetzesumgehungen) auf diesem Sektor gewesen sein. Eine vergleichbare Unkenntnis der Wirtschaftsbefunde und eine entsprechende Einseitigkeit legislatorischer Folgerungen findet sich bisher auch noch in der Amtlichen Begründung zur Neufassung des Börsengesetzes, wenn dort behauptet wird, im Bereiche des Börsenwesens komme Delinquenz praktisch nicht vor — mit der Konsequenz, daß der Entwurf die Streichung der meisten einschlägigen Straftatbestände vorschlägt 16 . In der T a t sind einschlägige Strafverfahren überaus selten, so daß einer unserer Mitarbeiter auf dem unorthodoxen und methodisch unsicheren Wege der Auswertung von Presseberichten, Befragung von ausgeschiedenen Börsen-insidern, amtierenden Börsenvorständen, Mitgliedern von Ehrengerichten usw. das einschlägige strafrechtliche Dunkelfeld zu eruieren unternommen hat 1 7 . Dabei hat sich eine Fülle einschlägiger Delinquenzformen ergeben, die entweder nachweislich bereits unter das geltende Strafgesetz oder aber in den als Delinquenz bezeichneten grauen Randbereich der Kriminalität fallen. Vor allem die Aufdeckung und Analysierung der mißbräuchlichen Ausnutzung von sog. insider-Informationsvorsprüngen hat, da die Tatbestände der Untreue und des Betruges insoweit keineswegs ausreichen, sowohl in unserem Gutachten zum 49. Deutschen Juristentag 1 8 als auch in dem Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches (1976) zu dem Vorschlag eines einschlägigen Sondertatbestandes geführt. Beide, hier nur beispielhaft genannten Bereiche illustrieren bereits die wesentlichen Schwierigkeiten der Materialbeschaffung: Große Teil des Wirtschaftsrechts und damit auch des Wirtschaftsstrafrechts und der Wirtschaftskriminalität sind durch einen gesetzlichen Geheimnisschutz abgesichert, so daß die Untersuchung z. B. der Außen wirtschafts- und Steuerdelinquenz überhaupt nur aufgrund persönlicher, vertraulicher Beziehungen zu den zuständigen Behörden möglich ist. Aber auch die Erforschung der außergerichtlich erledigten Delinquenz etwa im Bereich der sog. Computer-Kriminalität 1 9 ist ohne Kontakt zu den einschlägigen Kreisen der Privatwirtschaft, insbesondere im Bankbereich, aber auch zu den Sicherheitsberatern, Konkursverwaltern, Wirtschaftsaufsichtsbehörden usw. praktisch ausgeschlossen. BT-Drudcs. 522/70. Scheu, Das Börsenstrafrecht und seine Reform, iur. Diss. Gießen 1974. 1 8 Verh. 49. D J T 1972 Bd. I S. C 83 f. 1 9 Dazu umfassend Sieber, Computerkriminalität und Strafrecht, iur. Freiburg 1976. 16 17

Diss.

Ziele u n d Probleme wirtschaftskriminologischer Forschung

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Nicht erst die von den Vertretern der „modernen" Kriminologie in den Vordergrund gerückte Eruierung der Mechanismen außerstaatlicher Sozialkontrolle über Wirtschaftsdelinquenz, sondern bereits die Erkenntnis wirtschaftsdelinquenter Erscheinungsformen bedingt weitgehend, daß der Forscher ganz oder teilweise zum insider der je zu untersuchenden Wirtschaftszweige wird. Audi die f ü r die Aufhellung der Anzeigebereitschaft der Delinquenzopfer neuerdings häufig vorgeschlagenen Opferbefragungerl sind in statistisch-repräsentativer Weise faktisch ausgeschlossen, soweit es nicht um primitive Randbereiche der Wirtschaftskriminalität — wie etwa den Provisionsvertreter- oder den Scheckbetrug — geht. Unbestreitbar richtig scheint uns in diesem Zusammenhang nur die heutigen kriminologischen Forschungsmethoden entsprechende Forderung zu sein, sich auch f ü r die Erforschung der Wirtschaftskriminalität nicht auf Strafakten zu beschränken.

III. Sind Ziele und primäre Schwierigkeiten wirtschaftskriminologischer Forschung damit jedenfalls angedeutet, so bleiben die Forschungsmethoden und der Forschungsgegenstand näher zu reflektieren: Insoweit kann es nach unserer bisherigen, wenn auch vorläufigen Übersicht, die aber immerhin auf so verschiedene Bereiche wie die Computer-Kriminalität, die Börsenkriminalität, die Subventionskriminalität, die Weinkriminalität und die Wettbewerbskriminalität gestützt ist 20 , nicht so sehr darum gehen, den im Mittelpunkt der klassischen kriminologischen Forschungen und Prognosen stehenden Täter zu untersuchen und etwa nach einem Tätertyp zu suchen. Diese Ablehnung einer täterorientierten Wirtschaftskriminologie liegt nicht darin begründet, d a ß wir insoweit den neuerdings vielfach überbetonten Ansatz bei dem sozialen Reaktionsprozeß (im Sinne des neueren labeling approach) f ü r fruchtbar hielten. Vielmehr sind wir aufgrund unserer bisherigen Untersuchungen und in Kenntnis des internationalen Meinungsstreites, wie er insbesondere auf dem 14. Französischen Kriminologischen Kongreß über „Le monde des affaires et sa délinquance" noch einmal seinen Ausdruck fand, vor allem aber auch in gänzlicher Ubereinstimmung mit den einschlägigen Aussagen des verehrten Jubilars, der Ansicht, daß es „den" Wirtschaftsdeliquenten nicht gibt. Insbesondere hat „der" Wirtschaftsdelinquent keinen typischen „Knick" in der Berufslaufbahn aufzuweisen und zeichnet sich auch keineswegs durchgehend durch besondere Raffinesse, Intelligenz 20

Zu den letzten beiden Bereichen Henssen, Weinkriminalität und Weinstrafrecht, iur. Diss. Gießen 1976; Tiedemarm, Kartellstrafrecht (1976).

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oder andere, ihm insbesondere von psychoanalytischer Seite mitunter zugeschriebene Eigenschaften aus21. Es mag zutreffen, daß in gewissen Randbereichen — wie bei dem bereits erwähnten Betrug durch Provisionsvertreter — insoweit Ausnahmen gelten. Generell kann jedoch nahezu jede im Wirtschaftsleben tätige Person unter bestimmten Voraussetzungen, die regelmäßig in äußeren Verlockungen bestehen, zum Wirtschaftsdelinquenten werden — mag auch die Motivation des übersteigerten Bereicherungsstrebens den meisten Wirtschaftsdelinquenten gemeinsam sein. Freilich ergibt sich bereits hier für die große Tätergruppe der leitenden Angestellten, Prokuristen usw., daß die Bereicherung nicht auf die eigene Person und das eigene Vermögen gerichtet ist, sondern die Verbesserung der (regelmäßig fremden) Unternehmenssituation zum Gegenstand hat. Verallgemeinerungsfähig, jedenfalls aber einer empirischen Überprüfung wert scheint uns weniger aufgrund unserer kriminologischen Arbeiten als nach unserem persönlichen Einblick in einzelne Wirtschaftsbereiche die für einen Spezialfall der Steuerhinterziehung von Lange getroffene Feststellung zu sein, daß sich häufig Emporkömmlinge in den einzelnen Branchen als besonders kriminalitätsanfällig erweisen22. Ist somit das Täterproblem für die wirtschaftskriminologische Forschung eher sekundär — von den Schwierigkeiten einer eingehenden Exploration der in Frage stehenden Tätergruppen ganz abgesehen —, so kommt der Erforschung der Erscheinungsformen (Phänomenologie) und ihrer Ursachen (Ätiologie) ganz im Sinne der herkömmlichen Kriminologie vorrangige Bedeutung zu. Die Erforschung und Kenntnis der Erscheinungsformen einschlägiger Delinquenz ist zunächst bereits für die künftige Fassung einschlägiger Straftatbestände von Bedeutung23, da die nebenstrafrechtlichen Tatbestände bislang im allgemeinen in schlichten Verweisungen auf die wirtschaftsrechtlichen Gebots- und Verbotsnormen bestehen. Erst die Typisierung der Erscheinungsformen, die Feststellung ihrer Häufigkeit und die Würdigung ihrer Sozialschädlichkeit lassen Aussagen über die potentiellen Ansatzpunkte einer künftigen strafrechtlichen wie außerstrafrechtlichen Sozialkontrolle zu. Dabei können Soziologie und Psychologie jedenfalls bislang nur den Rang von Hilfswissenschaften einnehmen. Der Grundsatz nicht nur für die Er2 1 Zutreffend Lunge, Strafrechtsreform S. 22 f.; ebenso z . B . Berckhauer, in: Jung (Hrsg.), Fälle zum Wahlfach Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug (1975) S. 136 (142 f.) — beide gegen Mergen, in: Aktuelle Probleme der Wirtschaftskriminalität (1974) S. 13 (19 ff.). 22 Lange, Strafreditsreform S. 52. 2 3 Dazu treffend Lange, Rätsel Kriminalität S. 176, 178.

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forschung der Ursachen, sondern bereits für die „richtige" Erkenntnis und Einordnung der Erscheinungsformen von Wirtschaftsdelinquenz kann vielmehr nur ein juristisch-normativer und ökonomischer sein. Dies ausdrücklich hervorzuheben, geben einige neuere Bemühungen deutscher Kriminalsoziologen Anlaß. Vor allem die „Soziologie der Wirtschaftskriminalität" von Opp24 ist unbeschadet nützlicher Einzelanregungen insgesamt nicht nur auf weitesten Strecken naiv und überholt, sondern prototypisch für eine „engagierte", wirtschaftsferne Diskussion der Wirtschaftskriminalität. Hier wirkt sich deutlich das (durch einige bemerkenswerte Ansätze von Helge Pross25 nicht überbrückte) Fehlen einer speziellen Wirtschaftssoziologie aus (auch Fürstenbergs einschlägiger Versuch bleibt unergiebig und gelangt über Selbstverständlichkeiten wie die Arbeitsteiligkeit der modernen Wirtschaft 26 nicht hinaus). Vor allem erscheint uns die Forderung, der Soziologie auch hier den Primat zuzuerkennen 27 , angesichts der wissenschaftlichen Situation der bisherigen deutschen Soziologie — „zu wenig Empirie, zu viel Essayistik" 28 — nicht nur wissenschaftlich verfehlt, sondern auch politisch gefährlich zu sein: Soziologie und Psychologie können im Bereiche wirtschaftskriminologischer Forschung erst dann eine sinnvolle und nützliche Funktion ausüben, wenn sie ihren allgemeinen Ansatz verlassen und etwa zur speziellen Finanzpsychologie, z. B. im Sinne der Schule von Schmölders, werden. Dabei lassen wir die Frage völlig offen, ob das Beispiel der Finanzpsychologie 29 in den Bereich der Allgemeinen Psychologie oder, entstehungsgeschichtlich wohl zutreffender, in den der Wirtschaftswissenschaften gehört. Auch erscheint es uns, wie bereits früher dargelegt 30 , selbst f ü r den engeren Bereich der Wirtschaftswissenschaften unumgänglich, daß diese den bereits seit einiger Zeit in Gang befindlichen Prozeß fortsetzen und das Rollenmodell des homo oeconomicus durch Einbeziehung wirtschaftlicher Verhaltensforschung verbessern (oder ersetzen) sowie das theoretisch-klassische Preis-MengenModell des Marktes durch eine realitätsnähere Konzeption der Verkehrswirtschaft ablösen. Alle diese außerstrafrechtlichen Entwicklungen der einschlägigen Forschungsrichtungen vermögen jedoch nichts 24

Opp, Soziologie der Wirtschaftskriminalität (1975). Manager und Aktionäre in Deutschland (1965) sowie: Manager im Kapitalismus (1971) (gemeinsam mit Bötticher). 26 Fürstenberg, Wirtschaftssoziologie (2. Aufl. 1970) S. 33 ff. 27 In dieser Richtung insbes. Thoss, Z R P 1974, 238 ff. 28 Lepsius, FAZ N r . 79 v. 5. 4. 1975 S. 19. 29 D a z u vor allem Schmölders, Allgemeine Steuerlehre (4. Aufl. 1965) sowie: Finanzpolitik (1970) und: Das Irrationale in der öffentlichen Finanzwirtschaft (1974). 30 Tiedemann, in: Verh. 49. D J T Bd. I S. C 24 f. 25

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daran zu ändern, daß die Sozialwissenschaften als solche, also ohne weitere Spezialisierung, bei der Erforschung des Problems der Wirtschaftskriminalität nicht weiterzuhelfen vermögen31. Mit zutreffender Schärfe hat denn auch bereits Lange hinsichtlich des Einflusses psychologischer Erklärungsmodelle die belustigte Feststellung Sutherlands wiederholt, daß wir keinen Grund haben „anzunehmen, daß General Motors einen Minderwertigkeitskomplex hat oder daß die Aluminium-Company einen Frustrations-Aggressions-Komplex, US-Steel einen Ödipus-Komplex hat, daß die Armour-Company einen Todestrieb besitzt oder daß Dupont in den Mutterschoß zurückzukehren wünscht"32. Demgegenüber mißt Lange vor allem der Theorie der Anomie „hohen Erklärungswert" für unsere Bereiche bei, hält aber auch sie zu Recht für einseitig, weiterer Entwicklung und kritischer Ergänzung bedürftig33. Wir werden gegen Ende unserer Überlegungen auf das Problem der Kriminalitätserklärung im Bereich der Wirtschaftsdelinquenz noch einmal zurückkommen. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle jedenfalls, daß eine Spezialisierung und empirische Untermauerung der wirtschaftskriminologischen Forschung unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie schon deshalb unumgänglich ist, weil Wirtschaftsdelikte anders als die meisten sonstigen Delikte weitgehend fließend, also übergangslos in das normale wirtschaftliche Handeln eingebettet, in ihren Folgen nicht ohne wirtschaftliche Gesamtbeurteilung zu sehen und in ihrer Begehungsweise und Motivation anhand des „normalen", in der konkreten Gesellschaft geltenden wirtschaftlich-normativen Ordnungsrahmens zu beurteilen sind34. In wie weit reichendem Maße einer das jeweilige Rechts- und Kultursystem nicht sprengenden kriminologischen Forschung im Bereich der Wirtschaftsdelinquenz dadurch Grenzen gesteckt sind, mag ins31 Auszunehmen sind etwa die im Grundansatz zutreffende soziologische Systemtheorie, deren Nützlichkeit sich insbesondere bei der Eruierung der Sozialschädlichkeit von Erscheinungen in wirtschaftlichen Interaktionsprozessen und bei sonstigen Verstößen gegen soziale (überindividuelle) Rechtsgüter zeigt (dazu Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 350 ff.; Tiedemann, Kartellstrafrecht, 1976) sowie die soziologische Rollentheorie, die Lange vor allem für das Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht fruchtbar gemacht hat — jedoch unter Betonung des Umschlages von der faktischen zu einer normativen Fassung (Rätsel Kriminalität S. 112 ff., Strafrechtsreform S. 44 ff.). 32 Strafrechtsreform S. 23. Zur Kritik dieser zugegebenermaßen polemischen Sätze etwa Mannheim, Vergleichende Kriminologie Bd. II (1974) S. 574. 33 Rätsel Kriminalität S. 204. 34 Tiedemann, in: Verh. 49. DJT Bd. I S. C 19; zustimmend und weiter klarstellend Gutzier, in: Schäfer, Wirtschaftskriminalität, Weiße-Kragen-Kriminalität (1974) S. 529 (533); Schellhoss, in: Kaiser-Sack-Schellhoss (Hrsg.), Kleines kriminologisches Wörterbuch (1974) S. 390 (392).

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besondere das von Lange besonders nachhaltig erörterte Beispiel der Kartelldelinquenz zeigen. Da das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Kartellabsprachen als solche nicht verbietet, vielmehr seit der Kartellnovelle 1973 (vgl. § 5 b GWB) sogar die Kooperation zwischen kleinen und mittelständischen Unternehmen ausdrücklich fördert, sich im übrigen in seinem Anwendungsbereich auf „die halbe Wirtschaft" beschränkt (vgl. §§ 99 ff. GWB), muß sich auch die kriminologische Analyse von Kartelldelinquenz, ihren Folgen und ihrer Sozialschädlichkeit an derartige wirtschaftsrechtliche und wirtschaftspolitische Vorentscheidungen halten. Die pauschale Feststellung Opps, die Schäden lägen hier „auf der Hand", übersieht, daß das GWB sogar verbraucherfreundliche Kartelle verbietet und daß klassische Preisabsprachen im Sinne der frühen Industriekartelle nicht mehr mit vorrangiger Häufigkeit auftreten sowie keineswegs durchgehend zu den gefährlichsten Wettbewerbsbeschränkungen zählen, vielmehr insbesondere im engen Oligopol Verhaltensweisen der ökonomischen Reaktionsverbundenheit vorherrschen, die sogar außerstrafrechtlich nicht faßbar und gleichwohl Ausdruck freiheitsbedrohender Marktvermachtung sind. Auch im übrigen sind der Untersuchung und Würdigung mißbräuchlicher Ausnutzung wirtschaftlicher Machtstellungen dadurch Grenzen gesetzt, daß das Kartellgesetz diesen Bereich nicht durch Verbote erfaßt, da die existenten Mittel des juristischen Instrumentariums mangels einschlägiger Tatbestandsbestimmtheit insoweit selbst außerhalb des Strafrechts nicht hinreichen. Aber auch sonst ist der erste Anschein falsch, etwa die Ermessensspielräume bei Abschreibung und Bewertung im Bilanzwesen oder bei der abmahnenden Untersagungskonkretisierung von Kartellpolitik im Wettbewerbsrecht als Definitionsmacht der Behörden und als stigmatisierende Zuschreibung zu bezeichnen. In Wahrheit schützt hier nicht das behördliche Ermessen, sondern der Rechtsgrundsatz der Tatbestandsbestimmtheit in Verbindung mit der strafrechtlichen Irrtumslehre den „Täter" davor, in Randbereichen bestraft zu werden. Auch die übrigen Einflüsse und Anregungen einer sozialwissenschaftlich motivierten „modernen" Kriminalsoziologie im Bereich der Wirtschaftskriminologie sind bestenfalls Selbstverständlichkeiten: Daß bei der Wirtschaftsdelinquenz das Dunkelfeld groß und die Anzeigebereitschaft klein ist, welche Motivation hierfür maßgebend und welches die gesamtgesellschaftliche Sicht der sog. Abweichungsphänomene in diesem Bereich ist, ist weitgehend erwiesen, wenn auch nicht mit repräsentativen Mitteln bewiesen. Die Dynamik, ja Eile und Hast heutiger Strafrechtspolitik nimmt gerade im Bereich der Wirtschaftskriminalität keine Rücksicht auf die umständlichen Gehversuche einer „Soziologie der Wirtschaftskriminalität".

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IV. Die von der labeling-Lehre bekanntlich konsequent abgelehnte Erforschung der Ursachen von Wirtschaftsdelinquenz sieht als vorrangigen Faktor bei den bereits erwähnten äußeren Verlockungen vor allem das Verhalten der Konkurrenten, daneben aber — und hiermit eng verbunden — auch die Unzulänglichkeit der wirtschaftsrechtlichaußerstrafrechtlichen Normgebung. Bei den f ü r die Wirtschaftsdelinquenz auf zahlreichen Teilgebieten besonders typischen Umgehungshandlungen ist dies offensichtlich, fällt das Verhalten des „Täters" hier doch gerade nicht unter die gesetzlichen Vorschriften, so daß die Frage einer legislatorischen Schließung der einschlägigen Lücken zur vorrangigen Aufgabe wird. Neben derartigen Lücken der Wirtschaftsgesetze gilt es aber auch zu erkennen, daß offenbar ganze Instrumente der Wirtschaftspolitik und des Wirtschaftslebens kriminogene Faktoren darstellen. Wir haben versucht, dies für den Bereich der Subventionsdelinquenz nachzuweisen, geht es doch bei der Subventionierung um die einseitige Gewährung öffentlicher Leistungen, ohne daß dieser einseitigen Leistungshingabe das natürliche Kontrollmittel der Gegenleistung gegenüberstände. Wir haben daher die öffentliche Subventionierung Privater als „einmalig kriminogenen Sachverhalt" umschrieben — mit der Folgerung, daß de lege ferenda das Fehlen des natürlichen Kontrollmechanismus durch spezielle Verwendungsauflagen, Rückzahlungsklauseln, Aufsichtsbefugnisse usw. zu ersetzen ist. Dieser planwirtschaftliche Einschlag in die verkehrswirtschaftliche Ordnung muß selbstverständlich die Ausnahme und auf Bereiche beschränkt bleiben, in denen Kriminalität einen volkswirtschaftlich gefährlichen oder sozialethisch unerträglichen Umfang annimmt. Vor allem ist zu bedenken, daß offenbar alle intensiven Eingriffe in das Geschehen einer wettbewerbswirtschaftlich geordneten Marktwirtschaft mehr oder weniger kriminogen sind. Die ausgedehnte Kriminalität bzw. Delinquenz im Bereich der Marktordnung i. e. S. (vor allem auf landwirtschaftlichem Sektor), im Bereich der Rüstungswirtschaft (mit ihrer verwaltungsstaatlichen Preisbildung), bei den Ostblockexportmärkten und anderen wirtschaftspolitischen Ausnahmebereichen deutet auf die Einsicht hin, daß die Mischung wirtschaftspolitischer Systeme die besondere Gefahr einer Ursächlichkeit f ü r ausgedehnte Wirtschaftsdelinquenz mit sich bringt. Bei der Bekämpfung von Wettbewerbskriminalität im Bereiche des U W G hat sich institutionell der Wettbewerb selbst (bzw. die Wachsamkeit der beteiligten Wettbewerber) als bester Wächter über die Einhaltung der Normen erwiesen 35 . 35 Scbricker, in: Tagungsberichte der Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität Bd. VIII (1975) Anl. 5 S. 32.

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Das Verhalten der Wettbewerber, also der Konkurrenten, gehört im Bereich einer marktwirtschaftlich geordneten Wettbewerbswirtschaft zu den bereits erwähnten vorrangigen äußeren Konstellationen und Verlockungen. Die einfache und bekannte Tatsache, daß der einzelne Unternehmer das Verhalten der Konkurrenz beobachtet, mündet in die wissenschaftlich fundierte Lehre vom Lernen am Erfolg bzw. vom Lernen am Modell, wie sie die neuere Lernpsychologie entwickelt hat 36 und die bereits in primitiver, recht laienhafter Form den Auffassungen Sutherlands von der Entstehung kriminellen Verhaltens allgemein zugrunde lag. Damit wird zugleich die theoretische Grundlage für jene alte Beobachtung der Wirtschaftskriminalistik hinsichtlich der sog. Sog- und Ansteckungswirkung der Wirtschaftsdelinquenz geliefert. Entgegen mancher Skepsis gegenüber dieser Beobachtung37 ist nicht nur im Bereich der von uns untersuchten Subventionsdelinquenz, sondern zum Beispiel auch für die Lebensmittelund Weinfälschung, die Abschöpfungshinterziehung und die Zollkriminalität belegt, daß ganze Branchen von dem Beispiel Einzelner angesteckt werden. Diese Tatsachen rufen nach Reform, auch wenn im einzelnen ungeklärt ist, wie groß das Dunkelfeld und wie hoch das genaue Ausmaß einschlägiger Delinquenz ist. Dabei kommt — im Sinne der Forderungen Langes38 — der Frage einer Verbesserung des Sanktionswesens zentrale Bedeutung bei, ohne daß bisher auch nur Ansätze sichtbar wären, welche Sanktionen außerhalb des Strafrechts zugleich rechtsstaatlich und freiheitsbewahrend, aber auch der Sozialschädlichkeit einschlägiger Verhaltensweisen Rechnung tragend und hinreichend effektiv sind. Daß ein praktikables Wirtschaftsstrafrecht angesichts des potentiellen Täterkreises hohe generalpräventive Kraft zu entfalten vermag und zugleich Ausdruck freiheitlich-liberaler Gesinnung ist (da der Nicht-Straftäter dem Druck und der Androhung der Strafnorm ausweichen kann), scheint uns ebenso sicher zu sein wie die Tatsache, daß es den ehrbaren Kaufmann nicht nur noch „in Lehrbüchern für kaufmännische Lehrlinge" gibt 39 . Bei aller Kritik und bei allem Reformeifer darf die Mahnung Langes40 nicht

36 Dazu mit Nachw. die Arbeit unseres Schülers Breland: Lernen und Verlernen von Kriminalität (1975). 3 7 Vgl. dazu etwa Kaiser, Kriminologie S. 174. 38 Die Sanktionen im Wirtschaftsstrafrecht, in: Ferid (Hrsg.), Deutsche Landesreferate zum V. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Brüssel 1958 S. 2 1 7 f f . sowie in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Grundfragen der Wirtschaftskriminalität (1963) S. 33 (35). 39 So aber Opp a. a. O. S. 78. 40 Strafrechtsreform S. 2 7 ; zust. bereits Tiedemann, J Z 1973, 104.

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vergessen werden, daß auch die Wirtschaftsdelinquenz nicht die Regel, sondern die Ausnahme darstellt. Sonst wäre sie auch nach dem eigenen Verständnis der „klassischen" wie der „modernen" Kriminologie keine Devianz.

Gehalt und Erklärungswert funktionaler Kriminalitätstheorien DIETER MEURER

Eine der herausragendsten Eigenarten von Richard Langes Beiträgen zur Kriminologie ist die unbequeme Hartnäckigkeit, mit der er sich stets gegen einseitige und entstellende Reduktionen der Wirklichkeit gewandt hat. Nicht deren notwendige Aufbereitung in verschiedenartigen Modellen, wohl aber die unzulässige Verallgemeinerung des Erkenntnisbereichs dieser Konstrukte ist ein Hauptthema seiner metakriminologischen 1 Kritik. Andererseits hat er immer wieder und mit großem Nachdruck die Einbeziehung gesicherter Ergebnisse der Bezugsdisziplinen in die kriminalwissenschaftliche Forschung und Praxis gefordert. Dieser kritisch-integrativen Leitlinie 2 entsprechend sollen zwei Aspekte heute zunehmend diskutierter funktionaler Kriminalitätstheorien 3 untersucht werden, deren Analyse vielleicht zur Vermeidung aussichtsloser Forschung und zur exakten Formulierung kriminologischer Hypothesen beitragen kann. Die theoretisch-systematische Betrachtung bezweckt: die Feststellung typischer Fehler und deren Vermeidung durch Konstruktion verbesserter Modelle, die wiederum Aussagen über empirischen Erklärungswert und Gehalt der untersuchten Theorienart 4 erlauben. 1

Die Monographie, Das Rätsel K r i m i n a l i t ä t , 1970, hat er im V o r w o r t (S. 7) ausdrücklich als „den Versuch einer A r t Metakriminologie" charakterisiert. 2 Vgl. d a z u n u r a . a . O . , S. 212 f., 221 f., 316 ff., 340 ff. u. ö f t e r . Strafrechtsr e f o r m , 1972, S. 91 ff. D e r Ladendiebstahl — Ein O r t wissenschaftlicher V e r wirrung, Festschrift f ü r H . J a h r r e i ß , 1974, S. 117 ff. 3 Kaiser, Kriminologie, 1971, S. 24 hebt hervor, d a ß in der modernen K r i m i n o logie funktionalistische sowie am K u l t u r k o n f l i k t orientierte Modelle gegenüber der reinen Kausalanalyse als Aussage- u n d E r k l ä r u n g s f o r m an Boden gewinnen. Allerdings sind f u n k t i o n a l e Theorien in ihrer aus den U S A importierten Form wegen der Abstraktheit, theoretischen U n k l a r h e i t und Unergiebigkeit f ü r eine empirische Kriminologie nahezu unbrauchbar, da sie „mit dem Anspruch kriminologischer W e l t f o r m e l n " (Kaiser) a u f t r e t e n . Sdion deshalb erscheint es notwendig, zu überp r ü f e n , ob die v o n Kaiser (vgl. dazu auch die ausführlichen u n d differenzierten A u s f ü h r u n g e n der im folgenden zitierten 2. Aufl., 1973, S. 114 ff.; ferner Göppinger, Kriminologie, 2. Aufl., 1973, S. 35 ff. m. weit. Nachw.) kritisierten Mängel nur jenen Theorien oder der Funktionalanalyse generell a n h a f t e n . 4 Die G r u n d a n n a h m e n f u n k t i o n a l e r Theorien w e r d e n nicht nur in Kriminologie u n d Soziologie (zum sog. Funktionalismusstreit vgl. z. B. die kritische Analyse der Thesen v o n Dürkheim, Merton u n d T. Parsons durch G. C. Homans u n d R. Dahrendorf in: Theorien des sozialen Wandels, hrsg. v. W. Zapf, 1969, S. 95 ff. und 108 ff. m. weit. Nachw.), sondern wegen ihres C h a r a k t e r s als interdisziplinäre D e n k f o r m

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I.

Die Rückführung von Einzelaussagen über die Realität auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten ist Ziel jeder empirischen Wissenschaft. Dieser Vorgang wird in der Kriminologie übereinstimmend mit vergleichbaren Disziplinen als Erklärung 5 bezeichnet. Eine besondere Spielart ist die funktionale Erklärung. Im Gegensatz zur Kausalanalyse 6 beruht jene nicht auf Gesetzesaussagen über Wirk Ursachen, sondern auf Theorien über £«Jursachen, denen bestimmte Aufgaben, Zwecke oder Funktionen für ein übergeordnetes Ganzes zugeschrieben werden. Der Begriff der Funktion bzw. seine Surrogate implizieren die Annahme eines Systemzusammenhangs i. S. eines sich selbst in Gang haltenden ,Kreisprozesses' und entsprechen den Aktivitäten, die dazu beitragen 7 . 1.

Die auf Quetelet und Dürkheim zurückgehenden Theorien der strukturell-funktionalen Zusammenhänge in der Kriminalsoziologie 8 u. a. auch in der Wissenschaftstheorie seit längerem diskutiert (grundlegend C. G. Hempel, Aspects of Scientific Explanation, 2. Aufl., 1968, S. 297 ff.; darauf a u f bauend W. Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, 1969, S. 555 ff. jeweils m. weit. Nachw.). 5 D a z u z. B. Kaiser, a. a. O., S. 112 ff. Das nach Hempel (a. a. O., S. 245 ff.) und Oppenheimer benannte allgemeine Schema der wissenschaftlichen Erklärung ( H - O Schema) lautet: Ein Phänomen (Explanandum) w i r d erklärt, indem man als P r ä missen sowohl allgemeine Gesetze (Aussage über Gesetzmäßigkeiten jedweder Art) einerseits und Randbedingungen oder Antecedenzbedingungen (konkrete Sachverhaltsbeschreibungen) andererseits verwendet. Diese Prämissen werden unter dem Begriff „Explanans" zusammengefaßt. Zur Verwendung in der Kriminologie vgl. zuletzt W. Heinz, Kriminalitätstheorien, in: Fälle zum Wahlfach Kriminologie . . . , hrsg. v. H. Jung, 1975, S. 16 ff., 20 f. m. weit. Nachw. 6 Einfaches Beispiel nach K. R. Popper, Logik der Forschung, 3. Aufl., 1969, S. 31 f.: ,Ein Faden ist zerrissen.' Dieses E x p l a n a n d u m w i r d erklärt durch die allgemeinen Gesetze ,jeder Faden verträgt nur eine bestimmte Belastung' und , f ü r einen Faden einer bestimmten A r t ist die maximale Belastbarkeit 1 kg', sowie durch die Randbedingungen ,der zerrissene Faden w a r ein solcher 1-kg-Faden' und ,er w a r mit 2 kg belastet worden'. Offensichtlich wäre es unsinnig, der zugrundeliegenden Schwerkraft (Wirkursache) eine Funktion f ü r das Zerreißen des Fadens zuzuschreiben. 7 Zu den G r u n d a n n a h m e n funktionaler Theorien vgl. z. B. Hempel, a. a. O., S. 303 ff. mit zahlreichen Beispielen aus verschiedenen Wissenschaften. Auf die Entstehungsgeschichte der D e n k f o r m , die sich z. B. in der aristotelischen Entelechie, aber auch im biologischen Vitalismus findet, kann hier nicht eingegangen werden. 8 D a z u zählen z . B . die Anomietheorien Dürkheims und Mertons, die Drucktheorie Clowards und Ohlins sowie zahlreiche sozialpsychologische, systemtheoretische und am Kulturkonflikt orientierte Varianten. Ein ausführlicher und kritischer Überblick findet sich bei Göppinger, a. a. O-, S. 33 ff., insbes. S. 35 ff. m. weit. Nachw., der zutreffend darauf hinweist, d a ß zwischen den einzelnen Systemen keineswegs eine unüberbrückbare K l u f t besteht (S. 49). D a es hier um die Analyse

Gehalt und Erklärungswert funktionaler Kriminalitätstheorien

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basieren demgemäß auf der Beobachtung einer ,Endursache' sozialer Systeme, nämlich auf der Feststellung, daß in jeder Gesellschaft Kriminalität statistisch nachweisbar ist. Dieses Merkmal gesellschaftlicher Systeme, Subsysteme oder Gruppen wird durch einen funktionalen Zusammenhang von Sozialstruktur und deren Faktoren einerseits, Verbrechen und abweichendem Verhalten andererseits erklärt: Nach Dürkheim9 ist überall die Möglichkeit zu abweichendem Verhalten gegeben, sofern soziales Verhalten als geregeltes Verhalten verstanden wird. Die damit vollzogene Verbindung von abweichendem Verhalten, Kriminalität (als sanktioniertem Unterfall), sozialen Regelungen und sozialen Strukturen führt dazu, ein bestimmtes Maß an Verbrechen als integrierenden Bestandteil jeder Gesellschaft anzusehen und deshalb f ü r notwendig zu halten. Die Reaktion auf Kriminalität folgt aus der strukturellen Ordnung des sozialen Lebens, ist mithin Funktion des gesellschaftlichen Systems und nicht nur von tradierten ethischen Normen abhängig. Verbrecher und Verbrechen sind reguläre Wirkungsfaktoren des sozialen Lebens und zum Funktionieren des Systems erforderlich. Folgerichtig indizieren zu hohe oder zu niedrige Kriminalitätsraten, daß sich das System nicht mehr im ,Gleichgewicht', sondern in einem anomischen Zustand befindet. Anomie ist Ausdruck des Zusammenbruchs bisheriger Regelungen von Gesellschaften und bezeichnet eine normlose, nicht normale Situation, die soziale Dysfunktionen zur Folge hat 10 . Die heute noch diskutierte Konzeption der Anomietheorien 11 geht auf K. R. Merton zurück, der eine zusätzliche Differenzierung durch eines Theorieni;y/>«s geht, soll auf Einzelheiten verzichtet und im folgenden auf die grundlegenden und heute noch diskutierten Beiträge v o n Dürkheim und Merton Bezug genommen werden. Zur allgemeinen empirischen Bestätigungssituation kriminalsoziologischer Erklärungsansätze vgl. etwa W. Springer, Kriminalitätstheorien und ihr Realitätsgehalt, 1973. 9 D i e hier interessierenden Passagen seines Buches Les règles de la méthode sociologique finden sich unter der signifikanten Uberschrift: Kriminalität als normales Phänomen, in dem Sammelband Kriminalsoziologie, hrsg. v. F. Sack/R. König, 1968, S. 3 ff. 10 Dürkheim, a . a . O . , S. 8: „ . . . w e i t entfernt davon, daß ein allzu auffälliges Absinken der Kriminalität unter ihr gewöhnliches N i v e a u ein begrüßenswertes Ereignis ist, kann es als sicher hingestellt werden, daß dieser vermeintliche Fortschritt zugleich mit irgendeiner Störung auftritt und mit ihr zusammenhängt. So ist zu erklären, daß die Zahl der Gewaltverbrechen nie so niedrig ist w i e zu Zeiten der N o t . " 11 Oberblick bei Kaiser, a . a . O . , S. 118 f.; zur Kritik vgl. etwa R. Lange, a . a . O . , 1970, S. 180 ff. m. kritischen Ausführungen insbes. zu E.H.Powell; K.D.Opp, Kriminalität und Gesellschaftsstruktur, 1968, S. 109 ff. sowie A b w e i chendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, 1974, S. 123 ff.; ferner H. Haferkamp, Kriminalität ist normal, 1972, S. 48 ff. jeweils m. weit. N a c h w .

Dieter Meurer

558 Trennung

von

kultureller

und

sozialer

Systemstruktur

eingeführt

h a t 1 2 . E r unterscheidet p r i n z i p i e l l zwischen m a n i f e s t e n u n d

latenten

F u n k t i o n e n : G e g e n s t a n d d e r F u n k t i o n s a n a l y s e sei stets ein w i e d e r h o l bares und standardisiertes M e r k m a l , wie z. B. Institutionen,

soziale

P r o z e s s e u n d soziale N o r m e n . D i e F u n k t i o n des M e r k m a l s bestehe in seinem stabilisierenden A n p a s s u n g s e f f e k t . W e n n dieser v o n den „ G l i e dern

des

Systems"

Funktionen,

wird

intendiert

ist,

spricht

er h i n g e g e n nicht

manifesten

gesucht, v o n

F u n k t i o n e n . Z u r D e m o n s t r a t i o n v e r w e i s t Merton lands

von

M ertön

bewußt

latenten

u. a . 1 3 a u f

Suther-

A n a l y s e d e r S t r a f e 1 4 . Diese v e r f e h l t nicht selten i h r e m a n i f e s t e

F u n k t i o n : z. B . die R e s o z i a l i s i e r u n g des Rechtsbrechers. E i n e r a t i o n a l e Erklärung

sei

erst

durch

Einbeziehung

ihrer

latenten

Funktionen

m ö g l i c h : D i e N o r m a l s t r u k t u r (spezifische innere O r d n u n g d e r W e r t i d e e n ) diene d e m E i n z e l n e n als W e r t m u s t e r ; a u f diese O r d n u n g richten

sich die K o l l e k t i v g e f ü h l e .

Sie w i r d

durch

den

Akt

des

Ver-

brechens in F r a g e gestellt, w e i l d e r T ä t e r v o n den f ü r richtig g e h a l t e nen M u s t e r n a b w e i c h t . D i e S t r a f e v e r d e u t l i c h t als e r f o r d e r l i c h e R e a k t i o n beispielhaft die W e r t i d e e n , w o d u r c h die K o l l e k t i v g e f ü h l e in d e m f ü r ein n o r m a l e s F u n k t i o n i e r e n des S y s t e m s n o t w e n d i g e n I n t e n s i t ä t s grad erhalten werden15. 12 Social Theorie and Social Structure, 5. Aufl., 1962, S. 119 ff., insbes. S. 131 ff. Seine berühmte Formulierung von der Divergenz zwischen kulturellen Werten und Zielen einerseits und sozial gebilligten Wegen, sie zu erreichen, andererseits hat der Anomietheorie ihren auch heute noch signifikanten Charakter gegeben. In der Einleitung des Kapitels (S. 122) betont er seine Absicht, „die funktionale Theorie auf Probleme des sozialen Wandels auszuweiten". (!) Zum Verständnis des Ansatzes ist insbes. das Einleitungskapitel „Manifest und Latent Funktions" (S. 19 ff.) von besonderer Bedeutung. 13 Merton selbst wählt folgendes eingängige Beispiel ( a . a . O . , S. 64 f.): Die Regentänze und andere Zeremonien der Hopi, die dazu dienen sollen, Regen herbeizuführen, verfehlen ihre manifeste Funktion: die Herbeiführung von Regenfällen. Gäbe es nur solche manifesten Funktionen, so könnte man allenfalls kausalpsychologische Erklärungen für dieses irrationale und abergläubische Verhalten zu geben versuchen. Der Funktionsanalytiker aber richte sein Augenmerk darüber hinaus auf die latenten Funktionen. Diese bestehen darin, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und die Gruppenidentität dadurch zu stärken, daß weit verstreut wohnende Glieder einer Gruppe sich bei periodisch wiederkehrender Gelegenheit versammeln und eine gemeinsame Tätigkeit verrichten. Das Grundmodell dieser Erklärung findet sich nach Homans, a. a. O., S. 96 bereits in dem Buch Les formes élémentaires de la vie religieuse, in dem Dürkheim den Versuch unternimmt nachzuweisen, wie die Religion eines primitiven Stammes dazu verhilft, den Stamm zusammenzuhalten. 14 Principles of Criminology, 3. Aufl., 1939, S. 349 f. Ferner z. B. Dürkheim, Deux lois de l'évolution penale, L'année sociologique, 1899—1900, 4, S. 55 ff. Vgl. zum folgenden auch die Ausführungen bei Göppinger, a. a. O., S. 36. 15 Göppinger, a. a. O., S. 36 weist u. a. auch auf die ethnologischen Untersuchungen B. Malinowskis und ihre Relevanz für die Kriminologie hin. Bei ihm

Gehalt und Erklärungswert funktionaler Kriminalitätstheorien

559

2. Die Schlüsselbegriffe funktionaler Erklärungen finden sich nicht nur in der Kriminalsoziologie 16 . Sie lassen sich z. B. auch in der psychoanalytischen Kriminologie nachweisen, und zwar bereits in den zugrundeliegenden Schriften S. FreudsEin klares Beispiel bildet seine Theorie der Symptombildung 18 . Danach besteht zwischen einem krankhaften Zustand (Symptom) und der Entwicklung von Angstzuständen ein enger Zusammenhang. Wenn man z. B. einen Zwangsneurotiker hindert, sich nach einer Berührung die Hände zu waschen, wird er von einer unerträglichen Angst befallen. Ein Agoraphobe bleibt ruhig, solange er auf der Straße begleitet wird; sich selbst überlassen produziert er einen Angstanfall. Auf der Grundlage solcher und anderer Beispiele nimmt Freud an, daß die Angst nicht nur Symptom, sondern Grundphänomen der Neurose ist. Deshalb werde alle Symptombildung nur unternommen, um der Angst zu entgehen: „die Symptome binden die psychische Energie, die sonst als Angst abgeführt würde . . ." 19 Die Forderung des Begleitetwerdens bzw. die Zwangshandlung des Waschens haben „die Absicht und auch den Erfolg, solche Angstausbrüche zu verhüten" 1 9 . Das abstrakte Schema der Funktionsanalyse läßt sich ohne weiteres nachweisen: Das System ist der „psychische Apparat" 2 0 , an dem sich krankhafte Symptome herausbilden, die analysierte Verhaltensweise (Endursache) das zwangsneurotische bzw. agoraphobische Verhaltensfinden sich funktionale Erklärungen besonders ausgeprägt. Zur Funktion der Magie bei primitiven Menschen führt er aus: "Thus magic fulfills an indispensable function (!) within culture. It satisfies a definite need which cannot be satisfied by a n y other factors of primitive civilisation." (Encyclopedia Britannica, 1926, Stichwort "Anthropology".) Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß diese Aussage auf dem gleichen Schema beruht, das auch Dürkheim und Merton ( N . 13) benutzen. 16 D i e Verbreitung funktionaler Argumente w i r d in den bei Sack/König, a. a. O., abgedruckten Beiträgen deutlich, z . B . T.Parsons (S. 11): „Es sei angenommen, daß ein stabiler Interaktionsprozeß — d. h. ein Interaktionsprozeß im Gleichgewichtszustand — dahin strebt, sich ohne Änderung zu reproduzieren." Vgl. insbes. den Beitrag v o n L. A. Coser, Einige Funktionen abweichenden Verhaltens und normative Flexibilität, S. 21 ff. Ferner z. B. A. K. Cohen, S. 2 2 4 ; R. A. Cloward, S. 314 ff. 17 R. Herren, Freud und die Kriminologie, 1973, S. 137 weist darauf hin, daß sich eine Reihe v o n H y p o t h e s e n der psychoanalytischen Kriminologie bereits in Freuds Buch, Totem und Tabu, 1913, finden. Bekanntlich bedient sich Freud ebenso wie Merton, Malinowski und Dürkheim zur Exemplifikation ethnologischer Beispiele. 18 H e m m u n g , S y m p t o m und Angst, Gesammelte Schriften, Bd. X I , 1928, S. 21 bis 115. 19 A . a. O., S. 83 f. 20 A . a . O . , S. 97 u. öfter; vgl. ferner S. 91: „seelische Ö k o n o m i e " sowie z. B S. 29: „Funktion des Systems".

560

Dieter Meurer

muster. Deren Funktionen bestehen in der Bindung von Angst. Dies ist notwendig, um das normale Funktionieren des Systems (erträgliches Weiterleben des Individuums ohne schwerste seelische Krisen) zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, daß einige Erklärungsansätze der psychoanalytischen Kriminologie 21 methodisch 22 auf funktionalem Denken basieren: Schlüsselbegriff dieser Theorien typen ist die ,latente Kriminalität' 2 3 , die als Merkmal jedes normalen psychischen Systems begriffen wird. Das Ineinandergreifen der seelischen Instanzen Es, Ich und Über-Ich gewährleistet in der Regel die Verdrängung der verbrecherischen Neigungen und dadurch „gelingt es dem Ich . . . im seelischen Haushalte einen Gleichgewichtszustand herzustellen" 24 . Kommt es zu Störungen dieses „dynamischen Gleichgewichts" 25 , so kann die latente Kriminalität nicht mehr in Schach gehalten werden. Es erfolgt eine Flucht in die „Neurose, Aversion, Psychose oder Kriminose" 26 . Das Verbrechen hat Krankheitswert, wenn es als Symptom einer entsprechenden Neurose zu deuten ist 27 ; ähnlich wie andere zwangsneurotische Verhaltensmuster dient es der Bindung von Angst. Diese Modellvorstellung läßt sich auch auf Gesellschaften übertragen: Mit Hilfe von Projektionen kommt es zur Bildung eines 21 Zu deren G r u n d a n n a h m e n vgl. Herren, a. a. O., auf dessen umfassende Ausführungen auch H. Mannheim, Vergleichende Kriminologie, 1974, S. 374 ff. Bezug nimmt. Zu den Grundzügen der Tiefenpsychologie u n d Neurosenlehre und deren Verwendung in der Kriminologie vgl. Hilde Kaufmann, Kriminologie I, 1971, S. 56 ff., 192 ff. Auf die einzelnen Ausprägungen der psychoanalytischen Kriminologie in den Schriften von Freuds Schülern u n d Anhängern (z. B. Reik, Alexander, Staub, Zullinger und Reiwald) kann hier nicht eingegangen werden. 22 Zu den krassen inhaltlichen Gegensätzen von Kriminalsoziologie und psychoanalytischer Kriminologie vgl. z. B. R. Lange, a. a. O., 1972, S. 94 ff. 23 Vgl. zu diesem auf E. Wulften zurückgehenden Begriff die umfassenden Ausführungen in dem gleichnamigen Kapitel bei Herren, a. a. O., S. 169 ff. m. weit. Nadiw. 24 Herren, a . a . O . , S. 79. 25 H.Ostermeyer, Strafrecht und Psychoanalyse, 1972, S. 13: „Dieser seelische A u f b a u ist nicht als ein mechanistisch gedachter A p p a r a t , sondern als ein funktional zu verstehendes Modell gemeint. D e r Wirklichkeit wird am ehesten die Vorstellung eines dynamischen Gleichgewichts gerecht, das in dem beständigen Aufeinanderwirken u n d Voneinanderbedingtsein der seelischen Instanzen sich dann einstellt, wenn der seelische Kreislauf sich nirgends bricht oder staut." 26 Herren, a. a. O., S. 80; vgl. auch Ostermeyer, a. a. O., S. 16: „Die Funktion des Symptoms besteht darin, die Energie des verdrängten Triebs zu verbrauchen, das heißt dem verdrängten Trieb eine Ersatzbefriedigung zu bieten, oder ein traumatisches Erlebnis in eine f ü r das Ich erträgliche Form umzudeuten." 27 Siehe dazu den Uberblick bei Ostermeyer, a. a. O., S. 78 ff., ferner Herren, a . a . O . , S. 184: „Sie (seil, kriminelle Triebtendenzen) können sich aber auch in neurotischen Symptomen manifestieren (z. B. Waschzwang des Neurotikers, der unbewußt seine H ä n d e von gedanklicher Blutschuld reinigen zu müssen glaubt)." (!)

Gehalt und Erklärungswert funktionaler Kriminalitätstheorien

561

kollektiven psychischen Systems 28 . Das soziale Kollektiv-Ich projiziert seine eigene latente Kriminalität und unbewußte Schuld auf den Asozialen und den Kriminellen. Dieser ist ,Sündenbock' und Stellvertreter' der Gesellschaft. Seine Bestrafung ist verschleierte Selbstbestrafung und hat die Funktion der Entlastung von eigenem Schulddruck durch Bindung kollektiver Angst 2 9 . 3. Die inhaltliche Skizze verdeutlicht die formalen Grundannahmen funktionaler Kriminalitätstheorien: — Kriminalität (abweichendes Verhalten, latente Kriminalität, Strafe) ist ein stets anzutreffendes Merkmal M sozialer und/ oder psychischer Systeme S im Normalzustand. — Der Begriff ,Normalzustand' umschreibt das adäquate Funktionieren des Systems S zu einem Zeitpunkt t unter bestimmten Umständen U innerer (Ui) und äußerer (Ua) Art. — Die Funktion des Merkmals M besteht in der Aufrechterhaltung der kulturellen/sozialen/psychischen Systemstruktur, einer Bedingung B also, auf der das System basiert. — Zwischen Kriminalitätsentwicklung, Systemstruktur und Systemzustand bestehen Wechselwirkungen.

II.

Zur Analyse im Blick auf logische Korrektheit, empirische Signifikanz und prognostische Verwendbarkeit funktionaler Kriminalitätstheorien soll wegen der inhaltlichen Divergenzen von der konkreten Verwendung abstrahiert werden. Den Gegenstand der weiteren Untersuchungen bildet ein idealtypisches Erklärungsmodell Eo, das auf den erarbeiteten Grundannahmen beruht 3 0 : Explanans:

(a)

(Eo)

(b)

Das System S funktioniert zum Zeitpunkt t unter Umständen von der Art U = Ui + Ua normal; für irgendeinen Zeitpunkt gilt: S funktioniert nur dann normal, wenn eine bestimmte Bedingung B erfüllt ist;

2 8 Zur ,Psychologie der strafenden Gesellschaft' siehe P. Reiwald, Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, 1948, S. 283 ff. Vgl. ferner den Uberblick bei Kaiser, a . a . O . , S. 119 f. m. Nachw. aus den Schriften von Kitzinger, Bauer, Mitscherlich u. a. 2 9 Vgl. dazu z. B. A. Mergen, Die Kriminologie, 1967, S. 86 ff. 3 0 Vgl. sub I 3; zum Aufbau und zur Terminologie N. 5.

562

Dieter Meurer

Explanandum:

(c)

wann immer das System S das Merkmal M besitzt, dann liegt auch B vor.

(d)

Das Merkmal M ist in S zum Zeitpunkt t anzutreffen.

1. Dieses Modell enthält einen logischen Alltagsfehler 31 : Aus dem normalen Funktionieren des Systems wird der Schluß auf eine dafür hinreichende Bedingung gezogen. Nach der Prämisse (b) soll B eine notwendige Bedingung für das normale Funktionieren von S sein. In (c) wird eine hinreichende Bedingung M für B angegeben, (a) legt ein normales Funktionieren von S fest. Aus (a) und (b) läßt sich auf das Vorliegen von B schließen. Dagegen findet sich in dem mit Hilfe von (c) vorzunehmenden Schluß auf das Vorliegen von M der logische Fehlschluß, der in der Annahme einer hinreichenden an Stelle einer notwendigen Bedingung besteht. Nach Hempel32 gibt es zwei Korrekturmöglichkeiten. Entweder das Explanans (eine oder mehrere der Prämissen) wird verstärkt oder das Explanandum (Conclusio) wird abgeschwächt. a) Im ersten Fall ist in der Prämisse (c) die Formulierung „ w e n n . . . dann" durch „genau dann, wenn" zu ersetzen. Dazu muß man jedoch wissen, daß nur die Verwirklichung von M die für das normale Funktionieren von S notwendige Bedingung B zur Folge hat. Unterstellt, die funktionelle Unvermeidlichkeit von M für die Erfüllung von B stehe fest, so ist lediglich die Prämisse (c) durch (c t ) zu ersetzen, um das Erklärungsmodell E j zu erhalten 33 : (cj):

Das System S besitzt dann und nur dann (genau dann) das Merkmal M, wenn die Bedingung B erfüllt ist.

31 Dazu folgendes Beispiel. X : „Peter ist Kriminologe." Y : „Woher weißt Du das?" X : „Ganz einfach. Peter beschäftigt sich jeden Tag berufsmäßig mit der Kriminalität. Und das tun Kriminologen bekanntlich jeden Tag." Diese Argumentation folgt dem Schema: „Alle Kriminologen sind Menschen; Peter ist ein Mensch; also ist Peter ein Kriminologe." Der Fehler liegt in dem Schluß vom Vorkommen eines Merkmals M (Mensch) auf eine für M hinreichende Bedingung B, während allenfalls eine notwendige Bedingung gefolgert werden kann: Für M können ja noch zahlreiche andere Bedingungen B „ B 2 . . ., vorliegen. Nicht nur Kriminologen beschäftigen sich jeden Tag mit der Kriminalität, sondern z. B. auch Strafrichter, Staatsanwälte, Justizvollzugsangestellte, Bewährungshelfer etc., nicht zuletzt aber auch Gewohnheitstäter. 32 A. a. O., S. 308 ff. 3 3 Die übrigen Bestandteile von E„ sind unverändert zu übernehmen.

Gehalt und Erklärungswert funktionaler Kriminalitätstheorien

563

Dieses Modell ist logisch korrekt, in der Regel aber empirisch unanwendbar, da die Behauptung der funktionellen Unentbehrlichkeit falsch ist. Zwar findet sich insbesondere in der älteren Kriminalsoziologie die Behauptung, die Kriminalität sei für das normale Funktionieren gesellschaftlicher Systeme unersetzlich. So jedenfalls lassen sich Quetelets Behauptung von dem Budget an Verbrechen, das in jeder Gesellschaft vorkomme, oder Dürkheims Thesen von einem bestimmten Maß an Verbrechen, das „integrierender Teil einer jeden gesunden Gesellschaft" sei, oder auch der Satz, der Verbrecher sei „ein regulärer Wirkungsfaktor des sozialen Lebens", interpretieren34. Die These von der funktionellen Unentbehrlichkeit der Kriminalität scheitert jedoch in dieser Allgemeinheit bereits daran, daß eine exakte, allgemein anerkannte Definition von Kriminalität bislang nicht formuliert worden ist 35 . Gleichgültig, ob man die weiteste Umschreibung i. S. abweichenden Verhaltens oder die engste Grenzziehung des Verstoßes gegen ein Strafgesetz zu Grunde legt, so ist doch unverkennbar, daß sich zu einem solchen Merkmal von Gesellschaften stets Äquivalente ergeben, die alternativ oder kumulativ vorliegen müssen, um ein normales Funktionieren des Systems zu gewährleisten. In jeder Gesellschaft finden sich z. B. neben der Kriminalität die Religion (Magie), die Musik, Tanz, Tausch oder Handel. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß solche Merkmale zur Aufrechterhaltung der Systemstruktur ebenso notwendig sind wie etwa die Kriminalität 36 . Dies ist im wesentlichen auch unstreitig. Merton z. B. räumt ein, daß es zu fast allen Merkmalen einer Kultur funktionelle Äquivalente gibt37. Und zutreffend schreibt R. König: „Der dynamische Begriff der Funktion . . . bezeichnet generell das Gesamt aller Prozesse, die zur Erhaltung der jeweiligen Struktur beitragen 38 ." Dieses Eingeständnis hat zur Folge, daß man von einem ,Prinzip der mehrfachen Lösung' ausgehen muß. Dies wiederum beschränkt die Brauchbarkeit des Modells E t zur korrekten Ableitung auf die Fälle, in denen eine funktionale Unersetzlichkeit angenommen werden kann; als Grundlage empirischer Erklärungen in der Kriminologie ist es nicht verwendbar. Vgl. sub 1 1 . D a z u m. weit. Nachw. Cöppinger, a. a. O., S. 2 ff., 1 4 ; Kaiser, a. a. O., S. 50 ff. 3 8 Bezeichnend ist die Entwicklung der Argumentationsform zur Erklärung von Religion, Magie, T a n z ; dazu N . 13, 15. 37 A. a. O., S. 33 f. Vgl. auch die von ihm im Rahmen der Anomietheorie entwickelten Anpassungstypen: Konformität, Innovation, Ritualismus, Weltflucht, Rebellion. 34

35

3 8 Soziologie, 1958, S. 2 8 6 ; Hervorhebung v o m Verf., vgl. dazu ferner a. a. O., S. 21 ff. insbes. S. 23.

Coser,

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Dieter Meurer

b) Die zweite Korrekturmöglichkeit besteht darin, das Explanandum abzuschwächen. Dazu ist es erforderlich, von einer Klasse K aller funktionalen Alternativen von M auszugehen. K enthält also abschließend alle möglichen Merkmale M, M', M " . . . , die an dem System S auftreten können. Vorauszusetzen ist ferner, daß jeweils zumindest eines der Merkmale aus K hinreichend ist, um B zu erfüllen, sofern sich das System unter den Umständen U befindet. In Eo ist dann die Prämisse (c) durch (c2) zu ersetzen, um die Conclusio (d 2 ) des Erklärungsmodells E 2 zu erhalten 39 : (c 2 ):

Die Bedingung B ist am System S genau dann erfüllt, wenn in S eines der Merkmale aus K realisiert ist.

(d 2 ): Eines der Merkmale aus K ist in S verwirklicht. Diese Substitution führt zu einem logisch und empirisch korrekten Modell. Der Fehler in Eo ist ausgeschlossen; das Modell basiert ferner nicht mehr auf der empirisch unhaltbaren Unersetzlichkeit von M. Diese Präzisierung wird aber wiederum erkauft durch eine starke Reduktion des Erklärungswertes 40 . Erklärt wird nicht mehr das Vorkommen eines bestimmten Merkmals M (Kriminalität), sondern nur das Vorkommen von M oder einer funktionellen Alternative (z. B. der Religion, der Magie etc.). c) Bislang ist außer Betracht geblieben, daß in allen Modellen deterministische Gesetzeshypothesen verwendet worden sind. Wenn aber aus empirischen Gründen in nur einer der Prämissen ein statistischinduktives Argument herangezogen werden muß, so verringert sich der Erklärungswert erneut. Das Explanandum (d 2 ) des Modells E 2 z. B. würde nicht nur eine schwächere Aussage enthalten als die ursprüngliche Conclusio (d), sondern darüber hinaus nicht mit Sicherheit, sondern nur mit einem Grad induktiver Wahrscheinlichkeit Geltung haben. Davon ist bereits auszugehen, wenn an Stelle der Prämisse (b) gesetzt werden muß, daß bei normalem Funktionieren von S die Bedingung B mit großer Wahrscheinlichkeit erfüllt ist, B also nur eine probabilistische, nicht aber eine deterministische Bedingung von S darstellt. In der modernen Kriminologie finden sich nun 39

Die übrigen Bestandteile von E t sind unverändert zu ergänzen. Stegmüller, a. a. O., S. 570 widerlegt zutreffend den naheliegenden Einwand, es sei ja denkbar, daß zusätzlich eine kausale oder statistisch-induktive Erklärung vorliege, w a r u m gerade dieses Merkmal M aus K anzunehmen sei. Nach Stegmüller mag dieser Einwand zutreffen; er würde jedoch zugleich die Entbehrlichkeit der Funktionalanalyse belegen: Wenn ein anderweitiges stringentes Verfahren zur Verfügung steht, daß das Vorkommen von M zur Zeit t in S erklärt, bedarf es nidit der Funktionsanalyse, die nur zu der viel schwächeren Conclusio d 2 führen kann. 40

Gehalt und E r k l ä r u n g s w e r t funktionaler Kriminalitätstheorien

565

gesicherte deterministische Gesetzesaussagen extrem selten. In der Regel wird mit statistischen (probabilistischen) Aussagen gearbeitet. Das gebräuchliche Kausalmodell A-B muß als Grenzfall sich gegenseitig beeinflussender Beziehungen angesehen werden; es entzieht sich aus empirischen Gründen einer naturkausalen Deutung 41 . Festzuhalten bleibt, daß sich funktionale Erklärungen logisch korrekt konstruieren lassen. Die damit erreichte Möglichkeit exakter Ableitungen wird jedoch erkauft durch eine radikale Einschränkung des Geltungsbereichs, die die empirische Brauchbarkeit des Modells nahezu ausschließt. 2.

Weitere Probleme sind bei der empirisch-signifikanten Formulierung der Prämissen des logisdi korrekten Erklärungsmodells E 2 zu lösen. a) Schwierigkeiten ergeben sich zunächst, wenn nicht ein bestimmtes Einzelindividuum oder eine bestimmte soziale Gruppe Gegenstand der Analyse ist, sondern eine Klasse von Systemen, wenn also allgemein von dem gesellschaftlichen System oder der Psyche die Rede ist. Was ein gesellschaftliches System ist, steht keineswegs von vornherein fest; zur Definition des Begriffs wird zumeist auf charakteristische Merkmale, Umstände, Subsysteme oder Gruppen Bezug genommen werden müssen. Ähnlich verhält es sich mit psychischen Systemen, die in der Regel keiner allgemein gültigen Beschreibung zugänglich sind42. Die empirische Signifikanz funktionaler Argumente hängt aber wesentlich von der Möglichkeit ab, Klassen von Systemen so exakt zu umreißen, daß entsprechende Aussagen experimentell nachgeprüft werden können. Das ist unumgänglich, weil sämtliche Prämissen des Erklärungsmodells generelle Hypothesen über die zu untersuchenden Systemarten enthalten und ihrerseits deshalb empirisch überprüfbar sein müssen. Wird die Klasse der Systeme, auf die sich die Analyse bezieht, nur vage umgrenzt, so ist nicht auszuschließen, daß bei dem Vorliegen falsifizierender Einzelfälle darauf hingewiesen wird, diese seien überhaupt nicht gemeint. Dadurch aber 4 1 So R. Lange, bereits 1960, vgl. ferner a . a . O . , 1 9 7 0 , S. 1 5 7 ff., 2 4 4 ff.; Göppinger, a . a . O . , S. 6 0 ff. insbes. S. 6 3 ; Kaiser, a . a . O . , S. 114 f.; siehe audi Heinz, a. a. O., S. 2 1 ; jeweils m. weit. N a d i w . 4 2 A u f die damit angesprochenen grundlegenden Probleme empirischer Beschreibung und auf das dazu entwickelte differenzierte sozialwissenschaftliche Instrumentarium kann hier nicht eingegangen werden. E i n umfassender Überblick findet sich z. B. bei Göppinger, a. a. O . , S. 5 4 ff. Vgl. ferner e t w a P. Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, 1 9 7 4 .

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wird die ursprünglich als empirische Tatsachenbehauptung aufgestellte Hypothese in eine Tautologie verwandelt, die keiner Widerlegung fähig ist 43 . b) Ferner müssen in diesem Zusammenhang die äußeren und inneren Umstände Ui + Ua empirisch signifikant umschreibbar sein. Bislang wurde vorausgesetzt, daß diese feststehen. Davon kann aber nicht ausgegangen werden, da äußere und innere Bedingungen erfahrungsgemäß einem steten Wandel unterliegen. Es ist deshalb erforderlich, einen Spielraum zu unterstellen, innerhalb dessen ein normales Funktionieren des Systems noch gewährleistet ist. Bezeichnet man den Spielraum der inneren Umstände mit I, denjenigen der äußeren mit Ä, so ist die Prämisse (a) wie folgt zu formulieren: (a 2 ):

Das System S funktioniert zum Zeitpunkt t unter Umständen von der Art U = Ui + Ua normal, sofern U¡e I und Uae Ä 4 4 .

Erst wenn es gelingt, die Prämisse (a) in der präzisierten Form (a 2 ) für den konkreten Fall empirisch signifikant zu umreißen, wird die Fragestellung: „Gibt es funktionelle Äquivalente von M ? " sinnvoll. Die Möglichkeit, das unhaltbare Modell Eo in ein korrektes Schema umzuwandeln, hängt ja davon ab, ob und welche funktionalen Alternativen von M existieren 45 . Ist die exakte Umschreibung des Spielraums nicht möglich, so könnte gegen die Behauptung, M sei ein von M' verschiedenes Äquivalent, wie folgt argumentiert werden: „Wäre M' verwirklicht, so hätte dies andersartige Effekte auf äußere und innere Umstände als M. Das System befände sich damit in einer anderen Situation. Da von einer funktionellen Alternative aber nur gesprochen werden kann, wenn alle anderen Bedingungen unverändert bleiben, kann M ' keine funktionelle Alternative von M sein." Dieses Argument hat zur Folge, daß es prinzipiell keine funktionellen Äquivalente von M geben kann. D a dies aber letztlich dasselbe besagt, wie die These von der funktionalen Unersetzlichkeit von M, so wird damit aus einer in jedem Einzelfall zu überprüfenden sachhaltigen Hypothese ein logisches Postulat, das per definitionem wahr ist 46 . Diese Überlegung hat erhebliche Konsequenzen für konkrete Funktionalanalysen: Ein Kriminalwissenschaftler behaupte etwa, empirisch sei die funktionale Unersetzlichkeit der Strafe für eine Gesellschaft

Zu Parallelproblemen ausführlich und differenziert Hempel, a. a. O., S. 311 ff. U¡ und Ua sind nunmehr keine Konstanten, sondern Variable. Die übrigen Bestandteile von E 2 sind zu ergänzen. 4 5 Vgl. sub II 1 a) b). 4 8 Das aber hat die empirische Unbrauchbarkeit zur Folge! 43

44

Gehalt und Erklärungswert: funktionaler Kriminalitätstheorien

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erwiesen. Dem könnte entgegengehalten werden, daß deren Leistung für das System ebensogut durch Psychotherapie zu erbringen sei. N u n wird angenommen, im Verlauf einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklung sei die Strafe tatsächlich durch ein therapeutisches Maßnahmerecht ersetzt worden und die Gesellschaft würde dennoch weiterexistieren. Darauf könnte der Verfechter der funktionellen Unersetzlichkeit der Strafe entgegnen, durch den geschilderten Prozeß habe sich die Gesellschaft so stark in ihren Wesensmerkmalen geändert, daß man nicht: mehr von derselben Gruppe sprechen könne und deshalb könne von einem funktionellen Äquivalent keine Rede sein. Bei dieser Entgegnung hat man es mit der unfruchtbaren Immunisierung der These von der funktionellen Unvermeidlichkeit der Strafe gegenüber möglicher empirischer Falsifikation durch deren Umwandlung in eine Tautologie zu tun. Dies war möglich, weil von vornherein auf die empirisch signifikante Umschreibung von U verzichtet wurde. c) Noch wesentlicher ist die exakte Beschreibung des Zentralbegriffs jeder Funktionsanalyse: ,normales' oder auch ,adäquates Funktionieren'. Darunter sind Bedingungen zu verstehen, deren jede notwendig ist und die in ihrer Gesamtheit hinreichend sind, das normale Funktionieren eines Systems zu gewährleisten. Eine solche Normalitätsaussage bedarf der Angabe eines Standards und ferner empirischer Kriterien f ü r dessen Vorliegen. Begriffe wie ,seelisches Uberleben', ,Uberleben einer Gruppe, Gesellschaft oder Kultur', ,Gleichgewicht' etc. werden in der Regel derart vage formuliert, daß sie einen weiten Spielraum voneinander abweichender subjektiver Deutungen offenlassen 47 . Diese Gefahr vergrößert sich in dem Maße, in dem bewußt oder unbewußt nicht rationalisierte Wertvorstellungen zugrundegelegt werden: funktioniert normal' wird gedeutet als funktioniert gut'. Dabei ist nicht auszuschließen, daß jeder Interpret einen eigenen u. U. weltanschaulich geprägten Begriff der Güte zugrundelegt. Die theoretische Möglichkeit der Präzisierung ergibt sich aus folgender Überlegung: S sei ein System der untersuchten Art, K U die Klasse der Umstände, die überhaupt möglich sind, ohne daß S zugrunde geht. Diese Klasse schließt auch die Menge der Umstände ein, die man intuitiv als anomal, krankhaft, am Rande der Existenzvernichtung ansehen muß. Der Normalitätsstandard wird gebildet, indem man aus K U eine Teilklasse TK aussondert und unterstellt, daß S zur Zeit t (oder während eines Zeitintervalls T) ,normal weiterbesteht', 47 Zu den Schwierigkeiten von Normalitätsdefinitionen vgl. etwa a. a. O., S. 340 ff.

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funktioniert', ,in gesundem Zustand überlebt' etc., sofern es sich in einem Zustand aus TK befindet. Die Probleme der empirisch signifikanten Formulierung von Prämissen funktionaler Erklärungen wie z. B. die Umschreibung der Klasse von Systemen, Umständen und des Normalitätsstandards sind nach allem theoretisch angebbar, in der Praxis wegen der hohen Komplexität und der Schwierigkeiten zureichender Modellbildung jedoch derzeit nicht lösbar. Darauf basiert letztlich die immer wieder erhobene Kritik der praktischen Unergiebigkeit und der Vorwurf, es handele sich um „kriminologische Weltformeln". 3.

Die prognostische Verwendbarkeit von Theorien ist ein weiterer Prüfstein ihrer Richtigkeit 48 . a) Ebensowenig wie mit Hilfe des Schemas E 2 das Vorkommen von M an einem System S zu erklären ist, kann mit Hilfe dieses Modells eine Prognose erstellt werden: Diese kann sich nämlich immer nur auf ein nicht näher umschreibbares Merkmal M der Klasse K beziehen, es sei denn, es ließe sich empirisch nachweisen, daß M eine hinreichende Bedingung für B darstellt, was jedenfalls im Bereich der Kriminologie ausscheidet 49 . Außerdem muß anderweitig, d. h. mit nichtfunktionalen Argumenten sichergestellt sein, daß S nicht nur gegenwärtig normal funktioniert, sondern auch in Zukunft adäquat funktionieren wird. Der Zeitpunkt t der Prämisse (a 2 ) und der Conclusio (d 2 ) muß also eine empirische Aussage über das zukünftige Funktionieren enthalten. Das zeigt sich an folgendem Beispiel: Eine Person entwickelt zunehmend Angstgefühle. Eine notwendige Bedingung für das zukünftige normale Funtkionieren des ,psychischen Mechanismus' sei darin zu sehen, daß diese Gefühle durch neurotische Symptome gebunden werden 50 . Um behaupten zu können, einer dieser Anpassungsvorgänge werde tatsächlich stattfinden, müßte man definitiv wissen, daß f ü r diese Person ein normales seelisches Weiterleben garantiert werden kann. Das aber ist unmöglich: Es könnte ja sein, daß der Proband seelisch zusammenbricht oder gar Selbstmord begeht. Damit wird 48

Im folgenden wird unterstellt, die Probleme der empirischen Signifikanz seien gelöst. 49 Vgl. sub II 1 a). 50 Extreme Parallelbeispiele aus der forensischen Praxis finden sich bei H. J. Rauch, Einfluß psychopathologischer Störungen auf die forensisdie Psychiatrie, Festschrift für K. Schneider, 1962, S. 304 ff. m. w. Ex., auf die R. Lange, a. a. O., 1972, S. 122 ff. hinweist (Verstoß gegen § 176 StGB sowie .Drang zum überschnellen Autofahren' als Symptom zwangsneurotischer Verhaltensmuster).

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deutlich, daß nur mit H i l f e empirisch unzulässiger Spekulation über das normale Weiterbestehen und Funktionieren des Systems eine deterministische Prognose aufgestellt werden kann. b) Der Fehler ist theoretisch vermeidbar, wenn die Prognose auf eine induktiv erstellte Selbstregulationshypothese gestützt werden kann 5 1 . Ferner muß feststehen, daß bis zu dem künftigen Zeitpunkt t keine anderen als normale Zustände vorkommen werden. Dadurch sind folgende Möglichkeiten ausgeschlossen: Einerseits das Eintreten von Umständen, die zur Vernichtung des Systems führen, andererseits Umstände, die das System in einen abnormen Zustand bringen, bei dem die Regulationsmedianismen versagen. Umgekehrt läßt sich natürlich auch eine Prognose a u f g r u n d Wissens über das Bevorstehen von Umständen, die zu einem abnormen Zustand führen, aufstellen. Ein solches Wissen ist erforderlich, wenn etwa mit H i l f e der Anomietheorien Prognosen gemacht werden sollen 5 2 . In jedem Fall ist jedoch die Prognose a u f g r u n d deterministischer Gesetzeshypothesen (sicheren Wissens) ausgeschlossen 5 3 , so daß die Selbstregulationshypothese in der Kriminologie allenfalls auf eine statistisch-induktive (probabilistische) Gesetzesaussage gestützt werden kann, die ihrerseits nicht mit H i l f e funktionaler Argumente gewinnbar ist. Demnach muß man also zur prognostischen Verwendbarkeit des Modells E 2 über die empirisch bestätigte H y p o t h e s e verfügen, daß das System S ein sich innerhalb gewisser Grenzen selbst regulierender Automatismus ist und ferner, daß nur solche U m s t ä n d e eintreten werden, bei welchen der Gleichgewichtszustand erhalten bleibt.

III. Die Untersuchung sollte zeigen, daß in funktionalen Kriminalitätstheorien eine Reihe typischer Fehler auftreten können, die z w a r theoretisch behebbar sind, deren K o r r e k t u r aber dazu führt, daß die bereinigten Modelle unanwendbar werden: 1. Es ist notwendig, eine empirisch fundierte H y p o t h e s e über die Selbstregulation des untersuchten Systems aufzustellen. 2. Bei der Argumentation ist zu vermeiden, in logisch inkorrekter Weise gemäß E 0 statt E 2 auf das V o r k o m m e n eines bestimmten Zu deren Voraussetzungen vgl. z. B. Stegmüller, a. a. O., S. 577 ff. Zur Kriminalprognose vgl. etwa Kaiser, a. a. O., S. 78 ff. m. weit. N a d i w . ; zu den hier interessierenden Spezialproblemen z. B. Haferkamp, a. a. O. 5 3 Vgl. sub II 1 a). 51

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Merkmals M, statt bloß auf das Vorkommen einer Klasse K zu schließen. 3. Die Klasse der Systeme, auf die sich die Funktionstheorie bezieht, muß exakt angebbar sein. 4. Die inneren und äußeren Bedingungen Ui und Ua müssen empirisch signifikant umschrieben werden. 5. Begriffe des Funtkionierens, des funktionellen Erfordernisses etc. müssen präzise umgrenzbar sein. Funktionale Erklärungen können logisch korrekt und empirisch gehaltvoll konstruiert werden. Eine Theorie, die diesen Anforderungen entspricht, hat jedoch notwendig einen äußerst geringen Erklärungswert. Die Conclusio ist erheblich schwächer als beabsichtigt. Außerdem ist zwar das Ideal im Blick auf logische Korrektheit, nicht aber in bezug auf empirische Signifikanz derzeit erreichbar. Die SchlüsselbegrifFe funktionaler Theorien werden deshalb stets einen Vagheitsspielraum aufweisen und dementsprechend besteht die Gefahr empirisch gehaltloser Begriffe und Aussagen. Wenn schließlich funktionale Theorien zu prognostischen Zwecken gebraucht werden, ist der Voraussagewert ebenso gering wie der Erklärungswert. Das prognostische Argument ist zudem mit einer Hypothese der Selbstregulation sowie mit Annahmen über die zukünftigen Bedingungen belastet, unter denen das System mutmaßlich arbeiten wird. Beide Hypothesen sind nicht funktional, sondern nur anderweitig empirisch begründbar. Allgemeine funktionale Kriminalitätstheorien sind deshalb empirisch unhaltbar: Das Prinzip, auf das sie sich stützen, ist nämlich entweder gehaltlos (wenn die Begriffe des funktionellen Erfordernisses und des normalen Funktionierens nicht mit klarer empirischer Signifikanz formuliert werden können) oder tautologisch (wenn jedwede Reaktion eines Systems als eine Funktion erfüllend gedeutet wird) oder aber empirisch falsch (wenn von der funktionalen Unersetzlichkeit eines Merkmals ausgegangen wird) 54 . Deshalb haben funktionale Kriminalitätstheorien keinen empirisch exakten Erklärungswert. Ihre Bedeutung liegt in der Verwendbarkeit als Arbeitshypothese oder als heuristisches Forschungsprogramm55. 5 4 Dieses Ergebnis deckt sich im wesentlichen mit den in der Wissenschaftstheorie erarbeiteten allgemeinen Resultaten zu funktionalen Theorien. Vgl. etwa Stegmüller, a. a. O., S. 583 unter Hinweis auf Hempel, a. a. O. 5 5 Inwieweit sie als ,Sinndeutungssysteme' das Verstehen sozialer und/oder psychischer Phänomene ermöglichen, ist nicht Gegenstand der Untersuchung und kann hier offen bleiben.

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Wenn also der ernsthafte Versuch unternommen werden soll, das Rätsel Kriminalität zu lösen, dann müssen sich allgemeine H y p o thesen nicht nur auf das Gleichgewicht von Systemen und deren Funktionen, sondern vor allem auch auf das Verhalten von Menschen beziehen. Dies immer wieder deutlich gemacht zu haben 56 , ist nicht zuletzt ein Verdienst Richard Langes.

56 Besonders prägnant unter Berufung auf Ellenberger und Matza a. a. O., 1970, S. 345 f.: „Das evidente Versagen der herkömmlichen T h e o r i e n . . . beruht entscheidend auf ihrem verflachten und verkürzten Bild vom Menschen, das ihn lediglich als passives P r o d u k t dessen, was mit ihm geschieht, erscheinen läßt." Solange die anthropologisdie Vertiefung fehlt „wird die bequeme These, die Gesellschaft sei an allem schuld, leicht zu einer bloßen Ausflucht."

Kriminalität und Identität Eine Skizze JOACHIM HELLMER

Wer eine neue Theorie aufstellt, muß mehrere Grundsätze beachten. Zunächst sollte er seinen persönlichen Ehrgeiz hinter einer Reihe überzeugender sachlicher Gründe für die Notwendigkeit einer Theorie zu verstecken suchen. Sodann hat er die bisherigen Theorien als falsch hinzustellen, um die eigene wie Phönix aus der Asche erstehen zu lassen. Doch ist es auch wichtig, nicht allzu originell zu sein, auf Bewährtes zurückzugreifen, da zu große Neuerungen unbeliebt sind und es zu lange dauern würde, bis sie sich durchgesetzt haben. Schließlich empfiehlt es sich, möglichst unverständlich zu sein, um wissenschaftlich zu erscheinen und nicht zu schnell durchschaut zu werden. Dies vorangeschickt, ist zunächst darauf hinzuweisen, daß es für eine wirksame Kriminalitätsbekämpfung (im Sinne einer Verminderung der Kriminalität) nicht genügt, Einzelerkenntnisse zu sammeln, weil sie sich möglicherweise widersprechen, jedenfalls kein sinnvolles Ganzes ergeben. Dieses kann immer erst durch eine Gesamtschau Zustandekommen, die das Einzelne einordnet und zu einem gedanklichen Gebäude ausgestaltet. Ganz falsch ist es sicher — wie es heute geschieht — Kriminalpolitik überhaupt ohne Kriminologie zu betreiben, d. h. einfach die Polizei zu verstärken und die Strafgesetze zu verschärfen. Hierbei bleiben die der Kriminalität zugrunde liegenden Ursachen gänzlich unberührt. Der nächste Schritt ist nicht schwierig. Richard Lange selber hat die Schwächen der bisherigen Kriminalitätstheorien ausführlich dargelegt 1 . Die dagegen zu Felde gezogen sind, hätten besser daran getan zu gestehen, daß die Kriminologie bisher tatsächlich Abwege gegangen ist. Wenn man sich das Material ansieht, das sie erarbeitet hat, kann man nur zutiefst enttäuscht sein. Was soll die Kriminalpolitik — und Kriminologie dient m. E. der Kriminalpolitik, nichts anderem — z. B. damit anfangen, daß Kriminelle anders aussehen als Nichtkriminelle, daß sie geisteskrank, geistesschwach oder Psychopathen sind, daß sie Chromosomenaberrationen aufweisen, keinen genügenden Zugang zu 1 R. Lange, Das Rätsel K r i m i n a l i t ä t , F r a n k f u r t / M . u. Berlin 1970 u. in „ H u n d e r t J a h r e Deutsches Rechtsleben", Festschrift zum H u n d e r t j ä h r i g e n Bestehen des D e u t schen Juristentages, Karlsruhe 1960, Bd. I, S. 345 ff. (363 ff.).

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den allgemein anerkannten Zielen der Gesellschaft haben, überwiegend arm sind und der Unterschicht angehören? Ich suche die Partei und den Bundestagsabgeordneten, die solche „Erkenntnisse" zum Gegenstand gesetzgeberischer Initiativen und sozialer Verbesserungsvorschläge machen würden. Nein, die Kriminologie ist bisher nur in ganz beschränktem Umfang für die praktische Kriminalitätsbekämpfung attraktiv gewesen, und sie ist auch zu unrichtigen Ergebnissen gekommen. Bereits der naturwissenschaftliche Begriff der Ursache ist ja fehl am Platz, weil menschliches Verhalten nicht bloß Wirkung eines Kausalitätsanstoßes ist, sondern Ausdruck der Persönlichkeit (wenn auch oft nur einer „Persönlichkeitsschwäche") 2 . Daher ist alle auf dem kausalistischen Denken aufbauende Theorie, z. B. bestimmte festgestellte Persönlichkeitsmerkmale seien Ursache der Kriminalität, falsch. Davon abgesehen, daß eine Beweisführung hier überhaupt nicht möglich ist, weil sie erfordern würde, daß man nachwiese, bei fehlendem Merkmal dieser Art wäre Kriminalität nicht entstanden, kann sie das epochale oder regionale Ansteigen oder Abnehmen der Kriminalität nicht erklären, auch ihre unterschiedliche Verteilung auf bestimmte Jahrgänge und soziale Gruppen nicht. Eine Kriminalitätstheorie muß aber beides erklären können, Kriminalität als persönliches Schicksal wie als soziale Erscheinung. Auch der soziale Ansatz hat uns bisher nicht weitergebracht. Er hat vor allem Sozialreformer auf den Plan gerufen, ist aber im Grunde im gleichen kausalistischen Denken steckengeblieben wie vorher die individualistische Richtung. Wie kann man denn nach ihm erklären, daß gerade Angehörige benachteiligter sozialer Gruppen, wie Flüchtlinge, Gastarbeiter, Rentner einen geringeren Kriminalitätsquotienten haben als besser gestellte Gruppen und daß eine ausgedehnte Kriminalität, die freilich infolge mangelnder sozialer Kontrolle nicht in dem Maße zum Vorschein kommt, auch in oberen Schichten existiert, daß eben nicht Arme oder Reiche kriminell werden, sondern Menschen jeder finanziellen Ausstattung und Schicht, und daß auch das Quantum an kriminellen Kontakten keineswegs dafür entscheidend ist, ob jemand kriminell wird oder nicht 3 , da es Menschen gibt, die aus kriminellem Milieu stammen und trotzdem nicht kriminell werden und umgekehrt Kriminelle oft aus achtbarem Milieu stammen, ja daß die Fluktuation hier besonders stark ist? Nicht einmal die Theorie vom labeling approach, die uns manche neue Erkenntnis über Kriminalisierung und Selektion gebracht hat, vermochte aus dem Teufels2 H. Mayer, Strafreditsreform für heute und morgen, Kriminologische Forschungen, Band 1, Berlin 1962, insbes. S. 3 ff. 3 Wie z. B. Sutherland glaubt (Principles of Criminology, 4. Aufl. Philadelphia 1 9 4 7 ; zur Entwicklung Jasinsky, MSchrKrim. 55, 1972, S. 49 ff.).

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kreis des kausalistischen Denkens auszubrechen. Nach ihr ist „Ursache" allen Übels die stigmatisierende Wirkung der Definition. Wir müssen uns schon bequemen, das „verkürzte Menschenbild" 4 aufzugeben, das der bisherigen Kriminologie zugrundeliegt, und anzuerkennen, daß der Mensch kein bloßer Automat und kein Tier ist, das nur reagiert. Wie sich diese Erkenntnis zu der Forderung verhält, daß Kriminologie lediglich eine empirische Wissenschaft sein soll5, ist freilich zweifelhaft. Man kann Straftäter natürlich befragen, warum sie ihre Straftat begangen haben. Aber wird die Kriminologie dadurch zur empirischen Wissenschaft? Sie werden in der Regel antworten: weil sie gerade Hunger hatten und wenig Geld oder sexuelle Bedürfnisse. Damit ist jedoch noch keineswegs erwiesen, daß zwischen H u n ger, Geldmangel, sexuellen Bedürfnissen und kriminellem Verhalten ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Hier wird doch unterschlagen, daß Voraussetzung der Umsetzung solcher Gefühle und Bedürfnisse in strafbares Verhalten immer eine geistige Einstellung des Verhaltensträgers ist, die Verletzungsverhalten zuläßt, weil sie an der sozialen Forderung vorbeigeht. Woher kommt und worin besteht diese geistige Einstellung? Das ist die entscheidende Frage. Verfechter einer Kriminalitätstheorie werden sogleich einen bestimmten Faktor verantwortlich machen, Anhänger des Mehrfaktorenansatzes mehrere Faktoren. Schon hier liegt ein Scheingegensatz: die Einstellung selber, ohne die kriminelles Verhalten nicht möglich ist, ist immer dieselbe, muß dieselbe sein, weil sie das — in bezug auf die Verletzungseigenschaft — gleiche Verhalten ermöglicht; die Faktoren, die zu ihr führen, können dagegen durchaus verschieden sein. Der Mehrfaktorenansatz ist daher ebenso richtig, bezieht sich aber auf ein anderes, früheres Stadium der Kriminalitätsentstehung. Wir werden hierauf noch zurückkommen. H a t diese Einstellung etwas mit einem abweichenden, womöglich krankhaften Willen oder gar einer Andersartigkeit des Kriminellen zu tun? Trotz jahrzehntelanger Suche, die in ihrer Naivität an die Vorstellung von Gott als einem alten, bärtigen Mann erinnert, hat man kein Merkmal gefunden, das den Kriminellen vom Nichtkriminellen unterscheidet, auch nicht kriminelles Verhalten von nichtkriminellem. O b etwas kriminell ist oder nicht, bestimmt sich nicht nach der Person oder ihrem Verhalten an sich, sondern allein danach, ob es zu der Zeit und an dem Ort unter Strafe steht oder nicht. Rauchen, Feuerlegen, Spazierengehen, Autofahren, Radiohören, sich sexuell betätigen, kann strafbar sein, wenn der situative Zusammen4

R. Lange, D a s Rätsel Kriminalität, S. 316. Göppinger, Kriminologie, 2. Aufl., S. 1; G. Kaiser, Kriminologie, 2. Aufl., S. 3; Müller-Dietz, Wahlfach Examinatorium Kriminologie, Karlsruhe 1973, S. 46. 5

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hang, in dem es steht, es als gesellschaftsgefährlich erscheinen läßt, sonst nicht. Daher ist der Begriff des „abweichenden" Verhaltens falsch, mindestens mißverständlich. Nicht das Verhalten ist abweichend, also unnormal, sondern der Umstand mißbilligenswert, daß es trotz Verbots an den Tag gelegt wird. Die Suche nach der „Ursache" von Kriminalität hat also nicht am Verhalten anzusetzen, was fast zwangsläufig auf Abwege führt, sondern bei der Nichtbeachtung des Verbots. Die subjektive Einstellung, ohne die kriminelles Verhalten nicht möglich ist, ist also dadurch gekennzeichnet, daß sie zur Nichtbeachtung des Verbots führt. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, woher sie kommt und worin sie besteht. Hier setzt die Erklärung der Straftheorie ein, vor allem der Theorie der General- und Spezialprävention, die für das Versagen der Hemmung im Augenblick der Tat lediglich mangelnde Angst vor den Strafrechtsfolgen verantwortlich macht und demgemäß nur ein kriminalpolitisches Gebot kennt: Erhöhung der Abschreckungskraft der Strafe. Es soll nicht geleugnet werden, daß Angst vor Strafe auch heute noch eine Rolle spielt, aber doch nur bei einer ungenügenden und zudem noch abnehmenden Zahl von Menschen, wie die ständig steigende Kriminalität zeigt. Im Zeitalter der Massenkriminalität steht die Chance, nicht „gekriegt" zu werden, 99 : l 6 , verblaßt die Generalprävention durch zunehmende Kriminalität immer mehr und wird jede Spezialprävention durch das Gefühl, ungerecht (weil für 99 andere mit) bestraft worden zu sein, zunichte gemacht. In einer solchen Situation erhalten Sozialkontrolle und Strafverfolgung den Charakter einer mehr oder weniger zufällig und blind zuschlagenden Macht. Die Spekulation mit der Angst ist noch nie ein guter Ratgeber der Kriminalpolitik gewesen. Wer sich nur auf sie verläßt, riskiert ein Überhandnehmen der Kriminalität, wie die Geschichte erweist und sich auch heute wieder zeigt. Als Korrelat der Bestrafung ist daher schon früh der Gedanke der Besserung, Erziehung, Sozialisation aufgetaucht7, der heute die Strafe auf weiten Strecken ersetzt. Besserung, Erziehung usw. ist in der strafrechtlichen Diskussion nur denkbar als 6 Wenn von 100 Delikten 10 registriert werden — was nach neueren Dunkelfeldforschungen noch nicht einmal der Fall ist (SchwindjEger, Kriminalistik 74, 241 ff.; Steinhilper, ebenda 75, S. 56 ff.; Stephan, ebenda, 75, S. 201 ff.; WehnerDavin, ebenda, 75, S. 252) — und von diesen 10 Delikten 4,5 aufgeklärt und dabei 4 Täter ermittelt werden, von denen ' / 3 verurteilt wird, wie das z. Z. nach der Statistik der Fall ist. 7 U . a . bei Plato, Gorgias, 33. Kapitel (bei Felix Meiner, 1955, S. 79); vgl. im übrigen R. Lange, Strafe und Erziehung im Jugendstrafrecht, Festschrift für Kohlrausch, Berlin 1944, S. 44 ff. u. Hellmer, Erziehung und Strafe, Berlin 1957, insbes. S. 124 fi.

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Mittel zur Schaffung einer inneren Einstellung, die gewährleistet, daß straf rechtliche Verbote und andere gesellschaftliche Regeln eingehalten werden, gleich ob Angst vor Strafe außerdem noch vorhanden ist oder nicht. Aber was heißt Besserung, Erziehung, Sozialisation? Anpassung an die Gesellschaft und damit auch an eine möglicherweise kriminelle Gesellschaft bzw. verbrecherische Gesetze? Und wodurch geht sie vor sich? Lediglich durch Interaktion? Wir kommen mit Begriffen, die die Wertfrage bewußt umgehen, nicht weiter, landen sonst beim KZ-Mörder, der keine Interaktionsmängel zeigte und hervorragend „sozialisiert" war. Die Kriminologie hat es mit Wertentscheidungen einzelner Personen zu tun. Der Entschluß zum Handeln ist eine Entscheidung für oder gegen etwas, wobei das Maß der Identifikation mit diesem Etwas eine entscheidende Rolle spielt. Kriminalität ist Verletzung der Identität mit dem Anderen (Person, Gruppe, Gesellschaft, Staat usw.). Wer sich mit dem „Anderen" im Augenblick der Tat identifiziert, die eigene Rechtsposition in ihn hinein projiziert, ihn als seinesgleichen anerkennt, verletzt ihn nicht. Es kommt nicht zur Tat. Die Hemmung ist so stark, daß der — aus natürlicher Motivation herrührende — Tatentschluß nicht durchbricht. Verletzungsverhalten setzt also Nichtidentifikation bzw. nicht genügende Identifikation mit dem „Anderen" voraus. Wir müssen daher weiter fragen, woher diese Nichtidentifikation kommt. Kriminalität ist ein Identitätsproblem. Bei Alleinsein des Menschen in seiner Umwelt, d. h. wo es keinen „Anderen" gibt, entsteht die Frage nach Identität gar nicht und ist Kriminalität nicht möglich. Es besteht eine vollständige, totale „natürliche" Identität zwischen Person und Umwelt 8 . Kriminalität setzt das Vorhandensein eines „Anderen", eines potentiellen Opfers und damit eine (wenn auch nur durch Stillschweigen zustandegekommene) Regel voraus, nach der man mit dem „Anderen" lebt. Die erste Stufe dieses Verhältnisses ist die der Konvention. Unter Konvention ist eine Ubereinkunft zu verstehen, auf die sich mehrere zur Regelung ihres Zusammenlebens einigen, die also nur Personen umfaßt, die sich an der Basis freiwillig und mitschöpferisch, durch eigenen Willensakt zusammenschließen. Hier besteht zwar keine „natürliche" Identität mehr, aber eine „vereinbarte", und Kriminalität ist zwar möglich, aber selten vorkommend, weil die Identifizierung mit dem „Anderen" als identischem, gleichberechtig8 D e r psychologische und philosophiegeschiditliche Bedeutungsinhalt des Begriffs „ I d e n t i t ä t " kann hier nicht näher dargelegt w e r d e n ; vgl. dazu nur Arnold/ EysenckjMeili (Hrsg.), L e x i k o n der Psychologie 2. B a n d , Freiburg 1 9 7 1 , Sp. 1 5 8 ; Buhr, G. K. u. M. ( H r s g . ) , Philosophisches W ö r t e r b u d i , Leipzig 1 9 7 1 u. Dorsch, Fr., Psychologisches Wörterbuch, 8. Aufl., H a m b u r g — B e r n 1 9 7 0 , S. 193.

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tem Konventionspartner so stark ist, daß eine Verletzung von ihm zugleich eine Verletzung der eigenen Position wäre und zum automatischen Ausschluß aus der Konvention führte. Die nächste Stufe ist die der Kleingesellschaft. In der Klein- und noch mehr der modernen Großgesellschaft wird die Identifizierung mit dem „Anderen" immer schwieriger, weil die volle Identität mit dem „Anderen", die auf der Konventionalstufe gegeben ist, und die Teilidentität mit dem Ganzen schwinden. An die Stelle der Konvention ist das Gesetz, an die Stelle der vereinbarten die gesetzlich verordnete Identität getreten, die man nicht selber mitgeschaffen hat, sondern die man fertig vorfindet und der man zwangsweise durch Geburt unterworfen ist. Der Andere, mit dem man in „Rechtsgemeinschaft" lebt, ist ein mehr oder weniger Fremder, dessen gleichberechtigte Position nicht aus der gemeinsamen Selbstunterwerfung unter ein Statut abgeleitet ist sondern der einfach vorhanden ist. Das Gesetz will die freiwillige Identifizierung durch eine juristische Zwangsidentifizierung („Alle sind vor dem Gesetze gleich") ersetzen, wodurch der „Andere" nicht nur Fremder bleibt, sondern auch zu einem wird, der meine Position schmälert, mich in der Ausübung meiner „Rechte" behindert. Das Identitätsbewußtsein wird immer geringer. Das Anwachsen des Entfremdungsprozesses wird nur durch gesamtgesellschaftliche Erschütterungen unterbrochen, wie Revolution, Krieg, Notzeit, in denen „man" enger zusammenrückt und das gemeinsame Schicksal das Identitätsbewußtsein noch einmal anfacht. Die Einstellung, durch die kriminelles Verhalten möglich wird, weil sie zur Nichtbeachtung des Verbots führt, ist daher mangelndes Identitätsbewußtsein, das in Gleichgültigkeit, Gefühlen des Gestörtseins, womöglich Schädigungsabsicht gegenüber dem „Anderen" zum Ausdruck kommt. Das Versagen der Hemmung infolge Nichtidentifizierung mit dem Anderen im Augenblick der Tat ist somit für den Kriminologen, anders als für den Strafrechtler, kein auf den Augenblick beschränktes Fehlverhalten, sondern die Folge von Entwicklungsmängeln, die weiter zurückreichen und darin bestehen, daß ein der ursprünglichen Identität entsprechendes Identitätsbewußtsein fehlt. Dieses Bewußtsein, das wegen der kaum noch sichtbaren natürlichen oder vereinbarten Identität an Bedeutung gewonnen hat, zugleich aber ein „Konstrukt" geworden ist, wird in einem auf intentionale wie funktionale Einwirkung angewiesenen Lernprozeß erworben, der durch Identifikationen vor sich geht. Das Lernen bezieht sich dabei nicht — wie bei der Sozialisation — auf Anpassung an die Gesellschaft, auch nicht, wie bei der Lerntheorie, auf kriminelle oder nichtkriminelle Definitionen, sondern auf die Erfahrung des „Anderen" als gleichberechtigtes Wesen und der Umwelt als von lauter

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gleichen Positionen erfüllten R a u m . J e komplizierter und undurchschaubarer diese Umwelt ist, um so langwieriger und störanfälliger ist natürlich der Lernprozeß und um so schwerer wird sie zum Gegenstand des Vertrauens bzw. der Einsicht in ihr Gewordensein aufgrund unabdingbarer menschlicher Erfordernisse. Der Erwerb von Identitätsbewußtsein ist daher in der modernen Großgesellschaft doppelter Gefahr ausgesetzt, einmal dadurch, daß Identität immer mehr schwindet, ferner dadurch, daß das gesellschaftliche System immer undurchsichtiger wird, was schon im ständig wachsenden staatlichen Uberbau zum Ausdruck kommt. Der Lernprozeß zum Erwerb von Identitätsbewußtsein geht — grob gesehen — in drei Stufen vor sich, die sich freilich in der Lebenswirklichkeit nicht so streng unterscheiden wie hier dargestellt. Auf der ersten Stufe findet die einfädle Identifizierung mit dem Nächsten (Mutter, Vater, Geschwister, übrige Familienangehörige, Spielkamerad, Nachbar, Freund, Kollege) und der sonstigen unmittelbaren Umwelt (Natur, Tier, Sache) statt. Durch Fehlentwicklung auf dieser Stufe kann es z. B. zu Familien- und Kameradendiebstählen, Tierquälerei, Sachbeschädigung und Vandalismus im näheren Umkreis kommen. Auf der nächsten, höheren Stufe geht es um die Identifizierung mit mehr abstrakten Objekten (juristische Personen und Vermögensmassen bis hin zur Gesellschaft und zum Staat als Träger des Ordnungssystems), wozu auch die Identifizierung mit den von ihnen verkörperten Gesetzen, Werten, Forderungen gehört. Fehlschlagen der Identifizierung auf dieser Stufe kann z. B. zu Bereicherungskriminalität gegenüber Rechtsträgern führen, die dem Täter nicht mehr in Gestalt von natürlichen Personen begegnen (Laden-, Kaufhausdiebstähle, Diebstähle an Bundeswehreigentum, Betrug gegenüber Behörden), aber auch zu politischen, Bereicherungs- und Ordnungsdelikten gegenüber dem Staat. Wer kein Verhältnis zum Staat hat, scheut sich auch nicht, Diebstahl oder Betrug ihm gegenüber zu begehen, und wer die staatliche Ordnung ablehnt, würde zwar, wenn er auf der ersten Stufe Identitätsbewußtsein erworben hat, keine personalen Delikte begehen, wäre aber bereit, abstrakte Vermögensmassen anzugreifen, wenn es ihm erforderlich erschiene. Die zwischen massiver Kriminalität und Nichtkriminalität schwankende „Revolte der J u g e n d " ist in diesem Sinne darauf zurückzuführen, daß der Staat eine anonyme und undurchschaubare Institution ohne personale Verantwortlichkeiten geworden ist und eine Identifizierung mit ihm nur noch wenigen „staatstreuen" Bürgern möglich ist. Auf einer dritten, noch höheren Stufe handelt es sich um die Identifizierung mit dem Menschen als sittlichem Wesen und den damit zusammenhängenden, möglicherweise von der Staatsraison abweichen-

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den Forderungen. Der Mensch jenseits der Grenzen der eigenen Gemeinschaft, auch jenseits der Staats- und Ländergrenzen und Grenzen der „geltenden" politischen und Moralauffassungen wird hier zum Partner, der die gleiche Wertigkeit und Rechtsposition innehat wie man selber. Nichtidentifizierung auf dieser Stufe kann zu Delikten wie Friedensverrat, Progromhetze, Völkermord, Religions-, Rassen- und Weltanschauungsdelikten, aber auch zu Rechtsbeugung (versteckter wie offener), Folterung von Häftlingen und Kriegsgefangenen und zu Delikten im vermeintlichen Staatsinteresse führen. Der Kapo und KZ-Mörder hatte z. B. auf der ersten und zweiten Stufe Identitätsbewußtsein erworben („rührender Familienvater", „Staatstreu bis in den Tod"), aber nicht auf der dritten Stufe, und jeder Polizeibeamter und Richter schwebt ständig in der Gefahr, mangelndes Identitätsbewußtsein gegenüber dem Verbrecher zu bezeigen. Auch der Ideologietäter, der Menschen gefährdet, gehört hierher. Mangelndes Identitätsbewußtsein und dadurch verursachte Hemmungsschwäche erklärt nicht nur Kriminalität im einzelnen Fall, sondern auch gruppen-, epoche- und regionalspezifische Unterschiede in der Kriminalität. So sind Jugendliche kriminell gefährdeter als Erwachsene, weil sie ihrer Umwelt noch fremder gegenüberstehen, sie streckenweise noch gar nicht kennen und sich daher in ihr auch nicht heimisch fühlen können. „Kleine" Gesellschaften sind weniger mit Kriminalität belastet als große. Am geringsten ist die Kriminalität in Gemeinschaften, die nach dem Konventionalprinzip aufgebaut (Gemeinden, Clubs, Vereine, Hilfsgemeinschaften, Nachbarschaften pp.) oder sonst mit starken persönlichen Bindungen durchsetzt sind. Auch daß die Kriminalität in Norddeutschland größer ist als in Süddeutschland 9 , erklärt sich zwanglos aus unserem Ansatz: die Bevölkerung Süddeutschlands hat einen höheren Integrationsgrad, was sich gerade auch auf die Kriminalität der jüngeren Jahrgänge auswirkt, die in Süddeutschland einen erheblich geringeren Umfang hat als in Norddeutschland. In Gegenden starker Bevölkerungszusammenballung und Fluktuation ist die Kriminalität, vor allem die Bereicherungskriminalität, wesentlich höher als in ruhigen Wohngegenden, in Städten und Gegenden mit Mammutindustrie höher als auf dem Land und in Gegenden sich ruhig entwickelnder Mittelstandsindustrie. Die in einer überschaubaren und identifikationsfreundlichen ländlichen Umgebung aufwachsende Jugend ist weniger kriminell als die Stadtjugend, deren Erfahrungsdrang an Mauern, Beton, Asphalt stößt und für die der 9 Hierzu und zu den folgenden Angaben Hellmer, Kriminalitätsatlas der Bundesrepublik Deutschland und Westberlins, Wiesbaden (Bundeskriminalamt) 1972, S. 41 ff., 62 ff., 204 ff., 340 ff.

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„Andere" nur Teil einer fremden Masse ist, zu der er keine Beziehung hat. Dies gilt für Jugendliche, die der „Unterschicht" angehören, in besonderem Maße, weil sie in Städten konzentriert sind (auf dem Land treten trotz großer sozialer Unterschiede Schichtgegensätze nicht so stark in Erscheinung), und zwar in besonders massierten Stadtteilen, und weil sie sich (infolge Wohnungsnot) besonders viel auf der Straße und in „peergroups" aufhalten. Hafen-, Ferien-, Durchgangsverkehrsgebiete sind stärker belastet als Gebiete mit starken persönlichen Bindungen zwischen den Einwohnern. Daß Einwanderer, Flüchtlinge, ausländische Arbeitnehmer — mindestens in der ersten Generation — kriminell geringer belastet sind als die einheimische Bevölkerung, steht dem nicht entgegen, weil bei diesen Gruppen der Wille zur Identifizierung mit der einheimischen Bevölkerung und ihren gesellschaftlichen Institutionen (aus welchen Gründen auch immer) besonders stark ist. Dies sind nur einzelne, durch die empirische Forschung belegte Indizien. Der soziale Bezug unserer Kriminalitätserklärung wird dadurch noch deutlicher, daß der Hemmungskraft, die auf Identitätsbewußtsein beruht, der Tatanreiz gegenübersteht, mit dem sie in einem engen gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis steht: je stärker der Tatanreiz, um so geringer erscheint die Hemmung, um so größer müßte sie aber sein, um es nicht zur Tat kommen zu lassen. Der Tatanreiz ist nach Zeit und Ort verschieden, z. B. durch Hochstilisierung bestimmter Güter zu statusverleihenden Objekten, durch Werbung, Zurschaustellung begehrter Verhaltensweisen („Erfolg muß man haben") u. ä. Bei Jugendlichen z. B. kann man allgemein sagen, daß der Tatanreiz erhöht, die Hemmung dagegen herabgesetzt ist. Der Jugendliche von heute sieht viele Dinge, deren Wert ihm ständig vorgehalten wird, die ihm aber auf legale Weise nicht erreichbar sind, und gerade er erhält mit der Erziehung nicht mehr die genügende (erhöhte) Hemmung, um den angesichts der einseitigen Betonung des Erfolgs verstärkt auftretenden Versuchungen zu widerstehen, schon deshalb nicht, weil auch der Erwachsene sie nicht mehr in genügendem Maße besitzt. Mangelndes Identitätsbewußtsein ist aber kein kriminogener „Faktor" — es „macht" nicht Kriminalität — sondern es ist seinerseits „gemacht", Produkt nachteiliger Einflüsse auf die Entwicklung der Person. Das Verhältnis zwischen Motiv, Faktor, mangelndem Identitätsbewußtsein und fehlender Identifikation ist also folgendes. Nichtidentifikation mit dem „Anderen" ist Bedingung, conditio sine qua non für verletzendes, also kriminelles Verhalten. Identifikation mit dem „Anderen" im Augenblick der Tat schafft in der Regel die Hemmungskraft, die die Tat nicht zum Durchbruch kommen läßt. Die

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innere Einstellung, die der Nichtidentfiikation zugrunde liegt, ist mangelndes Identitätsbewußtsein. Dies kann auf einer Vielzahl von Einflüssen beruhen, die „kriminogene Faktoren" sind, weil sie die Bedingung (innere Einstellung) schaffen, ohne die Kriminalität nicht möglich ist. Kriminogene Faktoren schaffen also nicht unmittelbar Kriminalität — zu dieser Auffassung neigen alle auf einem „verkürzten Menschenbild" beruhende Kriminalitätstheorien — sondern nur auf dem Umweg über eine bestimmte innere Einstellung des Menschen, die durch mangelndes Identitätsbewußtsein gekennzeichnet ist. Die Einflüsse, die als „kriminogene Faktoren" anzusehen sind, sind solche, die (in der Erziehung oder sonstigen Entwicklung begründet) die Bildung von Identitätsbewußtsein gehemmt oder verhindert haben. Man könnte meinen, daß es daneben noch andere, „augenblickliche" kriminogene Faktoren gibt, die bewirken, daß das an sich in genügendem Maße entwickelte Identitätsbewußtsein nur temporär ausgeschaltet wird, z. B. Alkoholgenuß. Aber wir wissen, daß Alkoholgenuß (ähnlich wie Rauschgiftmißbrauch) nicht zu absolut persönlichkeitsfremdem Verhalten führt, sondern nur schon vorhandene Tendenzen verstärkt. Außerdem ist Alkoholgenuß oft nur Glied in einer Faktorenkette, die über Mißerfolgserlebnisse bis zu „Sozialisationsschäden" zurückreicht. Das Handlungswotif hat damit in der Regel nichts zu tun. Es ist grundsätzlich normal und bei jedem Menschen vorhanden, wenn auch in unterschiedlicher Stärke. Jeder Mensch will sich bereichern, sexuell befriedigen, körperlich entlasten, mit anderen in Wettbewerb treten, sich stark und überlegen erweisen usw. Es kann allenfalls dann als „abweichend" bezeichnet werden, wenn es direkt auf Schädigungsabsicht oder antisozialem Trieb von extremer Stärke beruht, was in Ausnahmefällen denkbar ist (gesellschaftsfeindliche Einstellung, persönliches Rachebedürfnis, Triebanomalie). Damit ist mangelndes Identitätsbewußtsein auch Kriterium zur Unterscheidung der Einflüsse in kriminogene und nichtkriminogene Faktoren. Einflüsse sind dann kriminogene Faktoren, wenn sie den Identifizierungsprozeß und dadurch die Bildung von Identitätsbewußtsein hemmen. Sie kommen dagegen als kriminogene Faktoren nicht in Betracht, soweit sie mit dem Identifizierungsprozeß nichts zu tun haben. Hier liegt zugleich ein wichtiger Ansatzpunkt für die Kriminalpolitik, die mehr ist als bloße Strafrechtspolitik10: sie hat » » A . A . Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 2. Aufl., Berlin 1972, S. 13 u. Zipf, Kriminalpolitik, Karlsruhe 1973, S. 1 ff. Wie hier Würtenberger, Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat, Stuttgart 1970, S. 27 ff.

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vor allem solche Einflüsse zu fördern, die den Identifizierungsprozeß stärken, und solche zurückzudrängen bzw. auszuschließen, die den Identifizierungsprozeß hemmen; d. h. sie hat — statt bloßer Sozialisation, die inhaltlich nichts besagt — positive Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen, z. B. die Gruppenbildung zu unterstützen (Konventionalprinzip!), eine „gesunde" Siedlungspolitik zu betreiben (keine Stein- und Betonwüsten, die identifizierungsabweisend wirken), die Familie zu sanieren (Stärkung der personalen Beziehungen), die Industrialisierung zu proportionalisieren (Intakterhaltung der natürlichen und menschlichen Umwelt), kommunikative Möglichkeiten der Freizeitverbringung anzubieten (Verweisung nicht nur aufs Fernsehen, das sich vereinzelnd auswirkt und den Entfremdungsprozeß rapide fördert), der Jugend (auch politische) Verantwortung zu übertragen (Einübung kooperativen Verhaltens und Entscheidens) und andere kulturpolitische Maßnahmen zu treffen, die darauf abzielen, das Erlebnis der geistigen Mitverantwortung für den „Anderen" und der gemeinsamen Verantwortung für das Ganze zu vermitteln, was um so wichtiger ist, als auch Kirche und Schule heute nicht mehr genügend Identifikationsmöglichkeiten bieten, die Schule deshalb nicht, weil sie zu einem reinen Selektionsinstrument geworden ist, das solche Kinder von gesellschaftlicher Gleichberechtigung und kreativem Mitgestalten ausschließt, die die hochgestochenen Lehrinhalte nicht mehr internalisieren können, weil sie nicht die dafür notwendige Begabung besitzen bzw. zu Hause nicht genügend Unterstützung erfahren. Auch Lehre, Arbeit und Beruf betrachten den Menschen nur noch als Posten im volkswirtschaftlichen Kalkül, nicht mehr als wertschaffendes Subjekt, das einer sittlichen Gemeinschaft angehört. Als bloße Rechnungseinheit im Bruttosozialprodukt tritt der Einzelne auch hier nicht mehr in Wechselwirkung mit dem „Anderen", die Voraussetzung des Entstehens von Vertrauen und des Bewußtseins wäre, daß der „Andere" seinesgleichen ist. Zum Schluß noch einige Bemerkungen zu Einzelfragen. Was vom „Verletzungsverhalten" gesagt wurde, gilt entsprechend f ü r das „Gefährdungsverhalten". Gefährdung ist eine Vorstufe von Verletzung. Wer ein genügendes Identitätsbewußtsein hat, wird dort, wo schon Gefährdung Verletzungswert hat, auch Gefährdung unterlassen, wozu allerdings möglicherweise ein größeres Maß an sozialer Voraussicht erforderlich ist. Die Verkehrskriminalität z. B. wird daher, auch soweit sie nur Gefährdungskriminalität ist, von der „Identitätstheorie" ebenso erfaßt wie Verletzungskriminalität. Das Schuldproblem wird durch unsere Betrachtungsweise nicht berührt. Die „Identitätstheorie" soll erklären, wie es zu strafbarem

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Verhalten und vor allem zu Kriminalität als gesellschaftsabhängiger Erscheinung kommt, nicht dagegen behaupten, daß jemand im Einzelfall kriminell werden muß. Jedermann hat die Pflicht, Verbote, die von der Gesellschaft aufgestellt sind, einzuhalten, gleich wie sein Identitätsbewußtsein entwickelt ist. Schuld ist also in zweierlei Form möglich, einmal durch Vernachlässigung von Identifikationsmöglichkeiten („Lebensführungsschuld", die strafrechtlich unbeachtlich ist), ferner durch Nichtbeachtung des Verbots (normale Tatschuld), die — wie dargestellt — in der Regel auf mangelndem Identitätsbewußtsein beruht. Ein Handeln „gegen das Gewissen" bedeutet also ein Handeln „trotz Kentnnis des Verbots". Relevant ist die „Identitätstheorie" für das Täter-Opfer-Verhältnis, das bisher — von der Kriminologie her — schwer in den Griff zu bekommen war. Wenn Identifikation mit dem „Anderen" die beste Gewähr dafür bietet, daß es nicht zum Verletzungsverhalten kommt, dann ist natürlich entscheidend, wer der „Andere" ist, ob sich der Täter mit ihm identifizieren konnte, in welchem Verhältnis er zu ihm steht 11 und ob er genügend Identitätsbewußtsein in dieser Richtung entwickelt hat. Diese Fragen spielen z. B. bei der „Revolte" der Jugend gegen den Staat und seine Organe eine Rolle, wovon schon die Rede war. Auch zur Beantwortung der Frage, ob und unter welchen Umständen der Strafvollzug eine Chance hat, den Rückfall zu unterbinden, kann die „Identitätstheorie" beitragen. Bisher hat man ganz unkritisch von „Resozialisierung" gesprochen und darunter die Wiedereingliederung des Bestraften in die soziale Gemeinschaft verstanden. Daß dies so einfach nicht geht, daß echte Identifikationsmöglichkeiten angeboten werden müssen und für ein „straffreies" Leben, also die Beachtung der Gesetze, nur dann eine Gewähr besteht, wenn der Identifizierungsprozeß auf allen drei Stufen (vor allem auf der ersten) vor sich gegangen und damit Identitätsbewußtsein erworben worden ist, erfordert eine entscheidende Umstellung und Intensivierung der Bemühungen zur sozialen Ertüchtigung und Rüdsgewähr von Lebenschancen, will man überhaupt Erfolg haben. Ich fasse die wesentlichen Punkte meiner Skizze — mehr kann dieser Beitrag nicht sein — zusammen: 1. Kriminalität ist Identitätsverletzung, d. h. Verletzung der Identität mit dem „Anderen" (Person, Gruppe, Gesellschaft, Staat usw.). 11 H. ]. Schneider, Viktimologie, Wissenschaft vom Verbrechensopfer, Tübingen 1975, S. 99 ff., spricht von objektiven und subjektiven sozialen Beziehungen.

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2. Zu Verletzungsverhalten kommt es, wenn im Augenblick der Tat keine genügende Identifizierung mit dem „Anderen" stattfindet. 3. Nichtidentifizierung mit dem „Anderen" beruht auf mangelndem Identitätsbewußtsein. 4. Identitätsbewußtsein wird in einem Prozeß wachsender Identifizierung mit der Umwelt erworben. 5. Alle diesen Prozeß störenden Einflüsse — und nur sie — sind kriminogene „Faktoren".

Strafvollzugsreform und Klassifikation* H I L D E KAUFMANN

Das Thema möglicher und notwendiger Strafvollzugsreformen läßt sich in verschiedener Weise angehen: Man kann und muß eine Langzeitperspektive entwickeln, die jeglicher Reform Orientierungspunkte gibt, damit sie sich nicht auf einem falschen Gleis festfährt, das sie später nur unter größten Schwierigkeiten verlassen kann. Und muß zugleich aus den konkreten Möglichkeiten des Strafvollzuges heraus, die hier und heute bestehen, Reformschritte planen. Bei letzteren darf nie der Umstand aus den Augen verloren werden, daß gegenwärtig jede Strafvollzugsreform der Reparatur einer Maschine gleicht, die nicht abgestellt werden kann, sondern während des Laufens überholt werden muß. Zu diesen letzteren Fragen der Strafvollzugsreformmöglichkeiten hier und heute wollen die folgenden Überlegungen einen Beitrag leisten. Sehr alt ist das Reformpostulat, den Strafvollzug nicht vom ersten bis zum letzten Tag uniform in Gestalt einer schlichten repressiven Übelszufügung ablaufen zu lassen, sondern eine kontinuierliche Vorbereitung auf die Zeit nach der Entlassung zu realisieren 1 . Verbunden ist dieses Postulat seit langem mit jenem zweiten, das unter dem Begriff „Individualisierung" oder seit einiger Zeit unter dem Begriff des „Behandlungsvollzuges" fordert, die Individualität des Gefange* Der Aufsatz enthält einen persönlichen Erfahrungsbericht, der sich auf Inund Auslandserfahrungen stützt. Der Einzelnachweis, wo jeweils welche Schwierigkeiten bestehen und Lösungsversuche praktiziert werden, soll an dieser Stelle unterbleiben, die anstehenden Fragen sollen vielmehr in generalisierter Form behandelt werden. 1 Vgl. dazu auch das englische Progressivsystem, das besonders in der Anstalt Pentonville seit 1842 angewendet wurde, und Croftons Fortentwicklung des irischen Systems (1851); ferner den „Generalplan zur Einführung besserer Kriminalgerichtsverfassung und zur Verbesserung der Gefängnis- und Strafanstalten" des preußischen Justizministeriums von 1804, die Bemühungen der „RheinischWestfälischen Gefängnisgesellschaft" Theodor Fliedners (1826) um die Entlassenenfürsorge und die nach dem Muster Pentonvilles entstandenen Gefängnisse in Berlin-Moabit und Bruchsal. Mit den Reichsratsgrundsätzen v. 7. 6. 1923 setzt sich der Progressivstrafvollzug endgültig durdi; vgl. auch Krebs, A., Von den Anfängen des Progressivsystems und den Vorschlägen C. A. Zellers, in: Erinnerungsgabe für Max Grünhut, 1965, S. 93 ff.; Mittermaier, Gefängniskunde, 1954, S. 103; Kaiser u.a., Strafvollzug, 1974, S. 29 ff., 239 m. w. N . ; vgl. auch Nr. 133 DVollzO, wonach die Vorbereitungen möglichst früh einzuleiten sind, ähnlich die Begründung zum RegEntw. eines Strafvollzugsgesetzes, S. 77 f.; das Hinarbeiten auf die Zeit nach dem Vollzug sollte im Idealfa.ll schon unmittelbar nach der Aufnahme beginnen (vgl. dazu Kaiser u. a., Strafvollzug, 1974, S. 208 f., S. 245 ff.).

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nen i m V o l l z u g z u b e a c h t e n u n d die V o l l z u g s g e s t a l t u n g a u f sie hin zu orientieren2. Z u r V e r w i r k l i c h u n g dieser beiden P o s t u l a t e h a b e n v i e l e L ä n d e r d e r W e l t z u n ä c h s t e i n m a l seit l ä n g e r e m die drei G r u n d f o r m e n schlossenen,

gelockerten

und

des offenen V o l l z u g e s

des

eingeführt

ge(ge-

legentlich noch k o m b i n i e r t m i t U b e r g a n g s h e i m e n ) u n d f ü r die A b s o l v i e r u n g dieser drei F o r m e n das P r o g r e s s i v s y s t e m m i t o b l i g a t o r i s c h e m Beginn

im

geschlossenen

Vollzug

zugrundegelegt3.

Zufolge

S y s t e m m u ß j e d e r V o l l z u g in d e r geschlossenen A n s t a l t unter

bestimmten

Voraussetzungen

und

meist

unter

maßgeblicher

B e t e i l i g u n g dieser A n s t a l t a n d e r E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g der Gefangene

über den

gelockerten

in den

offenen

diesem

beginnen; rückt

Vollzug

I n n e r h a l b dieser drei E t a p p e n b e s t a n d u n d besteht die

dann vor.

Individuali-

sierung des V o l l z u g e s — w e n n ü b e r h a u p t sie s t a t t f i n d e t — i m w e s e n t lichen

in d e n

unterschiedlichen

Angeboten

für

die

berufliche

und

sonstige F o r t b i l d u n g u n d gewissen D i f f e r e n z i e r u n g e n in d e r F r e i z e i t gestaltung. Dieses s t a r r e P r o g r e s s i v s y s t e m ( d a s in einigen L ä n d e r n gelegentlich d u r c h b r o c h e n w u r d e 4 ) h a t t e u n d h a t p r a k t i s c h in allen S t a a t e n

das

2 Vgl. Kriegsmann, N. H., Einführung in die Gefängniskunde, 1912, S. 35 ff., 49 ff.; Starke, Die Behandlung der Gefangenen, in: Bumke (Hrsg.), Deutsches Gefängniswesen, 1928, S. 147 ff., 158 ff.; vgl. dazu noch Koch, B., Das System des Stufenstrafvollzuges in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung seiner Entwicklungsgeschichte, Diss. Freiburg 1972, S. 26 ff., 31 ff.; entsprechend der Reg.Entw. eines Strafvollzugsgesetzes, der sich zum Behandlungsvollzug bekennt (§ 2); vgl. dazu auch u. a. Müller-Dietz, H., Mit welchem Hauptinhalt empfiehlt es sidi, ein Strafvollzugsgesetz zu erlassen, 1970, S. 90 ff.; ders., Probleme des modernen Strafvollzugs, 1974; Callies, R. P., Ausbildung und Therapie, in: Baumann, J . (Hrsg.), Die Reform des Strafvollzuges, 1974, S. 55 ff.; ders,, Arbeit und Erwachsenenbildung, in: Kaufmann, Artur (Hrsg.), Die Strafvollzugsreform, 1971, S. 135 ff.; Quensel, E. und St., Probleme der Behandlung im geschlossenen Vollzug, in: Kaufmann, Artur (Hrsg.), Die Strafvollzugsreform, 1971, S. 159ff.; Quensel, St., Der Alternativ-Entwurf zum Strafvollzugsgesetz: ein kleiner Schritt voraus, in: Baumann, J . (Hrsg.), Die Reform des Strafvollzuges, 1972, S. 21 flf.; Kaiser u. a., Strafvollzug, 1974, passim. 3 So die skandinavischen Länder, Großbritannien, Frankreich, Niederlande und die Schweiz; vgl. Blau, Der offene Vollzug im Ausland, Tagungsberichte Bd. V I I , 1969, S. 53, 69 ff.; Loos, E., Die offene und halboffene Anstalt im Erwachsenenstrafund Maßregelvollzug, 1970, S. 35 ff.; vgl. zum deutschen Vollzug Mittermaier, W., Gefängniskunde, 1954, S. 74, 101 ff.; Müller-Dietz, H., Mit welchem Hauptinhalt empfiehlt es sich, ein Strafvollzugsgesetz zu erlassen?, 1970, S. 107 ff.; Langer, G., Der progressive Strafvollzug, 1904; Einsele, H., Differenzierung und Klassifizierung, Leitsätze, Tagungsberichte Bd. VI, 1969, S. 129 ff. 4 Vor allem im Jugend Vollzug und für Fahrlässigkeitstäter; vgl. auch die Erfahrungsberichte bei Loos, S. 202 ff., 208 ff.; Erikson, T., Erfahrungen mit offenen Gefangenenanstalten in Schweden, in: Busch/Edel (Hrsg.), Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug, 1969, S. 281, 288 ff.; Hobmeier, /., Offener Vollzug und

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gleiche Ergebnis: In den offenen Vollzug gelangen nur sehr wenige Gefangene, und auch den gelockerten Vollzug passieren nur einige Minderheiten der Gefangenen. Wenn aber der alte Leitgedanke realisiert werden soll, daß der Gefangene von der geschlossenen Anstalt schrittweise an die Freiheit herangeführt werden soll, so müßte er zumindest im Regelfall die offene Anstalt durchlaufen. Das ist nicht annäherungsweise der Fall, das Konzept des Progressivsystems mit obligatorischem Beginn im geschlossenen Vollzug ist also als gescheitert anzusehen. Alle Versuche, innerhalb eines Systems obligatorischer Progression einen Wandel zu schaffen, führen unverkennbar zu keinem Ergebnis. Das Prinzip der starren Progression muß deshalb aufgegeben werden. Das Scheitern dieses Progressivsystems wird noch deutlicher, wenn man die heutigen Erkenntnisse über die Schädigungen durch den geschlossenen Vollzug bedenkt, die heute unter dem Stichwort „Prisonisierung" in der Vollzugswissenschaft abgehandelt werden 5 . Das Progressivsystem mit dem regelmäßigen Beginn im geschlossenen Vollzug führt also in praxi dahin, daß nicht nur die Gefangenen nicht an die Freiheit herangeführt werden, wie postuliert wurde, sondern darüber hinaus durch den obligatorischen Beginn im geschlossenen Vollzug noch unfähiger gemacht werden, nach der Entlassung vernünftig und f ü r die anderen Menschen erträglich in Freiheit zu leben. Ein dritter Mangel dieses starren Progressivsystems liegt in der Rolle, die die geschlossene Anstalt bei der Entscheidung über das Vorrücken spielt: Entweder hängt die Progression allein von ihr ab, oder sie hat de facto durch ihre unvermeidlichen Stellungnahmen einen maßgeblichen Einfluß auf die Entscheidung über das Vorrücken. Die Schädlichkeit des eigenen Vollzugsstiles und die Entwicklungsfähigkeit und Umstellungsfähigkeit eines Gefangenen unter anderen VollResozialisierung. Bericht über zwei dänische Anstalten, MsdiKrim. 1971, S. 159 ff.; weitere Nachweise bei Kaiser u. a., Strafvollzug, 1974, S. 240. 5 Vgl. dazu Clemmer, D., Prisonization, in: Johnston, N . u. a. (Hrsg.), The Sociology of Punishment and Correction, 2. Aufl., 1970, S. 479 ff.; ders., Prison Community, 2. Aufl., 1958, S. 300 ff.; Hohmeier, / . , Die soziale Situation der Strafgefangenen. Deprivationen der H a f t und ihre Folgen, MSchKrim., 1969, S. 292 ff.; ders., Die Strafvollzugsanstalt als Organisation, in: Kaufmann, Artur (Hrsg.), Die Strafvollzugsreform, 1971, S. 125 ff.; Schüler-Springomm, Strafvollzug im Obergang, 1969, S. 171 ff.; Wheeler, St., A Study of Prisonization, in: Johnston, N . u.a. (Hrsg.), The Sociology of Punishment and Correction, l . A u f l . , 1962, S. 152 ff.; Hoppensack, H. Ch., Über die Strafanstalt, 2. Aufl., 1969, S. 146 ff.; Harbordt, St., Die Subkultur des Gefängnisses, 2. Aufl., 1972, S. 11, 82 ff.; Reinert, R-, Strafvollzug in einem halboffenen Gefängnis, 1972, 181 ff.; Scheu, W., Verhaltensweisen deutscher Strafgefangener heute, 3. Aufl., 1972, S. 75 ff.; Kaiser u. a., Strafvollzug, 1974, S. 149 f. m. w. N .

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Zugsbedingungen objektiv zu erkennen, sind aber auch bei gutem Willen die Bediensteten geschlossener Anstalten wegen ihrer Betriebsblindheit regelmäßig gehindert. Dem starren Progressivsystem ist also eindeutig eine Absage zu erteilen, und eine Reihe von Ländern sind dabei, diese Konsequenz zu ziehen und erproben bereits neue Verfahren. Hier setzen die Probleme ein. Doch zuvor ist eines festzuhalten: Absage an das starre Progressivsystem bedeutet nicht Absage an die Unterscheidung der Anstalt in geschlossene, halboffene und offene. Hier handelt es sich um Grundformen, die derzeitig eindeutig nicht ersetzbar sind. D a ß ihr Anteil an den Haftplätzen allerdings anderen Relationen unterliegen muß, hängt mit den anstehenden Fragen zusammen. Absage an das starre Progressivsystem bedeutet ebenfalls keine Absage an die Möglichkeit, daß Gefangene von geschlosseneren Vollzugsformen in offenere verlegt werden (aber auch umgekehrt), sondern bedeutet nur eine Absage an jeden Schematismus und Absage an die Regel, in der geschlossenen Anstalt beginnen zu müssen. Damit aber stellt sich das erste Reformproblem: Wie soll — nach Absage an die starre Progression — die Verteilung von Gefangenen auf die verschiedenen Anstaltstypen erfolgen? Wenn man es ablehnt, jeden Gefangenen zunächst in die geschlossene Anstalt zu stecken, und wenn man zugleich den unvermeidlichen anstaltsinternen Interessenkonflikt (gute, d. h. nützliche Gefangene möchte man behalten, lästige loswerden) ausschalten will, bleibt nur die bereits teilweise praktizierte Lösung, unabhängige Auswahlanstalten einzurichten, die jeder Gefangene zu Beginn seiner Strafe durchläuft. D a ß von diesem Prinzip für Kurzstrafer gewisse Abstriche zu machen sind, ergibt sich aus rein praktischen Gründen: Eine Strafzeit von 6 Monaten läßt sich nicht mehr sinnvoll teilen zwischen einem Aufenthalt in einer Auswahlanstalt und einer anschließenden Vollstreckung in der zugewiesenen Anstalt. Hier gilt es, sinnvolle andere Lösungen zu entwickeln, die hier nicht im einzelnen diskutiert werden können. Derartige Auswahlanstalten haben mehrere Vorzüge: Neben ihrer inneren Unabhängigkeit — wegen fehlender Eigeninteressen — können in ihnen Erfahrungen akkumuliert und Spezialisten in verstärktem Maße eingesetzt werden. Ihre einzige Aufgabe besteht in der Auswahl, dies kann deshalb nicht ihren Blicken entschwinden wie in den Vollzugsanstalten normalen Typs. Damit aber gelangt man zu der nächsten Frage: Nach welchen Kriterien, mit welchen Methoden hat die Auswahl zu erfolgen? Eine erste Regel läßt sich leicht aufstellen: Das Auswahlverfahren muß unter allen Umständen die Erkenntnisse der Wissenschaft über

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die Menschenbeurteilung einbeziehen. Das heißt in praxi: Das Verfahren muß maßgeblich unter der Beteiligung von Psychologen, Ärzten, Soziologen, Sozialarbeitern und Vollzugspraktikern gestaltet werden. Wer hier mitarbeitet, welche Untersuchungsmethoden angewandt werden, hängt von den personellen und finanziellen Möglichkeiten ab. Ein sinnvolles Verfahren ist dabei — das ist die Mindestregel — ohne Mitarbeit von Psychologen nicht denkbar. Werden solche Auswahlverfahren durchgeführt, so stellt sich als nächstes die Frage: Nach welchen Kriterien soll eigentlich eine Auswahlanstalt entscheiden}. Sichergestellt ist durch den Begriff und die Funktionsbezeichnung „Auswahlanstalt" eigentlich nur eines: Sie soll Unterschiede zwischen den Gefangenen machen und von diesen Unterschieden die Zuweisung zu bestimmten Anstalten abhängig machen. Aufgrund der zu machenden Unterschiede kann und soll sie insbesondere auch direkt den offenen Anstalten zuweisen. Betrachtet man die Frage nach den zu machenden Unterschieden, so ergeben sich eine Fülle von Schwierigkeiten. So hat das kriminologische Schrifttum vergangener Jahrzehnte eine Fülle von Klassifikationen versucht 6 . Diese Unterscheidungen haben im Ausland zum Teil Eingang in den Strafvollzug gefunden 7 . In den Personalakten von Strafgefangenen finden sich deshalb auf der Basis einer normalen Psychodiagnostik, die Psychologen gemäß den Regeln ihrer fachlichen Ausbildung durchgeführt haben, Beurteilungen von Gefangenen gemäß den genannten kriminologischen Typologien. 6 Vgl. die Einteilungen nadi der Bereitschaft zum Verbrechen bei Mezger, Kriminologie, 1951, S. 150 ff.; ders., Der Typus, in Mezger/Seelig (Hrsg.), Krim. Gegenwartsfragen, 1955; nach spezifischen Verhaltensmustern bei Seelig und Weindler, Die Typen der Kriminellen, 1949, S. 19 ff.; nach der verbrecherischen Intensität bei Aschaffenburg, Kriminalanthropologie und Kriminalbiologie, in: Elster/Lingemann (Hrsg.), H w b . K r i m . , 1. Aufl., Bd. I, 1933, S. 825 ff.; die Merkmalsgruppierungen bei Lombroso, N e u e Fortschritte in den Verbrecherstudien, 1899, S. 105 ff. und Ferri, Das Verbrechen als soziale Erscheinung, 1896, S. 74 ff.; oder die Klassifikation unter verschiedenen Blickwinkeln bei Exner, Kriminologie, 3. Aufl., 1949, S. 289 ff.; unter den neueren Zusammenfassungen vgl. Göppinger, Kriminologie, 1971, S. 99 ff. 7 Ansätze in Deutschland dazu gab es in dem früheren kriminalbiologischen Dienst und nach dem Krieg einige Jahre mit dem kriminologischen Dienst in Bayern; in den Reformvorschlägen wird darüber hinaus die Forderung erhoben, einen kriminologischen Dienst als begleitende Forschung im Strafvollzug zu institutionalisieren. Die D V o l l z O ( N r . 59) überläßt Regelungen dazu besonderen Richtlinien. N a d i dem RegEntw. ist ein kriminologischer Dienst ebenfalls vorgesehen (5 152), jedoch stehen Regelungen über die Organisation der Forschung noch aus. Die Autoren des Alternativ-Entwurfs, der in §§ 37—39 ebenfalls die kriminologische Forschung als Begleitforschung des Vollzuges vorsieht, kritisieren, d a ß § 152 RegEntw. nicht ausreiche; es werde dort der U m f a n g und die Bedeutung der Forschungsarbeit verkannt (vgl. S. 97 AE).

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Klassifikationen dieser Art unterliegen, wenn sie in den Strafvollzug eingeführt werden, jedoch folgenden Mängeln: 1. Die ganze Problematik der psychologischen Typologien ist in der allgemeinen Psychologie hinreichend diskutiert worden mit dem Ergebnis, daß der Erkenntniswert des typologischen Ansatzes starken Einschränkungen unterliegt 8 . Was aber in der allgemeinen Psychologie gilt, muß auch in der angewandten Psychologie gelten — und Diagnostik für Zwecke des Strafvollzuges ist angewandte Psychologie. Typologien stellen vorfixierte Schemata dar, die schon ob ihres Schematismus die Gefahr beschwören, andere, unter Umständen weit wichtigere Aspekte der Persönlichkeit des Einzelnen auszublenden. 2. Typologien sind aber insbesondere für Strafgefangene außerordentlich gefährlich. Wer als Gefangener gekennzeichnet ist, etwa als haltloser willensschwacher Typ, als chronischer Rückfäller, als aggressiver Gewalttäter oder wie auch immer, f ü r den besteht die Gefahr, daß er durch seine Umgebung auf diese Rolle fixiert wird. Hier besteht die Gefahr der self-fulfilling prophecy, hier besteht — wie die ganze Diskussion um die labeling-Problematik gezeigt hat — die Gefahr, daß er durch diese ganzen Vorgänge der Abstempelung zu dem gemacht wird, der er dann später auch ist, weil man ihm gar keine Chance mehr bietet, ein anderer zu sein, der er sein könnte 9 . 3. Für einen Strafvollzug herkömmlicher Art, der sich auf das obligatorische Progressivsystem gründet, sind — und das ist nun der entscheidende Punkt — derartige Klassifikationen ohne jeden Wert. Sie gestalten nämlich nicht den konkreten Vollzugsstil im Sinne einer therapeutischen Hilfe, sondern stellen einen vollzugsmäßigen Leerlauf dar. Starres Progressivsystem und Klassifikationen von Gefangenen gemäß irgendwelchen kriminologischen Typologien sind nämlich zwei verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, eben, weil sie nicht einander zugeordnet sind. 4. Auf derartige allgemeine kriminologische Typologien können aber auch Auswahlveriahren, die sich vom herkömmlichen Progressivsystem gelöst haben, nicht zurückgreifen. Die kriminologischen Typologien sind nämlich um ihrer selbst willen entwickelt worden, um ihres (vermeintlichen) Erkenntnis- und Ord8 Vgl. Strunz, K., Das Problem der Persönlidikeitstypen, in: Handbuch der Psychologie, Bd. IV, S. 211 ff. 9 Mertön, R. K., The self-fulfilling prophecy, in: Social Theory and Social Structure, 1957, S. 421 ff.; Rosenthal, R., Experimenter Effects in Behavioral Research, 1966.

S t r a f v o l l z u g s r e f o r m und Klassifikation

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nungswertes willen in bezug auf Delinquenten. Sie haben keine Erkenntniswerte für die Frage, in welcher Anstalt ein Gefangener seine Strafe verbüßen könne und solle, eben, weil sie nicht auf diese Fragestellung hin entwickelt worden sind. Typologien also, die dem kriminologischen Schrifttum entnommen sind, zielen ins Nichts, weil ihnen keine Vollzugsbeziehung eigen ist. O b ein willensschwacher, ein labiler, ein schwachsinniger, ein aggressiver Gefangener in die offene oder die geschlossene Anstalt gehört, diese Frage zu beantworten, war nie der Sinn kriminologischer Typologien. Sie anzuwenden bedeutet deshalb Leerlauf, der nur die Gefahr in sich birgt, zusätzlich durch Stigmatisierung und Etikettierung, durch Entmutigung und Festlegung weitere Hindernisse aufzurichten für eine sinnvolle Behandlung von Gefangenen. Ausgangspunkt für die Klassifikation im Auswahlverfahren muß also eine vollzugsbezogene Fragestellung sein. Deshalb muß man von einer Bestandsaufnahme der vorhandenen Anstalten ausgehen und auf ihre verschiedene Struktur hin die Frage stellen, in welche Anstalt der Gefangene zu bringen sei. Maßgeblich ist dabei in praxi, wo ein Vorrang des — kritisch reflektierten — Sicherheitsgedankens besteht, so daß die geschlossene Anstalt gewählt werden muß, bzw. wo dies nicht der Fall ist, so daß der vorzugswürdige offene oder gelockerte Vollzug direkt gewählt werden kann. Es ist also zunächst einmal zu fragen, ob der Gefangene in den offenen oder gelockerten Vollzug verbracht werden kann oder in die geschlossene Anstalt muß. Zum zweiten sind die in den einzelnen Anstalten vorhandenen berufsbildenden Möglichkeiten zu beachten, um den Gefangenen nach Möglichkeit in dieser Hinsicht optimal unterzubringen, ggf. ihn in reine Schul- oder Bildungszentren zu verlegen. Damit ergeben sich vom heutigen Istbestand der Anstalten her zunächst einmal klare Fragestellungen 10 . Nun gehen vielfach Auswahlanstalten nicht unmittelbar in dieser Weise vor. Sie arbeiten vielmehr mit bestimmten Kategorien, in die sie die Gefangenen einteilen, und verwenden für sie bestimmte Ober1 0 Zur Historie der Klassifizierung im Vollzug vgl. Kaiser u. a., Strafvollzug, 1 9 7 4 , S. 2 8 ff. m. w. N . ; vgl. weiter zu diesem Problembereich Paetow, Die Klassifizierung im Erwachsenenvollzug, 1 9 7 2 ; Müller-Dietz, H., Mit welchem H a u p t inhalt, 1 9 7 0 , S. 9 8 ff.; ders., Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform, 1 9 7 0 , S. 1 5 2 ff.; ders., Persönlichkeitsforschung im Strafvollzug, MSchKrim., 1 9 6 9 , S. 194 ff.; Kaiser u . a . , Strafvollzug, 1 9 7 4 , S. 1 6 9 ff. m . w . N . ; Gallmeier, M., D a s Klassifizieren in der Strafanstalt als Gemeinschaftsleistung, Z f S t r V O , 1 9 5 4 , S. 2 5 2 ff.; ders., Klassifizierung der Gefangenen, in: B l a u / M ü l l e r - L u c k m a n n (Hrsg.), Gerichtliche Psychologie, 1 9 6 2 , S. 2 6 5 ff.; Schüler-Springorum, Strafvollzug, 1 9 6 9 , S. 2 2 3 ff.; Feige, ]., Differenzierung und Klassifizierung, Tagungsberichte, B d . V I , 1 9 6 9 , S. 9 5 ff.; Einsele, H., Differenzierung und Klassifizierung, Tagungsberichte, B d . V I , 1969, S. 1 1 6 ff.

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Hilde Kaufmann

begriffe, die anknüpfen an Begriffe wie Rückfallgefahr, kriminelle Gefährdung etc. Diesen Begriffen wohnt damit ein prognostisches Element inne. Sie werden zumeist in folgender Weise angewandt: Je negativer die Prognose gestellt wird, um so eher entscheidet man sich für die geschlossene Anstalt. Hierzu ist Folgendes zu sagen: Die Annahme, daß bei stärkerer krimineller Gefährdung, starker Rückfallgefahr usw. die geschlossene Anstalt zu wählen ist, ist nur unter dem Aspekt richtig, daß Sicherheitsgesichtspunkte dies gebieten. Unter Behandlungsaspekten hingegen stimmt diese Annahme nur teilweise. Es wäre z. B. durchaus denkbar, daß ein aggressiver Gefangener unter dem aggressionsmindernden Vollzugsstil und der meist persönlichen Atmosphäre einer offenen Anstalt bessere Sozialisationshilfe erführe als in der geschlossenen Anstalt, daß ein kontaktarmer Einzelgänger in der Atmosphäre des gelockerten Vollzuges eher kontaktfähig werden kann als im geschlossenen Vollzuge usw. Wenn es aber nur teilweise richtig ist, daß bei erhöhter krimineller Gefährdung, starker Rückfallgefahr usw. die geschlossene Anstalt unter Behandlungsgesichtspunkten indiziert ist, im übrigen aber nur der Sicherheitsgedanke durchschlägt, sollte man die diesen Sachverhalt verdeckenden Oberbegriffe wie diejenigen der kriminellen Gefährdung usw. streichen. Dies gilt also um so mehr, als regelmäßig Gefangene doch von ihren Klassifikationen erfahren, zumindest aber die Vollzugsbediensteten sie kennen, so daß auch hierbei wieder die gefährlichen Etikettierungsprozesse ingang kommen. Das gleiche gilt für die Bezeichnungen mit Hilfe von Kategorien, etwa der Kategorie a, b, c usw. Dies läßt sich um so leichter verwirklichen, als ein echtes Bedürfnis für derartige Etikettierungen in Wahrheit nicht besteht. Die Auswahlanstalt kann nämlich bei ihrer Entscheidungsfindung direkt ansetzen mit der Frage: „Läßt es sich unter Abwägung aller Gesichtspunkte vertreten, den Gefangenen direkt in die offene Anstalt zu verlegen — jene Vollzugsform, die an sich die beste ist — oder stehen einer solchen Entscheidung schwerwiegende Bedenken entgegen?" Daß hier der Sache nach Überlegungen zur Rückfallgefahr auftauchen, kann nicht bestritten werden. Doch macht es einen Unterschied, ob diese in der Argumentation auftauchen, oder als solche für die Klassifikation verwandt werden. Ersteres ist unvermeidlich, letzteres überflüssig. Mit der im Auswahlverfahren zu stellenden Frage nach dem offenen bzw. geschlossenen Vollzug kann und muß dann zugleich die andere Frage verbunden werden, wo dem Gefangenen die für ihn besten Fortbildungsmöglichkeiten beruflicher und sonstiger Art geboten werden können und wie beide Gesichtspunkte miteinander zu

Strafvollzugsreform und Klassifikation

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kombinieren sind. Es hat den Anschein, daß der Sache nach im wesentlichen bereits so verfahren wird, um so mehr aber besteht Grund, jede zusätzliche Klassifikation zu vermeiden. Im Endergebnis würde dies dahin führen, den ganzen Begriff der „Klassifikation" zu streichen und einfach Zuweisungsentscheidungen zu bestimmten Anstalten zu treffen, Entscheidungen, bei denen eine Reihe von Gesichtspunkten gegeneinander abzuwägen sind. Um was es hier im Grunde geht, läßt sich vielleicht am einfachsten verdeutlichen mit folgendem Beispiel: In jeder Klinik wird eine Diagnostik durchgeführt und eine Therapie festgelegt, zugleich wird entschieden, in welche Abteilung, in welches Bett der stationäre Kranke verlegt wird. In der Diagnostik sind durchaus auch Uberlegungen über den möglichen Ausgang der Krankheit enthalten, kein Arzt aber würde die Kranken klassifizieren in solche die gute, solche, die wenigere gute Heilungschancen hätten und solche, die mit ziemlicher Sicherheit Todeskandidaten sind. Eine solche Klassifikation ist funktionslos, außerdem schädlich, weil sie den Gesundungswillen blockiert, Hoffnungslosigkeit erzeugt und den Arzt möglicherweise am vollen Einsatz hindert. Gleiches gilt für die Strafanstalt, wenn sie das Wort vom „Behandlungsvollzug" ernst nimmt. Bis hierher läßt sich die Funktion und Arbeitsweise von Auswahlanstalten klar bestimmen. Es fragt sich freilich, ob außer der Wahl zwischen offenem, gelockertem und geschlossenem Vollzug sowie der Berücksichtigung der Fortbildungsmöglichkeiten weitere Kriterien zu beachten sind. Hier ist zunächst an Folgendes zu denken: Eine Auswahlanstalt, die für eine bestimmte Anzahl von Vollzugsanstalten verschiedenen Typs zuständig ist, kennt nicht nur deren Struktur als einer offenen usw., und die dort jeweils bestehenden Fortbildungsmöglichkeiten, sondern kennt im Laufe der Zeit auch, wenn sie aufgeschlossen genug arbeitet, das jeweilige Klima der einzelnen Anstalten. Jeder Vollzugskenner weiß, daß Anstalten gleichen Typs dennoch ein unterschiedliches, ja eigenes Klima haben. Dieses Erfahrungswissen sollte in die Auswahlentscheidung einfließen. Es ist durchaus nicht ohne Bedeutung, welcher Gefangene in eine mehr oder weniger rigide, mehr oder weniger unpersönliche, mehr oder weniger autoritäre, mehr oder weniger kleinliche Atmosphäre eingewiesen wird. All dies sollte — im Rahmen des Möglichen — bei der Diskussion über die auszuwählende Anstalt beachtet werden. Ebenso kann es für die Entscheidung der Auswahlanstalt eine Rolle spielen, geeignete Gefangene in bestimmte Anstalten mit bereits vorhandenen bestimmten therapeutischen Hilfen zu verweisen. Gruppen-

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Hilde K a u f m a n n

therapie, gezielte Sporttherapie, Gesprächstherapie usw. sollten nach Möglichkeit denjenigen Gefangenen zugute kommen, die sich für diese Hilfe eignen und ihrer bedürfen. D a beim heutigen Stand der Erfahrungen mit Therapie an Gefangenen keine festen Regeln und gesicherten Kriterien angegeben werden können, bedarf es hier in besonderem Maße des Kontaktes mit den jeweiligen Therapeuten, spielt doch ihre je subjektive Erfahrung und persönliche Eignung für bestimmte Probanden eine wesentliche Rolle für die Hilfemöglichkeiten. All diese Überlegungen führen zu dem Schluß, daß es eines ständigen Kontaktes zwischen Auswahlanstalten und Vollzugsanstalten bedarf, um weiter zu kommen. Eine letztere Funktion ergibt sich schließlich aus folgender Uberlegung: Wenn die Auswahlanstalt zu einer guten Persönlichkeitsdiagnostik kommt, wird sie im Laufe der Zeit einen erheblichen Überblick über das erlangen, was an therapeutischer Hilfe vordringlich ist. Damit aber muß die Auswahlanstalt auf Dauer aufgrund ihrer Erfahrung die Funktion eines Innovators für den Strafvollzug übernehmen, eine Funktion, die naturgemäß die stete Zusammenarbeit mit der obersten Strafvollzugsbehörde voraussetzt, eine Zusammenarbeit, die zu institutionalisieren ist etwa in Form von regelmäßigen Arbeitstagungen. Auf diese Weise könnte durch ein wechselseitiges feed back zwischen Vollstreckungsanstalt und Auswahlanstalt einerseits und Auswahlanstalt und oberster Vollzugsbehörde anderseits von den Bedürfnissen an der Basis her eine Strafvollzugsreform ingang kommen. Tatsächlich begreifen einige Auswahlanstalten ihre Funktion in dieser Weise. Die oberste Vollzugsbehörde aber sollte — gerade um dieser Schlüsselfunktion der Auswahlanstalten willen — durch gute personelle Besetzung es ermöglichen, diese Funktion des Impulsgebers ernsthaft auszuüben. Überlastete Auswahlanstalten sind hierzu nicht in der Lage. Mir scheint, auf diese Weise bestünde eine realistische Chance, Schritt um Schritt Vollzugsreform zu betreiben.

Zur historischen Kriminologie HELLMUTH M A Y E R

Kriminologie wird in diesem Beitrag als Lehre von der Steuerung sozialen Geschehens durch die strafrechtliche Sanktionsordnung verstanden. Kriminalität bedeutet für uns demnach menschliches Verhalten, dem durch die formelle (Gerichts- und Verfahrensordnung) und materielle Sanktionsordnung begegnet werden soll. Institutionen und Rechtsbegriffe sind historisch wandelbar, mit ihnen verändert sich auch U m f a n g und Inhalt der Kriminalität. D a jede Rechtsordnung sowohl de lege lata als auch de lege ferenda durchdacht werden muß, ist der Begriff der Kriminalität außerdem mit den jeweiligen natürlichen und sozialen Bedürfnissen und Gegebenheiten in Beziehung zu setzen. Gerade die historische Kriminologie muß daher auch die historisch älteren Sanktionsordnungen heranziehen, welche unserem heutigen Strafrecht nur verwandt sind und dessen Funktion auf andere Weise wahrnehmen. Mit alledem ist eine Fülle von Methodenfragen aufgeworfen, welche in bezug auf die historische Kriminologie noch gänzlich ungeklärt sind. Es bleibt nichts anderes übrig, als das Arbeitsfeld vorläufig abzustecken und zu untersuchen. Dies mag zu besserer methodischer Fragestellung und damit künftig audi zu solideren Antworten führen, als sie heute gegeben werden können. Jedenfalls läßt die Begegnung der Kriminologie und der Rechtsgeschichte auf beiden Seiten viele grundsätzliche Sachfragen in neuem Licht erscheinen. Wir beschränken uns auf Fragen der germanisch-deutschen Rechtsgeschichte. Die Quellenarmut der germanischen Frühzeit zwingt zu einer modellartigen Darstellung, wobei wir die sozialen Verhältnisse und das kriminologische Geschehen in der Hauptsache aus den Rechtsquellen erschließen. Seit dem Mittelalter fließen die Quellen immer reichlicher, so daß eine der Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit historischen Geschehens angemessenere Darstellung künftig einmal möglich sein wird. Gegenwärtig sind wir nicht nur aus Raumgründen gezwungen, uns auf einige Grundgedanken zu beschränken.

A. Das archaische frühgermanische Recht wird nur von Cäsar und Tacitus in den wesentlichen Grundzügen bezeugt. Es ist von prinzipieller Bedeutung, weil es die einschlägigen sozialen Konflikte kaum als Widerstreit des einzelnen gegen eine öffentliche Normen- und

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Hellmuth Mayer

Sanktionsordnung behandelt. Die leges barbarorum und die skandinavischen Rechte können nur mit Vorsicht zur Ausfüllung der römischen Skizze benutzt werden — nicht aber mit Wilda und seinen Nachfolgern zur Rekonstruktion —, weil sie bereits Fortentwicklungen, übrigens in verschiedener Richtung, darstellen.

/. Anfänge eines öffentlichen Strafrechts sind nur insoweit zu erkennen, als in einigen wenigen Fällen die Rechtsgemeinde das Fehlverhalten des einzelnen mit Strafe ahndet. Als Strafmittel kommt ernstlich nur die Todesstrafe in Betracht, wenn auch Tacitus Germ. V I I Züchtigung als Mittel der Heereszucht erwähnt. Von Friedloslegung berichten die antiken Autoren überhaupt nichts, sie tritt auch in den fränkischen Quellen in den Hintergrund. Der geringe räumliche Umfang der Friedensbereiche, die bequeme Möglichkeit, sich an irgendeinen Heerkönig oder an eine römische Legion anzuschließen, machten sie fragwürdig. Als der Todesstrafe verfallen nennt Tacitus in Germ. X I I nur: proditores und transfugae einerseits, ignavi, imbelles und corpore infames andererseits. Die ersteren werden sichtbar an Bäumen aufgehängt, das flagitium der Tabufälle wird im Sumpf verborgen. Unkriegerisches Verhalten und sexuelles Stigma werden also in gleicher Weise tabuiert. Diese seltsame Zusammenstellung schließt es aus, daß Tacitus nur vergessen hätte, die Bestrafung von Tötungen, Gewalttaten und Diebstahl zu erwähnen. Auch die späteren Quellen kennen ja nur zaghafte Erweiterungen. Die noch heute nachwirkende romantische Rechtsschule konnte sich eine solche Regelung nicht vorstellen, weil die ethnologischen Analogien noch nicht bekannt waren. Noch heute wird vielfach gelehrt, daß Todesstrafe, motiviert als Expiation, in älterer germanischer Vorzeit häufig angewandt worden sei. Diese Annahme entbehrt jeglicher Grundlage in den Quellen, erscheint im ethnologischen Vergleich höchst unwahrscheinlich und ist religionsgeschichtlich kaum denkbar, denn entsühnende Todesstrafe — außerhalb gewisser Tabufälle — würde ethischen Monotheismus voraussetzen. D a ß die Todesstrafe vielfach als Menschenopfer vollzogen wird, beweist in diesem Zusammenhang nichts. Menschenopfer motivieren sich von selbst als Opfergabe. Sie machen allerdings zugleich die manageladene Hinrichtung ungefährlich und garantieren die apotropäische Funktion. In den Annalen cap. 5 9 erzählt Tacitus, daß Arminius gegen die Wiederkehr der R ö m e r damit agitiert habe, daß sie die römische öffentliche Rechtspflege mit ihren supplicia zurückbrächten. Varus wurde z w a r von

Zur historischen Kriminologie

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allen antiken Autoren beschuldigt, er habe die römische Rechtsordnung übereifrig eingeführt, es fehlt aber an jedem Hinweis darauf, daß er sie ungerecht gehandhabt habe. Cäsar, De bello Gallico V I , 23 berichtet, daß die Kriegsanführer zwar im Krieg die potestas vitae necisque haben, die principes im Frieden aber nur inter suos jus dicunt controversiasque minuunt. Die Gegenüberstellung schließt doch wohl eine Kriminaljustiz im Frieden aus. Diese eng umgrenzte Strafjustiz d a r f man nicht als sakral oder magisch motiviert betrachten. Die Ausstoßung aus der H e r d e beim Tier, beim Menschen aus dem Kleinstamm, ist eine instinktive H a n d lung. R a t i o n a l gesehen, werden auch heute noch in jedem H e e r Verräter und Uberläufer mit Todesstrafe bedroht und mit tabuierten Menschen kann m a n im praktischen Leben nur schwer auskommen. Kriminologisch gesehen, handelt es sich auch in jedem der Fälle um ein deviant behaviour.

II. Friedbrüche

und deren

Bereinigung

W a s heute die Spalten unserer Kriminalstatistiken füllen würde, ist für das frühgermanische Recht nur als Bruch des tatsächlichen Friedenszustandes relevant. Dies ist unter den sozialen Bedingungen frühgermanischen Lebens auch vernünftig und sachgerecht. Die germanischen Völker konnten sich zwar zu größeren Kriegsbündnissen zusammenschließen, waren aber im Frieden nur in Kleinstämmen, civitates, organisiert. Private Grenzkriege waren durchaus erlaubt, als Erziehung zur Kriegstüchtigkeit sogar erwünscht. Cäsar, De bello Gallico V I , 23 nennt sie latrocinia (Mordraub) und meint nullam habent infamiam quae extra fines cuiusque civitatis fiunt. Die germanische civitas unterscheidet sich aber dadurch von anderen homogenen oder auch geschichteten Stämmen, daß die freien Krieger in agnatische Verwandtschaftsverbände (heutige Schulbezeichnung Sippen) so innig eingebettet sind, daß das Gemeinwesen auf den einzelnen regelmäßig gar nicht zugreifen kann. Die gewöhnlichen Sippen sind zugleich bäuerliche Ansiedlungsverbände, Feldgemeinschaften (E. Mayer, ZRG Germ. Abt. 44, 30 ff.) und militärische Gestellungsverbände. In ihnen spielt sich also das gesamte Leben ab. Frauen und Kinder, Knechte, Hörige und Hintersassen sind durch Hausgewalt oder Herrschaft den freien Hausvätern untergeordnet und werden vor der Gerichtsgemeinde von diesen verantwortet. Auch der niedere Adel dürfte den Sippen in Gestalt eines Sippenseniorates zugeordnet gewesen sein. Nur wenige hochfreie Geschlechter haben ihren eigenen Lebens- und Herrschaftsbereich. Diese Sippenorganisation hat aber bei den Germanen die Souveränität des Stammes, der civitas, nicht aufgehoben, wie dies bei manchen

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Hellmuth Mayer

semitischen Völkern geschehen ist. Alle Sippen stehen deutlich unter der Souveränität der Rechtsgemeinde. 1. Haftung der Sippe Der einzelne Freie handelt immer zugleich als Repräsentant seiner Sippe. Bricht er den Frieden, so kann die Sippe ihn nicht preisgeben (Nibelungentreue). Der Friedbrecher riskiert also weit mehr als seine eigene Existenz, er riskiert Existenz oder doch Macht seiner Sippe, welche durch Blutfehde vernichtet oder durch Bußzahlungen unerträglich geschwächt werden kann. Frauen und Unfreie ziehen zuerst den Hausvater, mittelbar die Sippe heran. a) Friedbruch kann mit Fehde, d. h. mit Krieg zwischen den beteiligten Sippen, beantwortet werden. Dieser Krieg kennt zwar keinen verbindlichen Comment, es besteht nicht einmal die Pflicht zur Fehdeansage, aber er bringt auch keinem Beteiligten Schande, auch nicht dem, der den ersten Anlaß gab. Es handelt sich vor allem um Wiederherstellung der auctoritas der verletzten Sippe, nicht um gerechte Rache am Schuldigen, der um so weniger interessiert, je unwerter er ist. Krieg neigt zur Eskalation. Man beweist seine Macht am sichersten, wenn man der Gegenseite einen besonders angesehenen Mann tötet (Frost. L. Einl. § 8). Sippeneigenmacht. Ob hinreichender Anlaß zur Fehde vorliegt, entscheidet die sich gekränkt fühlende Partei in unbeschränkter Eigenmacht. Eine vorhergehende Feststellung, daß der Friede gebrochen worden sei, daß also eine gerechte Fehde vorliege, ist in diesem System der Sippeneigenmacht schon begrifflich nicht denkbar. Die Frage aufzuwerfen, ob der Täter z. B. in Notwehr gehandelt habe, ob ihn subjektive Schuld belaste oder nicht, wäre ebenso fragwürdig gewesen wie ein moderner Kriegsverbrecherprozeß um die Frage der Kriegsschuld. Natürlich konnten die Germanen, wie alle primitiven oder Niederkulturvölker zwischen objektiver Tat und subjektiver Schuld unterscheiden, aber sie konnten dieses Urteil nicht rechtlich praktizieren. Dazu fehlte nämlich das rationale Gerichtsverfahren. Eine Volksversammlung könnte nur Lynchjustiz üben, wenn sie vor solche Fragen gestellt würde. Es liegt also bei der geschädigten Partei, ob sie einen Jagdunfall oder eine Trunkenheitstat als bloßes Unglück oder als Angriff werten will. Wäre sie zu ersterem geneigt, so würde sie doch jedenfalls ein gewisses Entgegenkommen der Sippe verlangen, aus deren Bereich heraus der Unfall verursacht worden ist. Dies führt hinüber zum Gedankenkreis der Composition. b) Composition. Die geschädigte Sippe kann sich auch von vornherein oder nach ausgebrochener Fehde mit einer Bußzahlung begnügen. Die Bußtaxen sind uralt und soweit sie sich in Viehhäupter umrechnen

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Zur historischen K r i m i n o l o g i e

lassen, gemeinindogermanisch. geschiedenis, Bd. 8 S. 1 ff.)

(E. Mayer,

Tijdschrift voor

rechts-

Grundsätzlich können alle Friedbrüche komponiert werden, gerade auch die Tötung, die schweren Gewalttätigkeiten, namentlich der Raub. Auch der Diebstahl kann komponiert werden, nur wird meist beim Diebstahl das besondere Handhaftverfahren eingreifen. Offenbar haben die Germanen von der Blutfehde im allgemeinen nur sparsamen Gebrauch gemacht. Tacitus schreibt inimicitiae. . . non implacabiles durant. Die Fehdehäufigkeit der Isländersagas dürfte eine Extrembildung darstellen; wurde die Insel doch von Kleinhäuptlingen besiedelt, die sich dem Friedgebot des werdenden norwegischen Königshauses nicht beugen wollten. Es hat natürlich auch niemals an Versuchen gefehlt, das Fehderecht einzuschränken, aber diese Fehdeverbote waren doch nur bedingt wirksam. Der „weise Njal" berät sogar die Bluträcher seines Freundes, obgleich dieser als friedlos gelegter Mann hätte bußlos liegen müssen. c) Schädigungen durch die vom freien Hausvater verantworteten Personen, Frauen, Kinder, Knechte usw., haben wohl zu allen Zeiten nur dadurch Anlaß zur Fehde gegeben, daß der Herr die Noxalhaftung verweigerte. Es beleuchtete übrigens den Sinn des ganzen Haftungssystems, daß im Fall der Composition die Knechtstat mit gleicher Taxe gebüßt wurde wie die Tat des Freien. 2. Die Haftung des einzelnen Friedbrechers

für seine Tat besteht in

a) Mitbelastung durch Fehde und Composition. Uber die aktive und passive Beteiligung an der Composition wissen wir zwar nur aus späteren Quellen, aber die Sache muß uralt sein, wie überall auf der Welt. b) In subsidiärer Friedlosigkeit, wenn die Composition nicht aufgebracht werden kann, vgl. z. B. lex sal. 58, 1 de chrene-cruda. c) Sicherlich nur in sehr beschränktem Umfang in originärer Strafhaftung. Tacitus X I I sagt zwar ganz allgemein: „Licet apud concilium accusare quoque et discrimen capitis intendere." Das ist möglicherweise in Handhaftfällen vorgekommen, wenn der Ergriffene vor die Rechtsgemeinde gebracht wurde. Im übrigen mögen manchmal Tabuängste dem öffentlichen Verfahren zu Hilfe kommen, etwa bei Tötung durch Gift oder Zauber. Im allgemeinen war die Sippe nicht so leicht zur Preisgabe eines Angehörigen zu bewegen, was doch die

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Hellmuth Mayer

Voraussetzung einer Urteilsvollstreckung gewesen wäre. Das Prinzip der Sippensolidarität ist eben ohne mechanische Konsequenz nicht durchzuführen. Immerhin wäre denkbar, daß die Sippe sich mit dem Kompromiß einer Klage auf Friedloslegung gegen den Friedbrecher abgefunden hätte, wie es ja eine subsidiäre Friedlosigkeit als Vollstreckungsmittel zweifellos gegeben haben muß. Die Friedlosigkeit kann unmöglich als mittelbare Todesstrafe gegolten haben, denn gerade nach allen späteren Quellen muß dem Friedlosen eine hinreichende Abzugsfrist gelassen werden. Aber auch in dieser Richtung wissen wir für die archaische Frühzeit wenig, selbst die späteren Quellen lassen viele Zweifelsfragen offen. Die Lehre, in qualifizierten Fällen (bei unbüßbaren Taten oder Neidingswerk) seien Klagen auf Hinrichtung oder Friedloslegung des einzelnen Friedbrechers möglich gewesen, scheitert für den Bereich der nordischen Quellen daran, daß unbüßbar doch nur bedeutet, daß die Klagpartei die Buße nicht annehmen muß. Neidingswerk ist aber eine so allgemein moralisierende Bezeichnung, daß eine forensische Anwendung dieses Begriffes kaum vorstellbar ist. Denkt man an Tötung, so könnte Mord durch Schadenzauber natürlich Sakraldelikt gewesen sein, sonstige heimliche Tötung, d. h. Tötung ohne Verklarung, dürfte ohnedies zur Ergreifung des Täters geführt haben und damit zum Verfahren auf handhafte Tat.

III. Die bandbafte Tat wird ganz anders und mit einer für unser modernes Bewußtsein befremdenden Härte behandelt. Der Täter ist als einzelner in die Hand der Gegenpartei gefallen. Seine Sippe kann ihn nicht unmittelbar schützen, trägt für ihn auch keine Verantwortung, da er sich aus ihrem Schutzbereich entfernt hat. Alle handhaften Täter können in einem tumultuarischen Verfahren abgeurteilt oder besser abgetan werden. Auf den besonderen Unwert der Tat kommt es dabei an sich nicht an. Der wichtigste Fall ist allerdings aus praktischen Gründen der handhafte Diebstahl. Auch im Mittelalter lebte diese Härte fort im Recht den für nocturnus zu töten. Man muß sich die Situation klarmachen. Der Hausvater und die durch „Gerüfte" herbeigerufenen Dorfgenossen wissen zunächst noch gar nicht, ob der Eindringling überhaupt ein freier Volksgenosse ist. Erkennt man ihn als solchen, ist es ratsam, ihn am Leben zu lassen und auf (der Gerichtsgemeinde seinen Gesippen zur Halslösung anzubieten. Konnte diese Möglichkeit nicht genutzt werden, so durfte der Kläger die Hinrichtung verlangen.

Zur historischen Kriminologie

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Auch heute wird ein Bauer seinem Nachbarn kaum ein Stück Vieh aus dem Stall ziehen. Die vielbezeugte ganz allgemeine Ehrlichkeit in armen Gebirgsdörfern hat der Verfasser noch in Ostafrika erlebt. Er konnte wirklich seinen Koffer stundenlang auf der Straße stehenlassen und die Hospitalärzte verschlossen ihre Bungalows nicht. Aber es gibt eine besondere Notlage, die zum Viehdiebstahl nötigt. Haben die einfachen Feldbauern ein volles Weiderecht durchgesetzt, so verkümmert überall auf der Welt, nicht nur bei den Germanen, das Rind. Dennoch werden die wichtigen Zahlungen weiterhin in Vieh berechnet. An Vieh muß es aber infolge der dauernden Überweidung der Flur nicht selten fehlen. Was soll dann der Angehörige einer verarmten Sippe anderes tun, als aus fremdem Dorf die Kuh für den Brautkauf sich „besorgen". Das ist zwar lebensgefährlich, kann von der Sippe auch nicht offen gutgeheißen werden, aber ist keine Neidingstat. Natürlich führt überall der Mißerfolg des Schwachen und Erfolglosen auch zu seiner sozialen Abwertung. Dies hat nach dem glaubhaften Bericht Walter Scott's schottische Clan-Genossen nicht gehindert, bis in das 18. Jahrhundert hinein Blutrache für gehängte Diebe zu nehmen.

IV. Uber sippeninternes Sanktionsrecht wissen wir aus Tacitus eigentlich nur v o m Recht, die ungetreue Ehefrau zu töten. Spätere Quellen lassen vermuten, daß ein solches Tötungsrecht auch gegen unkeusche Mädchen bestand. Die Tötung der ungetreuen Ehefrau bedurfte besonderer rechtlicher Anerkennung, weil sie gewöhnlich die Rechte ihrer Sippe und auch die Sippe des Galans berührte. Uber die Behandlung von Kapitalverbrechen innerhalb der Sippe wissen wir nichts. Es ist z w a r denkbar, aber nicht belegt, daß V a t e r - oder Brudermord gelegentlich als Sakralverbrechen oder Verrat galt. Alle indogermanischen Völker haben sich aber bei der Aufzeichnung ihrer Rechtsgewohnheiten darüber verwundert, daß sie keine Rechtsgewohnheit für Bestrafung des Vatermordes vorfanden. Es ist also anzunehmen, daß die Germanen, wie viele andere Völker, den sippeninternen Kapitalverbrechen hilflos gegenüberstanden, wenn sie trotz naturhafter Sippentreue doch einmal vorfielen. Als die Merowingersippe im individuellen K a m p f um die Macht zerfiel, waren denn auch die Folgen dieses Mangels an rechtlichen Sicherungen schrecklich genug. In den sippeninternen Bereich gehört auch die Disziplinierung der Unfreien und Hintersassen. Hätten die Germanen willkürlich verfahren, so hätte sich im Mittelalter aus dem ursprünglichen Herrenrecht ein Jus gladii entwickeln müssen. Bekanntlich kam dies verhängnisvolle Recht aber nur fern im Osten im Mischungsbereich mit slavischem Recht vor.

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Manche überlieferte Diebstahlstaxen legen die Frage nahe, ob denn überhaupt ein freier Bauer als Täter solcher Taten gedacht werden könne.

V. Kriminologische

Gesamtwürdigung

1. Die soziale Steuerung geschieht bei allen einfachen Völkern vor allem durch Sitte und Brauch. Die ethnologische Erfahrung hat immer wieder gezeigt, daß solche Gesellschaften mit einem Minimum an institutionellem Zwang auskommen können. Verstöße gegen die Stammessitte erfordern eben einen größeren Grad an individuellem Handlungsvermögen, als die meisten aufbringen. 2. Sitte und Brauch verlangen vom freien Krieger in erster Linie, daß er die Sache seines Hauses, seiner Sippe, tatkräftig führt und seine eigene Ehre unbedingt wahrt. Wenn er dabei fehlgreift und unbesonnen die eigene Sippe hereinzieht, so ist dies minder tadelnswert, als feigherzige Schwäche und Untätigkeit. Neiding ist der Feigling. 3. Dennoch genügte der erreichte Friedenszustand innerhalb der civitas durchaus den sozialen Bedürfnissen, solange das Leben der Sippe gesund war. Die furchtbare Unsicherheit, vor welcher die Spruchdichtung der Edda warnt, hat ihre besonderen historischen Gründe. Die Sippenhaftung bei Friedbrüchen hatte damals eine bessere generalpräventive Wirkung, als heute die Furcht vor individueller Bestrafung. Einem jungen Menschen macht es immer Spaß, einmal der Autorität zu trotzen, aber es macht ihm heute und damals keinen Spaß, seine Gesippen ins Verderben zu ziehen. Es stimmt auch nicht so ganz, wenn man meint, die Germanen seien mit dem Leben der Nebenmenschen leichtfertig umgegangen. Innerhalb civitas und Sippe war gewöhnlich Friede. Das bellum extra fines entspricht der Naturanlage der Menschheit. Der menschliche Sozialinstinkt bezieht sich nämlich zunächst nur auf die Angehörigen der Gruppe, Sippe, des Kleinstammes, auf die im natürlichen Sinn „Nächsten". Außerdem schätzten die Germanen den kämpferischen Einsatz des Lebens als dessen höchste Bewährung. Der Tod der Kämpfer beider Seiten ging dabei in Kauf. Das supplicium, die Hinrichtung des Wehrlosen, hielten sie für scheußlich. Bei den großen Opfergelagen und ähnlichen Gelegenheiten ist sicherlich viel gerauft worden. Die lex Bajuvariorum belegt eine erstaunliche Kenntnis von den verschiedenen Möglichkeiten körperlicher Verletzung.

Zur historischen Kriminologie

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Die Ehrlichkeit, namentlich unter der freien Bevölkerung, scheint zuverlässig gewesen zu sein, im sexuellen Verhalten galt Sittenstrenge. Die Ehre des anderen wurde ernst genommen. 4. Germanische Vorstellungswelt. Was die Germanen über ihr eigenes Sanktionsrecht gedacht, wie sie es theoretisch begründet, wie sie praktisch psychologisch motiviert waren — drei sehr verschiedene Fragen — wird sich schwerlich ermitteln lassen. Religiöse Vorstellungen sind wandelbarer als überlieferte Stammessitten, die instinktiven Verhaltensweisen ähneln. Sind sie praktisch erfolgreich, so bedürfen sie keiner rationalen oder religiös sakralen Begründung. Die Germanen litten offenbar weniger an Zauber- und Tabuängsten als andere Völker. Zauber war eine Technik gleich der verhältnismäßig allgemein bekannten Technik des Giftes. Der Zaubervater Odin konnte natürlich besonders zuverlässig zaubern, aber er war zu seiner Zeit kein Dämon. Die großen Naturmächte wurden zu Ordalen benutzt, auch dies ist eine gewissermaßen empirische Technik. Ganz ohne Deutung des Lebens kommt natürlich kein Mensch aus. Aber die Germanen brauchten davon nicht mehr als der legendäre schweizer Schulze, der meinte, jedes geordnete Dorf müsse einen Pfarrer und eine Feuerspritze haben, solle aber von beiden möglichst wenig Gebrauch machen. Die isländischen Sagas imponieren durch ihre grandiose Nüchternheit. Andererseits war der Tod immer gegenwärtig, so daß tiefes religiöses Bedürfnis bestand. Den Leerraum füllte die christliche Mission aus.

B. Das Mittelalter legt die Fundamente der neuen Staats- und Strafrechtsordnung. Die Bausteine entnimmt es teils der germanischen Stammeskultur, teils der christianisierten Spätantike.

/. Die allgemeine rechtliche und soziale Entwicklung des europäischen Westens geht von der Gründung des fränkischen Reiches aus, das sich mit der westlichen Kirche verbindet. 1. Dem neuen werdenden Staat gelingt überall eine Befriedung.

weiträumige

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Allen Einzelpersonen wird, als Untertanen oder Rechtsgenossen, eine allgemeine Friedenspflicht auferlegt, die sich allmählich durchsetzt. Die weiträumigen Flächenstaaten schließen die früheren Freiräume zwischen den kleinen civitates, die Grenzwälder und Grenzheiden ein. Eigenmächtige Siedler, Ächter, fahrendes Volk, die sich dort unkontrolliert aufhalten konnten, müssen sich irgendwie der allgemeinen Friedens- und Lebensordnung einfügen oder werden als schädliche Leute verfolgt. Die privaten Grenzkriege der germanischen Zeit hören auf. Schwerer läßt sich die freie See zähmen. Erst spät sinken die privaten Seekriegs-Wikingfahrten zum bloßen Seeraub herab, den auszurotten noch lange die technischen Mittel fehlen. Noch findet der Trieb zu kämpferischen Abenteuern reichliche Gelegenheit, sich in kriegerischen Auseinandersetzungen lokaler Gewalten, in Kämpfen um die Reichsbildung erlaubterweise zu betätigen. Die Verletzung der Friedenspflicht wandelt sich aber doch ganz allgemein in kriminelle Auflehnung gegen die allgemeine Rechtsordnung. 2. Zugleich findet eine Auflösung der Sippenverbände, eine Individualisierung der Gesellschaft, allerdings auf dem Boden einer ständischen Gliederung statt. Dabei wirkt das Vorbild der spätantiken Gesellschaft. Das Sippendorf, die eigentliche Zelle der Stammeskultur, war eine kunstvolle Einheit, welche die verschiedenen Produktionszweige des Feldbaus, der Viehzucht und der Jagd, damit auch sehr verschiedenartige Lebensweisen zur Kooperation verband. Der Dorfführer, welcher diese Einheit leitete, führte grundsätzlich dasselbe Leben wie der gemeinfreie Bauer, nur in gesteigerter Form. Die mittelalterliche Sozial- und Wirtschaftsentwicklung stellte Bauern und Grundherrn gegenüber. Aus der Kooperation entsteht Gegensätzlichkeit in Herrschaft und Beherrschtsein. Daneben entwickeln sich größere Herrschaftsbereiche in den Grundherrschaften der großen Geschlechter, in der Bevogtung sitzengebliebener Romanen oder unterworfener Liten. Auf der anderen Seite entstehen durch Rodungen und auf eingedeichtem Marschland Einzelhöfe, welche nicht in der Feldgemeinschaft der Sippendörfer verbunden sind. Unter den Bauern lebt überall eine breite Schicht von Knechten, welche noch kein selbständiges Leben führen. Das Leben in der Stadt ist von vornherein in größerem Maße auf individuellen Einsatz abgestellt. Dies gilt besonders für die Fernkaufleute. Handwerk und Kleinhandel werden in Zünften zusammengeschlossen, unterstehen also einer öffentlichen Regelung. Der stän-

Z u r historischen Kriminologie

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dische Gegensatz zwischen den kaufmännischen Geschlechtern und den Zunftmeistern, sowie zwischen Zunftmeistern und Gesellen ist groß. Größere soziale Spannungen bedingen ein größeres Maß an Herrschaft. Immer wieder entlädt sich die Spannung in Konflikten. Immerhin verläuft das mittelalterliche Leben in Stadt und Land in altherkömmlichen Gebräuchen. Der Einzelne erhält vom Schicksal eine inhaltlich vorprogrammierte Rolle zugewiesen, ohne daß er seinen eigenen Weg finden müßte. Aber er spielt diese Rolle selber, während er im alten Sippenstaat nur gespielt wurde. So kommt es doch zu zahlreichen individuellen, auch kriminellen Abweichungen. 3. Für den Rechtsfrieden gefährlich ist der wachsende Bevölkerungsdruck. Zunehmender Friede, wachsender Wohlstand begünstigen ein schnelles Wachstum der Bevölkerung, wenngleich Seuchen immer wieder Rückschläge bringen. Durch Rodungen, durch die Entwicklung der Städte, durch die Ostkolonisation konnte nur ein Teil des Wachstums aufgefangen werden. Um den Nachwuchs zu beschränken, kannte man noch keine Geburtenkontrolle, man mußte also die Zahl der Eheschließungen dadurch beschränken, daß man das Recht auf Niederlassung beschränkte. Die Frauenhäuser in den Städten spielten die Rolle der „Pille". Uneheliche Kinder vermehrten meist sehr schnell nur die Zahl der unschuldigen Engel. Dennoch ergab sich ein Überdruck überzähliger Menschen. Die Kirche nahm sie in Klöstern auf, erzeugte durch ihre Almosentätigkeit aber auch große Bettlerheere, wandernde Scholaren und falsche Pilger. II. Die Strafrechtsordnung

entwickelte sich in zwei Etappen.

1. Schon die fränkische Königsgewalt arbeitet auf eine öffentliche Strafrechtspflege hin. Sie schaltet sich mit Königsbahn, Rügepflicht, Grafengewalt in das öffentliche Gerichtsverfahren ein und zwingt den Verletzten selbst zu einer Art öffentlichrechtlicher Klage. Auch die Bewertung der Taten versucht man zu verändern, die schweren Kapitalverbrechen mit Todesstrafe zu belegen, den Diebstahl, ähnlich wie im römischen Recht, nur zu multieren. Doch ist allen diesen Versuchen nur ein sehr beschränkter Erfolg beschieden. 2. Die entscheidende Wendung bringt erst die Landfriedensbewegung, welche seit der Jahrtausendwende unter dem Namen „peinliches" (von poena) Recht ein echtes öffentliches Strafrecht einführt. Es ver-

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Hellmuth Mayer

hängt im Offiziealverfahren f ü r die schwerere Kriminalität ganz allgemein sehr harte Strafen. Die Todesstrafe wird nun massenhaft angewendet, die verschiedenen durch den Opferritus bedingten Vollzugsformen wandeln sich in Strafschärfungen. Alle Kapitalverbrechen, auch schwere Gewalttätigkeit und Raub werden mit Todesstrafe geahndet, die auch für den großen Diebstahl die Regelstrafe bleibt. Für kleinere Kriminalität begnügen sich die örtlichen Obrigkeiten mit Körper- und Haftstrafen, Geldstrafen, kruzfristiger H a f t , Pranger usw. 3. Diese „Geburt der Strafewie man überspitzt gesagt hat, wäre wohl ohne die Vorstellung von einer göttlichen Strafgerechtigkeit nicht möglich gewesen. Kriminalpolitisch war aber das peinliche Recht die einzig mögliche Antwort auf die Kriminalität einer nun weithin individualisierten Gesellschaft und auf das Verhalten einer großen Zahl nicht nur sippenloser, sondern überhaupt nicht eingeordneter Einzelner. Es ist bezeichnend, daß sich namentlich in den Städten die Geltung des peinlichen Rechts gegenüber den ansässigen Bürgern doch nur allmählich durchsetzt. 4. Die gesellschaftlichen Schwierigkeiten zeigten sich am frühesten und schlimmsten in den italienischen Städten. Daher wurde das peinliche Recht zuerst in den Statuten der italienischen Städte ausgebildet, in der italienischen Jurisprudenz wissenschaftlich durchdacht, allmählich in Deutschland rezipiert, endgültig in der Halsgerichtsordnung Karls V. (CCC) 1532.

III. Das kriminelle

Geschehen

1. Die ansässige Bevölkerung sucht nach den Unruhen der Völkerwanderung friedlichen Erwerb. Die bäuerliche Masse nimmt das Waffen- und Fehdeverbot allmählich so geduldig hin, daß im Dreißigjährigen Krieg marodierende Banden das flache Land entsetzlich mißhandeln können, ohne daß sich hinreichende Gegenwehr regt. Jedenfalls sterben die bäuerlichen Totschlagsfehden allmählich aus. Das bäuerliche Anrecht an der Feldgemeinschaft verstärkt sich zum individuellen Eigentum, das sich gegen den Nachbarn abgrenzt. Damit entsteht auch größerer Anreiz zu Eigentumsdelikten. Eine gefährliche soziale Spannung erwächst aus dem Jagdrecht, welches dem Adel bei seiner Ausgliederung aus der Feldgemeinschaft als unentbehrliche Nahrungsquelle verblieb, von den Bauern aber allmählich als unerträglicher Ubergriff in ihr Eigentum empfunden wurde. In der städtischen Bevölkerung herrschte ohnedies das Individualrecht mit jeweils

Zur historischen Kriminologie

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recht verschiedenem Anteil am Wohlstand vor. Außerdem entstanden in Handel und Gewerbe neue Deliktsformen, Betrug, Fälschung, Gewerbedelikte. Der arbeitsame Bauer, der fleißige friedliche Bürger werden verbindliche Verhaltensmuster. Die Kriminalität ist also in ähnlicher Weise deviant behaviour wie heute. Es fehlen uns statistische Angaben, wir wissen auch nicht genug, um ätiologische Fragen über das Zustandekommen der Einzeltat beurteilen zu können. Die Jugend war wohl aber noch viel sicherer durch die Familie geführt als heute. 2. Der Adel behielt mit dem WafFenrecht zugleich das Fehderecht, dessen er bedurfte, um seine Hintersassen zu schützen. Er trug die Last der Kriegsführung z. B. der Römerzüge, mußte auch dem Handel den Königsschutz auf den Fernstraßen leisten. Diese Beanspruchung nötigte ihn auch, die Eigengüter vielfach in Meierhöfe zu verwandeln, und der Erbzins pflegte zu entwerten. Über die Notwendigkeit einer Fehde, über die Kosten des Geleitschutzes (Zölle usw.) ließ sich streiten. So war das Fehderecht des Adels eine ständige Quelle des Mißbrauchs. Das Raubrittertum erlebte zwei Höhepunkte, den ersten in und nach dem Interregnum. Die von den Hohenstaufen für ihre Italienzüge geworbenen Dienstmannen blieben als „abgedankte Soldaten" auf ihren Burgen zurück, wo oft die Mäuse nichts zu nagen fanden. Das erstarkende Landesfürstentum antwortete darauf mit Fehdeverboten. Der zweite Höhepunkt kam, als das Reichsrittertum, welches seine Selbständigkeit bewahren wollte, auf die relative Armut im Vergleich mit den reichen städtischen Kaufleuten reagierte. Die Ritter suchten aus irgendwelchen echten oder Scheingründen Händel mit den Städten, um deren Kaufleute auf den Straßen niederzuwerfen und Lösegeld zu erpressen. Unter den Tätern finden sich tragische Figuren, wie Mangold von Eberstein, verschmitzte Beutelschneider wie Götz von Berlichingen, grausame Sadisten wie Thomas von Absberg. 3. Die Kriminalität der Überzähligen und Heimatlosen (der damals Ausgeflippten) beginnt mit den Taten der frühgermanischen schädlichen Leute, nimmt später viel größeren Umfang an, am schlimmsten wohl in Italien, dessen soziale Ordnung im Kampf zwischen den Universalgewalten zerstört war, aber auch in England haben die Räuber auf den high-ways eine große, vielfach romantisch verklärte Rolle gespielt. In Deutschland boten die großen Wälder immer wieder Räuberbanden Unterschlupf, doch hat die intensive Entwicklung der Landesherrschaft die Dinge niemals so weit treiben lassen, wie in England oder Italien.

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Hellmuth Mayer

Immer wieder kam es zu Massenausbrüchen, an denen die vorgenannten Kategorien, auch falsche Pilger, fahrendes Volk stark beteiligt waren. Die schlimmsten Ausschreitungen, namentlich — aber nicht nur — gegen die jüdische Bevölkerung geschahen in der Massenbewegung der Kreuzzüge. Die späteren Bauernaufstände verliefen im Ganzen glimpflicher. Sie haben eine starke religiös-schwärmerische Motivierung in der Armutsbewegung, der Vorstellung von der Gleichheit und Freiheit aller vor Gott. Wie weit sie ökonomisch motiviert waren, ist umstritten. Wer in dem fränkischen Kernland der Bewegung groß geworden ist, neigt der Meinung derjenigen Lokalforscher zu, welche die sog. Bauernkriege auf die ökonomische H i l f losigkeit der nachgeborenen Bauernsöhne zurückführen, welche in der Ostkolonisation und im städtischen Gewerbe nicht mehr Aufnahme fanden. Luther meinte ja, wirkliche Bauern seien bei der Sache nur gezwungen mitgelaufen, und Luther war sicherlich ein guter und nüchterner Beobachter. 4. Eine Sonderfrage stellen die Hexen- und Ketzerprozesse. Vornehmlich diese schaurigen Vorgänge sind das Tummelfeld psychologischer, auch psychoanalytischer Spekulation. Die Ketzer hat der selbst ungläubige Friedrich II. der germanischen Feuerstrafe für Schadenzauber unterworfen, ein Akt machiavellistischer Fürstenpolitik. Der Hexenwahn des Spätmittelalters und der beginnenden Neuzeit beruht teilweise auf einem äußerlichen Zufall, nämlich dem Zusammentreffen der Vorstellung vom Hexentanzplatz mit der Möglichkeit, im neueingeführten Inquisitionsprozeß Geständnisse mit der Folter zu erpressen. Den Nährboden fand der Wahn in der religiösen Erregung der Zeit. Wird die Frage nach Gott so unüberhörbar gestellt, daß man an ihr nicht mehr vorbeigehen kann, so flüchten sich die meisten Menschen in den Teufelsglauben. Die echte frühmittelalterliche Missionskirche hat noch die Möglichkeit jedes Zaubers überhaupt verneint. Die Hexenprozesse gehörten kaum in die historische Kriminologie und mehr in die Geschichte des Aberglaubens, wenn sie nicht doch auf ein kriminalpolitisches Problem hinwiesen. Der Zauberglaube ist bei Zauberern, Hexen und der Bevölkerung eine Realität. Der Behexte wird gemieden, stirbt vielleicht, weil er den Lebenswillen verliert. Die Kolonialgerichtsbarkeit, heute die Justiz der Entwicklungsländer, befindet sich in der Verlegenheit, entweder durch Verurteilung dem Hexenglauben Vorschub zu leisten, oder dem realen Übel nicht entgegenzutreten. Von der Geschichte des Hexenwahns ausgehend, hat sich das Interesse an der Strafrechtsgeschichte vielfach den Begleiterscheinungen der

Zur historischen Kriminologie

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Strafrechtspflege zugewendet, den Emotionen, Tabuängsten, psychischen Verklemmungen, welche sich an das immer schreckliche Geschehen der Strafverfolgung anhängen, manchmal die vernünftige Rechtsanwendung unheilvoll stören. Aber all das gehört in die Medizingeschichte, insbesondere die Geschichte der psychiatrischen Krankheiten und ihrer Behandlung.

Literatur Eberhard. Schmidt, Einführung in die Geschichte der Deutschen S t r a f reditspflege, 3. Aufl., 1965; Radbruch ¡Gwinner, Geschichte des Verbrechens, 1953; Middendorf, Beiträge zur Historischen Kriminologie, 1972; Hans von Hentig, Studien zur Kriminalgesdiidite, 1962; Thumwald, Die mensdilidie Gesellschaft, Bd. V, 1934, S. 86 ff.; Exner, Kriminologie, 3. Aufl., 1949. Die deutsche Kriminologie ist überwiegend so einseitig gegenwartsbezogen, d a ß sie f ü r die historische Kriminologie wenig bietet. Rechtsgeschichtlich folgt der Verfasser E. Mayer, der seine Ansichten zugleich in kritischer Auseinandersetzung mit der romantischen Schulüberlieferung an entlegener Stelle (Gerichtssaal Bd. 89, S. 353 ff.) zusammengefaßt hat. D o r t weitere Literatur. Den ethnologischen Vergleich konnte Verf. selbst nodi in Ostafrika, also der K o n t a k t z o n e zwischen Hirtenkriegern und Feldbauern, nachvollziehen.

Zur Strukturanalyse des organisierten Verbrechens OSKAR W E N Z K Y

Das organisierte Verbrechen als kriminologisch und kriminalistisch relevante Erscheinung von sich wiederholenden, meist gleichartig aufgebauten, zumindesten als mittelschwer zu bewertenden Straftaten, von Tätern ausgeführt, die sich zu deren Begehung in einem festen Verbund zusammen geschlossen haben, rückte nicht erst in der Gegenwart zu einer die öffentliche Sicherheit nachhaltig bedrohenden Gefahr auf.

I. Historische Aspekte Es scheint, daß es hierfür nur wenig greifbare, als zuverlässig anerkannte Quellen gibt, welche über Verbrecherzusammenschlüsse spezifisches Material aufzuweisen vermögen. Eine Nachzeichnung des historischen Begriffinhalts als Modell vom organisierten Verbrechen auf deutschem Boden bleibt auf (rechts-)geschichtliche Hinweise zunächst hier angewiesen. Als Ausgangspunkt wurde das 17. Jahrhundert gewählt. Die Wirren nach dem Dreißigjährigen Krieg1 schienen hierfür am geeignetesten. Doch wird davon abgesehen, soweit es nicht für eine Situationserläuterung besonders geboten scheint, auf geschichtliche Zusammenhänge näher einzugehen. Dennoch soll eine Kurzfassung der Schilderung über die Höhepunkte der Verbrechensserien jener Zeit als pars pro toto einführen. Am 30. Mai 1631 wurde Magdeburg, das sechs Monate lang der Belagerung der Kaiserlichen getrotzt und das Restitutionsedikt des Kaisers abgelehnt hatte, durch die Söldnerheere des Generals Tilly und des Grafen Pappenheim erstürmt. Unmittelbar folgten eine viertägige Plünderung und ein Blutbad, das während des gesamten Krieges nicht seinesgleichen gehabt hatte. Die Garnison Magdeburgs in einer Stärke von 3000 Mann und 17 000 Einwohnern wurde in grausamer und teils heimtückischer Weise getötet2. Es kam den Söldnerscharen nur darauf an, sich auszutoben und insbesondere wertvolle Beutestücke 1 E r gliedert sich in den Böhmisch-Pfälzischen Krieg, 1618—23, NiederländisdiDänischen Krieg 1623—30, Schwedischen Krieg, 1630—35, Schwedisch-Französischen Krieg, 1636—48. 2 W. Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 22 S. 228 ff. (übertragen aus dem Englisch-Amerikanischen 1959), Lausanne.

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Oskar Wenzky

an sich zu bringen, wobei Arten höchst unmenschlicher Gewalt und Folter zur Anwendung gelangten3. Wiederholten sich auf diese Weise bei fast jedem verantwortlichen Heerführer übernommene Praktiken, Städte und Dörfer plündern und Zivilisten töten zu lassen, wandelten sich Söldner zu Kriminellen, insbesondere außerhalb des für Sold Kriegshandwerk verrichtenden Zwanges. Sie verübten alsdann Mord und Raub, legten Brände zur Raubbegehung oder begingen mittels Drohungen, Schlägen und Folterungen an ihren Opfern Erpressungen und Vergewaltigungen4. Es ist offensichtlich, daß eine derartige reihenweise Verübung von schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einer solchen Komplexität selbst auch nach Abklingen der weniger glaubensmäßig bedingten als vielmehr machtpolitischen5 Kämpfe jener Zeit eine ungewöhnlich starke kriminogene Schubwirkung hinterließ. Sie trieb zu Wiederholungen dieser Art Gewaltverbrechen an, wo immer Gelegenheiten sich einstellten oder aufgespürt werden konnten. Denn aus dieser besonderen Gewalt- und Plünderungskriminalität — von der seinerzeitigen militärischen Führung zunächst aus strategischen, taktischen und kriegspsychologischen Motiven befohlen, hiernach jedoch widerwillig hingenommen, jedoch endlich von der Soldateska erzwungen — entwickelte sich eine Verbrechensausübung durch desertierte, versprengte und entlassene Söldner und deren Anhang. Sie schlössen sich gesinnungs-, lebensweisemäßig und vor allem infolge ihrer Fertig- und sonstigen Fähigkeiten, die begehrt waren, für eine gewisse Dauer unter einem Rädelsführer6 als Verband zusammen. Sie operierten nunmehr gänzlich auf eigene Faust, töteten und raubten planmäßig, um von der Beute und derem Erlös leben zu können. In diesem Zusammenhang wird erstmals das Element des Professionalismus innerhalb eines verbrecherisch wirkenden Zusammenschlusses transparent. Sie sind berufsmäßig Kriminelle geworden und leben vom Verbrechen. Als nächstes trat eine gewisse Internationalisierung derartiger Vereinigungen hinzu. Damals standen in Deutschland nicht zwei, sondern sechs Armeen, eine deutsche, dänische, schwedische, böhmische, spanische und französische, wobei charakteristischerweise gegen Geld für jedes Glaubensbekenntnis Krieg geführt worden ist7. J. H. Robinson, Readings in European History, S. 345, Boston (1906). Durant a. a. O. S. 229, 235. 5 Durant a. a. O. S. 226. 8 Brockbaus Enzyklopädie (1972), Rädelsführer, Verkleinerung von Rad, bezeichnete im 16. Jahrhundert die kreisförmige Aufstellung von Landsknechten, ursprünglich Führer einer Landsknecht- oder Bauernschar (Rädleins), später allgemein das Haupt einer Verschwörung. 7 Durant a. a. O. S. 235. 3

4

Z u r Strukturanalyse des organisierten Verbrechens

615

„Scharen von dieberisch, räuberischen Zigeunern, entlassenen Soldaten und anderem G e s i n d e l . . . " verbreiteten durch ihre Raub- und Plünderungstaten Angst und Schrecken unter der Bevölkerung in den damaligen brandenburgisch-preußischen Territorien, was entsprechendes Archivmaterial aus dem ehemaligen „Preußischen Geheimen Staatsarchiv" ausweist 8 . Danach empfand die Bevölkerung dieses Tun nach unseren Erfahrungen der unmittelbaren Gegenwart als terrori-

stische

Aktivitäten.

Auch in Preußen bestand im 18. Jahrhundert der kriminelle modus operandi9 der bandenweise zusammengeschlossenen Kriminellen im Brandstiften, Rauben und Erpressen unter Anwendung von Torturen an Besitzern von Gehöften oder Stadtwohnungen, wie aus dem Wort-

laut des „geschärften etc. vom 5. April nehmen ist 10 .

Edicts wider die Räubereyen

1723"

und

Diebereyen

von König Friederich Wilhelm I. zu ent-

Diese historischen Verordnungen zur Sicherheitslage in Preußen, die zudem in einer auffällig häufigen Folge herausgegeben worden sind 11 , stellen ein bemerkenswertes Indiz einerseits für die damals eingesetzte kriminelle Energie der „ . . . gantzen Rotten von Räubern, Zigeunern und dergleichen heillosen und boshaften Gesindel. . ." dar, andererseits für den damals herrschenden desolaten Zustand im gesamten öffentlichen Sicherheitswesen. Amtliche Berichte der Landräte sowie der Kriegs- und Domänenkammern12 aus den Jahren 1727 bis 1732 an das Generaldirektorium Kurmark erwähnen hierbei das Auftreten von Räuber banden in einer Kopfstärke von zwanzig und mehr Beteiligten 1 3 . Noch im 18. Jahrhundert wiesen derartige kriminelle Zusammenschlüsse eine gewisse Dauer einrieb tung auf, zumal es auch in Preußen den damaligen Sicherheitskräften keineswegs gelang 14 , diese Räuberbanden zu zerschlagen, geschweige deren (Neu-)Bildung zu verhin8 W. Obenaus, Die Entwicklung der Preußischen Sicherheitspolizei bis zur R e a k tionszeit; S. 13 über die Sicherheitsverordnungen von 1 5 8 9 bis 1 6 2 7 , F u ß n o t e 2 ; W a l t e r de G r u y t e r , Berlin ( 1 9 4 0 ) . 9 O . Wenzky, Zur Untersuchung der Verbrecherperseveranz, über die verbrecherischen Arbeitsweisen v o n damals, S. 7 ff., Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes, 1 9 5 9 / 2 , Wiesbaden.

Obenaus a. a. O . S. 14. Obenaus a. a. O . S. 14, F n . 2 ; es gab 19 derartige V O zur Darstellung dei; gefährdeten Sicherheitslage zwischen 1 6 6 3 bis 1 7 2 7 . 1 2 Ihnen oblagen als mittleren Verwaltungsbehörden die Amtsgeschäfte der P o l i zei; ]. von Gruner, Organisation des Kriminalwesens, J a n u a r 1 8 0 2 (Preuß. Staatsarchiv R e p . 89. 6 0 B), bei Obenaus a. a. O . S. 1 4 7 / 8 . 10 11

13

Obenaus

14

W i e v o r S. 15.

a. a. O . S. 15 zu F n . 1.

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Oskar Wenzky

dem, obwohl die damaligen Staatsführungen ihr polizeiliches Eingreifen in der Regel unter polizeistaatliche Maxime zu stellen pflegten. Erst eine in Preußen im Jahre 1810 eingerichtete Sammlung von Belegen der kriminalpolizeilichen Praxis über verübte Straftaten und gesuchte Verbrecher15 schuf stufenweise in etwa zuverlässige Unterlagen für eine (un-)mittelbare Erkennung von Zusammenhängen zwischen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ausgeführten schweren Strataten. Sie gründete sich zunächst auf ziemlich einfach gestaltete Klassierungen der Straftaten und der genau beschriebenen Räuber, Diebe und Diebeshehler zu Ermittlungs- und Fahndungszwecken. Auf diesem kriminalistisch-kombinatorischen Wege gelangte die Polizei schrittweise zu Erkenntnissen auch über organisatorische Verbindungen zwischen einzelnen und gruppenweise spezialistisch vorgehenden Straftätern. Derartige Informationen — entsprechend dem von der elektronischen Datenverarbeitung beeinflußten heutigen Sprachgebrauch — vermittelten sie über die lokalen und umherreisenden verschiedenen „gewaltsamen Diebe", Diebe mit sonstiger „Arbeitsmanier"16 und über deren persönliche Verbindungen untereinander sowie in Fällen gemeinsamer Arbeitsweise über deren „Rollenverteilung". Hierzu rechnete auch die umfängliche Kategorie der „professionirten Gauner". Unter diesen Dachbegriff fielen nach den Erfahrungen der damaligen Kriminalpra.m 17 , weniger nach den kriminalwissenschaftlichen Ausführungen von F. Ch. B. Ave-Lallemant über die Entstehung des deutschen Gaunertums18, die berufsmäßig ausgeübten Betätigungen als Dieb, Hehler und/oder Betrüger. Bedeutsam war jedoch die damalige Gefährlichkeit der „professionirten Gauner", weil sie sich besonders „banden- oder familienweiser"19 Begehungsformen

15

Obenaus

a. a. O. S. 23 Fn. 1 (zu Polizeiassessor Carl Falkenbergs

kriminali-

stischem Nachrichtensystem), Versuch einer Darstellung der verschiedenen Classen von Räubern, Dieben und Diebeshehlern, Berlin (1816 und 1820). 18 W. Stieber (Criminal-Polizei-Director b. Polizei-Präsidium zu Berlin), Practisches Lehrbuch der Criminal-Polizei S. 9 8 — 1 2 6 , Berlin (1860), Verlag A. W. Hayn. 17 Stieber a . a . O . 169 f., 175, 180—182, wobei gegen Ende seiner Darstellung der Begriff „professionirte Gauner" anstelle „berufsmäßigen Verbrechertums" gesetzt ist. 1 8 Neue Ausgabe von M. Bauer bei G. Müller, 1914, Teil 1, S. 14; unter Gauner ist der Dieb und Betrüger zu verstehen, der beides gewerbsmäßig und nach bestimmter Arbeitsweise vollbringt. Der Verfasser behandelt dann aber auch die bandenmäßig begangenen Verbrechen von Räubern und Mördern, was der Begriffserklärung entgegensteht. 19 Stieber a. a. O. S. 170, 173 mit Literaturangaben zu einschlägigen Werken von 1820 und 1840.

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bedienten und dadurch als spezialistisch zusammengeschlossene Verbindungen auftraten 2 0 . D e r Höhepunkt des kriminellen Geschehens im Jahre 1 8 1 0 2 1 wurde durch Zusammenschlüsse von Straftätergruppen gekennzeichnet, die unter anderem öffentliche Kassen beraubten oder als schwerbewaffnete Zigeunerbanden besonders fachgebietlich in Erscheinung traten und landesweit operierten. Wenn auch im 19. Jahrhundert „wirtschaftskriminelle Zusammenschlüsse" nach gegenwärtiger Anschauung in noch sehr simplen Formen zustande kamen, verwundert es dennoch, daß dem kriminellen Prinzip nach kaum anders als in der Gegenwart einschlägig gearbeitet worden ist. An erster Stelle standen hierbei der Waren- und der Geldkreditbetrug, wobei es galt, Waren oder Geldbeträge von bedeutendem Umfange zu erschwindeln, auch zunehmenderweise in den Formen des betrügerischen „Bankerutts", und unerkannt sich den polizeilichen Nachforschungen zu entziehen 2 2 . Als sichere Zufluchtsorte galten schon zu damaliger Zeit Aufenthalte in nordamerikanischen Staaten 2 3 , zumal für Einwanderer die bisherige nationale Identität unerheblich, vielmehr ein falsches Legitimationspapier unschwer beschaffbar war und die strafrechtliche Verfolgbarkeit in derartigen Fällen kaum mehr realisierbar schien. Die „hehlerischen Verbindungen" trugen häufig Züge eines organisatorischen Aufbaus auf kaufmännischer Basis. Der „Schärfenspieler" hatte seine Helfershelfer und Spediteure häufig zwanzig bis dreißig Meilen (vom T a t o r t ) entfernt. Gestohlene Gegenstände, „welche heute in Berlin entwendet sind wurden am dritten Tage schon . . . auf einem D o r f - J a h r m a r k t in Thüringen umgesetzt" 2 4 . An die „Hintermänner" der Verwertung gestohlener Gegenstände gelangte man kaum; „namentlich seit Bestehen der Eisenbahnen (war) die Herbeischaffung des gestohlenen Gutes in der Regel eine Unmöglichkeit, (falls) auch einmal die Ermittelung des Diebes gelang" 2 5 . Ein indizierendes Merkmal für das Wirken und die Neubildungen von Verbrecherzusammenschlüssen waren deren lokale Treffpunkte, solche „Gastlocale . . . (waren ihre) Versammlungsstätten"26. Stieber a. a. O. S. 177. Obenaus a. a. O. S. 18. 22 Stieber a. a. O. S. 159—60. 2 3 Wie vor S. 180. 24 Stieber a. a. O. S. 128 f.; Sdiärfenspieler = Hehler. 2 5 Wie vor S. 129, 131, 132; über den Vertrieb gestohlener edler Metalle; zur Verwertung entwendeter Staatsanleihen im Ausland und sonstiger entwendeter Wertobjekte mit Hilfe (auch) der Flußschiffen 2» Stieber a . a . O . S. 177 f. 20 21

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Eine zunächst elementar vorgenommene Auswertung solcher kriminalhistorischen Quellen hat einen kaum erwarteten U m f a n g an Stoff zusammengetragen, der bereits brauchbare Aufschlüsse über eine Charakteristik vormaliger Verbrecherzusammenschlüsse gibt, insbesondere über ihr Zustandekommen, Erscheinungsformen, Spezifitäten, Stärke und Bewaffnung, Mobilität und Trends hinsichtlich derer kriminellen Aktivitäten, auch über deren Anpassungsfähigkeiten an bürgerliche Lebensformen — teilweise recht unterschiedlicher Art, über Organisationsvermögen und Ausweichtaktik bei polizeilicher Verfolgung. Eine verstärkt betriebene Ausforschung entsprechender Quellen würde weit über diesen nur skizzierten Rahmen hinaus noch andere, unbekannte Zusammenhänge dieser Art offenkundig werden lassen. Danach scheinen die wesentlichen Kennzeichen und Merkmale für das Bestehen eines äußerlich wie nach dem genossenschaftlichen Sinn gegliederten Zusammenschlusses von Verbrechern aus der Zeit des 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein: — eine Einmann-Anführerschaft mit teils unumschränkter Befehlsausübung 2 7 , — ein Zusammenschluß zur Begehung von Verbrechen, — ein Unterordnungsverhältnis unter den Anführer (Rädelsführer) 2 8 sowie unter etwaige (nachgeordnete) „Rottenführer", befestigt durch ein häufig auch willkürlich gehandhabtes Verfahren, Leibes- und sonstige Strafen gegenüber den Tatgenossen zu verhängen, was vom Söldner-Reglement übernommen oder zwecks Verstärkung der kriminellen Stoßkraft angewendet wurde 2 9 ; — eine Professionalität des verbrecherischen Handelns 3 0 , — eine von Risiko, Zufall oder sonstigen Umständen bestimmte Dauerhaftigkeit solcher Zusammenschlüsse,

2 7 Actenmäßige Geschichte der Räuberbanden an beyden Ufern des Rheins. Erster Theil, die Geschichte der Moselbande und der Bande des Schinderhannes, verfaßt von G. Becker, Sicherheitsbeamter des Bezirks Simmern. Zweiter Theil (II), enthaltend die Geschichte der Brabantischen, Holländischen, Mersener, Crevelder, Neußer, Neuwieder und Westphälischen Räuberbande; aus Criminal-Protocollen und Geheimen Notizen des A. Keil, ehemaliger öffentlicher Ankläger im NaheDepartement, Köln 1804 (Neudruck 1972, Leipzig), S. 49, 73—75; II 31, 146. 2 8 Wie vor S. 102, 121, 129; II 146, 266 f. 29 Wie vor S. 29, 30; II 8. 3 0 Wie vor S. 12, 50 f., 144 f.; II 91, 402, 442.

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ein taktisches und organisatorisches Geschick, planmäßiges Auskundschaften von Gelegenheiten zur Verübung von Straftaten erfolgreich in die Wege zu leiten 3 1 ,



eine fall- oder nur abschnittsweise Beauftragung oder Einbeziehung besonderer fachlicher Hilfskräfte zur Unterstützung krimineller Unternehmen, beispielsweise zur Öffnung schwierig zu bewältigender Schloßmechanismen 32 , Herstellen von Legitimationspapier-Fälschungen 3 3 , das planmäßige Absetzen der entwendeten Gegenstände 3 4 , falls nicht mit einer berufsmäßigen Hehlerbande zusammengearbeitet wurde;



eine Konzeption der Tatausführungen (beispielsweise bei vornehmlich Raub-, Brandstiftungs- 3 5 und Mordtaten), die sich meistens nach zeitgenössischen militärischen Regeln vollzogen 3 6 ,



eine Verabredung über das gemeinsame Vorgehen mit den üblichen arbeitsteiligen Tatbeiträgen nach individuellem K r ä f t e vermögen 3 7 ,



häufig verabredetes eingeplantes, zeitliches Untertauchen nach verübtem Verbrechen 3 8 und



eine von Fall zu Fall eingetretene Tötung von unbeteiligten Personen als potentiellen T a t - oder/und Wiedererkennungszeugen 39 .

Die kriminelle Dynamik, die jenen verbrecherischen Zusammenschlüssen im allgemeinen innewohnte, vermochte auch deshalb sich zu behaupten, weil vor allem im 17. und 18. Jahrhundert es an gemeinsamen Initiativen von Justiz und Polizei für eine kraftvolle und gezielte Bekämpfung so schwerer krimineller Erscheinungen mangelte. Falls jedoch initiative Maßnahmen zur nachhaltigen Verbrechensabwehr ergriffen worden wären, wäre ihre Wirkung an der permanenten Unzulänglichkeit der Polizeiorganisation, der personellen Qualität der Polizeikräfte und an ihrer viel zu geringen Anzahl („für Wie vor S. 50 f., 52—73, 96, 99; II 15 f., 198, 242. Stieber a. a. O. S. 100 ff., 175. 33 Stieber a. a. O. S. 153 (Paßfabriken), 154, 156. 34 Stieber a. a. O. 128 f. 35 Obenaus a . a . O . S. 18; die Mordbrennerbande }. Ch. Peter Horst brannte mehr als 45 Städte und Dörfer nieder, nach einer Eingabe des Landrats und der Stände des Kreises Oberbarnim v. 29. August 1810 an König Friedrich Wilhelm II. 3 6 Geschichte der Räuberbanden (Neudrudi 1804/1972) a . a . O . S. 27, 81, 179 f., 443. 3 7 Wie vor II S. 18, 22—25, 146, 190, 203. 3 8 Wie vor II S. 9, 15, 188, 194 f. 3 9 Wie vor S. 19 ff.; II 11, 186. 31 32

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jeden Kreis waren höchstens zwei Polizisten vorhanden") 40 gescheitert. Es verblieb allenfalls bei der „regionalen Vertreibung" der „professionirten Banden" 4 1 . Zu deren nachhaltiger Zerschlagung kam es nicht. Eine Zerlegung der organisierten kriminellen Verbindungen in ihre wesenseigenen Bestandteile vermag bereits noch keineswegs abgerundete, jedoch immerhin beachtenswerte Erkenntnisse über die (historische) Struktur der Verbrechergenossenschaften zu vermitteln.

II. Verbrecherzusammenschluß und Schutz In der vorangestellten strukturanalytischen Betrachtung war der Ausdruck „Bande" bis auf anzuführende (rechts-)geschichtliche Belegstellen vermieden worden. „Bande" wurde von der deutschsprachigen Bevölkerung des 17. und 18. Jahrhunderts als eine angeführte Verbrechergruppe begriffen, die Straftatenserien von unterschiedlicher Art und Zielsetzung offen oder heimlich verübte, wobei die Bevölkerung wegen deren organisierten und vielfach aggressiven Einsatzes von der Obrigkeit erhöhte Schutzmaßnahmen erwartete. Nach 250 Jahren intensiver Verbrechensentwicklung auf deutschem Boden schien eine derartige Erwartung keineswegs ungerechtfertigt. Anfang des 19. Jahrhunderts waren zwar „professionirte Mörderbanden" 42 zunehmend seltener geworden, jedoch wurden außerhalb solcher schwerverbrecherischen Verbindungen in der sich verändernden Umwelt berufskriminelle Zusammenschlüsse zunehmend häufiger wahrgenommen. Es lag daher nahe, die über zwei Jahrhunderte gemachten, historisch erweisbaren und zugleich bitteren Erfahrungen mit dem immer wieder aufgelebten, bewaffnet und bandenweise aufgetretenen Berufsverbrechertum in den Vorschriften des neuen Reichsstrafrechts angemessen zu berücksichtigen. Das mit dem 1. Januar 1871 in Kraft getretene Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes wurde durch das Reichsgesetz vom 16. April 1871 nunmehr reichsrechtliches Strafrecht. Fünf Jahre später erschien es neu im revidierten Strafgesetzbuch. 40 Obenaus a . a . O . S. 19; aus einem Bericht des Polizeidepartements der kurmärkischen Regierung an den damaligen Innenminister Grafen zu Dohna (17. Juni 1810). Im übrigen waren es noch dazu größtenteils alte und „in aller Hinsicht untaugliche" Leute. 41 Obenaus a. a. O. S. 24—25. 42 Stieber a. a. O. S. 88.

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Dennoch kannte dieses nationale Strafrecht nicht den Tatbestand der strafbaren Vereinigung mehrerer zur fortgesetzten Begehung von Straftaten, ohne die Mitwirkung an einem Raub oder Diebstahl. Somit war die bloße Vereinigung zum Zwecke der Mitwirkung bei Straftaten ebensowenig wie beispielsweise bei einem Komplott strafbar. Festzustellen ist hierzu, daß in jener Zeit bereits das zwingende Erfordernis einer (noch verstärkten) Bekämpfung des „organisierten Verbrechertums" von zeitgenössischen, gegenüber der Kriminalpraxis aufgeschlossenen Kommentatoren des neuen Reichsstrafrechts vertreten worden ist. Bedeutsam ist es ex post, auf welche Weise das Tatbestandsmerkmal „Vereinigung" in § 243 Ziffer 6 StGB kaum wenige Jahre nach der (ersten) Novellierung (rechtshistorisch) auszulegen versucht worden ist. Wenn auch am Ende der Erfolg versagt blieb. Aber: darauf kommt es in einer Rückschau hier nicht an. Die damaligen Tatbestände des § 243 Ziff. 6 (Bandendiebstahl) und des § 250 Ziff. 2 StGB (Banderiraub) gingen von zwei Voraussetzungen aus: der Vereinigung und der Mitwirkung mehrerer, die zur fortgesetzten Begehung von Diebstahl oder Raub sich verbunden haben. Ortloff43 führte hierzu aus, daß eine derartige Vereinigung von mehreren zur Mitwirkung [als Mitthäter oder Gehülfen] am Diebstahl als „Bande" zu bezeichnen sei, welche sich besonders „als organisierte Verbrechergemeinschaft mit einem bestimmten Verbrechen umfassenden Generalentschluß und gewerbsmäßiger Begehung jener Verbrechen" darstelle. Hieraus läßt sich ableiten, daß die justizielle (teils) und die polizeiliche Kriminalpraxis jener Zeit in der „Bande" einen besonders aufgebauten, in sich aufgabengeteilten Zusammenschluß von berufs-/ gewerbsmäßig sich betätigenden Verbrechern sahen 44 . Solcher geschichtlich begriffenen Ausweitung des Merkmals der tatbestandsmäßigen „Vereinigung" als „Bande" setzten die entsprechenden Ausführungen im Urteil des III. Strafsenats des Reichsgerichts vom 13. Dezember 1883 im Blick auf die künftige Rechtsprechung ein Ende 45 . Es sei richtig, ist ausgeführt, daß rechtsgeschichtlich... der Begriff der „Bande" von Erscheinungen ausgegangen sei, in welchen verbrecherische Verbindungen mit fester genossenschaftlicher Organisa43 H. Ortloff (Landgerichtsrat in Weimar), Lehrbuch der Kriminalpolizei auf Grund der Deutschen Reichsgesetze, S. 37, 54, 55, Leipzig (1881). 44 H. Lindenaus V o r w o r t S. X V I I I in A. Niceforoj Lindenau, D i e Kriminalpolizei und ihre Hilfswissenschaften Berlin (o. J., vermutlich 1908). 45 R G S t . 9, 296 f.

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tion und gewerbsmäßigem Verbrechensbetrieb ohne Einschränkung auf Zeit oder gewisse Örtlichkeiten erkennbar waren. Ebenso gewiß sei aber, daß die neuere Strafgesetzgebung sich von dieser historischen Erscheinungsform der Bande gelöst habe . . . Das Gesetz sehe schlechthin davon ab — so die Urteilsausführungen —, ob die innere Organisation der Verbrechensverbindung eine losere oder festere sei, ob sie mehr oder weniger Gewähr dauernden Bestandes biete. Somit war der Begriff „Bande" im Sinne einer etwa aufgabengegliederten, festgefügten Verbrechergemeinschaft mit organisatorischen Bezügen strafrechtlich unvertretbar geworden. Zu Anfang dieses Jahrhunderts spürten die Sicherheitsbehörden Deutschlands an der unmittelbaren Front der Bekämpfung des Verbrechertums Anwachsen und Ausbreitung der hauptsächlich berufsverbrecherisch ausgerichteten eigenständigen Zusammenschlüsse. Besonders die in Berlin beim Polizeipräsidium gewonnenen spezifischen Erfahrungen über bandenmäßiges Spezialistentum nahm Lindenaui6 zum Anlaß kritischer Äußerungen, wonach das Zusammenwirken mehrerer zur fortgesetzten Begehung von Straftaten verbundenen Personen ein wichtiges Mittel jeder verbrecherischen Technik geworden war, nicht allein in der viel zu engen Begrenzung des geltenden Strafrechts auf Diebstahl und Raub. Angeführt wurde die meist „streng eingehaltene Arbeitsteilung" im kriminellen Vorgehen und die „Heranbildung des Verbrechernachwuchses... in Schulen"47, was durch die Vereinigung organisiert wurde. Im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts leitete sich beim berufsmäßigen Verbrechertum ein Umbau von zukünftig noch mehr ausgeprägter Art nach kaufmännisch-wirtschaftlichen sowie betriebstechnischen Gesichtspunkten ein. Zusätzlich48 zu zuweilen militärisch-taktischem Vorgehen und teils solider handwerklicher Arbeitsweise formte sich das organisierte Verbrechen „durch rein geschäftsmäßige, zweckentsprechend zusammengesetzte Assoziationen". Beispielsweise schon damals achteten internationale, durchorganisierte Banknotenfälscherbanden49 darauf, daß in ihrer FälschungsNiceforo/Lindenau a. a. O. Vorwort S. X V I I . Audi R. Heindl, Der Berufsverbrecher, S. 328 zur geometrischen Progression dieser Verbrechensart, Berlin (1927). 48 Lindenau irrte in der Annahme, daß die neue, merkantil ausgerichtete kriminelle Organisationsform nun anstelle der historisch bedingten verbrecherischen Zusammenschlüsse trat. 4 9 Notenfälschungen aus politischer Motivation liegt häufig eine ausgezeichnete Organisationstechnik zugrunde. Nach einem Modellfall ließ Napoleon 1812 unter Leitung seines Polizeiministers Fouche in Paris (Montparnasse) eine Fälscherwerk46

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Organisation beide Betriebsabteilungen, „Produktion" (Entwurf und Druck der Falsifikate) und „Vertrieb", räumlich und personell getrennt auch aus Gründen der Eigensicherung blieben, Spezialisten (Chemiker, Fotograf, Lithograph) mitarbeiteten, und der Absatz der Falsifikate durch „Verausgaber-Kolonnen" vorgenommen wurde, wobei die Vertreiber taktisch und psychologisch geschult waren 50 . Spätestens zu diesem Zeitpunkt stellt sich die Frage nach der (damaligen) objektiven Wirksamkeit von Bekämpfungsmaßnahmen insbesondere gegen genossenschaftlich verbundenes Verbrechenspezialistentum. Diese an sich vielschichtige Problematik ist zwar eine kriminalistische, steht aber in Beziehung zu dieser Untersuchung. Der seit den zwanziger Jahren kriminalfachlich gegliederte Aufbau der Sicherheitsbehörden entspricht in seinen Grundelementen den gegenwärtig bestehenden Einrichtungen. Die insbesondere in den deutschen Großstädten errichteten Kriminalabteilungen 51 der (staatlichen) Polizeipräsidien, der Einrichtungen der Landeskriminalpolizei 52 und der vergleichbaren Institutionen in den anderen deutschen Ländern 5 3 waren (und sind) nach kriminologisch-kriminalistischen Erkenntnissen über die zu bearbeitenden Straftaten gegliedert. Darunter heben sich die Straftaten mit spezialistischer Ausführung heraus, die unter anderem einem komplizierten Auswertungsverfahren unterzogen werden können, um andere einschlägig kriminelle Straftatenzusammenhänge lokaler, regionaler, landesmäßiger und (internationaler Art arbeitshypothetisch aufbauen zu können. Auch auf diese Weise gelang es der Praxis, nicht ohne Fehl- und Rückschläge, die nicht minder sachkundigen Spezialbeamten auf den organisierten Verbrechensspezialisten methodisch anzusetzen. In den meisten solcher Fälle beruhten die Erfolge in der präventiven und repressiven Bekämpfung der berufsmäßig assoziierten Verbrechensspezialisten auf einer langwierigen und mosaikartig zusammengesetzten Gemeinschaftsarbeit.

statt betreiben. In ihr wurden zunächst £-Noten, dann österreichische Geld- und später Rubelscheine nachgedruckt; nach Eschenbach, Die Täterpersönlichkeit des Geldfälschers, BKA Abhandlungen ,Falschgeldunwesen', S. 73 f. (1954). 50 Zaucke, Über Falschgeldvertrieb und seine Bekämpfung, Krim. Monatshefte 5. Jg. (1931) S. 155 f. 51 Niceforo/Lindenau a. a. O. zur Organisation der Berliner Kriminalpolizei, Vorwort S. X I X , X X I I I — X X X I . G. Roscher, Großstadtpolizei, zur Organisation der Kriminalpolizei in Hamburg S. 159—173, Hamburg (1912). 52 W. Gay, Die preußische Landeskriminalpolizei, Nachrichtenwesen, S. 40 ff., Berlin (1928). 53 Württemberg und Sachsen hatten bereits vor Preußen Landeskriminalpolizeibehörden.

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Ende der zwanziger Jahre wurde häufiger die Anwendung kriminaltechnischer Erkenntnisse in Einzelfällen für die kriminalistische Spurenuntersuchung bekannt. Erst der Kriminaltechnik54 als neuartigem Fachgebiet blieb es vorbehalten, wissenschaftliche Fortschritte u. a. auf den Gebieten der Chemie, Physik, Biologie und der Botanik systematisch unmittelbar für die Verbrechensaufklärung nutzbar zu machen. Die folgerichtige Berücksichtigung der Fortschritte aus Wissenschaft und Technik vermittelte der Kriminaltechnik der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes Impulse, ihre Unterstützung bereits unmittelbar beim Einsetzen der ersten Erhebungen am Tatort in Fällen von u. a. Sprengstoffverbrechen, (besonders) schweren Brandstiftungen, Geiselnahmen anzubieten. Dadurch ergeben sich nun auch häufig im augenblicklichen Ermittlungsinteresse liegende Hinweise auf mögliche Motive beispielsweise des Sprengstoffverbrechens, auf etwaige Einkreisung der Identität dahinter stehender Täter oder auf deren Verbindungen, nicht zuletzt auf das verwendete, die Nachforschungen weiterführende handwerkliche Instrumentarium als bedeutsamen Sachbeweis. Indem die Kriminaltechnik nun „tatortnah" (in Fällen von ungewöhnlicher Bedeutung) sich auszuwirken anschickt, vermag die Chance der Aufdeckung eines beispielsweise noch unbekannten organisierten Täterkreises nicht unerheblich zeitlich verkürzt zu werden, indem bereits das erste von den Wissenschaftlern und Kriminaltechnikern am Tatort unmittelbar erarbeitete, vorläufige Untersuchungsergebnis gezielte Fahndungsmaßnahmen z. B. nach einem charakteristischen, also potentiell identifizierbaren Sprengkörperspurenelement unverzüglich auslösen kann.

III. Zusammenfassung Die bisherigen Ausführungen lassen sich in folgende Feststellungen zusammenfassen: 1. Ein Vergleich der Strukturen historisch bandenmäßig begangenen Verbrechens und genossenschaftlich organisierten Verbrechens weisen zahlreiche Ubereinstimmungen auf. Mitleidlose und heimtückische Gewaltanwendung findet sich in der historischen 5 4 O. Wenzky, Die Kriminaltechnik und naturwissenschaftliche Kriminalistik, Arbeitstagung „Justiz und Polizei", Courier Verlag, Stuttgart (1961) S. 135 ff. (137/8).

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wie in der neuzeitlichen strukturellen Untersuchung. Für eine kriminalpsychologische Beurteilung bedürfte es längerer Studien und eines hierfür erforderlichen Materials, das unmittelbar gegenwartsbezogen, auf Grund charakteristischer Leitbilder verfügbar ist. Die neuzeitliche Strukturierung ist von der (inter)nationalen Mobilität, begünstigt durch erhebliche finanzielle Möglichkeiten der kriminellen Unternehmungen, nicht nur deren einzelner Mitglieder, geprägt. 2. Zur Kognoszierung kriminalistischer Ansätze für eine planmäßige Bekämpfung bedarf es unter Heranziehung des Erfahrungswissens über konventionelle, spezialistische Verbrechertaktik fundierter Erkenntnisse über im engen genossenschaftlichen Bereich entstehende organisierte kriminelle Unternehmen. Solche Erkenntnisse beziehen sich u. a. auf Wesensgehalt, inneres Gefüge, über deren Ziele und Konzeptionen, insbesondere über deren Kernmannschaft. 3. Hieraus leitet sich die unabweisbare Forderung ab nach der Errichtung eines nationalen Informations- und Auskunftszentrums über organisiertes Verbrechen im Bundeskriminalamt sowie über solche Verbrechensspezialisten und deren (inter)nationale personale Haupt-, Quer- und Fluchthilfe-Verbindungen.

Strafrechtsnorm, Schuld und soziale Wirklichkeit* ARMAND MERGEN

Strafrechtsnorm und Schuld sind Begriffe jurisprudentiellen Argumentierens. Setzt man sie in Beziehung zu dem, was man „soziale Wirklichkeit" nennt, dann erschließt sich eine neue, eine kriminalsoziologische Dimension. Für den praktischen Juristen haben die Normen des Strafgesetzbuches operationalen Charakter. Die tatbestandliche Vertypung von Unrecht in Form einer Verhaltensbeschreibung ermöglicht es, menschliches Verhalten richtend zu behandeln, es „als Fälle von Tatbeständen" zu qualifizieren (Hassemer, W.: 1968, S. 11). Die strafrechtlichen Normen beinhalten einen Ausspruch über Tatbestand und Rechtsfolge; die Identifikation einer Handlung als strafrechtlich relevant erlaubt es, eine Sanktion folgen zu lassen. So ermöglichen die strafrechtlichen Normen es dem Juristen, Sachverhalte zu entscheiden. Das Interesse des Kriminalsoziologen geht in eine andere Richtung. Es richtet sich auf die soziale Relevanz strafrechtlicher Normierungen, d. h. es studiert ihre faktische Auswirkung auf menschliche Verhaltensweisen. Aus diesem Blickwinkel heraus erweist sich eine Gegenüberstellung von Strafgesetzen und sozialen Normen sachdienlich. Unter sozialen Normen werden Regulative gefaßt, die im informellen Bereich, d. h. im freien Feld, ohne Beeinflussung der mit Strafverfolgung befaßten staatlichen Institutionen das Handeln von Menschen bestimmen (cf. Geiger, 1947). Gemeinsam ist beiden Formen von Normen, daß sie in ihrer Grundform Erwartungen darstellen, die Menschen unter bestimmten Umständen von einander hegen (cf. König, 1964). Soziale Normen sind unmittelbar im Reaktionsverhalten eingebettet; Strafrechtsnormen sind formalisiert. Sie stellen sich einerseits als direkte sprachliche Normierungen möglicher Verhaltensweisen dar {König, 1964), andererseits ist ihre Anwendung in Form der juristischen Subsumption sprachlich gefaßt. Der Bruch sozialer Normen zieht nicht eine zumindest in ihren Grundzügen vorher feststehende Reaktion oder Sanktion nach sich. Die negativen Folgen des Bruches einer sozialen Norm äußern sich immer nur in bezug auf einen bestimmten Interaktionspartner oder eine bestimmte Gruppe. Sie wirken sich kaum auf das Verhältnis des * Meinem Doktoranden Reinhard: Müller danke ich für seine Mitarbeit.

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Normbrechers zur Gesamtgesellschaft aus. Anders beim Bruch einer Strafrechtsnorm. Hier sind die Reaktions- und Sanktionsmöglichkeiten grundsätzlich im Gesetz festgelegt, wobei gewußt ist, daß Variationen im Sanktionstyp möglich sind. Im Regelfall besteht die auf die Tat folgende Sanktion in einer Vermögenseinbuße (Geldstrafe) oder einer Beschränkung resp. Entziehung der Freiheit. Darüber hinaus ist der Delinquent nur als solcher bekannt und gilt als „Bestrafter". Er ist, so manche Soziologen, „stigmatisiert", mit einem „label", d. h. einem Etikett, einer Art Kainszeichen versehen. Strafrechtsnormen sind demnach kodifizierte Verhaltensimperative, deren Nichtbefolgung, wenn sie erkannt wird, mit gesetzlich festgelegten Sanktionen belegt wird. Sie stellen kein mehr oder weniger unverbindliches Sollen dar, sondern staatlich postuliertes, allgemeinverbindliches und erzwingbares Müssen. Strafrechtsnormen besitzen von daher eine unmittelbare, über ihre Begrifflichkeit hinausgehende Existenz, welche die sozialen Normen wegen ihrer Verflochtenheit mit dem situativen Handlungszusammenhang nicht haben (so auch Sack, 1968). Und nun zum Begriff der Schuld. Sie stellt in der Strafrechtsdogmatik eine Grundkategorie dar. Unser Strafrecht ist ein Schuldstrafrecht. Die Rolle der Schuld läßt sich auf zwei Grundfunktionen reduzieren. Einmal dient sie zur Begründung der Strafbarkeit, d. h. der Staat kann auf die Verletzung von Straftatbeständen mit Strafe nur dann reagieren, wenn die Tatbegehung auch schuldhaft erfolgte. Zum anderen dient die Schuld auch zur Begrenzung des staatlichen Strafausspruches. Es ist festgelegt, daß Art und Höhe der Strafe durch das Maß der Schuld bestimmt sein sollen. Allgemein wird in der Legitimations- und Begrenzungsfunktion der Schuld ihre rechtsstaatliche Komponente gesehen (Roxin, C., 1970). Mit welchem Instrument die Schuld gemessen werden kann, vermag freilich niemand zu sagen. Verständlich wird die inhaltliche Ausprägung des Schuldbegriffes, wenn man der praktischen Verwendung des Begriffes in der Jurisprudenz den philosophisch-ethischen Hintergrund gegenüberstellt. Ein Schuldvorwurf kann als sittlich-ethisches Unwerturteil über eine Tat nur erhoben werden, wenn zugleich die individuelle Freiheit des Täters zum Anders-Handeln-Können mitgedacht wird. Schuld kann nur im Rahmen einer indeterministischen Weltauffassung als sinnvolle Kategorie gelten. Als Freiheit im positiven Sinne bezeichnet Kant das Prinzip der Autonomie. Dessen inhaltliche Ausprägung reduziert sidi auf den Satz, „daß nicht anders zu wählen (sei) als so, daß die Maximen der Wahl in demselben Wollen als allgemeines Prinzip miteinbegriffen

Strafrechtsnorm, S d i u l d und soziale Wirklichkeit

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(seien)" {Kant, 1785, II). Dieses Prinzip muß ein kategorischer Imperativ sein, „der nichts mehr und nichts weiter gebietet als gerade diese Autonomie" {Kant, 1785). Um dem Vorwurf des Subjektivismus zu entgehen, mußte Kant die Handlungen, die aus der Freiheit entspringen {Kant, 1781), dem intelligiblen Charakter des handelnden Subjekts zuordnen, also transzendentallogisch bestimmen. Kant konnte jedoch nicht angeben, welche Handlungsalternativen dem Subjekt in einer konkreten Situation als Wahlmöglichkeit zur Verfügung stehen (cf. Braun, 1974). Das war auch nicht die ihm vorschwebende Problematik. Wohl aber ist es das Problem des Strafrechts. Denn ein Tadel kann eben nur dann erhoben werden, wenn der Betroffene in der konkreten Situation auch normkonform hätte handeln können. Es hat in der Strafrechtsdogmatik nicht an Versuchen gefehlt, das Schuldprinzip beizubehalten, es aber von der grundlegenden philosophischen Indeterminismusfrage loszulösen. Das hat zu obskuren Spekulationen geführt. Ein solcher Auswuchs ist das Konzept der „Lebensführungsschuld", das dem Täter vorwirft, durch seine bisherige Lebensführung sich zu einem Straftäter entwickelt zu haben. Es wird das Problem der individuellen Freiheit lediglich verschoben, nicht aber gelöst, denn dem Täter muß auch nach der Lehre der Lebensführungsschuld die Möglichkeit zu andersartiger Lebensführung nachgewiesen werden. Wir halten fest: Der Begriff „Schuld" ist unablösbar verbunden mit dem Postulat der individuellen menschlichen Willensfreiheit. Angesichts der Bejahung des Schuldstrafrechts durch die herrschende Strafrechtslehre, wäre zu erwarten gewesen, daß diesem metaphysischen Begriff ein reales Substrat zugewiesen würde. Aussagen wie „es müsse schon so etwas wie Freiheit des Handelns geben", erhärten jedoch den Verdacht, daß mit dem Begriff Schuld eine reine Fiktion angesprochen ist {Ellscheid/Hassemer, 1970). Der Schuldbegriff hat, das zeigt der praktische Umgang mit ihm, keinen realen, sondern einen ideologischen Charakter. Man kann in der Schuld einen systematisch ordnenden Begriff sehen, kaum aber einen funktionalen {Ellscheid/Hassemer,

1970, S. 36).

N u n wird aber das Schuldprinzip in der herrschenden Dogmatik immer wieder durchbrochen. Paradigmatisch sei die Zweispurigkeit der Sanktionsmöglichkeiten angeführt. Auf ein Delikt kann Strafe oder Maßnahme oder beides als staatliche Sanktion folgen. In einem auf der Schuld basierenden Strafrechtssystem dürfte es logischerweise keine Maßnahmen — weder der Sicherung noch der Besserung — geben, da diese sich von der rechtsstaatlichen Legitimierung her an der Gefährlichkeit oder Hilfebedürftigkeit des Täters, nicht aber an

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einer wie immer gedachten Schuld zu orientieren haben. Einzig adäquate Reaktion eines die Autonomie des Individuums postulierenden Straf rechtes ist die Vergeltung. Daran ist nicht vorbeizukommen; dies ist die einzig mögliche Konsequenz. Moderne Strafrechtler sehen in der Resozialisierung des Täters das Ziel des Strafvollzugs und folgen, wenigstens hier, der Konzeption der „defense sociale" (Mergen, 1975). Das aber bringt das Schuldstrafrecht in einen unlösbaren logischen Konflikt. Denn, will man mangelhafte Sozialisationsprozesse korrigieren oder nicht erfolgte nachholen, dann setzt man implizit voraus, daß die Ursachen des Verbrechens in Sozialisationsdefekten liegen (cf. Christ, H., 1972; Mergen, A., 1961, 1967). Ein Regreß auf die Schuld könnte dann allenfalls nur mit Hilfe des höchst zweifelhaften Argumentes der „Lebensführungsschuld" möglich sein. Und selbst bei dieser gefährlichen Argumentation müßte noch postuliert werden, daß der Sozialisierungsprozeß ein im wesentlichen willensgesteuerter Prozeß ist, daß also der Mensch, auch das Kind, bewußt mit seinem Wollen seine Sozialisierung autonom steuert. Meines Wissens hat bis heute noch niemand solches ernsthaft behauptet. Die Strafrechtsdogmatik hält am Prinzip der durch die Willensfreiheit begründeten Schuld fest, trotz aller aus der Realitätssphäre entnommener Gegenargumente. Es kommt der Ausspruch Theodor Adornos (Th. Adorno, 1966, S. 212) in den Sinn: „Die intelligible Freiheit der Individuen wird gepriesen, damit man die empirischen (Individuen) um so hemmungsloser zur Verantwortung ziehen, sie mit Aussicht auf metaphysisch gerechtfertigte Strafe besser an der Kandare halten kann." Bleibt als letzter zu erklärender Begriff die soziale Wirklichkeit. Wie bei der Strafrechtsnorm und der Schuld ist sein Verwendungsund Inhaltsaspekt zu beschreiben. Im Rahmen der praktischen juristischen Argumentation erweist er sich nur allzu häufig als topische Leerformel. In der Rechtsprechung ist es zur Gewohnheit geworden, normative Erwägungen der Richter zu abstrahieren, zu verabsolutieren und dann als objektive soziale Wirklichkeit auszugeben. Wie oft müssen „alle billig und gerecht Denkenden" oder der „normale Durchschnittsbürger" als Legitimierung für eine Entscheidung herhalten. Was aber in Wahrheit der „normale Durchschnittsbürger" ist und was der Denkende zu denken beliebt, wenn er „billig" und „gerecht" denkt, hat bis heute niemand erforscht. Aus soziologischer Sicht könnte man die soziale Wirklichkeit als menschliche Umwelt im Gegensatz zur artspezifisch geprägten Umwelt der Tiere darstellen (Üxküll, ]. / Riszat, G., 1962). Man kann auch

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soziale Wirklichkeit als Synonym für objektive Wirklichkeit setzen und darunter die Welt verstehen, welche unabhängig vom einzelnen Subjekt und seinem Bewußtsein besteht. Objektive Wirklichkeit umfaßt ein weiteres Feld als der Begriff der Materie. Materiell ist alles, was außerhalb des Bewußtseins schlechthin existiert. Objektiv ist, was unabhängig vom Bewußtsein des einzelnen Subjektes existiert. Der Gegensatz zum Materiellen ist das Ideelle, das nur im und durch das Bewußtsein existiert. Der Gegensatz zum Objektiven ist das Subjektive, das nur in und durch das Bewußtsein des einzelnen Subjektes existiert. Im Begriff der „objektiven" sozialen Wirklichkeit sind somit auch Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins, z. B. Religionen oder Normen, enthalten, nicht aber Bedeutungen, die der einzelne den Objekten zuschreibt. Die so aufgefaßte „soziale Wirklichkeit" stellt die Frage nach dem Verhältnis von Materie (Natur, Sein) und Bewußtsein (Geist, Denken), wobei man darüber streiten kann, ob Wirklichkeit für den Menschen objektiv überhaupt erkennbar ist und erkennbar sein kann. Es scheint, daß auch im Rahmen der „verstehenden Soziologie", die im Ansatz „subjektivistisch" ausgerichtet ist, auf den Begriff der objektiven Realität nicht verzichtet werden kann ( B e r g e r , P. / Luckmann, T.,

1969, S. 49 ff.; Haferkamp,

H., 1975, S. 45, 82, 117 ff.).

Nunmehr können wir versuchen, die Interdependenzen von Strafrechtsnorm, Schuld und sozialer Wirklichkeit darzustellen und ihre kriminologische Relevanz umreißen. Strafrechtsnormen sind Gegenstand sowohl der theoretischen als auch der empirischen Kriminologie. Die Analyse der Strafrechtsnormen kann in zwei Dimensionen erfolgen. Zunächst muß erklärt werden, unter welchen und aufgrund welcher historischer Bedingungen bestimmte Verhaltensweisen als zwingendes Müssen im Strafgesetz kodifiziert und im Falle ihrer Nichtbeachtung mit staatlichen Sanktionen belegt werden. Dieser Ansatz ist nicht notwendigerweise „marxistisch" zu nennen; man kann, auch in der Kritik einer Rechtsformanalyse nicht, O b j e k t und Methode gleichsetzen. Die konkreten Inhalte der Strafrechtsnormen sind zu analysieren. Dabei kann man die historische Genesis bestimmter Rechtsgüter darstellen und die Inhalte der Strafgesetznormen in Beziehung zur sozialen Wirklichkeit setzen. Die materialistische Konzeption koppelt, dem dialektischen Prinzip entsprechend, die Rechtsformanalyse mit der Erklärung der Genese von Rechtsinhalten. Ihr Ergebnis: Rechtsstaatliche Institutionen erscheinen als ideologischer Reflex gesamtgesellschaftlicher Reproduktionszusammenhänge auf der Basis des äquivalent-bestimmten Waren-

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austausches (Werketin, F. et al., 1972). Gerechtigkeit erscheint als notwendiger Schein von Ungerechtigkeit und ist Prinzip der bürgerlichen Verfassung. Ideologie ist in diesem Zusammenhang im engen Marxschen Sinne zu verstehen. Im Marxismus ist zentrale inhaltliche Dimension der Strafrechtsnormen der Schutz und die Garantie des bürgerlichen Privateigentums. Dieser Schutz, diese Garantie ist, wie Werketin (1972) sagt, „das faktische Substrat, auf das sich selbst scheinbar unhistorische Normierungen wie die von Mord, Totschlag etc. reduzieren lassen bzw. durch das sie ihre spezifische Relevanz erhalten". Eine derartige verabsolutierte Theorie entspricht der sozialen Wirklichkeit wohl kaum. Ihre immanente Zielvorstellung ist der Umsturz der kapitalistischen Produktionsverhältnisse bzw. die Beseitigung des bürgerlichen Staates. Im demokratisch-rechtsstaatlichen System (Mergen, 1975) wird das Verhältnis von Inhalt der Strafrechtsnorm und Kriminologie zur Frage nach der Berechtigung des Staates, bestimmte Verhaltensweisen zu kriminalisieren oder zu entkriminalisieren. Sollenspostulate bleiben f ü r den einzelnen beliebig wählbar. Im staatlichen Bereich aber werden sie durch Kodifikation zum allgemeinverbindlichen und erzwingbaren Müssen. Dann müssen sie ein soziales Substrat, eine Entsprechung in der sozialen Wirklichkeit, aufweisen, und es muß gewährleistet sein, daß die Gesetze von den Normadressaten faktisch auch befolgt werden können. Verstöße gegen diese Prinzipien bestehen noch überall da, wo rechtlich Gemußtes faktisch unmöglich ist, z. B. wenn vom Exhibitionisten gefordert wird, sich sexuell „normal" oder gar nicht zu betätigen; oder wenn rechtliche Postulate keine Entsprechung in der sozialen Realität haben, wie es sich z. B. bei der Gegenüberstellung von Verbot und Praxis der Schwangerschaftsunterbrechung zeigt. Richtet sich das Strafrecht nicht nach den Erkenntnissen über die soziale Wirklichkeit, dann muß es sich nicht nur den Vorwurf der Realitätsfremdheit, sondern darüber hinaus den des autoritären Mißbrauches gefallen lassen (Mergen, 1975). Der Schuld fehlt ein reales Substrat, das mit seinswissenschaftlichen Methoden faßbar wäre. Das Festhalten am Schuldprinzip stellt somit den Versuch dar, „den Widerspruch zwischen Sein und Sollen (resp. Müssen) dadurch auszulöschen, daß psychologische, soziologische und kriminologische Feststellungen durch idealtypische Unterstellungen ersetzt werden" {Bauer, F., 1957, S. 246). Der Rekurs auf das subjektive Gefühl von Freiheit und Schuldigsein hilft nicht, die Behauptung der Existenz von Willensfreiheit zu untermauern, denn hier ist bereits

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ein grober methodischer Fehler unterlaufen. Es wurden Phänomene aus der subjektiven Wirklichkeit (Erleben des Freiheitsgefühls) mit solchen aus der objektiven Realität (Existenz der Willensfreiheit) vermengt. Empfindungen von Schuld sind vielmehr entweder gesamtgesellschaftlich oder psychologisch erklärbar; sie offenbaren gerade nicht individuelle Freiheit, sondern determinierende Abhängigkeit und Abwesenheit von Freiheit {Freud, S., 1969, S. 4 9 6 ff.; S. 517 ff.;

Mitscherlicb, A., 1966, S. 338 f.). Die Lehre der von Filippo Gramatica begründeten „defense sociale" (Gesellschaftsschutz) fordert in konsequenter Weise die E r setzung des Schuldstrafrechts durch ein reines Maßnahmerecht {Gramatica, F., 1965; Mergen, A., 1 9 6 6 ; 1975), das der Auffassung ist, daß nur ein Recht, das in der dem Sein immanenten Ordnung aufgeht und niemals mit der Wirklichkeit in gewaltsamem Widerspruch steht, den Anspruch auch auf Gerechtigkeit erheben darf und erheben kann. In jüngster Zeit wurde der Begriff der sozialen, objektiven W i r k lichkeit, besonders durch die kriminalsoziologische Theorie der Etikettierung (Labeling), relativiert. Diese Theorie macht Organisation und Funktion der Institutionen formaler Sozialkontrolle (Gericht, Polizei etc.) zum Hauptobjekt ihrer Forschung. Die Kriminologie hatte bisher diese Objekte zu sehr vernachlässigt und war davon ausgegangen, daß die von den Instanzen der sozialen Kontrolle getroffene Auswahl von Tätern eine repräsentative sei. Erst die moderne Kriminalsoziologie nahm die Aufklärung der Problematik des seit jeher als Crux der Kriminologie erkannten Dunkelfeldes (d. h. der nicht zur Kenntnis der Kontrollorgane gelangten Delikte) konsequent in Angriff. Im Rahmen der Methodologie reduziert sich die deutsche Version der „Etikettierungstheorie" im Gegensatz zu ihrem amerikanischen Vorbild, dem „labeling approach". {Becker, H., 1 9 6 3 ; Lemert, E., 1967) auf die Analyse von Anwendungsregeln von Strafrechtsnormen {Sack, F., 1 9 7 2 ; 1969). Allerdings ist man bemüht, die Verkürzung der methodischen Strategie zu überwinden {Haferkamp, H., 1972). In ihrer radikalen Version führt die Etikettierungstheorie (labeling approach) zur Negierung der Möglichkeit objektiven Erkennens der Wirklichkeit von Kriminalität und Verbrechen. Dies ist zu erläutern. Die Vertreter dieses theoretischen Ansatzes begreifen das Verbrechen nicht als Produkt von Faktoren, seien es nun individuelle oder gesellschaftliche, sondern als Ergebnis eines Interaktionsprozesses. Das Merkmal „kriminell" sei einer Verhaltensweise nicht immanent. Es werde vielmehr einem beliebigen („normalen") Verhalten durch die Kontrollinstanzen zugeschrieben, und so würde durch diesen Zuschreibungsprozeß Verbrechen und Kriminalität geschaffen

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und konstituiert {Sack, F., 1969, 1972; Peters, D., 1973). Das Verbrechen besitze somit keine Existenz per se, könne also als Handlung nicht beobachtet werden, sondern bestehe lediglich als Produkt kommunikativer Vorgänge zwischen Handelnden. Dieser Behauptung liegt eine über die Verbrechensanalyse hinausreichende Annahme zugrunde. Gegenstände und Ereignisse der jeweils gegenwärtigen Welt haben — dieser Theorie zufolge — ihre Bedeutung nicht gleichsam auf der Stirn geschrieben und können also vom Bewußtsein nicht widergespiegelt werden. Die Subjekt-Objekt-Beziehung reduziert sich auf die interpretative Verarbeitung von Objekterfahrungen (cf. Blumer, H., 1973, S. 80 ff) und deren Vermittlung an andere in der Kommunikation. In letzter Konsequenz wird die objektive Wirklichkeit mit der InterSubjektivität auf den Begriff gebracht. Darin lag bereits die Problematik der Kantschen Philosophie, die eine Lösung nicht auf der Basis der empirischen Subjekte, sondern nur auf der Ebene der Transzendenz finden konnte. Zwar erachtet man in der heutigen Diskussion die im Rahmen des Kantschen Ansatzes notwendige Abspaltung des Intelligiblen vom Empirischen als etwas, das der Individualität des handelnden Subjektes fremd ist (Habermas, ]., 1973; Lechmann, N,, 1971). Dennoch enthält sich die Diskussion des Problems der Intersubjektivität auf der Ebene der Transzendenz, wenn auch auf dem Boden sprachtheoretischer Überlegungen (Habermas, ]., 1973). Andere Lösungsversuche ohne transzendentallogischen Rahmen zeichnen sich durch eine verwirrende überkonstruiert wirkende Begrifflichkeit aus, wenn sie nach den fundamentalen Regeln von Kommunikation überhaupt forschen (Cicourel, A., 1971; 1964, S. 171 ff.). Verdeckt wird dadurch, daß die Vertreter des phänomenologisch orientierten Ansatzes in der Bestimmung dessen, was die „objektive Wirklichkeit" ausmachen sollte, von der dem einzelnen Forscher eigenen Erfahrung individueller „Lebenswelten" ausgingen, um durch Abstrahierung und Generalisierung die intersubjektive Welt zu erfassen. Auf diese Weise können wir aber „nicht auf eine einzige geschichtlich konkrete Lebenswelt stoßen, es sei denn die des Phänomenologen selbst", meint Habermas (Habermas, ]., 1973, S. 214). Dieser Ansatz hat für unsere Problemstellung weitreichende Konsequenzen. 1. Eine Analyse von Form und Inhalt der Strafrechtsnormen müßte entfallen. Da im Rahmen dieses Ansatzes die Bedingungen nicht spezifiziert werden können, die für die Anwendung von Normen notwendig und hinreichend sind {Hart, H. L. A., 1965, S. 151 ff.), können auch keine eindeutigen empirischen Korrelate zu den gesetzlich vertypten Verhaltensbeschreibungen

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aufgezeigt werden. Die im Strafgesetz kodifizierten Verhaltensimperative wären demnach grundsätzlich beliebig und ihre konkrete Form unerheblich. 2. Eine Analyse auf dem Verhaltenssektor kann nicht erfolgen. Sie muß sich auf Zuschreibungsprozesse reduzieren, also auf der Erklärung von subjektivem Sinn verharren. D a ß für die Zuschreibung des Merkmals kriminell ein wie auch immer geartetes „auffälliges Verhalten" notwendig ist, scheint den Anhängern der radikalen Labelingtheorie erst in letzter Zeit allmählich aufzufallen. 3. Auch eine Analyse des Massenphänomens „Kriminalität" müßte sich erübrigen, denn sie könnte nur sinnvoll sein, wenn sie an Material durchgeführt würde, das nicht vom Makel selektiver Vorauswahl durch die Kontrollinstanzen behaftet wäre. Solche Daten könnten nur durch eine sogenannte Dunkelfeldforschung erhoben werden. Hier ergeben sich unüberbrückbare Schwierigkeiten. Denn, entweder existiert ein Dunkelfeld im Rahmen der Labelingtheorie überhaupt nicht, da unter diesem Begriff Verhaltensweisen erfaßt würden, denen das Merkmal kriminell von staatlicher Seite eben gerade nicht beigelegt wurde, diese Zuschreibung für das Verbrechen aber konstitutiv sein soll; oder man greift auf hypothetische Zuschreibungen der Phänomenologen selbst zurück, was ohne transzendentallogische Überlegungen nicht möglich sein dürfte. 4. Im Rahmen des phänomenologischen Ansatzes stellt sich in letzter Konsequenz die Aufgabe der inhaltlichen Ausprägung der Wirklichkeit und deren Erkennbarkeit dar. Wirklichkeit soll sich nur konstituieren durch Interaktion, innerhalb derer sie definiert wird, und „objektiv" soll sie nur dadurch werden, daß sie durch Tradition in den Wissensbestand der nachfolgenden Generation aufgenommen und mangels eigener Definitionsleistungen von dieser als außerhalb ihrer selbst erfahren werde (Berger¡Luckmann, 1969). So kann Verbrechen und Kriminalität zwar vom Subjekt erfahren werden, sich aber nicht als objektive Problematik stellen. Was nicht zugeschrieben wird, existiert nicht; im Augenblick der Zuschreibung wird das Verb redien geboren. Der Nonsens solchen Argumentierens ist offenkundig. Und so ist es kaum verwunderlich, daß die Anhänger dieser Theorie versuchen, den aufgezeigten Konsequenzen aus dem Wege zu gehen, etwa durch teilweise grotesk anmutende Bemühungen, dem phänomenologischen Ansatz eine materialistisch-marxistische Hülle überzustreifen (Blan-

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kenburg, E., 1974, S. 313 ff.). Dadurch aber wird das radikalisierte System in sich unschlüssig (cf. Keckeisen, E., 1974, S. 95 ff.). So ist die sogenannte „neue Kriminologie" nicht einmal eine Anti-Kriminologie. Sie ist im besten Fall als kriminalsoziologischer Versuch anzusehen, der aber kaum Aussicht auf Erfolg haben kann, weil die Thesen über eine reine Bewußtseinsanalyse nicht hinauskommen und sich selbst zwingen, die Objektivität der Phänomene Verbrechen und Kriminalität zu leugnen. Mag der Theorie eine begrenzte Reichweite zukommen, dann muß sie den Anspruch auf Absolutheit aufgeben. Oder die Theoretiker besinnen sich und geben ihre Grundpositionen auf. Dazu aber gehört der Mut zur Einsicht.

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Über den Wandel ethischer Anschauungen ARNOLD GEHLEN F

Die Bemühungen um eine wissenschaftliche, den komplizierten Erscheinungen der Gegenwart nachspürende Ethik scheinen zum großen Teil aus dem Räume der Philosophie abgewandert zu sein. Die Jurisprudenz, zumal als Interpretation grundrechtlich abgesicherter Wertvorstellungen oder als Strafrechtswissenschaft stellt sich diesen harten Problemen weit bereitwilliger. Allerdings sucht die Philosophie in ihrer anthropologischen Richtung nach Denkmodellen in der H o f f nung, mit den Rechts- und Staatswissenschaften in Kontakt zu bleiben. Für diese Bemühung mag das Buch „Moral und Hypermoral" ( 3 1973) als ein Beispiel dienen, Jetzt an dieser Stelle soll in einem gedachten Gespräch mit dem Jubilar versucht werden, weiter zu kommen. Will man ganz kurz an den Denkansatz jenes Buches erinnern, so ist auf den „Pluralismus" hinzuweisen, der als Basis der Argumentation dient. So wie unsere Sinne unabhängig voneinander oder in Zusammenarbeit oder gar im Widerstreit operieren können, so auch jene „Wurzeln" der Moral, die es zunächst freizulegen gilt. Drastische Befunde der Verhaltensforschung zwingen, hier zuerst im instinktiven, demnach also auch biologisch qualifizierten Gebiet zu suchen. So kann z. B. kein Zweifel daran bestehen, daß die Vernachlässigung eines Kleinkindes durch die Mutter eine Mißbilligung erfährt, die unreflektiert und spontan ist. Von hier aus weiterdenkend finden sich gute Gründe anzunehmen, daß die urtümliche Großfamilie etwas wie ein Magnetfeld bildete, in dem sich die angeborenen Neigungen zur Sympathie, Solidarität, zur Nothilfe und Pietät ohne Risiko ausbreiten und ordnen konnten. Wenn hier schon eine Begriffsbildung nötig wird, die „psychophysisch neutral", d. h. auf biologische wie geistige Vorgänge anwendbar ist, dann trifft solches erst recht f ü r das Ethos der Institutionen zu, ein Gebiet, das man mit dem Thema „Familie" bereits betritt. Hier gilt der folgende Grundsatz: Die Menschen können nichts auf die Dauer und gemeinsam tun, ohne es nach Regeln zu tun. Dieses Gesetz ist schon am Spiel von Kindern ablesbar, und es macht sich bis in die hochbedingten Ebenen sozialer Regie und folglich auch der Gesetzgebung geltend, wo es den wesentlichen Inhalt des lockeren Begriffs „Gerechtigkeit" ausmachen könnte. Es durchzieht in der Tat alle möglichen menschlichen Relationen derart, daß die einseitige Auf-

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kündigung von Regeln ohne weiteres als ein ablehnender, wenn nicht feindlicher Akt empfunden wird, der folglich bis in die psychosomatischen Alarmzentren durchschlägt. Ein Spezialfall der oben genannten Regel liegt in dem ebenfalls instinktiv verwurzelten Ethos der Gegenseitigkeit vor: Alles, was die Vorgabe dauergültiger Kontakte oder die Anerkennung von Ansprüchen anderer ausmacht, enthält in irgendeiner Form diese Zweiseitigkeit von Anspruch und Einräumung. Man muß sich daran gewöhnen, die vorlaute Repräsentation derartiger Impulse im Bewußtsein zurechtzurücken: Das sind nie nur geistige Adressen, so dunkel uns auch der Zusammenhang der geistigen mit den biologischen Prozessen bleibt, die unter demselben Marschbefehl reisen. Die psychophysisch neutrale Handhabung solcher Begriffe wird um so evidenter, als man am Modell des kapitalsten Vorgangs dieser Art, an der Sprache, sogar eine dreifache Verlötung, nämlich der von Motorik, Sensibilität und Sinnerfahrung vor sich hat. Die Sprache kann deswegen als ein Kleinmodell des Menschen überhaupt gelten. Denn einmal ist sie glattweg und unbestreitbar instinktiver Herkunft, denn schließlich macht sie das für den Menschen artgemäße Organ der Kommunikation aus. Sie tritt ferner als Leitfunktion, ja bisweilen als Ersatz der Handlung ein, die ihrerseits die Mitte des Menschen ausmacht; und sie ist sinndurchtränkt. Man kann wegen dieser zentralen Lagerung sogar umgekehrt von einer „Sprachmäßigkeit der Antriebe" reden (Urmensch und Spätkultur, 3 1975), denn die Gegenseitigkeit, die reziproke Regel des gemeinsamen Tuns, ist in den Instinkten selbst vorprogrammiert. Hier ist es aber leicht möglich, den falschen Weg einzuschlagen. Wenn man die konstitutiven ethischen Verhaltensweisen nach dem Modell der Sprache versteht, gerät man leicht in idealistisches Gelände und reflektiert dann wieder oben herum, wie die Strukturalisten. Die fruchtbare Tiefe der Erfahrung liegt bei der Biologie. So gilt es, den gefundenen Sachverhalt anders auszuwerten. Wenn in der Sprache sich ein spontaner innerer Antrieb meldet, der offensichtlich von außen mit Sinnesempfindungen des Lautes und auf ihnen mit Bedeutungsladungen „gefüttert" wird, dann hat man ein Denkmodell, das bei vorsichtiger Handhabung Erfolg verspricht. Unter Berücksichtigung der oben gegebenen Formel, die den Zeitfaktor einschließt, nach der man nämlich nichts auf die Dauer gemeinsam tun könne, ohne es nach Regeln zu tun, läßt sich ableiten, daß langhin tradierte ethische Wertsynthesen bei plötzlicher Erschütterung Schocks erfahren können, die bis ins Somatische durchgreifen. So meint auch Konrad Lorenz, der sonst gern das „hydrodynamische" Modell zur Ver-

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anschaulichung von Instinktvorgängen verwendet, ein Abreißen der Tradition könne „alle kulturellen Normen sozialen Verhaltens auslöschen wie eine Kerzenflamme" (Ztschr. Die Brücke, Höchst A. G., 33/1968, S. 23). Das zu studieren, was sich dann ereignet, hatten wir in Deutschland reiche Gelegenheit. Doch beweist unser Modell noch in anderer Hinsicht seine Brauchbarkeit, nämlich auf dem geschichtlich und soziologisch so bunten Felde der „Spezialmoralen". Die Berufe sind heute nicht mehr durch Zunftverfassungen oder Privilegien institutionalisiert, wie vor alters, sondern sie werden durch allgemeine Rechtsregeln und die unformulierten Erwartungen der Beteiligten (Konventionen) geordnet. Das spezifische Berufsethos eines Standes ist teils rechtlich gestützt, teils unformuliert nur moralisch plausibel, und so sind z. B. die Gewissensprobleme, in die ein Arzt angesichts der Schweigepflicht als Zeuge vor Gericht oder im Falle der passiven Sterbehilfe oder gegenüber Kollegen (Kunstfehler-Problem) geraten kann, nicht undramatisch. In einer wechselnden Fülle von Situationen gibt das Berufsethos sozusagen einen Kompaß her. Im allgemeinen wird man sagen können, daß das Bündel von Imperativen in einem Berufsethos, man kann auch sagen der Code des betreffenden abgegrenzten Gebiets, sich von drei Seiten her ansehen läßt. Auch hier ist der Vergleich mit der Sprache ergiebig. Sie ist ja erstens instinktiver H e r k u n f t , sie bildet zweitens ein Normgefüge institutioneller Verbindlichkeit, und sie ist drittens geeignet, äußere Sachverhalte einigermaßen unverzerrt in sich zu übersetzen. Analog findet der Berufene als Arzt, Richter usw. in dem entsprechenden Ethos die Befriedigung seines zweifellos instinktgestützten Bedürfnisses nach sozialer Identität und institutioneller Verbindlichkeit, und drittens kann er sich darauf verlassen, daß dieses jeweils spezialisierte Ethos genau sachdeckend ist, ihn sozusagen zur Deckung mit seinen Sachen bringt. Denn wenn beispielsweise Tapferkeit, Gehorsam und Solidarität zu den fundamentalen Tugenden des Soldaten gehören, dann deswegen, weil andernfalls der Ernstfall der Sache, nämlich der Kampf, sich gar nicht ereignen würde. Oder wäre die Rechtsprechung notorisch bestechlich, so würden sich einfach neben ihr Verfahren der Selbsthilfe und der informellen Rechtsprechung unter Hausnachbarn, Arbeitsgenossen usw. herstellen, die sich bis zu einer geheimen Exekutive erstrecken könnten, wie sie in gewissen Staaten bestehen soll, wo die Polizei selbst exekutiert, weil eine korrupte Verwaltung den endlich gefundenen Verbrecher wieder laufen läßt. Hierin ist der Mißbrauch schon angelegt, und das ganze Rechtssystem gerät in Unordnung.

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Das Sprachmodell hilft uns aber noch ein Stück weiter. Beleidigungen und physische Attacken brechen die Verständigung von außen her ab, und wenn schon die verweigerte A n t w o r t wegen der ethischen Auszeichnung der Gegenseitigkeit unmoralisch ist, so erst recht der gewaltsame Abbruch der Kommunikation schlechthin. D a die alten naturalen Verfahren der Selbsthilfe die Entwicklung großer, nach außen k a m p f k r ä f t i g e r Verbände gefährdete, wurden sie unterdrückt, und eine staatliche, nach öffentlichen Regeln verfahrende Rechtsprechung t r a t an diese Stelle, wodurch übrigens die Triebstruktur beeinflußt wird. Denn statt des umgehend erfolgenden physischen Gegenschlages erforderte das neue Verfahren eine „Auslieferung" der Genugtuung an andere, vielleicht langfristig oder unzuverlässig arbeitende Instanzen. An diesem kleinen Beispiel zeigt sich, wie elastisch die dennoch biologisch verwurzelten sozialen Regulationen arbeiten. Elastizität ist ebenfalls ein psychophysisch neutraler Begriff, dessen Anwendbarkeit auf den Triebhaushalt Freud unter mehreren N a m e n wie Verdrängung, Verdichtung, Verschiebung von Triebquanten, Sublimierung u. a. erforscht hat. Immer dieselbe Modellvorstellung einer pluralistischen Ausstattung des Menschen mit Instinktwurzeln, die sich sozialregulatorisch auswirken und keineswegs notwendig in sich harmonieren, f ü h r t uns zu der Einsicht, d a ß diese analog der Sprache erst in Gleisen funktionieren, die intellektuell gelegt worden sind und die ein weitverzweigtes System von Erfahrungen und Bedeutungen einbauen können. Das hier Erörterte haben wir 1956 (Urmensch und Spätkultur) und 1969 (Moral und H y p e r m o r a l ) als „Sprachmäßigkeit der Antriebe" oder Bedürfnisse zu fassen gesucht. Bevor wir uns den Fragen der Gegenwart nähern, muß erwähnt werden, d a ß die vorindustriellen, ständischen Gesellschaften mit der Abwesenheit von Klassenkämpfen eine enorme Stabilität vereinigten. Angesichts der früher weltweiten Verbreitung von einfach geschichteten Sozialordnungen hat man den Eindruck, d a ß sich in Agrargesellschaften „von selbst", d. h. aus den gleichen objektiven Daten heraus eine Aufgabenteilung derart herausbildete, daß Priester und Krieger die Oberklasse darstellten, H ä n d l e r und H a n d w e r k e r die nächste, denen die Bauern und endlich die dienende Bevölkerung sich anreihten. Diese O r d n u n g bedeutete aber eine ebenfalls „moralische Arbeitsteilung", weil den Ständen exklusive Pflichten zukamen, so wie z. B. der zunftechte H a n d w e r k e r vor alters einmal technisch vollkommene, sorgfältige Arbeit am gediegenen Material lieferte. Diese moralische Arbeitsteilung belastete den Bauern oder Handelsmann

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nicht mit den intrikaten Gewissensfragen, die den weltlichen oder geistlichen Machthabern von jeher zur Verarbeitung anstanden und die sich teilweise in der Literatur der „Fürstenspiegel" niederschlugen. Das demokratische Zeitalter hat diese Grenzen verwischt, man kann wegen eines Papierzettels h a f t b a r werden, den man Jahrzehnte vorher in die falsche Wahlurne gesteckt hatte. N u n m e h r zur Gegenwart gewendet, kommen wir noch eine U m drehung höher auf ein schwer formulierbares Thema der Ethik. Die generellen Kultur- und Produktionsbedingungen, die über Jahrhunderte aushalten, scheinen etwas wie eine „historische Einstellungsbasis" festzulegen, die allen Einzelentscheidungen vorhergeht. Es bildet sich so etwas wie ein langfristig-selbstverständlicher Gesinnungshintergrund heraus, sozusagen ein ethisches Magnetfeld. Der Gedanke wird gleich deutlicher werden, wenn wir die „Ergebung in den Willen Gottes" bzw. in das „Schicksal" dem modernen Glauben an eine erfolgreiche planmäßige Machbarkeit ohne feste Grenzen gegenüberstellen, dessen Lieblingsthema ja die „Veränderung der Gesellschaft" ist. Beide Attitüden bezeichnen einen solchen stehenden, sich verantwortlich fühlenden Gesinnungshintergrund ganzer Zeitalter. Dazu muß man die allgemeinen Daten der chronischen Lebensbedingungen sich vor Augen halten, und dazu wollen wir uns zunächst die des Agrarzeitalters vor Augen führen. D a gab es zuerst die unübersteigbare, weit verbreitete Armut. Was bei einer Arbeitszeit von Tagesanbruch bis zur Dämmerung der kleine Bauer oder Landarbeiter erreichte, das zeigen uns die niederländischen Bilder eines Ostade oder Brouwer, nämlich zerlumpte Gestalten zwischen Lehmwänden auf roh zusammengehauenen Stühlen, nicht anders als auf den Gruppenporträts armer Bauern von Le N a i n im Louvre: da gibt es den trockenen Brotlaib und die Flasche mit rotem Landwein, niemand lacht. In Paris (diese und folgende Daten aus W. Roscher, System der Volkswirtschaft Bd. V, 3. Aufl. 1906; ders., Grundlagen der Nationalökon., Bd. 1 , 1 3 . Aufl. 1877) haben unter Ludwig X I V . etwa 40 000 Bettler in einem Jahre acht Aufstände unternommen, eine Zählung im Jahre 1789 ergab unter 510 000 Einwohnern 116 000 eingeschriebene Arme. Gegen Schluß des 18. Jahrhunderts rechnete man in Deutschlands geistlichen Territorien auf je 1000 Einwohner 50 Geistliche und 260 Bettler, in Köln soll es 12 000 Bettler gegeben haben. In Rom sind zu A n f a n g des 19. Jahrhunderts noch Menschen auf der Straße verhungert. Eine düstere Seite der A r m u t erscheint in den Findelkindern, im 1 5 . J a h r h . gab es Findelhäuser zu Augsburg, Breslau, Eßlingen usw., das Hotel Dieu in Lyon hatte zu A n f a n g des 18. Jahrhunderts jährlich 500—600 Aufnahmen, in ganz Frankreich

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betrug die Zahl der verpflegten Findlinge vor der Revolution von 1789 etwa 40—45 000. In solchen Zuständen gibt es prekäre Gelegenheits-Berufe, man fand Nischen, in denen ein findiger Kopf sich durchhelfen konnte, als Wahrsager, Zahnbrecher, Bader, Liebesbote, Fiedler oder Kundschafter je nach Gelegenheit. Um herabgekommene Adlige aus Standesgründen über Wasser zu halten, erfand man in Wien die sogenannten Audienzbrüder, die sich bei den zwei Audienzen des Kaisers in der Woche einstellten und mit 12—100 Dukaten beschenkt wurden, Nobelbettler. Um das ungefähre Verhältnis der Armen zu den Wohlhabenden zu schätzen, folge man dem Marschall und Staatsmann Vauban, der 1697 sagte, daß beinahe ein Zehntel des Volkes bettele, fünf Zehntel der Armut nahestünden, drei Zehntel von Schulden und Prozessen verfolgt würden, das letzte Zehntel umfasse ca. 100 000 Familien, von denen keine 10 000 fort ä leur aise leben könnten, das wäre weniger als 1 % der Bevölkerung. Das ist eine der Ansichtsseiten der Agrargesellschaft, der anderen nähern wir uns mit der Überlegung, daß mit den primitiven medizinischen Kenntnissen jener Zeit der sogenannte naturale Bevölkerungsumsatz nicht zu beeinflussen war. Viele Geburten, viele Todesfälle, ein schneller Wechsel der Generationen — das war der Vorgang. Seuchen wie Pest, Cholera, Pocken, Typhus waren undurchschaut und unbehandelbar, Sepsis, Wundinfektion und Kindbettfieber fanden überhaupt erst nach und nach ihre Namen. Umgekehrt wurde die Fruchtbarkeit ausgeschöpft, in einer Ehe waren sechs, acht, zehn Kinder häufig, doch verstarb ein großer Teil schon früh. So ergab sich eine sehr langsam steigende Bevölkerungszunahme als Resultante einer unbegrenzten Geburtenhäufigkeit bei mitleidsloser Sterblichkeit. Archäologen aus H a r v a r d haben an 2022 Grab- und Denkmalsinschriften ermittelt, daß im alten Griechenland die Lebenserwartung 29,5 Jahre betrug. In Rom kann man im 1. Jahrh. v. Chr. mit 32 Jahren rechnen, für Indien gab von 1891 bis 1931, also über 40 Jahre hinweg, die Zahl 27 die durchschnittliche Lebensdauer an, sie ist seither gestiegen. 1960 betrug die entsprechende Zahl in den Vereinigten Staaten 70. Unter derartigen Verhältnissen, unter dem Druck von Armut und Krankheit, lebte man viele Jahrhunderte lang. Sich mit eigenen K r ä f ten und gar über mehrere Generationen zu erheben, war nur möglich, wenn jemand durch besondere Geschicklichkeit im Kunsthandwerk, im Handel oder durch Kriegsbeute hochkam. Wir können heute die Erlebnisbedeutung, die sozusagen innere psychische Kostenstelle der Allgegenwart des Todes überhaupt nicht einschätzen, wie sie bei einer

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Lebenserwartung von etwa 30 Jahren mitgegeben w a r : niemand, der nicht den frühen T o d der Eltern oder von Geschwistern, o f t des Ehegatten oder der eigenen K i n d e r erlebt hätte. D i e Bedeutung solcher Erfahrungen f ü r die Entstehung und Ausbreitung des Christentums, das j a die Auferstehung v o m T o d e verhieß, abzuschätzen, müssen wir uns hier versagen. A u f diesem Hintergrund mußte innerhalb christlicher und zuletzt irgendwie pazifistischer Uberzeugungen bei der Masse das Sichfügen in den L a u f der Welt als D e m u t und Ergebenheit die einleuchtendste Tugend werden, bereichert durch den Glauben an die abwendende H i l f e der Heiligen und des Gebets. D a s Denkmodell, mit dem hier gearbeitet wird, hätte m a n früher ein sozialpsychologisches genannt. Die hier erscheinenden ethischen Auszeichnungen der D e m u t und der Fügung in den Willen Gottes entsprechen so augenfällig den langfristigen Konstanten der vorindustriellen Kultur, sei es den biologischen oder ökonomischen, daß m a n mit der Vorstellung privater Motivationen nicht auskommt. Es ist, als ob die chronischen Herausforderungen dieser Kulturstufe f ü r die hilflosen Massen ein H a l t u n g s g e f ü g e nahegelegt hätten, das man k a u m anders als mit dem psychophysisch neutralen, also auch biologischen Begriff der „Einstellung" verstehen kann. A n einer objektiven Zweckmäßigkeit dieser Einstellung ist kein Zweifel möglich. Alle Daten drängten nach stationären Zuständen: das minimale A u f k o m men an Energie, von der nur die tierische und menschliche Arbeitsk r a f t zur V e r f ü g u n g standen, die stabilisierende ethische Arbeitsteilung, die unerschütterliche Periodik der Jahreszeiten und Ernten, und schließlich der hier in Rede stehende U m s t a n d , der es erlaubte, jedes den einzelnen treffende L'nglück als unerforschlichen Ratschluß Gottes hinzunehmen, d. h. als isoliertes F a k t u m zu verstehen. Dies wiederum bedeutet, daß man keinen Schuldigen zu suchen brauchte, sich darin von den primitiven Kulturen der Zauberforschung unterscheidend, und daß folglich der Initiative des N e u a n f a n g s kein H i n dernis im Wege lag. D e r unerforschliche Ratschluß Gottes w a r unvorhersehbar und folglich kein Hindernis der persönlichen Initiative. Eine so vielseitig abgestützte, geistige wie biologische Fakten einbeziehende Einstellung wird offenbar als stehender Hintergrund der Sozialregulationen etabliert, und das heißt: ethisiert. Hier ist die Vermutung erlaubt, daß die Isolierung von Notlagen und Schicksalsschlägen auf den Betroffenen von erheblicher Wirksamkeit war. Die allgemeinen D a t e n der objektiven Zustände, die oben beschrieben wurden, bekam der einzelne nur in kleiner Dosis, wenn auch wiederholt, vorgelegt. So gab es keinen A n s a t z f ü r die Zurech-

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nung von Kollektivleiden an Beschuldigte und insofern keine Einengung der persönlichen Initiative. Damit sind einige der wesentlichen Tugenden des vorindustriellen Zeitalters beschrieben worden, indem die Beziehung auf die herrschenden Lebensbedingungen gelang, und zwar nicht weniger auf ihre biologischen als auf die ökonomischen Daten. Der hier verwendete Ausdruck „Einstellung" meint einen Vorgang im Antriebsbereich, der sich sozusagen als zusammenfassender Hintergrund etabliert und dessen Spiegelung im Bewußtsein etwa als „unerforschlicher Ratschluß Gottes" formulierbar ist. Eine sehr langfristig wirkende Einstellung dieser A r t läßt sich gar nicht mehr beurteilen, sie wird kritikfest und hat damit die Chance, angesonnen zu werden — die Ethisierung setzt ein. Wir betreten ein durchaus andersartiges Gelände, wenn wir uns jetzt dem modernen industriell-technisch-wissenschaftlichen Zeitalter zuwenden. Es gibt hier keine bessere Formel, als die von dem Sozialisten Bazard (geb. 1791) gefundene von der „exploitation du globe par l'industrie". Dabei ist der ungeheuere Zuwachs an Energie einzurechnen, so wie man mit Recht die Neuzeit mit Watts D a m p f maschine beginnen läßt, die allerdings noch nicht ahnen ließ, was gleich folgend die Elektrizität, das Erdöl und die Atomenergie bedeuten würden. Damit erfolgte auf höchster Ebene eine Rückkehr zu dem steinzeitlichen Stadium der rücksichtslosen Ausbeutung des Vorfindbaren, der man k a u m mehr als Rhetorik entgegensetzt. Der Energiebedarf hat bisher unnotierten Ländern eine politische Rolle zugeteilt, und der Zufall der Lagerstätten-Verteilung läßt angesichts des steigenden Bedarfs die Furcht zu, daß es künftig, nachdem Hitler die Epoche der Landnahmen beschloß, zu einer Epoche der „Rohstoffnahmen" kommen könnte — ein drohend über einem Gelände ortskonstant kreisender Atom-Satellit würde genügen. Hans Freyer hat in dem Buche „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" (1955) sowie in dem bedeutenden Aufsatz „Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft" (in: Abhdlgn. d. Akad. d. Wissensch, u. d. Lit. Mainz 1960, neugedruckt in: Gedanken zur Industriegesellschaft, Mainz 1970) die überzeugende Einsicht vermittelt, d a ß die neue Technik nicht bloß spezifische Mittel f ü r vorgegebene Zwecke schafft, sondern geballte K r ä f t e , hochgradige Spannungen, manipulierbare Verfahrensweisen, die f ü r viele Zwecke verwendbar sind. Sie schafft gleichsam „ein Können überhaupt, es wird von den verfügbaren Potenzen auf die möglichen Zielsetzungen hin gedacht". M a n muß wollen, weil man kann. Im Grunde hatte ja wohl kein Mensch ein

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Interesse daran, den Mond zu betreten, aber die technische Möglichkeit selbst war unwiderstehlich. Was also sollte man können? Alles das beseitigen, was Leiden macht, was einschnürt und Verzichte verlangt, was uns etwas abfordert. Mit anderen "Worten: die Menschen, wenigstens des Westens, wollen ein langes, zufriedenes, ungeschorenes und unbelastetes Leben, den ewigen Frieden, das allgemeine gegenseitige Geltenlassen, also, mit einem Wort, das Glück. Auf die „unfreie" folgt die verbohrte Gesellschaft, die sich selbst so umbauen will, daß sie wie eine Sozialglücks-Maschine alles produziert, was man wünschen kann. Schon dem Descartes schwebte als höchstes Ziel die Verlängerung des Lebens vor, mit einem Traum-Durchschnitt von 70 Jahren ist das zunächst erreicht. Diese Einstellungen haben sich nun in noch nicht 250 Jahren in die Mentalität der Zeitgenossen, in ihr Triebsystem, in ihre Selbstverständlichkeiten ähnlich hintergrundshaft eingelagert, wie früher die oben behandelten entgegengesetzten Axiome. Dieser Technizismus greift auf medizinische, politische, pädagogische Aufgabenbereiche über, der „Gedanke, daß durch gut gezielte Techniken im Grunde alles machbar sein müßte, gewinnt zwingende Gewalt" (//. Freyer, Gedanken z. Industrieges., 142). Wenn nun diese Interpretation und die Einsicht in das „Dominantwerden" nicht zu den von allen geteilten, überall bekannten Selbstverständlichkeiten gehören, dann aus einem bemerkenswerten Grunde: weil sie wahr sind. Man kann sie selbst nicht operational verwenden, sie sind echt „theoretisch". Man lebt zwar im H a n g zum äußersten, in der Illusion der „Veränderung" und in der Erfahrung „kritischer Größen", aber die Reflexion über diesen Sachverhalt hat keine K r a f t . Die Darstellung kaum noch menschlicher Leidenschaften im Film bis dahin, wo sie wie eine Woge in sich zusammenbrechen, wird ebenso folgenlos und vergeßlich hingenommen, wie die Mondbetretung. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu jener vorhin geschilderten DemutsAttitüde der Agrargesellschaften, die, kurz gesagt, wiederaufhalf. Das erworbene technokratische Apriori dagegen ist aus der Verfügung geglitten, es treibt uns dahin, und seine auf das Anorganische zugeschnittenen Kategorien sind nicht ethisierbar — die Mondbetreter vollbrachten sportliche, nicht ethische Hochleistungen. Man kann viele Erscheinungen der Gegenwart als ein Experimentieren mit kritischen Größen auffassen. Die Anarchisten zündeln an der Grenze der Todesstrafe herum, zur Zeit scheint die Bundesrepublik auf den Prüfstand geraten zu sein: können sich die Gerichte noch gegen die öffentliche Verhöhnung wehren, wie kann man die Kinder den schikanösen Schrullen der Bildungsreform entziehen, mit welchen Begriffen soll

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man die Bundeswehr begreifen, und gibt es noch Verkommenheiten, aus denen man kein Geld herausschlagen kann? Max Webers Behauptung, das Siegel der Moderne sei die Rationalisierung, ist überholt, hatte etwas Älplerisches: Wasser in die Milch. Die Schlösser aufbrechen, vor allem die der Seele, das ist technischer Fortschritt, und die nackten Tatsachen, seien es innere oder äußere, bieten sich dem Zugriff dar. Die Ethik fügt sich, kurz gesagt, in diese Axiome ein. Auf der einen Seite gibt sie Gelände preis, auch und vor allem seit Jahrhunderten gepflegtes. Dies geschieht so, daß der R a u m der privaten Wertungen zunimmt, und zwar zugunsten läßlicher Regelungen mit breitem Konzessionsrand. So rückt z. B. die Abtreibung in diesen Bereich hinein, die früher ethisch verpönt, wenn nicht rechtlich verboten war. Sie ist allzu praktisch, um sich nicht früher oder später durchzusetzen, ähnlich der Pille. Aber die eigentlich ingeniöse ethische Neuerung, die an die Stelle alles dessen tritt, was man fallen läßt, besteht in dem Humanitarismus, d. h. der unterschiedslosen, zur Pflicht gemachten Menschenliebe. Zugleich elastisch und penetrant, ebenso einleuchtend wie alogisch (denn nicht jeder Mensch ist liebenswert) ist sie geeignet, wie ein Getriebeöl in den erdumfassenden Verkehr einzuströmen. Sie wartet auf ihren Constantin, der sie in den Dienst der großen Politik stellt.

Existentielle Frustration als ätiologischer Faktor in Fällen von aggressivem Verhalten VIKTOR E . FRANKL

Richard Lange spricht einmal von der „unlöslichen Sinn- und Wertgebundenheit des menschlichen Wesens" 1 . Dieser Befund läßt sich auch erweitern, indem ich sage, menschliche Existenz sei zutiefst gekennzeichnet durch ihre „Selbst-Transzendenz" 2 . Darunter verstehe ich den grundlegenden anthropologischen Tatbestand, daß menschliches Dasein immer auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist — auf etwas oder auf jemanden, nämlich entweder auf einen Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder aber auf mit-menschliches Dasein, dem es begegnet. Wirklich Mensch wird der Mensch also erst dann und ganz er selbst ist er nur dort, wo er in der Hingabe an eine Aufgabe aufgeht, im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergißt. Es ist wie mit dem Auge, das seiner Funktion, die Welt zu sehen, nur in dem Maße nachkommen kann, in dem es nicht sich selbst sieht. Wann sieht denn das Auge etwas von sich selbst? Doch nur, wenn es krank ist: wenn ich an einem grauen Star leide und eine „Wolke" sehe oder an einem grünen Star leide und rings um eine Lichtquelle Regenbogenfarben sehe, dann sieht mein Auge etwas von sich selbst, dann nimmt es seine eigene Krankheit wahr. Im gleichen Maße ist dann aber auch mein Sehvermögen gestört. Ohne die Selbst-Transzendenz mit einzubeziehen in das Bild, das wir uns vom Menschen machen, stehen wir der Massenneurose von heute verständnislos gegenüber. Heute ist der Mensch im allgemeinen nicht mehr sexuell, sondern existentiell frustriert. Heute leidet er weniger an einem Minderwertigkeitsgefühl als vielmehr an einem Sinnlosigkeitsgefühl 3 . Und zwar geht dieses Sinnlosigkeitsgefühl für gewöhnlich mit einem Leeregefühl einher, mit einem „existentiellen Vakuum" 4 . Und es läßt sich nachweisen, daß dieses Gefühl, das Leben 1 Richard Lange: Ist das Fernsehen kriminogen? In: Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag, de Gruyter, Berlin 1972. 2 Viktor E. Frankl: Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie, in: H a n d buch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Urban und Schwarzenberg, München 1959. a Viktor E. Frankl: The Feeling of Meaninglessness, The American Journal of Psychoanalysis 32, 85, 1972. 4 Viktor E. Frankl: Pathologie des Zeitgeistes, Franz Deuticke, Wien 1955.

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habe keinen Sinn mehr, um sich greift. Alois Habinger konnte an H a n d einer identischen Population von einem halben Tausend Lehrlingen nachweisen, daß das Sinnlosigkeitsgefühl in wenigen Jahren auf mehr als das Doppelte angestiegen war 5 . Kratochvil, Vymetal und Kohler haben darauf hingewiesen, daß sich das Sinnlosigkeitsgefühl keineswegs auf kapitalistische Länder beschränkt, vielmehr auch in kommunistischen Staaten bemerkbar macht, in die es „ohne Visum" eingedrungen sei. Und den Hinweis darauf, daß es bereits in den Entwicklungsländern zu beobachten ist, verdanken wir L. L. Klitzke8 und Joseph L. Philbrick. Fragen wir uns, was das existentielle Vakuum bewirkt und verursacht haben mag, so bietet sich folgende Erklärung an: Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte und Triebe, was er tun muß. Und im Gegensatz zu früheren Zeiten sagen ihm heute keine Traditionen mehr, was er tun soll. Weder wissend, was er muß, noch wissend, was er soll, weiß er aber auch nicht mehr recht, was er eigentlich will. Und die Folge? Entweder er will nur das, was die anderen tun, und das ist Konformismus. Oder aber umgekehrt: er tut nur das, was die anderen wollen — von ihm wollen. Und da haben wir den Totalitarismus. Es gibt auch maskierte Formen des existentiellen Vakuums. Ich erwähne nur die sich namentlich in der akademischen Jugend häufenden Fälle von Selbstmord, die Drogenabhängigkeit, den so verbreiteten Alkoholismus und, last but not least, die zunehmende Kriminalität. Heute läßt sich unschwer nachweisen, wie sehr eine existentielle Frustration da mit im Spiel ist. Steht uns doch in Form des von James C. Crumbaugh entwickelten PIL-Tests 7 ein Meßinstrument zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich der Grad der existentiellen Frustration quantifizieren läßt, und neuerdings hat Elisabeth S. Lukas mit ihrem Logo-Test einen weiteren Beitrag zur exakten und empirischen Logotherapieforschung geleistet 8 . Was die Selbstmorde anlangt, wurden von der Idaho State University 60 Studenten unter die Lupe genommen, die Selbstmord versucht hatten, und in 85 % ergab sich, „life meant nothing to them" (das Leben hatte für sie keinen Sinn). Es ließ sich nun feststellen, daß von diesen an einem Sinnlosigkeitsgefühl leidenden Studenten 93 °/o sich 5

Alois Habinger: Persönliche Mitteilung. L. L. Klitzke: Students in Emerging Africa — Logotherapy in Tanzania, American Journal of Humanistic Psychology 9, 105, 1969. 7 Erhältlich durch Psychometric Affiliates, Post Office Box 3167, Munster, Indiana 56321, USA. 8 Elisabeth S. Lucas: Zur Validierung der Logotherapie, in: Viktor E. Frankl, Der Wille zum Sinn, Hans Huber, Bern 1972. 6

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in einem ausgezeichneten physischen Gesundheitszustand befanden, am gesellschaftlichen Leben aktiv engagiert waren, hinsichtlich ihres Studiums ausgezeichnet abgeschnitten hatten und mit ihrer Familie in gutem Einvernehmen lebten 9 . N u n zur Drogenabhängigkeit. Betty Lou Padelford10 konnte statistisch nachweisen, daß es keineswegs das in diesem Zusammenhang von psychoanalytischer Seite inkriminierte „weak father image" ist, das der Drogenabhängigkeit zugrunde liegt, vielmehr ließ sich an H a n d der von ihr getesteten 416 Studenten der Nachweis erbringen, daß der Grad der existentiellen Frustration signifikant mit dem drug involvement index korrelierte: der letztere betrug in den existentiell nicht frustrierten Fällen durchschnittlich 4,25, während er in den existentiell frustrierten Fällen auf durchschnittlich 8,90, also mehr als das Doppelte, hinaufschnellte. Diese Forschungsergebnisse stimmen auch mit den von Glenn D. Shean und Freddie Fechtman erhobenen Befunden überein 11 . Es versteht sich von selbst, daß eine die existentielle Frustration als ätiologischen Faktor berücksichtigende und mittels einer logotherapeutischen Intervention ausräumende Rehabilitation Erfolg verspricht. So kommt es denn, daß von 36 Drogenabhängigen, die von der Universitätsnervenklinik Wien betreut wurden, nach einer Behandlungsdauer von 18 Monaten nur 2 sicher drogenfrei waren 12 — was auf einen Prozentsatz von 5,5 hinausläuft. In der deutschen Bundesrepublik können von allen drogenabhängigen Jugendlichen, die ärztlich behandelt werden, mit einer Heilung weniger als 1 0 % rechnen 13 . In den USA sind es durchschnittlich 11 Prozent. Alvin R. Fraiser geht jedoch in dem von ihm geleiteten kalifornischen Narcotic Addict Rehabilitation Center logotherapeutisch vor und kann mit einem Prozentsatz von 40 aufwarten. Vom Alkoholismus gilt Analoges. William ]. Chalstrom, der Direktor eines Naval Drug Rehabilitation Center, steht nicht an zu behaupten: „more than 60 °/o of our patients complain that their lives lack meaning" 14 . Unter schweren Fällen von chronischem Alkoholismus ließ sich feststellen, daß 90 % an einem abgründigen Sinnlosig-

9 10

Vann A. Smith: Persönliche Mitteilung. Betty Lou Padelford: Dissertation, U n i t e d States International

University,

1973. 11 Glenn D. Shean und Freddie Fechtman: Purpose in Life Scores of Student Marihuana Users, Journal of Clinical P s y d i o l o g y 27, 112, 1971. 12 Medical Tribüne, Jahrgang 3, N r . 19, 1971. 13 österreichische Ärztezeitung, 1973. 14 William ]. Chalstrom: Persönliche Mitteilung.

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keitsgefühl litten 15 . Kein Wunder, daß James C. Crumbaugh auf Grund von Tests den Erfolg der Gruppenlogotherapie in Fällen von Alkoholismus objektivieren und, ihn mit dem Erfolg anderer Behandlungsmethoden vergleichend, feststellen konnte: „Only logotherapy showed a statistically significant improvement" 1 6 . Hinsichtlich der Kriminalität haben W. A. M. Black und R. A. M. Gregson von einer Universität in Neuseeland herausgefunden, daß Kriminalität und Lebenssinn in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stehen. Wiederholt in Gefängnisse eingelieferte Häftlinge unterschieden sich, gemessen am Lebenssinn-Test von Crumbaugh, von der durchschnittlichen Bevölkerung im Verhältnis von 86 zu 115 17 ' 18 . Andernorts 1 9 haben wir darauf hingewiesen, daß sowohl der psychologisch unterbaute Begriff der Aggression im Sinne der Psychoanalyse von Sigmund Freud als auch der biologisch untermauerte im Sinne der Vergleichenden Verhaltensforschung von Konrad Lorenz des Hinblicks auf die Intentionalität entbehren, die das menschliche Seelenleben und so denn auch das menschliche Triebleben als solches, als menschliches, charakterisiert. In der Dimension der menschlichen Phänomene, sagten wir, gebe es einfach nicht eine Aggression, die in einer bestimmten Menge da ist, auf ein Ventil drängt und mich, „ihr hilfloses Opfer", dazu treibt, nach irgendwelchen Objekten Ausschau zu halten, an denen ich sie endlich einmal auslassen, „abreagieren" könnte. Mag die Aggression auch noch so sehr biologisch präformiert und psychologisch substruiert sein: auf menschlicher Ebene lasse ich sie eingehen, lasse ich sie (im Sinne von Hegel) „aufgehen" in etwas ganz anderes: auf menschlicher Ebene hasse ich! Und der H a ß ist, eben im Gegensatz zur Aggression, intentional gerichtet auf etwas, das ich hasse. H a ß und Liebe sind menschliche Phänomene, weil sie intentional sind, weil der Mensch jeweils Grund hat, etwas zu hassen und jeman-

15 Annemarie von Forstmeyer: The Will to Meaning as a Prerequisite for Self-Actualization, Dissertation, California Western University, 1968. 16 James C. Crumbaugh: Changes in Frankl's Existential Vacuum as a Measure of Therapeutic Outcome, Newsletter for Research in Psychology 14, 35, 1972. 17 W. A. M. Black und R. A. M. Gregson: Purpose in Life and Neuroticism in N e w Zealand Prisoners, Br. J. Soc. clin. Psychol. 12, 50, 1973. 18 "Recidivists (86) differ significantly from first-sentence prisoners (99), who in turn differ from normals (115) with respect to purpose-in-life (p < 0.0005). Criminality and purpose in life are inversely related. The irony is that the more persistently a man offends, the more likely he is to be sentenced to increasing terms of imprisonment and the less likely he is to increase his sense of purpose in life, and so the more likely he is to continue offending when released."

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den zu lieben. Es handelt sich jeweils um einen Grund, auf den hin er es tut, und nicht um eine (psychologische oder biologische) Ursache, die „hinter seinem Rücken" und „über seinen Kopf hinweg" Aggressivität und Sexualität zur Folge hat (mit einer biologischen Ursache haben wir es etwa im Falle der Experimente von W. R. Hess zu tun, in deren Rahmen er von Elektroden aus, die in subkortikale Zentren des Katzengehirns versenkt worden waren, Wutanfälle auslösen konnte) 20 . Wie wenig würden wir doch den Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus gerecht, wenn wir sie für die Opfer „aggressiver Potentiale" hielten, die sich mehr oder minder zufällig gegen Adolf Hitler gerichtet hatten. Im Grunde meinten sie mit ihrem Kampf gar nicht ihn, sondern eben den Nationalsozialismus, ein System. Sie wandten sich nicht gegen eine Person, sondern gegen eine Sache. Und im Grunde sind wir erst dann, wenn wir in diesem Sinne „sachlich" sein können, auch wirklich menschlich. Gar erst dort, wo wir aus solcher Sachlichkeit heraus imstande sind, für eine Sache nicht nur zu leben, sondern auch zu sterben 21 . Solange die Friedensforschung aber nur das subhumane Phänomen „Aggression" interpretiert und nicht das humane Phänomen „Haß" analysiert, ebenso lange ist sie zur Sterilität verurteilt. Der Mensch wird nicht zu hassen aufhören, wenn man ihm einredet, daß er von Mechanismen und Impulsen beherrscht wird, sondern er wird erst dann seine Aggressivität überwinden, wenn wir ihm nachweisen, daß er dafür verantwortlich ist, ob er sich mit dieser seiner Aggressivität identifiziert oder von ihr distanziert 22,23 . Wobei wir bemerken, daß 19

Viktor E. Frankl: Der Mensch auf der Suche nadi Sinn, Verlag Herder, Freiburg 1972. 20 Worin besteht nun der Unterschied zwischen Ursachen und Gründen? Wenn jemand Zwiebeln schneidet, dann weint er. Seine Tränen haben eine Ursache. Aber er hat keinen Grund zu weinen. 21 Vgl. Hans-Eduard Hengstenberg, Philosophische Anthropologie und Einzelwissenschaften, in: Internationales Jahrbuch für interdisziplinäre Forschung, herausgegeben von Richard Schwarz, Band I, Teil 1, Walter de Gruyter, Berlin 1974: „Ganz gewiß gibt es auch beim Menschen Aggression, dennoch ist sie bei ihm doch ,ganz anders', zufolge des Sachverhalts, daß beim Menschen Aggression nie vitalisoliert vorkommt (abgesehen von pathologischen Grenzzuständen), sondern immer von einem Verhaltensmoment der Sachlichkeit oder Unsadilichkeit überdeterminiert und in diesem Sinne ,überformt' und gewandelt ist." 22 Viktor E. Frankl: Encounter, The Journal of the American Academy of Psychoanalysis 1, 73, 1973. 23 Vgl. Richard Lange: „Neben der Anlage und der Umwelt, die selbstverständlich in ihren Einflüssen und Determinierungen nicht geleugnet werden, erscheint plötzlich wieder die Persönlichkeit als ein mitbestimmender, sogar entscheidender Faktor." (s. o. F N 1)

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das letztere die Manifestation einer spezifisch menschlichen Fähigkeit zur „Selbst-Distanzierung" 24 ist, während sich die andere spezifisch menschliche Fähigkeit, die zur Selbst-Transzendenz, in der besprochenen Intentionalität des Hasses (im Gegensatz zur Nicht-Intentionalität der Aggression) manifestiert. Eine von den Fakten längst überholte Motivationstheorie stellt den Menschen hin als ein Wesen, das darauf aus ist, die Objekte draußen in der Welt als bloße Mittel zum Zweck zu verwenden, um aggressive Impulse abzureagieren, also als ein Ventil für innere Spannungen. Dem liegt aber das Modell eines geschlossenen Systems zugrunde — während der Mensch ein weltoffenes Wesen ist, dem es eigentlich (also von neurotischen Fällen abgesehen, aber auch da ursprünglich) nicht um irgendeinen Zustand innerhalb seiner selbst zu tun ist, also nicht etwa um den Ausgleich von Spannungen und um inneres Gleichgewicht, vielmehr geht es dem Menschen, kraft dessen, was ich als die Selbst-Transzendenz menschlicher Existenz bezeichnet habe, darum, draußen in der Welt einen Sinn zu erfüllen, indem er einer Sache dient, oder mitmenschlichem Sein zu begegnen, indem er seinen Partner liebt. Seine Liebe zum Partner und sein Kampf für eine Sache lassen sich aber auf menschlicher Ebene längst nicht mehr so deuten, als wären Partner und Sachen bloße Mittel zum Zweck, gerade tauglich genug, um seine eigene Sexualität und Aggressivität auszuleben. Dazu kommt, daß das Gerede von „aggressiven Potentialen" nahelegt, sie kanalisieren und sublimieren zu wollen. Wie Verhaltensforscher aus der Schule Konrad Lorenz' jedoch nachweisen konnten, wird Aggressivität, die — etwa auf dem Fernsehschirm — auf harmlose Objekte abgelenkt und an ihnen abreagiert werden soll, in Wirklichkeit überhaupt erst provoziert und, wie ein Reflex, solcherart nur noch mehr gebahnt. Auch Milton S. Eisenhowers National Commission on the Causes and Prevention of Violence veröffentlichte Ende der sechziger Jahre einen Bericht, der eindeutig feststellte: Gewalt im Fernsehen fördert gewaltsame Verhaltensformen. Diese Feststellung bestätigt, was psychologische Untersuchungen längst herausgefunden hatten: Wenn man einer Person Filme von Gewalttätigkeiten zeigt, verhält sie sich anschließend aggressiver und feindseliger als vorher 25 . Anscheinend ist es also nicht weit her mit der Katharsistheorie von Fehsbacb26, einer auf Aristoteles zurückgehenden Auffassung, nach der Viktor E. Frankl: Der unbedingte Mensch, Franz Deuticke, Wien 1949. Phylis Feinstein: Alles über Sesame Street — Die Geschichte der revolutionären Fernsehreihe für Kinder. Wilhelm Heyne Verlag, München 1972. 211 Fehsbacb: The Stimulating Versus Cathartic Effects etc., Journal of Abnormal and Social Psychology 381—385, 1961. 24 25

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das Zusehen bei Gewaltdarstellungen zur Abnahme von aggressiven Tendenzen beim Beobachter führe. "This belief in catharsis is quite incorrect. In an experimental investigation of the issue Green, Stonner and Shope21 provide still more evidence that the catharsis hypothesis is invalid. The results show that aggression seems to facilitate more aggression 28 ." Es kann die Aggressivität eines Menschen durch Beobachtung aggressiver Handlungen entstehen und ansteigen. Insbesondere ungefestigte und vor allem solche Personen, die keine Modelle haben, die alternative Verhaltensweisen zur Durchsetzung im Leben vormachen, lernen von aggressiven Vorbildern die Einstellung, das Leben sei nicht viel mehr als eine Kette aggressiver Szenen von Schlägerei und Mordtaten. Aufgrund von Feldstudien kommt diese Lerntheorie zu dem Ergebnis, „aggressives Verhalten wird ganz entscheidend durch aggressive Modelle in Massenmedien mitbestimmt" 29 . Sogar „TV Guide" 3 0 gibt bereits zu: "A few early scientific studies suggested that TV violence might actually make viewers less aggressive. Later research has contradicted this theory. There is little doubt that, by displaying forms of aggression or modes of criminal and violent behavior, the media are 'teaching' and people are 'learning'." Bromley H. Kniveton und Geoffrey M. Stephenston experimentierten mit Kindern, denen Filme mit aggressiven Akten vorgeführt wurden, und die Forscher konnten ebenfalls nachweisen, daß dann die Aggressivität der Kinder durchwegs zunahm. Und wie Frederic Wertham31 hervorhebt, sei Folgendes festgestellt worden: "The constant diet of violent behavior on television has an adverse effect on human character and attitudes. TV violence was found in hundreds of cases to have harmful effects. Clinical studies have demonstrated adverse effects on children and youth of television violence, brutality, and sadism." Auch räumt Wertham auf mit dem Vorurteil und Aberglauben, daß wir die Brutalität im Fernsehen brauchen, um aggressive Impulse zu entladen und uns wirkliche Aggressivität solcherart zu ersparen — welchen frommen Glauben er als „the old getting-rid-ofaggression notion" abtut.

27 Green, Stonner and Shope: Journal of Personality and Social Psychology, vol. 31, p. 721. 29 N e w Behavior, vol. 2, p. 266, 1975. 29 Rudolf Stejen: Gewaltkriminalität durdi Gewaltdarstellungen in Massenmedien? Medien & Sexual-Pädagogik 1, 3, 1973. 30 February 2, 1974. 31 Frederic Wertham: Critique of the Report to the Surgeon General from The Committee on Television and Social Behavior, American Journal of Psychotherapy 26, 216, 1972.

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Allgemeiner faßt sich die Soziologin Carolyn Wood Sherif von der Pennsylvania State University: "There is a substantial body of research evidence that the successful execution of aggressive actions, far from reducing subsequent aggression, is the best way to increase the frequency of aggressive responses (Scott, Berkowitz, Pandura, Ross und Walters). Such studies have included both animal and human behavior 32,33 ." Des weiteren berichtete Carolyn Wood Sberif, daß die volkstümliche Vorstellung, der sportliche Wettkampf sei ein Ersatzkrieg ohne Blutvergießen, falsch ist: Drei Gruppen Jugendlicher in einem abgeschlossenen Camp hätten gerade durch sportliche Wettkämpfe Aggressionen gegeneinander aufgebaut, statt sie abzubauen. Die Pointe kommt aber erst: Ein einziges Mal waren unter den Lagerinsassen die gegenseitigen Aggressionen wie hinweggefegt, und das war der Fall, als die jungen Leute einen im lehmigen Boden steckengebliebenen Karren, mit dem die Lebensmittel in das Lager transportiert werden sollten, mobilisieren mußten; die wenn auch anstrengende, so doch sinnvolle „Hingabe an eine Aufgabe" hatte sie ihre Aggressionen buchstäblich „vergessen" lassen 34 . Damit stehen wir auch schon vor den Möglichkeiten einer logotherapeutischen Intervention, die ja als solche, als logotherapeutische, auf eine Uberwindung des Sinnlosigkeitsgefühls durch die Ingangsetzung von Sinnfindungsprozessen abzielt. Tatsächlich konnte Louis S. Barber an dem von ihm geleiteten Rehabilitationszentrum für Kriminelle binnen 4 Monaten den auf Grund von Tests ermittelten Pegel erlebter Sinnerfüllung von 86,13 auf 103,46 erhöhen, indem er das Rehabilitationszentrum zu einer „logotherapeutischen Umwelt" ausgestaltete. Und während die durchschnittliche Rückfallsrate in den USA 4 0 % beträgt, konnte Barber mit einem Prozentsatz von 17 aufwarten. Ich bin aber auch überzeugt, daß sich dies auf die Menschheit im ganzen anwenden läßt: ich begnüge mich hier damit, Robert Jay Lifton — einem internationalen Experten auf diesem Gebiet — das

32 Carolyn Wood Sherif: Intergroup Conflict and Competition — SocialPsychological Analysis, Vortrag, Scientific Congress, X X . Olympiade, München, 22. 8.1972. 33 Gilt es nach alledem, „Verrohung durch das Fernsehen zu verhindern", dann muß nur bedacht werden, was Richard Lange (s. o. F N 1) einmal sagt, nämlich, daß „die Perhorreszierung aller Gewalttätigkeiten allzu viel von der Realität ausblenden und daher das Fernsehen unglaubwürdig machen würde". 34 Viktor E. Frankl: Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Hans Huber, Bern 1974.

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Wort zu überlassen, der in seinem Buch „History and H u m a n Survival" folgendes schreibt: "Men are most apt to kill or wish to kill when they feel overcome by meaninglessness 35 ." In der Tat: aggressive Impulse scheinen nicht zuletzt dort zu wuchern, wo ein existentielles Vakuum vorliegt. Einstein hat einmal gemeint, wer sein eigenes Leben als sinnlos empfinde, der sei nicht nur unglücklich, sondern auch kaum lebensfähig 36 . In der Tat, der Mensch kann nur überleben, wenn er auf etwas hin lebt. Schließlich war dies auch die Lektion, die ich in Auschwitz und Dachau lernen konnte — und sie ist inzwischen von psychiatrischen Erfahrungen in Kriegsgefangenenlagern in aller Welt bestätigt worden: eine Chance zu überleben hatten noch am ehesten diejenigen, die ausgerichtet waren auf die Zukunft, das heißt auf eine Aufgabe, die sie in der Zukunft zu erfüllen hatten 37,38 . Sollte nun, was von einzelnen gilt, nicht ebenso auch von der Menschheit im ganzen gelten? Und sollten wir uns nicht, im Rahmen sogenannter Friedensforschung, die Frage angelegen sein lassen, ob nicht auch für das Uberleben der Menschheit die einzige Chance letzten Endes in gemeinsamen Aufgaben liegt, in einem einigenden Anliegen? Gibt es Werte, die von ganzen Gruppen anerkannt werden? Und gibt es gemeinsame Nenner bezüglich dessen, was f ü r diese Gruppen das Leben überhaupt erst lebenswert macht? Hier sehe ich viel eher noch einen fruchtbaren Ansatz zur Friedensforschung als in dem endlosen Wiederkäuen des Geredes von aggressiven Potentialen, mit welchem Konzept man die Menschen glauben macht, Gewalt und Krieg seien Schicksal.

35 Robert Jay Lifton: H i s t o r y and H u m a n Survival, R a n d o m H o u s e , N e w York 1970. 36 Albert Einstein: Mein Weltbild, Ullstein, Berlin 1970. 37 Viktor E. Frankl: D i e Psychotherapie in der Praxis, Franz Deuticke, Wien 1975. 38 Viktor E. Frankl: Theorie und Therapie der Neurosen, Ernst Reinhardt, München 1975.

Über Anlage und Zwillingsforschung H A N S WELZEL

Der Begriff der Anlage ist ein erschlossener Begriff. Anlagen sind Entwicklungspotenzen, die im Keimgut liegenden Möglichkeiten, die die Entwicklung des Individuums nehmen kann: die ererbten Richtung gebenden Faktoren der Entwicklung. Zu welchen wirklichen Eigenschaften und Merkmalen, zu welchem wirklichen Erscheinungsbild sie führen, hängt vom Lebensschicksal des Individuums ab, also von der Umwelt und der eigenen Tat. Unmittelbar zugänglich sind nur diese wirklichen, gewordenen Eigenschaften, nicht die in ihnen steckenden Potenzen. Diese Eigenschaften sind aber stets ein Ergebnis aus Anlage und Umwelt (bzw. eigener Tat). Hierauf beruht die methodische Schwierigkeit der Erbforschung, die Erbanlagen von den Umwelteinflüssen zu trennen. Die Schwierigkeit ist gering, wo die Entwicklungsbestimmtheit sehr groß und eindeutig ist, die Umwelteinflüsse nur geringe Bedeutung haben. Die Schwierigkeit wächst, je breiter und variabler die anlagemäßige Entwicklungsbestimmtheit ist, je mehr Möglichkeiten sie also entwicklungsmäßig offen läßt. Letzteres ist gerade auf seelischem Gebiet der Fall. Zwar scheint es auch hier Eigenschaften mit sehr eindeutiger Anlagebestimmtheit zu geben, z. B. das persönliche Tempo; daneben gibt es weitgehend seelische Eigenschaften und Merkmale, die aufs stärkste von den Lebensschicksalen der Person mitbestimmt werden, wie vor allem die individuellen Interessenrichtungen und Neigungen. Dazu tritt noch etwas Prinzipielles: Körperlich-morphologische Eigenschaften wie z. B. die H a a r farbe, die Pigmentierung der H a u t ; alles dies ist etwas dinghaft Gegenständliches, von akuten LImweltsituationen relativ unabhängig. Alles Seelische (Wahrnehmungs-, Gefühls- und Willensakte) aber ist nichts Dinghaftes, sondern etwas Prozeßhaftes; Seelisches besteht nur in Erlebnisvorgängen und -akten innerhalb einer konkreten Erlebnissituation. Seelisches ist gar nicht anders vorhanden denn als Äußerung innerhalb einer konkreten Umweltsituation. Seelische Eigenschaften sind darum immer nur Funktionsweisen, bei denen die Umweltkomponente besonders schwer abtrennbar ist. D a ß es trotzdem praktisch von höchster Wichtigkeit ist, zu wissen, wieweit in einer seelischen Funktionsweise die Anlage reicht, leuchtet ohne weiteres ein. Denn jede, sowohl erzieherische wie kriminalpolitische Beeinflussung ist nur bei solchen seelischen Eigenschaften möglich, die durch Umwelteinflüsse (weitgehend) mitbestimmt werden.

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Hans Welzel

Wo die Anlage einfach durchschlägt, ist Hopfen und Malz verloren. Die Erbcharakterforschung bemüht sich nun, die Anlagekomponente in gewissen seelischen „Grundfunktionen" oder genetischen Radikalen freizulegen, ohne daß sie bisher zu befriedigenden und anerkannten Ergebnissen gelangt wäre. Wir müssen uns z. Z. vor allem an die empirischen Einzeluntersuchungen halten, die gerade für das Strafrecht zu überraschenden Ergebnissen geführt haben. Sensationell hat hier die sog. Zwillingsforschung gewirkt.

Die

Zwillingsforschung

Einzigartiges Experiment der Natur sind die eineiigen Zwillinge. Während bei zweieiigen Zwillingen die Anlagen verschieden sind, sind sie bei eineiigen Zwillingen (grundsätzlich) völlig gleich. Wenn nun für die Kriminalität die Anlage der entscheidende Faktor ist, so muß die verbrecherische Anlage, die der eine Partner hat, sich auch bei dem anderen zeigen. Es ist das Verdienst des ehemaligen Breslauer Psychiaters Johannes Lange (Verbrechen als Schicksal, 1929), diese Frage erstmalig gestellt zu haben. In der T a t haben sich die meisten eineiigen Zwillingspaare als konkordant erwiesen, d. h. beide wurden kriminell. Historisch vorweggenommen wurde dies in Fritz Reuters Mining und Lining (Ut mine Stromtid) oder an den Brüderpaaren der „Komödie der Irrungen" von Shakespeare, auf die schon Johannes Nagier im Gerichtssaal Bd. 102, S. 426 hinweist. Aber noch besser ist es von Gottfried Keller in Martin Salander, S. 737 (Ausgabe der wissenschaftlichen Buchgesellschaft), in den Brüdern Weidelich vorweggenommen. Antwort der Mutter auf den Trost, daß doch nur der eine der Söhne als Verbrecher dasteht: „Du kennst sie nicht wie ich, die ich sie zur Welt gebracht habe. Sie haben jederzeit und alleweil das Gleiche gedacht, gewollt und getan und jeder gewußt, was der andere wollte." Johannes Lange nennt sein Buch, das das Schicksal von 13 eineiigen und 17 zweieiigen Zwillingen umfaßt, „Verbrechen als Schicksal": Der Arzt könne im Verbrechen immer nur wieder das Schicksal sehen, das stärker sei als der einzelne mit seinem sog. freien Willen. Die Anlage, mit denen einer geboren werde, die Umwelt, in die er hineinwachse, seien Notwendigkeiten, seien Schicksal. Diese Gedankenfolge gipfelt in dem Verlangen, die Schranken niederzureißen, die den guten Bürger heute noch vom „Verbrecher" trennen; die allgemeine Auffassung vom Verbrechen müßte in Zukunft geändert werden. Es

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habe keinen Sinn, zu vergelten und im eigentlichen Sinne zu strafen, wenn die „Rechtsbrechung" ganz wesentlich eine Folge des Gesetzes sei, nach dem wir angetreten sind. Später hat Lange gegen sich selbst den Einwand des zu geringen Untersuchungsmaterials erhoben. Er will danach die Diskussion von der Anlage zum Verbrecher zu den Persönlichkeitstypen weiterführen; er fragt: „Welcher Art sind die Menschen typen, die als Verbrecher ins Zuchthaus wandern?" Er konzentriert sich dabei — den Lombrososchen und vor allem Gauppschen Spuren folgend — auf die moral insanity, die „moraldefekten Menschen, die sich durch Frühkriminalität, durch Rückfallstendenz und Neigung zum kriminellen Dauerverfall auszeichnen". Spätere Forschungen brachten freilich Einschränkungen gegenüber den Ergebnissen Langes: So ergaben beispielsweise internationale Untersuchungen an 66 unmethodisch ermittelten eineiigen Paaren mit mindestens einem Bestraften, daß bei 71 °/o auch der Partner bestraft war; bei 85 °/o zweieiigen Paaren fand sich nur in 38 % ein bestrafter Partner. In einer der jüngsten Untersuchungen zur Zwillingsforschung von dem Dänen Christiansen (1968) werden die bisherigen Befunde noch weiter relativiert. Christiansen untersuchte die Gesamtheit der zwischen 1880 und 1910 auf den dänischen Inseln geborenen Zwillinge. 900 von den rd. 6000 Zwillingspaaren hatten mindestens einen bestraften Partner, aber nur bei 35,8 °/o der eineiigen und 12,3 °/o der zweieiigen Bestraften war auch der Partner bestraft. Die Untersuchung Christiansens ergab insgesamt eine relativ größere Differenz zwischen den Gruppen, aber auch eine erheblich geringere Konkordanz, als sie in den älteren Untersuchungen zutage tritt. Ob dieser Befund das Ergebnis einer methodisch fundierteren Fallauswahl ist oder nur auf die zurückhaltendere Bestrafungspraxis der dänischen Gerichte zurückzuführen ist, läßt sich schwerlich entscheiden. Dessen ungeachtet erscheinen einige weitere Befunde der Untersuchung Christiansens bemerkenswert: Nach einem Bericht, den Christiansen allerdings selbst als vorläufig bezeichnet, ist die Ubereinstimmung der Zwillinge nach einzelnen Faktoren unterschiedlich. Sie war größer einmal bei Frauen, weiter bei schweren Delikten und bei Zwillingen mit ländlichem Geburtsort; auch fanden sich Hinweise auf eine stärkere Ubereinstimmung der Zwillinge aus den oberen Schichten. Diese Befunde lassen sich sehr vorsichtig dahin interpretieren, daß die Kriminalität, soweit sie im Hinblick auf die Schwere der Begehung und nach der Tätergruppe als selteneres Ereignis zu charakterisieren ist, eher in den Eigenarten der Person und weniger in äußeren Einflüssen begründet liegt, daß als kriminogen also die

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Eigenschaften anzusehen sind, die den Täter am stärksten von anderen und am wenigsten vom erbgleichen Zwillingspartner unterscheiden (vgl. Anne-Eva Brauneck, Allgemeine Kriminologie, 1974, S. 267). Freilich bleibt auch bei dieser Interpretation zu bedenken, daß Anlagefaktoren kaum jemals eindeutig als solche zu erfassen sind. So wird zu Recht darauf hingewiesen, daß die Umgebung erbgleicher Zwillinge gleicher ist als die erbverschiedener — sie haben nicht nur in den entscheidenden Jahren der Entwicklung den ähnlichen Zwillingspartner ständig um sich und beeinflussen sich so gegenseitig, sie erfahren in der Regel auch wegen ihrer Ähnlichkeit eine im wesentlichen gleiche Behandlung durch ihre Umwelt. Für die kriminologische Forschung sind aus diesen Gründen die „diskordanten" eineiigen Zwillinge von besonderem Interesse, wenngleich auch hierzu nur wenige gesicherte Ergebnisse vorliegen. Diese wenigen Untersuchungen deuten darauf hin, daß von eineiigen Zwillingen der straffällig gewordene Partner öfters der aktivere, durchsetzungsfähigere, dominante ist. Auch scheinen gewisse Lebenserfahrungen, wie Partnerwahl, Auswanderung u. ä., für das spätere Sozialverhalten von Bedeutung zu sein. Hier könnten freilich erst weitere Untersuchungen zu vertieften Erkenntnissen führen. Im Anschluß an die Schrift von Johannes Lange hatte sich die spätere kriminologische Forschung eingehend mit dem Zwillingsproblem beschäftigt, ohne daß sich dabei die Folgerungen Langes durchgesetzt hätten. Ich verweise zuletzt neben Anne-Eva Brauneck, a. a. O., auf Hilde Kaufmann, Kriminologie I, 1971, S. 213; Hans Göppinger, Kriminologie (2. Auflage) 1973, S. 25; Günther Kaiser, Kriminologie (2. Aufl.) 1973, S. 17; Richard Lange, Das Rätsel Kriminalität, 1970, S. 236 ff. Man wird wohl sagen können, daß es Anlagen gibt, die ihren Träger zum Verbrechen zwar nicht prädestinieren, wohl aber prädisponieren.

FORENSISCHE PSYCHOLOGIE UND PSYCHIATRIE

Die Ermittlung des subjektiven Tatbestands Grundsätzliches über „Psychologie und Recht" PAUL H . BRESSER

Jeder strafrechtlich relevante Tatbestand weist äußere und innere Tatbestandsmerkmale auf. Der Spielraum für eine differenzierende Betrachtung des inneren oder auch subjektiven Tatbestandes ist von sehr unterschiedlicher Weite. Bei einfachen Aneignungshandlungen liegt das rechtliche Schwergewicht der Beurteilung in der Regel beim äußeren oder objektiven Tatbestand. Die seelischen Determinanten des Handelns konzentrieren sich sehr eng um den Bereicherungswillen, selbst wenn das Aneignen mehr auf Lust- als auf Sachgewinn gerichtet ist. Fahrlässigkeit steht nur selten zur Diskussion. Auch die Frage des Tatbestands- oder des Yerbotsirrtums kann in diesem Bereich der Rechtsverletzungen nur bei ganz ungewöhnlichen Tatkonstellationen sinnvoll erörtert werden. Wenn dagegen ein Mensch die Tötung eines anderen herbeiführt, dann ist für den inneren Tatbestand die Skala der Möglichkeiten breit gefächert. Was in solchen Fällen mit dem Willen und Wissen des Täters, was mit Vorsatz oder auch durch Fahrlässigkeit begangen wurde und ob über eine geplante Drohung oder Körperverletzung hinaus Tötungsabsicht vorlag, bedeutet für die strafrechtliche Bewertung der „verursachenden" Handlung und für die Beurteilung des Täters bekanntermaßen außerordentlich viel. Es steht dem Psychologen oder auch dem Psychiater nicht zu, auf die rechtlichen Dimensionen von Tötungshandlungen ausführlicher einzugehen, aber es sollte jedem Sachverständigen bewußt sein, daß der Jurist eine Fülle von differenzierenden, qualifizierenden und privilegierenden Aspekten für die Beurteilung der Schuld zur Verfügung hat, unter denen er die abstrakten, oft sehr lebensfern klingenden Rechtsbegriffe in sowohl lebensnahe als auch „gerechte" Urteile einbaut. Dies erfordert im hohen Maße kritisch verarbeitete Menschenkenntnis und gleichsam praktisch-psychologische Fähigkeiten. Bei jeder Prüfung einer objektiv rechtswidrigen Handlung werden schon im Ermittlungs-, vor allem aber im Strafverfahren durch den Juristen Entscheidungen über subjektive oder innere Tatbestandsmerkmale getroffen, ohne daß hierbei eine „wissenschaftliche" Analyse erfolgt. Lebenserfahrung und Vernunft bilden tagtäglich nicht nur die rechtliche, sondern auch die psychologische Grundlage für eine Unzahl von Verurteilungen, bei denen es stets um eine tat- und zugleich täterangemessene Strafe oder um andere Rechtsfolgen geht.

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Paul H. Bresser

Selbst die Entscheidung, ob ein Gutachter zur Frage der Schuldfähigkeit gehört werden soll, ist nicht selten auch ein psychologisches Problem, von allen anderen Gesichtspunkten der Menschen- oder Täterbeurteilung ganz abgesehen, für die kein ausgebildeter Psychologe zu Rate gezogen wird. Hier soll von allen Fragen der Schuldfähigkeitsbeurteilung abgesehen und grundsätzlich nur von geistesgesunden Tätern gesprochen werden. Das Thema „Psychologie und Recht" soll vorwiegend unter dem Gesichtspunkt erörtert werden, wieviel der „Psychologe" zur Ermittlung des inneren Tatbestandes beitragen kann. In der Rechtspraxis haben sich hierüber ganz erhebliche und teilweise geradezu verwirrende Verständigungsschwierigkeiten eingestellt. Unter der Zielvorstellung, daß bei der Ermittlung der inneren Tatbestandsmerkmale eine größere Objektivität und Wissenschaftlichkeit angestrebt werden müsse, wird mehr und mehr die Psychologie als vermeintlich zuständige Wissenschaft in Anspruch genommen. Der subjektive und der als unzuverlässig bezeichnete Maßstab des Richters soll durch sachverständige Erhebungen abgesichert, die rechtliche Differenzierung soll versachlicht und die teilweise erheblich divergierenden Täterbeurteilungen sollen besser abgestimmt werden. Daß solche Ziele utopisch sind, soll hier thesenhaft festgestellt und im folgenden mit einer Reihe von Argumenten erläutert werden. Zunächst ist geltend zu machen: Wenn bei der rechtlichen Würdigung einer Straftat subjektive Faktoren und Handlungsmotive berücksichtigt werden sollen, die womöglich nur dem Psychologen oder dem psychologisch erfahrenen Psychiater zugänglich sind, dann wäre zu fordern, daß diese wissenschaftliche Erkenntnisquelle bei jedem einzelnen Fall ausgeschöpft werden sollte, weil sich sonst zwangsläufig ein besorgniserregendes Mißverständnis in der Beurteilung zwischen den psychologisch durchleuchteten und den nicht unter den gleichen methodischen Gesichtspunkten untersuchten Fällen ergeben muß. Es wäre ein großer Irrtum, wenn bei den dem Anschein nach „einfach" gelagerten Fällen, für die eine besondere psychologische Aufmerksamkeit und der damit verbundene größere Aufwand nicht angebracht erscheinen, nicht grundsätzlich die Möglichkeit unterstellt würde, daß ebenso aufklärenswerte Hintergrundsfaktoren und verborgene psychologische Konstellationen vorliegen wie dort, wo das unmittelbare Verständnis schwieriger ist. Wer daher einmal den Psychologen befragt, müßte ihn regelmäßig und in jedem Falle befragen, sonst kommt über die subjektiven Divergenzen bei den wissenschaftlich nicht durchleuchteten Fällen hinaus ein Mißverhältnis noch dadurch zustande, daß bei der Auswahl der psychologisch zu Unter-

Die Ermittlung des subjektiven Tatbestands

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suchenden subjektive Maßstäbe angewandt werden, während zusätzlich eine Beurteilungskluft zwischen den Begutachteten und den Nichtbegutachteten entstehen könnte. Strebt der Jurist einmal an, alles, was die innere Tatseite betrifft, möglichst umfassend aufzuhellen, um es in anderen Fällen mit einer mehr generellen Zuordnung oder Subsumtion bewenden zu lassen, dann ist das unter Umständen ein schwerwiegenderer Grund f ü r eine Rechtsunsicherheit als der Verzicht auf eine wissenschaftliche Analyse. Es bliebe dann bei der im allgemeinen nicht ganz so oberflächlichen Urteilsbiidung des Richters, der „nach bestem Wissen und Gewissen" die Anwendung des Strafgesetzbuches auf strafrechtlich relevante Taten vornimmt, um sie in das Koordinatensystem von Rechtswidrigkeit, Ursächlichkeit, Vorsatz und Fahrlässigkeit einzuordnen. Die Forderung nach Uberwindung einer solchen Rechtsanwendung wird von verschiedenen Seiten mit der Behauptung begründet, die Psychologie habe im Zuge ihrer wissenschaftlichen Entwicklung so große Fortschritte gemacht und so grundsätzlich neue Erkenntnisse gewonnen, daß diese bei der Täterbeurteilung nicht unberücksichtigt bleiben dürften. Wer aber einmal kritisch und gewissenhaft der Frage nachgeht, was denn tatsächlich über das Rätsel Mensch und die Rätselhaftigkeit menschlichen Handelns neu erkannt worden ist, der wird schließlich zu der Erkenntnis kommen, daß für die psychologische Ergründung des Einzelmenschen, allenfalls neue Aspekte, aber keine neuen Erkenntnisse, teilweise sehr einfallsreiche und plausibel erscheinende Deutungen, aber keine wirklich tieferen Einblicke in die Determinationsstruktur menschlichen Handelns gewonnen worden sind. Was uns als Hilfe zum Verständnis wertvolle Dienste leisten kann, ist im psychologischen Bereich niemals als „objektive Feststellung", als eine zu verallgemeinernde Aussage oder als unumstößliche Erkenntnis zu werten. Es gibt weithin anerkannte Konzepte, Denkmodelle oder Entwürfe eines Menschenbildes, die beispielsweise dem Sexualtrieb, dem Machtstreben oder der Sehnsucht nach göttlicher Offenbarung einen zentralen Stellenwert zuordnen. Sie können eine eigene, mehr vorübergehende oder auch überdauernde erzieherische, psychotherapeutische oder das Glaubensbedürfnis des Menschen befriedigende Bedeutung haben. Jedoch dadurch, daß sie mit einem besonderen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und mit dem Odium der Entmythologisierung auftreten, kommt ihnen noch kein verbindlicher Erkenntniswert zu. Was die Stoiker über die Hintergründe und Abgründe der menschlichen Seele gewußt und was sie an „Weisheit" darüber hinterlassen haben, besitzt teilweise auch heute noch eine größere Ausdrucks- und Uberzeugungskraft als so manches allenfalls

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Paul H. Bresser

interessante moderne psychologische „Wissen". Psychologische Erkenntnis, soweit sie das Sosein des Enzelmenschen zu erfassen sucht, ist im wesentlichen nicht auf objektivierbare und in diesem Sinne wissenschaftliche Fakten, sondern in erster Linie und nahezu ausschließlich auf Erfahrung, „die zuweilen in Kennerschaft gipfelt", begründet 1 . O b überhaupt eine einzige „neuere" psychologische Aussage insbesondere von rechtlicher Relevanz ist und ob irgendeine „neuere" Interpretation innerer Erlebnisvorgänge für die Bemessung der Schuld von Bedeutung sein kann, darf wohl sehr in Zweifel gezogen werden. Wenn es überhaupt einen Fortschritt und nicht nur einen Wandel — was viel wahrscheinlicher sein dürfte — der Rechtsanwendung gibt, dann erwächst er sicher nicht aus psychologischen Erkenntnissen, sondern ausschließlich aus einer Änderung des rechtlichen Wertsystems. Dem Nichtjuristen drängt sich aus der Distanz — vielleicht nur aus Mangel an Einblick oder Einsicht — der Eindruck auf, daß die Wertordnung auch im Rechtsleben sich in kürzeren oder längeren zeitlichen Rhythmen ständig im Spannungsfeld zwischen Verabsolutierung und Verwässerung bestimmter Werte hin und her bewegt. Als Fortschritt scheint jeweils nur die Annäherung an das eine oder an das andere Extrem angesehen zu werden. Soweit — auf der Linie des zur Zeit vorherrschenden Fortschrittsglaubens — von der wissenschaftlichen Psychologie Hilfe erwartet wird, geht es um das Aufdecken neuer Determinationsfaktoren menschlichen Handelns, aus denen dann immer mit fast kurzschlüssiger Selbstverständlichkeit die Vermutung einer Minderung der Schuld oder gar der Schuldfähigkeit hergeleitet wird. Deshalb war einstmals die „Entdeckung", daß es selbst bei sonst geistesgesunden Menschen so etwas wie eine „Kleptomanie" geben soll, eine zur Beurteilung mancher ungewöhnlichen Seriendiebstähle willkommene Deutung — vielfach mit schuld- oder schuldfähigkeitsmindernden Konsequenzen. Nachdem der Begriff als Krankheitsbezeichnung von der psychiatrischen Wissenschaft längst abgetan war, blieben dennoch Einzelfälle mit hartnäckigen, dem Anschein nach „sinnlosen" Diebstahlhandlungen, an deren Rätselhaftigkeit die Richter immer wieder verzweifelten, weil „man sich das nicht erklären konnte". Als schließlich die Erklärung mit dem Etikett Kleptomanie und mit der Unterstellung einer Krankheit nicht mehr überzeugen konnte, kamen psychoanalytische „Erklärungen" ins Gespräch: Nicht bewältigter 1

H.-J. Rauch, Einfluß psychopathologischer Strömungen auf die forensische Psychiatrie, in: H . K r a n z (Hrgb.) Psychopathologie heute, Thieme Stuttgart 1962, S. 304).

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Die E r m i t t l u n g des subjektiven Tatbestands

Liebesentzug bedinge oder sei gar „ursächlich" für die Ersatzaneignung von Sachwerten. Daß dem Juristen eine solche Aussage bei der rechtlichen Würdigung des Handelns irgendwie weiterhelfen könnte, läßt sich kaum begründen, zumal mit dem Begriff „Ersatzhandlung" immer argumentiert werden kann. Da

der Liebesentzug

in

einem breiten

Spektrum

„gesucht"

wurde

— entweder dachte man an einen Mangel von Liebe und Nestwärme im Kindesalter oder an einen Mangel von sexueller Zuwendung und B e t t wärme im reiferen Alter — so w a r die C h a n c e groß, immer eine entsprechende Konstellation berücksichtigt,

daß

die

„aufzudecken". Menschen

mit

Dabei

blieb weitgehend

seltsamen

un-

Diebstahlsneigungen

durchweg schrullige Persönlichkeiten sind, die ohnehin für eine starke innere Zuwendung wenig Aufforderungsimpulse mitbringen. Das dimensionale Spannungsfeld von Ursachen — Wirkungen —

viel-

Paralleli-

täten — Symptomkombinationen und deren jeweilige Wechselbeziehungen l ä ß t unendlich viele Möglichkeiten

für

Zusammenhangsdeutungen

offen, aber die Rätselhaftigkeit dieser eigenartigen Menschen und ihrer Handlungen ist damit in keiner Weise gelöst. Zu dem o f t

quälenden

Problem der Beurteilung ihrer Schuld liefert keine als gesichert

ange-

sehene Deutung eine „objektive" oder wissenschaftlich abgesicherte H i l f e .

Schon immer hat die Neigung bestanden, für die besonders rätselhaften, die ungewöhnlich hartnäckigen und unverständlichen Fehlhandlungen des Menschen Sonderbegriffe zu schaffen und daraus rechtliche Sonderstellungen abzuleiten. Dennoch ist damit niemals das psychologische Problem solcher Fälle gelöst worden, man ist dem psychologischen Problem lediglich ausgewichen und zwar mit „wissenschaftlicher" Legitimation. So wurde der Begriff moral insanity geschaffen, der nichts anderes als eine psychologische Kapitulation gegenüber den darunter zusammengefaßten offenen Fragen darstellte. Die Geschichte des Aufkommens und des Verfalls ähnlicher — jeweils aus einer rationalen Verzweiflung geborenen — Begriffe ließe sich als Leidensgeschichte des Rechtslebens darstellen. Inzwischen ist einer „Persönlichkeitsentartung", die nicht auf „Charaktermängeln" beruht, die höchstrichterliche Anerkennung zugesprochen worden10. Viele sehen darin einen Fortschritt, einen neuen Orientierungspunkt. Tatsächlich stellt aber auch dieser Begriff nichts anderes dar als den Versuch, Mißverständnisse auszuräumen, um sie — de facto — durch neue Mißverständnisse zu ersetzen. Wenn keine grundsätzliche Verständigungsbereitschaft vorliegt, dann kann sogar der Ausdruck Charakterschwäche, für den der BGH einen festen Inhalt zu unterstellen scheint, ins Zwielicht der Mißverständnisse gerückt werden. Im übrigen ließe sich leicht so argumentieren, daß jede „Persönlich10

B G H S t . 14, 3 3 .

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keitsentartung", die nicht durch eine K r a n k h e i t verursacht ist, nur aus einer Charakterschwäche erwachsen kann oder gar den Beweis einer Charakterschwäche liefert. Wer hinreichend E r f a h r u n g gesammelt hat, dem erscheint der Begriff moral insanity bei einzelnen Fällen eines geradezu reuelosen Rechtsbrechertums genauso verständnisfördernd und unter U m s t ä n den verständnishindernd wie die Wahl des Begriffes „Persönlichkeitsentartung" bei besonders triebbesessenen Sexualdelinquenten. Keiner dieser Begriffe ist klarer oder grenzschärfer als der andere, keiner verhilft zu einem objektiven oder objektivierbaren Urteil und keiner schützt vor rhetorischem Mißbrauch. Der Begriff Kleptomanie — um ihn noch einmal beispielhaft aufzugreifen — liefert zweifellos f ü r manchen Aneignungsabenteurer eine treffende Kennzeichnung, aber wenn man sieht, wie zum Teil auch heute noch bei banalen L a d e n diebstählen im Rückfall eine Beziehung zur Kleptomanie hergestellt wird, dann wird sehr schnell deutlich, wie leicht ein pseudowissenschaftlicher Psychologismus sich mit dem Anschein nach schlüssigen Argumenten rüsten kann. Eine vielfach dargelegte Gedankenkette lautet etwa so: Zur Zeit des Ladendiebstahls hatte der Täter genügend Geld bei sich, um die gestohlene Ware zu bezahlen — also ist der Diebstahl sinnlos. Der Täter führt sonst ein sozial angepaßtes Leben, so daß die Diebstahlshandlung auch persönlichkeitsfremd ist. Als er dann auf frischer Tat gestellt wurde, hat er erkennbar so entsetzt und „sich selbst nicht verstehend" reagiert, daß er vorher — zur Tatzeit — in einer Ausnahmeverfassung gewesen sein muß. Daß die meisten Ladendiebe zur Zeit der Tat „genügend" Geld bei sich haben und sonst kriminell nicht in Erscheinung treten, wird völlig vernachlässigt. Wie soll im übrigen ein Mensch beim unverhofften Gestelltwerden anders als entsetzt oder auch „sprachlos" reagieren? Besonders überzeugungskräftig für eine triebhafte kleptomane Handlung scheint die „Einlassung": „Ich habe selbstverständlich bemerkt, daß ich beobachtet wurde, aber gerade das hat meinen Drang zum Stehlen noch verstärkt, gerade das hat mir Lustgewinn verschafft." Damit distanziert sich der Täter von jedem Dieb, der verbrecherisch oder aus Besitzstreben handelt. Es soll später noch darauf eingegangen werden, daß es keine psychologische Erkenntnismethode gibt, um solche oder ähnliche Einlassungen auf ihre „Echtheit" oder „Ehrlichkeit" zu prüfen. Glaubt man sie, so lassen sie sich nicht widerlegen; glaubt man sie nicht, so lassen sie sich nicht beweisen. Mißt man ihnen Gewicht bei, dann gilt es zu entscheiden, ob solche Argumente schuldmindernd, schulderschwerend oder gar schuldfähigkeitsrelevant sind. Mißt man ihnen kein Gewicht bei, gerät man in den Verdacht, unpsychologisch zu urteilen. Damit steht der Richter vor dem Dilemma einer psychologiegerechten Urteilsfindung. Daß er den Nothelfer im Sachverständigen sieht — ihm den „Schwarzen Peter" zuspielt — und den Ausweg über Zweifel an der Schuldfähigkeit suchen

D i e Ermittlung des subjektiven T a t b e s t a n d s

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möchte, ist verständlich. Nicht immer verständlich ist: aber, daß der Sachverständige oft geneigt ist, angesichts der hier offenen Fragen mit fast überheblichen Erkenntnisansprüchen aufzutreten und auch selbst zu glauben, aus fachspezifischen Erkenntnissen Abhilfe in dieser N o t l a g e schaffen zu können. Selbst „therapeutisch" ist bei solchen Tätern, soweit sie durch Strafe nicht beeindruckbar sind, soweit nicht „Spontanheilungen" eintreten oder soweit eine Abkehr vom Unrecht „aus Einsicht" nicht erfolgt, selten etwas zu erreichen, wenn nicht eine mit großen persönlichen O p f e r n — an Zeitaufwand, finanzieller Belastung oder anderen Formen der Lebensbeschränkung — verbundene Behandlung geplant und durchgeführt wird, wozu allerdings die Bereitschaft meistens fehlt.

Wenn wir zu der Feststellung kommen, daß menschliches Handeln, insbesondere aber die Fehlverhaltensweisen des erwachsenen und geistesgesunden Menschen in ihrer Geheimnisträchtigkeit zwar unter immer neuen Aspekten betrachtet oder mit immer neuen Begriffen belegt, aber niemals allseits befriedigend erklärt: werden können, dann ergibt sich für die Rechtspraxis die Konsequenz, daß ein Standpunkt gefunden werden muß, der aus einer umfassenden Synopsis aller möglichen Aspekte herausragt und sich durch Schlüssigkeit und Bündigkeit der von ihm getragenen Aussagen auszeichnet. D a s einzige zur Uberschau fähige Organ ist der so vielgeschmähte und oft wohl auch schlagwortartig mißbrauchte „gesunde Menschenverstand", der Einfaches einfach sein läßt und zugleich Ungewöhnliches oder Kompliziertes angemessen zu erfassen oder zu würdigen vermag. Erkenntnisse, die durch ein psychologisches Vergrößerungsglas gewonnen werden, überzeichnen meist einen — oft sehr willkürlich gewählten — Ausschnitt aus dem Gesamtbild des Menschen und verhindern den Uberblick über das gesamte Umfeld mitbestimmender Faktoren. Selbst wenn es gelingt, theoretische oder methodengebundene Vorurteile zu vermeiden, scheitern fast alle psychologischen Analysen der inneren Tatbestandsmerkmale an der durchgehenden Zwiespältigkeit des Menschen. So wie in jedem Menschen „das Gute" neben „dem Bösen" wirksam ist, so gibt es — außer bei extrem abnormen, deshalb aber keineswegs immer „krankhaften" Tätern — neben dem Willen zur T a t stets auch das Nichtwollen der Tat. Daher ist die Redewendung: Ich habe es ja nicht gewollt, auch dann noch glaubwürdig, wenn der Tathergang beweist, daß die T a t mit Wissen und Wollen geschah. U n d selbst die im Lichte der Selbstkritik gewollte T a t ist immer auch mit Gegenregulationen verbunden, die beim Versuch des Verstehens vorwiegend ins Unterbewußtsein lokalisiert werden. Soweit der Schuldspruch von einem Abwägen der bewußten und der unbewußten Faktoren abhängig gemacht werden soll und hierzu der

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Psychologe befragt wird, lassen sich die Feststellungen fast immer je nach dem persönlichen oder methodischen Standpunkt sehr einseitig akzentuieren. So kann beispielsweise bei jedem Sexualdelikt entweder das „Ubergewicht" des Triebes gegenüber den Hemmungskräften in den Vordergrund gestellt oder das Versagen der Triebregulierungen gegenüber einem an sich normalen Trieb überbetont werden. Im einen Fall steht der „abnorme" Trieb, im anderen Fall die „Charakterschwäche" im Vordergrund. Die angelegten Beurteilungsmaßstäbe beinhalten dann immer stillschweigend auch eine Wertung des Sexualtriebes. Bekräftigt der Täter mit heiligen Eiden seine guten Vorsätze und stellt sein Versagen als gänzlich unverständliches Geschehen dar, unterdrückt er — aus Scham oder sehr zweckbetont — seine geheimsten Gedanken und Wünsche, die maßgebend für die Tat waren, dann ist es mit keiner psychologischen Methode möglich, aufzuklären, was wirklich in dem Täter vorgegangen ist, ob seine Beteuerungen ehrlich sind, ob sich darin nicht das natürliche Selbstrechtfertigungs- und Selbstentlastungsbedürfnis des Menschen durchsetzt oder ob alle Erklärungen zur Motivation nur ein Gerede und ein Scheinmanöver darstellen. Zwischen den im Augenblick einer Fehlhandlung maßgebenden Bestimmungsfaktoren des Handelns, den sogenannten Motiven, und dem, was nachträglich selbst bei offener Aussagebereitschaft über die Motivation gesagt werden kann, liegt oft eine tiefe Kluft, über die auch von dritter Seite nicht leicht eine allseits befriedigende Brücke des Verständnisses gebaut werden kann. Ob hier das allgemeine Menschenverständnis, irgendeine psychologische Methode oder die bei der rechtlichen Würdigung oft unterstellten Zuordnungen eine größere Annäherung an die Wahrheit oder ein überzeugenderes Verständnis vermitteln, läßt sich sehr unterschiedlich, aber in keiner Hinsicht endgültig beantworten. W. Rasdn. hat in seiner Studie über die „Tötung des Intimpartners" 2 an einem Fallbeispiel deutlich herausgestellt, vor welchen Divergenzen derjenige oft steht, der die „innere" Tat- und Tatvorbereitungssituation beurteilen soll: Ein M a n n droht seiner in Scheidung lebenden E h e f r a u , d a ß er sie umbringen werde, und er spricht auch gegenüber anderen d a v o n . Er bittet aber auch wieder u m Verzeihung f ü r seine D r o h u n g e n und bezeichnet sie als nicht ernst gemeint. Schließlich f ü h r t er die T ö t u n g auf äußerst brutale Weise aus. D e m Gutachter gegenüber macht er später geltend: „Wenn ich meine F r a u hätte umbringen wollen, dann müssen Sie mir schon so viel Intelligenz zutrauen, d a ß ich es nicht schon vorher in der Welt h e r u m p o s a u n e . " Dieser A u s s a g e liegt die n a i v e Unterstellung zu2

Enke Stuttgart 1964, S. 58 f.

Die Ermittlung des subjektiven Tatbestands

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gründe: „So handelt kein Mörder." Die Ambivalenzen im Verhalten vor der Tat werden von Rasch in der folgenden Weise gegenübergestellt: „Stellt der geschiedenen Frau nach Droht mit Verunstaltung Greift sie wiederholt tätlich an Droht mit Gewalttat Kauft sich Revolver Präpariert den Revolver für scharfe Munition Erwähnt seiner Frau gegenüber die Waffe und behauptet, ein guter Schütze zu sein Verheimlicht bei der Polizei den Besitz des Revolvers

Packt am Tattage den Revolver ein Nimmt Straßenbahn zum Tatort Steigt in Taxe zum Tatort um Lauert der geschiedenen Frau auf

Verlobt sich anderweitig Bittet um Verzeihung Verlangt nur Aussprachen, schreibt Entschuldigungsbriefe Bittet um Einsehen und gutes Auseinanderkommen Die Waffe ist für Schreckschußund Gasmunition Stellt bei Schießproben geringe Durchschlagskraft fest Hat die Waffe nur zum Schutz gegen den Vermieter gekauft, für Silvester und zu Bastelzwecken Verständigt eine Tageszeitung vom Revolverbesitz und daß er gegen seine Frau vorgehen werde, nennt dabei seinen Namen Nimmt wie immer Arbeitszeug und Frühstücksbrote mit Nimmt Straßenbahn zum Arbeitsplatz Steigt in Straßenbahn zum Arbeitsplatz Will sich vor ihr erschießen, nimmt vorher Tabletten ein Schießt auf sich selbst."

Schießt auf die Frau Hierzu schreibt W. Rasch weiter: „Die Gegenüberstellung dieser gegensetzlichen Handlungsketten macht deutlich, daß die spätere E n t scheidung über die Absicht, die man dem zu beurteilenden Tun unterlegen will, davon abhängt, von welcher Seite man sich der T a t zu nähern versucht bzw. welche der beiden Handlungsketten man aufzuspulen sucht." Wenn sich die polar gegenüberstehenden Faktorenketten nicht in offenkundigen Verhaltensmerkmalen, also in Hancllungsketten, darstellen, sondern mehr als ein inneres „Hin und H e r " , als ein Wechselspiel von Wollen und Nichtwollen ablaufen, dann ist ihre Erfassung nur möglich, wenn der Täter offen darüber berichtet. Aber wer wird das schon wollen oder auch können, wenn es um das Eingeständnis eines belastenden Rechtsbruchs geht? O f t ist es kaum zumutbar, in der Konfrontation mit der ganzen Wahrheit zu leben, und im Strafverfahren ist es in der Regel sogar empfehlenswert, nicht sein ganzes Inneres zu offenbaren. Seelisch oder auch rechtlich entlastend mag es sein, die T a t einzugestehen — selbst das kann unter Nützlichkeits-

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erwägungen nicht immer empfohlen werden —, aber alle die geheimen Regungen zu offenbaren, die entweder das Schamgefühl schützt oder die einen Einblick in die Schattenseiten des Wollens geben könnten, ist aus psychologischer Sicht unzumutbar. Der Rechtsbrecher hat das Recht, den Zugang zur inneren Tatseite zu verbauen oder einzuengen, um es dem Richter zu überlassen, von der Warte seiner Erfahrung und seiner Rechtsauffassung aus der Tat auf die ausschlaggebenden inneren Faktoren zu schließen. D a ß der Psychologe die Aufgabe bekommt und auch übernimmt, den Zugang zum inneren Geschehensablauf zu erleichtern, kann auf ernste menschliche oder sogar auf strafprozeßrechtliche Bedenken stoßen. Die Erfahrung lehrt, daß einzelne Psychologen oder auch Psychiater, soweit sie ausdrücklich zu der inneren Konstellation einer Tat Stellung nehmen sollen, mit großer Entdeckerfreude bevorzugt auf alles das eingehen, was nach allgemein menschlichen Maßstäben als „positive" Seite der Persönlichkeit und als entlastendes Moment erscheint. Ein offenes Wort darüber, was sich im Trieb-, Vorstellungsoder Gedankenleben an Möglichkeiten der Berechnung, der Eigennützigkeit, der Boshaftigkeit oder der Grausamkeit auftut, wird meist vermieden. O f t erscheint schon die sehr realistische, von der Biographie hinreichend belegte Feststellung, es handele sich um einen brutalen, gemütsarmen, triebhaften oder willensschwachen Menschen, als eine mit dem „psychologischen Gewissen" schwer vereinbare Aussage. So hat ein Fachvertreter sogar gemeint: Begriffe wie triebhaft, gemütsarm, willensschwach seien „psychiatrisch verbrämte Verbalinjurien". Selbst bei dem kaltblütigsten Täter wird noch wortreich erläutert, was er auch an fürsorglichen Leistungen erbracht und an gemütvollen inneren Regungen bekundet hat. Sicher ist kein geistesgesunder Mensch im wörtlichen Sinne gemüt/os. Deshalb trifft allenfalls der Ausdruck gemüts^rm zu. Jeder empfindet irgendwelche Gemütsregungen, die allerdings oft recht sentimental anmuten. Aber schon die Zuordnung zum „Sentimentalen", also zum Unechten, setzt Erkenntniskriterien voraus, die nicht objektivierbar sind, sondern allenfalls einleuchtend gemacht werden können. Vor allem läßt sich die Einschätzung der manchmal sehr spärlichen Reste gemüthaften Erlebens und Handelns in der Gegenüberstellung zu den evidenten Beweisen der Gemüts- und Bindungsschwäche nicht nach einer präzisen Messung vornehmen. Hier kann nur der nüchtern urteilende Verstand das Mehr-oder-Weniger der Gemütskräfte abwägen, um die Valenzen größerer oder geringerer Gemütsarmut zu erfassen. O f t besteht auch die Tendenz, das Faktum einer erheblichen Willensschwäche durch den Hinweis auf zahlreiche gute Vorsätze und einzelne echte Willensleistungen zu verniedlichen, und zwar unter völliger

Die Ermittlung des subjektiven Tatbestands

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Verkennung der psychologischen Tatsache, daß die Fülle guter Vorsätze, die bisher nur Vorsätze blieben, erst das Ausmaß der Willenschwäche verdeutlicht und manche vermeintliche Willensleistung mehr durch die Gunst der Umstände als durch eigenen Willenseinsatz zustande kommt. Die abwägende Urteilsbildung von der Warte einer allgemeinen Menschenkenntnis verhilft auch in diesen Fällen leichter zu einer angemessenen Erfassung der Persönlichkeit als die allzu subtile und oft einseitige Hervorhebung von Einzelfakten. Es soll in diesem Zusammenhang nur kurz darauf hingewiesen werden, daß psychologische Feststellungen und vor allem auch „Testbefunde", soweit es sich nicht um sehr globale Zuordnungen (z. B. extravertiert — introvertiert, intelligent —nicht intelligent) handelt, jeweils nur wie Bausteine sind, von denen man nicht unmittelbar ablesen kann, an welcher Stelle sie iri das Ganze einzuordnen sind. Testuntersuchungen liefern zwar Fakten, aber ihr Stellenwert im dynamischen Gefüge der Erlebniswirklichkeit und in der Determinationsstruktur des Handelns läßt sich im Einzelfall schwer oder sogar überhaupt nicht bestimmen. N u r die an den erwiesenen Verhaltensmerkmalen und an evidenten Leistungsbeweisen orientierte Gesamtschau der Persönlichkeit liefert ein annähernd zuverlässiges Bild, auf das sich die „Täterbeurteilung" stützen kann. Noch so interessante Detailbetrachtungen helfen oft wenig weiter, ja sie bringen die Gefahr mit sich, den Blick für die dominanten Züge und für die Gesamtkontur des Individuums zu verlieren. Es sei aber nicht verkannt, daß zwischen ganz umschriebenen Auffälligkeiten und den „großen Zügen" der Persönlichkeiten oft ein sehr einleuchtender Zusammenhang besteht und daß es charakteristische Konstellationen und typische Merkmalskombinationen gibt, die sich in einer Typologie der Persönlichkeit erläutern lassen. Lebensnahe und nicht aus einem Systemzwang erwachsene Typologien werden jedem Erfahrenen als Orientierungshilfe stets brauchbar erscheinen. Typologische Zuordnungen sind keine Klassifizierungen nach dem Prinzip eines Entweder-oder, sondern beschreibende Kennzeichnungen unter dem Gesichtspunkt des Mehr-oder-Weniger. Sie erfassen in einer Synopsis die vorherrschenden Strukturprägungen einer Persönlichkeit und dienen auf diese Weise einerseits als Verständnis-, andererseits als Verständigungshilfe. Wenn im Einzelfall etwas psychologisch Relevantes über die Täterpersönlichkeit und damit auch über die innere Tatseite eines Rechtsbruches ausgesagt werden soll, kann auf eine an typologischen Begriffen orientierte Kennzeichnung des Täters nicht verzichtet werden. Erst auf diesem Hintergrund findet jede Einzelhandlung und das Spezifische oder Dominante der „Handlungsketten" eine sinnvolle

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und schlüssige Einordnung. Ob darüber hinaus Zuverlässiges über einen inneren Tatbestand gesagt werden kann, läßt sich auf Grund der Standpunktgebundenheit der Betrachtung und der Relativität der meisten Feststellungen weitgehend bezweifeln. N u n kommt aber bei der Beurteilung des „inneren Tatbestandes" immer noch eine das aktuelle Wollen und Wissen übergreifende und eine über die Strukturprägung hinausgehende Dimension hinzu, die sich der psychologischen Methodik gänzlich entzieht. Es ist der „moralische" Hintergrund des seelischen Seins, das mehr oder weniger ausgeprägte Verantwortungsbewußtsein, die grundsätzliche Einstellung zum Leben sowie zu den Mitmenschen und alles das, was in dem Begriff „Gesinnung" zusammengefaßt werden kann. Diese innere Haltung oder Einstellung eines Menschen hat zwar ihre Beziehungen zur Charakterstruktur, aber alle weltanschaulichen Einflüsse, alle bekenntnishaften Zielsetzungen oder auch ein Mangel derselben geben dem Motivations- und Determinationsgefüge des menschlichen H a n delns eine eigene Note, üben unter Umständen entscheidenden Einfluß aus und ermöglichen oder verhindern letzten Endes jede Straftat. Den „inneren Tatbestand" eines Rechtsbruchs ohne diesen Bereich zu betrachten, macht eine rechtliche Würdigung unmöglich, aber gerade in diesem Bereich hat der psychologische Erkenntnisdrang und das psychologische Erkenntnisvermögen seine Grenze. Psychologie darf nicht Moralpsychologie, Gesinnungsschnüffelei oder Auslotung der Weltanschauung sein. Dazu fehlt jeder methodische Ansatz und jedes begriffliche Rüstzeug. Dem Richter steht es jedoch zu, sich aus der Perspektive des festgestellten Tatbestandes und der ihm sichtbar gewordenen psychologischen Gegebenheiten auch über die innere H a l tung, die moralische Wertorientierung und gegebenenfalls über den Überzeugungshintergrund der abzuurteilenden Tat ein wenigstens summarisches Bild zu machen. Er kann aber nicht vom Sachverständigen verlangen, Gewissenserforschung zu treiben, die Echtheit von Uberzeugungen oder gar Glaubenshaltungen zu prüfen sowie die moralischen oder unmoralischen Determinanten des Handelns zu ermitteln. Wenn wir den inneren Tatbestand in seiner ganzen Tiefe angemessen beurteilen, erscheinen alle Psychologisierungen — das sind die psychologisch zugänglichen Feststellungen und die dem Verständnis dienenden Aussagen — mehr oder weniger oberflächlich, vorläufig, relativ und es darf im Grunde nicht beunruhigen, wenn bei jeder Verurteilung gewisse Verkürzungen oder Vereinfachungen vorgenommen werden, ja unvermeidlich sind. Das Werturteil über eine strafbare Handlung umfaßt — soweit es nur die innere Tatseite angeht — viel mehr als den im engeren Sinne psychologischen Tatbestand. Es umgreift die Wurzeln des menschlichen Handelns im

D i e Ermittlung des subjektiven Tatbestands

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tieferen Grunde der „moralischen Person" und jede täterangemessene Verurteilung hat diese Bereiche ebenso zu berücksichtigen wie die jeweils augenblicksgebundenen innerseelischen Regungen, soweit sie überhaupt beweiskräftig erkennbar und begrifflich faßbar sind. Daraus ergibt sich vor allem die Konsequenz, daß der psychologischpsychiatrische Sachverständige nur sehr beschränkt zuständig ist, wenn es um die Beurteilung von Uberzeugungs- oder Gesinnungstätern geht, es sei denn, daß begründete Zweifel an der Schuldfähigkeit vorliegen. Wenn der Richter durch § 46 StGB verpflichtet ist, auch „die Gesinnung, die aus der Tat spricht", zu berücksichtigen, dann ist das ein nur ihm zustehendes Anliegen, das ihm kein Psychologe abnehmen kann, ja — bei rechtem Verständnis für die Psychologie als einer empirischen Wissenschaft — auch nicht abnehmen darf. Nach diesen Darlegungen, die sowohl die Grundlagen als auch die Grenzen psychologischer Urteilsbildung verdeutlichen sollen, sei noch auf einige „typische" Grenzüberschreitungen in der Gutachtenpraxis hingewiesen. Sie haben ihren Schwerpunkt in einer ganz auf den äußeren Tatbestand gerichteten Ermittlungsarbeit oder in einer psychologisch-spekulierenden Erörterung der Vorsatzproblematik. Psychologische oder auch psychiatrische Begutachtungen, bei denen es zu einem offenen Gespräch zwischen dem Sachverständigen und dem Probanden kommt, tragen ohne Zweifel gelegentlich dazu bei, den „äußeren Tatbestand" besser aufzuklären als dies im vorausgegangenen Ermittlungsverfahren erreicht wurde. So schildert H. Witter zwei Fälle, bei denen „die psychologische Verhaltens- und Tatanalyse durch den Sachverständigen wesentlich zur tatbestandlichen Klärung der Schuldformen" beitrug. Als Beispiel hierfür erwähnt er einen Gastarbeiter, „der in einer Kurzschlußhandlung seine deutsche Geliebte mit mehreren Messerstichen töten wollte, sie aber nur erheblich verletzte. Als das vom Gastarbeiter sehr geliebte gemeinsame 4jährige Kind während der tätlichen Auseinandersetzung herbeilief, verletzte der Gastarbeiter beim Ausholen zum Stich gegen die Geliebte das Kind mit einer einzigen Bewegung tödlich, ohne es selbst zu bemerken 3 ". Mit der Aussage, „ohne es selbst zu bemerken", ist ein entscheidender Akzent gesetzt, der einerseits den äußeren Tatbestand „beim Ausholen zum Stich" als Feststellung herausarbeitet und dann zwangsläufig daraus auf den „inneren Tatbestand" riickschließt. D i e Grenze der Psychologie ist damit eindeutig überschritten. Allenfalls kann der Gutachter geltend machen, daß er sein Urteil auf eine große Erfahrung im Umgang mit Rechtsbrechern und auf seine Fähigkeit in der Menschenbeurteilung stützt, aber nicht, daß ihm hier eine wissenschaftlich begründete Erkenntnis weitergeholfen hat. Der Richter mag dann dankbar für solche Ermitt3

H a n d b u d i der forensischen Psychiatrie, 2. Bd., S. 1000.

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lungshilfe sein. Er könnte aber auch an der Kompetenzüberschreitung Anstoß nehmen.

H. Witter meint, daß sich vor allem bei Tötungsdelikten „aufgrund der psychologischen Analyse" ergeben kann, „daß nicht der § 2 1 1 StGB, sondern die §§212 und 213 StGB anzuwenden sind" 4 . Es kann garnicht deutlich genug hervorgehoben werden, daß der Gutachter auf diese Weise tatsächlich sehr weit in den Bereich richterlicher Kompetenzen eindringt und eine eigenständige Beweiswürdigung vornimmt. Soweit hier noch Aufklärung über den „inneren Tatbestand" vermittelt wird, geschieht es nur auf dem Weg über Vorentscheidungen, wie es „tatsächlich" gewesen sein soll. Die psychologischen Erkenntnisse gehen hier über allgemeine Rückschlüsse aus dem äußeren Tatbestand nicht hinaus. Wenn der Richter aber vom Sachverständigen erwartet, daß dieser solche „Aufklärungsarbeit" leistet, dann kann dies im höchsten Maße bedenklich stimmen. Das Ergebnis der Begutachtung würde dann in der Tat zum Vorentwurf des Richterspruchs. Aus der Gutachtenpraxis ließen sich zahllose Beispiele dafür beisteuern, daß der Sachverständige mehr über die Rekonstruktion der Tat als über die Psychologie des Täters ausführt. Einen großen Mangel haben solche Gutachten vor allem deshalb, weil sie meist sehr einseitig von den Erklärungen oder Einlassungen des Begutachteten, also von der Tatdarstellung des Beschuldigten, ausgehen. Das mag bei Beschuldigten, die um große Ehrlichkeit und „Objektivität" bemüht sind, vertretbar sein, aber der Sachverständige übernimmt — wenn er die Angaben für zuverlässig hält — unter Umständen eine voreilige Entscheidung über die Glaubwürdigkeit, ohne hierfür einleuchtende Beweiskriterien zu liefern und ohne sich kritisch mit den möglichen Gegenargumenten auseinanderzusetzen. D a ß daraus ein hoher Grad von Befangenheit erwachsen kann, wird dem Sachverständigen — und sogar den meisten Prozeßbeteiligten — oft nicht bewußt. Die Gefahr, in dieser Weise kompetenzüberschreitend tätig zu werden, ist in erster Linie dann gegeben, wenn der Sachverständige „nach den Motiven der T a t " gefragt wird. Ganz entscheidend gemindert würde diese Gefahr nur, wenn der Sachverständige sich ausschließlich darauf beschränkt, die im Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen der Schuldfähigkeit, also die Frage nach einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung, einem Schwachsinn und einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat zu erörtern. Ohne auf die Vielzahl der Varianten einer kompetenzüberschreitenden Tatbestandsaufklärung einzugehen, sei noch auf das ebenso 4

A. a. O., S. 999,

D i e Ermittlung des subjektiven Tatbestands

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problematische Einmischen in die Vorsatzproblematik eingegangen. Ich greife zunächst wieder ein Beispiel von H. Witter auf: „Wir haben einen Mann begutachtet, der nach häuslichem Streit in einer Explosivreaktion Gegenstände seiner Wohnung zertrümmerte und dabei einen erst viel später bemerkten Brand verursachte, der fremde Hausbewohner in Lebensgefahr brachte. In der Anklage war zunächst vorsätzliche Brandstiftung angenommen worden, im Urteil wurde auf fahrlässige Brandstiftung erkannt 5 ."

O b der Täter in seiner seelischen Verfassung einer Explosivreaktion „erst viel später" die Brandverursachung bemerkte und in seiner Zerstörungswut nicht die zusätzlichen Schäden durch den Brand billigend in Kauf nahm — dies aber später bestritt —, läßt sich mit einer psychologischen Methode nicht zuverlässig feststellen, vielmehr wird — teilweise mit ganz bestimmten Unterstellungen über den äußeren Tatablauf — auf die subjektiven Voraussetzungen, Vorsatz oder Fahrlässigkeit, geschlossen, also eine nur dem Juristen zustehende Beurteilung der Schuldformen vorgenommen und nicht etwa die an den Sachverständigen zu stellende Frage der Schuldfähigkeit in den Vordergrund gestellt: War der Täter in seiner Erregung überhaupt schuldfähig für eine Vorsatztat? Wenn die empirisch verläßlichen Anhaltspunkte für die Annahme einer Einschränkung der Schuldfähigkeit nicht ausreichen, wird von manchen Sachverständigen nicht selten der Rückzug auf eine Erörterung der Schuldformen angetreten. Begegnen sich Jurist und Sachverständiger auf einer gleichen Verständigungsebene und ist beiden jederzeit das Bewußtsein der Kompetenzgrenze gegenwärtig, dann kann ein aufschlußreiches und dem Richter als Hilfe dienendes Gespräch zustande kommen, aber die Gefahr ist nicht zu verkennen, daß hier leicht psychologisierende oder deutende Aspekte einfließen, die das Vorsatzproblem völlig verlagern. Beispielhaft sei hierzu der Fall aus einer Arbeit von R. zitiert:

Lempp

„Ein 15jähriger Jugendlicher, der von seinem sadistischen Vater über lange Zeit gequält wurde, geriet in eine sich zuspitzende Situation dadurch, daß er befürchten mußte, der Vater könnte von einem kleinen Diebstahl von ihm erfahren und ihn schwer bestrafen. Unter leichter alkoholischer Beeinflussung nahm er daher das väterliche Kleinkalibergewehr, versteckte sich und wartete die Rückkehr des Vaters ab. Er gab dann aus etwa 40 m Entfernung zwei Schüsse auf den Vater ab, die diesen lebensgefährlich verletzten. Für den vernehmenden Polizeibeamten war klar, daß er den Tod des Vaters „billigend in Kauf genommen hat", wenn er aus einer solchen Entfernung auf den Vater schoß. Für den Staatsanwalt war klar, daß der Entschluß zur Tat schon frühzeitig ge5

A . a. O., S. 1000.

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faßt wurde, schon vor dem Alkoholgenuß und daß daher eine actio liberia in causa vorliege und eine volle Verantwortlichkeit. Trotz der Bemühung des Sachverständigen konnte auch das Gericht die Tat nicht anders sehen als einen vorgeplanten Mordversuch. Dabei war bezüglich des Vorsatzes offensichtlich nicht berücksichtigt worden, welche Rolle die zweifellos schon lange bestehenden Tötungsphantasien des Jungen hatten. Wenn der Junge vor der Polizei zugab, schon einige Stunden vor der Tat die Absicht gehabt zu haben auf den Vater zu schießen, dann ist der Verdacht groß, daß der Junge selber zwischen einer solchen Handlung in der Phantasie und dem konkreten Vorsatz selbst nicht sicher unterscheiden konnte. In der Phantasie werden die Väter von ihren Söhnen viel häufiger ermordet als diese glauben, ohne daß daraus die konkrete Tat erwachsen würde. Hierzu war u. a. auch der Alkohol notwendig. Es war in diesem Falle viel wahrscheinlicher, daß der Junge die Tat nicht ausdrücklich geplant hatte, sondern in alkoholischer Beeinflussung und in Enthemmung in einer momentanen Konfliktsituation lange gehegten Phantasien nachgegeben hat, was etwas anderes ist als ein vorsätzliches Planen. . . . In dem obengenannten Beispiel ist weiterhin die Frage zu stellen, ob der Sohn seinen Vater wirklich töten wollte bzw. ob er seinen Tod „billigend in Kauf nahm". Aus der äußeren Beurteilung der Situation scheint das offenbar und die Behauptung des Jungen, er habe den Vater nicht töten wollen, er sei ein so guter Schütze, daß er auf 40 m ihn hätte töten können, wenn er gewollt hätte, scheint wenig glaubhaft. Klar wird der Vorsatz aber dann, wenn man tiefenpsychologisch das Handlungsziel des Jugendlichen klar macht. Was wollte der Junge? Er wollte zweifellos endlich einmal dem unterdrückenden Vater beweisen, daß er, der Sohn, der Stärkere ist, vor dem auch der Vater sich fürchten muß. Hätte er das erreicht, wenn er ihn getötet hätte? Einem toten Vater kann er nicht als Sieger gegenübertreten, nur einem schwer verletzten und beinahe getöteten. Ich kenne aus meiner Gutachtenpraxis eine ganze Reihe von solchen versuchten Vatermorden, die alle eigentlich nicht den Tod, sondern nur die Demonstration ihrer Überlegenheit über den Vater beabsichtigt hatten, wobei diese Absicht ihnen oft selbst nur unklar bewußt ist6." Der Sachverständige hat sich in diesem Fall also bemüht („Trotz der Bemühungen des Sachverständigen"), die Erwägungen des Gerichts zur Vorsatzfrage „tiefenpsychologisch" zu widerlegen. In der Erläuterung spricht er von „Vatermorden", die „eigentlich nicht den Tod, sondern nur die Demonstration ihrer Überlegenheit über den Vater beabsichtigt hatten" — die aber doch wohl „Vatermorde" waren. Die richtige Vorsatzbeurteilung kommt nach der Meinung von Lempp demnach nur zustande, „wenn man tiefenpsychologisch 6 Die Verständigung über das Tatmotiv im Jugendgerichtsverfahren, Zentralblatt für Jugendredit 62, 1975, 47 f.

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das Handlungsziel der Jugendlichen klarmacht". Aber eben diese „Klarstellungen" sind nichts anderes als Deutungen, gutgemeinte Unterstellungen, vielleicht verständnisfördernde Denkansätze, aber rechtlich weitgehend irrelevante Aspekte — wie denn das Gericht wohl auch richtig erkannt hat. Von psychologischer Seite werden gegen die Vorsatzentscheidungen im rechtlichen Sinne deshalb oftmals Bedenken geäußert, weil ein klar gefaßter und innerlich uneingeschränkt bejahter Vorsatz in einer psychologisch erkennbaren und rückblickend nachweisbaren Weise nur äußerst selten vorliegt. Das rationale Merkmal des Vorsatzes wird durch das „Aufdecken" unbewußter oder irrationaler Determinanten, durch symbolische Deutungen und oft geradezu verlockende Interpretationen derart relativiert, daß sich regelmäßig die Annahme eines Vorsatzes im rechtlich relevanten Sinne in Frage stellen läßt. So wie die Freiheit des Willens anerkanntermaßen empirisch nicht belegt und im Strafrecht nur unterstellt werden kann, ist bei entsprechenden äußeren Tatkonstellationen auch der Vorsatz zum Rechtsbruch vielfach nur eine von der Annahme der Willensfähigkeit des geistesgesunden Menschen ausgehende Unterstellung. Wird diese Position zu Gunsten eines psychologischen Vorsatzbegriffes aufgegeben, dann sind rechtliche Entscheidungen im Sinne des geltenden Gesetzes kaum noch möglich. Daraus kann zwar die Gefahr eines gänzlich „unpsychologischen Rationalismus" erwachsen, von dem H. Leferenx einmal gesprochen hat 7 . Dem ist aber nur vorzubeugen durch ein allgemeines Menschenverständnis, das einerseits dem überspitzten Rationalismus und andererseits dem überspitzten Psychologismus Grenzen zu setzen hat. Sicher ist es richtig, daß „juristischerseits der Hang nach einer allzu rationalistischen und intellektualistischen Psychologie" besteht, worauf auch H. Bürger-Prinz hingewiesen hat 8 . Ebenso richtig ist es aber auch, daß der Psychologismus zum rechtlichen Nihilismus führen kann, wie dies beispielsweise H. Wildermuth dargelegt hat 9 . Es ist hier nicht der Raum, um die Vielschichtigkeit der psychologisch-rechtlichen Überschneidungen und die Schwierigkeiten der Kompetenzbestimmung noch ausführlicher zu erläutern. Der Kompetenzkonflikt zwischen Psychologie und Psychiatrie bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit ist demgegenüber wesentlich unproblematischer und bei psychopathologischen Sachverhalten eigentlich sehr viel klarer zu lösen. Lediglich für die Beurteilung des subjektiven Tatbestandes bei geistesgesunden Tätern fällt die Festlegung der Zuständigkeit von Zeitsdlr. Strafreditsw. 70, 1958, 38 f. Motiv und Motivation, Holler Hamburg 1950, S. 19. * Der Psychologismus als Teil des Nihilismus, Nervenarzt 29, 1958, 277. 7

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Psychologie und Jurisprudenz schwer, wenn nicht grundsätzlich das rechtliche Primat als zielbestimmend anerkannt wird. Auf dem Hintergrund dieser Darlegungen bedarf es noch einer kurzen Besinnung auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofes, in der dem Sachverständigen die Aufgabe zugeteilt wird, dem Gericht „mitzuteilen, wie es zur Tatzeit im Inneren des Angeklagten aussah" 10 oder wie W. Sarstedt es formuliert: „wie es zur Tatzeit im Kopf des Täters aussah" 11 . Soweit es sich um schuldfähigkeitsmindernde Krankheiten oder um entsprechende Störungen handelt, ist diese Forderung weitgehend zu erfüllen und die Beantwortung der Frage mit sachlich und begrifflich verläßlichen psychopathologischen Kriterien zu stützen. Handelt es sich aber nur um das, was in dem Inneren — also „im K o p f " , aber auch „im Herzen" — eines geistesgesunden Beschuldigten zur Tatzeit und bei der Vorbereitung der Tat vorgegangen sein soll oder vorgegangen ist, dann bleiben die Aussagemöglichkeiten beschränkt. Wir können nur evident erscheinende, jedem verständigen Menschen einleuchtende Zusammenhänge aufzeigen, geraten dabei aber stets in die Nähe von Deutungen. „Ob die von uns angenommenen Zusammenhänge beim aktuellen Verhalten des Individuums tatsächlich bestanden, ist nicht nachweisbar; eine Wiederholung im Experiment kann nicht vollzogen werden 12 ." Oft gewinnt man den Eindruck, daß die an den psychologischen Sachverständigen herangetragenen Erwartungen von der Vorstellung geprägt sind, aktuelles seelisches Geschehen sei wie ein — zwar kompliziertes, aber doch überschaubares — Räderwerk zu beschreiben und das Rätsel menschlichen Handelns könne im Einzelfall befriedigend aufgeklärt werden. Das immer wieder kritische Hinschauen und Hindenken läßt solche Vorstellung als völlig irrig einschätzen. Allerdings leisten manche der angebotenen psychologischen Analysen in ihrer abgerundeten und daher schlüssig erscheinenden Interpretation oftmals der Meinung Vorschub, psychologische Zusammenhänge ließen sich letzten Endes doch überschaubar machen. J e geschlossener und zwingender der Versuch einer „Erklärung" erscheint, umso größere Skepsis ist gegenüber dem Erkenntniswert angebracht. Falls es dem Gutachter gelingt, dem Gericht die Relativität aller Aussagen zum Motivgeschehen deutlich zu machen, kommt es gelegentlich zu der Rückfrage, ob denn die eine oder die andere naheliegende Denkmöglichkeit wahrscheinlicher sei. Eine solche Frage ist ein echter Fallstrick, denn für die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit 10 11 12

BGH-Urteil vom 14. 11.1961, Goltdammers Ardi. 1962, 116. N J W 21, 1968, 181. H.-J. Ranch, a. a. O., S. 304.

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gibt es kein verbindliches Maß, sofern nicht wieder von einer allgemeinen Menschenkenntnis ausgegangen wird. Außerdem geht die Frage an der Einsicht vorbei, daß selbst das nach menschlichem Ermessen Wahrscheinlichste noch keineswegs eine Aussage über das Tatsächliche beinhaltet oder dem nahekommt. Das gilt vor allem für erstmalige, ungewöhnliche oder auch gänzlich überraschende Rechtsbrüche, bei denen die Deutungsmöglichkeiten immer besonders vielfältig sind, so daß dem Wahlvorschlag von zwei oder drei alternativen „Erklärungen" in aller Regel noch weitere Motivations- oder Erklärungsmöglichkeiten hinzugefügt werden müssen, um dem Juristen seinerseits zu überlassen, eine der Alternativen als zutreffend zu unterstellen. Aber für alle diese Erwägungen ist die rechte Urteilsgrundlage nicht aus dem Ergebnis einer psychologischen Untersuchung, sondern ausschließlich von der Warte breitfundierter Menschenkenntnis abzuleiten. Dabei mag der erfahrene Psychologe einem vielleicht noch weniger erfahrenen Richter behilflich sein, aber zuständig für diese Belange der Menschenbeurteilung ist im Grunde kein anderer als der Richter, wenn er „seine berufliche Existenz" nicht in Frage stellen will 1 3 . Besonders verdichtet sind die rechtlich-psychologischen Kompetenz- und Erkenntnisfragen bei der Beurteilung von geistesgesunden Affekttätern. Wenn wir auch in diesem Punkt ganz von den Problemen der Schuldfähigkeit und dem dafür verbindlichen Nachweis einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung absehen wollen, bleiben doch bezüglich des „inneren Tatbestandes" nahezu unlösbare Schwierigkeiten der Beurteilung. In einem Punkt läßt sich dies sehr deutlich an Hand der Ausführungen von G. Geilen14 erläutern, der darauf hinweist, daß es bei den innerseelischen Geschehensabläufen darum gehen kann, festzustellen, ob sie „nur um eine logische Sekunde" vor der Ausführung einer Tat eingesetzt haben, und „daß sich an einem u. U. hauchdünnen psychologischen Unterschied eine weittragende Strafbarkeitsalternative entscheidet". Hierbei geht es um Beweiswürdigungsgesichtspunkte, bei denen ein fachpsychologisches Wissen nicht weiterhelfen kann. Nur eine von der Lebenserfahrung getragene Psychologie des Handelns kann — in Verbindung mit den tatsächlichen Feststellungen über den Verlauf des Geschehens und über die Reaktionsweise des Täters — zu einer rechtlichen Würdigung führen. Jedenfalls gibt es für diese „hauchdünnen psychologischen Unterschiede" kein wissenschaftlich geeichtes Millimetermaß. 13 P. Bockelmann, Strafrichter und psychologische Sachverständige, Goltdammers Arch. 1955, 330. 14 Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, in: Festschrift für R. Mäurach, Müller Karlsruhe 1972, S. 182.

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Es entspricht einer humanen Rechtsprechung, in weitestem Umfang psychologische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. An dieser durchaus selbstverständlichen Notwendigkeit soll mit diesen Ausführungen nicht der mindeste Abstrich gemacht werden. Vielmehr soll nur die Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet werden, welche Erkenntnisvoraussetzungen bei der Urteilsfindung erforderlich sind: neueres und fachspezifisches psychologisches Wissen oder jene Kennerschaft, die dem besonnenen und urteilsfähigen Menschen zugesprochen werden muß. Wie sehr das Regulativ des von Operationalisierungen und Objektivierungen unabhängigen Urteilsvermögens bei rechtlichen Würdigungen ausschlaggebend ist, wird noch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt deutlich, wenn wir uns auf das besinnen, was auch E. Heinitz zum Ausdruck gebracht hat: „Wohl ist allgemein anerkannt, daß bei der Strafzumessung die gesamte Persönlichkeit des Täters zu berücksichtigen ist, sein Charakter und seine Anlagen, die Beweggründe, die ihn zum Verbrechen getrieben haben; doch besteht keine Klarheit darüber, in welchem Sinne diese Faktoren zu bewerten sind 15 ." Ein „Mehr" an psychologischen Tatsachenfeststellungen und ein noch so geschlossenes Bild von Deutungszusammenhängen erleichtern die rechtliche Urteilsfindung auch unter diesem Gesichtspunkt sicher nicht. N u n wird von psychologischer Seite gern geltend gemacht, daß dem Richter das Urteilen über Menschen nicht erleichtert werden dürfe, sondern daß ihm unter Hinweis auf die vielschichtigen seelischen Hintergründe eines Rechtsbruchs erst das rechte Verständnis für die Tat vermittelt werden müsse, damit er sie nicht voreilig verurteilt. Dahinter steht ein hoch zu respektierendes menschliches Anliegen, aber die zugrundeliegende Betrachtungsweise kann sehr leicht dahingehend zugespitzt werden, einem Menschen das Recht zum Richten überhaupt abzusprechen, um sich dem Standpunkt anzunähern, von dem eine Redewendung besagt: Alles verstehen heißt alles entschuldigen. Ein weit verbreitetes Dominanzstreben der „erklärenden" Psychologie gegenüber der rationalen Psychologie des Rechts läßt den Grad des Mißverständnisses zwischen empirischer Wissenschaft und normativer Rechtsanwendung deutlich werden. An den Zugeständnissen der Juristen gegenüber den normsetzenden Intentionen mancher psychologischen Schulen, die sich teilweise tiefenpsychologisch oder speziell psychoanalytisch nennen und die die Seele nicht selten sehr viel rationalistischer und mechanistischer betrachten als sie es wahrhaben möchten, läßt sich wiederum ablesen, wie wenig sich 15

Strafzumessung und Persönlichkeit, Zschr. Strafrechtsw. 63, 1951, 80.

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Rechtsprechung und Gesetzgebung ihres eigentlichen Auftrags bewußt sind. Die subjektive Tatseite ist immer der ganze Mensch. Aber es ist der Mensch, der eben auch diese Tat begangen hat. Ganz erfassen wir die Tat-Täter-Relation schon wegen der vielfältigen Verstrickungen des Motivationsgeschehens und der in jeder Hinsicht dynamischen Seinsweise des Menschen nie. Zudem gebietet die Würde des Menschen, die ihm nicht nur nach einem natürlichen Empfinden, sondern sogar von unserem Grundgesetz, also mit verfassungsrechtlicher Gesetzeskraft, zugesprochen wird, daß wir psychologische Grenzen bei der Erforschung der Intimität des Einzelnen respektieren. Die Entwicklung in der Richtung auf ein Täterstrafrecht bringt die Gefahr mit sich, diese Grenzen nicht mehr zu erkennen und die Psychologie zu verabsolutieren. In allen Bereichen des Rechts, vor allem aber bei einer Tat- und Täterbeurteilung im Strafverfahren, kann nur das verantwortungsbewußte allgemeine Menschenverständnis im Verein mit einer humanen Gesinnung das Regulativ gegen eine einseitig rationalistische Psychologie in der Gesetzesanwendung und zugleich die Instanz darstellen, die aus dem Angebot von psychologischen Deutungen und Verständnishilfen das rechtlich Relevante herauszulesen weiß.

.Subjektiver Tatbestand" und Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit G Ü N T E R SCHEWE

Vielleicht wird man zunächst eine Definition des „subjektiven Tatbestandes" erwarten; angesichts der Schulenstreitigkeiten um die Abgrenzung von „objektiv" und „subjektiv" und der Vieldeutigkeiten des Tatbestandsbegriffs mag hier aber eine grobe Kennzeichnung der zu untersuchenden Probleme genügen: Es geht um jene psychischen Vorgänge, die nicht oder nicht nur die Zurechnungsfähigkeit betreffen, sondern vor allem für die Subsumtion des Tatgeschehens unter eine bestimmte Strafbestimmung entscheidend sind 1 . Zur Rolle des Sachverständigen bei der Feststellung solcher inneren Vorgänge erklärt Sarstedt2 lapidar: „Ehe man die Frage der Zurechnungsfähigkeit überhaupt sinnvoll erörtern kann, muß man ,die Tat' nach ihrem äußeren und inneren Tatbestand festgestellt haben. Das ist nicht Aufgabe des Psychiaters, sondern des Gerichts". Das mag prinzipiell zutreffen, aber bei näherem Zusehen liegen die Dinge so einfach nicht: Es scheint hier zunächst um eine „Kompetenzfrage" zu gehen (I); berührt wird aber zugleich die Frage, ob der Sachverständige nicht tatsächlich in gewissen Fällen auf Grund seines Fachwissens und seiner Untersuchungsmöglichkeiten zur Aufklärung beitragen kann (II); schließlich müßten die Möglichkeiten und Grenzen einer 1

Die Rechtsdogmatik versteht im allgemeinen unter „ T a t b e s t a n d " die abstrakte gesetzliche Schilderung eines Geschehens, bei dessen Vorliegen eine bestimmte Rechtsfolge eintreten soll, w ä h r e n d m a n als „Sachverhalt" das k o n k r e t e Geschehen im Einzelfall bezeichnet, das in der R e d i t s a n w e n d u n g mit dem tatbestandlich geschilderten zu vergleichen ist (vgl, im einzelnen: Schmidhäuser, E., Strafrecht, Allgemeiner Teil, Tübingen 1970, 2/3, S. 14). In der S t a f r e c h t s p r a x i s wird meist f ü r beides der Begriff „ T a t b e s t a n d " v e r w e n d e t . — I m R a h m e n der vorliegenden Untersuchung entspricht die T r e n n u n g zwischen „objektiv" u n d „subjektiv" p r a k tisch der alten Beling'schen Unterscheidung zwischen „inneren" u n d „ ä u ß e r e n " Vorgängen (vgl. Beling, £ . , Die Lehre v o m T a t b e s t a n d , T ü b i n g e n 1930). Die Strafrechtsdogmatik ist v o n dieser T r e n n u n g längst abgegangen; eine Wiederbelebung v o n Beling's Lehren ist hier nicht beabsichtigt; die Entsprechung mit diesen A u f f a s s u n g e n ergibt sich lediglich deshalb, weil es im Hinblick auf unsere Fragestellung unerheblich ist, ob bestimmte psychische Vorgänge a u ß e r h a l b der Zurechnungsfähigkeitsfrage, mit denen ein Sachverständiger u. U . k o n f r o n t i e r t w e r den k a n n , rechtsdogmatisch als „Schuldelemente", als „subjektive Unrechtselemente" oder vielleicht auch als „Gesinnungsmerkmale" qualifiziert w e r d e n . 2 Sarstedt, W., A u s w a h l u n d Leitung des Sachverständigen (SS 73, 78 S t P O ) , N J W 1968, 177, 181.

im

Strafprozeß

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solchen Mitwirkung sowie ihre praktische und dogmatische Bedeutung ins Auge gefaßt werden (III). I.

Die „Kompetenzfrage", d. h. die Frage nach der Abgrenzung der „Zuständigkeiten" zwischen Richter und Sachverständigem, ist vor allem bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit immer wieder diskutiert worden: Lange3 warnt vor einer „KompetenzVerschiebung", Eb. Schmidt4 fordert eine strenge Trennung der „Zuständigkeiten". Kritisiert wird dabei insbesondere die Neigung der Instanzgerichte, sich Stellungnahmen Sachverständiger zur Anwendbarkeit der Zurechnungsfähigkeitsbestimmungen einfach anzuschließen 5 . Sachverständige sehen sich hier dem Vorwurf der „Kompetenzüberschreitung" ausgesetzt. Teils warnen sie davor, eine solche zu „begehen" (Rasch f , teils sehen sie in der vielberufenen „Krise des Sachverstänständigenbeweises", die zu dem Schlagwort von der „Prädominanz des Sachverständigen" geführt hat, die Folge einer durch Gerichte „provozierten Kompetenzüberschreitung" und die sekundäre Folge einer „Krise der richterlichen Urteilsbildung" (Gerchow)7. Geerds8 meint vermittelnd, primär und sekundär dürften hier nach Lage des Einzelfalles austauschbar sein; aber „ebenso wie der Sachverständige sich nicht Funktionen des Gesetzgebers anmaßen darf, muß er sich auch vor einem ergebnisbetonten Denken hüten, mit dem er in die richterlichen Kompetenzen eingreifen würde". Was hier über „Kompetenzüberschreitungen" in gutachtlichen Äußerungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit gesagt wurde, 3

LK, 9. Aufl., Berlin 1970, § 51, Rdn. 103. Eb. Schmidt, Richter und Sachverständiger in ihrem Zusammenwirken bei kriminologischen Problemen, in: Psychopathologie Heute, Festschr. f. Kurt Schneider, Stuttgart 1952, S. 258—273. 5 Lange, a. a. O., Rdn. 104. • Rasch, W., Schuldfähigkeit, in: Ponsold, Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin, 3. Aufl., Stuttgart 1967, S. 55 ff. (61). 7 Gerchow, / . , Bemerkungen zur sog. Krise des Sachverständigenbeweises, Arch. Krim. 134, 125 (1964). 8 Geerds, F., Juristische Probleme des Sachverständigenbeweises, Arch. Krim. 137, 62—70, 155—173 (1966), S. 158 f., sowie Anm. 82. — Einschränkend, aber im Grunde doch in gleichem Sinne: Jessnitzer, K., Der gerichtliche Sachverständige, 4. Aufl., Köln, Berlin, Bonn, München 1973, S. 52: „In der Praxis äußern sich die Sachverständigen häufig auch zu Rechtsbegriffen, z. B. zu der Frage, ob volle Zurechnungsfähigkeit im Sinne des § 51 StGB vorliegt. Es ist sogar zuzugeben, daß solche Äußerungen von vielen Richtern erwartet oder gar verlangt werden. Solange diese Äußerungen nur als Stellungnahmen und als Vorschläge für die letztlich vom Gericht zu treffende Entscheidung gedacht sind und vom Gericht so aufgefaßt werden, ist hiergegen nichts einzuwenden." 4

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wäre nach den Ausführungen von Sarstedt auch auf Stellungnahmen Sachverständiger zum „inneren Tatbestand" zu beziehen — und dies vielleicht sogar in besonderem Maße 9 . Wie Sarstedt weist auch Rasch darauf hin, daß es nicht Aufgabe des Sachverständigen sei, sich über die Willensrichtung, den Vorsatz oder über Absichten des Täters zu äußern; es könnte sich „um einen Vorgriff auf die richterliche Entscheidung handeln". Allerdings zeigt Rasch hier auch ein Dilemma auf: „Man neigt dann sehr schnell dazu, die Zurechnungsfähigkeit des Täters in Zweifel zu ziehen, obwohl die eigentlich notwendigen Überlegungen noch außerhalb der mit der Anwendbarkeit des § 51 StGB verbundenen Fragen liegen"; der Gutachter könnte „in eine kritische Lage geraten, wenn sich am Ende seiner Analyse die Frage nach der inneren Tatseite stellt" 10 . Es mag sein, daß Begriffe wie „Kompetenz" und „Zuständigkeit" hier nur cum grano salis gemeint sind und daß die Überlegungen über das Zusammenwirken von Richtern und Sachverständigen im allgemeinen mehr der Frage der „Rollenverteilung" gelten — z. B. untersucht Lange11 in erster Linie die Frage, wie der Richter seiner Aufgabe, über die Zurechnungsfähigkeit selbst zu entscheiden, angesichts der ungleichen Verteilung der Sachkunde gerecht werden kann. In der Diskussion scheint sich aber doch ein „Kompetenzproblem" in einem etwas anderen Sinne abzuzeichnen: Man hat den Eindruck, als beginge der Sachverständige mit einer „Kompetenzüberschreitung" einen „Verfahrensfehler" — nicht nur durch allzu deutliche Stellungnahmen über die Anwendbarkeit der Zurechnungsfähigkeitsbestimmungen, sondern insbesondere auch durch Äußerungen zum „subjektiven Tatbestand". Sarstedts Ausführungen erwecken fast den Ein9 D i e Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit ist im Prinzip w e i t mehr auf die Mitwirkung des Sachverständigen angelegt, weil sich das „Abnorme" eben prinzipiell der „Normierbarkeit" zu entziehen scheint; hier liegt das Schwergewicht auf der Beurteilung des konkreten Einzelfalls, für die der Sachverständige weitgehend die Anknüpfungstatsachen festzustellen und dem Richter das n o t w e n d i g e „wissenschaftliche Rüstzeug" zu vermitteln hat. D i e Abgrenzung zwischen Sachverständigenfragen und juristisch-normativer Entscheidung ist allerdings o f t schwierig (Lange, a. a. O., Rdn. 59). Beim „subjektiven Tatbestand" dagegen wäre es in erster Linie A u f g a b e der Rechtsdogmatik, dem Richter das „wissenschaftliche Rüstzeug" für die Beurteilung der „inneren Sachverhalte" zu vermitteln; es scheint, im Idealfall müßte hier alles aufgehen in der rechtsdogmatischen Ausbildung allgemeinverbindlicher Formeln auf der einen Seite und der richterlidien Tatsachenfeststellung, Beweiswürdigung und Subsumtion unter jene Formeln auf der anderen Seite; für die Stellungnahme eines Sachverständigen wäre dann überhaupt kein Raum. Indessen zeigt die Praxis, daß auch hier nicht alles so aufgeht (vgl. im einzelnen: Scheine, G., Reflexbewegung — H a n d l u n g — Vorsatz, Lübeck 1972, S. 10 f.). 10 11

Vgl. Rasch, a . a . O . , S. 67 ff. A . a. O., Rdn. 59, 103, 104.

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druck, es sei Aufgabe des Richters, dergleichen zu unterbinden. Sieht man nun als Sachverständiger psychologisch-psychiatrische Probleme, die weniger bei der Zurechnungsfähigkeit als beim „subjektiven Tatbestand" zu liegen scheinen, so weiß man also nicht recht, ob Schweigen oder Reden der Korrektheit des Verfahrens, der Wahrheitsfindung oder der Verwertbarkeit des Gutachtens nützen oder schaden könnte. Von Seiten Sachverständiger liegen Untersuchungen vor, die verschiedene Möglichkeiten ärztlicher Mitwirkung bei der Aufklärung des „subjektiven Tatbestandes" aufzeigen. Aber wären solche Bemühungen in foro nicht als „Kompetenzüberschreitungen" von vornherein verfehlt? Bevor man fragt, was der Sachverständige zur Feststellung des „subjektiven Tatbestandes" beitragen könnte, wäre also die Vorfrage zu klären, ob er überhaupt dazu beitragen darf, ob der Richter seine Stellungnahme verwerten darf und welche prozessualen Risiken hier bestehen. Der Ausdruck „Kompetenzüberschreitung", wörtlich genommen, läßt zunächst an einen Verfahrensfehler denken, der einen Revisionsgrund darstellen könnte. Eine derartige „Kompetenzüberschreitung" — wie sie etwa gegeben wäre, wenn ein Amtsrichter einen Schwurgerichtsfall entscheidet — ist allerdings beim Sachverständigen nicht denkbar; einen solchen Verfahrensfehler könnte er einfach deshalb nicht begehen, weil er überhaupt keine Kompetenzen in diesem Sinne hat, die er überschreiten könnte 12 . Da es sich aber doch irgendwie um eine Anmaßung richterlicher Entscheidungsbefugnisse handeln soll, geht man zur Ergründung der Rechtsnatur dieser „Kompetenzüberschreitung" am besten von der Richtertätigkeit aus. Man kann hier — vereinfachend — „Tatfragen" und „Rechtsfragen" unterscheiden. Rechtsfragen hat allein der Richter zu entscheiden 13 ; Stellungnahmen eines Gutachters zu Rechtsfragen wären also in dem Sinne, in 1 2 Allenfalls könnte m a n die Befugnisse zu körperlichen Eingriffen, die die S t P O dem ärztlichen Sachverständigen einräumt, als „ K o m p e t e n z e n " in einem weiten prozessualen Sinne bezeichnen; Uberschreitungen dieser Befugnisse w ä r e n dann allerdings „Kompetenzüberschreitungen", die als Verfahrensfehler einen Revisionsgrund darstellen könnten, wie z. B . die Verabfolgung hemmungslösender „ W a h r heitsdrogen" ( „ N a r k o s e a n a l y s e " ) ; vgl. K M R , 6. Aufl. 1 9 6 6 , § 1 3 6 a, 2 d, S. 4 7 1 f. 1 3 Vgl. K M R , § 2 4 4 , A n m . 2 c IV., S. 7 5 5 . Allerdings ist es dem Gericht überlassen, in welcher Weise es sich die Kenntnis der Rechtssätze verschafft. E s kann im W e g e des „Freibeweises" über objektives Recht E r m i t t l u n g e n anstellen, z. B . durch Einholung eines Rechtsgutachtens. Danach k a n n es dem Riditer auch nicht verboten sein, e t w a mit einem Sachverständigen über Rechtsfragen zu diskutieren; erst recht nicht k a n n die ausführliche E r ö r t e r u n g solcher F r a g e n zwischen Richter und Sachverständigem verboten sein, bei denen zunächst noch unklar ist, inwieweit es sich

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dem das Wort „Kompetenz" hier verwendet wird, „Kompetenzüberschreitungen". D e r „Standardfall" einer solchen „Kompetenzüberschreitung" wäre die so häufig diskutierte Stellungnahme des Sachverständigen zur Anwendbarkeit des § 51 (jetzt §§ 20, 21) StGB. — M a n m u ß sich aber eigentlidi wundern, w a r u m hier überhaupt mit einem gewissen V o r w u r f v o m Sachverständigen Zurückhaltung gefordert wird: W e n n er sonst alles richtig gemacht hat, so kann das Gutachten doch durch solche Stellungnahmen nicht falsch werden: Diese „Kompetenzüberschreitung" ist sachlich schlimmstenfalls weiter nichts als die Äußerung einer unmaßgeblichen laienhaften Rechtsansicht, die der Gutachter ungebeten seiner Sachdarstellung hinzugefügt oder eingeflochten hat. Juristisch ist sie demnach so belanglos w i e sonst überflüssige Äußerungen im Prozeß. Es ist z w a r zuzugeben, daß juristisches Werturteil und rein empirische Sachverständigenfragen o f t schwer zu trennen sind — aber das kann juristisch niemals dem Sachverständigen angelastet werden: W e n n Urteile nach allzu deutlicher Stellungnahme eines Sachverständigen zu § 51 StGB a u f gehoben wurden, so nicht wegen „Kompetenzüberschreitung des Sachverständigen", sondern weil das Urteil „inkompetente" Rechtsausführungen des Sachverständigen übernommen hat — d. h. aber: weil der Richter seine K o m p e t e n z e n nicht wahrgenommen hat 1 4 . Auch Tat fragen hat grundsätzlich der Richter zu entscheiden; er bestimmt nach pflichtgemäßem Ermessen, inwieweit er dazu der H i l f e um Fach- oder Rechtsfragen h a n d e l t . N u r fällt dem Richter letztlich die — allerdings o f t m a l s schwierige — Entscheidung d a r ü b e r zu, w a s als v o m Richter zu entscheidende „Rechtsfrage", w a s als v o m Richter zu beurteilende „ T a t f r a g e " , was als v o m Sachverständigen zu beurteilende „Fachfrage" zu b e h a n d e l n ist (vgl. K M R , § 261, A n m . 3, S. 848). 14 Vgl. B G H S t . 7, 2 3 8 ; 8, 113; K M R , V o r b . § 7 2 , 1, S. 304; § 2 6 1 , A n m . 3, S. 848; Schönke-Schröder, 17. Aufl. 1974, § 5 1 , R d n . 1; sowie Lange, a . a . O . D a ß ein U r t e i l wegen eines ihm z u g r u n d e liegenden inhaltlich ungenügenden Gutachtens u. U . a u f g e h o b e n w e r d e n k a n n , ist eine a n d e r e Frage, ebenso, d a ß der Sachverständige sich durch die A r t u n d Weise, wie er sich zu Rechtsfragen ä u ß e r t , eine Ablehn u n g wegen Besorgnis der Befangenheit zuziehen k a n n . Lange (a. a. O., R d n . 103) ist zuzugeben, d a ß zwischen Theorie u n d Praxis ein U n t e r s d i i e d besteht, da der Richter sich o f t nicht w i r d entschließen können, aus dem B e f u n d a n d e r e Schlußf o l g e r u n g e n zu ziehen als der G u t a c h t e r ; dieser Mangel l ä ß t sich aber m . E. nicht dadurch beheben, d a ß m a n dem Sachverständigen Stillschweigen a u f e r l e g t ; das Recht v e r l a n g t eindeutig v o m Richter, d a ß er seine K o m p e t e n z e n w a h r n i m m t , nicht aber v o m Sachverständigen, d a ß er über D i n g e schweigt, die er f ü r relevant h ä l t . Lange's E r w a r t u n g , d a ß der Richter die v o m Sachverständigen offen gelassenen Fragen nicht als Laienpsychologe oder -psychiater, sondern n o r m a t i v entscheiden w e r d e ( a . a . O . ) , m a g in gewissem G r a d e berechtigt sein; es k a n n aber auch anders k o m m e n ; insbesondere besteht auch die G e f a h r , d a ß n o r m a t i v e Entscheidungen d o r t gefällt w e r d e n , w o weitere empirische A u f k l ä r u n g möglich (und d a n n gewiß auch n o t w e n d i g ) w ä r e .

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eines Sachverständigen bedarf 1 5 . Dessen „Kompetenzen" bestimmen sich also nach dem richterlichen Auftrag, und „Kompetenzüberschreitung" wäre zunächst die Überschreitung des richterlichen Auftrags oder auch die gutachtliche Stellungnahme auf Grund eines Auftrages, der die richterlichen Ermessensgrenzen überschreitet. Der A u f t r a g ist aber nicht formbedürftig; es gibt auch keine starre Bindung an ihn: Der Richter kann ihn vor oder in der Verhandlung durch entsprechende Fragen erweitern, der Sachverständige kann von sich aus im schriftlichen Gutachten oder in der Verhandlung auf besondere Probleme, z. B. auch auf psychologische oder psychiatrische Probleme beim „subjektiven Tatbestand" hinweisen und eine Erweiterung des Auftrags anregen 1 6 . Der Richter muß im Rahmen seiner Aufklärungspflicht diesen Hinweisen nachgehen, soweit sie für das Verfahren von Bedeutung sein könnten 1 7 . Danach entsprechen die Grenzen der Sachverständigenkompetenz praktisch den Grenzen, die dem richterlichen Ermessen überhaupt bei der Auftragserteilung gezogen sind. Diese Ermessensgrenzen liegen dort, wo der Richter aus eigener Sachkunde entscheiden kann; dort muß er auch selbst entscheiden, weil er grundsätzlich zu eigener Urteilsbildung verpflichtet ist — nicht nur über Rechtsfragen, sondern — im Rahmen des ihm Möglichen — auch über Tatfragen 1 8 . Praktisch läuft es also darauf hinaus, daß der Sachverständige eine „Kompetenzüberschreitung" begeht, wenn er sich zu Tatfragen äußert, die der Richter selbst entscheiden kann, und daß die Stellungnahme des Sachverständigen dann überflüssig und juristisch genau so belanglos ist 19 wie die Stellungnahme zu Rechtsfragen 2 0 . 15

BGHSt. 2, 163; 3, 27; KMR, § 244, Anm. 18, S. 768.

Vgl. K M R , V o r b . § 72, 1, S. 3 0 4 : D e r Sachverständige hat dem Gericht auch den Tatsachenstoff zu unterbreiten, der nur auf G r u n d besonders sachkundiger Beobachtungen gewonnen w e r d e n kann (vgl. auch B G H S t . 7, 239). Soweit es sich um Feststellungen zugunsten des A n g e k l a g t e n handelt, k a n n der ärztliche Sachverständige sich auch d a r a u f berufen ,daß er der zu begutachtenden Person „auf G r u n d seiner hippokratischen A u f g a b e n als A r z t und H e l f e r " gegenübertritt; d a r a n d a r f er nicht gehindert werden (vgl. K M R , § 76, A n m . 5, S. 3 1 4 ; das dort zur Schweigepflicht Gesagte muß auch hier gelten). 18

"

Vgl. K M R , § 244, A n m . 3, 4 b (S. 755 f f . ) ; B G H S t . 1, 94. Vgl. K M R , V o r b . § 48, 3 b, S. 2 3 2 ; § 244, 18, S. 7 6 8 ; § 261, 3, S. 848. 19 V g l . B G H S t . 8, 118; K M R , § 2 6 1 , A n m . 3 : D a s Gutachten ist nur insoweit v o n Bedeutung, als es a u f t r a g s g e m ä ß bestimmte, f ü r die entscheidende F r a g e erhebliche Tatsachen unterbreitet, die der Sachverständige a u f G r u n d seines Fachwissens festgestellt hat, und insoweit, als es dem Gericht das wissenschaftliche R ü s t z e u g vermittelt, das ihm die sachgemäße Beurteilung der zu entscheidenden F r a g e ermöglicht. 2 0 D i e F r a g e der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit liegt hier allerdings etwas a n d e r s : D e m Angeklagten nachteilige Rechtsauffassungen führen im 18

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Demnach ist die „Kompetenzüberschreitung" des Sachverständigen zwar kein Form- oder Verfahrensfehler, zwar wird durch sie auch kein Gutachten falsch, und sie ist als solche juristisch belanglos — aber: Wenn der Richter die „inkompetenten" Äußerungen des Sachverständigen übernimmt, statt selbst zu entscheiden, wo er es könnte und müßte, dann wird das Urteil falsch. Die „Kompetenzüberschreitung" des Sachverständigen kann also nur dadurch zu einem Verfahrensfehler führen, daß der Richter sozusagen eine „Kompetenz«ttferschreitung" begeht, d. h. der Fehler kann immer nur in einem „Mangel der richterlichen Uberzeugungsbildung" (Gerchow) liegen. Ausdrücke wie „Kompetenzüberschreitung des Sachverständigen" implizieren bei näherem Zusehen also lediglich die Forderung, der Sachverständige möge den Richter nicht in Versuchung führen, auf eigene juristische Überlegungen und eigene Beweiswürdigung zu verzichten. Dies allein wäre das Risiko der „Kompetenzüberschreitung des Sachverständigen". Es bestünde, kurz gesagt, darin, daß der Richter nicht aufpaßt 2 1 . Das kann aber kein ernst zu nehmendes verfahrensrechtliches Risiko bedeuten. Zu fragen bleibt also nur noch, ob und inwieweit die „Kompetenzüberschreitung des Sachverständigen" der Wahrheitsfindung und der Zusammenarbeit nützen oder schaden könnte. Die Äußerung zu Rechtsbegriffen und Rechtsnormen kann doch wohl allenfalls nützen — immer vorausgesetzt, daß der Richter seine Kompetenzen wahrt: Hier ist es ohnehin kaum möglich, die von Eb. Schmidt geforderte scharfe Trennung der Zuständigkeiten durchzuführen, weil sich zwischen Fachfragen, richterlicher Beweiswürdigung und normativer Entscheidung keine scharfen Grenzen ziehen lassen 22 . Im Grunde bedeutet die „Kompetenzüberschreitung" nur eine wünschenswerte Abklärung und Verbreiterung der Diskussionsbasis; dem Richter muß es allgemeinen nicht ohne weiteres zu Ablehnung; wenn aber Tatsachen als feststehend behandelt werden, die erst nodi bewiesen werden müssen, so kann das die Ablehnung rechtfertigen (vgl. K M R , § 24, Anm. 2 d, S. 157, in Verb, mit § 74). Daraus läßt sich aber kein Verbot herleiten, Probleme des „subjektiven Tatbestandes" aus der Sicht des Sachverständigen in angemessener Form in foro zu erörtern. 21 Natürlich kann ein Fehlurteil auch dadurch Zustandekommen, daß das Gericht v o n einem inhaltlich fehlerhaften Gutachten ausgeht, dessen Fehlerhaftigkeit es mangels eigener Sachkunde nicht feststellen konnte. D a ß dies im allgemeinen nicht dem Gericht, sondern allenfalls dem Sachverständigen angelastet werden kann, ist selbstverständlich. Dabei handelt es sich jedoch nicht um „Kompetenzüberschreitungen des Sachverständigen". 22 Vgl. Lange, a. a. O., Rdn. 59, sowie Staak, M. u. G. Schewe, Die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit als medizinisch-juristisches Grenzproblem, Der Medizinische Sachverständige, 1971, 61.

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überlassen bleiben, auch über die Abgrenzung von Fach- und Rechtsfragen zu entscheiden 23 . Entsprechendes gilt für Tatfragen: Es bleibt die schlichte Feststellung, daß Äußerungen des Sachverständigen insoweit überflüssig sind, als der Richter selbst entscheiden kann, daß es dem Richter aber nicht verboten sein kann, die H i l f e des Sachverständigen in Anspruch zu nehmen, soweit dieser mit Fachkenntnissen zur Aufklärung beitragen kann. Beim „subjektiven Tatbestand" kann nichts anderes gelten, soweit der Sachverständige solche Beiträge tatsächlich zu leisten vermag.

II. Zweifel darüber dürften auf zweierlei Mißverständnissen beruhen: Es ist sicher nicht Aufgabe des Sachverständigen, im Prozeß etwa darüber zu befinden, was eigentlich „Vorsatz" ist, und dann dem Gericht zu erklären, der Angeklagte habe „vorsätzlich" oder „nicht vorsätzlich" gehandelt in dem Sinne, in dem der Gutachter diesen Begriff versteht. Insoweit handelt es sich um Probleme abstraktnormativer Begriffsbildung, bei deren Lösung man zwar psychologischen Zusammenhängen Rechnung tragen muß und über die man auch mit Psychologen und Psychiatern in abstracto diskutieren kann, um die Rechtsbegriffe „materialgerecht" zu gestalten 2 4 ; die dabei auftretenden psychologisch-psychiatrischen Fragen liegen aber nicht auf der Ebene des Sachverständigenbeweises, sondern auf juristisch-dogmatischer Ebene. Ebensowenig hat der psychologische oder psychiatrische Sachverständige über Vorsatz und Fahrlässigkeit zu urteilen, wenn z. B. jemand einen Menschen erschossen hat und behauptet, er habe gemeint, auf ein Wild zu zielen oder habe in einer Notwehrsituation 23 S. o., Anm. 13. Dies dient zugleich der Urteilsbildung des Richters insofern, als er feststellen kann, ob der Sachverständige von richtigen rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist (vgl. BGHSt. 7, 283). Das ist bekanntlich durchaus nicht immer der Fall: Ehrhardt bemerkt dazu, in manchen Gutachten spiele das hintergründige Bekenntnis und der Glaube des Gutachters an die Unhaltbarkeit des Schuldprinzips eine gefährliche Rolle bei der Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse (Mschr. Krim. 50, 233, 1967). — Jaspers (Allgemeine Psychopathologie, 6. Aufl., Berlin, Göttingen, Heidelberg, 1965, S. 665) meint, „nach konventionellen R e g e l n . . . gilt beispielsweise der Mensch auch im schwersten normalen Alkoholrausch als der freien Willensbestimmung mächtig". — Wie will der Richter so etwas herausbekommen, wenn der Sachverständige nicht sagen darf, was er unter Zurechnungsfähigkeit versteht, sondern nur „aus ärztlicher Sicht die Einsidits- und Steuerungsfähigkeit für aufgehoben (oder nicht aufgehoben) erachtet?" Auch nach Lange (a. a. O., Rdn. 106) wäre eine Abklärung insoweit notwendig. 2 4 Vgl. Mezger, LK, 8. Aufl. 1957, Einl. X II, 1, S. 6.

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den Angreifer nur verletzen wollen: Hier ist unbestreitbar, daß der Sachverständige die richterliche Beweiswürdigung nicht vorwegnehmen darf und daß psychologisch-psychiatrische Untersuchungen sie nicht ersetzen können. Im Zweifel muß der Sachverständige im Gutachten von einem oder mehreren hypothetischen Sachverhalten ausgehen; das Gericht muß ihm u. U . entsprechende Fragen stellen 25 . — Aber der Richter steht nicht nur vor einer ganz anderen Beweissituation, wenn z. B. der Obduzent Nahschußzeichen findet, sondern möglicherweise auch dann, wenn der Sachverständige bei der Untersuchung zur Zurechnungsfähigkeit beim Täter psychische Auffälligkeiten oder auch nur körperliche Mängel wie z. B. eine extreme K u r z sichtigkeit feststellt, die eine Disposition zu grobem Fehlverhalten bedingen. J e nach Lage des Falles kann also der ärztliche Beitrag zur Feststellung des „subjektiven Tatbestandes" in somatischen oder psychiatrisch-psychologischen Feststellungen bestehen, können Täter oder Opfer in die Untersuchungen einbezogen sein. Es ist seit langem Aufgabe der somatischen gerichtlichen Medizin, bei Tötungsdelikten neben der Kausalitätsbeurteilung Beiträge zur Rekonstruktion von Tathergängen zu leisten, die der Abklärung auch des „subjektiven Tatbestandes" dienen; Gerchow26 spricht bei Kindestötungen geradezu von einem „Nachweis des Vorsatzes durch die Sektion". Freilich hat man hier nie Schwierigkeiten gesehen — offenbar deshalb, weil es sich bei solchen Feststellungen am Opfer eindeutig um den Nachweis des Tätervorsatzes durch Indizien handelt. Solche Untersuchungen haben jedoch Erkenntnisse erbracht, die über die Typologie von Tatsituationen zu Aufschlüssen auch über die Psychologie des Täters führten, und dabei geht es durchaus nicht nur um die Frage der Zurechnungsfähigkeit 2 7 . Hier kann die Trennung von „ I n d i z " und richterlich wertender Zuordnung zu einzelnen Rechtsbegriffen, wie sie Lange für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit anstrebt 2 8 , ähnlich problematisch werden wie dort. D a s zeigen insbesondere die Untersuchungen von Rauschke29 über erfolgsqualifizierte Delikte wie die Körperverletzung mit Todesfolge: V g l . Sarstedt, a. a. O . Gerchow, / . : Fahrlässigkeit und bedingter V o r s a t z als gerichtsärztliches Problem bei Kindestötungen, Dtsch. Z. ges. geriditl. Med. 49, 605 (1959). 2 7 Z. B. Berg, S., D a s Sexualverbrechen, H a m b u r g 1963. Diese Arbeit wird von Rasch (Tötung des Intimpartners, Beitr. zur Sexualforschung 31, 1961) zu psychiatrischen Untersuchungen herangezogen, wobei Rasch (a. a. O., S. 68 ff., sowie bei Ponsold, S. 67 ff.) mehrfach auf V o r s a t z f r a g e n zu sprechen kommt. 2 8 A . a. O., sowie R d n . 59. 29 Rauschke, / . : Medizinische Gesichtspunkte für die strafrechtliche Beurteilung erfolgsqualifizierter D e l i k t e nach § 56 S t G B , Dtsch. Z. ges. geriditl. M e d . 47, 242 (1958). 25

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Neben den oft schwierigen Kausalitätsfragen bei Gewalteinwirkung auf den vorgeschädigten Organismus ist hier besonders zu klären, ob die unbeabsichtigte Todesfolge der Körperverletzung vom Täter wenigstens fahrlässig verursacht wurde (§18 StGB). Für diese Feststellung sind nicht nur Art und Schwere der Verletzung, sondern auch die persönlichen Fähigkeiten und Kenntnisse des Täters entscheidend. Hier verspricht erst eine Gesamtschau auf das Opfer einerseits und die Täterpersönlichkeit andererseits Aufschlüsse darüber, ob der tödliche Ausgang für den Täter vorhersehbar war. In Gerchow's Untersuchungen über Kindestötungen und gerichtsärztliche Aspekte der Feststellung von Vorsatz und Fahrlässigkeit30 liegt das Schwergewicht bei der sogenannten passiven Kindestötung mehr auf der psychologisch-psychiatrischen Seite der Problematik, da der Obduktionsbefund für den „subjektiven Tatbestand" der „vorsätzlichen Tötung durch Unterlassen" weniger hergibt. Die Teilnahmslosigkeit der Kindesmutter gegenüber der Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs erscheint nach Gerchow u. U. als Beibehaltung einer während der Schwangerschaft eingenommenen Abwehrhaltung und läßt sich insofern als zweckgerichtete Entscheidung gegen das Kind auffassen. Da aber oft eine klar überlegte Absicht nicht auszumachen sei, hänge die Entscheidung über den bedingten Vorsatz bei der Tötung durch Unterlassen davon ab, ob man zum juristischen Vorsatzbegriff klare Zielvorstellungen des Täters fordere oder mit Mezger31 weniger deutliche Bewußtseinsvorgänge für ausreichend halte. — Hier wird eine Abhängigkeit der Entscheidung von der juristischen Fassung des Vorsatzbegriffs erkennbar, bei der die Schwierigkeiten der Abgrenzung von Rechts- und Tatfragen im wesentlichen im Bereich der abstrakt-normativen Begriffsbildung liegen dürften. Deutlich wird aber, welche Forderungen von der Praxis her hier an die Rechtsdogmatik herangetragen werden. Auf die medizinischen Aspekte des Vorsatzproblems bei der Unfallflucht alkoholisierter Verkehrsteilnehmer hat Grüner32 hingewiesen und gezeigt, daß die psychophysischen Leistungseinbußen sich nicht nur auf Fahrtüchtigkeit und Zurechnungsfähigkeit auswirken, sondern auch den Vorsatz berühren können, so daß das zur vorsätzlichen Unfallflucht erforderliche „Wissen um den Unfall" infolge von Auffassungs- und Wahrnehmungsstörungen durchaus nicht immer gegeben 3 0 A. a. O. (Anm. 26), sowie Gerchow, / . , die ärztlich-forensische Beurteilung von Kindesmörderinnen. Halle a. d. Saale, 1957. 3 1 L K , 8. Aufl., Berlin 1957, § 59, Anm. 9. 32 Grüner, O., Zur Schuldfrage bei Unfallflucht, Dtsdi. Z. ges. geriditl. Med. 49, 592 (1960).

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ist, wo es zunächst so scheint33. Auch physiologische Möglichkeiten einer „röhrenförmigen Einengung der Aufmerksamkeit" — etwa infolge starker erotischer Beanspruchung durch die Beifahrerin — können zum Ubersehen eines Unfalls führen, wie Grüner mit einem reizvollen kasuistischen Beitrag gezeigt hat 34 . In einer Untersuchung anderer Delikte unter diesen Aspekten35 wird deutlich, daß die Feststellung subjektiv tatbestandsmäßigen Handelns bei abnormer psychischer Verfassung ein Problem von allgemeinerer Bedeutung darstellt, das in mancherlei Hinsicht Sachverständigenfragen birgt. Erwähnenswert sind insbesondere Eingriffe in die sexuelle Freiheit, vor allem die Notzucht, wo der Widerstand des Opfers vom alkoholisierten Täter leicht unterschätzt: und als nicht ernst gemeinte Abwehr im Sinne Ovid'scher „vis non ingrata" mißdeutet wird. Nach Amnesien bei Schädelhirntraumen oder Alkoholräuschen kann es zu „Konfabulationen" kommen, d. h. der Täter schließt eine Erinnerungslücke durch Rekonstruktionen, Phantasien oder durch Übernahme von Berichten Dritter, die er für eigene Erinnerungen hält, und ist nicht imstande, wirklich Erinnertes von den konfabulierten Inhalten zu unterscheiden. Dies kann — möglicherweise zu einem viel späteren Zeitpunkt — zu objektiv falschen, aber subjektiv als richtig empfundenen Anzeigen oder zu Falschaussagen vor Gericht führen. Blutgruppensachverständige werden gelegentlich mit Situationen konfrontiert, die an Kleist's „Marquise von O . " erinnern: Als „unmoralisch" und mit dem eigenen Persönlichkeitsbild nicht vereinbar empfundene sexuelle Kontakte unter Alkoholeinfluß oder in Aus33 Das O L G H a m m fordert zur Bestrafung der Unfallfludit als Rausditat, daß sidi der K r a f t f a h r e r „des Unfalls zumindest undeutlich bewußt geworden war und sich mit natürlichem Vorsatz den Feststellungen entziehen wollte" ( N J W 1967, 1523 f.). — Vorsatzprobleme dieser A r t tauchen jedoch nidit nur bei zurechnungsunfähigen K r a f t f a h r e r n a u f ; die Herabsetzung der Reizschwelle und der apperzeptiven Fähigkeiten kann auch schon in solchen Fällen zu Zweifeln am „Wissen um den U n f a l l " Anlaß geben, in denen man, hätte der F a h r e r den Unfall bemerkt, noch nicht zur Zurechnungsunfähigkeit gekommen wäre. — Anders gelagert sind jene Fälle, in denen der Fahrer infolge „Kopflosigkeit", Verwirrung, Bestürzung, Furcht oder Schrecken oder infolge „Schocks" flieht: Hier hat die Rechtsprechung teils Zurechnungsunfähigkeit angenommen, teils aber auch den Vorsatz für ausgeschlossen erachtet, obwohl doch auf den wahrgenommenen Unfall eine „Fluchtreaktion" erfolgte, d. h. ein Verhalten, das auf ein Sidi-Absetzen von der Unfallstelle gerichtet w a r (vgl. im einzelnen: Schewe, G., Versuch einer Orientierung über juristische und psychologisch-psychiatrische Maßstäbe bei der Unfallflucht, Beitr. gerichtl. Med. X X X I , 9, 1 9 7 3 ) .

A. a. O., S. 5 9 4 . Vgl. Grüner, O., Zur Frage tatbestandsmäßigen Handelns unter Alkoholeinfluß, Blutalkohol 2, 2 7 4 ( 1 9 6 4 ) . 34

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nahmesituation wie z. B. nach Bombenangriffen unterliegen einer psychogenen Amnesie, und es kommt später in Vaterschaftsprozessen zu falschen Aussagen36. Vorsätzlich falsche Äußerungen liegen in allen diesen Fällen sicher nicht vor; bei einem Falscheid wäre aber wohl auch die Fahrlässigkeit zu bezweifeln, da eine reflektierende Stellungnahme und Uberprüfung der Gedächtnisinhalte ohne ein ärztlich führendes Gespräch meist kaum möglich ist. Bei bestimmten Tötungsdelikten, wie sie Rasch in seiner Arbeit über die „Tötung des Intimpartners" 37 untersucht hat, besteht zunächst der Eindruck, es handle sich um eine geplante und zielgerecht durchgeführte Tötungshandlung, bei der der Täter offensichtlich die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt hat: Er hat davon gesprochen, daß er die Partnerin töten werde, hat sich eine Waffe besorgt, hat dem Opfer „aufgelauert" oder es anläßlich einer von ihm erbetenen „letzten Aussprache" getötet. Erst die genauere Analyse ergibt, „daß zur Tat keine klar vorkonzipierte Handlungskette führt, sondern ein doppelspuriges Tun mit widersprüchlichen, sich gegenseitig aufhebenden Aktionen oder daß trotz möglicherweise sich mächtig entfaltender Aktivität unklar bleibt, was er ,eigentlich will'." Die Tat entspreche nicht einem in Überlegung und Planung sozusagen erarbeiteten Entschluß38. Es scheine leicht, Schlüsse auf die Willensrichtung des Täters zu ziehen, wenn das Opfer von einer Vielzahl vernichtender Einwirkungen getroffen werde; indessen sei „nicht ohne Ermessen" eine Entscheidung darüber möglich, welche Absicht hinter den Aktionen des Täters stand 39 . Hier ergibt sich zunächst ein Vorsatzproblem: Derartige Tötungshandlungen lassen sich mit den im juristischen Schrifttum diskutierten Vorsatzdefinitionen kaum erfassen. Das bedeutet aber nicht, daß der Sachverständige hier zur Vorsatzfrage gutachtlich Stellung nehmen könnte und müßte — vielmehr wird es in erster Linie Aufgabe der Rechtsdogmatik sein, dem Richter Vorsatzdefinitionen an die Hand zu geben, die eine realitätsgerechte Bewältigung dieser Vorgänge ermöglichen40. Dennoch betreffen die Feststellungen des Sachverständigen über die Vorgeschichte, die motivischen Hintergründe der Tat und die psychische Verfassung des Täters zum Tatzeitpunkt nicht unbedingt nur die Zurechnungsfähigkeit; sie können durchaus Dotzauer, Gerchow (p. M.). Vgl. Anm. 27. 38 A. a. O., S. 97. 39 Rasch, bei Ponsold, S. 69. 49 Vgl. im einzelnen: Schewe, Reflexbewegung, — Handlung — Vorsatz (s. o., Anm. 9); zustimmend: Stratenwerth, G., Literaturbericht, ZStW 85, 469, 473. 36

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auch relevant für die Entscheidung darüber sein, ob die T a t als Mord oder als Totschlag zu qualifizieren ist und ob mildernde Umstände i. S. des § 213 S t G B vorliegen. Hier liegen die Probleme zwar ebenfalls zum Teil auf der Ebene abstrakt-normativer Begriffsbildung 4 1 , zum Teil aber auch im Bereich psychiatrisch-psychologischer Sachverständigenfragen. Die Beispiele dürften gezeigt haben, daß bei der Feststellung des „subjektiven Tatbestandes" Fragen auftreten können, die über die Möglichkeiten richterlicher Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung hinausgehen und zu deren Aufklärung ein Sachverständiger unter Umständen beitragen kann — meist, aber nicht auf jeden Fall im Rahmen von Untersuchungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit. So wenig wünschenswert eine damit verbundene „Verpsychologisierung des Strafverfahrens" 4 2 auch sein mag, es erschiene noch weniger wünschenswert, solche Möglichkeiten auf Kosten der Wahrheitsfindung auszuklammern. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß der Sachverständige sich nun überall zu Rechtsbegriffen äußern müßte, mit denen er psychologische oder psychiatrische Vorstellungen verbindet, oder daß Gerichte nun ständig auch Sachverständige mit diesen Fragen beschäftigen müßten: Der Raum für solche Sachverständigenfragen bleibt relativ eng umgrenzt; es sollte nur der Aufmerksamkeit nicht entgehen, daß es hier einen Bereich gibt, in dem nicht alles entweder Zurechnungsfähigkeitsfrage oder richterlich zu entscheidende T a t oder Rechtsfrage ist. Ein Ansatzpunkt für eine gewisse „Entpsychologisierung" des Strafverfahrens wäre vor allem im Bereich gewisser RechtsbegrifTe zu suchen, die mit zu viel „Psychologie" befrachtet sind: Weil die Rechtsdogmatik den strafrechtlichen Handlungsbegriff mit Hilfe des „Willens" definieren zu müssen glaubt, stützen sich Oberlandesgerichtsentscheidungen auf psychologische Abhandlungen 4 3 , werden 4 1 Vgl. dazu die Diskussion um die sog. Gesinnungsmerkmale (Schönke-Schröder, Vorbem. Rdn. 46; § 2 1 1 , Rdn. 5 ff.; über die dabei zu bewältigende psychologische Problematik vgl. Scbewe, G., Bewußtsein und Vorsatz, Neuwied a. Rh. u. Berlin, 1967, S. 165 ff.). 42 Rasch, W., Uber den Beweiswert psychologischer Testuntersuchungen im Rahmen psychopathologischer Befunde, Beitr. Gerichtl. Med. X X V , 117 (1969). 43 O L G Frankfurt, VRS 1956, 364. Eine Kraftfahrerin hatte durch eine „reflexartige" Ausweichbewegung vor einem Kleintier einen Unfall verursacht. Das O L G versucht, mit Hilfe des Buches von Heiss über „Allgemeine Tiefenpsychologie" zu entscheiden, ob eine „Handlung" oder eine „Reflexbewegung" vorliege. Spiegel, D A R 1968, 288, meint, man könne unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob noch eine „Handlung" vorliege; auch psychologische Sachverständige würden hier nicht unbedingt übereinstimmen.

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durch höchstrichterliche Entscheidungen 44 Sachverständigendebatten über die „Differentialdiagnose" zwischen „Zurechnungsunfähigkeit wegen Volltrunkenheit" und „Handlungsunfähigkeit wegen sinnloser Trunkenheit" heraufbeschworen 4 3 . Ähnliches kann bei Affekttaten passieren, wenn der Sachverständige — aus seiner Sicht nicht einmal zu Unrecht — von „reflexartigen", „unwillkürlichen" oder „automatischen" Abläufen spricht. U n d diese „psychologischen" oder „psychiatrischen" Überlegungen werden nicht etwa angestellt, um die Frage der Zurechnungsfähigkeit oder auch nur die der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit oder der „subjektiven Fahrlässigkeit" zu klären, sondern um über die „Handlungsqualität" und damit über juristische Relevanz oder Irrelevanz zu entscheiden — d. h. Juristen braudien einen Sachverständigen oder ein psychologisches Lehrbuch, um zu entscheiden, ob sie den Fall überhaupt juristisch untersuchen dürfen 4 6 . Ähnlich ist die Situation beim Vorsatzbegriff: Gerade hier zeigt sich, daß „die K l u f t zwischen den Handlungsmodellen . . . und dem Wissen um den Menschen . . . immer fühlbarer geworden ist" 4 7 . Es ist nicht verwunderlich, daß Sachverständige, die in foro mit den juristischen Vorsatzdefinitionen konfrontiert werden, bei der Beurteilung von „Affekttaten" in eine Zwangslage geraten, weil das, was sie feststellen, den Definitionen des Vorsatzes gerade nicht entspricht, und daß die Gerichte hier Mühe haben, sich dennoch für die Annahme eines Vorsatzes zu entscheiden — nach den juristischen Intentionen zu Recht, nicht aber nach den Definitionen. Diese müßten an den Intentionen des Rechts unter eingehender Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen und Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten von Psychiatrie und Psychologie neu überdacht werden, um dem Richter das wissenschaftliche Rüstzeug an die H a n d zu geben, die wirklich juristischen Entscheidungen auch selbst mit einer gewissen Sicherheit zu treffen, ohne den Sachverhalten Gewalt anzutun. Grundsätzlich gilt dies wohl auch für das Urteil über die Zurechnungsfähigkeit; es liegt aber in der N a t u r der Sache, daß es hier schwieriger ist, den Richter mit den für eine eigene Urteilsbildung B G H S t . 1, 124, 126 f. Krumme E., Urteilsanmerkung, Blutalkohol 3, 32 f. (1965). 4 8 Vgl. im einzelnen: Schewe, G., Die „ F i n a l i t ä t " (regulative Plastizität) bei „unbewußten" Bewegungsabläufen und das Problem der strafrechtlichen Abgrenzung von „ H a n d l u n g e n " und „Reflexbewegungen", Med. Welt 23 ( N . F.), 824; s. auch oben, Anm. 9. — Jacobs, G., Vermeidbares Verhalten und Strafrechtssystem, Festschr. f. Welzel, Berlin 1974, 307, bemüht sich bereits um einen anderen Weg, juristisch irrelevante von den relevanten Vorgängen zu trennen. 47 Rasch, a. a. O . ; s. auch oben, Anm. 9 f. 44

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erforderlichen Maßstäben zu versehen. Das sollte aber für die Strafrechtswissenschaft kein Grund zur Resignation sein 48 , sondern gerade die Aufmerksamkeit auf diese Fragen lenken: Der Richter befindet sich gegenüber dem Sachverständigengutachten in einer ähnlichen Situation wie der Revisionsrichter gegenüber dem Urteil des Tatrichters, und ebenso wie „die Revision in Strafsachen" Gegenstand spezieller strafrechtswissenschaftlicher Abhandlungen ist, könnte es „die Beurteilung der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit" vielleicht werden. Lange hat die Schwierigkeiten ausführlich dargestellt, aber auch Möglichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung aufgezeigt, die in diese Richtung weisen 49 .

48 In einer Diskussion auf der Kieler Strafreditslehrertagung 1972 wurde erwogen, f ü r die Entscheidung über die Rechtsfolgen einen besonderen Verfahrensabschnitt unter maßgeblicher Beteiligung von Sachverständigen einzurichten, in dem über geeignete Behandlungsmaßnahmen zu befinden wäre; da der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit insoweit eine Schlüsselstellung zukomme, sie also ihrer N a t u r nach eigentlich ein „Reditsfolgegutachten" sei, müsse sie in diesen Verfahrensabschnitt verwiesen werden. In mancherlei Hinsicht wäre das zweifellos zu begrüßen; es würde aber wohl auf eine weitgehende Eliminierung der Zurechnungsfähigkeitsfragen aus der juristischen Diskussion hinauslaufen; die Konsequenzen wären kaum abzusehen. 49 LK, Anm. zu § 51, Insbes. R d n . 59, 102 ff., sowie: Beitr. Sexualforschung 28, 1 (1963).

Zur Problematik des psychologischen Sachverständigen U D O UNDEUTSCH

Mit der stürmischen Entwicklung der Einzelwissenschaften hat die Zuziehung von Sachverständigen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen bei der Aufklärung des Sachverhalts und bei der Erforschung der Persönlichkeit bei allen Arten von Gerichtsverfahren rasch zugenommen. Die Hilfe, die der Sachverständige zu bieten vermag, wird im allgemeinen gern und dankbar entgegengenommen. Hingegen erscheint das Verhältnis der Gerichtsjuristen zu den psychologischen Sachverständigen in mancherlei Hinsicht problematisch. Den Gründen dafür soll hier nachgegangen werden.

1. Die Begutachtung normal-psychischer Äußerungen und Vorgänge Die Zuziehung eines Sachverständigen für die Beurteilung normalpsychischer Vorgänge und der Äußerungen von geistig-seelisch durchschnittlich-normalen Menschen kollidiert offenbar mit dem Rollenverständnis des Richters. Am deutlichsten — aber keineswegs ausschließlich — tritt diese Problematik bei der Beurteilung des Realitätsgehaltes von Aussagen (von Zeugen, von Parteien, des Beschuldigten) in Erscheinung. Aus einer langen Reihe von Belegen hierfür seien nur einige besonders charakteristische herausgegriffen. RGSt 1908, 40, 48 ff.: „Die Frage, ob spätere mögliche Fehler in der Auffassung, Unterscheidung und Zusammenfassung den Wert des abgelegten Zeugnisses zu ändern vermögen, steht mit der Beurteilung des Zeugnisses in so engem Zusammenhange, daß sie sachgemäß nur v o n dem zur Entscheidung der Tatfrage berufenen Richter gelöst werden kann."

RG J W 1936, S. 1976, N r . 44: „Die zur Beurteilung v o n Kinderaussagen erforderliehe Sachkunde m u ß nun z w a r im allgemeinen den Gerichten namentlich dann zugebilligt werden, w e n n sie häufiger in die Lage kommen, solche Aussagen in Verbindung mit gewissen öfter vorkommenden Lebensvorgängen zu bewerten."

704

U d o Undeutsch

R G - U r t . v o m 1 1 . 1 1 . 4 3 (zit. n. K.Peters: 1 9 5 2 , S. 2 8 4 ) :

Strafprozeß.

Karlsruhe

„Es ist davon auszugehen, daß gerade die Richter auf Grund ihrer Lebenserfahrung die Sachkunde besitzen, selbst zu beurteilen, ob die Aussage eines Kindes glaubwürdig ist oder nicht." B G H S t 1 9 5 2 , 3, 52 ff.: „Den Wert der Aussagen von Zeugen, insbesondere ihrer Glaubwürdigkeit, zu beurteilen, ist das Recht und die Pflicht des Tatrichters. Sie gerade machen einen wesentlichen Teil der allein ihm obliegenden Ermittlung des von der Anklage umfaßten geschichtlichen Vorganges aus. Die Verantwortung für diese Aufgabe überträgt das Gesetz nur ihm (§§ 155 Abs. 2; 244 Abs. 2; 261; 264 StPO). Er muß (!) deshalb über das Maß an Menschenkenntnis und an Fähigkeit, Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu beurteilen, verfügen, von dem die Befähigung zum Richteramt notwendig und wesentlich abhängt. Dieser aus seiner richterlichen Aufgabe sich zwingend ergebenden Forderung muß (!) er auch dann gerecht zu werden imstande sein, wenn es sich um die Aussagen eines Kindes handelt, das vor ihm als Zeuge auftritt. . . . Es kann und muß (!) also grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß diesen Richtern die für die Beurteilung der Aussagen von Kindern und Jugendlichen erforderlichen und unentbehrlichen Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Seelenkunde eigen sind." Folgerichtig lautet der dem Urteil vorangestellte Rechtssatz: „Zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen bedarf der Tatrichter in der Regel auch dann nicht des Fachwissens eines Sachverständigen, wenn der Zeuge im Kindes- oder Jugendalter steht und das Opfer eines an ihm begangenen Sittlichkeitsverbrechens ist. Nur wenn ein kindlicher oder jugendlicher Zeuge besondere aus dem normalen Erscheinungsbild des Jugendalters hervorstechende Züge und Eigentümlichkeiten aufweist, kann für das Gericht Veranlassung bestehen, einen Sachverständigen zu hören." In einem nicht zu übersehenden Widerspruch zu diesen sehr selbstbewußt-deklamatorischen Erklärungen stehen allerdings andere E n t scheidungen aus dem gleichen Zeitraum. R G J W 1 9 3 7 , S. 1 3 6 0 N r . 8 2 : „Wird die Glaubwürdigkeit jugendlicher weiblicher Zeugen in Sittlichkeitsdelikten in Frage gezogen, dann ist die Zuziehung eines Sachverständigen angebracht, der über besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Seelenkunde Jugendlicher verfügt. . . . Diese Ausführungen reichen zur Beantwortung der Frage nicht aus, ob ein Mädchen von sonst aufrichtigem Charakter im Pubertätsalter

Zur Problematik des psychologischen Sachverständigen

705

nicht Einflüssen unterliegen kann, die zu unwahren Angaben führen können . . . und ob dies nicht etwa bei der A. der Fall gewesen sein kann . . . Auch kann dem Gericht die gerade für diese besonders schwierige Frage erforderliche Sachkunde nach der Erfahrung des Lebens nicht zur Seite stehen, so daß es auf seine nicht auf ein Sachverständigengutachten gegründete Meinung insoweit nicht ankommen könnte . . . " .

B G H 27. X I . 52 — 5 S t R 769/52 — (unveröff., zit. von sen, S. 154):

Panhuy-

„Das L G hatte einen Sachverständigen über die Glaubwürdigkeit der kindlichen Zeuginnen vernommen, wie dies in der Regel bei Vernehmung von Kindern in Verfahren wegen Verbrechen gegen die Sittlichkeit erforderlich i s t . . . "

B G H 9. II. 60 — 5 S t R 6 2 0 / 5 9 — (unveröff., zit. von S. 154):

Panhuysen,

„Hannelore W . w a r zur Tatzeit 12, Helga W . 13 J a h r e alt. Beide Mädchen haben über Handlungen ausgesagt, die der Angekl. an ihnen vorgenommen haben soll und die nach der Auffassung der Strafkammer unzüchtig waren. Bei einer solchen Sachlage bedarf es grundsätzlich der Zuziehung eines psychologischen oder psychiatrischen Sachverständigen."

Die zweite Gruppe von Entscheidungen erhebt zwar die Zuziehung von Sachverständigen für die Beurteilung des Beweiswertes von Aussagen minderjähriger Zeugen in Sittlichkeitsprozessen zur Regel, läßt aber eine Begründung dafür nicht deutlich werden. In der T a t sind ja verschiedene Begründungen denkbar. Einen Grund für die Zuziehung eines Sachverständigen könnte man einerseits darin erblicken, daß für die Beurteilung des Beweiswertes einer Aussage „Sachkunde" in Form der Kenntnis der Bedingungen des Zustandekommens der Aussage (Leistungsfähigkeit, Besonderheiten der Entwicklungsphase, charakterliche Artung der Aussageperson, die persönliche Motivation und die sozialpsychische Situation bei der Entstehung und bei der Entwicklung der Aussage, Gesetzmäßigkeiten des Gedächtnisses) für notwendig erachtet werden, wie sie auch der erfahrenste Richter nicht im gleichen Maße haben kann wie ein erfahrener forensischer Psychologe, weil dem Richter ein umfassendes Fachstudium und die berufliche Weiterbildung eines hauptberuflichen Psychologen nicht zur Verfügung stehen kann. Das würde bedeuten, daß der psychologische Sachverständige zuzuziehen wäre aus genau den gleichen Gründen, aus denen Sachverständige anderer wissenschaftlicher Disziplinen zugezogen werden: weil auch der Psychologe — wie könnte es anders sein? — auf Grund von Studium und

706

Udo Undeutsch

Berufserfahrung auf seinem Fachgebiet Kenntnisse und Erfahrungen besitzt, die der Richter in diesem Umfang nicht haben kann, die aber für die Beurteilung einer Aussage oder für die Persönlichkeitserforschung unentbehrlich oder aber zumindest von Vorteil (weil denen des Richters überlegen) sind. Eine andere Begründung könnte darin erblickt werden, daß der Sachverständige infolge der von ihm lege artis durchgeführten fachspezifischen Untersuchungen über Erkenntnismittel und -möglichkeiten verfügt, die das Gericht nicht haben kann. Diese Begründung würde tiefer ansetzen, denn sie stellt nicht auf die (ganz selbstverständliche, aber ungern eingestandene) fachliche Überlegenheit des Sachverständigen in Fragen, die in seinen Fachbereich fallen, ab, sondern verweist auf die Tatsache, daß fachspezifische Untersuchungen, die der Richter allein schon aus Mangel an Zeit und Gelegenheit (und auch wegen fehlender fachlicher Ausbildung) selbst nicht durchführen kann, zusätzliche und wichtige Erkenntnisse liefern, auf die im Rahmen einer umfassenden Aufklärungspflicht schlechterdings nicht verzichtet werden darf. Diejenigen Entscheidungen, die für die Notwendigkeit der Zuziehung eines Sachverständigen eine Begründung geben, verwenden ausnahmslos die an zweiter Stelle genannte Argumentation: B G H , Urt. v. 5. VI. 52 — 4 StR 1040/51 — : „Wenn es sich . . . um ein Mädchen in der geschlechtlichen Entwicklung handelt oder wenn . . . Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß das K i n d einer Beeinflussung ausgesetzt war, . . . auch in anderen Fällen, z. B. bei einer in ihrer geistigen Entwicklung zurückgebliebenen und schwer ansprechbaren Persönlichkeit. . ., wird der Richter einen Fachpsychologen zu Rate ziehen müssen, weil das gerichtliche Verhör nun einmal situations-, umweit- und zeitgebunden ist und trotz allem Bemühen, ein solches Kind zu unbefangenen Lebensäußerungen zu veranlassen, vielfach an der Oberfläche bleiben wird. Der erfahrene Sachverständige kann als einziger Gesprächspartner außerhalb des Gerichtssaals durch eine lockere und vertrauliche Gesprächsführung sowie gesicherte psychologische Prüfmittel eine derartige Persönlichkeit in ihrer inneren und äußeren Anlage und Entwicklung, ihrer Ansprechbarkeit und ihren Äußerungsfähigkeiten und -mittein möglicherweise tiefer ergründen und so vom Denken, Fühlen und Wollen des Jugendlichen ein vollständigeres Bild geben . . . "

Im gleichen Sinne heißt es in B G H S t 1952, 2, 164: „Der kurze Eindruck, den das Gericht in der Hauptverhandlung von jedem der Mädchen erlangen konnte, fällt bei der Sachlage kaum ins Gewicht."

Zur Problematik des psychologischen Sachverständigen B G H S t 1952, 3,

707

27—30:

„Der Senat ist jedenfalls der Auffassung, daß ein Gericht die seinem Ermessen gesetzten rechtlichen Grenzen nicht mehr einhält, wenn es unter den dargelegten Umständen des Falles den recht ausdrücklich gestellten Antrag auf Zuziehung eines Sachverständigen, der unter Berufung auf ganz bestimmte, gegen die Glaubwürdigkeit sprechende Umstände gestellt ist, ablehnt, weil es selbst die erforderliche Sachkunde habe. Im Hinblick auf diese besonderen Umstände waren die Bedingungen, unter denen sich das Gericht in der Hauptverhandlung ein Bild über die kindliche Zeugin machen konnte, f ü r jene Annahme zu ungünstig und die Fehlerquellen zu zahlreich" (30). Einen Markstein stellt die Entscheidung B G H S t 1955, 7, 8 2 — 8 6 dar. D e r 5. Strafsenat hatte diese Entscheidung sehr gründlich vorbereitet. Er hat zu der Frage, „in welcher Weise sich die Möglichkeiten unterscheiden, die einem Sachverständigen (Kinderpsychologen) außerhalb der Hauptverhandlung und dem erkennenden Gericht in der Hauptverhandlung zur Feststellung der Glaubwürdigkeit einer Kinderaussage (namentlich in Strafsachen wegen Sittlichkeitsverbrechen) zur Verfügung stehen", Beweis erhoben durch Anhören von Sachverständigen. Es waren geladen: 2 medizinische Sachverständige, 2 psychologische Sachverständige (darunter der Verfasser), 2 Vorsitzende von Jugendschutzkammern und 1 höhere Beamtin der W K P . Er verkündete danach folgende Entscheidung: „Das Ergebnis dieser Anhörung ist folgendes: Es besteht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß dem . . . Sachverständigen Erkenntnismittel zu Gebote stehen, die das Gericht jedenfalls in der Hauptverhandlung nidit haben kann . . . " Das Ergebnis lautet darum, daß „diese überlegenen Erkenntnismittel" die Zuziehung eines Sachverständigen in der Regel erforderlich machen mit Ausnahme der Fälle, in denen „die dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ausreichen, besonders wenn die Kinderaussage nicht die Hauptgrundlage der Beurteilung bildet oder wenn sie in anderen Umständen erhebliche Unterstützung findet". Diese Linie wurde hernach fortgesetzt. B G H 4 StR 4 2 4 / 5 8 : „Solche inneren Vorgänge entziehen sich naturgemäß der im wesentlichen auf den äußeren Eindruck beschränkten Beobachtung durch die Richter in der Hauptverhandlung. Sie erschließen sich in aller Regel erst

708

Udo Undeutsdi

bei einer eingehenden Erforschung durch einen erfahrenen Sachverständigen, der sein Gutachten nach längeren, ungezwungenen Aussprachen — ohne die störende Anwesenheit Dritter und außerhalb der peinlichen Umgebung des Gerichtssaals — mit der von ihm zu begutachtenden Person abgibt (vgl. BGHSt 7, 82 ff.)." Es ist nun recht aufschlußreich zu sehen, welche Reaktion die als vorletzte zitierte Grundsatzentscheidung des 5. Strafsenats des B G H gefunden hat. Als symptomatisch kann der sozusagen „auf dem Fuße" folgende Artikel von Bockelmann angesehen werden. Er schreibt u. a.: „Die Entscheidung bedeutet den H ö h e p u n k t . . . " (321). „Im übrigen sucht der B G H das Selbstvertrauen des Instanzrichters tunlichst zu erschüttern . . . " (321). D i e starke emotionale Bewegtheit ist in solchen Sätzen kaum zu übersehen. Es müssen w o h l sehr tiefliegende Ansprüche berührt worden sein. Diese spricht er später offen aus. Nachdem er v o n dem bekannten Spannungsverhältnis zwischen Richter und Sachverständigem in Fragen der Beweis Würdigung gehandelt hat, fährt er fort: „Dies alles sind nun freilich Verlegenheiten, die im Verhältnis zwischen Richter und Sachverständigem überall auftaudien können. Aber sie haben dort, wo es sich um die Wertung der Glaubwürdigkeit von Aussagen handelt, besondere Bedeutung. Denn solche Wertungen gehören zum eigentlichsten Wirkungsbereich des Richters selbst. Sie stellen ihm eben die Aufgaben, die zu lösen seines Amtes ist. Ihm hier die Kompetenz bestreiten, heißt seine berufliche Existenz in Frage stellen. Man kann Richter sein, ohne etwas von Hochfrequenztechnik zu verstehen. Nicht aber kann Richter sein, wem irgend Menschliches fremd ist. Die Menschenkunde, deren das Gericht bedarf, um seines Amtes zu walten, kann ebenso wie die nötige Rechtskunde nur im Ausnahmefall ein Geheimnis sein, das erst durch einen Akt der Beweisaufnahme in den Prozeß eingeführt wird" (S. 330). Auch Eb. Schmidt (Festschrift für K. Schneider) meint, die Begutachtung v o n Zeugenaussagen durch Sachverständige bedeute die „Abdankung richterlicher Beweiswürdigung überhaupt und schlechthin" (262). D e m Gericht bleibe nichts anderes übrig „als Unterwerfung unter der Auffassung des Sachverständigen" (S. 265). Derartige wortgewaltige Apelle an das Standesbewußtsein des Richters haben ihre Wirkung naturgemäß nicht verfehlt. D i e Rechtsprechung schwenkte teilweise alsbald wieder auf die frühere Linie ein: B G H S t 1956,

8,130—133:

„Die Beurteilung des Wertes von Zeugenaussagen gehört aber von jeher zum Wesen richterlicher Rechtsfindung. Sie ist daher auch im geltenden

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709

deutschen Strafverfahrensrecht grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut . . . Wie der B G H schon wiederholt hervorgehoben hat, gilt das selbst bei Aussagen jugendlicher Zeugen, obwohl diese — je nach der Altersstufe — allgemein oder auf bestimmten Gebieten, insbesondere bei der Schilderung geschlechtlicher Erlebnisse, weit mehr der Gefahr von Selbsttäuschungen ausgesetzt sind als erwachsene Zeugen. Die Zuziehung sachverständiger Personen mit besonderen Kenntnissen in der Seelenkunde ist auch hier nur dann geboten, wenn ein jugendlicher Zeuge aus dem gewöhnlichen Erscheinungsbild des Kindes- oder Jugendalters hervorstechende Züge oder Eigentümlichkeiten aufweist." B G H - U r t . v. 2. V I I I . 65 (unveröffentlicht): „Von einer Jugendschutzkammer, die im besonderen Maße mit der P r ü f u n g der Glaubwürdigkeit von Kindern und Jugendlichen befaßt ist, kann angenommen werden, daß sie regelmäßig über die zur Beurteilung dieser Frage erforderliche Sachkunde verfügt und deshalb der Hilfe eines Sachverständigen nicht bedarf." BVerwGE 1974,44, 152—156: „Es ist allgemein anerkannt, daß die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Partei, eines Zeugen oder sonstigen Prozeßbeteiligten zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung gehört. Auch in schwierigen Fällen ist der Tatrichter daher berechtigt und verpflichtet, den Beweiswert einer Aussage selbst zu würdigen. . . . Dieser verfahrensrechtliche Grundsatz gilt auch in Kriegsdienstverweigerungssachen f ü r die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Antragstellers in bezug auf die von ihm behauptete konkrete Gewissensentscheidung. Es handelt sich hierbei zwar um die naturgemäß mit Aufklärungs- und Beweisschwierigkeiten verbundene richterliche Aufhellung eines seelischen Vorgangs." Solche selbstbewußten (und pflichtbewußten) Erklärungen könnten Bockelmann aber sehr leicht erschüttert werden durch eine auch v o n gesehene (aber nachher abgewiesene) Möglichkeit: „Diese Überlegungen hätten freilich keinen höheren Wert als den einer bloßen Deklamation, wenn es so wäre, daß praktisch nun einmal, wenigstens auf dem Teilgebiet der Aussagen von Kindern und Jugendlichen, die Hilfe des Psychologen regelmäßig unentbehrlich und stets möglich erschiene" (S. 330). Es entbehrt nun nicht einer saftigen „Ironie des Schicksals", daß gerade der Fall, in d e m der B G H mit besonderem deklamatorischen Pathos die Unnötigkeit der Untersuchung durch einen Sachverständigen bekräftigt hatte ( B G H S t 1952, 3, 5 2 ff.), in einem Wiederaufnahmeverfahren wieder aufgerollt werden mußte, w e i l bei der kindlichen Zeugin eben doch „besondere aus dem normalen Erscheinungs-

710

Udo Undeutsch

bild des Jugendalters hervorstechende Züge und Eigentümlichkeiten" vorhanden waren, die nur eben unter den besonderen Bedingungen der H a u p t v e r w a l t u n g nicht erkennbar geworden waren. D a das Gericht auch im Wiederaufnahmeverfahren noch die Zuziehung eines psychologischen Sachverständigen ablehnte, mußte dieserhalb das O L G angerufen werden, das entschied ( O L G K ö l n — W s 6 6 / 5 3 — ): „Wenn im vorliegenden Falle das Revisionsurteil die fehlende Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht bemängelt hat, so geht es dabei davon aus, daß der Fall irgendwelche Besonderheiten nicht zeigte. Besondere Umstände, welche die Aussage beeinflußt haben können, sind jedoch nunmehr mit dem neuen Beweisantritt aufgezeigt und können nicht von der H a n d gewiesen werden. Der angefochtene Beschluß ist der Auffassung, daß die Jugendschutzkammer auch ohne einen Sachverständigen aus eigener Sachkunde die Glaubwürdigkeit der Zeugin beurteilen kann. Hierbei wird verkannt, daß die Beurteilung der Nachwirkung der behaupteten früheren Erlebnisse eine durchaus schwierige Frage darstellt, die ein tieferes Eindringen in das Seelenleben des Kindes erfordert. H i e r f ü r erscheint nach Auffassung des Senats auch das bei den Richtern einer Jugendschutzkammer vorauszusetzende Maß an jugendpsychologischer Kenntnis zumindest dann nicht ausreichend, wenn — wie hier — keinerlei Ermittlungen über den Entwicklungsgang des Kindes und sein sonstiges Verhalten vorliegen. Erst die Vornahme weiterer Ermittlungen und gegebenenfalls die H i n z u ziehung eines Sachverständigen, der über besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Kinderpsychologie verfügt, erscheinen hier geeignet, eine sichere Bewertung der Glaubwürdigkeit der Zeugen zu ermöglichen." A u f diese Weise gelangte der Fall dann an mich. Auch K. Peters mußte auf Grund der Auswertung v o n 1115 Wiederaufnahmeverfahren durch die v o n ihm geleitete „Forschungsstelle für Strafprozeß u n d S t r a f v o l l z u g " feststellen: „Ganz offensichtlich machte die Feststellung psychischer Besonderheiten im Strafverfahren erhebliche Schwierigkeiten" (1965, S. 131). Ebenso später ( 1 9 7 2 ) im Hinblick auf die P r ü f u n g der Schuldfähigkeit: „Eindrucksmäßig ist, namentlich in einer Hauptverhandlung von kurzer Dauer oder auch von einigen Stunden, ein richtiges Persönlichkeitsbild nicht zu gewinnen" (S. 120); u n d hinsichtlich der P r ü f u n g v o n Zeugenaussagen: „Die Schwierigkeit f ü r die Gerichte liegt in der Erkennbarkeit der Situation, die von ihnen allein nicht mehr zu meistern ist" (S. 144). Diesen empirisch ermittelten Tatsachen gilt es Rechnung zu tragen. Statt eines an das Standesbewußtsein des Richters appellierenden

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711

deklamatorichsen Pathos muß ein der Verbesserung der Rechtspflege dienender Realismus treten, wie ihn Fürst (Senatspräsident am B V e r w G ) zur Grundlage seiner Ausführungen gemacht hat: „Der Sachverständige hat nur teilweise Tatsachen zu beurteilen, die von den Prozeßbeteiligten in das Verfahren hineingetragen und mit den üblichen Mitteln gerichtlicher Sadiverhaltsfeststellurigen für das Verfahren verwertbar gemacht werden. Er trägt bei der Persönlichkeitserforschung und -begutachtung wesentlich neue Tatsachen in das Verfahren vor allem dadurch hinein, daß er beobachtet und testet. Hiermit geht er über die psychologische Auswertung des richterlich festgestellten Sachverhaltes im Verfahren noch hinaus. Indem so Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung vom psychologischen Sachverständigen wenigstens teilweise selbst vorgenommen werden, sind entscheidende richterliche Positionen berührt. Der Jurist kann gar nicht anders, als diese Realität anzuerkennen. Er bejaht grundsätzlich diese wissenschaftlich gebotene Entwicklung. Er hat keine andere Wahl, als die zunehmende Komplizierung der Rechtsmaterie und zunehmende Erkenntnis dessen, wie kompliziert z. B. psychologische Zusammenhänge sind und zu erkennen sind, zur Kenntnis zu nehmen und sich die Forschungsergebnisse in vollem Umfange zunutze zu machen. Der Richter muß insbesondere, wie Richard Lange es formuliert hat (zit. n. Eb. Schmidt in Psychopathologie heute, Festschrift für Kurt Schneider, 1962, S. 261), die in Grenzfällen ,inneren Spannungen bis zum Zerreißen' aushalten, die daraus folgen, daß er für die Entscheidung auch dann noch verantwortlich bleibt, wenn er ohne ausreichenden eigenen Sachverstand Entscheidungen unter so wesentlicher Mitwirkung von Sachverständigen zu fällen hat" (S. 178).

2. Probleme der fachlichen Kompetenzabgrenzung Dem Psychologen, obwohl als akademischer Beruf nicht mehr neu, haftet immer noch der Geruch einer „Neuerscheinung" an. Erstmalig wurde im J a h r e 1 9 0 3 von W. Stern in grundsätzlicher F o r m der psychologische Sachverständige gefordert, und im gleichen J a h r e wurde er selbst erstmals als solcher zugezogen. Damit w a r der Anfang der gerichtspsychologischen Gutachtertätigkeit gemacht. In der Zeit bis zum Ende des 2. Weltkrieges w a r die Zuziehung von Sachverständigen, wenn es sich um die Begutachtung geistig-seelisch normal gesunder Menschen handelte, im wesentlichen beschränkt auf Fälle, in denen es um die Beurteilung der Aussagen von minderjährigen Zeugen in oder kurz v o r der Phase der geschlechtlichen Reifung ging. In der Praxis wurden hierfür aber — ungeachtet der Tatsache, daß es sich dabei um eine rein psychologische Fragestellung handelt,

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und ungeachtet der Tatsache, daß die wissenschaftlichen Grundlagen dafür von Psychologen erarbeitet worden sind (W. Stern, Plaut; in neuerer Zeit Undeutsch, Trankell) — weit häufiger Psychiater und sogar Gerichtsmediziner und Amtsärzte als Psychologen zugezogen. Das hat auch .K Peters selbst noch in seinem Material aus den Jahren 1 9 5 1 — 6 6 festgestellt ( 1 9 7 2 , S. 147), obwohl seit der Einführung der Diplom-Prüfungsordnung im Jahre 1941 der Psychologe als akademischer Beruf zahlenmäßig eine große Verbreitung gefunden hat. Das ist wohl nur historisch zu verstehen, wie G. Bohne 1 9 4 9 in einem Gutachten für den O G H der Britischen Zone zur Frage der fachlichen Kompetenz von Sachverständigen für die Beurteilung von Zeugenaussagen ausgeführt hat. E r sollte sich zu der Frage äußern, „ob eine solche Begutachtung von Zeugenaussagen — und zwar nicht nur von Aussagen Jugendlicher in Sittlichkeitsprozessen — durch den Psychiater oder den beamteten Gerichtsarzt zu erfolgen habe oder durch einen Fachpsychologen". E r führte damals — als einer der besten Kenner der kriminologischen Nachbardisziplinen seiner Zeit — dazu aus: „Daß diese Frage überhaupt diskutiert werden konnte, überrascht zunächst, hatte aber darin seinen verständlichen Grund, daß die Gerichte jahrzehnte-, ja man kann sogar sagen jahrhundertelang in Sachen, die die Körperlichkeit und Psyche von Personen betrafen, ausschließlich auf medizinische Sachverständige angewiesen waren, und daß auch in neuerer Zeit Gerichtsmediziner und gerichtsärztliche Institute die gesamte Begutachtung menschlicher Verhaltensweisen und körperlicher Zustände, ja sogar den naturwissenschaftlichen Realienbeweis — abgesehen von rein technischen Begutachtungen auf dem Gebiet der Technologie und des Handwerks — übernommen hatten. Das soll keineswegs ein Vorwurf hinsichtlich einer Grenzüberschreitung sein. Wir sind der gerichtlichen Medizin zu größtem Dank verpflichtet, daß sie zu einer Zeit, da chemische, physikalische und psychologische Sachverständige den Anforderungen, die die forensische Praxis an sie stellen konnte, noch längst nicht entgegenzukommen bereit waren, diese Aufgaben mit übernommen hat. Wir verdanken der gerichtlichen Medizin die Ausbildung einer großen Reihe von Untersuchungsmethoden und die Erarbeitung von Erkenntnissen auf dem Gebiet der kriminalistischen Spurenforschung (Untersuchung von Werkzeugspuren, Haaren, Urkundenfälschungen, Ausarbeitung photographischer Verfahren usw.), da der Gerichtsmediziner eben vermöge seiner ständigen Heranziehung als Gutachter die Bedürfnisse der gerichtlichen Praxis kennengelernt hatte und versuchen mußte, die hier bestehenden Lücken auszufüllen, um so mehr, als man auf den anderen naturwissenschaftlichen Gebieten versäumt hatte, sein Augenmerk den besonderen Bedürfnissen der gerichtlichen Aufklärungstätigkeit zuzuwenden. Es fragt sich nur, ob nicht inzwischen die Zeit gekommen ist, diese gerichtliche

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Gutachtertätigkeit auf naturwissenschaftlichem Gebiet, die seit einer Reihe von Jahren einen fast alle Gebiete naturwissenschaftlicher Forschung umfassenden Umfang angenommen hat, wenigstens in 3 Fachgebiete aufzuteilen und speziell aus- und vorgebildeten Gutachtern zuzuweisen: das Gebiet der gerichtlichen Medizin, das Gebiet der naturwissenschaftlichen Kriminalistik, das die Spurenforschung mit physikalischen und chemischen Mitteln betreibt, und das Gebiet der psychologischen Begutachtung der am Verfahren beteiligten Personen, vor allem der Zeugen, aber auch des Beschuldigten" (Sp. 9 f.). Nach dem Ergebnis seines damaligen Gutachtens „kann es keinem Zweifel unterliegen, daß dieser ,normale' Ablauf psychischer Funktionen einschließlich der Reproduktion von Erinnerungen in das Fachgebiet des Psychologen und nicht des Psychiaters gehört, mag der Psychiater auch, um die Grenzen seines Gebiets erfassen zu können, vom .Normalen' seinen Ausgang genommen haben, wie der Pathologe als Grundlage seines Forschungsgebiets von der ,normalen' Anatomie und Histologie auszugehen hat. Aber wie in diesem letzteren Fall niemand den Pathologen als Sachverständigen in rein anatomischen, histologischen und entwicklungsgeschichtlichen Fragen proklamieren wird, so wenig kann dies hinsichtlich der Bewertung einer Zeugenaussage durch den Psychiater zulässig sein. Denn für den letzteren steht das Anormale, sei es das erbmäßig bedingte, sei es das endogen oder exogen bedingte, sei es schließlich das auf äußere Gewalteinwirkung zurüdkführbare pathologische seelische Geschehen im Vordergrund und ist Gegenstand seines Sachverständigenurteils. . . . Schließt aber der Sachverständige, falls er die ,Normalität* des Zeugen festgestellt hat, daran Ausführungen über die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen, dann geht seine Bekundung über die rein ärztliche Begutachtung hinaus und geht über in eine psychologisdie, die nicht mehr Ergebnis seines eigentlichen Fachwissens ist" (Sp. 13). Dieses Gutachten mit seiner klaren und unwiderleglichen sachlichen Begründung ist von der Rechtsprechung leider nicht zur Kenntnis genommen worden und verdiente daher, der Vergessenheit entrissen zu werden. Wenn es um die Prüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen geht, ist entweder nur vom „Sachverständigen zur Prüfung der Glaubwürdigkeit" ganz allgemein die Rede (z. B. BGH, Urt. v. 10. V. 52 — 3 StR 19/52; Urt. v. 27. XI. 52 — 5 StR 769/52 — zit. n. Panhuysen, S. 154; BGHSt 1952, 3, 27 ff.; Urt. vom 2. IX. 60 — 4 StR 239/60), oder es wird die vage Formel vom „Sachverständigen, der über besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Seelenkunde von Kindern bzw. Jugendlichen verfugt" verwendet (z. B. BGHSt 1952, 3, 52 f.; BGH, Urt. vom 8. IV. 52 — 1 StR 623/51), wie es auch in der RiStV vom 1. XII. 66 in Nr.. 242 Abs. 1 geschieht. Häufig werden

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der psychiatrische und der psychologische Sachverständige als für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen gleich kompetente Fachvertreter nebeneinandergestellt (BGH, Urt. vom 9. II. 60 — 5 StR 620/59 — zit. n. Panhuysen, S. 154; BGH N J W 1961, 1936; Urt. vom 13 .V. 69 — 2 StR 616/68). Im BHG-Urteil 4 StR 366/66 wird die Meinung vertreten: „. . . besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet des Seelenlebens der Jugendlichen . . . besitzt in aller Regel der Psychologe ebenso wie der Psychiater".

Diese Passage ist wörtlich übernommen in BGHSt 1971, 23, 8 ff. (12). Im BHG-Urt. vom 19. VIII. 59 — 2 StR 330/59 — heißt es sogar: „Die Beurteilung von psychologischen Vorgängen ist vielmehr gerade dem Psychiater möglich; denn die Seelenheilkunde (Psychiatrie) setzt die Kenntnis des Seelenlebens, die Gegenstand der Psychologie ist, voraus."

In anderen Urteilen ist ohne ausdrückliche Begründung von psychologischen Sachverständigen die Rede: „kinderpsychologisch erfahrener Sachverständiger" (BGHSt 1952, 2, 164 ff.), „ein Sachverständiger, der über besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Kinderpsychologie verfügt" (BGH, Urt. vom 8. IV. 52 — 1 StR 623/51 —; OLG Hamm — Ws 66/53 —), ein „Fachpsychologe" (BGH, Urt. vom 5. VI. 52 — 4 StR 1040/51), ein „psychologischer Sachverständiger" (BGH — 4 StR 424/58), ein „Jugendpsychologe" (BGH — 4 StR 120/67). Es geht die Fachbezeichnung des Sachverständigen also recht kunterbunt durcheinander. Nicht anders liegen die Verhältnisse, wenn es sich um die Begutachtung der geistig-seelischen Verfassung von psychisch durchschnittlich normalen Menschen als Grundlage für die Beurteilung der Schuldfähigkeit handelt. Zwar ist anerkannt: OGHSt 1950,

3,19—24:

„Zurechnungsunfähig oder beschränkt zurechnungsfähig ist ein Täter dann, wenn er zur Tatzeit wegen einer der dort angegebenen Ursachen, zu denen auch die Bewußtseinsstörung gehört, unfähig oder doch gehindert war, das Unerlaubte der T a t einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Das ist nicht nur bei geistiger Erkrankung möglich, wie das Schwurgericht offenbar annimmt. Eine ausreichende Bewußtseinsstörung . . . kann auch auf körperlichen oder seelischen Zuständen beruhen (Übermüdung, Trunkenheit, Angst, Schreck), die nicht krankhafter A r t sind. Das ist allgemein anerkannt. Mit Bejahung der geistigen Gesundheit des Angeklagten wird der § 51 also noch nicht unanwendbar."

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B G H , N J W 1 9 5 5 , 1 7 2 6 f.: „In der Rechtsprechung des RG (RGSt 73, 21; RG, H R R 1936, Nr. 1463; DJ 39, 869, DR 39, 1066 Nr. 1) und des BGH (vgl. BGH 4 StR 470/52 vom 11. XII. 1952 — MDR 53, 146 f.; StR 475/54 vom 8. II. 1955 = LM zu StGB § 51 Abs. 1 Nr. 5) ist anerkannt, daß § 51 StGB über den Kreis der Geisteskrankheiten im Sinne der ärztlichen Wissenschaft hinaus alle Störungen umfaßt, die die bei einem normalen und geistig reifen Menschen vorhandenen, zur Willensbildung befähigenden Vorstellungen und Gefühle beeinträchtigen." D e n vorläufigen Abschluß dieser Entwicklungen bildete die Entscheidung des B G H vom 10. X . 57: „Eine Bewußtseinsstörung im Sinne des § 51 StGB kann bei einem in äußerster Erregung handelnden Täter auch dann gegeben sein, wenn er an keiner Krankheit leidet und sein Affektzustand auch nicht von sonstigen Ausfallserscheinungen (wie z. B. Schlaftrunkenheit, Hypnose, Fieber oder ähnlichen Mängeln) begleitet ist" (BGHSt 1958, 11, 20—26). Aber völlige Verwirrung herrscht angesichts der Frage, bei welcher wissenschaftlichen Disziplin die fachliche Kompetenz für derartige Untersuchungen und Gutachten liegt: B G H N J W 1959, 2315: „Die Frage, ob für die Begutachtung nicht krankhafter Zustände, soweit die Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit von ihr abhängt, Psychiater oder Psychologen berufen sind, ist unter den Vertretern der beiden wissenschaftlichen Gebiete umstritten (vgl. z. B. Bresser: Der Psychologe und §51, N J W 1958, 248 ff.). Es kann nicht Aufgabe des Gerichts sein, in diesem noch unausgetragenen Streit zu Gunsten des einen oder anderen Fachgebiets Stellung zu nehmen." B G H — U r t . vom 29. VII. 1959 — 4 StR 214/59 — (unveröffentlicht): „Die Entscheidung, ob ein psychiatrischer oder psychologischer Sachverständiger zu vernehmen ist, bleibt der Entscheidung des Schwurgerichts überlassen. Maßgebend ist nur, daß er die erforderliche Sachkunde und Erfahrung in der Beurteilung des Einflusses nicht krankhafter Affektzustände auf die Zurechnungsfähigkeit hat." Unerfindlich bleibt bei alledem nur, auf welche Weise der Psychiater „besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Seelenkunde" oder „die erforderliche Sachkunde in der Beurteilung des Einflusses nicht krankhafter Affektzustände auf die Zurechnungsfähigkeit" erlangt haben soll. Hier scheinen unzureichende Kenntnisse über die Ausbildung und das berufliche Tätigkeitsfeld des Psychiaters im Spiel zu

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sein. Normalerweise hatte der Mediziner und d a r u m auch der spätere Psychiater während seines Studiums und auch während der Facharztausbildung mit Psychologie keine Berührung. Auch bei seiner beruflichen Tätigkeit hat er es normalerwiese mit Menschen zu tun, die psychopathologische Auffälligkeiten zeigen. Er verfügt also nur über soviel Kenntnisse und Erfahrungen über das Seelenleben geistig-seelisch durchschnittlich-normaler Personen wie andere Menschen gleicher Intelligenzstufe auch. Aber weder verfügt er über „besondere Kenntnisse" noch über „besondere Erfahrungen" auf normal-psychologischem Gebiet. D a r a n wird sich auch in Z u k u n f t nichts ändern. Z w a r hat die Approbationsordnung f ü r Ä r z t e vom 28. X . 70 (BGBl. 1 S. 1458), welche die Ausbildung der Medizinstudenten bundeseinheitlich regelt, das Fach „Medizinische Psychologie und medizinische Soziologie" als Pflichtfach im ersten ( = vorklinischen) Teil des Medizinstudiums eingeführt, die Psychologie k a n n aber in den wenigen d a f ü r zur Verfügung stehenden Semesterwochenstunden nur gestreift und nur in jenem kleinen und speziellen Ausschnitt dargeboten werden, der „auf die psychologischen Anforderungen in der ärztlichen Tätigkeit vorbereiten soll", wie es in einer gemeinsam verfaßten Grundsatzerklärung der beteiligten Fachvereinigungen vom 6. V I . 74 heißt. Die darin vermittelten Kenntnisse und Fertigkeiten stellen nur einen winzigen Bruchteil dessen dar, was ein Hauptfachstudium der Psychologie vermittelt. U n d die „besonderen Erfahrungen" auf dem Gebiete der Psychologie k a n n eben auch n u r eine psychologische Berufstätigkeit vermitteln, nicht eine Tätigkeit in einem anderen Beruf (etwa als A r z t in einer psychiatrischen Klinik oder Heilanstalt). Das ist auch seitens anerkannter forensischer Psychiater längst ausgesprochen worden, die aus Verantwortungsbewußtsein und aus Gründen der Selbstachtung auch nicht gern in einem Nachbargebiet, wie es f ü r sie die Psychologie ist, sich dilettantisch betätigen möchten. So schreibt Haddenbrock: „Bei milieugeschädigten und noch formbaren jugendlichen Tätern wird kein Psychiater dem Psychologen seine überlegene Sachkunde bestreiten, insbesondere auch nicht für die Glaubwürdigkeitsuntersuchung" (S. 11).

Göppinger: „Bei typischer Abnormität ist der Psychiater zuständig, geht es um normal-psychologische Probleme, so liegt die Kompetenz in erster Linie beim Psychologen" (S. 23).

Dennoch gibt es auch heute noch Mediziner, die sich f ü r kompetent erachten f ü r die Begutachtung von Aussagen geistig-seelisch durchschnittlich-gesunder Personen. Indessen hat die Rechtsprechung längst Gesichtspunkte entwickelt, die anzuwenden sind, wenn einer sehr

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großzügig darin ist, sich Sachkunde zuzutrauen. Das Problem ist natürlich keineswegs neu und tritt in der einen oder anderen Form immer wieder einmal auf. Die rechtlichen Leitlinien sind entwickelt worden angesichts der Tatsache, daß die Gerichte früher eine gewisse Großzügigkeit darin zeigten, sich Sachkunde zuzutrauen, besonders auf psychopathologischem und noch mehr auf psychologischem Gebiet. Das Reichsgericht hat daher seit 1927 sich nicht mehr mit der Erklärung des Tatrichters begnügt, daß er selbst die genügende Sachkunde besitze, sondern führte einen strengeren und objektiveren Maßstab ein, dem zufolge es die Unterlassung der Vernehmung eines Sachverständigen nur dann noch als gerechtfertigt ansah, wenn nach der Lebenserfahrung als sicher anzusehen ist, daß der Richter die erforderliche Sachkunde auch tatsächlich besitzt (RGSt 1928, 61, S. 273; RG J W 1931, S. 1493 Nr. 31; RG J W 1932, S. 3358 Nr. 28; RG J W 1936, S. 1976 Nr. 44). Genau diesen Gesichtspunkt gilt es auch anzuwenden, wenn Vertreter anderer wissenschaftlicher Disziplinen sich Sachkunde auf psychologischem Gebiet zutrauen. Ganz allgemein läßt sich doch gewiß der Grundsatz aufstellen: wenn es für ein Sachgebiet eine durch Prüfungsordnung geregelte akademische Ausbildung und einen nur auf Grund dieser Ausbildung auszuübenden Beruf gibt, dann kann nach der Lebenserfahrung derjenige die besonderen Kenntnisse und Erfahrungen des betreffenden Fachgebietes nicht haben, dem entweder die volle Ausbildung oder die Berufserfahrung in dem betreffenden Fach oder — zumeist — beides fehlt. Das Thema wurde vom BGH in grundsätzlicher Weise aufgegriffen, als er im Hinblick auf die Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen die Frage zu entscheiden hatte, „ob und inwieweit ein Psychologe bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von jugendlichen Zeugen ohne Mitwirkung eines Psychiaters das Vorliegen krankhafter Störungen ausschließen kann".

In der daraufhin ergangenen Entscheidung BGHSt 1971, 23, 8 ff. wird hierzu ausgeführt: „Zur Klärung dieser nicht in sein Fachwissen fallenden Fragen hat der Senat namhaften Vertretern beider Fachrichtungen Gelegenheit zur Äußerung gegeben und die Professoren Dr. Harbauer, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Frankfurt, und Dr. Thomae, Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Bonn, als Sachverständige gehört."

Als Ergebnis dieser Anhörung wird mitgeteilt, daß „beide Gutachter von der grundsätzlichen Zuständigkeit des Psychologen für die Beurteilung nicht krankhafter und des Psydiiaters für die Beurteilung kranker Persönlichkeiten ausgehen" (S. 14).

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Jedoch „ist im Grenzbereich die (zusätzliche) Untersuchung durch einen Psychiater nur dann nicht geboten und der Pflicht zur Wahrheitsforschung genügt, wenn ein . . . ,klinisch erfahrener' Psychologe — und auch nur nach Anwendung aller ihm zur Verfügung stehender diagnostischen Hilfsmittel — das Vorliegen krankhafter Erlebnis- und Verhaltensformen ausschließt" (S. 15).

Eine solche fachliche Aufteilung hält auch K. Peters auf Grund der Erfahrungen aus den von ihm ausgewerteten Wiederaufnahmeverfahren für notwendig: „Zur Feststellung von Krankheiten und ärztlich zu behandelnden Zuständen sowie zur Frage ihrer Auswirkungen dürfte in erster Linie der Psychiater, zur Begutachtung von Aussagen normaler Zeugen, die jedoch allgemein psychologische Fragen aufwerfen, der Psychologe berufen sein. In Grenzfällen empfiehlt sich eine Teamarbeit oder eine getrennte doppelte Begutachtung" (1972, S. 146).

Es ist erstaunlich, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung so lange keine klaren Richtlinien erarbeitet hatte, in welchen Fällen ein Psychiater und in welchen ein Psychologe und in welchen Fällen möglichst Sachverständige aus beiden Fachrichtungen zuzuziehen sind, obwohl doch der B G H immer wieder große Sorgfalt bei der Auswahl der Sachverständigen empfiehlt. So ist nach BGHSt 1966, 20, 164 das Gericht „berechtigt und nach dem Grundsatz über die Pflicht zur Erforschung des wahren Sachverhalts (§ 244 Abs. 2 StPO) verpflichtet zu klären, ob der als Sachverständiger Vernommene oder zu Vernehmende die erforderliche Sachkunde besitzt" (S. 166 f.).

Der B G H verlangt in anderen Fällen auch — mit Recht —, daß der Sachverständige nicht nur überhaupt Fachkenntnisse, sondern die speziellen Fachkenntnisse und beruflichen Erfahrungen besitzt, die für die zu beurteilende Frage von Bedeutung sind. So genügt z. B. nach feststehender Rechtsprechung bei einem hirngeschädigten Täter zur Begutachtung der Schuldfähigkeit nicht die Beiziehung eines Facharztes f ü r Psychiatrie und Neurologie, sondern es muß gewährleistet sein, daß der Sachverständige „besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Hirnverletzungen besitzt" (BGH, N J W 1952, 633; VRS 37, 437; Urt. v. 1. X . 57 — 5 StR 203/57 — angeführt bei Pfeiffer-Maul-Schulte, StGB § 51 Rdnr. 13; J R 1969, 425; nochmals bestätigt in BGH, N J W 1969, 1578). K. Peters unterstreicht die Anforderungen an die fachliche Kompetenz des Sachverständigen und kritisiert unter diesem Gesichtspunkt die Entscheidung BGHSt 1970, 23, 311, in der die Sachkunde der in Bayern bestellten Landgerichts-

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ärzte bei der Beurteilung des Geisteszustandes eines Angeklagten als ausreichend angesehen wird, sofern es sich nicht um einen besonders schwierigen Fall handelt, und fügt — sehr richtig — hinzu: „Überdies besagen Erfahrungen' allein noch nichts. Entscheidend ist vielmehr, auf welchen fachlichen Grundlagen die Erfahrungen gewonnen worden sind" (1972, S. 132).

Man wird mit Recht fragen müssen: wenn schon nicht jeder Mediziner für alle medizinischen Fragen und wenn schon nicht jeder Facharzt für Psychiatrie und Neurologie für alle Fragen aus seinem Fachgebiet als ausreichend kompetent für eine Tätigkeit als Sachverständiger bei Gereicht gelten kann, wieso könnte dann ein Sachverständiger sogar kompetent sein für Fragen, die einem anderen Fachgebiet angehören, für das er weder eine ordnungsgemäße Ausbildung noch eine hauptberufliche Tätigkeit nachzuweisen vermag? Das wäre mit der „Lebenserfahrung" schlechterdings unvereinbar.

3. Reformen der gesetzlichen Grundlagen der Tätigkeit des psychologischen Sachverständigen Es ist nicht zu übersehen und auch schon häufig aufgezeigt worden, daß die Tätigkeit des Sachverständigen den gegenwärtigen Rahmen der StPO sprengt (Roesen, N J W 1964, 442—444; Bockelmann a. a. O.). Besonders Krauss weist darauf hin, „daß der Sachverständige den Rahmen des Verfahrens auf der Grundlage der geltenden StPO zwangsläufig sprengt. Zwangsläufig: denn was ihn vor dem Richter in erster Linie auszeichnet, ist die Tatsache, daß er bei der Erforschung eines bestimmten Sachverhalts durch seine Wissenschaft nicht an das Prinzip öffentlicher Erörterung gebunden ist; und was er fordern muß, um seine besondere Sachkunde methodengerecht entfalten zu können, ist gerade die Freistellung von den Grundsätzen derart öffentlichen, sozialtypischen Verhaltens" (S. 346).

Der sogenannte objektive Personalbeweis, bei dem der betroffene Mensch nur mehr oder minder passives Beweismittel ist, hat in der StPO seine Regelung erfahren (die geistig-seelische Untersuchung auf den Geisteszustand in den § § 8 1 und 246 a StPO, auf den Entwicklungsstand in § 73 JGG, die körperliche Untersuchung in den §§ 81 a und c StPO). Der subjektive Personalbeweis ist hingegen ganz unzulänglich geregelt. Mit Recht schreibt Bockelmann: „Aber alle diese Bedenken müßten freilich unterdrückt, die freiwillige Unterwerfung der Aussageperson und die Exploration seitens der Psychologen müßte tunlichst gefördert und für die Zukunft müßte eine Ände-

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rung der Strafprozeßordnung angestrebt Befugnisse verschaffte, -welche er braucht Aussage- und Kinderpsychologie Mittel sitzen, die unter allen Umständen selbst ein erfahrener Richter verfügt" ( 3 3 3 ) .

werden, die dem Gutachter — wenn nur gewiß wäre, zur Wahrheitserforschung denen überlegen sind, über

die daß bedie

Da die Erfüllung der von Bockelmann genannten Bedingung auf breiter Basis erwiesen ist, ist die Konsequenz nicht länger abweisbar. Einen Schritt in diese Richtung hat das 1. StVRG getan, indem es Beschuldigte, Zeugen und Sachverständige verpflichtet, auch den Ladungen der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten (§ 161a StPO). Damit hat die Tätigkeit des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren eine gesetzliche Grundlage gefunden. Daß aber gerade die Tätigkeit des psychologischen Sachverständigen nicht genügend durchdacht worden ist, beweist der durch das Gesetz zur Ergänzung des 1. StVRG neu eingeführte § 241 a StPO, demzufolge die Vernehmung von Zeugen unter 16 Jahren allein von dem Vorsitzenden durchgeführt wird (Abs. 1). Der Vorsitzende kann dem Sachverständigen weder die unmittelbare Befragung dieser Personen gestatten, noch kann der Sachverständige verlangen, daß der Vorsitzende den Zeugen weitere Fragen stellt (Abs. 2). Diese Regelung steht in Widerspruch zu § 80 Abs. 2 StPO, der dem Sachverständigen ausdrücklich ein unmittelbares Fragerecht einräumt. Diese neue Regelung beschneidet die Tätigkeit des Sachverständigen in zweckwidriger Weise. Klaus Müller schreibt zu Recht: „Wenn etwa die Aussage einer Person im Urteil nur mit Hilfe eines psychologischen Gutachtens als Erkenntnisquelle verwertet werden kann, so ist die Vernehmung grundsätzlich dem psychologischen Sachverständigen zu überlassen, soweit aus wissenschaftlichen Gründen die Vernehmung durch den Psychologen selbst erfolgen muß, um die erforderliche gutachterliche Aussage zu ermöglichen" (S. 2 7 4 ) .

In der Vorstellung, daß es vielleicht erforderlich sein könnte, die Probleme aus der Sicht eines Sachverständigen, der täglich mit ihnen konfrontiert ist, auszubreiten, ist der vorstehende Beitrag geschrieben.

Literaturverzeichnis Bockelmann, P. (1955): Strafrichter und psychologischer Sachverständiger. GOLTD. Arch., 321—335. Bohne, G. (1949): Fadipsychologen als Gerichtsgutachten Süddt. JZ, Jg. 4, Sp. 9—16. Fürst (1970): Beweiswert und Beweiswürdigung psychologischer Gutachten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Kraftfahrt u. Verkehrsrecht, 175—186.

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Göppinger, H. (1974): Praxis der Begutachtung. Berlin—Heidelberg—New York. Krauss, D. (1973): Richter und Sachverständiger. Zsch. ges. Strafrechtswiss., Jg. 23, 320—359. Lange, R. (1960): Das juristisch-forensisch-kriminalbiologische Grenzgebiet. H d b . d. Neurosenlehre u. Psychotherapie, Bd. V, 404—454. Peters, K. (1952): Strafprozeß, Karlsruhe. Peters, K. (1965): Die Schwierigkeiten bei der Feststellung abnormer Zustände im Strafverfahren. I n : Erinnerungsgabe f ü r Max Grünhut, Marburg, 129—147. Peters, K. (1970: Bd. I, 1972: Bd. I I ) : Fehlerquellen im Strafprozeß. Karlsruhe.

Die Bedeutung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs für das Strafrecht HERMANN WITTER

Richard Lange hat im Jahre 1962 auf einem Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung die Problematik eines juristischen Krankheitsbegriffes 1 in einem kurzen Vortrag so klar und weitsichtig durchdrungen, daß seine damals geäußerten Gedanken uns unverändert als Leitlinie dienen, wenn wir dieses stets aktuelle Thema im Grenzgebiet zwischen Psychiatrie und Recht erörtern. Hier und an anderer Stelle hat Lange als Jurist auf die Vorzüge hingewiesen, die ein medizinisch fundierter Krankheitsbegriff für das Recht haben kann, und er hat in vorsichtig abwägenden Formulierungen seine Bedenken gegen die Tendenzen zum Ausdruck gebracht, die die Definition der Krankheit im psychiatrischen Bereich allein von der normativen Bewertung abweichenden Verhaltens abhängig machen wollen. In der damaligen Diskussion um eine Neufassung des § 51 StGB, die jetzt ab 1 .1. 1975 als §§ 20, 21 StGB in Kraft getreten ist, unterstrich Lange, daß es darum gehe, den unsicher gewordenen Zweck und Sinn der Grenzziehung für die Schuldfähigkeit wieder klarzustellen, nämlich niemanden für das typischerweise Schicksalhafte im leib-seelischen Gefüge seiner Persönlichkeit verantwortlich zu machen. „Schicksalhaft in diesem Sinne sind Krankheiten, die einen einzelnen treffen, indem sie diejenige leibliche Substanz, mit der das Seelenleben unmittelbar verbunden ist, affizieren, sei es organisch nachweisbar, sei es an eindeutigen Symptomen aufzeigbar. Wenn aufgrund so verstandener Krankheiten der sinngesetzliche Zusammenhang des Handelns zerstört ist, wenn das Verhalten unter dem Diktat der Krankheit steht, ist die Frage nach der Schuld sinnlos 2 ." In den Wendungen „schicksalhaft" und „Diktat der Krankheit" zeichnet sich etwas von der Vorstellung ab, daß der sich ansonsten „frei" entscheidende Geist hier von den Vorgängen im zugehörigen Körper überwältigt wird. Auch wenn man es — so wie wir — bevorzugt, derartige metaphysische Prämissen ganz auszuklammern, kennzeichnen die übrigen Formulierungen von Lange doch in sehr treffen1

1963 2

In

„Die Zurechnungsfähigkeit

S. Anm. (1), Seite 15.

bei Sittlichkeitsstraftätern",

Enke,

Stuttgart

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der Weise den Kern derjenigen psychiatrischen Erkenntnisse über das Wesen der Geisteskrankheit, die in sinnvoller Weise die Grundlage für die Beurteilung der Schuldfähigkeit abgeben. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend wollen wir nachfolgend unseren psychiatrischen Krankheitsbegriff und dessen hervorragende Eignung als Ordnungsgesichtspunkt für die forensische Psychiatrie begründen. In der allgemeinen Medizin hat man an der Festlegung eines Krankheitsbegriifes wenig Interesse, da man ihn in der Praxis kaum benötigt. Auch zur Erforschung und Behandlung von psychischen Krankheiten braucht man keine Krankheitsdefinition, denn es geht nicht um die Herstellung begrifflicher Ordnungen, sondern um die Feststellung konkreter psychischer und körperlicher Tatsachen und deren Beeinflussung durch psychische und körperliche Mittel. So ist es nicht erstaunlich, daß man in den meisten psychiatrischen Lehrbüchern das Wort „Krankheitsbegriff" vergeblich im Sachregister sucht. Psychiatrische wissenschaftliche Forschung und praktische Arbeit kann unter völligem Verzicht auf einen Krankheitsbegriff betrieben werden, und obgleich es keinerlei begriffliche Übereinkunft gibt, läßt sich eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen deutschen, französischen und angelsächsischen Psychiatern bei der Diagnostik, Prognostik und Therapie psychiatrischer Störungen feststellen, wenn es um die konkreten Erscheinungen des psychisch gestörten Menschen geht. Die weltweite Einigung auf den psychiatrischen Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation ist für die internationale Übereinstimmung auf dem Gebiet der psychiatrischen Grundtatbestände ein Beispiel. Die fundamentalen Unterschiede der Psychiatrien verschiedener Kulturen und gesellschaftlicher Systeme, die von denjenigen Publizisten vermutet oder unterstellt werden, die psychiatrische Krankheit ebenso wie Kriminalität ausschließlich als das Ergebnis „gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse" sehen wollen, existieren tatsächlich nicht. Mit diesem Hinweis sollen „Zuschreibungsprozesse" nicht etwa völlig negiert werden, aber ihre Bedeutung ist vergleichsweise gering, wenn man die psychiatrischen Tatsachen ins Auge faßt, die sekundären theoretischen Systematisierungen in der ihnen zukommenden Weise relativiert und von sozial-ethischen Wertungen absieht. Ganz unabhängig von der Verpflichtung auf irgendeinen Krankheitsbegriff und eine darauf gegründete Systematik kann sich der Psychiater also auf eine fundierte Erfahrungswissenschaft stützen, wenn er als gerichtlicher Sachverständiger tätig wird. Zum gesicherten allgemeingültigen psychiatrischen Wissen gehört die Erkenntnis eines Unterschiedes zwischen Psychosen einerseits und neurotisch-psychopathischen Störungen sowie Triebanomalien andererseits. Man kann diesen Unterschied mit Hilfe eines theoretischen

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Krankheitsbegriffs verdeutlichen und die Psychose als „Krankheit" den anderen genannten psychischen Störungen als „nicht-krankhafte" psychische Abnormitäten gegenüberstellen. Man kann aber auch Psychosen und die genannten anderen Störungen unter einem gemeinsamen Krankheitsbegriff zusammenfassen oder aber ganz auf einen Krankheitsbegriff verzichten und den Unterschied mit anderen Hilfsmitteln erläutern. Der Unterschied ist jedenfalls da und wird von allen Psychiatern als solcher erkannt, allenfalls von vereinzelten Außenseitern negiert. Entscheidet man sich dafür, diesen Unterschied mit Hilfe der Bezeichnung „Krankheit" begrifflich abzugrenzen, dann muß klarbleiben, daß dieser Krankheitsbegriff erst nach der Sammlung des Erfahrungswissens einsetzt und lediglich eine Abstraktion liefert, die sich um eine theoretisch-systematische Ordnung unseres Wissens bemüht und die Verständigung über bestimmte Erkenntnisgehalte erleichtern soll. Der Jurist ist aufgrund seiner gewohnten Arbeits- und Denkweise leicht geneigt, im Krankheitsbegriff nicht nur ein Verständigungs- und Orientierungsmittel zu sehen, sondern er möchte die begriffliche Definition auch als Maßstab zur Klärung psychiatrisch-diagnostischer Zweifelsfragen heranziehen. Damit wird die Anforderung an den Krankheitsbegriff überspannt, die Möglichkeiten und Grenzen seiner Brauchbarkeit werden verkannt. Man wird sich nun fragen, warum die begriffliche Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen Psychosen einerseits und neurotisch-psychopathischen Störungen sowie Triebanomalien andererseits ein besonderes Interesse für das Strafrecht haben soll? Psychosen beeinträchtigen in der Regel die soziale Orientierung des Individuums in ganz anderer, fundamentalerer Weise als dies bei neurotisch-psychopathischen Störungen und Triebanomalien der Fall ist. Darauf werden wir nachher nochmals zurückkommen. Hier sei nur festgehalten, daß dann, wenn man die Funktion des Strafrechts vorrangig in der Erfüllung einer sozialen Aufgabe sieht, die Kenntnis von Art und Ausmaß einer Beeinträchtigung der sozialen Orientierungsfähigkeit von entscheidender Bedeutung wird. Dies ist der wesentliche Grund dafür, daß der Krankheitsbegriff ein so wichtiges Hilfsmittel für die forensische Psychiatrie wird. Wir haben einen psychiatrischen Krankheitsbegriff mehrfach ausführlich erläutert3, zuletzt im Handbuch der forensischen Psychiatrie4. 3 Psychopathologie, Krankheitsbegriff und forensische Freiheitsfrage in „Psychopathologie heute", Thieme, Stuttgart 1962; Grundriß der Gerichtlichen Psychologie und Psychiatrie, Springer, Berlin—Heidelberg—New York 1970. 4 Hdb. d. forens. Psychiatr., Springer, Berlin—Heidelberg—New York 1972, S. 477—481 und S. 968, 969.

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Hier sei nur das Wichtigste ganz kurz zusammenfassend festgehalten: Der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie läßt sich von zwei Seiten her bestimmen: Durch die psychologische Methode des Verstehens und durch die medizinische Methode des Erklärens. Wenn wir mit der psychologischen Methode des Verstehens seelischabnorme Erscheinungen analysieren, dann können wir solche quantitativer und qualitativer Art unterscheiden. Quantitative seelische Abnormitäten weichen von der Durchschnittsnorm durch die Intensität und Dauer der seelischen Erscheinungen ab, sie bleiben aber im Rahmen sinnvoller Erlebniszusammenhänge und insofern dem Verstehen zugänglich. Dies gilt für die neurotisch-psychopathischen Störungen und für die sexuellen Triebanomalen. Das Kennzeichen der qualitativen Abnormität ist dagegen die Nicht-Verstehbarkeit der seelischen Erscheinungen, die sowohl durch die fehlende Sinnkontinuität der Erlebnisinhalte als auch durch die unverständliche Erlebensform begründet sein kann. Durch solche qualitativ abnorme Phänomene zeichnen sich die Psychosen aus. Die qualitative Abnormität der Psychosen ist das psychologische Kriterium von Krankheit. Die Krankhaftigkeit dieser seelischen Störungen wird dann zusätzlich dadurch belegt, daß sich die abnormen seelischen Erscheinungen durch körperliche Krankheitsprozesse medizinisch erklären lassen. So tritt zur psychologischen Methode des Verstehens die medizinische Methode des Erklärens und die Feststellung von Krankheit kann sich auf zwei ganz unterschiedliche Argumente stützen. Der grundsätzliche Unterschied zwischen Psychosen einerseits und neurotisch-psychopathischen Störungen sowie Triebanomalien andererseits wird also durch die psychologische Differenz zwischen qualitativer und quantitativer Abnormität ausgedrückt. Die zusätzliche somatologische Krankheitsbegründung, die durch die Rückführbarkeit der qualitativ abnormen seelischen Erscheinungen auf körperliche Krankheitsprozesse geliefert wird, läßt sich bis heute nur bei einem Teil der Psychosen nachweisen, bleibt im übrigen vorläufig eine — allerdings sehr begründete — Hypothese. An dieses offene Problem werden in der Gegenwart viele, oft fehlgeleitete Diskussionen geknüpft, auf die wir an dieser Stelle aus Raumgründen nicht eingehen können. Dieses Problem braucht hier auch gar nicht weiter erörtert zu werden, denn maßgebend ist für unseren psychiatrischen Krankheitsbegriff auf jeden Fall das psychologische Kriterium. Psychiatriegeschichtlich ist leicht verständlich zu machen, daß die somatische Stütze des Krankheitsbegriffes unter dem Einfluß der Epoche des großen naturwissenschaftliches Fortschritts überbetont

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wurde. Man spricht auch heute in der forensischen Psychiatrie immer wieder von einem „medizinischen" Krankheitsbegriff anstelle eines „psychiatrischen" Krankheitsbegriffes und der somatische Aspekt wird bei der Diskussion forensischer Probleme in einer unzulässigen Vereinfachung verabsolutiert. Maßgeblich für die Feststellung einer Krankheit des Geistes ist nicht der zugrunde liegende nachgewiesene oder vermutete körperliche Krankheitsvorgang, sondern die psychopathologische Störung. So ist beispielsweise das auf eine schwere Arteriosklerose rückführbare leichte hirnorganische Psychosyndrom keine Geisteskrankheit, solange das psychologische Kriterium der Geisteskrankheit fehlt und umgekehrt ist die schwere paranoische Wahnbildung eine Geisteskrankheit, obgleich ein zugrunde liegender somatischer Krankheitsvorgang höchst zweifelhaft und eher unwahrscheinlich ist. Die Psychopathologie hat also das Primat und die Entscheidung über die Frage „krankhaft" muß in der forensischen Psychiatrie mit psychopathologischen Mitteln getroffen werden. Dies hat in Ubereinstimmung mit uns5 mit der notwendigen Klarheit auch Janzarik6 herausgestellt, der bei der Erörterung der Problematik des Krankheitsbegriffs mit kritischen Bemerkungen auf die biologistischen Verkürzungstendenzen vieler Sachverständiger hingewiesen hat. "Wie stark diese biologistischen Verkürzungstendenzen nicht nur bei Psychiatern, sondern noch mehr bei Juristen verbreitet sind, hat in jüngster Zeit beispielhaft die Diskussion um die forensische Bedeutung der Chromosomenanomalie X Y Y gezeigt7. Wir kommen später auf diese Frage zurück. Mit der psychologischen Unterscheidung zwischen (krankhaften) qualitativ und (nicht-krankhaften) quantitativ abnormen seelischen Erscheinungen, — die in den Grenzen unseres naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes auch biologisch begründbar ist —, kann die Psychiatrie dem Recht eine relativ klare seinswissenschaftliche Feststellung unterbreiten, die sich auf die vielfach gesicherte psychopathologische Erfahrung an Psychosen einerseits und an neurotisch-psychopathischen Zuständen im weitesten Sinne andererseits stützt. Mit der Abstraktion des Krankheitsbegriffs wird der Kerngehalt dieser seinswissenschaftlichen Feststellung auf eine Kurzformel gebracht, deren Vereinfachung und Vergröberung man als unvermeidliche Folge jeder kognitiven Reduktion hinnehmen muß. Selbstverständlich gestattet dieser Begriff nicht in jedem konkreten Einzelfall eine alternative, S. A n m . 4 , S. 7 2 5 . , 7 Grundriß der gerichtlichen Psychologie und Psychiatrie, Springer, B e r l i n — H e i d e l b e r g — N e w Y o r k 1970, S 2 5 7 — 2 6 0 . 6

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klare Entscheidung nach der einen oder anderen Richtung. Das Qualitative und Quantitative erscheinen vielmehr in einer polar-skalaren Ordnung mit einer breiten verschwimmenden Umschlagszone und es gibt den immer wieder zitierten „Grenzfall", dessen Häufigkeit und praktische Bedeutung allerdings von Juristen meist sehr überschätzt wird. Jedenfalls gestattet es der psychiatrische Krankheitsbegriff „in dem ungewissen Wasser Pfähle zu setzen, an denen sich die wegsuchenden Schiffe orientieren können, die sonst Gefahr liefen, planlos herumzukreuzen". Die Frage ist nun, wie der psychiatrisch gelieferte Ordnungsgesichtspunkt im Strafrecht zum Tragen kommen soll. Die Begründung der rechtlichen Schlußfolgerungen, die aus der Unterscheidung zwischen krankhaften und nicht-krankhaften seelischen Erscheinungen gezogen werden, hängt maßgeblich von der Betrachtungsweise der Schuldfähigkeit ab. Der Streit um das richtige Grundprinzip der Schuldfähigkeit ist seit der Inkraftsetzung unseres Strafgesetzbuches vor rund 100 Jahren nie mehr zur Ruhe gekommen und bis heute finden wir nicht nur bei den Vertretern der Rechtslehre, sondern auch in den Entscheidungen der Rechtspraxis unterschiedliche Auffassungen. Grob vereinfacht kann man sagen, daß sich die unterschiedlichen Auffassungen irgendwo auf einer Skala bewegen, deren polare Bezugspunkte an einem Ende durch den indeterministischen Begriff der „Willensfreiheit", am anderen Ende durch den deterministischen Begriff der „Strafempfänglichkeit" gekennzeichnet werden können. Dominierend ist bis heute — vor allem auch in den Entscheidungen der Rechtspraxis — die Auffassung, die auch den Verfassern des Strafgesetzbuches vor Augen stand: Die Schuldfähigkeit eines Straftäters besteht darin, daß er auch anders hätte handeln können; die Schuldunfähigkeit besteht darin, daß der Täter nicht anders handeln konnte, weil die zum Andershandelnkönnen erforderliche Willensfreiheit ausgeschlossen war. Demgegenüber hat als erster besonders nachhaltig Liszt einen Schuldbegriff, der auf dem Urteil basiert: „Du hättest anders handeln können" ausdrücklich abgelehnt und die Schuldfähigkeit als „normale Bestimmbarkeit durch Motive" definiert. Der entscheidende Gesichtspunkt für die Zuerkennung der Schuldunfähigkeit wird nach dieser Auffassung die Unempfänglichkeit für die durch die Strafe bezweckte Motivsetzung. Es ist klar, daß die Verabsolutierung der erstgenannten indeterministischen Auffassung den Boden für ein reines Vergeltungs- oder „Gerechtigkeitsstrafrecht" abgibt, während die Verabsolutierung der an zweiter Stelle genannten Auffassung zum reinen Zweck- oder Maßnahmerecht hinführen muß. Eine allen Erfordernissen des Lebens gerechtwerdende praktische Lösung wird immer zwischen den beiden Prinzipien liegen müssen und

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deshalb nehmen die Vertreter der verschiedenen Auffassungen in der Gegenwart meist einen vermittelnden Standpunkt ein, der es ermöglicht, die theoretischen Gegensätze in der Praxis weitgehend zum Ausgleich zu bringen. So vertritt in unserem Handbuch der forensischen Psychiatrie beispielsweise Lenckner vom Grundsatz her das Prinzip der „Willensfreiheit", während Haddenbrock — gestützt auf Bockelmann — die „Freiheitsfrage" ausklammert und dem Prinzip der Strafempfänglichkeit unter dem Begriff „Sühnefähigkeit" einen bedeutenden Platz einräumt. Lenckner konzediert aber, daß der positive oder negative Nachweis von Willensfreiheit und der Fähigkeit zum Andershandelnkönnen im konkreten Einzelfall nicht möglich ist und Haddenbrock deckt seinerseits das Bedürfnis nach einer sittlichen Begründung des Schuldvorwurfs dadurch ab, daß er neben die als Strafempfänglichkeit gedachte Sühnefähigkeit als zweiten die strafrechtliche Schuldfähigkeit konstituierenden Begriff den der „Verantwortungsfähigkeit" stellt. So können die unterschiedlichen Ausgangsstellungen, deren Gegensätzlichkeit die Theoriediskussion beherrscht, bei der Lösung des konkreten Falles der Rechtspraxis letztlich doch zu einem konkordanten, allseits befriedigenden Ergebnis hingeführt werden. Die Beurteilung der Frage der Verantwortungsfähigkeit, die wir ganz im Sinne von Haddenbrock verstehen 8 , ist der Angelpunkt für den Einsatz unseres psychiatrischen Krankheitsbegriffs. Sehr treffend erscheint uns Bockelmann's Ausdrucksweise, daß es sich bei der Schuldunfähigkeit um die Zerstörung oder erhebliche Störung der Gesetzlichkeit handele, der auch die das Spezifische der menschlichen H a n d lung ausmachende finale Determination folge 9 . Genau dies entspricht aber dem psychopathologischen Kriterium unseres psychiatrischen Krankheitsbegriffs. Die krankhaften seelischen Erscheinungen mit ihren nach Inhalt und Form uneinfühlbaren und unverständlichen — eben qualitativ abnormen — psychischen Phänomenen lassen uns evident werden, daß der Kranke nicht mehr in der Welt unserer Sinnzusammenhänge lebt, daß bei dem Kranken die sinngesetzliche Ordnung der Erlebenszusammenhänge sich lockert, zerreißt und zerfällt und daß damit die Voraussetzung zur geistigen Teilhabe an unserer sozialen Welt verlorengeht. Bei solcher Sachlage wird Strafe sowohl aus spezialpräventiver als auch generalpräventiver Sicht sinn- und zwecklos und wenn das Strafrecht eine soziale Aufgabe erfüllen soll, dann leuchtet ein, daß beim Vorliegen psychiatrischer Krankheit dem 8 9

S. Anm. (4), S. 900 ff. Zeitschr. f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft 75, S. 377.

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sozialen Bedürfnis nach Rechtsgüterschutz und Sicherheit nur noch durch ein Maßregelsystem Rechnung getragen werden kann. Die Sachlage ist dagegen bei den nicht-krankhaften seelischen Störungen ganz anders, weil diese die sinngesetzliche Ordnung des Erlebens nicht beeinträchtigen, — diese wird lediglich bei den Grenzfällen, die im psychopathologischen Übergangsbereich zur Krankheit liegen, zweifelhaft. Allerdings kann sich unter Umständen auch bei einer nicht-krankhaften seelischen Störung herausstellen, daß die erhoffte spezialpräventive Wirkung der Strafe ausbleibt und es bleibt dann nur noch der generalpräventive Aspekt zur Rechtfertigung der Strafe. Ein einfaches Beispiel möge dies verdeutlichen: Es ist ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem schizophrenen Exhibitionisten, der exhibierte, weil ihm eine Stimme aus dem Jenseits den Auftrag dazu erteilte, und dem neurotisch-psychopathischen Exhibitionisten, der exhibierte, weil er nur mit dieser Sexualpraktik die erstrebt besondere Art sexueller Befriedigung erreichen kann. Bei dem erstgenannten Täter werden wir auch ganz unabhängig von der Exhibition feststellen können, daß er außerhalb der Welt unserer Sinnzusammenhänge lebt. Deshalb kann nur im zweitgenannten Falle Strafe oder Strafandrohung ein geeignetes Mittel sein, eine Verhaltensänderung für die Zukunft herbeizuführen. Etwa in 50 °/o der erstmalig verurteilten — im weitesten Sinne des Wortes neurotisch-psychopathischen — Sexualtäter zeigt sich die spezialpräventive Wirkung auch im Ausbleiben des Rückfalls. Allerdings erweist sich bei einem Teil der neurotisch-psychopathischen Täter — insbesondere beispielsweise bei den sogenannten typischen Exhibitionisten — daß auch wiederholte Strafe spezialpräventiv wirkungslos bleiben kann und Rückfall auf Rückfall folgt. Bei derartigen Fällen, deren Entwicklung bei der sorgfältigen psychologisch-psychiatrischen Untersuchung der Prognose innerhalb bestimmter Wahrscheinlichkeitsgrenzen voraussehbar ist, eröffnet der Rückgriff auf das Rechtsinstitut der verminderten Schuldfähigkeit die Möglichkeit, vom zwecklos gewordenen Strafübel zur sinnvollen Maßregel überzugehen. Die Begründung für die Zuerkennung der verminderten Schuldfähigkeit ist unseres Erachtens aber in einer ganz anderen Ebene zu suchen, als die zur Zuerkennung der Schuldunfähigkeit. Nicht die Feststellung einer Veränderung des Erlebens, die im psychopathologischen Sinne krankhaft ist, führt zur Anerkennung der verminderten Schuldfähigkeit, sondern die vermutete und empirisch überprüfbare mangelnde oder fehlende „Strafempfänglichkeit". Unter der vorstehend skizzierten Konzeption vertreten wir die psychologisch-psychiatrischen Voraussetzungen für ein „soziales Schuldstrafrecht", welches einen vernünftigen Mittelweg zwischen

D i e B e d e u t u n g des psychiatrischen K r a n k h e i t s b e g r i f f s f ü r das S t r a f r e c h t

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einem auf d e r menschlichen V e r a n t w o r t u n g s f ä h i g k e i t a u f b a u e n d e n „Gerechtigkeitsrecht" u n d einem auf die R e s o z i a l i s i e r u n g des T ä t e r s u n d d e n Schutz d e r Gesellschaft b e d a c h t e n sozialen M a ß r e g e l r e c h t sucht. D i e O r i e n t i e r u n g a m psychiatrischen K r a n k h e i t s b e g r i f f l i e f e r t die G r u n d p r i n z i p i e n z u r U n t e r s c h e i d u n g S c h u l d f ä h i g e r u n d Schuldu n f ä h i g e r , die psychologisch-psychiatrische kriminologische P r o g n o s e l i e f e r t die G r u n d l a g e z u r B e s t i m m u n g d e r v e r m i n d e r t e n S c h u l d f ä h i g keit. Selbstverständlich sind die beiden theoretisch deutlich v o n e i n a n d e r a b g e s e t z t e n P r i n z i p i e n in der p r a k t i s c h e n A r b e i t nicht a l t e r n a t i v u n d scharf g e t r e n n t z u sehen, s o n d e r n sie e r g ä n z e n u n d ü b e r schneiden sich. J e d e n f a l l s k a n n sich d e r S a c h v e r s t ä n d i g e u n t e r dieser K o n z e p t i o n g a n z auf empirisch-seinswissenschaftliche Feststellungen b e s c h r ä n k e n u n d jede Aussage ü b e r W i l l e n s f r e i h e i t u n d d e r e n E i n s c h r ä n k u n g v e r m e i d e n . Ü b e r l e g u n g e n dieser A r t bleiben d e m R i c h t e r überlassen, in dessen K o m p e t e n z sie auch gehören. Der psychiatrische Sachverständige wird also gegen die richterliche Beurteilung der Schuldfähigkeit unter der Vorstellung einer mehr oder minder großen Beeinträchtigung der „freien Willensbestimmung" nichts einzuwenden haben, solange ihm nicht zugemutet wird, seinerseits im Rahmen eines Denkmodells zu operieren, in dem das widerstreitende Kräftespiel zwischen (bösen) Antrieben und (gutem) Willen — auch Hemmungsfähigkeit oder Steuerungsfähigkeit genannt — quantitativ kalkuliert werden soll. In der richterlichen Entscheidungspraxis wird dabei meist die religiös-weltanschaulich tradierte Vorstellung eingesetzt, daß ein freier Geist oder Wille, dessen Existenz ganz unabhängig von jeder körperlichen Grundlage gedacht wird, in seinem zugehörigen Körper sozusagen nur wohnt, sidi mit diesem Körper in ständiger Auseinandersetzung befindet und dadurch in seiner freien Entfaltung mehr oder weniger behindert wird. Kommt zu dieser Vorstellung dann weiter die Annahme, daß die Korrelation körperlicher und seelischer Veränderungen einer direkten quantitativen Gesetzlichkeit unterworfen ist und deshalb aus somatischen Befunden unmittelbar auf das Ausmaß psychischer Beeinträchtigungen geschlossen werden könne, dann ist man bei der biologistischen Vereinfachung der Beurteilung der Schuldfähigkeit, auf die wir im Eingang unserer Ausführungen bereits hingewiesen haben. Diese stützt sich dann in einseitiger Weise auf einen nur „medizinisch" begründeten Krankheitsbegriff und beachtet nicht, daß die weit wichtigeren psychopathologischen Kriterien des Krankheitsbegriffs fehlen. So kam es beispielsweise zu der forensischen Uberbewertung der 1961 entdeckten Chromosomenanomalie XYY, die wir vorstehend bereits erwähnt haben. H a t man die Schuldfähigkeit rückfälliger schwach begabter Gewalttäter zu beurteilen und räumt hierbei den Trägern der Chromosomenanomalie X Y Y eine volle Exkulpation ein, dann muß man konsequenterweise alle schwach begabten rückfälligen Gewalttäter voll exkulpieren. Nach unseren biologischen und psychologischen Kenntnissen kann doch

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nicht bezweifelt werden, daß alle schwach begabten Rückfalltäter in ihrer körperlichen Struktur irgendetwas haben, was ihre Verhaltensdispositionen in sozial unerwünschter Weise mitbestimmt. Die Annahme, daß der schwach begabte Rückfalltäter ohne Chromosomenanomalie aus freiem Willen aggressiv ist, bei dem gleichartigem Rückfalltäter mit Chromosomenanomalie aber der freie Wille dem Chromosomeneinfluß erlegen ist, kann nur aus einer naiv deformierten Interpretation des vorgenannten dualistischen Denkschemas abgeleitet werden. Wenn wir den Träger der Chromosomenanomalie X Y Y allein wegen seines biologischen Befundes exkulpieren würden, den psychologischen Parallelfall, bei dem wir über die körperlichen Grundlagen der seelischen Abnormität noch nichts wissen, dagegen nicht exkulpieren, dann würden wir die Exkulpation vom gegenwärtigen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft abhängig machen. Dies erschiene aber doch unerträglich. Man wird vielleicht einwenden, daß die Chromosomenanomalie als Mißbildung doch in den Grenzbereich krankhafter körperlicher Veränderungen falle und insoweit auch berücksichtigt werden müsse. Das ist richtig, aber die Krankheitsnähe der Chromosomenanomalie wird nur dann rechtlich relevant, wenn gleichzeitig im seelischen Bereich die Kennzeichen des Krankhaften vorliegen, also entsprechende psychopathologische Besonderheiten nachweisbar sind. Aus den psychologischen und psychopathologischen Befunden ergeben sich primär die Gesichtspunkte, die über Verneinung oder Bejahung der Exkulpation entscheiden. — Selbstverständlich ist die Feststellung der Chromosomenanomalie nicht gleichgültig, denn der Wissenszuwachs über die somatische Fundierung psychischer Normabweichungen erweitert unseren Gesichtskreis und erleichtert angemessene Menschenbeurteilungen. Die Kenntnis der Chromosomenanomalie kann vielleicht auch für die Fragen nach der Prognose und Behandlung des Täters zusätzliche Gesichtspunkte erbringen, die dann im Rahmen nach der Frage der Strafempfänglichkeit Gewicht erlangen können. Die Neufassung der Bestimmungen über die Schuldunfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB, die am 1. 1. 1 9 7 5 in K r a f t getreten ist, gibt die Möglichkeit, die Orientierung am psychiatrischen Krankheitsbegriff wieder voll zum Zuge kommen zu lassen, weil der „krankhaften seelischen Störung" die „schwere andere seelische Abartigkeit" als neues Merkmal gegenübergestellt wurde. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hatte in der Auslegung des alten § 51 StGB entschieden, daß nicht nur die Geisteskrankheiten im klinisch-psychiatrischen Sinne, sondern „alle Arten von Störungen der Verstandestätigkeit sowie des Willens-, Gefühls- und Trieblebens, welche die bei einem normalen und geistig reifen Menschen vorhandenen, zur Willensbildung befähigenden V o r stellungen und Gefühle beeinträchtigen" — also auch neurotisch-psychopathische Störungen und Triebanomalien — krankhaft im juristischen Sinne sein können. Der Kunstgriff, mit Hilfe einer juristischen

D i e Bedeutung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs für das Strafrecht

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Definition den als zu eng erachteten psychiatrischen Krankheitsbegriff auszuweiten, war von der Rechtsprechung als notwendig erachtet worden, um die Einschränkung der Zurechnungsfähigkeit, die man insbesondere bei schweren sexuellen Triebanomalien anerkennen wollte, mit dem Wortlaut des § 51 StGB vereinbaren zu können. Indessen waren die Vorteile, die der klar abgrenzbare und empirisch fundierte psychiatrische Krankheitsbegriif für die Rechtssicherheit gebracht hatte, durch diesen juristischen Krankheitsbegriff gefährdet worden. Nach der Neufassung des Gesetzes ist dieser Kunstgriff nicht mehr erforderlich, da auch die nicht-krankhafte seelische Abartigkeit exkulpieren kann, sofern sie entsprechend schwer ist. Bei den Beratungen der Strafrechtsreform bestand zunächst die Absicht, in einer sogenannten differenzierenden Lösung die seelische Abartigkeit von der Exkulpation des § 20 StGB auszuschließen. Später setzte sich die Auffassung durch, daß in Ausnahmefällen die seelische Abartigkeit so erhebliche Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit haben könne, daß auch eine volle Exkulpation angebracht sei und dementsprechend müsse die seelische Abartigkeit auch in § 20 StGB genannt werden. Die sogenannte differenzierende Lösung wurde deshalb in der endgültigen Fassung des Strafrechtsreformgesetzes wieder aufgegeben. Unseres Erachtens ist eine seelische Abartigkeit — also eine neurotisch-psychopathische Störung oder eine Triebanomalie — dann ein ausreichender Grund zur vollen Exkulpation, wenn sie psychoseähnlich ist, also im Grenz- oder Übergangsbereich zu den Psychosen oder psychotischen und hirnorganischen Persönlichkeitsveränderungen liegt. Klinisch-psychiatrisch wird man beispielsweise an differentialdiagnostische Zweifelsfälle zwischen schizothymer Psychopathie und schizophrenem Defekt oder auch zwischen hyperthymischer Psychopathie und chronischer Manie sowie an praenatal oder frühkindlich entstandene endokrine und hirnlokale Psychosyndrome denken. Alle diese Grenzfälle, die mit den vorstehenden diagnostischen Bezeichnungen angedeutet sind, werden üblicherweise auch unter dem Begriff „Pseudopsychopathien" zusammengefaßt. In den Problemkreis der Grenzfälle gehört des weiteren die sogenannte Paranoia, also psychopathologische Übergangsformen zwischen paranoischer Psychose, insbesondere paranoischer Schizophrenie einerseits und paranoisch-wahnbildenden psychopathischen Persönlichkeitsreaktionen und erlebnisreaktiven Entwicklungen andererseits. Der Vollständigkeit halber sei unter den Grenzfällen schließlich noch die psychoseähnliche Zwangsneurose genannt, wenngleich sie kriminologisch meist bedeutungslos ist. Bei den sexuellen Triebanomalien hat Giese unter der Bezeichnung der „süchtigen Triebentgleisung" Ausnahmezustände beschrieben, die

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psychoseähnlichen Charakter erreichen können, allerdings nur in extrem seltenen Fällen. Insgesamt kann man sagen, daß sich bei allen diesen diagnostischen Grenz- und Ubergangsfällen die Orientierung an unserem psychiatrischen Krankheitsbegriff bewährt. Hätte man also im Strafrecht die differenzierende Lösung beibehalten und die Rechtsfolgen der schweren seelischen Abartigkeit auf die Dekulpation des § 21 StGB beschränkt, dann hätte man dem Exkulpationsbedürfnis bei den selteneren sehr schweren neurotisch-psychopathischen Störungen und Triebanomalien auch dadurch Rechnung tragen können, daß man sie als „krankhafte seelische Störung" in den § 20 StGB eingeordnet hätte. Sieht man von den sehr seltenen psychoseartigen oder psychoseähnlichen Fällen seelischer Abartigkeit ab, dann ist im übrigen die Beurteilung der Schwere der seelischen Abartigkeit unseres Erachtens aus dem prognostischen Aspekt, d. h. aus der „Strafempfänglichkeit" abzuleiten. Je ungünstiger die Prognose ist, desto eher scheint uns eine Dekulpation begründbar, die es ermöglicht, Strafe und Maßregeln in einem sinnvollen Vorgehen zu koordinieren, bei dem die Behandlung und Resozialisierung des Täters und der Schutz der Gesellschaft in den Vordergrund gestellt werden. Wenn sich die Rechtsprechung bei der Anwendung des § 21 StGB nicht von der Vorstellung lösen will, daß es auf die Kalkulation des Kräfteverhältnisses von Trieb und Hemmungsfähigkeit ankommt, dann steht nichts im Wege, daß die schlechte Prognose, also die Unbeeinflußbarkeit des Täters durch die Strafe, als ein Indiz für die Einschränkung der Hemmungsfähigkeit interpretiert wird. Würde man sich unter den vorgenannten Gesichtspunkten bei der schweren seelischen Abartigkeit auf die Dekulpation beschränken und eine Exkulpation nur bei psychotischen, psychoseartigen oder psychoseähnlichen Störungen in Betracht ziehen, — die unter die „krankhafte seelische Störung" subsumiert werden könnten, — dann könnte man in der Rechtsprechung die bisherige Privilegierung der sexuellen Triebanomalien auch fallen lassen und eine rechtliche Gleichstellung der anderen neurotisch-psychopathischen Störungen mit den Triebanomalien herbeiführen. Dies wäre ein sinnvoller Ausbau der auf einen verstärkten Einsatz von Maßregeln gerichteten Tendenzen der Strafrechtsreform. Der psychiatrische Sachverständige kann in diesem Rahmen seinen Beitrag durch die Beurteilung der Prognose und eine (realistische!) Darstellung der Behandlungsmöglichkeiten leisten. Biographie, Persönlichkeitsdiagnostik, Triebdiagnostik und die Analyse des deliktischen Verhaltens lassen zusammengefaßt eine aus der kriminologischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Erfahrung ge-

Die Bedeutung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs für das Strafrecht

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wachsene Verhaltensprognose zu, deren Zuverlässigkeit für die forensische Praxis ausreichend erscheint. Lange hat bei seinem weitsichtigen Vortrag im Jahre 1962 in der wohlüberlegten Koordination psychiatrischer Erkenntnisse und strafrechtlicher Reformbestrebungen eine Bevorzugung der differenzierenden Lösung zum Ausdruck gebracht. Unsere doppelspurige Konzeption der Beurteilung der Schuldfähigkeit, die vom Krankheitsbegriff her Verantwortungsfähigkeit und Schuldunfähigkeit, von der Prognose her Strafempfänglichkeit und verminderte Schuldfähigkeit festzulegen versucht, spricht gleichfalls für eine solche Lösung. Wenn bei der Strafrechtsreform in der abschließenden Formulierung schließlich von der angestrebten differenzierenden Lösung nur noch die Aufteilung des alten einheitlichen § 51 in die zwei neuen § § 2 0 und 21 übriggeblieben ist, dann wird doch aufgrund der Gegensätzlichkeit, die die Gegenüberstellung der neuen Merkmale „krankhafte seelische Störung" einerseits und „schwere andere seelische Abartigkeit" andererseits zum Ausdruck bringt, nahegelegt, die differenzierende Lösung in der Rechtspraxis zum Zuge kommen zu lassen.

Zur Psychopathologie und Dynamik destruktiver Tropismen FRIEDRICH J . STUMPFL

Das Auftreten von Delinquenz ist gebunden an ein komplexes Geschehen von System-Interferenzen, die wir als kriminogene Bedingungskonstellationen bezeichnen. Die Zahl derartiger möglicher Konstellationen ist Legion, aber ihnen allen liegen Sequenzen dynamischer Ablaufsformen im Bereich oszillierender Strukturen zugrunde, die sich auf gewisse Grundgesetzlichkeiten im Bereich der Vitalkategorie menschlichen Verhaltens und ihre Interaktionen mit gestuften Konflikten und Syndromsequenzen zurückführen lassen. Auf die Analyse dieser Grundgesetzlichkeiten menschlicher Handlungen, die Bürger-Prinz schon 1942 gefordert hat, soll hier nicht eingegangen werden. Sie liegen tiefer als jene Weichenstellungen, die darüber entscheiden, ob das Verhalten als delinquent, wahnhaft oder kreativ zu werten ist. Der Begriff Bedingungskonstellation besagt, daß nicht zählbare oder statistisch erfaßbare Faktoren, sondern dynamische Interferenzen zwischen biologischen, neuropsychologischen, erlebnisreaktiven, sozialen und noologischen Systemen bzw. Strukturen in ihren chronobiologischen Beziehungen untereinander und zu Wendepunkten oder Konfliktlagen in der Entwicklung pragmatographisch und in ihren diachronen Verlaufsgestalten aufgezeichnet werden. Wenn also der Tod einer Vater-Figur und ein pathopsychologischer Syndromwandel zeitlich zusammenfallen, so wird das registriert und mit den übrigen Interferenzen in eine verständliche oder erklärende Beziehung gebracht. Eine besondere Rolle spielen in diesen Prozessen die verschiedenen Formen eines biologischen Strukturwandels. Es gibt kaum einen kriminogenen Prozeß, in dem nicht ein solcher Strukturwandel nachweisbar wäre. Wir sprechen deshalb von biologischer Fensterwirkung. Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß zur Freisetzung eines delinquenten Verhaltens der Durchgang oder die Synchronisierung mit einem biologischen Syndromwandel, etwa einer cerebralen Dekompensation, einer Reifungsstörung in der Pubertät, einem psychologischen Syndromwandel, einem endokrinen Psychosyndrom, einem beschleunigten Längenwachstum, einer Exazerbation bei Schizophrenie, einem Durchgangssyndrom, um nur Einiges zu nennen, erforderlich ist. Hier greifen wir jetzt aus der Fülle von Einzelstrukturen (-Funktionen) einer kriminogenen Bedingungskonstellation ein Phä-

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nomen heraus, das kommunikationswissenschaftlich aus Abnormisierungen der Wechselbeziehungen zwischen Individuen seinen Ursprung nimmt, in denen sich ein Differenzierungsprozeß der Normen individuellen Verhaltens abspielt. Bateson hat diesen Differenzierungsprozeß als Schismogenese bezeichnet. Einem solchen Prozeß liegt die Tendenz zu fortschreitender Veränderung zugrunde. Wir gehen von einem konkreten Fall aus. Eine Frau, die nach zwanzigjähriger Haft zur Frage der vorzeitigen Entlassung psychiatrisch untersucht wird, hat, anscheinend in einem Streit, während ihr invalider und nicht arbeitsfähiger, nahezu blinder Ehemann auf einem Kuraufenthalt war, ihre Schwiegermutter erwürgt und anschließend im Backofen des Hauses verbrannt. Ohne auf die äußerst komplexen Bedingungskonstellationen zur Zeit der Tat näher einzugehen, es sei nur erwähnt, daß die Schwiegermutter und die übrigen Verwandten ihres Mannes immer gegen sie eingestellt waren und ihr den Erfolg neideten, daß sie den vollkommen verwahrlosten Hof wieder in die Höhe gebracht und für drei Männer gearbeitet hatte, heben wir eine Struktur hervor, durch die die Interaktionen zwischen der Täterin und ihrem Opfer charakterisiert waren. Aus den Protokollen der seinerzeitigen Verhandlungen, insbesondere aus den Angaben des Ehemannes, läßt sich eindeutig nachweisen, daß die Schwiegermutter in den letzten Jahren ein paranoides Syndrom entwickelt hat, das sich gegen die Täterin richtete. Immer wieder behauptete sie, da in das Mehl hat sie wieder Gift hineingegeben, die Äpfel sind schon wieder vergiftet und dergleichen. Man hat diese Angaben damals nicht beachtet, und sie scheinen auch in den psychiatrischen Gutachten nicht auf. Wir bezeichnen dieses Wahnsyndrom im konkreten kriminogenen Bedingungszusammenhang als destruktiven Tropismus und erblicken in ihm ein sich steigerndes interpersonales dynamisches Geschehen, das entscheidend zum Zustandekommen der Tathandlung beigetragen hat. Denn es war offensichtlich, daß die Täterin diese Anschuldigungen nicht als krankhaft oder wahnhaft erkannte, sondern für reine Bosheit hielt, über die sie „fuchsteufelswild" wurde, wenn sie wieder von so einem Ausspruch erfuhr. Der Begriff kriminogene Bedingungskonstellation soll zum Ausdruck bringen, daß derartige dynamische Prozesse zusammen mit allen übrigen, deren Strukturgesetzlichkeiten wir an anderer Stelle analysiert haben, zu einer Gesamtdynamik vereinigt sind, in der keines ihrer Elemente fehlen darf. Anders ausgedrückt, wäre dieses Syndrom nicht gewesen, wäre auch die Tat nicht zustande gekommen. Die einzelnen Elemente sind nicht additiv miteinander verbunden, sondern durch Rückkoppelungen, rhythmische Koaktionen und gesetzmäßige Sequenzen, wobei sich Strukturwandel und Funktionswandel

Zur P s y d i o p a t h o l o g i e und D y n a m i k destruktiver T r o p i s m e n

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an psychopathologischen Syndromen ablesen lassen, die wir als pragmatophore Syndrome und Pathorhythmien beschrieben haben. Auch die Interferenzen von Aktualkonflikt, Grundkonflikt und Primärkonflikt zeigen bei kriminogenem Strukturwandel bestimmte Besonderheiten, unter denen die positive Rückkoppelung des Aktualkonfliktes an den Grundkonflikt hervorzuheben ist. Das Wirksamwerden destruktiver Tropismen hat sonach immer schon eine gewisse Einschränkung psychischer Gleichgewichtszustände und eine innere Konfliktlage spezifischer Art zur Voraussetzung. Während man nun eine kriminogene Bedingungskonstellation in keinem Fall vermissen kann, wenn es zu kriminellem Verhalten kommt, sind destruktive Tropismen in unserem Sinn durchaus nicht immer nachweisbar und wahrscheinlich auch in vielen Fällen gar nicht gegeben, jedenfalls dann nicht, wenn man den Begriff eng faßt und Strukturen, die nur mit der aktuellen Konfliktsituation oder mit inneren Konflikten aus der Lebensgeschichte zu tun haben, ausschließt. Auf diese Weise gewinnen die destruktiven Tropismen eine gewisse Bedeutung für die Frage der sozialen Prognose. Sie sind grundsätzlich einer familientherapeutischen Beeinflussung zugänglich, wie an einigen Beispielen gezeigt werden soll. Eine Mutter entwickelt sozusagen ein Skoton für Absencen und leichte psychomotorische Anfälle ihres 16jährigen Sohnes. Dieser wird, wenn er plötzlich starr dasitzt und vor sich hinschaut oder wenn er eine kleine sinnlose Handlung setzt, bestraft. Die Möglichkeit einer Erkrankung wird verdrängt. Der Junge wird durch diese sinnlosen Bestrafungen fehlkonditioniert, und es kommt zu Fortläufereien, Eindringen in einen Wohnwagen und dergleichen. Hier kann die Hinführung der Eltern zu einer dem Syndrom entsprechenden Einstellung mit gezielter nervenärztlidier Behandlung die Ansätze zu einer delinquenten Entwicklung leicht beheben. Wenn eine trinkende Großmutter, also eine schon ältere Frau, die ihren Enkel „erzieht", gewissen Schwierigkeiten in der Pubertät mit neurotischen Syndromen, die sich bei ihrem Enkel zeigen, nicht mehr gewachsen ist und sie wiederholt zu ihm sagt, ich werde mich umbringen, und du bist schuld daran, während er die in einem Berauschungszustand etwas randalierende Großmutter wiederholt in die Wohnung hineinbugsieren muß, damit die Nachbarn keinen Anstoß nehmen, so haben wir es gleich mit zwei destruktiven Tropismen zu tun, einem verbalen und einem das Vorbild zerstörenden. In der Bedingungskonstellation, die dann eines Tages dazu führt, daß er seine Großmutter tatsächlich erschlägt, spielen derartige destruktive Tropismen naturgemäß eine nicht unwesentliche Rolle. Nur muß man sich vergegenwärtigen, daß man mit einer derartigen Struktur nur einen kleinen Teilbereich,

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einen Ausschnitt des ganzen Netzes in Händen hat, das erst in seiner Gesamterstreckung auf Grund von Interferenzen, die von noologischen Strukturen bis zu physiologischen Konditionierungen und vom Grundkonflikt (Beck) bis zu den aktuellen Schulkonflikten und denen der Berufsausbildung reichen, die man sich an einem psychodynamischen Interferenzmodell vergegenwärtigen kann, einen wirklichen Einblick in jene Weichenstellungen ermöglicht, denen die Strukturgesetzlichkeiten menschlicher Handlungen durch die entsprechenden Pathorhythmien und Gleichgewichtsverluste unterworfen sind. Von einer Registrierung der verschiedenen Arten von destruktiven Tropismen sind wir noch weit entfernt. Besonders wichtig sind solche Tropismen, die auf die Entwicklung und Reifung im Kindes- und Jugendalter einwirken und dabei die für die Selbstgestaltung so wichtigen verzögerten Reaktionen (delayed reactions) stören und zu einem Verlust gelernter antizipatorischer Reaktionen führen können. Eine solche Herabsetzung der Delayed-Response-Fertigkeit, verbunden mit einem Verlust der Fähigkeit des verinnerlichten Verhaltens führt zu Reifungsstörungen und Entwicklungsstörungen, die sich im späteren Leben als biologische Fensterwirkungen im obigen Sinn auswirken können. Es gibt aber auch destruktive Tropismen, die von Gruppen, von Erlebnissen oder von der ganzen sozialen Gesellschaft („our criminal society") ausgehen können. Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß die Entwicklung von den ersten Tagen der Kindheit an bis zum Tod ständiger Zuströme von Ordnungsstrukturen (kreativen Eutaxien) bedarf. Man darf sich da durch das Sprichwort Der Starke ist am mächtigsten allein bzw. durch dieses Schiller-Wort nicht täuschen lassen, denn auch bei den seltenen Menschen, für die es Gültigkeit hat, wie etwa für Fritjof Nansen, bedeutet es ja nicht ein wirkliches Alleinsein, auch für Nansen waren diejenigen Kollegen, die glaubten, daß er einem großen Irrtum unterliege, zugleich Geborgenheit und Ansporn. Wenn ein Junge beispielsweise in der Pubertät eine Entwicklungskrise durchmacht und auf den Verlust seines Mopeds vorübergehend mit Flucht in Drogen und Alkohol reagiert, so ist es ein destruktiver Tropismus, wenn ihm seine Mutter in einer solchen Phase auch nur ein einziges Mal mit den Worten: „Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht essen!" die Türe weist. Sie weiß allerdings selbst nicht, daß sie zu einer solchen Reaktion nur deshalb fähig war, weil ihr dieses Kind unerwünscht war und sie sich später zur Liebe zu ihm zwingen mußte. Die Gesetzlichkeiten, denen die Vitalkategorie menschlichen Verhaltens im Sinne von v. Gebsattel, also die menschlichen Handlungen, unterworfen sind, sind abhängig von oszillatorischen Strukturen und

Zur Psychopathologie und D y n a m i k destruktiver Tropismen

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sagen nichts aus über die Tatsächlichkeit eines Geschehens, sondern nur über die Möglichkeiten zu diesem Geschehen, ähnlich wie wir das aus der Quantenphysik kennen. Es ist deshalb zu berücksichtigen, daß die Stellung einer schlechten sozialen Prognose selbst zu einem destruktiven Tropismus werden kann. Eine große Rolle unter diesen destruktiven Tropismen spielen gewisse Institutionen, die in Fürsorgeheimen und anderen Heimen für Jugendliche bis vor kurzem noch geübt worden sind. Aber auch das Strafen f ü r Verhaltensweisen, die im 14. oder 15. Lebensjahr gesetzt wurden, ist äußerst problematisch. Wir wissen aus angelsächsischen Untersuchungen, daß Kinder und Jugendliche aus geordneten Familien f ü r Strafen empfindlicher sind als f ü r Belohnungen, daß es aber in Familien, aus denen Delinquente so gut wie regelmäßig stammen, sich gerade umgekehrt verhält. Diese Kinder sind durch Strafen kaum zu konditionieren oder zu resozialisieren, wohl aber sind sie empfänglich für Belohnungen. Diese Sachverhalte setzen hinter unser ganzes derzeitiges Jugendstrafrecht ein großes Fragezeichen. Strafen wird tatsächlich in sehr vielen Fällen durch Abstempelung und durch Beeinträchtigung des Selbstkonzepts zu einem destruktiven Tropismus, der entscheidend am Rückfall und an den Fehlschlägen von Resozialisierungsversuchen beteiligt ist. Für die Kriminologie als Wissenschaft ist eine interdisziplinäre Verknüpfung von Anthropologie, Soziologie, Psychopathologie, Neuropsychologie, Genetik, Molekularbiologie und Rhythmologie unerläßlich. Denn die Erfahrung zeigt, daß es überall auf die Verknüpfungen, Interferenzen, Interaktionen, Eurhythmien und überhaupt auf die Wechselbeziehungen zwischen den Systemen, den Individuen, den Gruppen und den sozialen Strukturen ankommt. Das ist nicht so unerreichbar, wie es manchem erscheinen mag, ist doch auch beispielsweise die interne Medizin heute ein Gebiet, das fast alle der hier genannten Zusammenhangsbereiche umfassen muß, will der Arzt nicht nur Spezialist, sondern wirklicher Helfer sein. Viele begriffliche Schranken werden allerdings fallen müssen, und der Hinweis von Conrad, daß selbst der Begriff des Syndromwandels immer noch zu statisch konzipiert ist, kann nur als ein erstes Signal gewertet werden. O b wir dem „Rätsel Kriminalität" im Sinne von R. Lange auf diesem Weg näherkommen werden, wird schon eine nahe Z u k u n f t zeigen. Wahrscheinlich werden viele ganz neue Fragen auftauchen, und die früheren Fragestellungen werden verblassen und an Aktualität verlieren. Sicher ist aber, daß das meiste von dem, was wir als Persönlichkeit und als relativ unveränderlich betrachtet haben, nicht haltbar bleiben, sondern sich in interpersonale Interferenzen und in dynamische Prozesse auflösen wird, in denen Wandelbarkeit und Fixierungen ebenso interferieren, wie Gesetzmäßigkeit und Zufall.

STRAFPROZESSRECHT

Zur gerichtlichen Fürsorgepflicht im Strafprozeß und ihren Grenzen MANFRED MAIWALD

I. D a ß es im Strafverfahren eine gerichtliche Pflicht zur Fürsorge für die Prozeßbeteiligten gebe, ist von der Rechtsprechung seit langem anerkannt. Die Pflicht wird dem Gericht vor allem zugunsten des Beschuldigten auferlegt. Beispielsweise soll die Fürsorgepflicht dem Gericht gebieten, die Hauptverhandlung zu vertagen, wenn der Angeklagte sich in ihr zulässigerweise durch einen Wahlverteidiger vertreten lassen wolle, die dafür vorgesehene Person aber in der Hauptverhandlung vom Gericht als Wahlverteidiger zurückgewiesen werde 1 . Wenn der Verteidiger in der Hauptverhandlung ohne E r folgsaussicht die Ladung eines im Ausland wohnenden Zeugen vor das Prozeßgericht beantrage, so verlange die Fürsorgepflicht des Gerichts, ihn darüber zu befragen, ob er sich auch mit einer kommissarischen Vernehmung dieses Zeugen im Ausland begnügen würde 2 . Andere Entscheidungen verwenden das W o r t „Fürsorgepflicht" nicht; sie statuieren jedoch ebenfalls Pflichten des Gerichts zu dem Zweck, vom Beschuldigten prozessuale Nachteile abzuwenden, und zwar in einer Weise, daß ein Teil des Schrifttums auch sie der Sache nach für die Anerkennung einer umfassenden gerichtlichen Fürsorgepflicht in Anspruch nimmt. Hier ist insbesondere die Rechtsprechung zur Frage der Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts zu nennen, die auch den leisesten Druck auf den Angeklagten in Richtung auf eine solche Erklärung vermieden sehen möchte 3 . Die Veranlassung zu voreiligen Erklärungen, auf Rechtsmittel verzichten zu wollen, wird darum im Schrifttum teilweise als Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht bezeichnet 4 . Die Literatur hat überwiegend — entsprechend der soeben angedeuteten Tendenz — eine umfassende Fürsorgepflicht des Gerichts als einen beherrschenden Prozeßgrundsatz theoretisch abgeleitet und in den praktischen Konsequenzen strukturiert. Die Fürsorgepflicht wird als das Regulativ beschrieben, das notwendig sei, um „das ÜberOLG Köln, N J W 1970, S. 720. BGH 22, 118. 3 Vgl. BGH 18, 257; 19, 101. 4 Zipf, Strafprozeßrecht, 1972, 12. Aufl. 1974, S. 262. 1

2

S. 83;

Kern-Roxin,

Strafverfahrensredit,

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gewicht der staatlichen Machtmittel im Strafprozeß abzumildern" 5 , oder als „das wichtigste Regulativ für eine fair gehandhabte Inquisitionsmaxime" 6 . Demgegenüber sind ablehnende Stimmen selten geblieben 7 . Gewissermaßen eine Mittelstellung nehmen indessen diejenigen Autoren ein, die sich mit dem „sozialstaatlichen und verwaltungsbehördlichen" Begriff der Fürsorgepflicht zwar nicht befreunden können, andererseits doch die Ergebnisse der Rechtsprechung in den von ihr entschiedenen Fragen aus dem Postulat des fair trial herleiten möchten. Das gilt etwa für Dahs jun. und Eberhard Schmidt8. Ob sich hinter dieser Divergenz nur ein terminologischer Streit verbirgt, so daß diese Ansicht nur den einen Begriff durch den anderen ersetzt, dem Gericht jedoch die gleichen Pflichten auferlegt wie die Lehre von der Fürsorgepflicht, oder ob die andere theoretische Begründung auch zu sachlichen Abweichungen im Ergebnis führen muß, wird allerdings noch zu prüfen sein. Zur Begründung einer solchen umfassenden Pflicht des Gerichts zur Fürsorge wird in der Regel auf eine ganze Anzahl von einzelnen Bestimmungen der Strafprozeßordnung hingewiesen, die für gewisse prozessuale Situationen detaillierte Hinweis-, Frage- und Belehrungspflichten des Richters aufstellen. So etwa auf die Pflicht zur Rechtsmittelbelehrung gem. § 35 a, die Pflicht zum Hinweis auf die Rechte eines Verhafteten gem. § § 1 1 5 Abs. 3 und 4, 115 a Abs. 3 und die Pflicht zum Hinweis auf die Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts gem. § 265 Abs. I 9 . Diese zahlreichen Einzelpflichten seien gewissermaßen Verbesonderungen einer umfassenden Grundpflicht — eben der Fürsorgepflicht —, die in der StPO nicht ausdrücklich aufgeführt, jedoch als Generalklausel hinzuzudenken sei. So erhält die Fürsorgepflicht eine ähnliche Ableitung und Funktion wie etwa die Vorschrift des § 242 BGB, eine Generalklausel, als deren VerbesondeSo Schäfer in Löwe-Rosenberg, StPO I, 22. Aufl. 1971, Einl. Kap. 5, 2. So Kern-Roxin, Strafverfahrensredit, 12. Aufl. 1974, S. 2 1 3 ; die Formulierung übernimmt Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, StPO II, Anm. 4 vor § 226. — Für die Anerkennung einer gerichtlichen Fürsorgepflicht weiter Zipf, Strafprozeßrecht, 1972, S. 8 2 ; Sax in K M R , StPO, 6. Aufl. 1966, Einl. 13 I ; Kleinknecht, StPO, 31. Aufl. 1974, Einl. 7 ; Schorn, M D R 1966, S. 639. 7 Als solche ist wohl die Stellungnahme von v. Löhhecke, GA 1973, S. 200 zu bezeichnen, der eine Rechtspflicht des Gerichts im Sinne einer Fürsorgepflicht immerhin „ernsthaft bezweifelt". 8 Dahs jun., Das reditliche Gehör im Strafprozeß, 1965, S. 43 f.; Eh. Schmidt, J Z 1965, S. 734. — Anknüpfungspunkt ist Art. 6 der Menschenrechtskonvention. 9 Man vgl. hier die umfangreiche Aufzählung und Darstellung bei Schorn, MDR 1966, S. 6 3 9 ; Schäfer in Löwe-Rosenberg, StPO I, 22. Aufl. 1971, Einl. Kap. 5,2. Die österreichische Strafprozeßordnung bestimmt in § 3 : „Alle im Strafverfahren tätigen Behörden . . . sind verpflichtet, den Beschuldigten, auch wo es nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist, über seine Rechte zu belehren." 5

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rungen zahlreiche Vorschriften des Zivilrechts bezeichnet zu werden pflegen — beispielsweise die Vorschrift des § 273 BGB über das Zurückbehaltungsrecht oder § 299 über die nur vorübergehende Annahmeverhinderung des Schuldners; nur daß die strafprozessuale Fürsorgepflicht nicht wie der Gedanke des „Treu und Glauben" ausdrücklich normiert ist. Ebenso wie § 242 BGB seine Entstehung der Funktion desjenigen Rechtsbereiches verdankt, dem er angehört, der Funktion, die in einer groben und annäherungsweisen Umschreibung als Interessenausgleich unter prinzipiell gleichgeordneten Personen bezeichnet werden kann 1 0 , ebenso muß nun auch die gerichtliche Fürsorgepflicht — sofern es sie wirklich gibt — ihren sachlichen Grund und ihren Gehalt aus der Funktion ihres Rechtsbereiches, und das heißt: aus der Funktion des Strafprozesses, erhalten. An diesem Punkt muß man also ansetzen, will man die Berechtigung und den Umfang einer strafprozessualen Fürsorgepflicht untersuchen.

II. Gibt es also eine Fürsorgepflicht im Strafprozeß? Diese Frage, so allgemein gestellt, provoziert zunächst zwei weitere Fragen, nämlich die, wem eine solche Pflicht obliegen könnte, und die andere, wem sie zugute kommen sollte. Als Träger der Pflicht kommen wohl nur staatliche Organe, also der ermittelnde Polizeibeamte (für ihn gilt jetzt z. B. die Belehrungspflicht des § 163 a Abs. 4), der Staatsanwalt, der Richter, der Geschäftsstellenbeamte (Rechtsmitteleinlegung zu Protokoll der Geschäftsstelle, §§ 306, 314, 341) überhaupt in Frage, nicht aber der Privatkläger, schon gar nicht der Zeuge, während der Sachverständige als „Gehilfe des Gerichts" immerhin einer solchen Pflicht ebenfalls unterliegen könnte. Der Schutzbereich dieser Pflicht könnte sich auf diejenigen erstrecken, die vom Staat im Strafprozeß in Anspruch genommen werden, insbesondere also auf den Beschuldigten, vielleicht auf den Zeugen, auf den Sachverständigen, der ja, obwohl „Gehilfe des Gerichts", gleichzeitig selbst vom Staat in Anspruch genommen ist, vielleicht auch auf den Privat- und Nebenkläger. Um aber das Problem an seiner gleichsam offensichtlichsten und auch praktisch wichtigsten Stelle aufzugreifen, sei hier einmal von der Fragestellung ausgegangen, ob dem Gericht im prozessualen Stadium von der Anklageerhebung an bis zur Rechtskraft des Urteils eine Fürsorgepflicht zugunsten des Beschuldigten obliegen könnte. 10 Vgl. hier etwa S. 1, 29, 35.

Larenz, Allg.

Teil des deutschen Bürgerl. Rechts, 3. Aufl. 1975,

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1. Verfolgt man die Lehre von der Fürsorgepflicht historisch zurück, so fällt auf, daß um die Zeit des Inkrafttretens unserer StPO von einer solchen Pflicht nicht die Rede war. Ein Punkt, an dem der Sache nach das Problem einer Fürsorgepflicht des Gerichts zutage trat und implizit erörtert wurde, war jedoch die Diskussion um die Einführung des Kreuzverhörs. Es ist offensichtlich, daß diese Ausgestaltung der Beweisaufnahme an die Fragepersonen nicht geringe Anforderungen stellt. So taucht denn auch sofort die Frage nach der Waffengleichheit auf. Der „selbstverhörende, redegewandte Staatsanwalt" werde im Kreuzverhör ein Ungleichgewicht herstellen, wandte man ein, zumal dann, wenn der Beschuldigte keinen Verteidiger zur Seite habe. Demgegenüber wies Gneist, bekanntlich ein Befürworter des Kreuzverhörs, auf die Pflicht des Gerichts hin, hierbei ausgleichend zu wirken: „Die Unbeholfenheit eines Angeklagten, ohne Defensor, oder die Ungleichheit der Befähigung seines Defensors, ist auszugleichen durch das Fragerecht des Präsidenten, dessen Beruf zur materiellen Defensión, dessen nobile officium überhaupt durch das Kreuzverhör unverändert bleibt, dessen Aufmerksamkeit sich gerade erst dann wirksam der Ausgleichung der Kampfmittel zuwenden kann 11 ." Auf die mögliche Unbeholfenheit des Angeklagten, auf die mögliche Ungeschicklichkeit des Verteidigers wird also hingewiesen, dem Vorsitzenden der „Beruf zur materiellen Defensión", also die Pflicht, den Angeklagten zu schützen, auferlegt. Freilich: nur als nobile officium, nicht als Rechtspflicht. Im Handbuch Glasers findet sich lediglich die Bemerkung: „Neben dem Recht der Parteien kommt aber die Pflicht des Gerichts in Betracht, für ein den aufgestellten Prozeßgrundsätzen entsprechendes Verfahren . . . zu sorgen"12, eine Bemerkung, die in Richtung einer allgemeinen „Fürsorge für das Verfahren" zielen könnte, die aber sicher nicht allein die Person des Beschuldigten im Auge hat. Mehr im Sinne einer Berücksichtigung der Position des Beschuldigten klingt es dann wieder, wenn zu Dohna, den Gedanken der „WafFengleichheit" der Parteien verfolgend, feststellt: „Die Gerechtigkeit liegt hier eben nicht in einer doch nie zu erreichenden Gleichstellung der Parteien, sondern darin, daß . . . dem Angeklagten gegen jede denkbare Vergewaltigung unbedingter Schutz geboten werde 13 ." Das Augenmerk jener Zeit richtet sich aber auch hiermit mehr auf die rechtliche 11 Gneist, Vier Fragen zur Deutschen Strafprozeßordnung, 1874, S. 119; dort S. 118 auch die obige Bemerkung vom „selbstverhörenden redegewandten Staatsanwalt". 12 Glaser, Handbuch des Strafprozesses II, 1885, S. 504. 13 Z» Dohna, Das Strafverfahren, 1913, S. 52.

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Sicherung der Stellung des Beschuldigten, auf die Regeln der Strafprozeßordnung, die ihm im Sinne einer Justizförmigkeit des Verfahrens Schutz gewähren sollen, und dies vor allem in Abkehr von den Mißständen des alten Inquisitionsprozesses. Jene Unbeholfenheit als faktische Unterlegenheit, die Gneist in Betracht zieht, wird nicht zum Anlaß genommen, dem Gericht eine über die einzelnen gesetzlichen Bestimmungen hinausgehende Rechtspflicht zur Herstellung auch des faktischen Gleichgewichts aufzuerlegen. In der Tat ist die Frage, ob der Strafprozeß als Parteiprozeß zu gestalten ist, dem das Kreuzverhör angemessen wäre, mit Notwendigkeit auch der Punkt, an dem sich zugleich das Problem einer Fürsorgepflidit des Gerichts zugunsten des Beschuldigten mit Entschiedenheit stellen muß. Wäre unser Strafprozeß ein Parteiprozeß, so wäre der Beschuldigte, evtl. mit dem Beistand eines Verteidigers, ein Prozeßbeteiligter, der jedenfalls grundsätzlich dem Staatsanwalt in den prozessualen Rechten gleichgeordnet wäre. Das Gericht hätte eine Fürsorgepflicht nur insoweit, als es für eine möglichste Waffengleichheit der Parteien in formeller Hinsicht zu sorgen hätte, wie dies etwa Herrmann für den englischen und US-amerikanischen Strafprozeß darstellt 14 . Ungleich schwieriger ist jedoch die Stellung des Gerichts im geltenden deutschen Strafverfahrensrecht. Lösen im Parteiprozeß bestimmte Erklärungen des Beschuldigten, vor allem die guilty plea, mit Notwendigkeit bestimmte prozessuale Konsequenzen aus 15 , so ist in unserem Verfahren, das den Beteiligten keine Dispositionsbefugnis über den Prozeßstoff zugesteht, der Beschuldigte dem Gericht in einer spezifischen Weise anheimgegeben: Da das Gericht von sich aus den Sachverhalt aufzuklären hat und auch selbst das Urteil sprechen muß, wirkt jedes prozessuale Recht des Beschuldigten unter diesem Blickwinkel zunächst einmal als Störung der richterlichen Tätigkeit. Das Gericht, das unter dem „Sachzwang" steht, den Sachverhalt zu ermitteln, muß versuchen, nach Möglichkeit auch den Beschuldigten als Beweismittel einzubeziehen; und die Unkenntnis des Beschuldigten über seine prozessualen Rechte mag unter diesem Blickwinkel gelegentlich sogar höchst willkommen sein, weil sie sich im Einzelfall für die Wahrheitsfindung förderlich auswirkt. 14 Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem angloamerikanischen Strafverfahren, 1971, S. 248 f., 300 f. (zum englischen Verfahren) und S. 266 ff. (zum amerikanischen Verfahren). 1 5 Daß neuerdings auch im angelsächsischen Strafverfahren — vor allem in den Vereinigten Staaten — Tendenzen erkennbar sind, dem Richter die Überprüfung des Wahrheitsgehalts der guilty plea zu gestatten (so Herrmann, a. a. O., S. 162 f.), kann man mit Interesse zur Kenntnis nehmen. Hier kommen demgemäß ebenfalls Gedanken einer Fürsorgepflicht zum Durchbruch.

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2. Aus dieser unterlegenen Stellung des Beschuldigten resultiert zunächst einmal die Notwendigkeit einer ganz besonderen Form der Fürsorge für ihn. Gemeint ist die Notwendigkeit, dem Gericht gesetzlich genau definierte Schranken zu setzen, die es auch zum Zweck der Wahrheitsfindung nicht überschreiten darf — im Sinne einer „Justizförmigkeit" des Verfahrens. Diese Notwendigkeit hat sich in den leidvollen geschichtlichen Erfahrungen des Inquisitionsprozesses zur Genüge gezeigt 16 . An welcher Stelle man im einzelnen die Schranken setzt, ergibt sich aus dem grundsätzlichen Gewicht, das man dem einzelnen gegenüber den Interessen der Allgemeinheit zumißt; in der Sprache der Verfassung: aus der Berücksichtigung der Menschenwürde und der einzelnen Grundrechte. Auch die Mitwirkungsrechte des Beschuldigten — z. B. Richterablehnung wegen Befangenheit, letztes Wort, Beweisanträge (§§ 24, 258, 244 StPO) — basieren auf seiner Subjektstellung; auch sie schränken das Gericht in seinen Möglichkeiten der Verfahrensgestaltung ein. Kann man so die Justizförmigkeit des Verfahrens als eine Fürsorge für den Beschuldigten verstehen, so ist doch zu beachten, daß sie sich infolge ihrer generellen Zielrichtung nicht ohne weiteres zugunsten des Beschuldigten im konkreten Verfahren auszuwirken braucht. Unter Umständen können sich die Schranken der Wahrheitsfindung ja auch einmal gegen den Beschuldigten richten. Dem wirkt zwar meist der Grundsatz „in dubio pro reo" entgegen. Denn die Schranken für die Wahrheitsfindung werden, wenn sie im Prozeß wirksam werden, meist dazu führen, daß der Sachverhalt auch nach Ansicht des Gerichts nicht völlig aufgeklärt ist, so daß die verbleibende Unklarheit zugunsten des Beschuldigten zu Buche schlagen muß. Aber es ist immerhin denkbar, daß das Gericht Zweifel über den Aufklärungsstand gar nicht hat, solche Zweifel aber bekommen würde, wenn es ein verbotenes Beweismittel heranziehen würde. So ist es beispielsweise denkbar, daß sich der Beschuldigte — aus welchen Gründen auch immer — selbst belastet, vielleicht ein falsches Geständnis ablegt. Auch in diesem Fall ist das Gericht an die Schranken der Wahrheitsfindung gebunden. Es darf nicht etwa eine „Plauderdroge" benutzen, um die für den Beschuldigten günstige Wahrheit herauszufinden, und zwar deswegen nicht, weil der generelle Schutz vor derartigem Vorgehen im Strafverfahren eine absolute Grenze setzt, die auch dann nicht überschritten werden darf, wenn im besonderen Fall der Beschuldigte davon Nutzen hätte. Nun wird freilich das Gericht, wenn es Zweifel hat, ob das Geständnis des Beschuldigten 16

46.

Vgl. hierzu etwa Eb. Schmidt,

Justitia fundamentum regnorum, 1947, S. 38,

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zutrifft, unter Anwendung des Satzes „in dubio pro reo" freisprechen müssen. Dies jedoch nur dann, wenn die Zweifel einen gewissen Beachtlichkeitsgrad erreicht haben, wenn sie nicht bloße „theoretische Zweifel" 17 sind, welche die „praktische Gewißheit" 18 von der Schuld des Angeklagten nicht berühren, gemäß der allgemeinen Auffassung, daß die richterliche Überzeugung keine „gedanklich unumstößliche Gewißheit" 19 erfordert. Daher bleibt für die hier interessierende Problematik nur die Fallgestaltung wichtig, daß der Richter rein „gefühlsmäßig", ohne eigentlich objektiv faßbare Anhaltspunkte, zu den sich selbst belastenden Angaben des Beschuldigten kein volles Zutrauen hat, so geringe Zweifel also hegt, daß sie an der „praktischen Gewißheit" von der Schuld nichts ändern können. Aber in eben dieser Konstellation ist es dem Richter versagt, die Grenzen der Justizförmigkeit des Verfahrens zu überschreiten, um seinen rein gefühlsmäßigen und somit unbeachtlichen Zweifel etwa in einen objektiv belegbaren und somit beachtlichen zu verwandeln: Eine Fürsorgepflicht dahingehend, die Schranken der Wahrheitsfindung außer Kraft zu setzen, wenn sich dies im konkreten Strafverfahren nur zugunsten des Beschuldigten auswirken kann, ist undenkbar. So darf der Beschuldigte nicht „im eigenen Interesse" getäuscht werden (§ 136 a StPO), um seine Unschuld herauszufinden; es darf ihm nicht das letzte Wort versagt werden, um — zu seinen Gunsten — zu verhindern, daß er auf die — vielleicht dadurch beeinflußbaren — Schöffen noch einen letzten besonders schlechten Eindruck macht und seine Position insgesamt verschlechtert. Man sieht also: Die Anerkennung einer Subjekt-Stellung des Beschuldigten und die durch die Justizförmigkeit des Verfahrens in Abkehr vom alten Inquisitionsprozeß geschaffenen Schranken der Wahrheitsfindung sind sicherlich eine Art von „Fürsorge" für den Beschuldigten. Aber mit der Anerkennung des Beschuldigten als eines Prozeßsubjekts sind dieser Fürsorge Grenzen gesetzt, und es kann diese Anerkennung im Einzelfall durchaus zuungunsten des Beschuldigten ausschlagen. Vor allem aber ist die gesetzlich vorgesehene Justizförmigkeit des Verfahrens nicht das, was Literatur und Rechtsprechung in dem eingangs dargestellten speziellen Sinne als die „gerichtliche Fürsorgepflicht" bezeichnen. 3. Nicht gemeint ist mit dem Begriff auch das, was in den Kreis der sitzungspolizeilichen Pflichten des Vorsitzenden gem. §§ 176 ff. GVG 17 18 19

BGH NJW 1951, S. 83. BGH bei Daliinger MDR 1973, S. 388. BGH a. a. O.

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fällt. Natürlich ist es terminologisch möglich, hier von einer Fürsorgepflicht zu sprechen. So ist etwa die Pflicht des Vorsitzenden, einen Prozeßbeteiligten vor beleidigenden Zurufen oder tätlichen Angriffen zu schützen, Ausfluß der sitzungspolizeilichen Aufgabe. Das gilt zugunsten der Zeugen ebenso wie zugunsten des Angeklagten, des Staatsanwalts, Verteidigers oder Privatklägers. Dieser Schutz ist das selbstverständliche Korrelat des hoheitlichen Handelns: D a jedes staatlich geordnete Verfahren im Bereich der Justiz gerade dem Zweck dient, nicht nur nach Möglichkeit den Rechtsfrieden schließlich wiederherzustellen, sondern auch schon durch die Art und Weise seiner Durchführung zu diesem Ziel beizutragen, ist es die Pflicht der das Verfahren leitenden Instanz, die Sitzungen nicht nach dem Prinzip des „catch as catch can", sondern in einer sachlichen Atmosphäre ablaufen zu lassen 20 . Die Pflicht ergibt sich auch aus der Aufgabe der Wahrheitsfindung 21 . Ist doch die Aufklärung des Sachverhalts praktisch unmöglich, wenn nicht auch ein äußerlich geordneter Ablauf des Verfahrens garantiert ist. Soweit es nicht nur um die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung geht, sondern um die Sachleitung gem. § 238 S t P O in einem weiteren Sinne, gilt gleichfalls die soeben gekennzeichnete „Befriedungsfunktion". Hier ist etwa § 68 a S t P O zu nennen, der es verbietet, an Zeugen ohne triftigen Grund bloßstellende Fragen zu richten, und der so Sorge dafür trägt, daß diese nicht mehr beeinträchtigt werden, als es für die Verfahrensdurchführung unbedingt notwendig ist. Der für das Verfahren erforderliche Eingriff in die Persönlichkeitssphäre muß möglichst gering gehalten werden: Die Einhaltung dieses verfassungsrechtlichen Postulats ist gleichzeitig die verfahrensimmanente Voraussetzung dafür, daß der Prozeß seinen Befriedungszweck erreichen kann. U m solche sitzungspolizeilichen Pflichten des Vorsitzenden zu kennzeichnen, bedarf es jedoch des Begriffs der gerichtlichen Fürsorgepflicht nicht. 4. Dem Inhalt der gemeinten Art gerichtlicher Fürsorge kommt man näher, wenn man sich der vorhin erwähnten Besorgnis Gneists erinnert, der Beschuldigte werde trotz Zuerkennung formeller Rechtspositionen — damals des Fragerechts beim Kreuzverhör — gegenüber dem Staatsanwalt doch rein faktisch der Unterlegene sein. Und naturgemäß war es denn auch die Prozeßpraxis, der sich in bestimmten Situationen sehr deutlich die Frage auch nach den faktischen Möglichkeiten des Beschuldigten stellte. 2 0 Vgl. die Ausführungen zur Notwendigkeit eines „geordneten Rechtsganges" in BGH 17, 201 (203 f.). 21 Schäfer in Löwe-Rosenberg, StPO III, 22. Aufl. 1974, § 176, 1.

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In seinen alltäglichen Geschäften hat der Richter vielfach den rechtsunkundigen Prozeßbeteiligten vor sich, dem der Gang des Verfahrens völlig fremd ist und dem deshalb auch die Konsequenzen seiner eigenen Handlungen und Erklärungen nicht bekannt sind; der nicht weiß, was ihm prozessual erlaubt, was verboten ist, wann und in welcher Form er gestaltend in das Verfahren eingreifen darf. Diesem Prozeßbeteiligten — in der Hauptsache ist hier der Beschuldigte betroffen — nützt es wenig, daß eine Strafprozeßordnung existiert, der er in abstracto all dies entnehmen könnte. Und auch wenn die Strafprozeßordnung an sehr vielen Stellen eine ausdrückliche Verpflichtung des Gerichts statuiert, ihn über seine jeweilige prozessuale Lage und seine rechtlichen Befugnisse zu belehren, so wird es — wie die Rechtsprechung zeigt — doch immer wieder Situationen im Prozeß geben, für die im einzelnen — weil untypisch — keine Vorsorge dieser Art getroffen ist, so daß das Gericht, will es ihn nicht hilflos lassen, auch hier, ohne gesetzliche Einzelregelung, erläutern und belehren wird. So liegt es nahe, die Fürsorgepflicht begrifflich in Verbindung zu bringen mit den prozessualen Rechten des Beschuldigten. Und in der Tat ist eine solche Fürsorgepflicht des Gerichts zunächst unproblematisch zu begründen: Gerichtliche Verfahren sind kein Selbstzweck. Ist speziell das Strafverfahren nicht nur auf die Wahrheitsfindung hin, sondern auch auf die verantwortliche (Subjektstellung!) Mitgestaltung durch den Beschuldigten hin angelegt, so läßt sich dies nur realisieren, wenn sichergestellt ist, daß dieser de facto dazu in der Lage ist. Der Staat, der die Verfahrensordnungen schafft, kann außerhalb des Kreises der „Rechtskundigen" ihre Kenntnis nicht voraussetzen. Sofern er gleichwohl einerseits verantwortliche Mitwirkung will, andererseits auch verlangt, daß sich der Bürger den Verfahrensnormen unterwirft und sie beachtet, z. B. Fristen einhält, wird man ihm zumuten müssen, daß er den Bürger auch über seine prozessualen Rechte aufklärt. Anders als im materiellen Strafrecht, wo ein Irrtum über die Strafnorm jedenfalls im Kernbereich dieser Materie aufgrund des Wertappells der Rechtsgüter schwer verzeihlich ist, ist der Irrtum über Verfahrensnormen oder ihre Unkenntnis kaum vorwerfbar. Sind doch die Verfahrensnormen meist ein Kompromiß zwischen sehr verschiedenen Wertungen, häufig auch reine Zweckmäßigkeitsentscheidungen, so daß es hier ein Wissen-Müssen aufgrund sittlichen Appells nicht geben kann. Daher geht es bei den Verfahrensnormen ganz überwiegend um die rein positive Kenntnis oder Unkenntnis; eine Pflicht, Verfahrensnormen zu kennen und sich nach ihnen zu richten, ist für den einzelnen Bürger nicht denkbar. Von

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einem solchen Verständnis der Verfahrensnormen gehen im übrigen die Gerichte auch aus: „Allein einer rechtsunkundigen Person kann nicht zugemutet werden, daß sie alle ihre gesetzlich zustehenden Befugnisse kennt und von diesen jederzeit einen sachgemäßen Gebrauch macht", heißt es in R G 57, 147. „Beim rechtsunkundigen Angeklagten ist aber nicht ohne weiteres zu vermuten, daß er weiß, welche Rechte ihm zustehen . . . " sagt das O L G Köln 2 2 . Daß eine gerichtliche Fürsorgepflicht in diesem Sinne existiert, dürfte also sicher sein. Sie existiert als Postulat der Annäherung der faktischen Stellung des Beschuldigten an einen „Idealtypus" des Beschuldigten, eines Beschuldigten nämlich, der die Beschränkung seines Verhaltens durch die Förmlichkeiten des Prozesses ebenso wie seine Möglichkeiten der Mitgestaltung kennt. Sie ist der Ausgleich für die faktisch häufig bestehende Unkenntnis des Bürgers über seine prozessualen Rechte und über die Konsequenzen seiner im Strafprozeß abgegebenen Erklärungen.

III. 1. Gewinnt so die Fürsorgepflicht ihren Gehalt aus der Gewährleistung eines Verfahrens, in dem die Rechte der Verfahrensbeteiligten nicht nur „auf dem Papier stehen", so werden allerdings auch die Bedenken verständlich, die Eb. Schmidt und Dahs gegen den Begriff der Fürsorgepflicht vorbringen. Da Schutz und Fürsorge auf die Art und Weise der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs bezogen sind, möchten sie lieber vom Postulat des fair trial sprechen. Mit diesem Begriff kommt in der Tat deutlicher zum Ausdruck, daß eine „Fürsorgepflicht" sicher nicht in der Weise bestehen kann, daß der Angeklagte nach Möglichkeit von Strafe zu verschonen ist. Eine Fürsorgepflicht zugunsten des Beschuldigten kann es auch nicht in dem Sinne geben, daß der Richter bei der Aufklärung des Sachverhalts den entlastenden Momenten größere Aufmerksamkeit schenken müßte als den belastenden Momenten. Sicher — soweit eine Aufklärung nicht möglich ist, gilt der Grundsatz in dubio pro reo. Die Aufklärung selbst muß der Richter aber in beiden Richtungen, in Richtung auf Belastung des Angeklagten sowohl als auch in Richtung auf seine Entlastung mit gleichem Eifer betreiben. Die Aufklärung bezieht sich insoweit auf die materiellrechtlich erheblichen Tat-

2 2 N J W 1961, S. 933. Vgl. auch die Nachweise bei Schmid, Die „Verwirkung" von Verfahrensrügen im Strafprozeß, 1967, S. 309 hinsichtlich der Pflicht des Geridits zur Belehrung des nicht rechtskundigen Verfahrensbeteiligten.

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sachen23. Und erheblich sind die Tatsachen im Hinblick auf die Rechtsfolge, ob Strafe eintreten soll, was die Prüfungspflicht in jeder Hinsicht einschließt. Das Unbehagen, das gegenüber dem Begriff der Fürsorgepflicht gelegentlich anzutreffen ist, hat: aber noch eine tiefere Ursache. Jede Verfahrensvorschrift ist in dem Sinne auf das materielle Strafrecht „bezogen", als im Einzelfall ihre Befolgung oder Nichtbefolgung auf die Frage der Bestrafung des Beschuldigten unmittelbare Rückwirkung haben kann. Lehnt beispielsweise der Angeklagte zulässigerweise und mit Erfolg einen Richter wegen Befangenheit ab, so kann dies unter Umständen prozeßentscheidend sein. Schweigt er etwa zum Anklagevorwurf, so kann dies möglicherweise entgegen der materiellen Wahrheit zum Freispruch führen. Das Wie der Verfahrensdurchführung kann Konsequenzen haben für das Ob der Bestrafung. 24 Ist das aber so, kann sich also jede verfahrensgestaltende Mitwirkung des Beschuldigten auf das Ergebnis des Strafprozesses auswirken, so kann auch jede über ein Mitwirkungsrecht belehrende „Fürsorgemaßnahme" des Gerichts oder ihre Unterlassung unter Umständen mittelbar das Prozeßergebnis bestimmen. Daher sieht sich das Gericht, das dem Beschuldigten eine solche Fürsorge angedeihen läßt, sehr leicht in Konflikt mit den sonstigen Verfahrensnormen, die gleichfalls das Prozeßergebnis — aber vielleicht im entgegengesetzten Sinne — zu bestimmen vermögen. Das Unbehagen entsteht nun offenbar dadurch, daß durch den Begriff der Fürsorgepflicht der Eindruck erweckt werden könnte, als genieße bei einem Konflikt mit den anderen Verfahrensnormen stets diejenige Norm den Vorrang, die sich zugunsten des Beschuldigten auswirkt. Zugleich wird mit diesem „sozialstaatlichen und verwaltungsbehördlichen" Begriff die Subjektstellung und damit die Verantwortlichkeit des Beschuldigten für sein Prozeßverhalten in Frage gestellt, so, als habe das Gericht dafür zu sorgen, daß der Beschuldigte sein Verhalten so einrichtet, daß ihm die bestmögliche Chance für einen Freispruch verbleibt. 2. Das hiermit angedeutete Problem sei an einigen neuralgischen Punkten des Prozesses verdeutlicht. Ein Beispiel: Der ordnungsgemäß nach § 243 Abs. 4 StPO belehrte Angeklagte sagt in der Vgl. etwa Sax, K M R , StPO, 6. Aufl. 1966, § 244, 3 a. Das setzt im übrigen § 337 StPO voraus: „Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe." Mit dem Begriff des „Beruhens" ist ja gerade gemeint, daß auch die Verletzung einer Verfahrensnorm den Urteilsspruch beeinflussen kann. 23

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Hauptverhandlung zur Sache aus. Der Vorsitzende merkt, daß der Angeklagte, wenn er fortfährt, sich „um Kopf und Kragen reden" wird, da er im Begriff steht — ohne sich selbst dessen bewußt zu sein —, Dinge zu sagen — und zwar offensichtlich wahrheitsgemäße Dinge —, die ihn stärkstens belasten. Muß der Vorsitzende den Angeklagten unterbrechen, ihn darauf hinweisen und erneut über das Schweigerecht belehren? Ein zweites Beispiel: Ein Verteidiger stellt einen Beweisantrag, dem das Gericht, da die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO nicht vorliegen, an sich stattgeben muß. Das Gericht ist aber der Ansicht, das heranzuziehende Beweismittel werde die prozessuale Situation des Beschuldigten nur verschlechtern. Muß das Gericht den Verteidiger auf diese Möglichkeit wenigstens hinweisen, um ihm Gelegenheit zu geben, den Beweisantrag noch zurückzuziehen? Muß das Gericht generell bei „ungeschickter" Verteidigung Hinweise geben und etwa die „ungeschickte" Verteidigung zu einer „geschickten" machen? Die beiden Beispiele machen den Konflikt mit der Wahrheitsfindungspflicht des Gerichts deutlich: Sobald das Gericht fürsorgerisch zugunsten des Angeklagten tätig wird, ihn oder den Verteidiger hinsichtlich der verfahrensmäßigen Konsequenzen des eigenen Vorgehens belehrt und aufklärt, können sich daraus Rückwirkungen auf die materielle Richtigkeit der gerichtlichen Entscheidung ergeben. Im zweiten Beispiel („ungeschickter" Beweisantrag des Verteidigers) spitzt sich denn auch der Konflikt sogleich auf die Frage zu, ob etwa das Gericht seinerseits von Amts wegen die zunächst angebotenen Beweismittel heranzuziehen hätte, wenn der Verteidiger, nunmehr durch das Gericht aufgeklärt, seinen Beweisantrag zurückziehen würde. Im Ergebnis dürfte Einigkeit darüber bestehen, wie die beiden Beispielsfälle zu lösen sind: In beiden Fällen hat die Aufklärungspflicht den Vorrang. Sofern der Angeklagte nach ordnungsgemäßer Belehrung freiwillig aussagt, kann diese Aussage — und muß sogar — als Ganzes zum Gegenstand der Beweiswürdigung gemacht werden, und zwar in allen ihren Teilen, in ihren belastenden ebenso wie in ihren entlastenden. Eine über § 243 Abs. 4 hinausgehende Belehrungspflicht des Gerichts derart, den Angeklagten in einzelnen Stadien seiner Aussage zusätzlich „warnen" zu müssen, um ihn vor ihn selbst belastenden Angaben zu schützen — eine solche Pflicht existiert sicher nicht. In ariderem Zusammenhang, aber ganz in dieser Richtung erklärt der B G H : „Äußert er (sc. 1. der Beschuldigte) sich jedoch zur Sache, obwohl e r . . . weiß, daß er dazu nicht verpflichtet ist, so macht er sich in freiem Entschluß selbst zu einem Beweismittel und

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unterstellt sich damit der freien Beweiswürdigung, so daß seine Erklärungen wie jede andere Beweistatsache vom Tatrichter zu würdigen sind 25 ." Der B G H folgert daraus — und um diesen Zusammenhang ging es in der Entscheidung —, daß nicht nur das Schweigen zu einzelnen Fragen, sondern auch die Weigerung, den Zeugen (einen Rechtsanwalt) von der Verschwiegenheitspflicht zu entbinden, sich bei der Beweiswürdigung nachteilig auswirken dürfe, wenn der Angeklagte von seinem Recht, zur Anklage überhaupt zu schweigen, keinen Gebrauch mache26. Vom Standpunkt des B G H aus käme man wohl mit einem Erst-recht-Schluß zu der hier vertretenen Meinung: Wenn das Gericht sogar das Schweigen des Beschuldigten zu einzelnen Fragen des Anklagevorwurfs negativ würdigen darf, weil dieser sich zuvor „in freiem Entschluß selbst zu einem Beweismittel" gemacht habe, so kann es schon gar nicht verpflichtet sein, sich des Beweismittels der Beschuldigten-Einlassung selbst u. U. zu berauben, indem es auf die Aussage in einer Weise Einfluß nimmt, daß die Wahrheitsfindung gefährdet wird. Was das zweite Beispiel betrifft, so wird man ebenfalls davon ausgehen können, daß hier die Wahrheitsfindungspflicht einer wie immer gearteten Fürsorgepflicht vorgeht. Setzt man voraus, daß der Beweisantrag des Verteidigers eine für die Entscheidung des Gerichts erhebliche Behauptung betrifft — anderenfalls wäre er gem. § 244 Abs. 2 zurückzuweisen —, so muß das Gericht dem nachgehen, mag sich das Beweismittel zugunsten oder zuungunsten des Beschuldigten auswirken. Zieht also der Verteidiger seinen Beweisantrag zurück, etwa weil er nach der Antragstellung selbst bemerkt hat, daß „der Schuß nach hinten losgehen" könnte, so müßte in der Tat nunmehr das Gericht seinerseits das Beweismittel von Amts wegen heranziehen. Vermutet das Gericht in dem Augenblick, da der Verteidiger seinen Beweisantrag ankündigt, daß ihm — dem Gericht — damit geradezu ein Beweismittel zur Überführung des Angeklagten in die Hand gegeben wird, während der Verteidiger ganz offensichtlich und seiner Pflicht entsprechend auf Entlastung hinaus will, so besteht sicher keine Verpflichtung des Gerichts, den Verteidiger darauf aufmerksam zu machen: Die Kollision zwischen Wahrheitsfindung und möglicher Fürsorge ist auch hier zugunsten der Wahrheitsfindung zu lösen. 3. Ein weiterer neuralgischer Punkt des Prozesses liegt in der Stellung des Verteidigers. Denkbar wäre eine Fürsorgepflicht des Gerichts B G H 20, 298 ( 3 0 0 ) . Kritisch dazu Wessels, JuS 1966, S. 172 A n m . 2 0 ; Stree, J Z (der die Entscheidung des B G H nur im Ergebnis für richtig hält). 25 28

1 9 6 6 S. 598 ff.

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derart, daß dem „ungeschickten", durch sein prozessuales Verhalten den Beschuldigten belastenden und somit pflichtwidrig handelnden 27 Verteidiger die Verteidigungsbefugnis zu entziehen wäre. Aber eine solche Möglichkeit ist bisher vom Gesetzgeber ernsthaft noch nie erwogen worden. Die kürzliche Regelung des Verteidigerausschlusses durch das Gesetz zur Ergänzung des 1. StVRG 2 8 enthält einen Ausschließungsgrund der „Ungeschicklichkeit" nicht, wie denn auch die Rechtsprechung zur alten Fassung des § 146 StPO — bevor sie vom BVerfG f ü r verfassungswidrig erklärt wurde 2 9 — einen solchen Ausschließungsgrund nicht kannte. Freilich zeigte die Rechtsprechung seit jeher gewisse ganz behutsame Ansätze in dieser Richtung. Gemeint ist die Ansicht der Rechtsprechung, daß im Falle einer notwendigen Verteidigung das Gericht „neben dem Wahlverteidiger einen Pflichtverteidiger bestellen (darf), um damit den reibungslosen Fortgang der Verhandlung zu sichern, wenn sich die Gefahr abzeichnet, daß der Verteidiger die zur reibungslosen Durchführung der Hauptverhandlung erforderlichen Maßnahmen nicht treffen kann oder nicht treffen will" 30 . Diese Ansicht ist aber im Zusammenhang mit § 145 StPO zu sehen, der vor allem die Verhinderung einer Verfahrenssabotage bezweckt, und diese Ansicht ist allein bezogen auf formelle Mängel in der Verfahrensbeteiligung des Verteidigers, insbesondere auf die fehlende Anwesenheit 31 . Zur Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers allein bei materiell „ungeschickter" Verteidigung hat sich, soweit ersichtlich, ein Gericht nie jemals entschließen können. In der Tat stünde einer solchen Fürsorge durch das Gericht von vornherein ein Bedenken entgegen, das in der Struktur unseres Strafprozesses angelegt ist. Der Verteidiger steht dem Gericht in seiner Funktion als unabhängiges Organ der Rechtspflege im Prozeß selbständig gegenüber; wie er seine Verteidigung einrichtet, bleibt seiner Verantwortung überlassen. Ein Gericht, das sich gleichzeitig zum Richter über die Zweckmäßigkeit der Verteidigung aufwerfen würde, würde unzulässig in die Funktion des Verteidigers eingreifen. Der

27 Vgl. hier etwa Sax, KMR, StPO, 6. Aufl. 1966, Einl. 3 III b: „ . . . w e d e r bereditigt noch verpflichtet, an der Beschaffung von Belastungsmaterial mitzuwirk e n . . z u r Funktion des Verteidigers und zur Frage der Pflichtwidrigkeit seines Handelns Gallas, ZStW 53, 1934, S. 256 ff. 28 Vom 20. 12. 1974, BGBl. I S. 3686. 29 BVerfGE 34, 293. 30 So B G H 15, 306 (309). 31 Eine solche Situation betraf auch die Entscheidung des OLG Frankfurt, N J W 1972, S. 1964.

Zur gerichtlichen Fürsorgepflicht im Strafprozeß und ihren Grenzen

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Strafprozeß ist auf dieses verantwortliche Mitwirken des Verteidigers strukturell angelegt 32 . Es ist dies die Konsequenz daraus, daß der Verteidiger seinerseits aus seiner Stellung als Organ der Rechtspflege heraus auch die Aufgabe hat, verantwortlich die Tätigkeit des Gerichts zu überwachen und dessen Fehler mit prozessualen Mitteln zu rügen. Mit einer solchen Stellung verträgt es sich schwerlich, gleichzeitig Objekt gerichtlicher Prüfung dahingehend zu sein, ob die Tätigkeit dem wirklichen Interesse des Beschuldigten dient. Soweit Fehler des Verteidigers im Verfahren wirksam werden, muß sie die Rechtspflege ebenso in Kauf nehmen wie Fehler der Staatsanwaltschaft: Korrigierbar mit prozessualem Instrumentarium sind sie grundsätzlich nur insoweit, als die Strafprozeßordnung ausdrücklich Möglichkeiten dafür vorsieht — wie etwa durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumnis —, nicht aber durch eine generelle Pflicht des Gerichts zur Uberwachung der Geschicklichkeit seines Vorgehens und durch die Verpflichtung des Gerichts, dem Angeklagten gegebenenfalls einen zusätzlichen Verteidiger zu bestellen. Es versteht sich, daß dabei das Gericht im Rahmen seiner allseitigen Aufklärungspflicht von sich aus auch die den Angeklagten entlastenden Momente ans Licht zu bringen suchen muß, wie ja auch die Staatsanwaltschaft gem. § 160 Abs. 2 StPO in dieser Richtung tätig zu werden hat. Darüber hinaus wird im Falle der notwendigen Verteidigung die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers — bei Versagen des schon gewählten — nur im Extremfall in Betracht kommen; gleiches gilt für die Rücknahme einer Bestellung und die Neubestellung eines anderen Verteidigers: N u r wenn der Verteidiger offensichtlich völlig unfähig ist oder aus anderen Gründen seine Pflichten schwerstens vernachlässigt, wird das Gericht in Aktion treten und einen weiteren bzw. neuen Verteidiger bestellen müssen 33 . Eine solche gerichtliche Pflicht folgt dann aus dem Zweck des Instituts der notwendigen Verteidigung, das seinerseits Ausfluß einer gerichtlichen Fürsorgepflicht ist. Ist nämlich der vorhandene Verteidiger in Wahrheit überhaupt kein Verteidiger, weil sich seine Tätigkeit dem Nullwert annähert, so hat das Gericht für Abhilfe zu sorgen.

32

Hierzu Gallas, ZStW 53, 1934, S. 270; Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 3. Aufl. 1971, S. 78 Rdn. 102 f. 33 Ebenso Kleinknecht, StPO, 31. Aufl. 1974, Einl. 7 F und § 143, 3; Dünnebier in Löwe-Rosenberg, 22. Aufl. 1971, S. 143, 4. — Eine andere Frage ist es, unter welchen Voraussetzungen das Gericht von vornherein wegen der Schwierigkeit oder des Umfangs der Sache mehrere Verteidiger heranziehen muß. Auf diese Frage kann hier nicht eingegangen werden.

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Manfred Maiwald

Im übrigen sind selbstverständlich Hinweise des Gerichts an den Verteidiger als nobile officium denkbar — aber eben nicht als Rechtspflicht, deren Auswirkung mit der Revision überprüfbar wären. 4. Schließlich ergibt sich eine dritte Möglichkeit der Kollision einer gerichtlichen Fürsorgepflicht zugunsten des Beschuldigten, wenn man einmal an eine Fürsorgepflicht auch zugunsten anderer Prozeßbeteiligter denkt. Am eklatantesten ist die Kollision dort, wo ein Privatoder Nebenkläger auftritt: Bestünde eine Fürsorgepflicht des Gerichts dahingehend, seine auf Belastung des Beschuldigten zielenden Interessen zu fördern, so würde sich dies ganz selbstverständlich gegen die Interessen des Beschuldigten auswirken, der möglichst freigesprochen werden möchte. Versäumt es etwa das Gericht nach einem freisprechenden Urteil entgegen § 35 a StPO, den Privatkläger über seine Rechtsmittelmöglichkeiten zu belehren, und unterläßt es der Privatkläger irrig, Berufung einzulegen, so kann dieses Versäumnis im Einzelfall bewirken, daß eine Verurteilung in der höheren Instanz unterbleibt, die anderenfalls ausgesprochen worden wäre. Soweit nun nicht — wie im soeben genannten § 35 a — Hinweise und Belehrungen ausdrücklich vorgeschrieben sind, fragt es sich also, zu wessen Gunsten eine etwaige Fürsorge vorgehen sollte. Dieselbe Frage taucht auch im Verhältnis des Beschuldigten zum Zeugen und Sachverständigen auf. So ist offensichtlich, daß der gesetzlich geregelte Fall der Fürsorge für den Zeugen, den § 55 StPO mit seinem Auskunftsverweigerungsrecht darstellt 34 , sich gegenüber dem Angeklagten nachteilig auswirken kann; etwa dann, wenn die aufgrund der Belehrung verweigerte Aussage des Zeugen dem Angeklagten das Alibi verschafft hätte, das auf andere Weise nicht feststellbar ist. Bemerkt andererseits der Richter, daß der Angeklagte, um sich zu entlasten, im Begriffe steht, von einer strafbaren Handlung eines anwesenden Zeugen zu berichten, so stellt sich die Frage, wie der Konflikt zwischen einer denkbaren „Fürsorge" für den Zeugen und einer ebensolchen für den Angeklagten zu lösen ist, wenn eine ausdrückliche Gesetzesvorschrift fehlt. Daß im Ergebnis hier der Richter den Angeklagten nicht hindern darf, die den Zeugen belastenden Aussagen zu machen, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Die Grenze bildet der Rechtsgedanke, der § 68 a StPO zugrunde liegt. „Unnötig" den Zeugen bloßstellende Angaben durch den Beschuldig3 4 Vgl. hier die Argumente, die B G H 11, 213 (216 f.) im Zusammenhang mit der Entwicklung der bekannten „Rechtskreistheorie" darlegt: Dem Zeugen solle die Demütigung einer Selbstbezichtigung oder Beschuldigung seiner Angehörigen nicht zugemutet werden; es sei also der Zweck des Auskunftsverweigerungsrechts, dem Zeugen einen Konflikt zu ersparen.

Z u r gerichtlichen Fürsorgepflicht im S t r a f p r o z e ß und ihren Grenzen

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ten wird das Gericht ebenso verhindern müssen wie Fragen nach Tatsachen, die dem Zeugen oder dessen Angehörigen zur Unehre gereichen können.

IV.

1. Haben die vorstehenden Überlegungen einerseits gezeigt, daß die Struktur des Strafprozesses eine einseitige und bedingungslose Fürsorgepflicht des Gerichts zugunsten des Beschuldigten nicht duldet, so wäre doch andererseits wenig damit gewonnen, wollte man nur ganz allgemein von einer Fürsorge für das Verfahren ausgehen. Von einer solchen Fürsorge für das Verfahren spricht allerdings Sax, der hervorhebt, mit dem Begriff der Fürsorgepflicht sei das Verfahren als Ganzes gemeint, das stets rechtsstaatlich, pfleglich und justizförmig, aber auch zügig gefördert werden müsse, was noch durch das Beispiel des Autors verdeutlicht wird, auch die Beweissicherung gehöre hierher35. In diesem Zusammenhang könnte man dann auch argumentieren, eine Strafe werde über den Schuldigen in dessen eigenem wohlverstandenen Interesse verhängt, so daß ihm gegenüber die Fürsorge darin bestehe, die verdiente Strafe ihm auch zuteil werden zu lassen. In diesem letzteren Sinne hat jedoch Rechtsprechung und Lehre den Begriff der gerichtlichen Fürsorgepflicht gewiß nie verstanden. Vor allem aber ist eine global verstandene Fürsorge für das Verfahren als Begriff dogmatisch von geringem Wert. Denn da der Begriff nichts anderes besagt, als daß das Gericht alles das zu tun hat, was ihm nach Buchstaben und Geist die Strafprozeßordnung vorschreibt, dies aber inhaltlich nicht präzisiert, ist mit ihm nichts gewonnen. 2. Bleibt es also bei der Notwendigkeit einer Fürsorge zugunsten des Beschuldigten zur Gewährleistung seiner prozessualen Rechte, so sei abschließend noch ein Blick geworfen auf die Prozeßstrukturen, die in den geschilderten Kollisionsfällen offenbar wurden. Es geht allemal — auch im Beispiel des Verteidigers — um die Antinomie zwischen der Inquisitionsmaxime, die dem Gericht die alleinige Verantwortung für das Finden der Entscheidung zuschiebt, und der Anerkennung einer Subjektstellung auch der anderen Verfahrensbeteiligten, die diesen anderen die Mitverantwortung für das Prozeßergebnis aufgebürdet. Die Anerkennung einer Subjektstellung etwa des Beschuldigten würde streng genommen zur Folge haben, daß man seine Handlungen und Erklärungen, weil man seinen Willen ernst nimmt, nicht mehr auf ihre Richtigkeit hin überprüfen darf, daß man 35

Sax,

K M R , S t P O , 6. Aufl. 1 9 6 6 , Einl. 13 I, a und b sowie § 2 4 4 , 3.

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also beispielsweise — wie bei der guilty plea des angelsächsischen Verfahrens — ein Geständnis schlechthin für „bare Münze" nehmen muß. Erst das inquisitorische Moment mit der alleinigen oder doch „überwiegenden" Verantwortlichkeit des Gerichts bringt so etwas wie Fürsorge für den Beschuldigten in das Verfahren hinein. Historisch läßt sich das im Schrifttum zum Inquisitionsprozeß alter Art belegen. So erklärt v. Grolmann, daß es „mit Rücksicht auf die Wahrheit, daß der Staat selbst über Einwilligende keine unverdiente Nachtheile verhängen will, die vollständige Aufsuchung aller Vertheidigungsgründe, mithin sowohl der Gegenbeweise, als auch der Einreden und ihrer Beweise zu einer wesentlichen Tendenz der richterlichen Untersuchung erhebt" 36 . Und plastisch formuliert Tittmann: „Nach den . . . Pflichten eines untersuchenden Richters ist die Vertheidigung des Angeschuldigten gewissermaßen schon in die Untersuchung selbst mit begriffen 37 ." Hier war also, da der Beschuldigte keine Subjektstellung besaß, dem Richter allein gleichzeitig auch die volle Verantwortung für das Prozeßergebnis aufgebürdet, eine Verantwortung, die einerseits zu den bekannten Mißständen des Inquisitionsprozesses führte, andererseits aber eben die Verpflichtung mit sich brachte, auch die Verteidigung des Beschuldigten gleichsam selbst in die H a n d zu nehmen. Je mehr nun der Beschuldigte historisch in die Stellung eines Prozeßsubjekts hineingeriet, desto mehr mußte ihm gleichzeitig an Verantwortung dafür zuwachsen, seine Verteidigung zweckmäßig zu führen. Darf beispielsweise der Beschuldigte im Prozeß zum Anklagevorwurf schweigen, so hat er damit auch die Verantwortung dafür zu tragen, ob dieses Verhalten sich letztlich zu seinen Gunsten auswirkt oder ob es zu seinen Ungunsten ausschlägt. Ebenso ist es beim Stellen eines Beweisantrages. Der Richter ist in dem Maße der Verantwortung enthoben, in dem der Beschuldigte solche prozessualen Rechte erwirbt. Zum fehlenden Beweisantrag bemerkt denn auch Sarstedt ganz folgerichtig für die Revisionsinstanz: „Was sich dem Verteidiger — der die Akten so gut zu kennen hat wie der Richter — an entlastenden Behauptungen und Beweismitteln nicht aufdrängt, das braucht sich im allgemeinen dem Richter erst recht nicht aufzudrängen . . . Der Beschwerdeführer tut in jedem Falle gut, sich zu überlegen, was er in der Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht auf " v. Grolmann, Grundsätze der Kriminalrechtswissenschaft, 4. Aufl. 1825, S. 554, § 507. 37 Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde Bd. 3, 2. Aufl. 1824, S. 429, § 806.

Zur gerichtlichen Fürsorgepflicht im Strafprozeß und ihren Grenzen

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die Frage antworten würde: ,Warum haben Sie diese Aufklärung nicht in der Hauptverhandlung erster Instanz beantragt 3 8 ?'" Damit soll ganz offenbar gesagt sein, daß der Verteidiger (um den es an jener Stelle geht) in dem Maße, in dem er die Möglichkeit hat, Beweisanträge zu stellen, die Verantwortung d a f ü r ganz erheblich mitträgt, daß die Aufklärung in dieser Richtung erfolgt! 3. Unser heutiges Strafverfahren enthält Elemente sowohl der richterlichen Inquisition als auch des Parteiprozesses. Was die hier untersuchte Fürsorgepflicht kennzeichnet, ist, daß sie dem Beschuldigten ermöglichen soll, seine — ansatzweise vorhandene — Parteistellung wahrzunehmen. So wird die Frage nach der Fürsorgepflicht über die faktische Gewährleistung der formellen prozessualen Rechte hinaus zur Frage, in welchem Maße dem Richter die Verantwortung für die Zweckmäßigkeit der Verteidigung des Beschuldigten verbleibt: in welchem Maße der Richter darüber wachen muß, ob der Beschuldigte seine Rechte von seinem Verteidigungsinteresse her gesehen „richtig" einsetzt, oder ob der Beschuldigte sich durch Nichtwahrnehmung von Rechten vielleicht sogar fälschlich verurteilen lassen will. Diese Frage ist, sieht man die Verpflichtung zur Überwachung der Wahrnehmung von Verteidigungsrechten und die Wahrheitsfindungspflicht als gleichrangig an, nicht auflösbar. Sofern die „zweckmäßige" Verteidigung zu einem Freispruch entgegen der Wahrheit führt, sieht sich der Richter, der zu einer solchen Verteidigung beiträgt, im Konflikt mit der Pflicht, zu einem (im Rahmen der Justizförmigkeit) materiell richtigen Urteil zu gelangen. In dieser Hinsicht bemerkte etwa Tittmann zu seiner Zeit, es dürfe „die Begünstigung der Vertheidigung — nie in eine Bevortheilung der Gerechtigkeit ausarten" 3 9 . Sofern andererseits der Beschuldigte zum bloßen Objekt richterlicher Wahrheitserforschung würde, dem prozessuale Rechte mit der Konsequenz, daß die Wahrheitserforschung auch einmal verhindert wird, nicht zustünden, wäre ein wesentlicher Fortschritt in der Verfahrensgestaltung seit dem alten Inquisitionsprozeß preisgegeben. Die gerichtliche Fürsorgepflicht kann es somit nie als beherrschende Prozeßmaxime geben: N u r als behutsamer Ausgleich zwischen einer Subjektstellung aller Verfahrensbeteiligten einerseits und der beim Gericht liegenden Verantwortung für die Wahrheitsfindung andererseits ist sie denkbar. Je mehr der Gedanke sozialstaatlichen H a n delns an Boden gewinnt, um so schwächer wird allerdings die Wert38

Sarstedt, D i e Revision in Strafsachen, 4. Aufl. 1962, S. 169. ' Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Bd. 3, 2. Aufl. 1824, S. 430, § 806. 3

Strafgesetzkunde

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Schätzung sein, die man der Subjektstellung im Sinne eigenverantwortlichen Handelns zuteil werden läßt — vielmehr wird immer mehr an Verantwortung dem Gericht zuwachsen. Solange man aber weiterhin von einer Subjektstellung des Beschuldigten in wesentlichen Punkten des Verfahrens ausgeht, wird man das Hauptaugenmerk auch darauf richten — und sich darauf beschränken — müssen, ihm das Tragen von Verantwortung zu ermöglichen. Und das bedeutet, daß eine Fürsorgepflicht des Gerichtes ihm die faktische Wahrnehmung seiner Rechte in Kenntnis ihrer Bedeutung ermöglichen muß. Terminologisch ist für diese Art von Fürsorge in der Tat der Begriff des fair trial vorzuziehen, da in ihm die Subjektstellung des Beschuldigten sprachlich zum Ausdruck kommt. Der Begriff „fair" setzt das Bestehen von Regeln — hier des Prozeßrechts — voraus und deutet Eigenverantwortlichkeit derjenigen an, die ihnen unterworfen sind. Eigenverantwortlichkeit und damit Subjektstellung deshalb, weil das Bestehen von solchen Regeln gemeint ist, die eine Wahrnehmung von Chancen im Auge haben. Ob die Chancen letztlich realisiert werden, eben das liegt in der Verantwortlichkeit dessen, dem sie gewährt werden: des Prozeßsubjekts.

Zum Ruf nach dem sogenannten Kronzeugen D a s Mitglied einer Bande von Schwerstverbrechern als „Staats-Zeuge" mit zugesicherter Belohnung für rechtsförderliche Aussage HERMANN JAHRREISS

Ein menschlich sehr heikles Thema! Schon vor einem halben Jahrhundert hat es midi, den damaligen Strafrichter, bedrängt 1 . Nun geben es seit einigen Jahren die Zeitumstände dem Staatsrechtler auf. Und während sich meine Arbeit an diesem Beitrag zur Festschrift für Richard Lange dem Ende nähert, ruft unser Jubilar die Öffentlichkeit auf, vor dem Terror nicht zu resignieren2. Aus Sorge um Leben und Freiheit der Menschen in unserem Staat und um diesen Staat selbst will er dazu helfen, daß die von der Terror-Plage bedrohte innere Sicherheit dieses Gemeinwesens durch bestimmte Verbesserungen des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts gestärkt wird; deshalb verdiene dann auch — so lesen wir am Ende seines Appells — der Vorschlag der Regierung von Nordrhein-Westfalen, durch Bundesgesetz die Einrichtung des „Kronzeugen" zu schaffen, seine Zustimmung. Ich denke, meine herzlichen Glückwünsche für den in vielen Jahren vertraut gewordenen Kollegen und Freund, für den Gelehrten, der unserem Staat in härtesten Zeiten durch unbestechliche Denk-Klarheit de lege lata und durch nie schwankende Ziel-Klarheit de lege ferenda unermüdlich geholfen hat, kann ich nicht besser überbringen als mit einem Wort zu diesem, unseren Bundesgesetzgeber nun wohl bald zur Entscheidung drängenden — ich wiederhole — menschlich sehr heiklen Thema. Dabei hoffe ich, daß mein Wort auch dann noch etwas zu besagen haben wird, wenn beim Erscheinen der Festschrift die Entscheidung gefallen sein und die neue Einrichtung nun in der Bewährungsprobe stehen sollte.

1 Wenn ich mich recht erinnere, war es 1920 oder 1921, daß an einem Vormittag zur selben Minute in den Landgeriditsgebäuden von Dresden, Leipzig und Chemnitz eine Bombe explodierte; offensichtlich das Werk einer Verbredierbande! 2 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1975, N r . 101, vom 2. M a i : „Vor dem Terror resignieren?"

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Hermann Jahrreiß

A.

I. Wieder und wieder ist dies geschehen: Ein Staat steht einer Bande verschworener Schwerstverbrecher gegenüber. Seine äußersten Anstrengungen der Verbrechens-Aufklärung sind vergeblich. Da bricht er den Ring der Verbrecher mit erfolgreichem Locken auf: Angezogen durch die vom Staat gebotene Möglichkeit oder gar Gewißheit einer Milderung, wenn nicht sogar des Erlasses der verdienten Strafe (dazu womöglich noch einer finanziellen „Belohnung"!), stellt sich ein Mitglied der Bande, sagt aus und ermöglicht es dadurch dem Staat, die anderen Mitglieder oder wenigstens die entscheidenden zu fassen und zu bestrafen. Das Staatsziel ist erreicht. Aber: Mit dem Weg dahin kann der Staat nicht eben „Staat machen"; er hat mit einem Verbrecher paktiert! Und: Dieser Verbrecher bleibt für die Bevölkerung trotz seiner Aufklärungs-Verdienste genauso ein Verbrecher wie die von ihm an die Staatsgewalt Ausgelieferten. Und: Für diese ist er ein todeswürdiger, ihrer Feme verfallener „Verräter". Und: Am Ende muß ihn der Staat gar noch vor dem „Volk" oder vor den „Verratenen" schützen, ihm etwa das Untertauchen im Lande oder außer Landes ermöglichen. II. In der Menschheitsgeschichte hat es immer wieder offen oder versteckt, gebilligt oder verworfen, den denunzierenden Mit-Täter gegeben, der gegen zugesagtes Entgelt „auspackt". Das braucht uns niemand zu beweisen: Zu sehr allgemein-menschlich ist, was bei diesem durch nichts ersetzbaren Beweismittel von beiden Seiten — von dem die Klärung mühsam suchenden Staat und von dem die Klärung gegen Entgelt anbietenden Mit-Täter — ins Spiel kommt. Freilich, wie oft und in wie vielen Gestalten es in Tausenden und Abertausenden von Jahren geschehen ist, das ahnen wir nicht; ahnen es nicht einmal für die kurze Zeit der uns nächststehenden Geschichte der Staaten des Mittelmeer-Raumes im Altertum und der aus ihr hervorgegangenen, nach und nach weltweit verbreiteten europäischen Zivilisation, mehr noch: nicht einmal für einen ihrer Teilbereiche, nämlich für das Staatsleben im angelsächsischen Rechtskreis der letzten Jahrhunderte, aus dem uns, wenn ich recht sehe, mehr derartige Fälle faßbar überliefert sind als aus anderen3. 3 Einen guten Überblick für die Zeit seit 1759 gibt Wolf Middendorf}, „Der Kronzeuge. Historisch-kriminalistisches Gutachten". Z. f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft, 85. Bd. (1973) S. 1102—1129. Vgl. auch Heike Jung, „Straffreiheit für den Kronzeugen?" (1974).

Zum Ruf nach dem sogenannten Kronzeugen

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Z u r Terminologie: In England, einem v o n einem K ö n i g regierten Staat, gebraucht man für einen honorierten M i t - T ä t e r - Z e u g e n den N a m e n „King's w i t n e s s " ; in Englands mit der Unabhängigkeit republikanisch gewordener Tochter, den Vereinigten S t a a t e n v o n A m e r i k a , heißt er ohne Anspielung auf die S t a a t s f o r m „state's witness". Ich meine, w i r sollten ihn ganz entsprechend „ S t a a t s - Z e u g e " nennen; jedenfalls nicht K r o n z e u g e ; auch deshalb nicht, weil bei uns der allgemeine Sprachgebrauch darunter den in irgendeinem Streitzusammenhang wichtigsten, wahrscheinlich entscheidenden Zeugen versteht, und insbesondere in Strafverfahren den an dem Delikt gerade nicht beteiligt gewesenen H a u p t z e u g e n für die Belastung oder Entlastung des Angeklagten. Ich spreche also im folgenden v o m „ S t a a t s - Z e u g e n " , wenn die englische Figur „ K r o n z e u g e " gemeint ist, nämlich das gegen Belohnungszusicherung aussagende Banden-Mitglied.

III. Unser Staat behält sich heute — das ist der Gesetzesstand von Mitte Juni 1975, zur Zeit des Abschlusses meines Beitrags — bei manchem mit Strafe bedrohten Verhalten vor, mit Straferlaß oder wenigstens Strafmilderung zu entgelten, wenn ihm ein Täter durch „Offenbarung seines Wissens" bei der Strafverfolgung oder bei der Verhütung weiterer Delikte zum Erfolg verhilft 4 . Jedoch der gegen zugesichertes „Entgelt", gegen zugesagte „Honorierung" aussagende „Staats-Zeuge" ist bis heute nicht als gesetzliche Einrichtung eingeführt worden. Sie schien allerdings vor kurzem vor der Tür zu stehen, als den Rauschmittel-Ringen nicht vernichtend beizukommen war. Der Gesetzgeber tat den Schritt dennoch nicht, weil sich die Meinung durchsetzte, unser Staat könne mit seinen „normalen" Mitteln zum Ziele kommen, zumal mit dem doch gerade hier — wenn freilich auch nicht ohne moralische Bedenken — als normal angesehenen Einsatz von in die Ringe eingeschleusten Agenten, Spionen: Der Ermittlungsnotstand sei nicht gegeben, den man aber als Voraussetzung haben müsse 5 . Ich meine in diesem Beitrag unter „Entgelt" und „Honorierung" nur die Milderung der Strafe oder das Absehen von Strafe oder den Straferlaß, nicht sonstige Vergünstigungen wie Geld-Belohnungen oder Hilfe beim Untertauchen, Auswandern, von denen hier nicht gehandelt wird. Jüngst ist nun die innere Sicherheit zum vordringlichen Problem für unseren Staat geworden. E r steht für seine Menschen in einer zum Teil weltweit verbreiteten Gefahr: Sie geht von kriminellen Vereinigungen aus, deren Mitglieder, selbst bereit, ihr Leben hinzugeben, schlechterdings vor keiner Gewaltatt zurückschrecken. Unter 4 5

§§ 87, 98, 99, 129 StGB; 153 e StPC»; 47 Ausländergesetz. Vgl. den Bericht von Jung, a. a. O., S. 93 ff., 101 f.

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ihren Unternehmungen treten hervor Versuche, bisweilen gelungene Versuche, den Staat zu Handlungen oder Unterlassungen, sogar zu rechtswidrigen wie der vorzeitigen Freilassung von Strafgefangenen, mit Terror zu pressen; sie haben seit einigen Jahren in der Alten wie in der Neuen Welt in vielfältiger Gestalt, vor allem als Geiselnahme und da besonders als Flugzeugentführung, das Leben ganzer Völker und so auch des unsrigen bis hin zu dem Gefühl ungezählter Menschen belastet, in völliger Ohnmacht Angriffe auf Leben und Freiheit hinnehmen zu müssen. Der Mord am Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann, die Entführung des Westberliner Politikers Peter Lorenz, mit der die Täter den Staat zwangen, fünf ihrer Gesinnungsgenossen aus der Strafhaft freizugeben, und der Uberfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm, haben weite Kreise unseres Volkes, das sich ohnehin schon seit Jahren über den zunehmenden Mangel an „innerer Sicherheit" beklagt, nach dem „endlich, endlich! durchgreifenden" Staat rufen lassen. In späterer Zeit wird man nur die Nummer 11 der Wochenzeitung „Die Zeit" vom 7. März 1975 aufmerksam zu lesen brauchen, um zu erkennen, wie ratlos gerade die nachdenkenden Menschen in diesem Herrschafts-Verband „Bundesrepublik Deutschland" waren, als er einer nicht zu ergreifenden, offenbar nur kleinen Gruppe von Verbrechern, die ihn (über Rundfunk?) kommandierte, tagelang bis zur völligen und exakten Erfüllung der Befehle auf Wink gehorchte 6 . Am 13. März dieses Jahres hat nun die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen auf die Initiative des Justizministers Posser 7 dem Bundesrat den Entwurf eines Bundesgesetzes zur Einführung der Einrichtung des honorierten „Staats-Zeugen" für bestimmte schwerste, von kriminellen Vereinigungen begangene Verbrechen mit dem Antrag zugeleitet, seine Einbringung beim Bundestag zu beschließen.

6 Gemeint sind die Berichte, Stellungnahmen, Ratschläge von: Theo Sommer, „Erpreßt in alle Ewigkeit? Besser ein hilfloser als ein herzloser S t a a t " ; Dieter Buhl, „Terrorist nach Feierabend. Die Bewegung 2. Juni und andere Nachahmer der Baader-Meinhofs"; Joachim Nawrowski, „Die Entführung hat Narben geschlagen"; Marion Gräfin Dönhoff, „Besser wäre, daß einer s t ü r b e . . . als daß die Justiz aus der Welt k ä m e " ; Dietrich Strothmann, „Keine Stadt der Angst. Nach der Entführung gebändigter Z o r n " ; Hans Schueler, „Der Staat muß Leben schützen. Es ist ein Akt der Vernunft gewesen, den Erpressern nachzugeben". 7 Der Minister hat in der Wochenschrift „Die Zeit" (Nr. 12 v. 14. März 1975) Inhalt, Anlaß und Motive der Regierungs-Initiative der Öffentlichkeit erläutert: „Der Rechtsstaat und die Terroristen".

Zum Ruf nach dem sogenannten Kronzeugen

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Der E n t w u r f lautet im Artikel 1, der allein uns hier angeht 8 : Änderung der

Strafprozeßordnung

Die Strafprozeßordnung wird wie folgt geändert: Nach § 153 e wird folgender § 153 f eingefügt: „§ 153 f StPO (1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Straftat nach § 129 des Strafgesetzbuches und einer damit in Tateinheit begangenen Straftat absehen, wenn 1. der Zweck oder die Tätigkeit der kriminellen Vereinigung darauf gerichtet ist, Straftaten des Mordes nach § 211, des Totschlags nach § 212, des Völkermordes nach § 220 a, des erpresserischen Menschenraubes nach § 239 a oder der Geiselnahme nach § 239 b des Strafgesetzbuches zu begehen, 2. der Täter zur Aufklärung der Tat oder zur Ergreifung von Rädelsführern oder Hintermännern beigetragen hat und 3. die Aufklärung der Tat oder die Ergreifung der Rädelsführer oder Hintermänner auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert gewesen wäre. (2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann die Staatsanwaltschaft unter den in Absatz 1 bezeichneten Voraussetzungen die Klage in jeder Lage des Verfahrens zurücknehmen und das Verfahren einstellen. (3) Ist von der Verfolgung abgesehen oder das Verfahren eingestellt worden, so kann die Tat auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr verfolgt werden." Würde dieser E n t w u r f Bundesgesetz, so wäre der Staat, und zwar in der Gestalt allein des Staatsanwalts (nicht anders als der Staat in der Gestalt allein des Generalbundesanwalts in den Fällen des § 153 d S t P O ) uneingeschränkt H e r r über das Verfahren insofern, als er die Einstellung des Strafverfahrens zugunsten des durch seine Aussage um den Staat „verdienten" Täters in jeder Lage des Verfahrens verfügen könnte und somit fähig wäre, mit dem Täter um die in Aussicht gestellte förderliche Aussage rasch und verbindlich zu „verhandeln", „ein Geschäft zu machen", zu „paktieren". W i r hätten dann die angelsächsische Regelung in ihrem Grundcharakter übernommen. Zu betonen ist allerdings, daß der honorierte „StaatsZeuge" nur für ganz bestimmte, schwerste Banden-Sachen eingeführt werden soll. 8

Drucksache 176/75.

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H e r m a n n Jahrreiß

Der Bundesrat hat die von Nordrhein-Westfalen angeregte Gesetzesinitiative — mit einigen Änderungen, wie es scheint — ergriffen; später sind von den drei Fraktionen des Bundestages Gesetzentwürfe vorgelegt worden, in denen neben anderem die Einführung des „Staats-Zeugen" vorgesehen wird 9,10 .

B. 1. Der Bundesgesetzgeber wird hier vor widersprüchliche Erwägungen gestellt. Nur mit größtem Unbehagen könnte er den „StaatsZeugen", der gegen eine verbindliche „Honorierungs"-Zusage des Staates zur Förderung der Strafjustiz, dem Staat also „dienend", „auspackt", zur gesetzlichen Einrichtung machen. Unser Gesetzgeber braucht sich dabei gar nicht daran zu erinnern, wie sehr angelsächsische Juristen und Politiker immer wieder trotz aller Erfolge mit (englischen) „Krön"- oder (amerikanischen) „Staats"-Zeugen von Bedenken geplagt worden sind. Vor ihm steht ja als Vorbild, „als Bild dess', das er werden soll", die Gestalt des getreuen Dieners und Vollstreckers unseres Grundgesetzes, nach dessen Normen er zu handeln hat: Und dieses Grundgesetz hat hinter der Gesamtheit seiner Normen vom ersten Satz an als Bändigerin aller Staatsmacht eine sehr hohe Allgemeinvorsellung vom Menschen und seiner Würde. Gerade diese hohe Allgemeinvorstellung aber, muß sie nicht als utopisch empfunden werden und vielleicht sachlich notwendigen Entscheidungen im Wege stehen in Umständen wie denen, in denen jetzt nach dem honorierten „Staats-Zeugen" gerufen wird? Was für Menschen sind denn die Begründer, die führenden oder auch nur ausführenden Mitglieder der Terroristen-Vereinigungen, diese anmaßenden, von Haß blinden, zerstörwütigen, fanatischselbstaufopferungsbereiten, menschen- und staatsverachtenden Gewalttäter, von denen kürzlich eine Handvoll genügte, um die Führung unseres Staates von sechzig Millionen Menschen tagelang demütigend herumzukommandieren? Und was für Menschen müßten diejenigen Mitglieder solcher Vereinigungen sein, die sich vom Staat „kaufen" lassen würden? Wären sie verächtlich nur für die von ihnen gegen Entgelt an den Staat Verratenen, die ihre Verräter zur Vergeltung verfemen und vielleicht früher oder später selbst oder durch Anhänger „hinrichten"? und nicht vielmehr verächtlich auch Meldungen der Tagespresse in den beiden ersten Juni-Wodien 1975. Der W o r t l a u t der Entwürfe liegt mir beim Abschluß meiner Arbeit nicht vor. 9

10

noch

Zum Ruf nach dem sogenannten Kronzeugen

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für den von ihnen gegen Entgelt „bedienten" Staat und für das Volk? Und wie stünde es mit der Achtung vor dem „Verrat einkaufenden" Staat? Es menschelt bis zur Unmenschlichkeit im Bereich unseres Themas. Lassen wir die großen Worte von Menschenwürde! Wahnwitzige Unmenschlichkeit bedroht das vom Staat zu schützende Leben und die vom Staat zu schützende Freiheit. Die Lage ist nicht so, daß man ihr mit Formulierungen wie „Besser ein hilfloser als ein herzloser Staat" gerecht zu werden versuchen sollte 11 . In unserer Öffentlichkeit brodelt es von einander hart widerstreitenden Meinungen und Forderungen. Da verlangen die einen, der Staat möge ohne jedes Bedenken in der Wahl der Mittel „zuschlagen", „die Pest austilgen", „den Mordsumpf austrocknen", und da sorgen sich andere, der Staat könnte womöglich mit anderen als rechtstaatlichen Mitteln vorgehen und in einer Ausnahmesituation mit „voreilig fabrizierten" Gesetzen 12 das nun endlich erreichte Maß von Menschlichkeit der Staatsgewalt im Kampf gegen das Verbrechen wieder einbüßen, nicht zu reden von dem dann unvermeidbar werdenden Verzicht auf die noch nicht erfüllten Reform-Forderungen nach weiterer Mäßigung des Staates. Und zwischen diesen Extremen dann mancherlei Vorschläge von „ziemlich hart" bis „ziemlich weich" 1 3 ! Bei der vorgeschlagenen Einführung des gegen zugesichertes Entgelt aussagenden „Staats-Zeugen" geht es nun freilich um alles andere als um ein „Zuschlagen" des Staates, der ja doch vielmehr geradezu kleinlaut auftritt, aber eben um ein Stück eines nach der Initiative von Nordrhein-Westfalen von den Fraktionen des Bundestags in Einklang mit der Bundesregierung erstrebten größeren, vieles ordnenden Gesetzeswerkes, mit dem unser Staat in dem zunehmend schwerer und härter werdenden Kampf gegen die technisch hochgerüsteten Terroristen mit Sympathisanten-Hintergrund besser als bisher bestehen soll. Und da mag leicht die Erregung, die im Für-und-Wider Theo Sommer, oben Anm. 6. Unser Jubilar hat mit Recht Kritik geübt (vgl. oben Anm. 2), und viele so wie er. 12 Nach Abschluß der Arbeit kommt mir der Bericht von Marianne Quoirin über ein Gespräch mit Günter Kohlmann und seine Warnung zu Gesicht: „Blinder Eifer schafft keine guten Gesetze" (Kölner Stadt-Anzeiger vom 20. Juni 1975 — Nummer 139 —). 1 3 Aufschlußreidi für den Stand der „Wirrungen" unserer öffentlichen Meinung eine Stelle in Rolf Dahrendorfs Konstanzer Besson-Gedächtnis-Rede vom 9. Juni 1975. Dort setzt er sich nach dem Bericht des „Südkuriers" vom 11. VI. 1975 (Nr. 131 S. 3), ausdrücklich sich bekennend als Gegner der „Verrechtlichung der Politik", für einen ruhigen und gelassenen Kurs zwischen „Ordnungsfanatikern" und „revolutionären Träumern", für Toleranz und Flexibilität ein. 11

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dem ganzen „Gesetzespaket" gilt, die Erwägung darüber trüben, ob man den honorierten „Staats-Zeugen" zur gesetzlichen Einrichtung machen soll. Wir aber haben es hier nur mit dem Problem dieser Zeugenschaft zu tun. II. Also denn: Welche Bedenken könnte unser Gesetzgeber gegen den honorierten „Staats-Zeugen" haben? und welche Gedanken für ihn? 1. Die Hauptsorge der angelsächsischen Gerichte scheint seit je der Glaubwürdigkeit der „Krön"- oder „Staats"-Zeugen gegolten zu haben. Es versteht sich, daß ein Richter die Aussage eines „bezahlten Verräters", der selbst am Verbrechen teilhatte, nur mit größtem Mißtrauen für das Urteil verwerten darf. Aber wäre es denn anders, wenn heute, wo wir ja den „Staats-Zeugen" mit Honorierungsanspruch nicht haben, ein Mitglied einer Terroristen-Bande aus freien Stücken „sein Wissen einer Dienststelle offenbaren" würde, etwa weil er „einfach nicht mehr mitmachen könne"? Wäre da von vornherein weniger Mißtrauen am Platze? Wer da weiß, wie wenig WahrheitsWert sogar Aussagen von Menschen haben können, deren Wahrhaftigkeit über jeden Zweifel erhaben ist, kann beim honorierten „Staats-Zeugen" nur allenfalls eine gesteigerte Schwierigkeit und keinen Grund zur Resignation sehen. Man muß eben mit äußerster Vorsicht diesen Zeugen vernehmen und darf nur mit äußerster Vorsicht seine Aussage verwerten. Freilich wäre es gut, wenn seine Angaben durch andere Beweismittel, die man auch nach seiner Aussage noch zu finden sich bemühen muß, gestützt würden, aber falsch wäre es zu verordnen, daß sie niemals allein zur Verurteilung anderer führen dürfen. Können sie doch sehr wohl, wie es sich gerade in den angelsächsischen Ländern erwiesen hat, für sich allein die entscheidende Hilfe für den ermittelnden Staat sein; und bei uns sollen sie ja nur dann „honoriert" werden, wenn sie zur entscheidenden Hilfe geworden sind, etwa zur Entdeckung und Ergreifung der Rädelsführer geführt haben. Ich meine also, das Glaubwürdigkeits-Bedenken sollte einem Gesetz, das den honorierten „Staats-Zeugen" einführt, nicht im Wege stehen. Und damit könnte dann nach dem Bedenken gegen die Einrichtung „Staats-Zeuge" ein Gedanke für diese Einrichtung zum Zuge kommen, der offensichtlich erheblich dazu beigetragen hat, daß sich der Justizminister von Nordrhein-Westfalen für sie tatkräftig einsetzt: Unter den Mitgliedern einer Vereinigung von Menschen, die schwerste

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Verbrechen gegen Leben und Freiheit planen und vielleicht auch begehen und die also im Fall der Festnahme mit schwersten Strafen zu rechnen haben, wird leicht das Mißtrauen aufkommen, der eine oder andere werde abtrünnig werden, um sich vielleicht zu retten; solches Mißtrauen wird geradezu unvermeidbar sein, wenn durch Gesetz der „Staats-Zeuge" mit gesetzlich zugesicherter Honorierung eingeführt wird. Es liegt auf der Hand, was dies schon für das Gründen solcher Vereinigung, erst recht für die Tätigkeit der Vereinten bedeuten könnte. Die Kraft der gesetzlichen Lockung vermag vielleicht sogar, daß mehrere Mitglieder der Bande einander bei der Bewerbung um die lohnende Position des honorierten „Staats-Zeugen" auszustechen versuchen. Der Staat kann sich dann das beste Exemplar aussuchen. Wir kennen das aus dem angelsächsischen Bereich. Die Einrichtung des im Fall des Aufklärungserfolges zu honorierenden „Staats-Zeugen" könnte also unserem Staat ein taugliches Mittel für den Kampf gegen Terroristen-Banden geben, und zwar einerseits schon durch ihr bloßes Bestehen (ein taugliches Mittel der Prävention durch „Verunsicherung" der Mitglieder untereinander), andererseits durch den — allerdings vom Willen der anderen Seite abhängigen — Einsatz im Einzelfall (ein taugliches Mittel der Repression und Prävention durch Uberführung und Bestrafung vor allem der Rädelsführer und Hintermänner). Dieses Beweismittel entlarvt sich selbst.

ist durch kein anderes

zu ersetzen:

Die

Bande

Auf das Unbehagen, das viele bei dem Gedanken an ein solches „Geschäft" des Staates mit einem Mit-Täter quält, wird später einzugehen sein. 2. Die Frage ist nun aber: Würde nicht der Bundesgesetzgeber, indem er die Waffe des Zusammenspiels mit dem zu honorierenden „StaatsZeugen" in das Arsenal des gegen Terroristen-Banden kämpfenden Staates einbringt, wider die auch ihn bindenden Normen des Grundgesetzes verstoßen? Man muß doch, gerade nach den Erfahrungen in den angelsächsischen Ländern, bedenken: Für das Rechtsgefühl des Volkes bleibt der Mit-Täter-Zeuge trotz seiner Verdienste um die Aufklärung schwerster Verbrechen und damit vielleicht um die Verhütung weiterer Untaten doch eben „einer von der Bande"; eine Strafmilderung würde allenfalls verstanden werden, aber auch völlige Freiheit von Strafe? — Und dies gerade müßte doch mindestens auch zur Verfügung stehen, wenn die „Auslobung" durchgreifend verlockend wirken soll! Unser Staat, so heißt es, hat die Pflicht, jeden

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überführten Verbrecher zu bestrafen; das Gesetz zwingt ihn dazu. Diese Forderung findet das unnachgiebig schlicht und gerade fühlende und denkende Volk — wie soll es sonst an eine Strafrechtspflege des Staates „ohne Ansehen der Person" glauben? — in dem Gesetzesbefehl, dessen Inhalt die Juristen Legalitätsprinzip nennen. Dieses rigorose Prinzip wurde im Deutschen Reich vor einem Jahrhundert trotz mancher Bedenken eingeführt, insbesondere trotz der inzwischen längst als nur zu sehr berechtigt erkannten damaligen Warnung, der Staat werde sich damit über seine Kraft und Möglichkeit verpflichten. Heute, unter dem Grundgesetz, wird für das Legalitätsprinzip argumentiert, es folge notwendig daraus, daß unser Staat

als Rechtsstaat verfaßt sei und daß alle Menschen vor dem Gesetz

gleich seien14. Das ist zu prüfen!

a) Beginnen wir mit dem Zweiten, mit der Bindung unseres Gesetzgebers an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. I des Grundgesetzes. Die Bemühungen von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, den Inhalt dieser Norm zu klären, haben eine nie ernsthaft angezweifelte Feststellung und eine jedenfalls nicht mehr umstrittene Feststellung erbracht: Erstens: Jedes Normen-Setzen gruppiert die Menschen vor der Staatsgewalt anders als bisher, begründet andere als die bisherigen Behandlungsunterschiede, differenziert in jedem Fall. Zweitens: Das Gebot an den Gesetzgeber, alle Menschen gleich zu behandeln, kann somit nichts anderes bedeuten, als daß die von ihm 1 4 Aus dem Schrifttum der letzten Jahre vgl. außer Dürigs monographie-ähnlichem Kommentar zum allgemeinen Gleichheitssatz (im Kommentar zum Grundgesetz von Maunz-Dürig-Herzog) und Leibholz-Rtnck, „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" (zu Art. 3 GG) folgende Schriften und Abhandlungen (in zeitlicher Reihenfolge): Serwe, L. Hans, „Abschied vom Legalitätsprinzip" (Kriminalistik, 1970, S. 377 ff.); Faller, Hans, „Verfassungsrechtliche Grenzen des Opportunitätsprinzips im Strafprozeß" (Festschrift für Theodor Maunz, 1971, S. 6 9 ff.); Podlech, Adalbert, „Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes" (Schriften für öffentliches Recht, Bd. 144, 1971); Baumann, Jürgen, „Grabgesang auf das Legalitätsprinzip" (Zeitschr. für Rechtspolitik, 1972, S. 273 ff.); Cramer, Peter, „Ahndungsbedürfnis und staatlicher Sanktionsanspruch" (Festschr. für Mäurach, 1972, S. 487 ff.); Eser, Albin, „Absehen von Strafe" (Festschr. für Maurach, 1972, S. 257 ff.); Wagner, Walter, „Zum Legalitätsprinzip" (Festschr. für den 45. Deutschen Juristentag, S. 149 ff.); Eike, Peter, „Legalitätsprinzip in der Krise" (Zeitschr. für Rechtspolitik, 1973, S. 135 ff.); Hanack, Ernst-Günter, „Das Legalitätsprinzip und die Strafrechtsreform" (Festschrift für W . Gallas, 1973, S. 339 ff.); Middendorf, Wolf (oben Anm. 3); Jung, Heike (oben Anm. 3); Schroeder, Friedrich-Christian, „Legalitäts- und-Opportunitätsprinzip heute" (Festschr. für Karl Peters, 1974, S. 411 ff.); Zipf, Heinz, „Kriminalpolitische Erwägungen zum Legalitätsprinzip" (Festschr. für Karl Peters, 1974, S. 487 ff.).

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gesetzten Differenzierungen nicht „willkürlich" sein dürfen, vielmehr „sachlich" zu sein haben oder anders gesagt: einen „einleuchtenden Grund" haben müssen. Das sind allerdings lauter nicht eben griffige Begriffe! Das Bundesverfassungsgericht aber greift damit zu. In unserem Fall nun soll vom Gesetzgeber ein „rechtsförderndes Verhalten" 1 5 geweckt werden, von dem für das Wohl des Volks, für Leben und Freiheit vielleicht sehr vieler Menschen womöglich alles abhängt; ein Verhalten, das nach Lage der Dinge — der Gesetzgeber nehme die Menschen so wie sie sind! — nur geweckt werden kann mit der Zusicherung von Strafmilderung oder sogar Freiheit von Strafe. Ein unbestreitbar „einleuchtender Grund"! Also: der allgemeine Gleichheitssatz würde — so gesehen — den Gesetzgeber nicht hindern, den Mit-Täter mit einer Entgelt-Zusicherung zu locken. b) Aber würde dem Gesetzgeber nicht das erstgenannte Hindernis im Wege sein, nämlich die gegen Änderung gefeite Grundentscheidung unseres Grundgesetzes für den „Rechtsstaat"? In ihr sei — so wird behauptet — das durch die geplante „Kronzeugen"-Gesetzgebung zu durchbrechende Legalitätsprinzip wesensnotwendig enthalten. Am Tage nach den Morden und Geiselnahmen, die am 24. April 1975 in der deutschen Botschaft in Stockholm von Terroristen begangen worden waren, hat der Bundeskanzler im Bundestag erklärt, unser Staat werde hinfort zum Schutz der inneren Sicherheit seine Macht bis an die Grenze des rechtsstaatlich Zulässigen einsetzen; aber eben: des rechtsstaatlich Zulässigen. Vom Weg der Rechtsstaatlichkeit soll dieser Staat selbst im Kampf gegen Terroristen nicht abgehen. Darüber ist offenbar unter allen für den Einsatz der Staatsmacht Verantwortlichen Einigkeit; und diese Einigkeit kann sich — das scheint ebenso gewiß — auf die Rechtsüberzeugung der überwältigenden Mehrheit des Volkes stützen. Was aber ist denn das: die Rechtsstaatlichkeit? Über einige Merkmale dessen, was — wie Art. 28 des Grundgesetzes sagt — „Rechtsstaat im Sinne dieses Grundgesetzes" ist, besteht sichtlich Ubereinstimmung in Theorie und Praxis; anderes aber ist nicht ebenso klar. Aber wir brauchen das hier überhaupt nicht zu untersuchen. Denn es läßt sich sehr einfach zeigen, daß „der Rechtsstaat im Sinne dieses Grundgesetzes" weder das strenge, keine Ausnahme zulassende, noch das milde, Ausnahmen zulassende Legalitätsprinzip wesensmäßig verlangt, vielmehr sogar mit dem Opportunitätsprinzip sehr wohl leben könnte. Oder sollten die Staaten des angelsächsischen Rechtskreises und die Staaten des Westens und Nordens unseres Kontinents, in 15

Eser, a. a. O., S. 260.

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denen das Opportunitätsprinzip die Strafjustiz beherrscht 16 , keine Rechtsstaaten der von unserem Grundgesetz verlangten Qualität sein?! Doch wir brauchen nicht einmal auf diese nordischen und westlichen Staaten mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung zu sehen. Es genügt ein Rückblick auf unsere eigene Rechtsentwicklung seit einem Jahrhundert. Man hat damals für den deutschen Strafprozeß von Reichs wegen formell das strenge Legalitätsprinzip gewählt (Milderungen freilich waren vorgesehen, versteckten sich bloß hinter den Antrags-Delikten und gar hinter Privatklage-Sachen), weil die Mehrheit der Entscheidenden aus Sorge vor der Gefahr möglicher Klassenjustiz oder auch nur aus Angst vor dem Schein solchen Mißbrauchs meinte, nur so könne es eine vom Volksvertrauen getragene als unparteiisch anerkannte Strafgerichtsbarkeit geben. Die Praxis bestätigte nach und nach die während der Auseinandersetzungen der Abgeordneten nachdrücklich ausgesprochene Warnung, der Staat würde mit seinem nun einmal unvermeidlicherweise nicht allmächtigen, sondern sachlich und persönlich stets beschränkten Justizapparat die rigorose Strafverfolgungspflicht des strengen Legalitätsprinzips keinesfalls ganz erfüllen können. Das — fast — strenge Legalitätsprinzip wurde, zunächst langsam, dann schneller vom Gesetzgeber offen gemildert, mit „Ausnahmen" versehen. Und nach der „opportunistischen" Hitler-Diktatur wurde das Legalitätsprinzip in der milden Gestalt erneut Gesetz und über den Art. 123 des Grundgesetzes

in den neuen Verfassungszustand als ihm nicht widersprechend

über-

nommen. Das war und ist bis heute der von der opinio necessitatis getragene Justiz-Usus. Der Gesetzgeber hat denn auch unter dem Grundgesetz unbedenklich weitere Ausnahmen geschaffen. Wir haben

nach wie vor das Ausnahmen zulassende Legalitätsprinzip.

Und es

geht nicht darum, Abschied zu nehmen17 oder einen Grabgesang anzustimmen 18 , sondern es bleibt nur die Frage, ob durch weitere Ausnahmen, die erwogen würden wie eben zur Zeit die Einführung der Einrichtung des honorierten „Staats-Zeugen" bei Terroristen-Banden, die Strafjustiz bei der Erfüllung ihrer Aufgaben gefördert werden

kann. Die Rechtsstaatlichkeit steht dabei überhaupt nicht zur Diskus-

sion. Es ist doch einfach sinnvoll, wenn der Staat Ausnahmen vom Strafverfolgungszwang zuläßt, weil in bestimmten Fällen nicht einmal das vom Strafgesetzgeber vorausgesetzte normale Interesse der Öffentlichkeit an der Strafverfolgung oder gar starkes Interesse der Öffentlichkeit an der TVic^i-Strafverfolgung besteht (§ 153 d StPO); 1S 17 18

Wagner, a. a. O., S. 126 ff. Serwe, siehe Anm. 14. Baumann, siehe Anm. 14.

Zum R u f nadi dem sogenannten K r o n z e u g e n

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und so auch wäre sinnvoll eine ausnahmsweise Mc&i-Strafverfolgung im Dienst des vorrangigen öffentlichen Interesses an der Aufklärung, insbesondere an der vollständigen und zwar raschen Aufklärung von schwersten, die innere Sicherheit im Ganzen bedrohenden oder erschütternden Verbrechen des Gründens wie des Wirkens von Terroristen-Vereinigungen.

c. Woher aber kommt das Unbehagen in weiten Teilen unserer Öffentlichkeit, sobald die Möglichkeit erwogen wird, den honorierten „Staats-Zeugen" gesetzlich vorzusehen? Wir lassen dabei alles Unbehagen beiseite, das nur darauf zurückzuführen ist, daß der Entwurf der „Kronzeugen"-Regelung mit mehreren anderen Entwürfen zu Änderungen des Strafgesetzbuches und der Strafprozeßordnung verbunden ist, denen eine sehr erregte Diskussion gilt. Es geht hier nur um Einführung oder Nichteinführung des honorierten „Staats-Zeugen", nicht z. B. um die Rechtsstellung von Strafverteidigern oder Gestaltung der Untersuchungshaft. aa) Da ist nun manchen — es handelt sich um einen engen Kreis von Sachverständigen — unbehaglich, daß mit dem sogenannten Kronzeugen angelsächsischer Ausprägung ein unserer Rechtsordnung fremdes Element eingeführt werden soll. Daß es ein Fremdling wäre, ist richtig; in deutschen Staaten vor dem Kaiserreich der BismarckVerfassung hat es zwar hin und wieder honorierte Mit-Täter-Zeugen gegeben, aber zur geprägten und kontinuierlich durch lange Zeit geübten Einrichtung wie im angelsächsischen Rechtskreis ist es nicht gekommen. Doch: Wenn schon aus fremdem Recht übernommen, wäre es denn unsere erste Rezeption fremder Rechtsgedanken? Ob die angelsächsischen Rechtsgedanken jetzt für unsere Staatsnotwendigkeit zurecht kämen, das allein sollte entscheiden. bb) In weiten Kreisen — so scheint es — quälen moralische Bedenken. Das „Verhandeln", das „Paktieren" des Staats mit einem gegen „Honorar" aussagewilligen Bandenmitglied, weiter die „Vertrags"abwicklung, wie verträgt es sich mit dem Sittengesetz, das doch unser Grundgesetz ganz hoch stellt, indem es das Sittengesetz absolute Schranke sein läßt für das Grundrecht, das allen anderen Grundrechten voransteht, nämlich für das Grundrecht des Jedermann „auf freie Entfaltung der Persönlichkeit"? Muß dieses Sittengesetz nicht auch für den Staat selbst gelten? Darf sich der Staat eines Verräters käuflich bedienen? Viele Leute sagen da ohne Zögern: Nein! und nennen das staatliche Entgelt Judaslohn; das Entgelt, durch Gesetz gene-

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rell in Aussicht gestellt, im Einzelfall dann ausgehandelt, läßt die Haltung auch des Staates in ihren Augen verwerflich erscheinen. Judaslohn ist unmoralisch. Und es geht darum sicherlich nicht an, das Verhalten des Mit-Täter-Zeugen zur „tätigen Reue" umzufrisieren, wovon jetzt in der Diskussion die Rede ist. In allen Kreisen und Schichten ist dieses moralische Unbehagen zu finden. Aber dahinter steht eine utopische Auffassung vom Staat. Dann müßte er auch das Spionieren lassen, das seit eh und je noch jeder Staat betrieb; er fand und findet es und wird es finden gut, wenn er es selber tut, und unverzichtbar, und verfolgt es als schweres Verbrechen, wenn ein anderer Staat ihn ausspioniert. Mir scheint, daran gemessen, ist das Paktieren mit einem Verbrecher, der hilft, Schwerstverbrecher zu finden, zu packen, unschädlich zu machen, weit weniger sündig. Zahllosen vielleicht an Leben und Freiheit Bedrohten zu helfen, ist sittlich vorrangig. cc) Noch anderes Unbehagen geht um: Ehre und Würde des Staates seien im Spiel. Zunächst: Der Staat gibt eine Niederlage zu, eine technische freilich, doch die Niederlage des Riesen im Kampf mit ein paar Zwergen, nämlich: Sein Apparat müsse ohne die Aussage des honorierten MitTäter-Zeugen vor der Aufgabe versagen, Terroristen-Banden zu fassen und zu vernichten; er müsse also den sogenannten ErmittlungsNotstand proklamieren. Freilich ist das unbehaglich, aber es ist doch keine Schande. Kein Staat hat jemals einen jeden von ihm gefaßten oder ihm angezeigten Verdacht eines strafbaren Verhaltens klären können; das ist heute nicht anders als ehedem und müßte selbst dann so sein, wenn sich der Staat auf die Aufgabe beschränkte, die äußere und innere Sicherheit des Gemeinwesens zu wahren. Und angesichts der technischen Rüstung heutiger Terroristen dürfte bei jeder der Banden der Staat von Anfang an in eben diesem Ermittlungs-Notstand sein; man bedenke doch, daß alles darauf ankommt, nicht nur irgendwann einmal vielleicht doch noch mit dem „normalen" Aufklärungs-Apparat das Ziel zu erreichen, sondern in kürzester Frist die Bande zu ergreifen, zu überführen und zu bestrafen. Und darum müßte der Staat, falls wir gesetzlich den honorierten „Staats-Zeugen" bekommen sollten, auch dann die Bereitschaft eines Banden-Mitglieds, gegen Entgelt auszusagen, annehmen, wenn die eigenen „normalen" Aufklärungs-Anstrengungen noch kaum erst eingesetzt hätten. Ich meine deshalb, der Gesetzgeber sollte, falls er zum Zweck der Bekämpfung von Terroristen-Banden den honorierten „Staats-Zeugen" schaffen will, den Ermittlungs-Notstand nicht im Gesetz „normieren", wie es der nordrhein-westfälische Entwurf vorsieht. Wer kann schon während der

Zum R u f nach dem sogenannten Kronzeugen

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Ermittlungen sagen, ob ohne die Aussage des honorierten „StaatsZeugen" — um nun mit den Worten des Entwurfs zu sprechen — „die Aufklärung der Tat oder die Ergreifung der Rädelsführer oder Hintermänner auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert" sein würde? Nehmen wir also an, der Gesetzgeber erläßt trotz allen Unbehagens das Gesetz: Dann lockt es eben den, den es angeht; vielleicht — die Aussicht mag gering sein — gibt es einen „schwachen" Mit-Täter, der seine Aussage zum „Kauf" anbietet. Die immer mögliche technische Niederlage des Staats mit seinem normalen Apparat könnte abgewendet werden. Also zupacken! Es geht nicht gegen die Ehre des Staates, wenn er eine außergewöhnliche technische Hilfe nimmt, wo er sie findet; wenn sie nur in ihrer Art tauglich ist; ob sie es im Einzelfall ist, wird sich zeigen. Ist es aber nicht des Staates unwürdig, durch ein Gesetz, d. h. durch einen Willensakt des höchsten Ranges, „auszulohen", er werde hinfort mit einem sich anbietenden Mitglied einer Terroristen-Bande über „Aussage für Entgelt" verhandeln und paktieren (das wäre es doch!), er werde dabei auf seinen Strafanspruch gegen diesen MitTäter-Zeugen teilweise oder ganz verzichten und werde — wenn nötig wie wahrscheinlich — den „Vertrags-Partner" zu seinem Schützling gegenüber den rachedurstigen „Verratenen" machen oder ihn womöglich sogar vor Zorn und Wut des Volkes bewahren, des Volkes, das Gerechtigkeit verlangt — und das ist eben für die Mehrheit der Menschen dasselbe wie Gleichbehandlung. Kein Schuldiger darf privilegiert sein! Wie also: Würde der den honorierten „Staats-Zeugen" einführende Gesetzgeber die Würde des Staates verletzen? Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches hat es wohl für die Mehrzahl der Deutschen in dem Bereich, der unter der Diktatur der Besatzungsmächte stand, kein Staatsbewußtsein gegeben. Die im obersten Stockwerk fremdstaatliche, in den mittleren und unteren Stockwerken teilweise deutsche Herrschaft, das waren HerrschaftsApparate, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Nach so manchen Zwischenphasen steht jetzt dieser Staat „Bundesrepublik Deutschland" und wird getragen von einem — wie es scheint — neu erstandenen deutschen Staatsbewußtsein vielleicht der meisten seiner Menschen. Das Treiben der Terroristen hat es nach jahrelangem Nachlassen des Volksvertrauens in die Energie und Zielsicherheit des Staates wieder wachsen lassen: Ein Gefühl, als Staat gedemütigt zu sein, hat bei den letzten Verbrechen der Terroristen in Berlin und Stockholm unsere Öffentlichkeit beherrscht, die sich von keiner angeblichen „Vernunft" zur Annahme des „hilflosen" Staats bekehren las-

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sen wollte. Dieser Staat hat einen Apparat, hat mehrere Apparate, mit denen er seine Herrschaftsaufgaben erfüllt — diese Apparate bedürfen ständig der Verbesserung — er ist aber kein Apparat, sondern wie jeder leistungsfähige Staat ein Wesen, das sich behaupten will. Und so hat er seine Würde. Und so ist er wehrhaft. Und je klarer er das zeigt, vor allem darin, daß er sich mit aller Entschlossenheit der Aufgabe annimmt, die für jeden Staat ohne Rücksicht auf die Verfassungs-Form die einzige unerläßliche und darum wesensmäßig primäre Aufgabe ist, zur Aufgabe nämlich, die äußere und innere Sicherheit zu wahren, desto weniger kann er das Gesicht verlieren, wenn einmal ein heikles Gesetz geschaffen wird, in dessen Ausführung er, der Staat, nicht eben hoheitsvoll erscheinen kann. Es muß nur eben in den Augen des Volkes für die Erfüllung der primären Aufgabe notwendig sein und darf der Würde des Staates nur so behutsam wie möglich Eintrag tun. Ich würde es daher für richtig halten, wenn bei dem Staats-Zeugen-,.Geschäft" der Staat nicht auch in der Gestalt des Gerichts aufträte. Das ist sehr gut am nordrheinwestfälischen Entwurf, der aber gerade hierin auf Widerstand gestoßen zu sein scheint. Soviel zu Bedenken gegen und Gedanken für die Einrichtung: honorierter „Staats-Zeuge" beim K a m p f des Staates gegen die Terroristenvereinigungen. Abgeschlossen Mitte Juni 1975

Über den Aktenverlust im Strafprozeß W E R N E R SCHMID

Der gänzliche oder teilweise Verlust von Strafakten läßt sich auch in geordneten Verhältnissen niemals ganz ausschließen. Solche Vorkommnisse können aber weithin als zwar bedauerliche, aufs Ganze gesehen aber doch belanglose Pannen der Strafjustiz abgetan werden. Diese Einstellung wird sich freilich dann ändern müssen, wenn solche Vorfälle gehäuft auftreten oder wenn es sich gar um die Folgen gezielter Angriffe auf den Staat und seine Rechtspflege handelt. So war es im deutschen Rechtsgebiet etwa während der Spartakusunruhen des Jahres 1919, in Österreich z. B. beim Sturm auf den Wiener Justizpalast im Jahr 1927. Es läßt sich nicht ausschließen, daß solche Zeiten wiederkehren. Eine gesetzliche Regelung des weitläufigen Fragenbereichs fehlt bei uns. Die (heute noch gültige) Verordnung vom 18. 6. 1942 (RGBl. I, 395) „über die Ersetzung zerstörter oder abhanden gekommener gerichtlicher oder notarischer Urkunden" erfaßt nur einen Teilbereich. Anders hat man in Österreich in den Jahren 1915 und 1927 den Aktenverlust als Folge von Kriegsereignissen und revolutionären Ubergriffen geregelt1. Im deutschen Schrifttum ist der Verlust strafprozessualer Akten und Aktenbestandteile — von kurzen Bemerkungen aus älterer Zeit abgesehen2 — nirgends näher und im Zusammenhang besprochen. Es mag deshalb nützlich sein, hierauf des näheren einzugehen. Freilich zwingt der zur Verfügung stehende Raum zur Beschränkung auf einige wesentliche Grundfälle und Grundfragen.

A. Beweismittelverlust? 1. Aktenverlust bedeutet in vielen Fällen auch das Abhandenkommen sächlicher Beweismittel. Allemal haben dann die Strafverfolgungsbehörden die Amtspflicht, diese Gegenstände möglichst in corpore 1 ö s t . RGBl. 1915, 958 (VO v. 14. 12. 1915) und ö s t . BGBl. 1927, 1045 (VO v. 9 . 8 . 1 9 2 7 ) . Vgl. auch D D R - A n O v. 1 6 . 1 1 . 1 9 5 6 , GBl. I, 1299. Zum italienischen Recht s. Köhler, GerS 103, 73. 2 Vgl. etwa Löwenstein, D J Z 1907, 284; Gudow, D J Z 1907, 5 8 7 ; Lafrenz, Recht 1919, 368; Stuhlmann, DStrRZ 1919, 2 2 9 ; Hennerici, DStrRZ 1920, 113; Schön/Feisenberger, ZStrW 41, 4 4 9 ; Mittermaier, J W 1923, 17; Philipp, JW 1928, 1311; Beling, StrPr. (1928) S. 210, 270, 322, 420. — Die Jenaer Diss. von Stemel (1940) befaßt sidi im wesentlichen mit zivilproz. Fragen und bleibt überall an der Oberfläche.

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Werner Schmid

wieder herbeizuschaffen. Bei urkundlichen Beweismitteln wird es manchmal möglich sein, gütlich oder durch Zwang ( V O 1942, § 2) Zweitschriften oder andere Ersatzitücke zu besorgen. Beim Verlust von Vernehmungsniederschriften kann u. U . die förmliche Wiederholung der Vernehmung der einzige Ausweg sein; freilich wird dann das neue Vernehmungsprotokoll nicht selten von der alten, verlorenen Niederschrift inhaltlich abweichen. 2. Nicht weniger selten wird der Beweismittelverlust irreparabel sein. Das ist indessen kein Grund, das Verfahren auf die Dauer anzuhalten oder es gar gänzlich einzustellen 3 . Der Richter muß vielmehr, wenn einmal das Hauptverfahren eröffnet ist, trotz des Ausfalls möglicherweise entscheidungserheblicher Beweismittel zur Sache entscheiden. Allerdings hat dies unter erkennbarer, in den Urteilsgründen ausgewiesener Berücksichtigung ebendieser reduzierten Beweisunterlagen zu geschehen4. Im Zweifel ist dabei zugunsten des Angeklagten davon auszugehen, daß mit den Akten auch entlastendes (!) Material verloren gegangen sein könnte. Anders mag dies freilich dann sein, wenn der Angeklagte selbst das Beweismaterial beiseite geschafft hat 5 . 3. Die Tatsache des irreparablen Beweismittelverlustes rechtfertigt, für sich genommen, die revisionsrichterliche Urteilsaufhebung jedenfalls nicht: Zum einen können nur gerichtliche (!) Verfahrensfehler dazu Anlaß geben, nicht aber unachtsamer Umgang mit den Akten bei Polizei oder Staatsanwaltschaft 6 . Zum anderen könnte auch eine revisionsrichterliche Urteilsaufhebung und Zurückverweisung den nun einmal eingetretenen irreparablen Aktenverlust nicht mehr aus der Welt schaffen; ein solcher Mangel scheidet aber als Aufhebungsgrund aus 7 ! Es bleibt unter solchen Umständen aber doch der Vorwurf, daß der Tatrichter den Aktenverlust bei seiner Urteilsfindung nicht gebührend berücksichtigt habe (§ 261). Insofern mag der Angeklagte auch Verletzung des Satzes ,in dubio pro reo' rügen. Die Verfahrensbeteiligten können u. U. auch geltend machen, daß sie vom Richter nicht ausreichend und/oder nicht sachgerecht auf den BeweismittelRG J W 1894, 225. RG JW 1894, 225. 5 Vgl. den vom Pr. OTrib. (GoltdA 10, 122 = OppenhRspr. 2, 96) entschiedenen Fall; s. dazu Schmid, Verwirkung von Verfahrensrügen (1967) S. 26, 324. — Aus der zivilproz. Praxis s. etwa OLG Hamburg, MDR 1968, 332; OLG Köln, MDR 1968, 674 und 1974, 227; s. ferner Peters, Z 2 P 82, 200. « RG Recht 1911, 2790; RG J W 1930, 3421 (m. Anm. Klee). 7 Vgl. dazu Schmid, J Z 1969, 757. 3 4

Über den Aktenverlust im Strafprozeß

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Verlust hingewiesen worden seien. Schließlich mögen die Beteiligten bei anderer Sachlage auch die Unabänderlichkeit des Beweismittelverlustes bezweifeln, indem sie nämlich darlegen (§ 344, II, 2!), daß das erkennende Gericht nicht alles Zumutbare zur Wiederbeschaffung oder Rekonstruktion des verlorenen Beweismittels unternommen habe.

B. Prozeß Voraussetzungen und Aktenverlust? 1. Der Beweismittelverlust wirkt sich also — richtiger Ansicht nach — nur auf beweisrechtlichem Gebiet, also auf den Inhalt der Sachentscheidung aus. Beim Aktenverlust im Bereich der Prozeßvoraussetzungen könnte dies aber anders sein: der Verlust der Anklageschrift, des Eröffnungsbeschlusses oder des Bußgeldbescheides, das Abhandenkommen des Strafantrags bei Antragsdelikten könnten zur Verfahrenseinstellung führen und damit eine Sachentscheidung gerade verhindern. Indessen, die höchstrichterliche Praxis hat auch hier, ohne große theoretische Erörterungen, einen Weg gefunden, die Verfahrenseinstellung zu vermeiden und trotz des Aktenverlustes zur Sachentscheidung zu gelangen. Man scheidet jeweils zwischen der fraglichen (außerhalb der Hauptverhandlung zustande gekommen, also) schriftformgebundenen Prozeßhandlung und deren papiernem Substrat, das zwar zum Nachweis ebendieser Prozeßhandlung notwendig oder dienlich sein mag, dessen körperlicher Fortbestand oder Vorhandensein bei den Gerichtsakten aber für die fortdauernde Wirkung dieser Prozeßhandlungen nicht wesentlich erscheint: Die genannten Prozeßhandlungen — die Erhebung der Anklage, der Erlaß des Eröffnungsbeschlusses oder des Bußgeldbescheids, die Antragstellung usw. — sind zwar Verfahrensvoraussetzungen; das irreparable Abhandenkommen der entsprechenden Schriftstücke hindert jedoch den Verfahrensfortgang nicht, sofern nur das jeweils mit der Sache befaßte Gericht (gegebenenfalls also unter Mitwirkung der Laienrichter) irgendwie, im Wege des Freibeweises, das prozeßgeschichtliche Faktum der wirksamen Vornahme jener Prozeßhandlung zuverlässig feststellen kann 8 . 2. So hat etwa RGSt. 65, 250 = J W 1931, 2370 (m. Anm. Beling) den Fall entschieden, daß die bei Gericht eingereichte Anklageschrift 8

Fürs mat. Recht denke man an den Verlust der notariellen Urkunde i. S. § 313 BGB oder an die Beamtenurkunde!

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verloren gegangen war; immerhin hatte man damals noch eine beglaubigte Abschrift beibringen können. Im Fall R G S t . 66, 108 = Recht/DRiZ 1932, 381 hingegen war ausgerechnet derjenige Teil des Sitzungsprotokolls weggekommen, in dem der Urkundsbeamte im Schnellverfahren (§ 212 a) den wesentlichen Inhalt der mündlich erhobenen Anklage festgehalten hatte. Allerdings hat das Urteil R G Recht 1925, S. 64 es für zulässig (und notwendig?) gehalten, „an Stelle eines früheren abhanden gekommenen Eröffnungsbeschlusses einen neuen auf Grund der ursprünglichen Anklage zu erlassen"; der Gesichtspunkt der Rechtshängigkeit stehe dem nicht entgegen, weil es sich hierbei nicht um die E r öffnung eines zweiten Hauptverfahrens neben (!) dem bereits anhängigen, sondern nur um die Schaffung eines Ersatzes für die verlorengegangene urkundliche Grundlage desselben (!) Verfahrens handele. — In der Regel ist man indessen nicht so kompliziert verfahren. So begnügte sich z . B . R G S t 55, 159 damit, daß die erkennende Strafkammer auf Grund der Erklärungen der Verfahrensbeteiligten den Inhalt des verlorenen Eröffnungsbeschlusses dahin festgestellt hatte, daß er im Sinne der (erhalten gebliebenen) Anklageschrift ergangen sei. Ebenso hat etwa R G S t . 65, 250 = J W 1931, 2 3 7 0 (m. Anm. Beling) — ebenso wie R G J W 1923, 17 — aus dem Aktenmaterial abgeleitet, daß in concreto ein wirksamer Eröffnungsbeschluß erlassen worden sei; das Verlangen des Revisionsführers auf Verfahrenseinstellung wurde zurückgewiesen 9 . — Entsprechend hat B G H S t . 23, 280 klargestellt, daß es für die Zulässigkeit des gerichtlichen Verfahrens im Ordnungswidrigkeitenbereich auf den wirksamen Erlaß des Bußgeldbescheids ankommt, daß aber sich dessen Urschrift keineswegs unbedingt bei den Akten befinden muß 1 0 . Erlaß und Inhalt des Bußgeldbescheids müssen zwar festgestellt werden; dies braucht aber nicht durch dessen Urschrift belegt zu werden. Das Gericht kann die notwendigen Feststellungen vielmehr im Freibeweiswege auf Grund aller verfügbaren Beweismittel treffen. 3. Ist die Anklageschrift noch vor ihrer Zustellung an den Angeschuldigten (§ 201) abhanden gekommen, so werden sich Staatsanwaltschaft und Gericht schon dieses Zustellungsgebots wegen stets 9 Unklar s. insofern OLG Kiel, GoltdA 69, 150; dazu s. Hennerici, DStrRZ 1920, 113; Beling, StrPr (1928) S. 210. Ungenau s. LK.-Kohlhaas (22.) § 2 0 3 / 5 und auch Eb. Schmidt § 203/5. 10 Ebenso s. OLG Frankfurt, N J W 1970, 159; OLG Oldenburg, N J W 1970, 719; OLG Köln, N J W 1970, 962; OLG Düsseldorf, N J W 1970, 1937; OLG Hamm, JMB1NRW 1971, 117 = VRS 40, 204; s. auch Demuth, ZVOR 1973, 44, 59.

Uber den Aktenverlust im Strafprozeß

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um ihre Rekonstruktion bemühen müssen. Äußerstenfalls wird die Staatsanwaltschaft hier, nach Rücknahme der alten Klage, von neuem Anklage erheben müssen (§ 156). Bei irreparablem Verlust der Anklageschrift k a n n in der H a u p t v e r h a n d l u n g naturgemäß dem Gebot des § 243, III, 1, den Anklagesatz zu verlesen, nicht mehr entsprochen werden; man muß sich dann nolens-volens damit bescheiden, den Verfahrensgegenstand auf andere Weise ausreichend bekanntzugeben. Entsprechendes wird f ü r die Vorschrift des § 215 über die Zustellung des Eröffnungsbeschlusses gelten 100 .

C. Urteilsverlust ? Mit der Verkündung des Urteilsspruchs am Ende der Verhandlung wird das Strafurteil wirksam. Die Urteilsformel ist dabei nach § 268, I zu verlesen; sie muß darüber hinaus im Sitzungsprotokoll festgehalten werden (§ 273, I). Das verkündete Urteil m u ß außerdem mit Gründen schriftlich abgesetzt werden (§ 275). Alle diese drei Schriftstücke — die Verlesungsnotiz, der Verkündungsprotokollvermerk und die Urteilsurkunde — können allein oder zusammen verloren gehen; fraglich ist, wie sich ein solcher Aktenverlust auf den Fortgang des Verfahrens im Rechtsmittelzug und auf die Vollstreckbarkeit auswirkt.

I. Verlust der Verlesungsnotiz,

§ 268

D a ß , wie und mit welchem Inhalt der Urteilsspruch verkündet worden ist, ergibt sich aus der Sitzungsniederschrift (§§ 273, 274). Die Urteilsformel m u ß indessen bei der Urteilsverkündung stets verlesen, folglich vorher schriftlich festgelegt werden. Dadurch sollen Widersprüche zwischen der beschlossenen und der dann verkündeten Urteilsformel vermieden werden 1 1 . Eine aus der Sitzungsniederschrift ersichtliche Verletzung dieses Verlesungsgebots wird in aller Regel dennoch folgenlos bleiben, sofern nicht zugleich vorgetragen (§ 344, II, 2!) und erwiesen wird, d a ß die ausweislich des Protokolls verkündete Formel in wesentlichen(!) Punkten von dem beschlossenen Urteilsspruch abgewichen sei 12 . D. h., d a ß diese Verlesungsnotiz — 100 Vgl. hierzu RGSt. 57, 7; 65, 373; RG JW 1923, 18; 1932, 2726 = 1932, 1277; Eb. Schmidt § 324/5. 11 RGRspr. 4, 398; unrichtig s. insofern RGSt. 3, 131. 12 Vgl. RGSt. 16, 349. Eine erfolgreiche Rüge s. RGRspr. 7, 233.

HRR

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mag sie vom Richter unterschrieben sein oder nicht — letztlich im Revisionsverfahren nur dazu dienlich ist, die beschlossene Urteilsformel glaubhaft zu machen. Eine Wirksamkeitsvoraussetzung i. S. eines Schriftformerfordernisses ist die Verlesungsnotiz gewiß nicht. Angesichts dessen wird auch der nachfolgende Verlust der Verlesungsnotiz eine Revisionsmöglichkeit allenfalls insofern eröffnen, als nunmehr risikolos behauptet werden kann, daß die laut Sitzungsprotokoll verkündete Urteilsformel dem beschlossenen Urteilsspruch (aber in welchen Punkten?) zuwiderlaufe usw. Die dem Revisionsführer obliegende Beweislast für das Vorliegen einer solchen revisiblen Divergenz wird indessen — gerade weil die Verlesungsnotiz nicht mehr greifbar ist — in aller Regel nicht erfüllt werden können, es sei denn, daß ein zusätzlicher Widerspruch zwischen der Urteilsformel im Sitzungsprotokoll und in der Urteilsurkunde (§ 275) einen entsprechenden Anhalt böte 13 .

II. Verlust des Verkündungsvermerks

(5 273)?

1. Ist ein Strafurteil nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen gemäß, d. h. nicht wirksam verkündet worden, so hat dieses Nochnicht-Urteil nur die Bedeutung eines bloßen Entwurfs. Das gleiche muß gelten in dem Fall, daß ein wirksames Verkündungsprotokoll fehlt: Der protokollierungsbedürftige Vorgang (§ 273, I) läßt sich dann aus dem für den Rechtsmittelzug allein maßgeblichen Protokoll nicht beweisen 14 . Die Verfahrensbeteiligten können (nicht: müssen) gegen ein solches Pseudo-Urteil Rechtsmittel führen 15 . Das Rechtsmittelgericht wird daraufhin auch, jedenfalls wenn dieses „Urteil" zugestellt worden ist, förmlich aufheben und zurückverweisen. Zumindest aber ist es ggf. seine Pflicht, durch Beschluß klarzustellen, daß ein wirksamer und rechtskraftfähiger Urteilsspruch (noch) nicht vorhanden sei. Offen kann hier bleiben, ob ein solcher Verkündungsmangel auf zulässiges Rechtsmittel hin stets von Amts wegen zu beachten ist. In allen einschlägigen Fällen war eine entsprechende Revisionsrüge erSo RGRspr. 7, 233 f. RGRspr. 1, 826 (Urteilstenor) und RGSt. 19, 347 (Urt.gründe). Vgl. auch RGZ 16, 331; 133, 220; 148, 151; RG J W 1915, 592; 1936, 1903 (m. Anm. Jonas); RG WarnRspr. 1911, 56 = Recht 1910, 3982; OGH N J W 1947/48, 422 und Rosenberg, J Z 1954, 71. 1 5 RGZ 82, 422; 133, 217, 220; RG J W 1936, 1903 und 3313 (m. Anm. Jonas); 1937, 1664 (m. Anm. Jonas); RG WarnRspr. 1911, 56 = Redit 1910, 3982; KG J W 1927, 2150. 13

14

Ober den Aktenverlust im Strafprozeß

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hoben. D o r t tauchte dann freilich auch sogleich der Gedanke auf, es handle sich dabei nur um eine „Protokollrüge": daß damit nämlich in der Regel nur ein (nicht revisibler) Mangel der Protokollführung, nicht jedoch ernsthaft gerügt werden soll, es sei das bei den Gerichtsakten befindliche Urteil (§ 2 7 5 ) überhaupt nicht verkündet worden 1 6 . Aber selbst wenn man das Rechtsmittelgericht für verpflichtet hält, von Amts wegen das Vorhandensein eines wirksamen Verkündungsprotokolls, d. h. die Beweisbarkeit einer wirksamen Urteilsverkündung nachzuprüfen, und ebenso wenn eine sachgerechte Revisionsrüge erhoben ist, selbst dann ist beim Fehlen eines solchen Verkündungsvermerks die Urteilsaufhebung noch nicht zwingend geboten: es stünde ja der Nachholung des Protokollierungsvermerks und/oder der etwa noch fehlenden Protokollunterschriften nichts entgegen, nicht einmal eine einschlägige Revisionsrüge 1 7 . Das Revisionsgericht wird darum allemal erst die Urkundspersonen befragen und ggf. eine Protokollergänzung nahelegen. 2. Wenn dieses Verkündungsprotokoll nachträglich abhanden gekommen ist, so ist es Amtspflicht der Urkundspersonen, die Rekonstruktion des Verkündungsvermerks zu betreiben. Sollte dies nicht gelingen, so läßt sich zwar die prozessuale Tatsache der Urteilsverkündung nicht mehr — für diesen Rechtszug — aus der Sitzungsniederschrift herleiten. Einschlägige Behauptungen sind daraus aber auch nicht zu widerlegen. Es tritt also auch insofern der allgemeine Freibeweis ein. Es genügt, wenn sich danach zur Uberzeugung des mit der Sache nunmehr befaßten Gerichts feststellen läßt, daß und mit welcher Formel das Urteil wirksam verkündet und daß darüber einmal ein formgültiges Protokoll errichtet worden ist 1 7 ".

III. Verlust der

Urteilsurkunde?

Insofern wird man zweckmäßigerweise unterscheiden zwischen dem Urteilsverlust vor und nach dem Eintritt der förmlichen Rechtskraft. 1. Wenn — vor Eintritt der Rechtskraft — nur die schriftliche Urteilsbegründung abhanden gekommen ist, dann muß zunächst ver16 RGSt. 13, 353; 58, 143 = J W 1924, 1771 (m. Anm. Frankel) • RGSt. 64, 215. Ungenau s. LR .-Gollwitzer (22.) § 273/6; Eb. Schmidt § 273/9. 1 7 RGSt. 13, 353; RG GoltdA 56, 95; RG L Z 1914, 1848; RMilG 15, 2 8 2 ; BGHSt. 10, 145; 12, 270; O L G Schleswig, SdilHAnz. 1968, 231. Zum Zivilprozeß s. B G H N J W 1958, 1237. 1 7 0 RG J W 1915, 592 = L Z 1915, 1020 = WarnRspr. 1915, 308.

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sucht werden, die im Original verlorene Urteilsbegründung wiederzugewinnen, etwa an H a n d noch vorhandener Abschriften oder Entwürfe. Dies kann sachgerecht auf dem in der VO 1942 (§§ 1—3) vorgezeichneten Wege geschehen. Zuständig hierfür ist dann der judex a quo (VO 1942, § 4, I), selbst wenn das Gericht inzwischen anders als beim Urteilserlaß besetzt sein sollte 18 . Gelingt eine solche förmliche Rekonstruktion nicht, so bleibt nichts anderes übrig, als daß die an der Urteilsfindung beteiligt gewesenen Berufsrichter auf Grund der übriggebliebenen Akten und ihrer sonstigen Erinnerung, nach Anhörung der Laienrichter, ein zweites Originalurteil herzustellen unternehmen 19 . Ist inzwischen einer der damaligen Richter ausgeschieden oder sonstwie verhindert, so genügt es, wenn die verbliebenen Richter unter Angabe des Verhinderungsgrundes die Urteilsgründe allein neu herstellen und unterschreiben 20 . Abweichungen der ,neuen' Gründe von der ,alten', unwiederbringlich verlorenen Urteilsbegründung lassen sich dabei naturgemäß nicht ausschließen. Dennoch trägt die Urteilsunterschrift, d. h. die darin steckende Übernahme der Verantwortung, ebendiese Neuformulierung in vollem Umfang 2 1 . Den Verfahrensbeteiligten wird man allerdings unter solchen Umständen — ähnlich wie im Fall einer zulässigen inhaltlichen Urteilsberichtigung oder Urteilsergänzung 22 — die Befugnis zugestehen müssen, eine schon vor dem Urteilsverlust, d. h. auf Grund der ,alten Fassung' abgegebene Revisionsbegründung entsprechend abzuändern oder zu ergänzen. 2. Was aber beim irreparablen Verlust der Urteilsgründe noch vor Urteilsrechtskraft, genauer: vor Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist? Es liegt hier nahe, im Revisionsrechtszug entsprechend § 338, 7 (Fehlen der Urteilsgründe als zwingender Aufhebungsgrund) und in der Berufungsinstanz entsprechend §§ 328, 11/338, 7 zu verfahren. 18

RG D R 1945, 24. RG H R R 1940, 279; RG JW 1917, 52 = GoltdA 63, 443 = DJZ 1917, 332 = SächsArch. 1917, 22 = LZ 1917, 210. — Im letzteren Fall war die kurz vor dem Russeneinfall in OstPr. abgesetzte Urteilsurkunde möglicherweise gar noch nicht von allen Berufsrichtern unterschrieben. Das lange danach angefertigte zweite Urteil war darum u. U. überhaupt erst die erste wirkliche Urteilsurkunde i. S. § 275! 20 RG JW 1917, 52. 21 RG HöchstR 2, S. 109 = JurR 1926, 535 = Recht 1926, 732 = DRiZ 1926, 227; RG H R R 1940, 279; Kleinknecht (31.) § 275/6. 22 RG H R R 1939, 1010; BGHSt. 12, 374; BGH MDR 1970, 757; OLG Hamm, N J W 1956, 923. Vgl. auch RG JW 1928, 821 (fehlerhafte Urteilsausfertigung) und OLG Neustadt, GA 1955, 186. 19

Uber den Aktenverlust im Strafprozeß

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Indessen, die Sache liegt dodi etwas komplizierter, je nachdem ob der Revisionsführer seine Rolle mitzuspielen bereit ist oder nicht. a) I m Fall R G S t 40, 184 hatte der Verteidiger gefordert, das Revisionsgericht solle das Verfahren bis nach erfolgter Zustellung einer vollständigen Urteilsausfertigung anhalten; subsidiär w a r aber immerhin das Fehlen von Entscheidungsgründen gerügt. D a s primäre Ansinnen des Verteidigers wies das Reichsgericht zurück: die damit letztlich bezweckte R u h e des Verfahrens sei keine verständige Ausfüllung der Gesetzeslücke. D a s angefochtene Urteil wurde vielmehr unter Berufung auf § 338, 7 aufgehoben, die Sache zur neuen Verhandlung zurückverwiesen. — Ähnlich ist m a n im Fall R G S t 54, 101 = G o l t d A 69, 115 verfahren. D a m a l s waren bei einem Volksa u f l a u f u. a. die schriftlichen Urteilsgründe verloren gegangen. M a n wußte nur noch, daß der Angeklagte wegen Betrugs und Urkundenfälschung zu 5 J a h r e n Zuchthaus verurteilt worden w a r und daß er in der gleichfalls abhanden gekommenen Revisionsbegründung zu Protokoll des Urkundsbeamten den Aufhebungsantrag auf einige, im einzelnen nicht mehr bekannte Verfahrensrügen gestützt hatte. Eine R ü g e i. S. des § 338, 7 war indessen nicht erhoben; die Akten waren j a erst nach der A b g a b e der Revisionsbegründung verloren gegangen! Dennoch hob das Reichsgericht im Hinblick auf eine „gewisse Rechtsähnlichkeit" zu § 338, 7 auch hier auf, d a jegliche Möglichkeit einer exakten revisionsrichterlichen P r ü f u n g fehlte. — Schließlich hat R G S t 65, 373 = J W 1932, 1561 (m. A n m . Löwenstein) für das Berufungsverfahren die analoge Anwendung des § 338, 7 auf den irreparablen Verlust der schriftlichen Urteilsgründe gleichfalls als die einzig vernünftige Lösung bezeichnet. b) Wesentliche Bedenken gegen diese entsprechende Anwendung des § 338, 7 lassen sich in den vorgeführten Fällen schwerlich erheben. Wie aber, wenn sich der Revisionsführer — aus welchen Gründen auch immer — weigert, eine sachgerechte Rechtsmittelbegründung abzugeben? A u f den ersten Blick scheint diese Renitenz die V e r w e r f u n g der Revision zu bewirken. Entsprechend möchte man meinen, d a ß gleichermaßen das Berufungsgericht beim Ausbleiben der (fakultativen) Berufungsbegründung ohne weiteres in der Sache verhandeln könnte und müßte. Indessen, man darf dabei nicht übersehen, daß ja die Begründungsfrist nach den §§ 317, 345 erst mit der Zustellung der vollständigen Urteilsurkunde beginnt! D e r Rechtsmittelführer kann (!) z w a r sein Rechtsmittel wirksam auch schon v o r dem Beginn der

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Begründungsfrist begründen; er kann, aber er muß nicht so verfahren 2 3 ! Weigert sich demgemäß der Rechtsmittelführer, seine Revision vor Zustellung auch der Urteilsgründe zu begründen, so darf sein Rechtsmittel jedenfalls nicht ohne weiteres einfach als unzulässig verworfen werden. Bliebe man indessen dabei stehen, so würde im Fall des irreparablen Verlusts der Urteilsgründe das Verfahren gleichsam ad graecas calendas stillstehen. Zugleich dürfte ein neuerliches Verfahren wegen derselben Tat auf Grund andauernder Rechtshängigkeit des ersten Verfahrens nicht stattfinden, es sei denn, das Rechtsmittelgericht entschlösse sich angesichts dieser sonst unlösbaren PattSituation in freier Rechtsfindung zur förmlichen Verfahrenseinstellung. Ein solcher Einstellungsentscheid des Rechtsmittelgerichts würde zwar die diesem Verfahren zugrunde liegende Anklage und Verfahrenseröffnung ein für allemal erledigen; er würde jedoch einem neuen Verfahren auf Grund anderweiter Anklage und Verfahrenseröffnung nicht im Wege stehen. Ja, es würde unter solchen Umständen für das neuerliche Verfahren möglicherweise nicht einmal das Verbot der Reformatio in peius' gelten; eine derartige Sperrwirkung billigt man doch nur Sach(!)entscheidungen zu 24 . Angesichts dessen wird es ein vernünftiger Verteidiger nicht auf die Verfahrenseinstellung durch das Rechtsmittelgericht ankommen lassen. Er wird vielmehr bei irreparablem Verlust der Urteilsgründe allein schon auf Zustellung des übriggebliebenen Urteilstenors die allgemeine Sachrüge (deren Prüfung ja allemal die Urteilsgründe voraussetzt) und/oder eine Prozeßbeschwerde i. S. des § 338, 7 erheben und dadurch die Urteilsaufhebung und Zurückverweisung an den Vorderrichter bewirken. c) Indessen, zur Vernunft, zum Mitspielen der Prozeßrolle kann man nun einmal die Verfahrensbeteiligten unmittelbar nicht zwingen. Dennoch ist in einem vergleichbaren Fall O L G Hamburg, LZ 1920, 311 = ZStrW 41, 449 zur Urteilsaufhebung und Zurückverweisung gelangt. — Eine Sachrüge war seinerzeit nicht erhoben. Immerhin hatte der Verteidiger sich darüber ausgelassen, daß er wegen des Fehlens der schriftlichen Urteilsbegründung seine Revision nicht begründen könne, und man hätte vielleicht diese Bemerkung als eine verklausulierte Revisionsrüge i. S. des heutigen § 338, 7 ausdeuten 23 RGRspr. 9, 161; RMilG 16, 200; BayObLGSt. 31, 152 (s. dazu KMR 6. A. § 345/5). 24 KG HRR 1931, 1499; OLG Köln, NJW 1967, 114; s. aber audi BayObLG NJW 1953, 756 und jetzt OLG Hamburg, NJW 1975, 1473.

Über den Aktenverlus: im Strafprozeß

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können. Jedoch, es ging seinerzeit um die Revision gegen ein Berufungsurteil, und insofern schloß § 380 a. F. Prozeßrügen schlechterdings aus! Das O L G Hamburg hielt nun a. a. O . diese gesetzliche Rügensperre für unanwendbar: Es handele sich hier um einen im Gesetz nicht geregelten und darum auch von § 380 a. F. nicht erfaßten Fall. Eine Verfahrensbeendigung ohne Sachentscheidung liefe gerade hier dem Verfahrenszweck zuwider, wo doch die Spartakisten die Strafakten erklärtermaßen vernichtet hatten, um die Strafrechtspflege auszuschalten. Die vorhandene Gesetzeslücke könne nur dadurch sachgemäß geschlossen werden, daß man auch ohne sachgerechte Revisionsbegründung aufhebe und zurückverweise. Für den Bereich des § 380 a. F. mag diese Lösung, trotz der K r i t i k Schöns25, richtig gewesen sein. Heute, nach dem Wegfall derartiger Rügensperren, wäre sie jedoch unnötig kompliziert. Das zeigt ein Blick auf den unmittelbaren Anwendungsfall des § 3 3 8 , 7: Wenn nämlich die schriftlichen Urteilsgründe von Anfang an gefehlt haben, etwa beim T o d des Einzelrichters gleich nach der Urteilsverkündung oder wenn sich die Richter über die schriftlichen Gründe nicht einigen können 2 6 , wenn also ein echter Fall des § 338, 7 vorliegt, dann bleibt doch gar nichts übrig, als bloß den übriggebliebenen U r teilstenor zuzustellen und dadurch, unter Hinweis auf das irreparable Fehlen der Urteilsgründe, die Rechtsmittelbegründungsfrist i. S. der §§ 317, 345 in Gang zu setzen: Unmögliches kann auch hier nicht verlangt werden! Wenn nun aber bei echten Fällen des § 338, 7 so verfahren wird und verfahren werden muß, so ist kein Grund einzusehen, warum man die Fälle des nachfolgenden Verlusts der Urteilsgründe anders behandeln sollte: Analogie nicht nur, was Aufhebungsmöglichkeit und Aufhebungszwang gemäß § 338, 7 angeht, sondern auch, was die Rügepflichtigkeit und den Beginn der Begründungsfrist anbetrifft! D . h., wenn die Verfahrensbeteiligten trotz Zustellung des Urteilstenors und trotz Hinweises auf das dauernde Fehlen der verloren gegangenen Urteilsgründe nicht fristgerecht entweder die Verfahrensrüge i. S. des § 338, 7 und/oder die allgemeine Sachrüge erheben, dann zieht diese Untätigkeit die Verwerfung der Revision als unzulässig nach sich 27 . ZStrW 41, 451; s. dazu Feisenberger ebda. S. 452. Zum Tod des Gerichtsvorsitzenden s. BGHSt. 8, 4 1 ; BayObLGSt. 31, 152 = Recht/DRiZ 1931, 785; OLG Schleswig, SdilHAnz. 1969, 154. Zum Streit um die Gründe s. BGH MDR 1954, 337. 2 7 BayObLGSt. 32, 122 und BayObLG N J W 1967, 1578. Vgl. audi Eb. Schmidt, § 345/3 zum Fristenlauf. 25

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3. Daß — noch vor Eintritt der Rechtskraft — aus den Gerichtsakten allein der Urteilstenor irreparabel verloren geht, wird kaum vorkommen. Wenn allerdings doch mit den sonstigen Akten auch der Urteilstenor unwiederbringlich abhanden gekommen ist, wenn der Tenor also nicht aus der Verlesungsnotiz oder dem Verkündungsprotokollvermerk oder aus den Urteilsgründen rekonstruiert werden kann, dann tauchen schwierige Fragen auf. In dem von Feisenberger, ZStrW 41, 453 angeführten Fall R G 3 D 1130/19 hat das Reichsgericht bei völligem Aktenverlust die Anberaumung eines Termins zur RevisionsVerhandlung abgelehnt, „da die Zustellung des mit der Revision angefochtenen Urteils noch nicht erfolgt (war) und es daher an der für die Entscheidung des Reichsgerichts erforderlichen Vorbereitung des Rechtsmittels mangelt(e)". Diese Auffassung könnte man dann billigen, wenn dadurch erst die Strafverfolgungsbehörden angehalten werden sollten, sich ernstlich um die Wiederherstellung der Akten zu bemühen oder aber den endgültigen Urteilsverlust offen zuzugeben. Bei irreparablem Verlust (auch) des Urteilstenors liefe jedoch die Lösung des 3. Senats auf einen dauernden Stillstand des Verfahrens hinaus, auf eine Lösung also, die das Reichsgericht — wie dargestellt — für den Verlust der Urteilsbegründung mehrfach abgelehnt hat und die auch hier nicht hingenommen werden kann. Allerdings wird auch die zum Verlust der Urteilsgründe praktizierte analoge Anwendung des § 338, 7 beim Verlust des Urteilstenors nicht die rechte Lösung sein. Zum einen würde die Aufhebung und Zurückverweisung bei einem so weitgehenden Aktenverlust den Tatrichter in eine sehr unglückliche Lage bringen. Zum anderen aber würde eine Verwerfung des Rechtsmittels mangels ausreichender Begründung vollends in eine Sackgasse führen: ein Urteil, dessen Tenor irreparabel verloren ist, kann nicht vollstreckt, vielleicht nicht einmal rechtskräftig i. S. des Satzes ne bis in idem werden 28 ! Einigermaßen systemfremd erscheint der von Sperl, D J Z 1905, 544 für das österreichische Recht angedeutete Vorschlag, daß in einem derartigen Fall der Instanzrichter sein abhanden gekommenes Urteil als nicht gefällt ansehen und von neuem in derselben Sache verhandeln und entscheiden dürfe und müsse29. Einzig sachgerecht erscheint 28 Löwenstein, D J Z 1907, 285 erwähnt einen schwierigen Arglistfall: was soll geschehen, wenn der Verteidiger, gerade weil vor Rechtskraft mit den Akten auch der Urteilstenor irreparabel verloren ist, auf Rechtsmittel verzichtet oder das eingelegte Rechtsmittel zurücknimmt? 2 9 Vgl. allerdings die unten zum Urteilsverlust nach (!) Rkr. erörterte österr. Regelung (VO 1915, § 14). Vgl. auch Gerland, StrPr. (1927) S. 395 und Beling, StrPr. (1928) S. 420.

Über den Aktenverlust im Strafprozeß

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es vielmehr, daß im Fall rechtzeitiger Rechtsmitteleinlegung der Rechtsmittelrichter, andernfalls der Tatrichter bei irreparablem Verlust (auch) des Urteilstenors das Verfahren einstellt, so daß (im Rahmen der Opportunitätsregeln der §§ 153 ff.) auf Grund neuer Anklageerhebung ein neues Verfahren eingeleitet werden kann. 4. Urteilsverlust

nach (!) Eintritt der

Rechtskraft?

a) Gehen nach Eintritt der Rechtskraft lediglich die schriftlichen Urteilsgründe unwiederbringlich verloren, so hindert dies die Vollstreckbarkeit eines verurteilenden Erkenntnisses nicht; denn dafür kommt es auf die Urteilsgründe nicht an. § 13, II StrVollstrO begnügt sich, im Anschluß an § 4 5 1 StPO, mit dem Vorliegen des Urteilsspruchs: „Grundlage der Vollstreckung ist die Urschrift oder eine beglaubigte Abschrift der Entscheidung oder (!) ihres erkennenden Teils; auf ihr muß die Rechtskraft bescheinigt werden." — Das irreparable Abhandenkommen der Urteilsgründe wird freilich nicht selten in künftigen Verfahren Schwierigkeiten bereiten, etwa bei der exakten Feststellung des damaligen Verfahrensgegenstandes und damit bei der Begrenzung des seinerzeit bewirkten Strafklageverbrauchs. Vor allem aber eröffnet der dauernde Verlust der schriftlichen Urteilsgründe nahezu jedem Wiederaufnahmeantrag Tür und Tor: den Vortrag angeblich neuer Tatsachen i. S. des § 359, 5 wird man kaum jemals zurückweisen können, sofern er nur mit der dazu notwendigen Skrupellosigkeit geschieht. b) Der Verlust (auch) des Urteilstenors nach Eintritt der Rechtskraft gefährdet demgegenüber die Vollstreckbarkeit der Verurteilung; diese kann ja, zumindest vorläufig, nicht bescheinigt werden. Man ist sich indessen darüber einig, daß im Notfall auch eine Rekonstruktion des abhanden gekommenen Urteilstenors Grundlage der Rechtskraftbescheinigung und damit der Strafvollstreckung sein kann 30 . Der judex a quo hat in einem solchen Fall die Wiederherstellung des verlorenen Urteilstenors nach Maßgabe der VO 1942 zu betreiben. Gegen seine Entscheidung ist nach Art. 6 dieser VO 1942 die sofortige Beschwerde an das übergeordnete Gericht gegeben. Im Zweifelsfall wird bei der Rekonstruktion zugunsten des Verurteilten das Strafmaß auf das zuverlässig feststellbare Mindestausmaß festzusetzen sein31. Freilich steht es selbst dann noch dem Urkundsbeamten frei, durch Verweige3 0 O L G Hamm, GoltdA 62, 210 = AlsbergE 2, 9 6 ; O L G Hamburg, L Z 1921, 37 = Redit 1921, 755 = AlsbergE 3, 209. Vgl. auch Pohlmann, StrVollstrO (5.) 5. 156, 158. 81 Gadow, D J Z 1907, 588.

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rung der Vollstreckbarkeitsbescheinigung auf dieser Rekonstruktion die Anrufung des Richters zu provozieren und sich dadurch haftungsrechtlich abzusichern: Uberzeugt sich das Gericht davon, daß dieser rekonstruierte Urteilsspruch rechtskräftig geworden ist, so weist es den Urkundsbeamten dementsprechend an 32 . c) Was aber ist zu tun, wenn nach Rechtskraft mit den Akten auch der Urteilstenor irreparabel verloren ist? Daß dies vorkommt, wird sich zumindest in unruhigen Zeiten nicht ausschließen lassen. Freilich werden sich gerade dann solche Fälle oft durch Amnestievorschriften, manchmal auch durch Vollstreckungsverjährung erledigen. Das ist wohl auch der Grund dafür, daß keine wirklich einschlägigen höchstrichterlichen Entscheidungen aufzuspüren sind. Einzig O L G Hamm, GoltdA 62, 210 hat den Fragenbereich angerührt, aber nicht entschieden. Auch das Schrifttum schweigt hierzu. Das gilt letztlich auch für die Bemerkungen bei Karl Peters*3, daß einem 1944 in Ostpreußen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten, nach 1945 geflohenen und 1950 in Westdeutschland wieder aufgegriffenen Straftäter dort nicht von neuem der Prozeß gemacht werden dürfe; vielmehr sei die Strafe auf Grund von Ersatzakten weiter zu vollstrecken. — Die Frage ist doch gerade, was bei irreparablem Aktenverlust zu geschehen hat! Der österreichische Gesetzgeber hat indessen in den genannten Verordnungen von 1915 und 1927, von den praktischen Erfordernissen bedrängt, diesen schwierigen Fall sinnvoll derart geregelt, daß das verlorene Urteil als nicht gefällt anzusehen und das Verfahren, soweit nötig, zu wiederholen sei 34 . Das verschollene Urteil wurde also, trotz seiner Rechtskraft, als nicht erlassen, als nicht (mehr) in der Rechtswelt vorhanden angesehen. Diese Fiktion führte zur Fortführung des Vgl. O L G Hamm, GoltdA 62, 210 und LR-Schäfer (22.) § 4 5 1 / I X , 1. K. Peters, StrProz. (1. A„ 1952) S. 3 9 5 ; 2. A. (1966) S. 435. 3 4 österr. V O 1915, § 12, I I : „Der Gerichtshof erster Instanz kann Erhebungen vornehmen oder vornehmen lassen. Kommt der Gerichtshof zur Überzeugung, daß sich nicht feststellen läßt, ob der Angeklagte freigesprochen oder zu welcher Strafe er verurteilt wurde, so hat der Gerichtshof auszusprechen, daß das verkündete Urteil als nicht gefällt anzusehen ist." Ebenso s. § 10 für rkr. Einzelrichterurteile. — ö s t e r r . V O 1927, § 39, I: „Können die Grundlagen für die zu treffende Entscheidung oder Verfügung weder auf die im § 38 angegebene Art noch aus den Registereintragungen oder anderen behördlichen Aufzeichnungen gewonnen werden, so ist das Verfahren, soweit es nötig ist, zu wiederholen." Dazu s. noch § 40, S. 1: „Der Umstand, daß schon eine Anklageschrift eingebracht oder eine Entscheidung gefällt ist, steht der Wiederholung des Verfahrens nicht entgegen." Vgl. ferner § 41, I, 1: „Uber die Frage, ob und inwieweit das Verfahren zu wiederholen ist, entscheidet das Gericht, das die neue Entscheidung oder Verfügung zu treffen hat, mit Beschluß." 32 33

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alten Verfahrens auf der Basis der alten Anklage, freilich erst, nachdem gerichtlich der unwiderrufliche Urteilsverlust festgestellt worden war 35 . Man sollte in freier richterlicher Rechtsfindung die im deutschen Recht vorhandene Gesetzeslücke durch die inhaltliche Übernahme dieser Grundsätze schließen. Dabei ließe sich möglicherweise lange darüber streiten, ob dieser /österreichischen Lösung' des Wiederaufgreifens des ,alten' Verfahrens nicht u . U . im Rahmen der Opportunitätsvorschriften der §§ 153 ff. der völlige Neubeginn auf Grund neuerlicher Anklageerhebung vorzuziehen wäre. Wichtiger ist etwas anderes: ob sich nämlich die eine wie die andere Lösung, ja selbst eine entsprechende gesetzliche Regelung, mit der Vorschrift des Art. 103, I I I GG verträgt, ob also die erneuerte Verhandlung und Aburteilung derselben Tat nicht gegen den Satz ,ne bis in idem' verstößt. Zwar erscheint es auf den ersten Blick als sinnlos, einem inhaltlich unbekannten und darum im Fall der Verurteilung auch nicht vollstreckbaren Urteilsspruch die Wirkung des Strafklageverbrauchs zuzugestehen. Die damit zusammenhängenden schwierigen Fragen können indessen an dieser Stelle nicht ausdiskutiert werden. Bei einer späteren Erörterung wird man zumindest jedoch die einschränkende, auf den Problemstand des Jahres 1949 eingefrorene' Handhabung des Art. 103, III GG in der höchstrichterlichen Praxis 36 und ferner die Lösung zu bedenken haben, welche vergleichbare Fälle im Zivilprozeß gefunden haben. Dort hat man seit langem bei irreparablem Verlust des Vollstreckungstitels, ja selbst bei graduell darunter liegenden Fällen eine neue Klage in derselben Sache gestattet: Ein bereits erlangter Titel schließt eine erneute Klage nicht aus, wenn z. B. Streit über seinen Inhalt besteht, wenn erhebliche Vollstreckungsschwierigkeiten zu erwarten sind oder wenn die vollstreckbare Urkunde verloren gegangen oder sonst nicht mehr, insbesondere wegen Aktenverlusts, zu beschaffen ist 37 . Der Grundsatz der staatlichen Rechtsgewährung muß dann zurücktreten, wenn und weil sich der vordem gewährte Rechtsschutz als nicht mehr effektiv erweist 38 . österr. V O 1915, §§ 10, 12, II, 14, I. V O 1927, § 41, I. Zum Strafbefehlsverfahren s. m. Nachw. L R .-Schäfer (22.) § 4 1 0 / 2 — 4 ; s. ferner BayVerfGH N J W 1963, 1003. 3 7 R G Z 88, 2 6 9 ; O G H Z 1, 2 1 3 ; B G H Z 4, 314, 3 2 1 ; 36, 11, 14; B G H NJW 1957, 1111; B G H M D R 1973, 132; BSozG M D R 1961, 542. Baumbach-Lauterbach (32.) Grdz. § 2 5 3 / 5 ; Zöller-Stephan (10.) Vorb. § 253/11, 2 a; Blomeyer, ZPrR (1963) S. 170; Rosenberg-Schwab, Z P r R (11.) S. 4 6 7 ; Schönke-Kuchinke, Z P r R (9.) S. 149; Zeiß, Z P r R (1971) S. 125. 38 Stein-] onas-Schumann/Leipold, Z P O (19.) § 3 2 2 / I X , 1 c. Für den Strafprozeß s. ähnlich, aber zu ungenau Beling, StrPr. (1928) S. 210, 2 7 0 ; Stuhlmann, DStrRZ 1919, 2 3 3 ; Lafrenz, Recht 1919, 386. 35 39

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Es kann sein, daß das verloren geglaubte erste Urteil im Verlauf des zweiten Verfahrens doch noch auftaucht, etwa weil nunmehr der Angeklagte damit herausrückt. In diesem Fall muß das neuerliche Verfahren wegen des Hindernisses der (beweisbaren) rechtskräftigen Erledigung der Sache eingestellt werden. Kommt dagegen das verschollen geglaubte Urteil erst nach (!) Rechtskraft des zweiten Erkenntnisses zum Vorschein, so wird die Kollision der beiden Urteile zugunsten der Gültigkeit allein des jüngeren Urteils zu lösen sein 39 .

D. Verlust der Sitzungsniederschrift? 1. Das Urteil darf erst zugestellt werden, wenn das Sitzungsprotokoll fertiggestellt ist (§ 273, IV). Eine trotzdem geschehene, verfrühte Urteilszustellung mag zwar rechtswirksam sein; es wäre aber gewiß ein krasser Verstoß, wollte das Gericht sich auf solche Weise bewußt über § 273, I V hinwegsetzen. Das Fehlen der Sitzungsniederschrift hindert also vorläufig die Urteilszustellung. Der dadurch bewirkte einstweilige Verfahrensstillstand wird die Urkundspersonen antreiben, das fehlende Sitzungsprotokoll nachzuliefern, wenn es von Anfang an fehlte, oder es zu rekonstruieren, wenn es später abhanden gekommen ist. a) Einer solchen Nachlieferung, insbesondere der Nachholung noch fehlender Unterschriften, steht nichts im Wege, auch nicht eine etwa schon erhobene oder immerhin angekündigte einschlägige Revisionsrüge. Zwar wird eine inhaltliche (!) Protokolländerung dann unbeachtlich sein, wenn sie einer bereits erhobenen oder angekündigten Verfahrensrüge gleichsam hinterrücks den Boden entziehen würde 40 . Diese Änderungssperre soll aber nicht für die verspätete Fertigstellung der Sitzungsniederschrift gelten, sofern und solange die Urkundspersonen bereit sind, durch ihre Unterschrift die Verantwortung für die Beurkundung zu übernehmen 41 . 3 9 Ebenso s. ö s t e r r . V O 1927, § 4 0 , S. 2, 3 : „Durch die spätere Auffindung der für verniditet gehaltenen Akten wird die Durchführung des wiederholten Verfahrens nur dann gehindert, wenn sich aus diesen Akten ergibt, daß eine in dem wiederholten Verfahren zu treffende Entscheidung oder Verfügung schon in dem früheren Verfahren getroffen worden ist. Werden die Akten erst wieder aufgefunden, wenn die neue Entscheidung rechtskräftig ist, so bleibt die frühere Entscheidung wirkungslos." 4 0 M. Nachw. s. L R .-Gollwitzer (22.) § 271/9 und K M R (6.) § 271/5 b. 4 1 RGSt. 13, 353 f.; RGRspr. 5, 191; R G J W 1932, 2 7 3 0 ; 1936, 5 1 ; R G Recht 1902, 1959; R G BayZ 1929, 2 5 0 ; BGHSt. 12, 270. L R .-Gollwitzer (22.) § 2 7 1 / 8 ; K M R (6.) § 271/5 b, a. E.

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b) Gelegentlich m a g es vorkommen, daß das noch nicht im Sinne des § 273, I V fertiggestellte Sitzungsprotokoll nicht mehr zustande gebracht werden kann, etwa weil der Protokollführer verstorben ist oder seither alle Unterlagen f ü r die Anfertigung der Sitzungsniederschrift unwiederbringlich verloren sind. Deshalb das Verfahren a d infinitum ruhen zu lassen, dies wird niemand ernstlich f ü r die richtige Lösung halten 4 2 . Es bleibt demnach nur die Möglichkeit, auch ohne fertiges Sitzungsprotokoll — abweichend von der unerfüllbar gewordenen Vorschrift des § 273, I V — durch Urteilszustellung die Rechtsmittelfristen in G a n g zu setzen. Freilich muß dabei ausdrücklich auf das irreparable Fehlen des Protokolls hingewiesen werden. c) Falls die Sitzungsniederschrift im Sinn des § 273, I V schon fertiggestellt war, dann aber — vor oder nach der Urteilszustellung — verloren gegangen ist, dann muß es das Bestreben der Urkundspersonen sein, die Niederschrift möglichst wortgetreu wiederherzustellen: etwa, indem man eine noch vorhandene A b - oder Durchschrift z u m zweiten Original erhebt oder an H a n d verbliebener N o t i z e n und E n t w ü r f e das alte Protokoll rekonstruiert. Im letzteren Fall besteht allerdings — ebenso wie bei den ,zweiten' Urteilsgründen — die G e f a h r inhaltlicher Abweichungen. R G S t . 60, 270 hat indessen sich zu Recht d a f ü r ausgesprochen, daß einzig der von den Urkundspersonen rekonstruierte oder neu erstellte T e x t maßgebend sein muß. Freilich wird m a n ggf. dem Revisionsführer Gelegenheit zu geben haben, seine etwa schon v o r dem Verschwinden des Protokolls abgegebene Revisionsbegründung dementsprechend abzuändern oder zu ergänzen. 2. D a s Fehlen der Sitzungsniederschrift beeinträchtigt naturgemäß auch die A b f a s s u n g einer sachgerechten Revisionsbegründung. a) Allerdings haben die Revisionsgerichte mehrfach d a r a u f hingewiesen, d a ß die Sitzungsniederschrift f ü r die Ausarbeitung der Revisionsbegründung nicht schlechthin notwendig sei, d a Prozeßverstöße während der H a u p t v e r h a n d l u n g „ d e r Regel n a d i auf tatsächlichen, von den Prozeßbeteiligten miterlebten V o r g ä n g e n der H a u p t v e r h a n d l u n g , nicht aber auf der Fassung des Sitz u n g s p r o t o k o l l s oder sonstiger Aktenstücke beruhen, daher den Prozeßbeteiligten b e k a n n t sein müssen und v o n ihnen auch ohne vorherige Einsicht der Gerichtsakten z u m G e g e n s t a n d e v o n Beschwerden gemadit werden können"43. Zu § 380 a. F. s. einen komplizierten Fall bei O L G Darmstadt, GoltdA 38, 78. So RGSt. 24, 251. Ganz ähnlich s. R G JW 1922, 1044; B G H JurR 1951, 507; s. auch RMilG 9, 134. 42

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Indessen, wenn man wirklich Miterleben von Verfahrensvorgängen und Erkennen ihrer Fehlerhaftigkeit so ohne weiteres gleichsetzen könnte und dürfte: warum bemerken dann die an der Verhandlung beteiligten Richter und der Staatsanwalt nicht auch und sogar in erster Linie und zwar sofort die unterlaufenen Prozedurfehler? b) Die Urteile R G J u r R 1926, 535 und R G H R R 1940, 343 haben darüber hinaus Hinweise der Revision auf das Fehlen der Sitzungsniederschrift mit dem Bemerken abgetan, daß das Sitzungsprotokoll nicht dazu bestimmt sei, den Verfahrensbeteiligten das Heraussuchen von Prozeßfehlern zu ermöglichen. Das mag zwar sein. Wenn und weil und soweit jedoch das Gesetz im positiven wie im negativen Sinn die Verfahrensrügen der Beteiligten und die Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts an das Sitzungsprotokoll bindet (§§ 273, 274), so muß es auch hingenommen werden, daß gelegentlich die Verfahrensbeteiligten ihr Rechtsmittel auf angebliche Verfahrensfehler stützen, die sich zwar aus dem Protokoll ergeben, die in Wahrheit aber erwiesenermaßen oder immerhin vielleicht gar nicht vorgekommen sind 44 . 3. Nun beruht das tatrichterliche Urteil inhaltlich, d. h. im Sinn der §§ 337, 338 nicht auf der Sitzungsniederschrift. Man betrachtet deshalb ja auch gemeinhin die Revisionsrüge, es habe von Anfang an ein wirksames Sitzungsprotokoll gefehlt oder dieses sei später verloren gegangen, als eine bloße Protokollrüge, die unbeachtlich, zumindest aber unbegründet sein soll 45 . Dessen ungeachtet bringt das Fehlen eines Sitzungsprotokolls auch für die revisionsgerichtliche Entscheidung allemal arge Schwierigkeiten. a) Wenn und weil ein Sitzungsprotokoll fehlt, ist die Behauptung eines Verfahrensfehlers im Sinn der §§ 337, 338 aus der Sitzungsniederschrift nicht zu widerlegen. Die Revisionsgerichte stellen nun zwar unter solchen und ähnlichen Umständen strenge Anforderungen an die in § 344, I I , 2 geforderte Behauptung eines Verfahrensfehlers (nicht bloß eines Protokollierungsfehlers!) und ebenso an die exakte Angabe derjenigen Tatsachen, die den Prozedurfehler ausmachen sollen 46 . Den Skrupellosen werden indessen solche Palliativmittel kaum abschrecken. E r braucht ja nur — angesichts der fehlenden SitzungsVgl. dazu m. Nachw. Sarstedt, Revision (4.) S. 127 f. RGSt. 42, 170; 58, 143; RG BayZ 1908, 145; RMilG 9, 227; BGH N J W 1954, 1496. 46 RG BayZ 1908, 145; OLG Celle, MDR 1956, 182; OLG Schleswig, SchlHAnz. 1969, 153. Näher s. Scbmid, Verwirkung (1967), S. 47. 44

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niederschrift letztlich ohne jedes Risiko — gleichsam ins Blaue hinein Verfahrensmängel zu behaupten und zu rügen! Sofern auf dem solcherart gerügten, aus der Sitzungsniederschrift naturgemäß weder beweisbaren noch widerlegbaren Verfahrensfehler das Urteil im Sinn des § 337 beruhen kann oder aber z. B. absolute Aufhebungsgründe nach § 338 N r n . 5, 6 behauptet sind, neigen die Revisionsgerichte anscheinend dazu, das angefochtene Urteil stets ohne weiteres aufzuheben 47 . Das Urteil B G H 2 StR 27/56 vom 1. 6. 1956, S. 3 hat dies z. B. (trotz der geschehenen Zurückweisung des Rechtsmittels) im Grundsatz gleichermaßen zugestanden: „Das Vorbringen, die Sitzungsniederschrift sei mangelhaft und daher nicht beweiskräftig, ist eine reine Protokollrüge, die die Revision nicht zu begründen vermag. Sie wäre nur von Bedeutung, falls die Revision einen Verfahrensverstoß behauptete, der infolge der fehlenden Beweiskraft einer mangelhaften Sitzungsniederschrift nicht bewiesen 4 8 werden könnte (RGSt. 68, 272). Dies ist jedoch nicht der Fall; die Revision stützt vielmehr ihre Verfahrensrügen auf die Sitzungsniederschrift."

b) Die höchstrichterliche Rechtsprechung kapituliert in solchen Fällen jedoch zu früh. Gewiß kann bei irreparablem Verlust der Sitzungsniederschrift die Behauptung eines Verfahrensfehlers nicht aus ebendieser Niederschrift widerlegt werden. Man hat aber doch sonst stets zu Recht an dem Merksatz festgehalten, daß der gerügte Verfahrensverstoß gewiß (!) sein, d . h . bewiesen werden müsse. D . h . , daß ein insofern verbleibender Zweifel zuun(!)gunsten des Revisionsführers ausschlagen muß 4 9 . An diese Faustregel sollte man sich auch hier erinnern: Mit dem Fehlen des Sitzungsprotokolls entfällt im Sinn des § 274 die Protokollbeweiskraft, und es tritt an die Stelle des Beweises aus der Sitzungsniederschrift der allgemeine revisionsgerichtliche Freibeweis 50 , genauso wie z. B. bei einem offenbar lückenhaften oder aus anderem Grunde nicht voll beweiskräftigen Sitzungsprotokoll! Erst wenn nach (!) Ausschöpfung aller einschlägigen Beweismöglichkeiten ein non-liquet übrigbleibt, erst dann wird man vielleicht in dubio pro revidente (nicht bloß: in dubio pro reo) entscheiden, d. h. zur Urteilsaufhebung gelangen können 51 . 47 RGSt. 13, 77 = RGRspr 7, 661; RGSt. 58, 143 = J W 1924, 1771 (m. A n m . Frankel); R G S t . 68, 272 = JW 1934, 2777 (m. A n m . Krille). Ebenso w o h l Belmg, StrPr. (1928) S. 420. 48 Es muß heißen: „. . . nicht widerlegt". 49 Vgl. Schmid, G A 1962, 353; LR .-Sarstedt (22.) § 136 a/8. B G H N J W 1953, 836; B G H M D R 1970, 899; O L G H a m m , N J W 1969, 572; O L G Karlsruhe, V R S 33, 127. 50 RGSt. 63, 408; B G H S t . 10, 342; 17, 220; B G H M D R 1969, 195; B G H G A 1960, 315. 51 Unschlüssig s. Stree, In dubio pro reo (1962) S. 82.

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E. Verlust von Rechtsmittelschriften? Rechtsmittelerklärungen sind schriftformgebundene Parteiprozeßhandlungen. Sie sind schriftlich einzureichen oder zu Protokoll des Urkundsbeamten abzugeben. Der Verlust solcher Einlegungs- oder Begründungsschriften bringt naturgemäß komplizierte Rechtsfragen mit sich. 1. Verlust der

Einlegungsschriftf

a) Kommt die Rechtsmittelschrift oder das ihr entsprechende Protokoll, etwa durch postalisches Versehen, noch vor (!) dem allein fristwahrenden Eingang beim judex a quo abhanden, so ist die Rechtsmittelfrist nicht gewahrt; das Rechtsmittel ist unzulässig. Es ist dann Sache des Rechtsmittelführers, die Wiedereinsetzung gegen den ungenützten Fristablauf zu betreiben (§§ 44, 45). E r muß dazu glaubhaft machen, daß der Verlust der Rechtsmittelschrift mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in demjenigen Bereich eingetreten ist, für den er verantwortlich ist 52 , und daß ihn auch sonst kein prozessuales Verschulden trifft. b) Es kann sein, daß die Rechtsmittel-Einlegungsschrift erst nach (!) dem fristwahrenden Eingang bei Gericht abhanden gekommen ist. Man könnte dann — da die mehrfach genannte V O 1942 auf reine Parteiprozeßhandlungen nicht anwendbar ist — daran denken, dem Verlust durch Neueinlegung des Rechtsmittels zu begegnen. D a in solchen Fällen die Einlegungsfrist in der Regel abgelaufen ist, könnte man überlegen, daß der judex a quo auf Antrag analog §§ 44, 45 Wiedereinsetzung zu gewähren habe: Zwar ist hier die Rechtsmittelfrist nicht ungenützt verstrichen. Im Hinblick darauf aber, daß ein urkundlicher Beleg der Rechtsmitteleinlegung fehlt und daher — äußerlich betrachtet, der Aktenlage nach — die Einlegungsfrist als versäumt erscheint, so steht einer entsprechenden Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften nichts Grundsätzliches im Wege 5 3 . Die Praxis verfährt indessen nicht gar so förmelnd: die Rechtsmitteleinlegung bedarf ja keiner Begründung, und es kommt darum letztlich nur auf die (beweisbare) Prozeßtatsache der wirksamen schriftformgebundenen Einlegung, nicht aber auf den Fortbestand 62 B G H Z 23, 2 9 1 ; B G H VersidiR 1973, 8 1 ; s. auch O L G Bremen, Rpfleger 1962, 386. Zu § 72 OWiG s. jetzt O L G Karlsruhe, Justiz 1974, 232 und O L G Schleswig, SchlHA 1975, 195. 5 3 Vgl. BayObLGSt. 33, 107 = H R R 1934, 76 = BayZ 1934, 29 = Recht/ D R i Z 1933, 698 im Gegensatz zu BayObLGSt. 33, 79 = H R R 1933, 1472. Vgl. auch ObG Danzig, J W 1926, 830 und Beling, StrPr. (1928) S. 210 A. 3.

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oder auf die Rekonstruktion des seinerzeitigen Schriftsatzes in corpore an. Man begnügt sich vielmehr in derartigen Fällen regelmäßig mit dem bloßen Nachweis der Rechtsmitteleinlegung im Wege des tat- oder rechtsmittelrichterlichen Freibeweises, etwa an Hand einer noch vorhandenen amtlichen Eingangsbestätigung 54 . Sofern auf solche Weise das Gericht zur Überzeugung gelangt, daß in dieser Sache wirklich und wirksam, d. h. insbesondere form- und fristgerecht Rechtsmittel eingelegt worden ist, dann kann das Verfahren seinen Fortgang nehmen 53 . Offenbleiben muß dabei hier die Frage, ob und inwieweit etwaige, nach (!) Ausschöpfen der Freibeweismittel verbleibende Zweifel in dubio pro reo aufzulösen sind: wenn sich also das Rechtsmittelgericht nicht davon zu überzeugen vermag (dies allerdings auch nicht ausschließen kann), daß mit den verlorenen Akten wirklich auch eine form- und fristgerechte Rechtsmittelschrift verloren gegangen ist, oder wenn der Umfang der Rechtsmitteleinlegung zweifelhaft bleibt 56 . 2. Verlust der Begründungsschrift? Im Fall der Berufung interessiert die verloren gegangene Berufungsbegründung letztlich nicht: Sie ist in § 317 ja nur zugelassen, nicht aber zwingend vorgeschrieben. Sie ist damit im Grunde nicht fristgebunden, und überdies steht in der Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht neuem tatsächlichen oder rechtlichen Vorbringen nichts im Wege. Anders steht dies jedoch mit dem Fehlen der Revisionsbegründungsschrift: Ist sie nicht oder nicht rechtzeitig eingegangen oder nicht formgerecht (§ 345), so ist das Rechtsmittel insgesamt als unzulässig zu verwerfen (§§ 346, 349). Die Frage ist nur, wie sich unter solchen Umständen der nachträgliche (!) Verlust einer formund fristgerecht eingereichten Revisionsbegründungsschrift auswirkt. a) Sollte der Verlust der Revisionsbegründungsschrift im gerichtlichen Geschäftsgang noch innerhalb der Begründungsfrist des § 345 bekannt werden, so stünde einer erneuten Einreichung der gleichen oder auch einer inhaltlich abweichenden Revisionsbegründung nichts im Wege. Entsprechend könnte man daran denken, auf Parteiantrag durch Wiedereinsetzung analog § 44 eine neue Begründungsmöglichkeit zu gewähren. J a , man könnte darüber hinaus von Gerichts wegen =4 RGSt. 75, 402. 55 RGSt. 65, 250, 256 = JW 1931, 2370 (m. Anm. Beling) = Recht/DRiZ 1931, 537; RG JW 1928, 1311 (m. Anm. Philipp) = Recht 1928, 1222 = BayZ 1928, 274; Beling, StrPr. (1928) S. 210, 322. 58 Vgl. BGH NJW 1958, 1307; s. audi RG JW 1928, 1311 und OLG Düsseldorf, NJW 1964, 1684; BSozG MDR 1973, 170.

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versuchen, durch erneute Urteilszustellung von neuem die Rechtsmittelbegründungsfrist in Gang zu setzen und damit für den Rechtsmittelführer eine entsprechende Last zur Abgabe einer zweiten Revisionsbegründung zu schaffen. R G J W 1928, 1311 (m. Anm. Philipp) = H R R 1928, 649 = BayZ 1928, 274 hat die in einer solchen Verfahrensweise steckende grundsätzliche Gefahr allerdings deutlich genug hervorgehoben: daß nämlich der nunmehr nachgereichte Schriftsatz inhaltlich von der wirksam eingebrachten, obschon alsdann verlorenen ersten Revisionsbegründung abweicht. Dieser neue Schriftsatz kann ,besser' abgefaßt, etwa mit Hilfe eines Revisionsspezialisten zustande gekommen sein; es kann aber auch umgekehrt liegen: vielleicht hatte die erste Revisionsbegründung die einzig erfolgversprechende Rüge erhoben, die nunmehr aus irgendeinem Grund fehlt?! R G J W 1928,1311 bemerkt dazu: „Dieser erneuten Zustellung und R e v i s i o n s b e g r ü n d u n g 5 7 k a n n eine rechtliche Bedeutung in dem Sinne, d a ß durch sie eine neue Revisionsbegründungsfrist in L a u f gesetzt und g e w a h r t w o r d e n wäre, nicht zuk o m m e n . D e n n die erste Urteilszustellung und die erste Revisionsbegründung sind rechtswirksam erfolgt. N e b e n ihnen ist kein R a u m mehr f ü r weitere verfahrensrechtliche V o r g ä n g e derselben A r t . D i e neue (!) R e v i sionsbegründung könnte höchstens tatsächliche B e d e u t u n g insofern gewinnen, als sie geeignet wäre, den Inhalt der ursprünglichen (!) Revisionsbegründung nachzuweisen. N a c h den v o m erkennenden Senat veranlaßten Ermittlungen ist das aber nicht der F a l l . . . "

b) Dies klingt alles zwar recht gesetzestreu. Die Zurückweisung dieser zweiten Revisionsbegründung verhütet überdies Schwierigkeiten, die dann auftreten, wenn die erste, verloren geglaubte Begründungsschrift wider Erwarten doch noch auftauchen sollte. Die Ansicht des Reichsgerichts a. a. O. zwingt indessen das Revisionsgericht praktisch stets zu der Unterstellung, daß in der verschollenen ersten Revisionsbegründung andere, besser ausgeführte, mehr Erfolg versprechende Revisionsrügen enthalten gewesen seien als in der jetzt vorliegenden Begründungsschrift. Auf diese Art wird sich die Urteilsaufhebung kaum jemals vermeiden lassen. Freilich wird sie ggf. nicht nur in dubio pro reo, sondern auch bei Rechtsmitteln der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers zu geschehen haben 58 . 57 Sie stammte in concreto vom Urkundsbeamten (§ 345, II), war also im Zweifel gerade keine Spitzenleistung. 68 Vgl. zur Berufung der Staatsanwaltschaft RGSt. 65, 250, 256 = JW 1931, 2370 (m. Anm. Beling) = Recht/DRiZ 1931, 537.

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Vollends hat R G J W 1928, 1311 implizite auch den Fall entschieden, daß der Revisionsführer weder eine ,neue' Revisionsbegründung liefert noch sich irgendwie um die Wiederherstellung der alten Begründung bemüht 59 . Selbst dann, ja gerade dann müßte man zu seinen Gunsten eine erfolgversprechende Rüge in der verlorenen Revisionsbegründung vermuten und darum zur Urteilsaufhebung gelangen. Das hieße aber der prozessualen Arglist Tür und Tor öffnen! Man wird sich angesichts dessen der seinerzeit vom Reichsgericht abgelehnten Ansicht anschließen können und müssen. Zumindest sollte sie in einer künftigen Regelung enthalten sein: daß nämlich bei irreparablem Verlust der ,alten' Revisionsbegründung der Tatrichter von Amts wegen, unter entsprechender Belehrung der Beteiligten, das Urteil dem Revisionsführer erneut zuzustellen und dadurch eine erneute Begründungsfrist im Sinn des § 345 auszulösen hat. Geht daraufhin keine (neue) Revisionsbegründung ein, so ist das Rechtsmittel zu verwerfen. Reicht der Rechtsmittelführer eine neue Begründung ein, so ist diese für das weitere Verfahren allein maßgebend. Dem revisionsführenden Angeklagten wird dabei allerdings wegen der Schwierigkeit der Rechtslage von Amts wegen ein Anwalt als Verteidiger zu bestellen sein (§ 140, II).

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Trotz der N e u f a s s u n g des § 97 wird der Riditer z u m Zweck der freibeweislichen Rekonstruktion der ersten Revisionsbegründung notfalls die Beschlagnahme der mutmaßlich beim Verteidiger nodi vorhandenen Durchschrift der Revisionsbegründung anordnen können. Vgl. R G J W 1923, 17; K M R (6.) § 9 4 / 2 ; Diss. Stemel (1940) S. 25. Wichtig s. insofern die österr. V O 1927, § 3 8 ! — Dünnebier bei LR. (22.) § 94/11, 3 verkennt, daß es hier um Freibeweis geht; ebenso Mittermaier, J W 1923, 17.

Billigkeitserwägungen in Verfahrensurteilen des Bundesgerichtshofs RICHARD M . H O N I G

Gemäß § 68 a (1) S t P O sind dem Richter grundsätzlich keine Fragen gestattet, die dem Zeugen zur Unehre gereichen könnten, es sei denn, daß die Fragen zur Aufklärung des Sachverhalts unerläßlich sind. Der B G H sieht in dieser Vorschrift eine Bestätigung der „allgemeinen Pflicht zu schonender und überflüssige Bloßstellungen vermeidender Führung des Prozesses" ( B G H S t . 20, 149). Dient diese allgemeine Pflicht der Vermeidung der Verletzung des Ehrgefühls der Prozeßbeteiligten, dann dient sie auch dem Sdiutz des Angeklagten. Findet doch nach Auffassung des B G H a. a. O. die Vorschrift, daß bei jeder Verurteilung wegen Meineids der Angeklagte für dauernd unfähig zu erklären ist, als Zeuge oder Sachverständiger eidlich vernommen zu werden, allein im Sinne der prozessualen Wahrheitsfindung seine Rechtfertigung „und ist in keiner Weise auf eine Demütigung oder Brandmarkung der betroffenen Personen angelegt" (a. a. O. 147). G a n z allgemein jedoch ist das Innenleben des Beschuldigten und Angeklagten vor Beeinträchtigungen einerseits durch das Verbot von Vernehmungsmethoden geschützt, die die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung beeinträchtigen könnten ( § 1 3 6 a S t P O ) ; andererseits aber auch durch den jedermann zustehenden Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht (Art. 103 (1) G G ) . Wie weit der B G H in die emotionalen Vorgänge im Bewußtsein des Angeklagten, seines Verteidigers wie auch der Zeugen hineinleuchtet, um diesem grundgesetzlich jedermann gewährten Anspruch gerecht zu werden, davon geben die folgenden Entscheidungen des B G H über Verfahrensrügen ein anschauliches Bild. Die humane Einfühlung des Verhandlungsleiters in das Innenleben der Prozeßbeteiligten ist darüber hinaus durch das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Unantastbarkeit der Menschenwürde im Art. 1 und im einzelnen in den Artikeln 2 bis 5 verfassungsrechtlich geboten: Der Menschenwürde entspricht das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Gleichheit vor dem Gesetz, auf Freiheit des Glaubens und Bekenntnisse sowie auf freie Meinungsäußerung. Diese Rechte sind „die verfassungsmäßigen Bindungen durch das Grundgesetz", im Hinblick auf die der Jubilar, dem diese Bemerkungen zur Strafrechtspflege gewidmet sind, in seinem Gutachten „Die Syste-

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matik der Strafdrohungen" (in den ,Materialien zur Strafrechtsreform', 1. Band, 1954 S. 69) bemerkte, daß sie „jetzt überhaupt zum ersten Male für den Strafgesetzgeber" und, wie wir hinzufügen dürfen, für den Strafrichter „spürbar werden". Die in den genannten Artikeln des Grundgesetzes verfassungsmäßig garantierten Grundrechte sind Kennzeichen der Abhängigkeit der Rechtsordnung und hiermit zugleich der Rechtspflege von der Humanität, dem Kernbereich der Sittlichkeit. Bemerkenswert ist es, mit welcher Einfühlungsbereitschaft die Strafsenate des B G H den auch nur möglichen psychischen Wirkungen der Vernachlässigung der diesen Grundrechten entsprechenden Verfahrensvorschriften Rechnung tragen. Glaubt der Angeklagte, durch nicht hinreichende Beachtung seiner Belange oder der eines Prozeßbeteiligten in seiner Rechtsstellung verkürzt worden zu sein, dann mag er die Aufhebung des Urteils gemäß § 337 (1) StPO mit der Begründung beantragen, „daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe". Durch die nur an dieser Stelle verwendete Verbform „beruhe" dürfte der Gesetzgeber beabsichtigt haben, den Angeklagten auf die ausschließlich zulässige Begründung seines Revisionsantrages, nämlich eine Verletzung des Gesetzes, hinzuweisen. Indes, „beruhe" kann, als Potentialis aufgefaßt, auch den Sinn haben, die Aufhebung des angefochtenen Urteils mit einer nur möglichen Wirkung der Verletzung einer Verfahrensvorschrift zu begründen, in dem Sinne, daß diese Verletzung das Urteil des Instanzrichters beeinflußt haben könne. Die folgenden Urteile des B G H geben hierfür ein anschauliches Bild.

I. Verkürzung des letzten Wortes (BGHSt. 3, 368; §§ 258, 238 (2), 337 StPO) Nach Erteilung des letzten Wortes untersagte der Vorsitzende dem Angeklagten, schriftliche Aufzeichnungen vorzulesen. Der Angeklagte (A) begründete seine Revision damit, daß ohne schriftliche Aufzeichnungen ihm nicht eingefallen wäre, was er hatte vortragen wollen. Infolgedessen habe er nach dem Verbot des Vorsitzenden nur etwas herumstottern können (S. 369). Nach Ansicht des B G H hätte der Vorsitzende kraft seiner Sachleitungsbefugnis gegen das Vorlesen erst einschreiten dürfen, wenn A das Schlußwort durch Vorlesen von nicht zur Sache gehörenden Um-

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ständen oder Wiederholungen oder durch unnütze Weitschweifigkeiten mißbraucht hätte (S. 369). Die die Freiheit des A beeinträchtigende Anordnung des Vorsitzenden „komme im Ergebnis. . . der Nichterteilung des letzten Wortes an den Angeklagten gleich" (S. 370). „Auf dem Verfahrensverstoß kann das Urteil beruhen" (S. 369).

Unterlassung der Erteilung des letzten Wortes (BGHSt. 9, 77; §§ 247 (2), 258 (3) StPO) Der Angeklagte war nach Vernehmung sämtlicher Zeugen und nachdem er mehrfach zur Sache gehört worden war, wegen Ungebühr vor Gericht aus dem Sitzungssaal entfernt worden. Lediglich zur Verkündung des Urteils wurde er wieder zugelassen, doch ist ihm ein letztes Wort nicht erteilt worden. Da die Strafkammer entgegen den Behauptungen des A im wesentlichen den Aussagen des Verletzten gefolgt war, sei es „für die Entscheidung möglicherweise auch von Bedeutung gewesen, daß der Angeklagte keine Gelegenheit mehr hatte, durch seinen persönlichen Eindruck beim letzten Wort die Beweiswürdigung zu seinen Gunsten zu beeinflussen" (S. 84). Auch sei nicht zu erkennen, „aus welchem Grunde auch noch nach dem Vortrage des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft nicht wenigstens versucht werden konnte, in Gegenwart des A zu verhandeln", „zumal gerade im vorliegenden Falle die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß weniger der Wille zur Ungebühr gegenüber dem Gericht als ein bloßer, nicht gleichschwerwiegender Beherrschungsmangel Ursache der jeweiligen Verhandlungsstörung war" (S. 83).

Unterlassung der Mitteilung der Aussage eines Mitangeklagten an den abwesend gewesenen Angeklagten (BGHSt. 1, 346; § 247 (1) StPO) Auf Anordnung des Vorsitzenden hatte A während der Vernehmung eines Mitangeklagten das Sitzungszimmer verlassen, weil letzterer in Gegenwart des A die Wahrheit nicht sagen würde. Der Vorsitzende unterließ es, dem A nach seiner Wiederzulassung den Inhalt der Aussage des M mitzuteilen. Dadurch „wurde dem Angeklagten die Möglichkeit genommen, auf der Stelle Erklärungen zu dem in seiner Abwesenheit behandelten Punkte abzugeben". „Jedenfalls (ist) nicht auszuschließen, daß das Urteil. . . auf dem Mangel

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der Unterrichtung des Beschwerdeführers über die Vorgänge während seiner Abwesenheit beruht" (S. 350).

Beeinflussung des Zeugen durch unzulässige Zwangsmaßnahmen (BGHSt. 9, 363; § 7 0 StPO) Der Zeuge J hatte durch seine Aussage den als Rädelsführer bei einem Aufruhr verurteilten Angeklagten belastet. Er hatte Angaben gemacht, die nach Ansicht der Strafkammer zutreffen, andere an ihn gerichtete Fragen jedoch zum Teil unrichtig oder lückenhaft beantwortet. Jedoch hat er weder unmittelbar noch durch schlüssige Handlung eine Antwort abgelehnt. Nichtsdestoweniger wurde gegen ihn eine Ordnungsstrafe gemäß § 70 StPO verhängt. Nach Ansicht des BGH war § 70 hier nicht anwendbar, da die Maßnahmen des § 70 nicht dazu bestimmt seien, Zeugen zu wahrheitsgemäßen Aussagen zu veranlassen (S. 363). Da die Strafkammer jedoch den für erwiesen erachteten Tatsachen auch Angaben des J zugrunde legte, die den A belasten, „ist davon auszugehen, daß der Schuldspruch auf der Aussage J's jedenfalls mit beruhen kann" (S. 364).

Nachteilige Beeinflussung der Fragestellung eines Verteidigers durch verfahrensrechtlich unzulässigen Zwang (BGHSt. 16, 67; §§ 240 ff. StPO) Der Vorsitzende hatte die Zulassung einer Frage, die der Verteidiger eines Angeklagten an einen Mitangeklagten stellen wollte und die den Inhalt eines Briefes betraf, von der Vorlage des Briefes abhängig gemacht. Da Briefe nicht der Beschlagnahme unterliegen (StPO § 97 (1) Z. 3), kann ein Verteidiger nicht zur Vorlage des Briefes gezwungen werden (S. 70). Macht der Tatrichter die Zulassung einer Frage, die eine Briefstelle betrifft, von der Überreichung des Briefes abhängig, dann komme dies einem verfahrensrechtlich unzulässigen Zwange gleich. Wird doch „der Verteidiger . . . hierdurch in die Zwangslage versetzt, entweder den Brief vorzulegen oder auf die Frage zu verzichten. Daß die Strafkammer im vorliegenden Fall den Verteidiger in eine solche Zwangslage gebracht hat, bedeutet einen Verfahrensverstoß" (S. 707).

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Anpassung der Verteidigung an die Aussage eines nicht vereidigten Zeugen (BGHSt. 7, 281; §S 59, 61 N r . 3, 337 StPO) Dem Angeklagten war zur Last gelegt, die frühere Mitangeklagte bestimmt zu haben, in seinem Scheidungsprozeß unter Eid falsch auszusagen. A bestreitet dies; er habe die S im Beisein der Pf lediglich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht hingewiesen und ihr gesagt, sie „müsse ja wissen,. . . was sie vor Gericht zu sagen habe" (S. 281). Pf wurde als Zeuge vernommen, blieb jedoch bei ihrer Vernehmung gemäß S 61 N r . 3 unvereidigt. Der Vorsitzende hatte seine Anordnung damit begründet, daß der Aussage der Zeugin „keine wesentliche Bedeutung zukomme" (S. 282). Das Gericht stützte jedoch gemäß „der Urteilsbegründung seine Uberzeugung von der Schuld des Täters auch auf ihre Aussage" (S. 282), ohne die Vereidigung der Pf nachgeholt oder den Prozeßbeteiligten mitgeteilt zu haben, „daß es der Aussage wesentliche Bedeutung beimesse, aber trotzdem die Vereidigung aus einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt f ü r nicht geboten halte" (S. 283).

Mögliche Rückschlüsse des Angeklagten und des Verteidigers aus der Nichtvereidigung des Zeugen (BGHSt. 8, 155; SS 59, 61 N r . 3 StPO) M war aufgrund des Verdachts der Teilnahme an einem von A begangenen Betrüge als Zeuge nicht vereidigt worden (S. 158). Zur Zeit der Urteilsfindung war die Strafkammer jedoch zu der Uberzeugung gelangt, daß ein Verdacht der Teilnahme nicht bestehe, M vielmehr von A getäuscht worden sei (S. 157). „Aus dem Umstand, daß auch im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung die Vereidigung nicht nachgeholt wurde, konnten und durften der Angeklagte und sein Verteidiger entnehmen, daß nach Uberzeugung der Strafkammer eine Verurteilung des A wegen Betruges zum Nachteil des M nicht in Betracht komme" (S. 158).

II. Allen diesen Erkenntnissen ist gemeinsam, daß sie, einen Verfahrensverstoß der Vorinstanz rügend, letzten Endes damit begründet sind, daß der Verstoß sich ungünstig auf das Verhalten des Angeklag-

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ten oder seines Verteidigers ausgewirkt haben könnte. Diese Zusammenhänge des Verhaltens, nämlich einerseits des Verhandlungsleiters und andererseits des Angeklagten oder seines Verteidigers oder eines Zeugen, sind es, die, wie die zitierten Urteilsbegründungen ergeben, den Standpunkt des Angeklagten rechtfertigen, daß das Urteil der Vorinstanz „auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe" (§ 337 (1)), die dazu geeignet gewesen sei, ihn in seiner Verteidigung zum mindesten unsicher zu machen. Indem der B G H dieser Revisionsbegründung Rechnung trägt, tritt an die Stelle der die Entscheidung tragenden juristischen Logik eine Möglichkeitserwägung, nämlich das Zugeständnis, daß das angefochtene Urteil auf dem gerügten Verfahrensverstoß beruhen könne, tritt, m. a. W., an die Stelle der durch den Verstand geleiteten juristischen Subsumtion ein Urteil der praktischen Vernunft, der lex rationis der Scholastik. Das Revisionsgericht wird zum Anwalt eines Kollektivbewußtseins, wenn es die Beeinträchtigung der Verhandlungsfreiheit des Angeklagten oder seines Verteidigers durch den Vorderrichter rügt. Mit dieser Rüge sucht der B G H den psychischen Grundlagen des Parteiprozesses Genüge zu tun und hierdurch den einer jeden Strafsache zugrunde liegenden Lebensverhältnissen, mit einem Wort: der „Natur der Sache" gerecht zu werden. „Auf sie muß", nach einem vielzitierten Wort Dernburgs, „der denkende Jurist zurückgehen, wenn es an einer positiven N o r m fehlt oder wenn dieselbe unvollständig oder unklar ist". Es mag zutreffen, daß im materiellen Recht die Denkform der „Natur der Sache" nach einem Wort von Ernst Immanuel Bekker „recht häufig als Gedankensurrogat vernutzt" wird und daß es daher nach Ralf Dreier1 erwägenswert wäre, auf ihre Verwendung zu verzichten. Im Verfahrensrecht jedoch leitet sie, wie die angeführten Entscheidungen erweisen, auf die vernunftgemäße Berücksichtigung der Interessensphäre des Angeklagten seitens des Verhandlungsleiters. Die „Natur der Sache" wird hier zum Inbegriff insbesondere der psychischen Gegebenheiten, die dem den Tatbestandsmerkmalen entsprechenden Sachverhalt zugrunde liegen. Doch wird hierdurch die „ N a t u r der Sache" nicht zu einer ursprünglichen Rechtsquelle; vielmehr ist sie nur ein Kriterium für die Leitung der Verhandlung. In Anbetracht der abstrakten, vielfach blankettartigen N a t u r der Verfahrensvorschriften — man denke an § 244 (2) StPO (Umfang der Beweisaufnahme) oder an § 261 StPO (freie Beweiswürdigung) —, ist der Verhandlungsleiter bei Leitung und Auswertung des Verhaltens der Prozeßbeteiligten auf die „Natur der Sache" in dem Sinne angewiesen, daß sie ihm als Wegweiser insofern dient, als aus ihr 1

Dreier, Zum Begriff der Natur der Sache, 1965, S. 127 f.

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Gesichtspunkte zu entnehmen sind, die für das Verhalten des Angeklagten, seines Verteidigers oder der Zeugen maßgebend gewesen sein konnten. So zieht der B G H in 3, 368 in Betracht, daß als Folge des an den Angeklagten gerichteten Verbots, weitere schriftliche Aufzeichnungen vorzulesen, nicht auszuschließen sei, daß A bei ungehinderter Benutzung seiner Aufzeichnungen Ausführungen gemacht und Anträge gestellt haben würde, die für die Frage der Beurteilung seiner Person als eines gefährlichen Gewohnheitsverbrechers oder für die Anordnung der Sicherheitsverwahrung „eine ihm günstige Entscheidung herbeigeführt hätten" (S. 369). In der Nichterteilung des letzten Wortes sieht der B G H in 9, 77 eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung, zumal die Beweisaufnahme den Angeklagten im wesentlichen mit denjenigen Personen zusammengeführt habe, „derentwegen ihm wissentlich oder leichtfertig falsche Anschuldigungen vorgeworfen wurden. Unter solchen Umständen auftretende Störungen der Verhandlungsordnung bedürfen . . . eines gewissen Verständnisses" (S. 83). Gemäß B G H 1, 346 mag der „Mangel der Unterrichtung des Beschwerdeführers über die Vorgänge während seiner Abwesenheit" (S. 350) und die daraus folgende „Unkenntnis über das, was in seiner Abwesenheit verhandelt worden war, in ihm eine Unsicherheit hervorgerufen haben, die seine Haltung und seine Erklärungen während des Restes der Hauptverhandlung beeinflußt hat" (S. 351). In 9, 362 glaubt der B G H „nicht mit der erforderlichen Gewißheit beurteilen zu können", wie die Aussage des Zeugen „ausgefallen und von der Strafkammer im Rahmen aller übrigen Beweisergebnisse gewürdigt worden wäre, wenn Maßnahmen nach § 70 StPO unterblieben wären" (S. 364). In 16, 67 stellt der B G H in Rechnung, daß das Begehren der Vorlage des Briefes den Verteidiger in eine unzulässige, ihn verwirrende Zwangslage versetzt hatte, so daß er „seine Fragen nicht mehr so stellen konnte, wie er es ohne den Verfahrensverstoß getan haben würde" (S. 71). In 7, 281 zieht der B G H in Betracht, daß durch eine entsprechende Erklärung das Gericht dem Angeklagten Gelegenheit gegeben hätte, seine Verteidigung der Aussage der Pf anzupassen und entsprechende Anträge zu stellen. „Indem es dies unterließ, hat es gegen §§ 59, 61 Nr. 3 StPO verstoßen. Auf diesem Rechtsfehler kann nach der Sachlage das Urteil beruhen" (S. 283). In 8, 155 unterstellt der B G H die Möglichkeit, daß der Angeklagte und sein Verteidiger infolge des irrtümlichen Unvereidigtbleibens des M davon abgesehen haben, „die nochmalige Vernehmung des M und

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seine Vereidigung zu beantragen. D a ß die Verurteilung wegen Betruges hierdurch zum Nachteil des Angeklagten beeinflußt worden sein kann, läßt sich nicht ohne weiteres ausschließen" (S. 158).

III. Indem der B G H Erwägungen dieser Art Raum gibt, trägt er den Besonderheiten der Fälle Rechnung. Er zieht die psychischen Wirkungen fehlerhafter Anordnungen oder Unterlassungen der Verhandlungsleitung in Betracht, wie der Beschränkung oder Nichterteilung des letzten Wortes; des Nicht-in-Kenntnis-Setzens des Angeklagten von dem, was in seiner Abwesenheit verhandelt worden ist; der Zwangsmaßnahmen gegenüber einem Zeugen oder dem Verteidiger; des nicht folgerecht durchgeführten oder auch irrtümlichen Unvereidigt-Bleibens eines Zeugen. In der Rüge dieser Mängel der Verhandlungsleitung liegt die Forderung einer angemessenen Berücksichtigung und Bewertung der Interessen der sich verteidigenden Partei. Dieser Forderung dient die regulative Funktion der Billigkeit im Strafverfahren. Sie führt nach Stammlers Begriffsbestimmung der Billigkeit zu dem in einer gegebenen Lage grundsätzlich richtigen Recht 2 . Für das Strafverfahren gilt nicht weniger als für das materielle Recht, was Esser in ,Summum ius summa iniuria' zum Wesen der Billigkeit ausgeführt hat: Mit Billigkeit sei nicht Freiheit vom Recht, sondern seine sinnvolle Ergänzung gemeint; nicht rechtsfremdes Ermessen, sondern Ergänzung der Rechtsordnung durch humane Berücksichtigung der Parteiinteressen ist gefordert. — In der Tat: Für den Strafprozeß ist Billigkeit eine der Maximen der Verfahrensleitung. Sie dient der Urteilsfindung durch intuitives Aufspüren der relevanten Tatumstände während der Beweisaufnahme 4 . Dieser Einschätzung unterliegen sowohl die klar zutage getretenen wie auch die zu vermutenden psychischen Hintergründe des Verhaltens der Prozeßbeteiligten. Billiges Ermessen wird hier zum Prinzip der Interpretation mehrdeutigen Verhaltens, sei es der Zeugen, sei es des Angeklagten. Insbesondere im Hinblick auf seine Notlage fordert es vom Richter innere Anteilnahme an den Beweggründen, die ihn zur Tat veranlaßt haben. Das Billigkeitsgefühl ruft im Richter „das Bewußtsein wach, daß man es mit Menschenwohl und Menschenwehe,

2 3 4

Vgl. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 1923, S. 304. Esser, in: Ringvorlesungen der Tübinger Juristenfakultät, 1963, S. 26 f. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 328.

Billigkeitserwägungen in Verfahrensurteilen des Bundesgerichtshofs

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und zwar mit dem Wohl und Wehe bestimmter dem Richter vor Augen stehender Menschen von Fleisch und Blut zu tun hat" 5 . Deutlich tritt hier in Erscheinung, daß Billigkeitserwägungen an das Gewissen des Richters appellieren6. Im Gegensatz zum Zivilrecht, in dem Billigkeitserwägungen vielfach den Vertragschließenden anheimgestellt sind, ist im Strafverfahren Billigkeit allein dem Richter vorbehalten, zugleich aber auch ihm aufgegeben. Schon bei der Beweisaufnahme hat er, wie die angeführten Entscheidungen des B G H erweisen, das Verhalten des Angeklagten, seines Verteidigers, auch der Zeugen vermittels intuitiver Einsicht zu bewerten, um zu einer „aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Uberzeugung" zu gelangen. Dies ist mitentscheidend dafür, daß sein Urteil als billig und damit zugleich als gerecht empfunden wird. Entsprechendes gilt, nebenbei bemerkt, für die Subsumtion des Sachverhalts unter die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale: Das Kriterium der adäquaten Verursachung und ebenso das der objektiven Zurechenbarkeit verweisen letzten Endes auf ein Billigkeitsurteil. Ein Gleiches gilt für die Schuldfrage: Baumann lenkt in seinen Ausführungen zu den „Grenzen der individuellen Gerechtigkeit im Strafrecht" 7 den Blick auf „die Herkunft des Schuldmerkmals und Schuldkorrektivs ,Zumutbarkeit' aus dem Billigkeitsgedanken". In der Tat: Alle Vorwerfbarkeit des Verhaltens geht auf die Zumutbarkeit des Sich-anders-verhalten-Könnens zurück. Zumutbar jedoch ist nur dasjenige Verhalten, das billigerweise erwartet und gefordert werden kann. Für das Gesamtgebiet des Strafrechts gilt immer noch das altdeutsche Rechtssprichwort: „Billigkeit muß das Recht meistern", und für das Strafverfahren insbesondere Celsius' Einsicht: „Jus est ars boni et aequi."

Rümelin, Die Billigkeit im Recht, 1921, S. 80. Vgl. Erik Wolf in der Einleitung S. 72 zu Radbruchs Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973. 7 Baumann, in: Ringvorlesungen der Tübinger Juristenfakultät, 1963, S. 131. 5 6

Gegenwart und Zukunft des Privatklageverfahrens H A N S JOACHIM HIRSCH

I. 1. Manfred Rehbinder hat kürzlich geschrieben, es bedeute „eine Täuschung des rechtsuchenden Publikums, durch die Gewährleistung des Privatklageverfahrens auf dem Papier den Eindruck zu erwecken, hier stände eine effektive Rechtseinrichtung zur Verfügung, deren Inanspruchnahme sinnvoll ist"; es sei deshalb „an der Zeit, aus dieser Erkenntnis die erforderlichen rechtspolitischen Konsequenzen zu ziehen" 1 . Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Privatklage, wie sie § 374 StPO vorsieht, zur Verurteilung des Täters führt, ist immer geringer geworden. Rüdiger Koewius2, der die beim AG Bielefeld in den Jahren 1966—1970 anhängig gewesenen Privatklageverfahren untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, daß nur 8,4 °/o der insgesamt 255 Verfahren mit einer Verurteilung endeten. Trotz intensiver Begehungsweise der Delikte und deutlicher Unrechtsfolgen war das Normale die Einstellung wegen angeblicher Geringfügigkeit oder die wegen eines Vergleichs erfolgende Klagerücknahme. Für die Beleidigungsdelikte — sie machen mehr als zwei Drittel der Privatklagesachen aus 3 — ermittelte Hans-Georg Doering4 aufgrund der Privatklageakten drei anderer Amtsgerichtsbezirke (Bremen, Göttingen, Northeim), daß dort in den von ihm untersuchten Jahren 1957—1965 nur in 8 %> der Fälle Bestrafungen erfolgten. Eine noch niedrigere Verurteilungsquote in Privatklagesachen ließ sich beim AG Regensburg in den Jahren 1973/74 feststellen: Im Jahre 1973 wurden von 97 erledigten Privatklageverfahren lediglich 2 mit einer Verurteilung abgeschlossen ( = 2 , 0 6 % ) , und im Jahre 1974 waren es bei 111 erledigten Verfahren 3 Verurteilungen ( = 2,7 % ) . Diese Zahlen aus der Praxis mehrerer Gerichte bestätigen den Eindruck, der sich allgemein aufdrängt, wenn man die gegenwärtige 1 Vorwort zu Rüdiger Koewius, D i e Rechtswirklichkeit der Privatklage, 1974 (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Bd. 34). Siehe auch schon meine Ausführungen in der Diskussion auf der Tagung der deutschen Strafrechtslehrer 1970, Tagungsbericht von ]. Meyer, ZStW 83, 278. 2 A . a. O. S. 59, 129, 155, 157 ff., 161 f. 3 Koewius, a . a . O . S. 62 ff., 130. Entsprechende Zahlen ließen sich beim AG Regensburg feststellen. * Beleidigung und Privatklage, 1971 (Kriminologische Studien Bd. 8), S. 12, 126.

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Hans Joachim Hirsch

Situation auf diesem Gebiet beobachtet: Die Aussichten eines Privatklägers, eine Verurteilung zu erwirken, sind in der Regel minimal, eine Verurteilung ist — wie Koewius5 die Lage zutreffend charakterisiert — „im allgemeinen ungewöhnlich"; das um so mehr, als die zuletzt genannte Verurteilungsquote von unter 3 °/o der heutigen generellen Entwicklung am nächsten kommen dürfte. Das Gewöhnliche ist, worin alle Erhebungen übereinstimmen, eine freigiebige Einstellung wegen Geringfügigkeit oder eine Einstellung wegen einer aufgrund eines vom Strafrichter mehr oder weniger aufgezwungenen Vergleichs erfolgten Klagerücknahme 6 . Nicht selten scheint eine dilatorische Behandlung des Verfahrens durch den Richter — Rehbinder spricht von Verfahrens-„Verschleppung" — voranzugehen 7 . Bei alledem ist zusätzlich zu bedenken, daß die Privatklage zumeist schon die zweite Stufe der Verfolgung darstellt. Vorhergeht in den meisten Privatklagefällen der Sühneversuch vor dem Schiedsmann (§ 380 StPO). Dort werden etwa ein Drittel der Fälle durch Vergleich erledigt8. 2. Die Gründe, weshalb nur noch eine geringe Anzahl von Privatklagen zu strafrechtlichen Sanktionen führen, liegen offen zutage. Denn damit, daß das einstige Mittelfeld der strafrechtlichen Vergehen sich in der kriminalstrafrechtlichen Bewertung mehr und mehr in Richtung auf den unteren Bereich des Kriminalstrafrechts verschiebt, muß dem Richter das Verhängen einer Kriminalstrafe bei nur leichter Delinquenz — und darum handelt es sich in der Regel, wenn keine öffentliche Klage nach § 376 StPO erhoben oder das Verfahren nicht nach § 377 Abs. 2 StPO übernommen wird 9 — unangemessen vorkommen. Handlungen dieser Art erscheinen nicht mehr gravierend genug, um für die in der Kriminalstrafe liegende schärfste staatliche Sanktion auszureichen. Auch bewirkt jene Gewichtsverschiebung, daß für die leichten Delikte in der Praxis der Strafzumessung gar keine 5

A. a. O. S. 129. Vgl. außer bei Koewius, a. a. O. S. 129, 162, auch schon die Feststellungen bei Christoph v. Lippa, Der Ehrenschutz im deutschen Strafrecht, 1966 (Kriminologische Untersuchungen H e f t 24), S. 129; Hans-Georg Doering, a. a. O. S. 118 ff. 7 M. Rehbinder, a. a. O.; Koewius, a. a. O. S. 161 f. 8 Vgl. Doering, a. a. O. S. 111, dessen Ergebnisse sidi mit meinen Feststellungen im Stadtkreis Regensburg decken. 9 In den Motiven zur StPO heißt es: „Beleidigungen und leichte Mißhandlungen sind alltägliche Vorkommnisse; sie berühren das allgemeine Wohl der bürgerlichen Gesellschaft meistens wenig, und selbst für die Beteiligten haben sie in der Regel eine viel zu geringe Bedeutung, als daß ein rechtliches oder sittliches Bedürfnis vorläge, stets eine Bestrafung herbeizuführen"; vgl. Hahn, Materialien, Band 3, S. 277. Gerland, GS 60, 186 spricht von „höchstpersönlichen Bagatelldelikten". 6

Gegenwart und Zukunft des Privatklageverfahrens

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relevanten Strafhöhen mehr übrigbleiben. Praktisch gleiten also diese Fälle als Bagatelldelinquenz aus dem kriminalstrafrechtlich noch E r faßbaren heraus. Die Gerichte müssen deshalb zwangsläufig bemüht sein, Mittel und Wege zu finden, um ein Hauptverfahren oder wenigstens eine Verurteilung möglichst zu vermeiden. Es kommt hinzu, daß Privatklagesachen wegen des für die Strafrechtspflege bloßen Bagatellcharakters und der Häufigkeit nur schwer zu entwirrender, zudem sehr engagiert ausgefochtener persönlicher Auseinandersetzungen der Beteiligten schon herkömmlich bei vielen Strafrichtern wenig geschätzt sind 1 0 . Auch hat man das Privatklageverfahren immer wieder als Fremdkörper in unserem Strafverfahrensrecht bezeichnet 1 1 . Inzwischen hat der Gesetzgeber der auf Nichtverfolgung von Privatklagesachen gerichteten Tendenz der Praxis noch mittelbar nachgeholfen durch die im 1. S t V R G 1975 erfolgte Neufassung des § 153 a S t P O . Diese eröffnet im Offizialverfahren bei Vergehen die Möglichkeit, über den Rahmen des § 153 S t P O hinaus das Verfahren ohne strafrichterliche Verurteilung (in der Regel schon ohne Anklageerhebung) abzuschließen, wenn das Erfüllen von Auflagen — darunter namentlich die Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung oder die Staatskasse — durch den Beschuldigten geeignet ist, bei geringer Schuld das öffentliche Interesse an der S t r a f verfolgung zu beseitigen 12 . Ist somit im Offizialverfahren trotz des an sich gegebenen, nur durch die Auflagenerfüllung entfallenden öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung eine Verfahrenseinstellung möglich, dann muß sich aber im Privatklageverfahren der Richter fragen, wie er es eigentlich verantworten soll, jemand zu einer Kriminalstrafe zu verurteilen, für dessen T a t wegen der durch den Bagatellcharakter bedingten Verweisung auf den Privatklageweg schon per definitionem das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung fehlt. Darüber hinaus wird er sich sagen, daß selbst dann, wenn die Staatsanwaltschaft das öffentliche Interesse gemäß § 3 7 6 oder § 377 Abs. 2 S t P O bejaht haben würde, ggf. eine Einstellung nach § 153 a n. F. S t P O möglich wäre, und wird deshalb eine Vermeidung des

1 0 Vgl. v. Lippa, a. a. O. S. 129; Doering, a. a. O. S. 122; Koewius, a. a. O. S. 157. 11 Insbesondere v. Liszt, GS 29, 204 ff.; Nagler, GS 73, 172 f.; Binding, GS 74, 41 f.; Friedmann, J W 1916, 3 4 5 ; Kunert, Löwe-Rosenberg StPO, 22. Aufl., Vor § 374 Anm. 1; Woesner, N J W 1959, 704. 1 2 Wobei die Konstruktion die ist, daß nadi vorangegangener vorläufiger Einstellung eine endgültige Einstellung erfolgt, sobald die mit der vorläufigen Einstellung verbundenen Auflagen erfüllt sind.

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Hauptverfahrens oder der Verurteilung geradezu als geboten ansehen, da noch nicht einmal das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung gegeben ist, sondern nur ein Privatklagefall vorliegt.

II. 1. Es erhebt sich die Frage, welche gesetzgeberischen Konsequenzen aus der geschilderten Rechtswirklichkeit des Privatklageverfahrens zu ziehen sind. Eine strafverfahrensrechtliche Regelung, die hinsichtlich ihrer kriminalstrafrechtlichen Funktion praktisch weithin abgestorben ist, wirft die Frage der gesetzgeberischen Frontbegradigung auf. Verfahren, in denen die — mit oder ohne Vergleich — vom Richter aufgedrängte Klagerücknahme und die Einstellung wegen Geringfügigkeit die Normalfälle bilden, wird man kaum als im Kriminalstrafrecht sachgerecht eingeordnet ansehen können. Und blickt man auf den Verletzten, so wird ihm, wie Manfred. Rehbinder zu Recht rügt, mit den §§ 374 ff. StPO eine für ihn sinnvolle Rechtseinrichtung lediglich vorgetäuscht. Die geltende Regelung bedeutet für den Privatkläger zudem angesichts der heutigen Praxis ein völlig unzumutbares Kostenrisiko 13 . 2. Bei der Suche nach einer Lösung des Problems scheidet der Gedanke aus, durch entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen — etwa über eine generelle Verlagerung ins Offizialverfahren und gleichzeitige Anhebung der Strafrahmen — die Verfolgung der bisherigen Privatklagedelikte kriminalstrajrecktlich zu reaktivieren. Ein solcher Vorschlag widerspräche der allgemeinen strafrechtlichen Entwicklung, die eine Begrenzung auf gewichtige Rechtsverstöße erstrebt, eben zur Entkriminalisierung und nicht zur Rekriminalisierung tendiert. Die entscheidende Weichenstellung bildete bei dieser Entwicklung die Herausnahme der heutigen Ordnungswidrigkeiten aus dem Kriminalstrafrecht 14 . Der Gedanke an eine allgemeine kriminalstrafrechtliche 1 3 D a z u näher Doering, Beleidigung und P r i v a t k l a g e , 1 9 7 1 , S. 6, 1 1 9 ; Koewius, Die Rechtswirklichkeit der P r i v a t k l a g e , 1 9 7 4 , S. 151. Schon zu A n f a n g des J a h r hunderts kritisierte Binding, a. a. O . das „große Kostenrisiko". Dieses w i r d am fatalsten in den — freilich wenigen •— Fällen, in denen ein Angeklagter in erster Instanz verurteilt wird. Angesichts der Neigung der meisten Berufungsgerichte, solche V e r f a h r e n wegen Geringfügigkeit einzustellen, verschärft die Einstellungsmöglichkeit nach § 3 9 0 Abs. 5 S t P O in Verbindung mit § 4 7 1 Abs. 3 N r . 2 S t P O das ohnedies unzumutbare finanzielle Risiko zusätzlich. D a r a u f weist bereits Seibert, M D R 1 9 5 2 , 2 7 8 hin. 1 4 A u f die Streitfrage, ob hinter der Unterscheidung eine qualitative oder nur quantitative Verschiedenheit des Unrechts steht, braucht hier nicht eingegangen zu

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Reaktivierung der Privatklagedelikte wäre daher ein Anachronismus. Das schließt freilich nicht aus, daß eine Uberprüfung des Katalogs des § 374 StPO daraufhin zu erfolgen hat, ob er vielleicht Strafbestimmungen enthält, die insgesamt nicht in den Kreis der dort aufgeführten Delikte passen und deshalb künftig ganz dem Offizialverfahren zuzuordnen wären. Die Vorschrift, um die es dabei geht, ist § 223 a StGB, der nach heutiger Auffassung vom Persönlichkeitsschutz, wie sie sich jetzt auch durch die Pönalisierung des Versuchs in § 223 a Abs. 2 StGB gesetzlich manifestiert hat, notwendig als Offizialdelikt zu regeln ist 15 . 3. Scheidet eine Lösung der Privatklageproblematik durch kriminalstrafrechtliche Aufwertung demnach aus, so ließe sich auf der anderen Seite nicht ohne weiteres unter Berufung auf ein hier fehlendes öffentliches Interesse an einer Kriminalstrafe sagen, daß die Tatbestände, die bisher als Privatklagedelikte geregelt sind, zu streichen seien — lediglich mit Ausnahme des § 223 a StGB und einiger tatbestandlich abzuschichtender besonders gravierender Begehungsweisen bei den anderen Strafbestimmungen. Es gehört leider zu den Hauptmängeln gegenwärtiger Kriminalpolitik, daß man sich über die Frage, welche Folgen ein Rückzug des Strafrechts für den Verletzten haben würde, zu wenig Gedanken macht. Offenbar hat die Reform des Sexualstrafrechts, bei der in den Fällen der Beseitigung und Einschränkung von Strafvorschriften das Problem des Rechtsschutzes eines Verletzten vielfach nicht bestanden hat, den Blidi dafür getrübt, daß es andere Bereiche gibt, in denen strafreformerische Alleingänge nicht ohne Friktionen mit der Gesamtrechtsordnung möglich sind. Sobald man nämlich zu dem Ergebnis kommt, daß ein Rechtsschutz gegenüber den betreffenden Beeinträchtigungen vonnöten ist, erhebt sich stets die Frage, ob er überhaupt und in ausreichendem Maße anderweitig verbleiben würde, nötigenfalls wie eine den kriminalstrafrechtlichen Schutz ersetzende Lösung sachgerecht auszusehen hätte.

werden; denn die Vertreter eines qualitativen Unterschieds leiten aus ihm ab, daß das Unrecht der Ordnungswidrigkeiten niedriger als das kriminelle Unrecht zu bewerten ist. Es geht für sie also um eine „qualitativ-quantitative" Sicht, d. h. eine qualitativ bedingte mindere Einstufung. Vgl. zu dieser Lehre insbesondere Lange, GA 1953, 5; N J W 1953, 6 ; J Z 1956, 73, 519; 1957, 233. Zum Streitstand siehe die Ubersicht bei Hirsch, L K 9. Aufl., Vor § 51 StGB Rdn. 11. 15 Maiwald, GA 1970, 49; und näher Koewius, a. a. O. S. 164. Zur Kritik im älteren Schrifttum siehe R. Schmidt, Staatsanwalt und Privatkläger, Zur Gesetzgebungskritik, 1891, S. 63; Thiersch, Legalitätsprinzip und Ausdehnung der Privatklage, in: Aschrott, Reform des Strafprozesses, 1906, S. 212; v. Hentig, ZStW 48, 213.

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Es ist evident, daß die in § 3 7 4 S t P O aufgezählten Beeinträchtigungen Rechtsfolgen haben müssen. Das Zivilrecht bietet dazu die §§ 8 2 3 ff. B G B an 1 6 . Die Lösung der Problematik wäre deshalb einfach, wenn man den Rechtsschutz, von den obengenannten Ausnahmen abgesehen, allein dem Zivilrecht überlassen könnte 1 7 . Geht man aber ebenfalls bei dieser Frage von der Rechtswirklichkeit aus, so zeigt sich, daß Zivilrecht und Zivilverfahren ihrem Wesen nach kein ausreichender Ersatz sind: Das wird am deutlichsten beim Ehrenschutz, dem häufigsten Gegenstand der Privatklageverfahren. T r o t z der geringen Chancen der Privatklagen und trotz des schon über fünfzehn J a h r e praktizierten modernen zivilrechtlichen Ehrenschutzes (Anwendbarkeit von § 8 2 3 Abs. 1 und § 8 4 7 B G B 1 8 ) sind Zivilklagen selten, vor allem wenn man sie in Relation zur Zahl der Privatklagen und der tatsächlichen Beleidigungsdelinquenz setzt. So sind, um ein Beispiel aus der Praxis der Instanzgerichte zu nennen, im LG-Bezirk Regensburg in den Jahren 1 9 7 0 — 1 9 7 4 nur 7 derartige Klagen anhängig gewesen, von denen es lediglich bei einer um Schmerzensgeld ging. Auch ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ebenso wie nach den Erfahrungen im vorgenannten LG-Bezirk auffallend, daß die Kläger regelmäßig entweder wirtschaftlich günstig gestellte oder im Blickpunkt einer breiteren Öffentlichkeit stehende Personen sind. M a n denke nur an den Herrenreiter-, Valente-, Ginsengwurzel- oder den Sorayafall 1 9 . 16 Bzgl. der in § 374 Abs. 1 Nr. 7 u. 8 StPO genannten Strafbestimmungen finden sich Schadensersatzregelungen in den betreffenden zivilrechtlichen Nebengesetzen. 17 In dieser Richtung M. Rehbinder, Vorwort zu Koewius, Die Rechtswirklidikeit der Privatklage, 1974; Chr. v. Lippa, Der Ehrenschutz im deutschen Strafrecht, 1966, S. 131. 18 Vgl. zur Anerkennung des allgemeinen Persönlidikeitsredits BGHZ 13, 334, zum Ersatz des immateriellen Schadens BGHZ 26, 349 und die seitherige st. Rspr.; Nachweise hierzu bei Larenz, Schuldrecht Besonderer Teil, 10. Aufl., S. 471 ff., auch in der folgenden Anm. 19. 19 Im einzelnen verhält es sich wie folgt: BGHZ 26, 349 (Brauereibesitzer ./. Sexualpräparatehersteller), BGHZ 30, 7 (Schlagersängerin ./. Zahnprothesenhaftmittel-Hersteller), BGHZ 35, 363 (Professor der Rechte ./. Ginsengpräparatehersteller), BGHZ 36, 77 (Bankier ./. Zeitschrift), BGH N J W 1965, 1374 (Kunsthändler ./. Zeitschriftenverleger), BGHZ 39, 124 (Fernsehansagerin ./. Zeitschrift), BGH N J W 1962, 152 (Politiker ./. Zeitschrift), BGH N J W 1963, 904 (Prokurist ./. Zeitung), BGH MDR 1965, 371 (Handwerksmeister ./. Zeitschriftenverlag), BGH N J W 1965, 685 (Exkaiserin ./. Zeitschrift), LG Düsseldorf N J W 1965, 696 (Inhaber eines Cafes an der Düsseldorfer Königsallee ./. Zeitschriftenverleger), BGH N J W 1965, 2395 (Rechtsanwalt ./. Gewerkschaft^ Organisation), OLG Frankfurt N J W 1966, 254 (Schauspielerin ./. Telefonhersteller), BGH N J W 1966, 2353 (Arzt ./. Fernsehanstalt), OLG Stuttgart N J W 1967, 1422 (Bankdirektor ./. Zeitschrift), BGH DRiZ 1968, 203 (Behördenleiter ./. Zeitschriftenredakteur), BGH

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Wollte man deshalb pointiert formulieren, könnte man die Situation vielleicht dahingehend beschreiben, daß die praxisrelevante Errungenschaft des modernen zivilrechtlichen Ehrenschutzes bisher vor allem darin besteht, daß man den Ehrenschutz „gehobener" Volksschichten verbessert hat, und zwar vornehmlich gegenüber Auswüchsen im Bereich der Massenmedien und der Werbung. Dem gewöhnlichen Bürger und damit dem Gros der Verletzten ist mit der Möglichkeit der Zivilklage bisher wenig geholfen. Das hängt damit zusammen, daß die Zivilverfahren sich auf einer f ü r die normalen Beleidigungsfälle zu hohen Ebene bewegen. Es geht bei den einschlägigen Zivilprozessen nach heutiger Praxis regelmäßig um außergewöhnliche Streitwerte, weshalb auch das Kostenrisiko hoch ist. Außerdem ist das Verfahren, sei es wegen des Streitwerts, sei es wegen der ebenfalls erhobenen Unterlassungsklage, fast ausnahmslos ein landgerichtliches Verfahren. Der klagende Verletzte bedarf deshalb eines Anwalts. Und dem Gericht fehlt die räumliche Nähe zu dem zu entscheidenden Sachverhalt. Auch sind solche Zivilprozesse zumeist außerordentlich langwierig. Aber vielleicht ließen sich diese Tatsachen noch als Anfangsschwierigkeiten abtun. Größeres Gewicht haben deshalb die grundsätzlichen Bedenken, die sich dagegen erheben, den Ehrenschutz und darüber hinaus die anderen Privatklagematerien weitestgehend allein dem Zivilrecht zu überlassen. Einmal würde damit etwas, was seit Jahrzehnten als Mangel der Gesetzgebung beklagt wird, nämlich die zu niedrige Einstufung des Persönlichkeitsschutzes gegenüber dem Schutz des Vermögens und anderer Rechtsgüter, noch verstärkt werden. Ein solcher gesetzgeberischer Abbau staatlicher Sanktionsandrohungen würde rechtliche Zeichen setzen, die auf die Bewertungsskala der Rechtsgüter nicht ohne Einfluß bleiben könnten, und schon deshalb dem Schutz der durch die Privatklagetatbestände erfaßten Rechtsgüter im Endeffekt nicht förderlich sein 20 . Ernster noch als diese rechtspolitische Überlegung ist das Bedenken, ob das zivile Deliktsrecht und das Zivilprozeßrecht ihrer sachlichen Funktion nach überhaupt imstande wären, die bisher dem Strafrecht zugewiesenen Schutzaufgaben mit zu übernehmen. Das Zivilrecht zielt auf Schadens-

N J W 1971, 698 (Schauspielerin ./. Hersteller von Sexualmitteln), B G H M D R 1971, 1000 (Publizist ./. Rundfunkdiefredakteur), B G H M D R 1972, 505 (Ehefrau eines höheren Angestellten •/ Vorstandsvorsitzenden), OLG Köln N J W 1973, 850 (namhafter Kaufmann X Redakteur). — U m einen ausgesprochen atypischen Fall handelte es sidi in LG Nürnberg-Fürth N J W 1970, 2066. 20 Er wird deshalb auch weder in den Vorschlägen des E 1962 noch des A E zur Reform des Körperverletzungsrechts, Beleidigungsrechts und anderer für § 374 StPO einschlägiger Materien vorgenommen.

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ersatz ab sowie auf die Beseitigung einer bestimmten, konkreten Beeinträchtigung des Verletzten oder die Unterbindung der Gefahr ihrer Wiederholung. Deshalb schließt es seiner Natur nach alle gegen den Täter gerichteten weitergehenden Maßnahmen aus21. Ihm fehlt also ein differenziertes, nicht nur den Verletzten, sondern auch den Täter im Blick habendes Instrumentarium. Seiner begrenzten zivilrechtlichen Funktion gemäß folgt das Zivilverfahren zudem ganz anderen Prozeßgrundsätzen, als sie der strafprozessualen Regelung des Privatklageverfahrens zugrunde liegen: Insbesondere arbeitet es mit Beweislastumkehrungen (namentlich bei der Schuldfrage), auch ist es weithin ein schriftliches Verfahren, kennt nicht die Untersuchungsmaxime, kennt auch keine Unterstützung durch die Polizei beim Führen der Ermittlungen, und ohne Anwalt ist kaum auszukommen. Im übrigen zeigt die Tatsache, daß nach wie vor sehr viel häufiger Privatklagen als an ihrer Stelle entsprechende Zivilklagen erhoben werden, recht deutlich: Es geht für den Verletzten vor allem darum, daß der Verletzer als verantwortlicher Täter zur Rechenschaft gezogen wird, dagegen ist das Bedürfnis, daß der Verletzer zur Wiedergutmachung der Beeinträchtigung Schmerzensgeld zahlt, offensichtlich nicht dominierend und auch bei der Körperverletzung nur ein weiterer Verfolgungsaspekt 22 . Das alles bestätigt, daß das Zivilrecht — jedenfalls so, wie es in unserer Rechtsordnung konzipiert ist — keinen Ersatz für den strafrechtlichen Schutz der durch die Privatklagetatbestände erfaßten 21 Zu den Abgrenzungsfragen, die dabei im Rahmen des Schmerzensgeldes („Genugtuungsfunktion") auftaudien, im einzelnen Hirsch, Engisch-Festschrift, 1969, S. 304 ff. Siehe auch die folgende Anm. 22. 22 Bei der Körperverletzung, jedenfalls der vorsätzlichen, will der Verletzte eine A h n d u n g der T a t und ein Schmerzensgeld f ü r die erlittene körperliche Unbill. Bei der Beleidigung steht dagegen — abgesehen von einem hinzutretenden Widerrufsbegehren usw. — regelmäßig das Ahndungsverlangen im Vordergrund, w ä h r e n d das Bedürfnis nach einem an den Verletzten zu zahlenden Schmerzensgeld, eben weil kein auszugleichendes körperliches Leiden vorliegt, neben der A h n d u n g regelmäßig nur untergeordnete Bedeutung hat. Diese Unterschiede werden heute leicht dadurch verwischt, d a ß die Zivilgerichte (seit B G H Z 18, 149) dazu tendieren, im Gewände des Schmerzensgeldes pönale Sanktionen auszusprechen (Genugtuungslehre bei § 847 BGB), wobei die sachliche Verschiedenheit allerdings wieder damit zutage tritt, d a ß der Beleidigte zumeist befriedigt ist, wenn das pönale „Schmerzensgeld" vom Beklagten an eine karitative Institution gezahlt wird. Zur Kritik der Rspr. im einzelnen Bötticher, M D R 1963, 353 ff.; Verh. des 45. Deutschen Juristentages II C 7; Hirsch, a. a. O., Rüping, ZStW 85, 683 f.; anders Deutsch, E. WahlFestschrift, 1973, S. 339 ff. Im übrigen hat auch diese J u d i k a t u r dem zivilrechtlichen Ehrenschutz aus den genannten Gründen nicht zu einer Breitenwirkung verhelfen können, wobei hinzukommt, d a ß das Persönlichkeitsrecht in schwerer Weise verletzt sein muß, um einen Schmerzensgeldanspruch entstehen zu lassen.

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Rechtsgüter darstellt 2 3 . D a m i t aber wird vollends deutlich, d a ß die gegenwärtige Situation auf diesem Gebiet einen ausgesprochenen Rechtsnotstand bildet, zu Lasten vor allem der sozial schwächeren Bevölkerungsschichten 24 . 4. Es ist der G e d a n k e aufgetaucht, die Privatklageproblematik d a durch zu lösen, d a ß der Gesetzgeber parallel zu § 153 a Abs. 2 n. F. S t P O dem Richter die Möglichkeit in § 383 Abs. 2 S t P O eröffnet, die Einstellung von der Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung oder die Staatskasse (Bußzahlungsauflage) abhängig zu machen25. Eine solche Verfahrensweise, die hier und dort wohl bereits seit längerem ohne Rechtsgrundlage praktiziert wird 2 6 , hat auf den ersten Blick f ü r sich, d a ß sie ohne Ergehen eines Kriminalstrafurteils eine über die zivilrechtliche Wiedergutmachung hinausgehende „Rechtsfolge" ermöglicht. Auf der anderen Seite setzt ein solcher Harmonisierungsvorschlag voraus, d a ß der neue § 153 a S t P O ü b e r h a u p t schon f ü r seinen jetzigen Anwendungsbereich als sachgerecht anzusehen ist. D a v o n k a n n jedoch keine Rede sein. Mit Recht ist im Schrifttum die juristische und soziale U n h a l t b a r k e i t dieser Vorschrift gerügt worden 2 7 . Sie l ä u f t auf ein „ F r e i k a u f v e r f a h r e n mit Strafcharakter" (Schmidhäuser) hinaus, das sehr ernste G e f a h r e n der Ungleichbehandlung u n d — da gerade den finanziell leistungsfähigen T ä t e r n ermöglicht werden würde, eine Anklageerhebung oder Verurteilung durch Geldzahlungen abzuwenden — sogar der Klassen23 Vgl. schon Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 187 Anm. 107, 243 Anm. 91; Engisch-Festschrift, 1969, S. 304 ff.; LK 9. Aufl., § 2 3 1 StGB Rdn. 8. — Auf die Bedenken, die sich gegenüber neueren Vorschlägen erheben, die Ladendiebstahlsfälle teilweise unter zivilrechtlicher Etikettierung zu lösen, kann im Zusammenhang dieser Untersuchung nicht eingegangen werden. 24 Auf letzteres habe ich bereits auf der Regensburger Strafrechtslehrertagung 1970 hingewiesen, vgl. ZStW 83, 278. Audi Koewius, a . a . O . S. 157 stellt beim Privatklageverfahren eine „Zugehörigkeit des Großteils der Parteien zu der unteren Bevölkerungsschicht" fest. 25 Vgl. Dreher, Welzel-Festschrift, 1974, S. 939, der freilich bei der Behandlung seines Themas „Die Behandlung der Bagatellkriminalität" auf die Privatklageproblematik nicht weiter zu sprechen kommt, sondern lediglich am Schluß der den § 153 a n. F. S t P O betreffenden Ausführungen kurz bemerkt, d a ß eine sinngemäße Anwendung des § 153 a Abs. 2 Satz 1 u. 2 S t P O angezeigt sei. 29 Uber die Entwicklung der Auflagenpraxis ohne Rechtsgrundlage näher Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, 1966, S. 226 ff.; Bartsch, Z R P 1969, 130; Schmidhäuser, J Z 1973, 529 ff. Nach dem neuen § 153 a S t P O wird verfahrenstechnisch abgestuft zwischen der vorläufigen, mit Auflagen verbundenen Einstellung und der a u f g r u n d der Auflagenerfüllung erfolgenden endgültigen Einstellung. 27 Vgl. Baumann, Z R P 1972, 273; Hanack, Gallas-Festschrift, 1973, S. 339 ff.; Dencker, J Z 1973, 149 ff.; Schmidhäuser, J Z 1973, 529 ff.; Lange, Jahrreiß-Festschrift, 1974, S. 132. Siehe auch schon Krümpelmann, a . a . O . S. 226 ff. Eine Ehrenrettung versucht dagegen Dreher, a. a. O . S. 933 ff.

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justiz heraufbeschwört 28 . Sie ist deshalb geeignet, das Vertrauen in die Objektivität der Strafverfolgungsorgane zu erschüttern. Außerdem ist nicht zu übersehen, daß Bußzahlungsauflagen der Sache nach pönale Sanktionen darstellen, denen sich der Beschuldigte zwar nolens volens unterwirft, die aber dadurch ihren pönalen Charakter nicht verlieren. Es heißt auch ganz freimütig in der Begründung des Regierungsentwurfs, daß in den betreffenden Fällen nicht verantwortet werden könne, den Täter „ohne jede Sanktion" zu lassen 29 . Diese Sanktionen kommen nach § 153 a n. F. StPO in einer den strafprozessualen Elementarerfordernissen hohnsprechenden Weise zustande. Nicht nur, daß in den Fällen des § 153 a Abs. 1 StPO der Staatsanwalt damit eine Sanktionskompetenz erhält, sie setzen auch keinen Schuldnachweis voraus. Außerdem gerät die Regelung, indem sie den Beschuldigten vor die Alternative von Unterwerfung und Anklage stellt, leicht in Gegensatz zu den in § 136 a StPO ausformulierten Verfassungsgeboten 30 . Es stimmt auch wenig erhebend, wenn man sich bewußt wird, daß es eine dem § 153 a n. F. StPO verwandte Regelung schon einmal kurze Zeit gegeben hat: In der 4. Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13.12. 1944 wurde die Staatsanwaltschaft, auf die das uneingeschränkte Recht zur Einstellung bei Vergehen bereits übergegangen war, dazu ermächtigt, diese Einstellung mit Bußgeldauflagen zu verbinden 3 1 ; nach der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit ist die Verordnung durch Art. 8 II N r . 40 des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12. 9. 1950 ausdrücklich aufgehoben worden. Das Unglückliche bei der Neuregelung des § 153 a StPO liegt eben darin, daß die — unter Nichtbeteiligung der Wissenschaft arbeitenden — Urheber dieser Vorschrift das Problem der Kleinkriminalität einseitig unter einem justizökonomischen Blickwinkel betrachtet haben. Das Entscheidende wird darin gesehen, daß „dadurch kleinere Strafverfahren rasch und zweckmäßig ohne Schuldspruch und Hauptverhandlung erledigt werden" können und „damit zugleich Staatsanwaltschaften und Gerichten ermöglicht" wird, „sich mit der mittleren und schwereren Kriminalität intensiver 28

Vgl. Hanack, Dencker und Schmidbäuser a. a. O. BT-Drucksache VII/550 S. 298. Auch wenn sich der Beschuldigte ihnen unterwirft, bedeuten solche Sanktionen eine Übelszufügung, so daß sie einen pönalen Charakter haben. Dazu, daß die pönale Natur einer Sanktion sich allein durdi ihren Inhalt und nicht durch ihre Bezeichnung bestimmt — weshalb etwa das Bußgeld des OWiG eine pönale, wenngleich keine kriminalstrafrechtliche Sanktion ist —, näher Hirsch, Engisdi-Festschrift, 1969, S. 304 ff. (insbesondere bzgl. pönaler Sanktionen im Schadensersatzrecht). 30 Dencker, a. a. O. S. 149. 31 RGBl. I S. 339 ff. (§ 8 Abs. 3). 29

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zu befassen" 32 . Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht auch folgende Bemerkung Drehers: „Wenn man so will, kann man freilich grob sagen, daß sich der Beschuldigte von der weiteren Verfolgung loskauft . . . Sollte man nicht in diesem Punkt, wenn es um die Flut der Bagatellkriminalität geht, in der Tat ein bißchen pragmatisch denken dürfen?" 3 3 Treffend spricht Lange34 von „sachfremden prozeßökonomischen" Erwägungen. Aber auch wenn man davon ausgeht, daß wir mit dem gesetzgeberischen Fehlgriff des neuen § 153 a StPO noch einige Zeit werden leben müssen, wäre jedenfalls eine sinngemäße Übertragung (von Abs. 2) 35 ins Privatklageverfahren ein Widerspruch in sich. Bei § 153 a n. F. StPO handelt es sich um eine außerordentliche Rechtsfolgebestimmung für das Offizialverfahren, d. h. ein grundsätzlich bestehendes Interesse an der Verurteilung zu einer Kriminalstrafe kann lediglich ausnahmsweise dadurch entfallen, daß die in der Vorschrift genannten Auflagen erfüllt werden. Im Privatklageverfahren ist dagegen, wie sich gezeigt hat, eine Kriminalstrafe im Regelfall von vornherein unangemessen, weshalb hier die Einstellung des Verfahrens den normalen Verfahrensablauf bildet. Ein Verfahren, das aber als Kriminalstrafverfahren eingeordnet und damit der Sache nach auf eine kriminalstrafrechtliche Aburteilung gerichtet ist, erscheint widersprüchlich, wenn es diese Rechtsfolge in Wahrheit gerade nicht zum Ziele hat, sondern eine Einstellung unter Auflagen intendiert. Soweit man den Blick für die Praxis offenhält, wird man sich zudem fragen müssen, wie die für den Privatkläger sehr wichtige Kostenfrage geregelt werden sollte. Ihm können schließlich nicht in Fällen, in denen durch eine Bußzahlungsauflage das Sanktionsbedürfnis anerkannt worden ist, Kosten auferlegt werden. Andererseits käme eine Abwälzung der gesamten Kosten auf den Beschuldigten praktisch nur bei erwiesener Schuld in Betracht 38 . Die Kostentragungsfrage im Privatklageverfahren macht mithin zusätzlich deutlich, daß eine Konzeption wie die des § 153 a n. F. StPO — Sanktion ohne verfahrensmäßig korrekte Beweisaufnahme — nicht schlüssig ist.

32

Begründung BT-Drucksache V I I / 5 5 0 S. 298. A . a. O . S. 939. 34 A. a. O . ; s. auch schon Lange, H . Mayer-Festschrift, 1966, S. 514 f. 35 Sinngemäß hieße insbesondere, daß es zur vorläufigen Einstellung nicht auf die Zustimmung der Staatsanwaltschaft ankäme, aber auch — w i e die sadibedingte Regelung des § 383 S t P O zeigt — nicht auf die des Privatklägers. 38 Zur herrschenden Praxis bei der Kostenentsdieidung nadi § 471 Abs. 3 N r . 2 S t P O in Verbindung mit § 383 Abs. 2 S t P O siehe Diirwanger-Dempewolf, H a n d buch des Privatklagerechts, 3. Aufl., S. 454 f. 33

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Der Gedanke, die Privatklageproblematik durch Übernahme der Konstruktion des neuen § 153 a StPO doch noch kriminalstrafrechtlich lösen zu können, scheidet also ebenfalls aus 37 . 5. Wenn nun aber einerseits die Notwendigkeit eines umfassenden, dabei ebenso sachgerechten wie effizienten Rechtsschutzes besteht, andererseits dieser weder vom Kriminalstrafrecht noch allein vom Zivilrecht geboten werden kann, so muß die Lösung auf einem dritten Wege gesucht werden. Dieser besteht darin, daß die bisherigen Privatklagefälle aus dem Kriminalstrafrecht und Kriminalstrafprozeßrecht ausgeschieden und als nicht kriminelle Delikte in einem eigenen amtsrichterlichen Verfahren verfolgt werden, also in einer materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Lösung 38 . Während bei den Delikten gegen die Allgemeinheit die Entkriminalisierungsbemühungen zur Entstehung des Ordnungswidrigkeitenrechts geführt haben und dieses gleichzeitig eine erhöhte Effizienz mit sich brachte, ist das bei den Delikten gegen den einzelnen bestehende parallele Problem bisher vom Gesetzgeber nicht bewältigt worden. Es ist nicht einzusehen, weshalb hinsichtlich leichter Delikte gegen die Allgemeinheit, d. h. den Ordnungswidrigkeiten, ein effizienter Rechtsschutz zur Verfügung steht, während er in bezug auf Delikte gegen den einzelnen und damit auch die doch im Grundsatz gewichtiger eingestuften Delikte gegen die Person — immerhin Verletzungsdelikten — verkümmert. Diese Problematik geht über den Bereich der Privatklagedelikte hinaus, tritt bei ihnen aber am unmittelbarsten in Erscheinung, so daß hier die Lösung am allerdringlichsten ist 39 . Sie ist auch 37 Erst recht scheidet der Gedanke aus, eine Lösung mit Hilfe einer das „Absehen von Strafe" ermöglichenden Regelung zu suchen. Einerseits erginge damit ein hier unangemessener ^rimittu/strafrechtlicher Schuldspruch, andererseits fehlte es an der notwendigen Sanktion, außerdem ergäbe sich audi hier der im Text aufgezeigte Widerspruch, da das „Absehen von Strafe" dann in den Privatklagefällen das Normale sein würde. 38 In dieser Richtung (z. T. allgemein für die Bagatellkriminalität): H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962, S. 66; Peters, ZStW 77, 501; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, 1966, S. 240 f.; Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 243 Anm. 91; Engisch-Festschrift, S. 318; ZStW 83, 146 f., 176, 278; Zipf, GA 1969, 243 ff.; Kriminalpolitik, 1973, S. 74 f.; Grünwald, ZStW 82, 263 f.; Eser, Gesellschaftsgerichte in der Strafrechtspflege, 1970, S. 46 ff.; Baumann, JZ 1972, 3; ZRP 1972, 273 (für Vermögensdelikte); Dencker, JZ 1973, 150 f.; wohl auch Lange, a. a. O. 39 Zu einem besonders aktuellen Sonderproblem außerhalb der Privatklagedelikte ist allerdings nach der Beseitigung des § 370 Nr. 5 StGB der Bagatelldiebstahl geworden. D a ß man die bisherigen Mundraubfälle nicht, wie der E 1962 es tat, gemeinsam mit der Notentwendung als leichtes Delikt vom Diebstahl abgesetzt hat, nennt Lange, Jahrreiß-Festsdirift, 1974, S. 132 mit Recht „unbegreiflich". Freilich liegt die Wurzel der Fehlentwicklung bereits darin, daß der Gesetzgeber

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wegen des verhältnismäßig eng umgrenzten Bereichs am schnellsten zu realisieren und kann trotz der bei den Privatklagedelikten bestehenden Besonderheiten zu einigen Erfahrungen für ein späteres sachgerechtes Konzept bei den Offizialdelikten verhelfen. a) Die Richtung, in der die Lösung bei den Privatklagedelikten zu suchen ist, haben die Väter der StPO teilweise schon mit der prozessualen Sonderregelung der §§ 374 ff. StPO gewiesen, nur daß sie noch glaubten, das Gebiet nicht vom Kriminalstrafrecht trennen zu müssen. Was sie erkannten, aber war das soziale Bedürfnis für ein amtsrichterliches Verfahren in Fällen der gegen die Person gerichteten leichten Delinquenz, in dem ohne öffentliche Klage, vielmehr schon auf die Klage des Verletzten hin eine pönale Sanktion verhängt werden kann, ein Verfahren, in dem sich Verletzter und Verletzer gegenüberstehen, die Möglichkeit der Befriedung und Aussöhnung gewährt ist, außerdem ggf. eine zivilrechtliche Entschädigung, und zwar auch geringerer Größe, zugesprochen werden kann (man denke an die alten §§ 188 und 231 StGB). Ein solches volksnahes, friedensrichterliche Züge tragendes Verfahren ist, zumal für den Rechtsschutz der „kleinen Leute", unentbehrlich. Der Mangel der bisherigen Privatklagekonstruktion liegt also darin, daß man die betreffenden Fälle als Kriminalstraftaten einordnete und demgemäß auch in einem Kriminalstrafverfahren, wenngleich einer Sonderform, zur Aburteilung brachte, eben in der rein verfahrensrechtlichen Lösung. Der Gesetzgeber von 1877 sah nur die Alternative zwischen Kriminalstraf recht und Zivilrecht 40 , und von daher war es — weil es um eine ein deliktisches Verhalten ahndende Rechtsfolge geht — folgerichtiger, die Einordnung bei ersterem vorzunehmen, wenngleich es an Ungereimtheiten, etwa der Verhängung einer Kriminalstrafe ohne öffentliches Interesse und der Möglichkeit eines Vergleichs in einem Kriminalstrafverfahren, dabei nicht fehlte. Die Frage ist heute mithin die, wie man den in der Privatklagekonstruktion liegenden zutreffenden Ansatz weiterentwickeln kann. Dabei ist einsichtig, daß es sich bei der anzustrebenden sowohl materiellrechtlichen wie verfahrensrechtlichen Lösung um etwas andesich überhaupt in die Zwangslage gebracht hat, die „Reform" des bisherigen Übertretungstatbestands des § 370 N r . 5 StGB durdi eine sachwidrige A u f w e r t u n g z u m Vergehen vornehmen zu müssen. D a ß die Bagatelldelikte bereits materiellrechtlich v o m Kriminalstrafrecht abzuschichten sind, ist eben nidit erkannt worden. 40 Zur historischen Entwicklung der prinzipalen Privatklage siehe Gerland, GS 60, 167 ff., 212 ff.; Koewius, D i e Rechtswirklidikeit der Privatklage, S. 17 ff. Auch die früheren R e f o r m e n t w ü r f e sind aus dem Bannkreis dieser Alternative nidit herausgekommen.

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res handelt als die Verlagerung ins Ordnungswidrigkeitenrecht41. Denn dort geht es um — zumeist abstrakte — Gefährdungsdelikte in bezug auf Allgemeininteressen und primär ein verwaltungsbehördliches Verfahren, während hier die Verletzung von Individualrechtsgütern in Rede steht und von vornherein ein richterliches Verfahren erforderlich ist 42 . Materiellrechtlich hätte die Lösung so auszusehen, daß für die bisher dem Privatklageweg überlassenen Fälle eine besondere Deliktskategorie mit minderer Sanktion — vielleicht unter der Bezeichnung „Verfehlungen" — gebildet wird 43 . Bei ihr ginge es nicht um Kriminalstraftaten, sondern um nichtkriminelle sanktionsbedrohte Delikte. Der Sache nach handelt es sich um eine solche nichtkriminelle Sanktion auch bei der in § 153 a n. F. StPO vorgesehenen Bußzahlungsauflage, nur daß ihr wahrer Charakter infolge fehlender Herauslösung der Delikte aus dem Kriminalstrafrecht und wegen des im Zusammenhang mit der Einstellung eines Kriminalstrafverfahrens erfolgenden Ausspruchs verschleiert ist 44 . In dem an die Stelle des bisherigen Privatklageverfahrens tretenden neuen amtsrichterlichen Verfahren („modernisierten Privatklageverfahren") — einem vereinfachten mündlichen, schnellen und geschehensnahen Prozeß — würden keine Kriminalstrafen (damit auch keine Freiheitsentziehungen), sondern als mindere Sanktion (an den Staat zu zahlendes) Bußgeld verhängt werden. Darüber hinaus wäre daran zu denken, ein weiter gefächertes Repertoire nicht inkriminierender Sanktionen vorzusehen. Eine Verurteilung würde nicht als Vorstrafe gelten und auch sonst keine Registerfolgen nach sich ziehen. Außerdem sollte wegen des starken Hereinspielens der zivilrechtlichen Ansprüche das Adhäsionsverfahren vorgeschrieben sein. b) Gegenüber dem materiellrechtlichen Ansatz eines solchen Konzepts wendet Dreher45 ein, die Kategorie der „Verfehlungen" sei eine 4 1 Siehe aber auch H. Mayer, a. a. O. und vor allem Baumann, a. a. O. (bzgl. Bagatellkriminalität bei Vermögensdelikten). 4 2 Gegen den Gedanken einer Verlagerung ins Ordnungswidrigkeitenrecht überzeugend Dreher, Welzel-Festschrift, S. 926 ff. (d er allerdings davon die übrigen materiellrechtlichen Lösungsvorschläge zu wenig abhebt, siehe S. 925). Interessant in diesem Punkte auch die Darlegungen im Lehrkommentar zum StGB der D D R , § 4 Anm. 2. 4 3 Vgl. meinen Vorschlag in ZStW 83, 146 f., 176. In dieser Richtung auch Dencker, J Z 1973, 151. 44 Dencker, a. a. O. S. 146, 150 kommt deshalb zu dem Ergebnis, daß das eigentliche Ziel der Vorschrift die Einführung einer Sanktion ist, und bezeichnet die gewählte Konstruktion als „prozessualen Trick". 4 5 A. a. O. S. 926 Anm. 31.

G e g e n w a r : u n d Z u k u n f t des P r i v a t k l a g e v e r f a h r e n s

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Besonderheit des StGB der D D R , ihre Einführung bei uns scheitere schon daran, daß sie ein völlig anderes Reaktionensystem und eine ganz andere Gerichtsverfassung voraussetzten. Bei letzterem ist offenbar an die Zuständigkeit von sog. Gesellschaftsgerichten in der D D R gedacht. Indes verkennt dieser Einwand, daß es denjenigen, die auf die „Verfehlungen" im StGB der D D R verweisen, ausschließlich um die etwaige Übernahme einer brauchbaren Bezeichnung und den allgemeinen Gedanken der Herauslösung aus dem materiellen Kriminalstrafrecht geht. Es wäre sicherlich möglich, nötigenfalls auch einen anderen Terminus zu finden. Und daß die Gerichte, die sich nach dem obengenannten Vorschlag mit den „Verfehlungen" befassen sollen, nichts mit Gesellschaftsgerichten sozialistischer Prägung gemein haben, versteht sich von selbst 46 . Ebenfalls vermag nicht zu überzeugen, wenn Dreheri6° die Einführung jener Deliktskategorie als Rückschritt gegenüber der durch die Beseitigung der Übertretungen eingetretenen Entwicklung einschätzt und deshalb gegen sie vorbringt, man könne „das Rad der Rechtsgeschichte, das gerade über die Übertretungen hinweggeht, nicht wieder zurückdrehen". Denn es geht gerade nicht um die Wiedereinführung einer dritten Deliktsstufe innerhalb des Kriminalstrafrechts — für die in der Tat kein Raum wäre —, sondern um eine Deliktskategorie unter der Schwelle des Kriminalstrafrechts, parallel zu den Ordnungswidrigkeiten. Zum anderen drängt gerade die in der Uberweisung der meisten Fälle ins Ordnungswidrigkeitenrecht bestehende gesetzliche Entkriminalisierung der Übertretungen dazu, ähnliche Schritte auch für den unteren Bereich der gegen den einzelnen gerichteten Delikte zu unternehmen 47 . Auf die Notwendigkeit, nicht nur das „Ordnungsrecht", sondern darüber hinaus die kleine Kriminalität vom Kriminalstrafrecht abzutrennen, ist auch schon in der Großen Strafrechtskommission von Welzel48 hingewiesen worden, als dort die Abschaffung der Straftatstufe der Übertretungen zur Diskussion stand. 46

Z u diesen Fragen bereits Lange, H . Mayer-Festschrift, 1966, S. 4 9 7 ff., 513 f. A . a. O . S. 9 2 6 . 47 A u ß e r h a l b der P r i v a t k l a g e d e l i k t e ist das jetzt besonders deutlich b e i m M u n d raub g e w o r d e n ; d a z u o b e n A n m . 39. 48 N i e d e r s c h r i f t e n I, S. 87. Dreher, a. a. O . S. 925, freilich m e i n t gleichwohl, gegenüber den bereits b e i m m a t e r i e l l e n Recht a n s e t z e n d e n Vorschlägen v o n H. Mayer, Peters, Krümpelmann, Baumann und mir feststellen z u s o l l e n : „Solche I d e e n k a n n j e m a n d , der der P r a x i s u n d G e s e t z g e b u n g ebenso nahe steht w i e der Theorie, nur mit e i n i g e m Erstaunen zur K e n n t n i s n e h m e n . " D a b e i scheint mir übersehen z u sein, d a ß zur P r a x i s auch die Rechts Wirklichkeit der Instanzgerichte gehört. 460

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N ä h e r läge schon die Frage, ob nicht die Abspaltung von „Verfehlungen" auf einen Etikettenschwindel hinausliefe. So wäre unter Hinweis darauf, d a ß es der Sache nach auch hier um die Verhängung einer pönalen Sanktion geht, der Einwand denkbar, d a ß die Unterscheidung von Kriminalstraftat mit Geldstrafandrohung und „Verfehlung" mit Bußgeldandrohung lediglich einen Unterschied in der Terminologie bedeute. Demgegenüber ist jedoch anzumerken, d a ß die staatlichen Sanktionsmittel quantifizierbar sind und d a ß die kriminalstrafrechtliche Verurteilung — nicht zuletzt wegen ihrer stigmatisierenden Begleitwirkung — f ü r die Privatklagefälle zu hoch gegriffen ist. Auch unterscheidet sich das Kriminalstrafverfahren durch seine Ausrichtung an der mittleren und schweren Delinquenz, insbesondere durch seine empirische Verwissenschaftlichung und das Gewicht des Maßregelrechts, wesentlich von dem, was hier vonnöten ist. Im übrigen zeigt die Entwicklung des Ordnungswidrigkeitenrechts, d a ß es um mehr als Umetikettierungen geht. Nicht zuletzt ist dort deutlich geworden, d a ß die Verselbständigung das Herausbilden eigener, von kriminalstrafrechtlicher Sicht unabhängiger Bewertungsmaßstäbe ermöglicht. So sind die im Ordnungswidrigkeitenrecht verhängten Bußgelder o f t finanziell erheblich fühlbarer als die Geldstrafen, die zu der Zeit, als die Handlungen noch als Übertretungen geregelt waren, verhängt worden sind. Angesichts der Rechtswirklichkeit der P r i v a t klage bietet die Verselbständigung dieses Gebiets die einzige Chance, die während der Zugehörigkeit zum Kriminalstrafrecht entstandenen Rechtsschutzlücken zu schließen. c) Was die Durchführung der Abspaltung der „Verfehlungen" angeht, ist zu beachten, d a ß es sich bei den Privatklagefällen durchweg um unselbständige leichte Delikte handelt 4 9 . Denn die in § 374 S t P O aufgezählten einzelnen Strafbestimmungen umfassen im Unterschied zu den bisherigen Ubertretungsvorschriften und ebenfalls den O r d nungswidrigkeitsbestimmungen nicht nur leichte Delinquenz, sondern jeweils auch noch Handlungen von darüber liegendem Gewicht, was das Gesetz durch die Möglichkeit des Offizialverfahrens bei öffentlichem Interesse (§ 376, § 377 Abs. 2 S t P O ) berücksichtigt. Anders als sonst bei den unselbständigen leichten Delikten — die bei den meisten Vergehenstatbeständen denkbar sind — liegen die Dinge bei dem Katalog des § 374 S t P O (ausgenommen der nicht dorthin gehörende § 223 a StGB) aber schon derart, d a ß die leichte Delinquenz das N o r 49 Zur Einteilung in selbständige und unselbständige leichte Delikte vgl. H. Mayer, Zuchtgewalt und Strafrechtspflege, 1922, S. 63 f.; GS 96, 407 f.; Krümpelmann, a. a. O. S. 36 f.

Gegenwart und Zukunft des Privatklageverfahrens

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male bildet. Fälle, in denen ein durch das Gewicht der Tat bedingtes öffentliches Interesse an der Kriminalstrafverfolgung besteht, sind hier Ausnahmen von der Regel 50 . Die konstruktive Ideallösung läge in einer tatbestandlichen Ausgrenzung der „Verfehlungen" aus den Kriminalstrafbestimmungen, ebenso wie das bei den Ordnungswidrigkeiten geschehen ist, also in der Bildung selbständiger „Verfehlungs"-Tatbestände, etwa in einem Anhang zum StGB. Sie scheidet jedoch schon deshalb aus, weil dazu entsprechende Vorarbeiten fehlen und mit ihnen auch kaum in absehbarer Zeit gerechnet werden könnte. Darüber hinaus erhebt sich die Frage, ob eine selbständige Vertypung sinnvoll wäre. Anders als bei den Ordnungswidrigkeiten, bei denen einzelne, typische Gefährdungshandlungen zu erfassen sind, geht es hier um Abstufungen innerhalb der Verletzungshandlungen, so daß abstrakte Tatbestandsbeschreibungen nach aller Erfahrung unzulänglich und kasuistisch sein würden. Hinzu kommt, daß vor einer Bewährung der Entkriminalisierung der „Verfehlungen" leicht durch die tatbestandliche Herausnahme aus den bisherigen Strafbestimmungen das Mißverständnis entstehen könnte, dem Gesetzgeber sei es tatsächlich nicht mehr ernst mit dem Rechtsschutz des einzelnen, obwohl gerade dessen Wiederherstellung intendiert wäre. Im Schrifttum wird eine tatbestandliche Verselbständigung denn auch mit Recht als unzweckmäßig angesehen 51 . Es kommt vielmehr nur eine Differenzierung im konkreten Fall in Betracht. Erforderlich wäre deshalb, daß bei den in den Katalog des § 374 StPO gehörenden Strafbestimmungen im Anschluß an die Strafdrohung gesagt wird: „oder als Verfehlung mit Geldbuße 52 bis zu . . . geahndet". Außerdem brauchte man im Allgemeinen Teil eine Regelung dahingehend, daß bei Strafbestimmungen, die ausdrücklich auch eine Ahndung als Verfehlung zulassen, vom Vorliegen einer Verfehlung auszugehen ist, sofern nicht wegen des besonderen Unrechtsgrades der Tat ein öffentliches Interesse an einer Ahndung als Straftat gegeben ist 53 . 50 Sie sind bei allen im Katalog des § 374 S t P O aufgeführten Vorschriften nicht nur rechtlich, sondern auch praktisch möglich. Als oberhalb der entkriminalisierten Privatklagefälle stehende echte Kriminalstraftaten würden sie nach der vorgeschlagenen Lösung eine deutliche Aufwertung erfahren, während sie bisher nur allzu leicht das Schicksal der übrigen Privatklagefälle teilen. 51 Vgl. Krümpelmann, a . a . O . S. 238 ff.; Dencker, JZ 1973, 150 f.; auch schon Hirsch, ZStW 83, 145 ff. 52 Falls man das Sanktionenrepertoire, wie oben erwogen, über die Geldbußen hinaus erweitert, wären auch die anderen Sanktionen zu nennen. 53 Vgl. Hirsch, ZStW 83, 147, 176. Für eine Regelung im Allgemeinen Teil schon Krümpelmann, a. a. O. S. 240. — Auf das verwirklichte Unrecht (i. S. des

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d) Daß die „Verfehlungen" in einem selbständigen Verfahren außerhalb des Kriminalstrafverfahrens zu verfolgen wären, hätte — wie schon betont — nichts mit dem gesellschaftsgerichtlichen Verfahren der DDR-Gerichtsverfassung zu tun, aber auch nichts mit dem friedensrichterlichen Verfahren, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg in Baden-Württemberg praktiziert worden ist 54 . Die damalige badenwürtt. Friedensgerichtsbarkeit ist, abgesehen von ihrer Unvereinbarkeit mit der Gewaltenteilung (es bestand eine personale Bindung an die Gemeindeverwaltung), mit Recht auf Ablehnung gestoßen, weil die „Gemeindefriedensgerichte" reine Laiengerichte waren und es sich daher um ein Verfahren minderer rechtlicher Qualität handelte 55 . Was demgegenüber hier vorgeschlagen wird, ist ein amtsrichterliches Verfahren, nämlich ein modernisiertes, vom Kriminalstrafverfahrensrecht getrenntes Privatklageverfahren. Das Gemeinsame mit jener Friedensgerichtsbarkeit besteht nur darin, daß der Richter — wie schon bisher bei der Privatklage — nicht bloß die Aufgabe der Ahndung der T a t hat, sondern möglichst auch eine Befriedung zwischen Verletztem und Verletzer herbeiführen soll. Das hängt mit der Eigenart der in § 374 StPO aufgezählten Delikte zusammen. Es handelt sich hier typischerweise um persönliche Konflikte, und zwar vielfach von Personen, die in nachbarschaftlicher, beruflicher, geschäftlicher, freizeitlicher oder sonstiger engerer sozialer Berührung miteinander stehen 56 . Zur Bereinigung bedarf es der mündlichen Verhandlung vor personalen Unrechtsbegriffs), nicht auf die Schuld (im dogmatischen Sinne) ist abzustellen, da das Unrecht als generalisierender Maßstab das Kriterium für die Abstufung der Deliktskategorien bildet. 5 4 Aufgrund des württ.-bad. Gesetzes Nr. 241 über die Friedensgerichtsbarkeit vom 29. März 1949 (RegBl. S. 47). 5 5 Zur Verfassungswidrigkeit der bad.-württ. Regelung siehe BVerfGE 10, 200. Allgemein kritisch insbesondere Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Vor § 374 Rdn. 30 u. 32 (mit weit. Nachw.). Für die Einordnung der Privatklagedelikte in ein Friedensverfahren aber Peters, Strafprozeßrecht, 2. Aufl., S. 510; auch tritt Doering, Beleidigung und Privatklage, S. 124 f., 128 dafür ein, den Schiedsmännern die Befugnis zu verbindlichen Sdiieds- oder Friedenssprüchen einzuräumen. Abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken erhebt sich gegenüber solchen Bestrebungen indes noch speziell der Einwand, daß ein Laienverfahren es unmöglich machen würde, für die außerdem beabsichtigte Geltendmachung zivilrechtlicher Rechtsfolgen den Adhäsionsprozeß vorzuschreiben, wie das angezeigt wäre. Denn das komplizierte zivile Haftungsrecht ist jedenfalls nur von einem Juristen beherrsdibar und verlangt einen juristisch exakten Prozeß. 5 6 Vgl. die statistischen Angaben bei Doering, a . a . O . S. 27 fF.; Koewius, Die Rechtswirklichkeit der Privatklage, S. 62 ff. Zur Befriedungsfunktion siehe etwa Gerland, GS 60, 219 f.; Schorn, Das Recht der Privatklage, 1967, S. 145 f. — Diese Eigenart begrenzt auch die Möglichkeit, den Kreis der Privatklagedelikte zu erweitern; vgl. hierzu Maiwald, GA 1970, 49; Koewius, a . a . O . S. 44 ff. Umgekehrt wird man den § 230 StGB nicht deshalb aus dem Katalog herausnehmen können,

Gegenwart und Zukunft des Privatklageverfahrens

833

e i n e m o r t s n a h e n G e r i c h t 5 7 . A u ß e r d e m ist eine B e f r i e d u n g n u r möglich, w e n n in das V e r f a h r e n tunlichst alle rechtlichen A s p e k t e

einbezogen

w e r d e n , a l s o auch die zivilrechtlichen ( S c h a d e n s e r s a t z , W i d e r r u f d e r ehrenrührigen Behauptung etc.58). E i n V e r f a h r e n dieser A r t ist n a t u r g e m ä ß v o m V e r l e t z t e n selbst z u b e t r e i b e n . D i e Z u s t ä n d i g k e i t einer — w e n n auch n u r a u f A n t r a g t ä t i g werdenden



Anklagebehörde

wäre

der Befriedungsaufgabe

nicht

dienlich. A n d e r R o l l e des V e r l e t z t e n , K l ä g e r u n d d a m i t P r o z e ß s u b j e k t eines d e r a r t i g e n V e r f a h r e n s z u sein, ist d a h e r schon aus diesem G r u n d e nicht v o r b e i z u k o m m e n .

A l l e systematischen E i n w ä n d e ,

die

i n s o w e i t gegenüber d e r E i n r i c h t u n g d e r P r i v a t k l a g e e r h o b e n w o r d e n s i n d 5 9 , h a b e n sich angesichts d e r B e d ü r f n i s s e d e r W i r k l i c h k e i t

nicht

d u r c h z u s e t z e n v e r m o c h t , m a g dabei z u s ä t z l i c h auch die S o r g e , d a ß die S t a a t s a n w a l t s c h a f t e n m i t solchen F ä l l e n ü b e r s c h w e m m t w e r d e n k ö n n weil bei ihm anders gelagerte Fälle einen zahlenmäßig hohen Anteil haben (Verletzungen im Straßenverkehr). Dem steht entgegen, daß sich § 230 StGB nicht grundsätzlich höher einstufen läßt als § 223 StGB. Nur bewirkt die Tatsache, daß die fahrlässige Körperverletzung im Unterschied zur vorsätzlichen (§§ 223—225 StGB) nicht weiter tatbestandlich aufgeschlüsselt ist, daß hier Fälle, in denen in concreto eine Kriminalstrafe angezeigt ist, häufiger vorkommen als bei § 223 StGB. 57 Entsprechend der Eigenart der Privatklagefälle ist es auch sachentsprechend, wenn § 388 StPO die Möglichkeit der Widerklage vorsieht. 5 8 Der Adhäsionsprozeß muß deshalb hier zur Regel gemacht werden. Zur besonderen Dringlichkeit einer solchen Regelung in Beleidigungssachen im einzelnen Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 182 ff. (gerade auch in bezug auf „Feststellungsverfahren"). Daß die §§ 403 ff. StPO bisher nur geringe Bedeutung erlangt haben, liegt an der mangelhaften gesetzlichen Ausgestaltung dieses Verfahrens. Überhaupt läßt es sich nur schwer mit einem Kriminalstrafverfahren in prozessuale Harmonie bringen. Anders verhält es sich jedoch bei einem entkriminalisierten Privatklageverfahren, weil hier ein flexibles verfahrensmäßiges Vorgehen ohne Beeinträchtigung des Beschuldigten (Beklagten) möglich ist. — Auch die Möglichkeit des Vergleichs spricht für das Adhäsionsverfahren. Allerdings ist für die gegenwärtige Praxis, dem Privatkläger einen Vergleich mehr oder weniger aufzunötigen, in einem modernisierten Privatklageverfahren kein Raum mehr. Ein Privatkläger, der vom Richter unter Androhung der Rechtsverweigerung zu einem Vergleich getrieben wird, ist nicht befriedet, sondern frustriert. Das Normale hat in einem entkriminalisierten Verfahren deshalb die Verhängung der vorgesehenen Sanktion zu sein. Da sie nicht diffamierend ist, vielmehr in einer Buße besteht, eignet sie sich durchaus als Teil einer in ein Urteil mündenden Konfliktbeilegung. 5 * Vgl. die Nachweise oben Anm. 11. Dagegen hat Zipf, Kriminalpolitik, 1973, S. 75 jüngst mit Recht wieder auf die Unentbehrlichkeit der Klägerrolle des Verletzten hingewiesen. Seine Annahme allerdings, ich hätte in ZStW 83, 147 einen gegenteiligen Standpunkt vertreten, berücksichtigt nicht, daß dort allein von der Abschaffung des „bisherigen Privatklageverfahrens für Kriminalstraftaten" die Rede ist; im übrigen wäre andernfalls die dort ebenfalls erhobene Forderung, für das entkriminalisierte „Verfehlungs"-Verfahren den Adhäsionsprozeß zur Regel zu machen, auch kaum realisierbar.

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ten, mitgespielt haben. Darüber hinaus wären sie gegenüber einem entkriminalisierten Privatklageverfahren, wie es hier vorgeschlagen wird, auch im theoretischen Ansatz nicht berechtigt. Es leuchtet zwar ein, daß nach den Vorstellungen, die man inzwischen von Rang und Aufgabe des Kriminalstrafverfahrens hat, eine auf Verhängung einer Kriminalstrafe gerichtete Klage nicht in die Hand des Verletzten gehört. Dagegen muß ein entkriminalisierter Ahndungsanspruch nicht deshalb, weil es sich um einen öffentlichen Anspruch handelt, auch von einem öffentlichen Kläger geltend gemacht werden 60 . Vielmehr steht es dem Gesetzgeber frei, eine Delegierung vorzunehmen, wo ihm dies zweckdienlich erscheint. So scheitert auch das Institut der Popularklage, wie es teilweise noch in anderen Rechtsordnungen existiert, nicht daran, daß der geltend gemachte Anspruch ein öffentlicher ist. Mit dem Ordnungswidrigkeitenverfahren (Bußgeldverfahren) hat das hier vorgeschlagene neue Privatklageverfahren außer der Entkriminalisierung und damit dem Umstand, daß keine freiheitsentziehende Sanktion in Rede steht, vor allem gemein, daß Gesichtspunkte der Spezialprävention in ihm im Unterschied zum Kriminalstrafverfahren zurücktreten. Spielt im Ordnungswidrigkeitenrecht die Generalprävention eine dominierende Rolle, so handelt es sich in den Privatklagefällen vor allem darum, den Konflikt zwischen Verletztem und Verletzer durch ausgleichende Gerechtigkeit zu lösen. Die wichtigste Abweichung vom Bußgeldverfahren aber liegt darin, daß ein mündliches Gerichtsverfahren notwendig ist. Auf die hierfür bestehenden Gründe wurde oben schon hingewiesen. Hinsichtlich des Erfordernisses des volljuristisch vorgebildeten Berufsrichters bleibt noch zu bemerken, daß die mit dem Verfahren erstrebte Gesamtbereinigung des Falles sogar einen besonders qualifizierten Richter verlangt: Er muß sich nicht nur im Strafrecht auskennen, sondern auch das zivile Haftungsrecht präsent haben und darüber hinaus Persönlichkeit genug sein, um die mündliche Verhandlung mit den zwei sich befehdenden Parteien souverän zu beherrschen. Die Vorurteile, die viele Richter bisher gegenüber dem Privatklageverfahren haben, könnten sich ins Gegenteil wenden, sobald dieses Verfahren so ausgestaltet wird, daß grundsätzlich auch die zivilrechtliche Seite mit einbezogen ist und sich damit an dieser Stelle der Rechtspflege noch eine Möglichkeit zu einer universalrichterlichen Tätigkeit bietet 61 . 80

Darüber im einzelnen Gerland,

GS 60, 171 ff.; außerdem Maiwald,

GA 1970,

48. 6 1 Sie hätte überdies audi die positive Auswirkung, daß durdi das Nebeneinanderstehen von Bußsanktion und Schadensersatz die Versuchung, Bußsanktionen als Schadensersatz zu deklarieren (vgl. oben Anm. 22), entfällt.

Gegenwart und Zukunft des Privatklageverfahrens

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e) Was die technische Realisierbarkeit dieses Konzepts einer modernisierten Privatklage betrifft, geht es vor allem um die Frage, wie angesichts der konkreten Abgrenzung von „Verfehlungen" und Kriminalstraftaten gewährleistet wäre, daß der jeweilige Sachverhalt auch im dafür vorgesehenen Verfahren abgeurteilt werden kann. Es ist leicht möglich, daß sich eine Tat bei der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens als Verfehlung darstellt, in der Beweisaufnahme aber das Vorliegen einer Kriminalstraftat deutlich wird — und umgekehrt. Indes ist eine solche Problematik für den Gesetzgeber nicht neu. Schon bisher besteht sie im Bereich der §§ 374 ff. StPO insoweit, als sich nachträglich der Übergang vom Privatklageverfahren ins Offizialverfahren ergeben kann (vgl. § 377 StPO). Geht es dabei noch übereinstimmend um ein Kriminalstrafverfahren, so findet sich der Ubergang zu einem selbständigen anderen Verfahren im Verhältnis von Kriminalstraf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren (Bußgeldverfahren). Wie § 81 O W i G bestimmt, hat das im Bußgeldverfahren angerufene Gericht (§ 68 OWiG) die Möglichkeit des Übergangs zum Strafverfahren. Umgekehrt hat gemäß § 82 O W i G der Straf rieht er eine als Straftat angeklagte Tat auch als Ordnungswidrigkeit zu verfolgen; beschränkt sich die Verfolgung auf die Ordnungswidrigkeit, so ist an Stelle des Strafverfahrensrechts das Recht des O W i G anzuwenden. Diese flexible Regelung wäre auf das Verhältnis von Kriminalstrafverfahren und Privatklageverfahren neuer Art zu übertragen. Im übrigen liegt in dem sich aus dem hier vertretenen materiellrechtlichen Ansatz ergebenden Zwang, daß vom Gericht zu prüfen ist, ob es sich um eine „Verfehlung" oder eine Kriminalstraftat handelt, keine überflüssige Komplizierung des Verfahrens. Ebenso wie beim Verhältnis der Kriminalstraftaten zu den Ordnungswidrigkeiten ginge es bei dem zu den „Verfehlungen" um eine gewichtige materielle Abstufung, die nicht dem freien Ermessen der Staatsanwaltschaft überlassen bleiben kann. Schließlich ergäben sich auch hinsichtlich des bisherigen Strafantragsrechts Begradigungen: Ist das Delikt als „Verfehlung" einzustufen, bedarf es eines Antrags des Verletzten 62 . Ist es dagegen Kriminalstraftat, verbleibt f ü r ein auf den Bagatellcharakter gestütztes Strafantragserfordernis naturgemäß kein Raum; hier kann der Gedanke des § 232 StGB generalisierend übernommen werden. Lediglich bei den §§ 185 ff. StGB ist ein Antrag des Verletzten weiterhin stets • 2 Der jetzige Reditszustand, der Privatklagedelikte kennt, die nicht Antragsdelikte sind, wird der Eigenart dieser Deliktsgruppe nicht gerecht; vgl. Maiwald, a. a. O.

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zu verlangen, also ebenfalls dann, wenn die Tat das Gewicht einer Kriminalstraftat hat, weil bei den Beleidigungsdelikten durch die Notwendigkeit des Antrags auch erreicht werden soll, den Verletzten vor unerwünschter Bloßstellung zu schützen.

III. Wie auch immer sich der Gesetzgeber zu Art und Weise der Reform des Privatklagebereichs stellen mag, muß er sich jedenfalls bald einmal bewußt werden, daß die Reaktivierung des Rechtsschutzes hier eine vordringliche Gesetzgebungsaufgabe bedeutet. In gewisser Hinsicht bildet das Faktum, daß die mit der Vorbereitung von Gesetzentwürfen befaßten Stellen nicht des in diesem Bereich eingetretenen Rechtsnotstandes inne geworden sind oder ihn subjektiv verdrängt haben, geradezu ein Lehrstück für eine ohne genügende Tuchfühlung mit der Wirklichkeit erfolgende und etwas schmalspurig betriebene Kriminalpolitik. Diese in den letzten Jahren fast mit Absolutheit auf Resozialisierung und Liberalisierung fixiert, bedingt durch die Faszination solcher Anliegen. Dagegen scheint der als Folge der im Kriminalstrafrecht eingetretenen Gewichtsverschiebungen zum Problem gewordene Schutz der Verletzten — bei der Privatklage gerade von besonders rechtsschutzbedürftigen, sozial schwächeren Bevölkerungsschichten — weit weniger in den Blick gekommen zu sein. Wenn daher hier eine baldige Modernisierung des Privatklageverfahrens empfohlen wird, so soll damit nicht in Reformeuphorie leichtfertig ein neues Reformproblem vom Zaune gebrochen werden, sondern es geht allein darum, daß eine negative, nicht bedachte Auswirkung allgemeiner strafrechtlicher Reformentwicklungen vom Gesetzgeber endlich gesehen und demnächst ausgeglichen wird.

VERKEHRSRECHT — RECHT DER ORDNUNGSWIDRIGKEITEN

Zur Problematik der Entziehung der Fahrerlaubnis für die Führung von Kraftfahrzeugen durch die Gerichte und der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörden REINHARD BEINE

I. In seiner Schrift über die „Doppelkompetenz von Strafgericht und Verwaltungsbehörde zur Entziehung der Fahrerlaubnis" 1 stellt Schendel fest, „daß dem Gesetzgeber die Koordinierung der Doppelkompetenz von Strafgericht und Verwaltungsbehörde bei der Entziehung der Fahrerlaubnis gelungen sei", und Naumann2 bemerkt in seiner Rezension u. a.: „Wesentlich Neues kann man von der Schrift nicht erwarten, da auch etwa seit 1966 die Probleme des § 4 Abs. 3 StVG kaum noch Anlaß zu höchstrichterlichen Entscheidungen gegeben haben." Demgegenüber ist nach Cramer3 „die Konzeption der geltenden Regelung nicht brauchbar", und das Verkehrssicherheitsprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen vom 12. 6.1973 sieht in dieser Doppelkompetenz die Gefahr widersprüchlicher Ergebnisse, der das Gesetz durch verschiedene Bestimmungen vorzubeugen versuche 4 . „Sie können jedoch die Diskrepanz nicht beseitigen, die dann entsteht, wenn das Gericht die Fahrerlaubnis entzieht und eine Sperrfrist verhängt, der Betroffene aber nach Ablauf der Sperrfrist eine neue Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörde erst dann erhält, wenn diese ihn zum Führen von Kraftfahrzeugen (wieder) als geeignet ansieht. Wie die Praxis lehrt, sieht der Betroffene nicht ein, daß es sich in einem solchen Falle nicht um eine doppelte Bestrafung handelt. Er versteht häufig nicht, daß die Verwaltungsbehörde an die gerichtliche Entscheidung über seine Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges nicht gebunden ist." 1

Hamburg 1974, S. 75. DVB1. 1974, S. 955. 3 „Unfallprophylaxe durch Strafen und Geldbußen? Vorschläge zu einer N e u gestaltung des Sanktionensystems im Bereich des Verkehrsredits", Hamburg 1974, S. 66 ff. 4 S. 69/70. 2

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Reinhard Beine

Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen 5 strebt deshalb eine Lösung dieser gesetzlichen Problematik an, wodurch unterschiedliche Ansichten über die Fahrtauglichkeit des Betroffenen zwischen Gericht und Verwaltungsbehörde vermieden werden. Diese Gegensätzlichkeit der Auffassungen gibt Veranlassung zu einer systematischen und rechtspolitischen Betrachtung der Fragen, die in der Praxis bedeutsam sind, was Naumann6 zu verkennen scheint7. Wegen der Komplexität der Materie und der Fülle der Rechtsprechung und Literatur sowie der Knappheit des zur Verfügung stehenden Raumes kann hier die gesamte Problematik der „Rechtsbeziehungen" zwischen § 4 Abs. 3 StVG und den §§ 69, 69 a StGB (früher: §§ 42 m—o) jedoch nicht aufgezeigt werden. Die folgende Untersuchung wird sich darum primär mit der „schwachen Nahtstelle" der gesetzlichen Regelungen zwischen § 4 Abs. 3 StVG und § 69, § 69 a Abs. 1 und 7 StGB befassen, d. h. mit der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nach Ablauf der straf gerichtlichen Sperrfrist. Dabei werden vornehmlich folgende Fragen zu behandeln sein: — Ist die Verwaltungsbehörde an die strafgerichtliche Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen gebunden? — — Ist die Verwaltungsbehörde nach Ablauf der gerichtlichen Sperrfrist (§ 69 a Abs. 1 StGB) verpflichtet, dem Betroffenen die Fahrerlaubnis wiederzuerteilen? — — Trifft der Strafrichter bei Abkürzung der Sperrfrist nach § 69 a Abs. 7 StGB eine neue Entscheidung über die Eignung, die für die Verwaltungsbehörde bei der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis entsprechend § 4 Abs. 3 StVG maßgeblich ist? —

II. Nach § 4 StVG ist die Verwaltungsbehörde für die Entziehung der Fahrerlaubnis (FE) zuständig. Sie hat die FE zu entziehen, wenn sich der Berechtigte zum Führen eines Kraftfahrzeuges als ungeeignet erweist. Die Rechtsfrage, ob jemand zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist, unterliegt der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung (§ 40 VwGO). Als gesicherte rechtliche Erkenntnis ist festzuhalten, daß die Eignung des Berechtigten zum Führen von Kraftfahrzeugen durch körperliche, geistige oder sittliche (charakterliche) Män5

A. a. O. S. 70. A . a . O . S. 955. 7 Der Grund dafür liegt darin, daß „Musterprozesse" nicht mehr geführt werden, weil B G H und BVerwG judiziert haben und bei der langen Dauer des Rechtsweges die Betroffenen in der Regel die Fahrerlaubnis zurückerhalten, bevor der Instanzenzug ausgeschöpft ist. 5

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gel ausgeschlossen wird. Nach einer grundlegenden Entscheidung des B V e r f G 8 ist diese Regel nicht grundgesetzwidrig. Die Ungeeignetheit muß aus erwiesenen Tatsachen bei der rechtlichen Würdigung hinreichend deutlich hervorgehen. Die Beurteilung der Ungeeignetheit, ihre Begrenzung unterliegt wie jede Gesetzesnorm dem Maßgebot 9 . Die erwiesenen Tatsachen haben stets nur indiziellen Charakter und sind vollständig und sachgerecht abzuwägen. Für die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes „Ungeeignetheit" haben Rechtsprechung und Schrifttum bestimmte Maßstäbe entwickelt 1 0 . Daneben besteht die Entziehung der F E als Maßregel der Sicherung und Besserung durch das Gericht nach § 69 S t G B . Sie ist durch die Einfügung der Vorschriften der §§ 42 a N r . 7, 42 m in das S t G B durch das 1. Straßenverkehrssicherungsgesetz vom 19. 12. 1952 in das deutsche Recht eingeführt worden. Nach dem Vorschlage des Bundesrates sollte die Verwaltungsbehörde ausschließlich zuständig bleiben (§ 4 S t V G , § 68 S t V Z O ) . D e r Bundestag folgte jedoch den anderweitigen Vorschlägen der Bundesregierung. Aus der Begründung der Regierungsvorlage erscheinen folgende Passagen bedeutsam 11 „Die Beschränkung der Zuständigkeit auf die Verwaltungsbehörde hat sich als H e m m n i s für eine sachgemäße strafgerichtliche B e k ä m p f u n g v o n Verkehrszuwiderhandlungen erwiesen. D i e Entziehung der F E wiegt für den Betroffenen oft schwerer als die Strafe, obwohl sie keine Sühne für die T a t , sondern eine Vorbeugungsmaßnahme zum Schutze der Allgemeinheit darstellt. D e r Richter kann die S t r a f e für eine Verkehrszuwiderhandlung nur dann gerecht bemessen, wenn auch die Entscheidung über die Entziehung der F E in solchen Fällen in seiner H a n d liegt. D i e bisherige Fassung der Zuständigkeiten für diese M a ß n a h m e n k a n n leicht zu einem ungerechten Ergebnis für den Betroffenen führen. Auch prozeßökonomische E r w ä g u n g e n sprechen dafür, die Feststellungen des S t r a f verfahrens über die Persönlichkeit des Beschuldigten und die U m s t ä n d e der T a t auch für die Entscheidung über die Entziehung der F E nutzbar zu machen und sie gleichfalls den Strafrichter entscheiden zu lassen."

Das 2. Straßenverkehrssicherungsgesetz vom 26. 11. 1964 ( B G B L . I S. 9 2 1 ) hat an dieser Regelung festgehalten, sie aber auf Grund der bisherigen Erfahrungen mit der Maßregel eingehender gefaßt und den Rechtsstoff auf die §§ 42 m — o S t G B verteilt 1 2 . BVerfG vom 18. 11. 1966, N J W 1967, S. 29. BVerfG in N J W 1967, S. 619. 10 Wegen Einzelheiten vgl. Beine, Die rechtlichen Maßstäbe bei der Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Aufgaben der Sachverständigen, Köln 1972, S. 9 ff. 11 Abgedruckt bei Floegel-Hartung, Straßenverkehrsrecht. 16. Aufl., 1966, S. 1759. 12 Zur Begründung der Gesetzesvorlage vgl. Floegel-Hartung a. a. O. S. 1760. 8

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A u f G r u n d der Neufassung des S t G B v o m 2. 1. 7 5 1 3 sind anstelle der §§ 42 m — o die §§ 69, 6 9 a und 6 9 b S t G B getreten 1 4 . D a die Gerichte und Verwaltungsbehörden über die Entziehung der FE entscheiden können, besteht die G e f a h r widersprechender Ergebnisse. Ihr sucht das Gesetz u. a. durch folgende Maßnahmen v o r zubeugen: 1. Es beschränkt die Zuständigkeit des Gerichts auf den Fall, daß der Inhaber der FE wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, wenn sich aus der Tat ergibt, daß er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. 2. Nach Maßgabe des § 4 Abs. 2 StVG ruht die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde für die Dauer eines Strafverfahrens, das zur gerichtlichen Entziehung der FE führen kann. 3. An die rechtskräftige Entscheidung des Gerichts ist die Verwaltungsbehörde nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 StVG gebunden. Das Verhältnis des § 4 Abs. 3 S t V G zu den §§ 6 9 , 69 a S t G B hat das Schrifttum und die Rechtsprechung im L a u f e v o n mehr als zwei Jahrzehnten in reichem M a ß e beschäftigt 1 5 . Es ist nicht ohne Pikanterie, festzustellen, daß die Kontroversen über die Auslegung der gnt. Vorschriften — besonders § 4 Abs. 3 S t V G — und die Frage der Doppelkompetenz: ihre Notwendigkeit oder Fragwürdigkeit, ihre Abgrenzung und Rechtmäßigkeit bis in das „ V o r f e l d " der Gesetzgebung zurückgeht. So weist Booß16 darauf hin, daß leider keine einheitliche Front aller zur A b w e h r der G e f a h r e n berufenen Stellen bestehe, sondern zwei klare Fronten. A u f der einen Seite stünden die BGBl. I 1975 S. 1 ff. Sie werden in den folgenden Ausführungen anstelle der durch sie außer Kraft gesetzten Bestimmungen zitiert. 15 Als spezielle Darstellungen aus der Literatur seien genannt: Booß DAR 1956, 258; Anm. zu VGH Kassel, DVBl. 1963, 375 in VerkMitt. 1963, 18. In: „Folgenlose Verkehrsgefährdung als Massenerscheinung", Boppard, 1961, S. 147 ff.; Cramer, NJW 1968, 1764; Straßenverkehrsredit, Frankfurt/M., 1971; Unfallprophylaxe durch Strafen und Geldbußen?, Hamburg 1974, S. 53 ff., 162 ff., 213 ff.; Czermak, NJW 1962, 1265; NJW 1963, 1225; DAR 1964, 129; Fischer in 11. Deutscher Verkehrsgerichtstag 1973, S.96; Friedrich, DVBl. 1957, 523; Geppert, NJW 1971, 2155; Händel, NJW 1959, 1213; Herlan/Schmidt-Leichner, Schriftenreihe der NJW, Heft 10, München 1972; Kohlhaas, DAR 1962, 112; Krieger, DAR 1963, 7; DAR 1966, 113; Lackner, MDR 1953, 74; JZ 1965, 92, 120; in „Folgenlose Verkehrsgefährdung als Massenerscheinung", Boppard, 1961, S. 150 f.; Martens, NJW 1963, 139; Meier, DVBl. 1963, 376; Möhl, DAR 1962, 116; Rohling, DAR 1956, 313; Schendel, Doppelkompetenz von Strafgericht und Verwaltungsbehörde zur Entziehung der Fahrerlaubnis, Hamburg, 1974; Schmid, DAR 1968, 1; Theuerkauf, DÖV 1964, 446. 16 In „Folgenlose Verkehrsgefährdung als Massenerscheinung" S. 147. 13 14

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Justizministerien, auf der anderen Seite die Innen- und Verkehrsministerien der Länder. Doch erwähnt Booß nicht, daß das BundesverkehrsmmisiQri\im die Ansicht der Länderuer&eÄrsministerien teilte und das Bundes;«5iizministerium auf der Seite der Länder;«jiizministerien stand 17 . Nach Lackner18 ist es eine Zweckmäßigkeitsfrage, wem die Entscheidung anvertraut wird. Der Gesetzgeber hat sich aus den angegebenen Gründen für den Richter entschieden. „Was die Bewährung dieser Maßnahme betrifft, so haben wir immer noch kein klares Bild", so klagte Booß19 auf der Diskussionsveranstaltung des Kuratoriums „Wir und die Straße" in Wiesbaden im Januar 1961. Es wird angezweifelt, ob man dem Richter nicht Aufgaben zugewiesen hat, die über seine Fähigkeiten hinausgehen, zumal er feststellen müsse, ob der Angeklagte sich durch die Tat z. Z. der Urteilsfindung — nicht z. Z. der Tat — als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen habe, dabei die gesamte Täterpersönlichkeit berücksichtigen und dann wegen der Bemessung der Sperrfrist (§ 69 a StGB) eine Prognose stellen müsse. Der Richter könne aber kein Prophet sein 20 , bei der Festsetzung der Sperrfrist durch ihn könne es sich also nur um eine rein gegriffene, geschätzte Entscheidung handeln 21 . Diese mißliche gesetzliche Lage spiegelt sich auch in der Rechtsprechung der Straf- 2 2 und Verwaltungsgerichte 23 wider, weil sie diffizile Rechtsfragen zwischen der Entziehung der FE durch den Strafrichter und ihrer Wiedererteilung durch die Verwaltungsbehörde aufgeworfen hat, die trotz der Regelung des § 4 Abs. 3 StVG nicht zufriedenstellend gelöst worden sind. Die straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften über die Entziehung der FE (§ 4 StVG) und die Wiedererteilung der FE (§ 4 Abs. 4 StVG, § 2 StVG, §§ 4 ff StVZO) enthalten keine ausdrückliche Bestimmung darüber, ob die Verwaltungsbehörde im Wiedererteilungsverfahren an die Entscheidung des Strafgerichts gebunden ist oder nicht 24 . Inso17 Vgl. Lackner in „Folgenlose Verkehrsgefährdung als Massenerscheinung" S. 150 ff. 18 A . a . O . S. 151. '» A. a. O. S. 147. 20 Vgl. auch Lienen, NJW i960, 1507; Mohr, D A R 1960, 280. 21 Wegen Einzelheiten vgl. Booß, a. a. O. S. 148 f. 22 Vgl. z. B. BGHSt. NJW 1955, 557; BGHSt. N J W 1961, 1269; BGHSt. 15, 393, 399. 23 BVerwG N J W 1964, 608; OVG Münster N J W 1956, 966; V G H Kassel, DVBl. 1963, 375; OVG Bremen, D Ö V 1963, 620; BVerwGE 17, 347. 24 So mit Recht Schmid DAR 1968, 8; Cramer, „Unfallprophylaxe..." usw. S. 67.

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fern besteht eine echte, primäre Regelungslücke. Es ist Schmid zuzugeben, daß es sich um eine „unbewußte" Regelungslücke des Gesetzgebers handelt; denn — soviel ich sehe — geht aus den Gesetzesmaterialien nicht hervor, daß hier eine gesetzliche Lücke bestehe, die es zu schließen gelte. § 69 a StGB verpflichtet das Gericht, mit der Entscheidung, durch welche die F E entzogen wird, zugleich zu bestimmen, daß dem Betroffenen für sechs Monate bis zu fünf Jahren oder für immer keine neue F E erteilt werden darf. Nach Ablauf der gerichtlich festgesetzten Sperrfrist hat die Verwaltungsbehörde über einen Antrag auf Erteilung einer neuen F E gemäß § 2 StVG zu entscheiden. Sie darf diesem Begehren des Antragstellers (Betroffenen) nur dann entsprechen, „wenn nicht Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, daß er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist" (§ 2 StVG) 2 5 . Ob die Verwaltungsbehörde im Wiedererteilungsverfahren bezüglich der Beurteilung der Eignung des Antragstellers an die vorausgegangene strafgerichtliche Entscheidung gebunden ist, hängt primär davon ab, welche rechtliche Bedeutung der vom Strafrichter festgesetzten Sperrfrist für die Erteilung einer neuen F E beigemessen wird 26 . Diese Frage ist umstritten. Nach der wohl überwiegenden Auffassung hat die Sperrfrist den Zweck, sicherzustellen, daß dem Betroffenen für die Dauer seiner präsumtiven Gefährlichkeit keine neue F E erteilt werden darf; die Sperre hat danach nur eine Verbotsfunktion 27 . Nach anderer Ansicht 28 liegt in der Entscheidung über die Dauer der Sperrfrist zugleich die positive Beurteilung darüber, daß der Betroffene nach Ablauf der Sperrfrist wieder als geeignet im Sinne des § 2 S t V G anzusehen ist, falls nicht zwischendurch — oder besser gesagt zwischenzeitlich — für ihn ungünstige neue Tatsachen eingetreten sind. Einige Schriftsteller 29 nehmen sogar an, daß die entzogene F E nach Ablauf der Sperrfrist „automatisch wieder auflebt". Streitig ist weiter, ob nach Beendigung der Sperrfrist die Verwaltungsbehörde verpflichtet ist, die F E wiederzuerteilen, wenn im Zeit2 5 § 4 Abs. 4 S. 1 StVG spricht ausdrücklich von „Wiedererteilung der F E " zur Unterscheidung von der erstmaligen Erteilung der F E . Doch ist die gesetzliche Nomenklatur nicht einheitlich; denn § 15 c StVZO regelt die „Erteilung einer neuen F E " und die „Neuerteilung einer F E " nach vorangegangener Entziehung. Es ist deshalb nicht richtig, wenn Schendel a. a. O. S. 52 Anm. 1 ausführt, daß von einem „Neuerteilungsverfahren" dann gesprochen werde, wenn es sich um die erstmalige Erteilung einer F E handele. 2 6 Ebenso Schendel a. a. O. S. 52. 2 7 So Schönke-Schröder, 12. Aufl., zu § 42 n R d N r . 3 ; O V G Münster NJW 1956, 9 6 6 ; BVerfG, Beschl. v. 1 8 . 1 1 . 66, N J W 1967, 30. 28 Friedrich, DVBl. 1957, 5 2 5 ; O V G Berlin, DVB1. 1963, 256. 29 Meier, DVBl. 1963, 3 7 6 ; Theuerkauf, DVBl. 1964, 446.

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punkt der Wiedererteilung der FE keine weiteren Eignungsmängel bei dem Bewerber festzustellen sind 30 . Wie gesagt, hat der Gesetzgeber die Möglichkeit widersprechender Entscheidungen durch § 4 Abs. 2 und 3 StVG weitgehend ausgeschlossen, dagegen hat er diese Gefahr im Wiedererteilungsverfahren offenbar übersehen 31 . Aus diesem Grunde wird die gesetzliche Regelung weitgehend als unbefriedigend, ja als unbrauchbar 32 empfunden, und schon früher ist deshalb erwogen worden, die „Zweispurigkeit" wieder zu beseitigen 33 . Der B G H hat wegen der Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden und -gerichte im Wiedererteilungsverfahren nur selten Gelegenheit gehabt, sich zu der Bindungswirkung der Strafurteile zu äußern. Von Bedeutung ist in dieser Hinsicht der Beschluß des Großen Senats des B G H vom 7. 11.1955 3 4 wegen seiner prinzipiellen Ausführungen zu dem Verhältnis von Richter und Verwaltungsbehörde. Danach hat der Gesetzgeber dem Richter Vorrang vor der Verwaltungsbehörde eingeräumt. Wenn § 4 StVG schon das Entziehungsverfahren der Verwaltungsbehörde hinter das gerichtliche Verfahren zurücktreten lasse, so müsse dies f ü r das (Wieder-)Erteilungsverfahren erst recht gelten. Diese Verschiebung der Zuständigkeitsgrenze stehe mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung nicht in Widerspruch 35 . Friedrich36 baut auf diesem Beschluß seine Thesen über die Wiedererteilung der FE auf, die später noch gelegentlich im Schrifttum vertreten werden 37 . Im Urteil vom 10. 2. 1961 38 hat der B G H diese Ansicht vom Primat der strafriditerlichen Entscheidung gegenüber der der Verwaltungsbehörde aber aufgegeben und anerkannt, daß die Verwaltungsbehörde bei der Wiedererteilung der FE in eigener Verantwortung die Eignung des Antragstellers zu prüfen habe 39 . In seiner Entscheidung vom 2.12.1960 hat das BVerwG 4 0 iudiziert, die Beurteilung der Eignung des Kraftfahrzeugführers durch den Strafrichter sei nur dann maßgebend, wenn feststehe, daß er den gleichen umfassenden Sachverhalt gewürdigt habe wie die Verwal30

Vgl. Scbmid, D A R 1968, 7 und die dort zit. Rspr. und Lit. Ebenso Schmid, D A R 1968, 1. 32 Cramer, „Unfallprophylaxe . . . usw." S. 69. 33 Booß, VerkMitt. 1963, 18. 34 D A R 1956, 76. 35 Dagegen Härtung, VerkMitt. 1956, 37; Müller, VerkMitt. 1956, 56; D A R 1956, 262. 3 » DVB1. 1957, 523. 37 Vgl. Czermak, N J W 1962, 1265. 38 D A R 1961, 199. 39 Wegen Einzelheiten vgl. Krieger, D A R 1963, 9. 31

Booß,

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tungsbehörde. Letztere sei aber dann nicht gehindert, die FE zu entziehen, wenn der Strafrichter einen Teil der Zuwiderhandlungen nicht in den Kreis seiner Betrachtungen einbezogen habe 41 . Selbst wenn aber sämtliche Delikte von dem Strafrichter gewürdigt worden sind und dieser dennoch die Eignung bejaht hat, hält das BVerwG 4 2 die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Entscheidung nicht für gebunden, wenn sie im Hinblick auf die Grundsätze der Gefahrenabwehr Bedenken für gegeben ansieht, die dem Strafrichter offensichtlich nicht gekommen sind. Nach Ansicht des O V G Berlin 43 ist die Verwaltungsbehörde an eine strafgerichtliche Entscheidung, die die Eignung bejaht, auch nicht gebunden, wenn sie einen umfassenderen Sachverhalt zu beurteilen hat als der Strafrichter. Eine abweichende Meinung zu dieser Problematik vertritt neuestens Schendelu. Da sie einige beachtliche neue Gesichtspunkte zur Diskussion stellt, sei sie im Rahmen der räumlichen Möglichkeiten aufgezeigt. Gegen die von Martens45 vertretene Ansicht über die Rechtskraftwirkung des Strafurteils wendet Schendelie ein, daß seine Argumentation keinesfalls überzeuge47. Da auch zwischen der strafgerichtlichen Entscheidung über die Sperrfrist für die Erteilung einer neuen F E und dem behördlichen Wiedererteilungsverfahren eine Identität der Staatsaufgabe bestehe, hänge die Frage der materiellen Rechtskraft des Strafurteils allein von der Identität der Entscheidungsgegenstände ab. Setze der Strafrichter mit der Sperrfrist nur ein Verbot der Wiedererteilung vor Ablauf der Sperrfrist — so die herrsch. Meinung (vgl. Anm. 27) —, dann sei die Verwaltungsbehörde nur an dieses Verbot gebunden. Das Strafgericht habe dann nur über eine Teilfrage der Wiedererteilung entschieden, nämlich darüber, daß der Betroffene bis zum Ablauf der Sperrfrist ungeeignet sei, ein Kraftfahrzeug zu führen. In der Frage der Eignung läge nur für die Dauer der Sperre eine verbindliche negative Entscheidung des Strafgerichts („ungeeignet") vor. Bei der Wiedererteilung der FE nach Ablauf der Sperrfrist würde die Verwaltungsbehörde dann über die Eignung des Antragstellers (Betroffenen) im Zeitpunkt ihrer Entscheidung befinden, 40 41 42 43 44 45 49 47

VRS 20, 73. BVerwG vom 23. 2. 62, D A R 1962, 274. Urt. vom 2. 12. 60 in VRS 20, 74. Urt. vom 14. 2. 73, V R S 45, 144. S. 56 ff. Vgl. S. 139 ff. S. 56/57. Vgl. dazu auch Booß in VerkMitt. 1963, S. 18 (Anm.).

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also über eine Frage, die vom Strafgericht nicht entschieden worden sei. Hier bestünde dann keine Identität mehr zwischen den Verfahrensgegenständen im Straf- und im behördlichen Verfahren. Für die Beurteilung des Entscheidungsgegenstandes in den beiden Verfahren sei also der Inhalt der Sperrfrist von ausschlaggebender Bedeutung. Da diese Deduktion keinen Rechtsirrtum erkennen läßt, bedarf der Rechtsbegriff der Sperrfrist einer näheren Betrachtung. Nach Schendeli% beruhen die unterschiedlichen Meinungen über eine entsprechende Anwendung des § 4 Abs. 3 StVG auch für das Wiedererteilungsverfahren auf einer unterschiedlichen Beurteilung der Bedeutung der Sperrfrist. Die Anordnung der Sperrfrist nach § 69 a Abs. 1 Satz 1 StGB sei eine unselbständige Nebenmaßnahme zur Entziehung der FE nach § 69 StGB. Eine Entziehung der FE sei nicht schon aus Anlaß der Straftat möglich, sondern nur dann, wenn der Täter sich durch die Tat als ungeeignet zum Führen von K r a f t f a h r zeugen erwiesen habe 49 . Nach dem aus der Straftat und evtl. Vorstrafen gewonnenen Eindruck über die Persönlichkeit des Betroffenen werde die Dauer der Sperrfrist bestimmt. Die Prognose des Strafrichters über die voraussichtliche Dauer der Ungeeignetheit des Betroffenen stehe im Zusammenhang mit der Straftat und könne notwendigerweise nur recht ungenau sein 50 . Feststellungen hinsichtlich der Eignung für die Zeit nach Ablauf der Sperrfrist könne der Strafrichter entsprechend der Funktion des § 69 StGB und im Rahmen der ihm obliegenden — auf die Tat beschränkten — Prüfung nicht treffen 51 . Im Verfahren über die Wiedererteilung der FE habe die Verwaltungsbehörde über die Frage zu befinden, ob der Antragsteller (Betroffene) nunmehr als geeignet anzusehen sei (vgl. § 9 Satz 1 StVZO) 5 2 . Da der Strafrichter — so folgert Schendel53 weiter — bei der Festsetzung der Sperrfrist keine Entscheidung über die Eignung nach Fristablauf treffe, so komme auch eine entsprechende Anwendung des § 4 Abs. 3 StVG nicht in Betracht; denn der Zweck der Vorschrift, dem Strafurteil widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, könne hier nicht eingreifen. Die Verwaltungsbehörde sei also im Wiedererteilungsverfahren durch die richterliche Sperrfrist nur daran 48

S. 57 ff. Hinweis Leichner. 5 ° Hinweis 51 Hinweis 52 Hinweis 53 S. 59. 49

auf BGHSt. 7, 165 =

N J W 1955, 557 mit Anm. von

auf BVerwGE 17, 347, 351; Schmid, S. 1 und 6. auf BVerfGE 20, 365, 371; Booß, VerkMitt. 1963, 18. auf Theuerkauf, D Ö V 1964, 448.

Schmidt-

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gebunden, daß der Betroffene jeweils bis zum Ablauf der Sperrfrist ungeeignet sei. Sie sei hingegen durch eine positive Rechtskraftwirkung der strafgerichtlichen Sperrfristentscheidung nicht derart gebunden, daß sie nunmehr die FE ohne nähere Prüfung wieder erteilen müsse54. Die Entziehung der F E setzt begrifflich voraus, daß der Zustand vor der Entziehung der FE nur durch eine (neue) Entscheidung der Verwaltungsbehörde wiederhergestellt werden kann. Die Anordnung der Sperrfrist soll nur die temporäre Wirksamkeit der FE sicherstellen. Im Verhältnis zur Entziehung der F E stellt die Anordnung der Sperrfrist eine Hilfsmaßnahme dar, die den Charakter der Entziehung der F E nicht in eine bloße Suspendierung verwandeln kann 55 . Nach Ablauf oder Abkürzung einer gerichtlich verhängten Sperrfrist muß die Verwaltungsbehörde auf Antrag (des Betroffenen) prüfen, ob seine Eignung wieder besteht 56 . Sie hat die Eignung unter eigener Verantwortung zu prüfen 57 . Der Strafrichter trifft also keine Entscheidung über die Eignung des Betroffenen nach Ablauf der Sperrfrist. Der Zweck des § 4 Abs. 3 StVG besteht darin, widersprechende Entscheidungen von Gerichten und Verwaltungsbehörden zu verhindern 58 . Da der Strafrichter lediglich untersagt, daß dem Verurteilten für eine bestimmte Frist eine neue FE erteilt werden darf, so kollidiert seine Entscheidung mit der Verwaltungsbehörde nicht, wenn diese Sperrfrist abgelaufen ist, denn dann kann eine Entscheidung der Verwaltungsbehörde, die dem Strafurteil widerspricht, ergehen. Schendel59 ist insofern beizupflichten, daß hier für eine analoge Anwendung des § 4 Abs. 3 StVG kein Raum ist, weil der Ablauf der Sperrfrist nur die Beendigung eines Verbotes der Erteilung der FE für die Behörde bedeutet, ohne daß darin eine positive Aussage über die Geeignetheit des Betroffenen nach Fristablauf liegt 60 . Nach § 69 a StGB kann das zeitliche Verbot, die F E wiederzuerteilen, durch Ablauf der Sperrfrist oder durch eine vorzeitige Aufhebung der Sperre durch das Gericht erfolgen (§ 69 a Abs. 7 StGB). 5 4 Hinweis auf BGHSt. 15, 393, 3 9 9 ; B V e r w G E 17, 347, 3 5 1 ; Drees-KuckttkWerny, zu § 4 StVG, Anm. 2 5 ; ebenso im Ergebnis Booß, VerkMitt. 1963, S. 18 (Anm.), der aber das Mittel der Rechtskraftwirkung ablehnt, um die Verwaltungsbehörden zu zwingen, nach bestimmter Zeit die F E wiederzuerteilen. 55 Theuerkauf, S. 4 4 8 ; vgl. auch Meier, D Ö V 1963, 619. 5 8 B V e r f G E 20, 265. 5 7 Vgl. BVerfGE 20, 2 6 5 ; B a y O b L G M D R 60, 2 4 3 ; D A R 60, 120. 5 8 Vgl. Jagusch zu § 4 StVG, Rz. 6. 5 9 S. 59. 6 0 Vgl. Schendel S. 63.

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Beide Fälle werden in der Rechtsprechung gleich behandelt 61 . Nach § 69 a Abs. 7 Satz 1 StGB kann das Gericht die Sperre vorzeitig aufheben, wenn sich ein Grund zu der Annahme ergibt, daß der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr ungeeignet ist. Doch ist die vorzeitige Aufhebung der Sperre erst zulässig, wenn die Mindestsperrfrist (§ 69 a Abs. 7 Satz 2 StGB) abgelaufen ist, um zu verhindern, daß die Gerichte die Wiedererteilung einer FE zu früh ermöglichen. Diese Regelung ergibt sich aus der N a t u r der Entziehung der FE als einer Sicherungsmaßnahme, die dem jeweiligen Sicherungsbedürfnis anzupassen ist. Ein Gerichtsbeschluß, der die vorzeitige Wiedererteilung der FE gestattet, setzt voraus, daß sich neue Tatsachen ergeben haben, die eine andere Beurteilung rechtfertigen als sie nach den im Strafurteil festgestellten Tatsachen geboten war. Sie müssen es insgesamt, nicht nur für sich allein rechtfertigen, den Verurteilten als Führer eines Kraftfahrzeuges wieder zuzulassen 62 . Nach Schendel63 kommt der ersten Entscheidung des Strafrichters über die Sperrfrist nur die negative Funktion eines richterlichen Wiedererteilungsverbots gegenüber der Verwaltungsbehörde zu. Die zweite richterliche Entscheidung — d. h. der gerichtliche Beschluß über die Aufhebung der Sperrfrist gemäß § 69 a Abs. 7 StGB — bewirkt zunächst, daß das Verbot der Wiedererteilung der FE aufgehoben wird. Dieser Beschluß darf aber nur ergehen, wenn sich neue Tatsachen ergeben, die insgesamt rechtfertigen, den Verurteilten als Kraftwagenführer wiederzuzulassen 64 . Wenn der Abkürzungsbeschluß in formelle Rechtskraft erwachsen ist, so ist er auch materiell rechtskräftig. Demzufolge ist die Verwaltungsbehörde an die mit der Abkürzung der Sperrfrist kombinierte Feststellung der Eignung des Täters im Verfahren über die Wiedererteilung der FE gebunden 65 . Daher ist nach Schendel66 die Verwaltungsbehörde analog § 4 Abs. 3 StVG verpflichtet, die FE zu erteilen 67 . Es ist nicht zu bestreiten, daß diese Rechtsansicht der Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen zwischen Strafrichter und Verwaltungsbehörde dient. 81 BVerfGE 20, 365, 371; VG Kassel, D Ö V 1963, 619; O V G Bremen, D Ö V 1963, 620. 62 OLG Karlsruhe, N J W 1960, 587. 63 S. 62. 64 OLG Karlsruhe, N J W 1960, 587. 85 Schendel S. 62, 31 ff.; a. A. BVerfG, N J W 67, 29. vgl. Begründung zum 2. Straßenverkehrssicherungsgesetz, BT-Drucksache IV/651. Dieses Ergebnis entspricht audi dem Willen des Gesetzgebers, der die Identität des Eignungsbegriffs im Straf- und Verwaltungsrecht von vorneherein beabsichtigte. •• S. 63. 67 Schmid, S. 4 will diese „Bindung" allein aus einer Analogie zu § 4 Abs. 3 StVG und nicht aus der Reditskraft des Strafurteils ableiten.

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Eine Differenzierung zwischen der Wirkung der Bindung bei dem normalen Ablauf einerseits und der Abkürzung der Sperrfrist andererseits erscheint gerechtfertigt, weil der strafrichterliche Beschluß über die Abkürzung der Sperrfrist eine neue, die Eignung des Täters bejahende strafgerichtliche Entscheidung beinhaltet und die Abkürzung der Sperrfrist eine solche Entscheidung über die Eignung voraussetzt, während der normale Ablauf der Sperrfrist erfolgt, ohne daß darin eine positive Aussage über die Geeignetheit des Betroffenen nach Fristablauf vorliegt. Schon diese wenigen Beispiele, die sich lediglich aus räumlichen Gründen nur mit der gerichtlichen Sperrfrist befassen, zeigen die Komplexität der Materie und die Unterschiedlichkeit ihrer rechtlichen Beurteilung in Rechtsprechung und Schrifttum auf. Der Schluß, zu dem Scbendel68 auf Grund seiner Untersuchung kommt, daß dem Gesetzgeber die Koordinierung der Doppelkompetenz von Strafgericht und Verwaltungsbehörde bei der Entziehung und Wiedererteilung der F E gelungen sei, erscheint deshalb sehr fragwürdig, zumal auch der Begriff der Eignung bzw. Ungeeignetheit im § 69 a Abs. 7 Satz 1 StGB dem Begriff der Eignung bzw. Ungeeignetheit im § 2, § 4 Abs. 1 StVG nicht kongruent sein dürfte — obwohl der Gesetzgeber von ihrer Gleichsetzung ausgeht —, wodurch der verurteilte Täter benachteiligt werden kann. Der positiven Beurteilung der gesetzlichen Regelung durch Schendel steht die negative Kritik von Cramer69 gegenüber, der die Konzeption der geltenden Regelung für „unbrauchbar" hält. Obgleich seiner rechtlichen Analyse, die zutreffend in der streitigen Frage gipfelt, ob die Verwaltungsbehörde verpflichtet ist, die F E nach Ablauf der Sperrfrist zu erteilen, nicht in allen Punkten zugestimmt werden kann 70 , ist seiner Schlußfolgerung beizupflichten, daß eine wirklich brauchbare Kompetenzverteilung nicht vorliegt 71 , weil der Gesetzgeber für das Wiedererteilungsverfahren nach einer Entziehung der FE durch den Strafrichter und dem Ablauf (einschl. Verkürzung) der durch ihn angeordneten Sperrfrist keine spezielle Regelung getroffen hat und die so entstandene Gesetzeslücke trotz verschiedener Versuche im Schrifttum nicht zu ihrer Schließung geführt hat. Dabei spielt eine wesentliche Rolle, daß der Strafrichter wegen seiner beschränkten Kognitionsmöglichkeiten bei der Beurteilung der Verkehrstauglichkeit S. 75. „Unfallprophylaxe . . . " S. 66 ff. 7 0 Nicht z. B. hinsichtlich seiner These, die Verkürzung der Sperrfrist stehe dem Ablauf der Frist rechtlich gleich mit der Folge, daß in beiden Fällen die Bindung der Behörde anzunehmen sei. 71 Cramer a. a. O. S. 69 f. 68

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(Eignung) auf solche Umstände beschränkt bleibt, die sich aus der rechtswidrigen Tat ergeben (§ 69 StGB), was zur Folge hat, daß ein umfassendes Persönlichkeitsurteil regelmäßig nicht möglich ist, während die Verwaltungsbehörde diese unbeschränkte Möglichkeit besitzt 72 . Die gerichtliche Entziehung der FE setzt danach eine "Würdigung der Persönlichkeit im Tat-interpretierenden Sinne voraus; es dürfen nur Umstände und Eignungsmängel berücksichtigt werden, die für die Beurteilung bedeutsam sind, ob sich der Angeklagte „durch die Tat" als ungeeignet erwiesen hat; Mängel, die zur Tat nicht beigetragen haben, sind außer Betracht zu lassen 73 . Aus der „nicht brauchbaren gesetzlichen Kompetenzverteilung" resultiert die Forderung Cramers74, die Entziehung der FE de lege ferenda wieder in die H a n d der Verwaltungsbehörden zu legen mit der Einschränkung, daß die mit der Ahndung von Verkehrstraftaten und -ordnungswidrigkeiten betrauten Richter und Beamten allerdings die Möglichkeit haben müßten, die Einleitung des Entziehungsverfahrens anzuordnen und darüber hinaus durch die Möglichkeit einer vorläufigen Entziehung der FE durch den Richter sicherzustellen, daß gefährliche Fahrer mit sofortiger Wirkung vom Verkehr ausgeschlossen werden 75 . Prinzipiell ist aus den angegebenen Gründen mit Cramer76 gegen Schendel11 festzustellen, daß es dem Gesetzgeber nicht gelungen ist, die aufgezeigte Doppelkompetenz so „in den Griff zu bekommen", daß eine optimale Lösung gewährleistet ist 78 . In dem Verfahren über die Wiedererteilung der FE muß die Verwaltungsbehörde die Fahrtauglichkeit gem. § 2 StVG auf einer umfassenderen Grundlage prüfen als der Richter, dessen Beurteilungsbasis nur die rechtswidrige Tat ist, die den Gegenstand des Strafverfahrens bildet. Die Entscheidungsgrundlage der Verwaltungsbehörde ist also größer dimensioniert als die des Strafrichters. Ergibt ihre Prüfung nachteilige Tatsachen, die der Strafrichter nicht berücksichtigt hat und nicht berücksichtigen durfte wegen seiner Bindung an § 69 StGB, und ergeben diese Tatsachen allein die Ungeeignetheit des 72 A. A. Cramer S. 69/70, die aus seiner Annahme resultiert, die Verwaltungsbehörde sei an die richterliche Entscheidung gebunden. 73 BGHSt. N J W 1961, 1269; Härtung, JZ 58, 131. 74 S. 70. 75 Cramer, S. 71. 76 S. 66. 77 S. 75. 78 Ebenso im Ergebnis u. a. das Verkehrssidierungsprogramm N W 1973 S. 69 f. Schmid, D A R 1968, 8; Krieger, D A R 1963, 12 f.; Kohlhaas, D A R 1962, 115; Möhl D A R 1962, 116 ff., 119.

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Antragstellers, so setzt eine völlig neue Beurteilung durch die Verwaltungsbehörde ein, für die das Strafurteil ohne Bedeutung ist 79 . Diese Beurteilung muß zur Ablehnung des Antrages auf Wiedererteilung der F E führen, wenn der Antragsteller (weiterhin) nicht geeignet ist, ein Kraftfahrzeug zu führen 80 . Welche Folgerungen werden nun aus diesen Nachteilen und Lücken der derzeitigen gesetzlichen Regelung hinsichtlich der Doppelspurigkeit gezogen? Booßsl weist schon 1956 darauf hin, daß die Frage, ob die Entziehung der F E den Gerichten neben den Verwaltungsbehörden übertragen werden sollte, von Anfang an streitig gewesen sei. Die richterliche Betrachtungsweise, in gleicher Weise die Schuld und die Persönlichkeit des Täters sowie die wirtschaftlichen Folgen der von ihm für den Täter zu verhängenden Maßnahmen zu würdigen, sei für das sicherheitspolizeiliche Denken fehl am Platze. Bei der sicherheitspolizeilichen Betrachtung handele es sich um die Frage, ob jemand weiterhin ein Kraftfahrzeug führen dürfte, nicht aber darum, ob er schuldig geworden sei und welche wirtschaftlichen Folgen die Entziehung der F E für ihn habe. Das sicherheitspolizeiliche Denken lege den Schwerpunkt der Betrachtung auf die Tat und nicht auf den Täter. Man werde vom Richter aber kaum verlangen können, daß er die Persönlichkeit des Täters aus dem Auge lasse 82 . Mit dieser Beurteilung der Stellung und Funktionen des Strafrichters und seiner Entscheidung durch Booß stimmt Rohling83 nicht immer überein. Ihm zufolge hat der Strafrichter nach rein objektiven Gesichtspunkten über die Eignung oder Nichteignung des Kraftfahrers zu entscheiden. Persönliche oder wirtschaftliche Belange des Täters müßten außer Betracht bleiben. Entscheidend sei, ob die Tat des Angeklagten unter gleichzeitiger Berücksichtigung seines sonstigen Verhaltens erkennen lasse, daß er nicht die nötige Zuverlässigkeit und Sicherheit besitze, die von einem Kraftwagenführer im Interesse der allgemeinen Verkehrssicherheit heute zu fordern sei. Eine gerechte Bewertung des Angeklagten hinsichtlich seiner Eignung als KraftÄhnlich Schmid S. 7. Ebenso Schendel S. 59/60 und die dort Anm. 33 angegebene Rspr. u. Lit.; a. A. anscheinend Schmid S. 8 ; Cramer S. 6 9 ; D A R 1956 S. 260 ff. 8 1 D A R 1956, S. 260 ff. 8 2 Ebenso B G H in V R S 29, 4 5 8 ; abweichend anscheinend O L G Celle in V R S 30, 178, wonach zur Begründung der mangelnden Eignung nicht auf Charakterfehler des Kraftfahrzeugführers zurückgegriffen werden darf, die sich nicht auf die Tat ausgewirkt haben, sondern nur anläßlich der Aufklärung der Tat zutage getreten sind. 8 3 D A R 1956, S. 313 ff., der als Strafriditer über eine wohlausgewogene Kenntnis der Situation verfügt. 79 80

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Wagenführer setze mithin die Aufstellung allgemeiner Kriterien voraus, die eine mangelnde Eignung vermuten lasse. Entsprechend dem das Strafrecht beherrschenden Schuldprinzip werde die charakterliche Unzuverlässigkeit des Täters an erster Stelle stehen. Die Entziehung der FE sei von zwei Feststellungen abhängig: 1. In der Person des Täters müßten deutliche Mängel sichtbar sein, die seine Ungeeignetheit ergäben, 2. diese Mängel müßten durch die Tat oder jedenfalls im Zusammenhang mit der Tat in Erscheinung getreten sein.

Dabei sei eine genaue Würdigung der Einzelpersönlichkeit und der Tatumstände nicht zu umgehen. Werde die FE wegen mangelnder charakterlicher Eignung entzogen, so müsse der Richter erwägen, welche Zeit notwendig sein werde, um dem Angeklagten die erforderliche Einsicht f ü r das begangene Unrecht zu vermitteln und das Verantwortungsgefühl für die Erfordernisse des Verkehrs in ihm zu stärken. Schmidt* bezweifelt, ob „der persönliche Eindruck des Strafrichters" 85 den Untersuchungsmethoden der Verwaltung überlegen sei. Gehe man davon aus, daß der Strafrichter selten die Möglichkeit habe, die Persönlichkeit des Täters derart eingehend zu würdigen, wie die Verwaltungsbehörden, die mehr und mehr dazu übergingen, die Ursachen des Fehlverhaltens durch medizinisch-psychologische Untersuchungen mit wissenschaftlicher Gründlichkeit erforschen zu lassen 86 , so erscheine die Frage angebracht, ob nicht die Zuständigkeit der Gerichte der Verkehrssicherheit eher abträglich sei. Nach Cramer87 ist es inkonsequent, im Falle eines verkehrserheblichen Charaktermangels die FE nur zeitweilig zu entziehen und dabei auf die „voraussichtliche" Dauer der charakterlichen Ungeeignetheit abzustellen. Eine zeitliche Entziehung der FE würde nämlich voraussetzen, daß der Täter nach Ablauf einer gewissen Frist seinen Charakter ändert. Dies sei jedoch beim Erwachsenentäter so gut wie ausgeschlossen88 und darum sei die heutige Praxis, in derartigen 84

S. 5 f. Auf den der BGH besonderen Wert legt, vgl. Beschluß vom 7. 11.55, NJW 1956, 351 = DAR 1956, 76. 86 Vgl. auch Krieger, DVB1. 1964, 410 u. DAR 1965, 113. 87 S. 61 ff. 88 Wäre das richtig, so wäre der moderne auf Rehabilitation u. Resozialisierung gerichtete Strafvollzug auf einem Irrwege. Vgl. auch Beine-Lange, Die Bedeutung der Verkehrserziehung für die Verkehrssicherheit auf der Straße im Verhältnis zur Gesetzgebung, Rechtsprechung u. zu Maßnahmen der Verkehrspolizei (Gutachten, unveröff.) 1974, S. 69 ff. 85

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Fällen eine zeitliche Sperre zu verhängen, unter dem Mängelgesichtsp u n k t des § 69 StGB unvertretbar. Ein weiterer Nachteil der Regelung der §§ 69 ff. StGB zeige sich darin, d a ß der Richter im Rahmen dieser Vorschriften nicht zu einer die gesamte Persönlichkeit umfassenden charakteriologischen Überp r ü f u n g berechtigt sei wie die Verwaltungsbehörden. Cramer89 empfiehlt deshalb, die Entziehung der FE de lege ferenda ausschließlich in die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden zurückzuverlegen 9 0 . Bevor diese rechtspolitische Frage weiter verfolgt wird, bedarf es einer definitiven Stellungnahme zur „Zweispurigkeit" des Verfahrens überhaupt. Die jetzige Zweispurigkeit oder Doppelkompetenz des Verfahrens bei der Entziehung und Wiedererteilung der FE w i r f t Rechtsprobleme auf, die eine sorgfältige Analyse der gesetzlichen Regelung notwendig erscheinen lassen mit dem Ziele einer materiellen und formellen Änderung 9 1 , weil die jetzige Regelung zur Rechtsunsicherheit f ü h r t und darum reformbedürftig ist 92 . I h r Mangel liegt primär darin, d a ß § 69 StGB bei dem — in der Regel — schuldhaft handelnden Täter wie eine Nebenstrafe gehandhabt wird, während bei einer Entziehung der FE nach § 4 StVG präventive Gesichtspunkte zugrunde liegen. Das mußte zu Kollisionen führen 9 3 , die durch die Kollisionsnormen des § 4 Abs. 2 und 3 StVG f ü r das Entziehungsverfahren nur notdürftig ausgeglichen sind. Gravierender ist das Fehlen einer Kollisionsnorm f ü r das Wiedererteilungsverfahren, wodurch die Rechtslage labil und instabil geworden ist, und widerstreitende Rechtsansichten in Rechtsprechung und Schrifttum haben verhindert, diese „Lücke im Gesetz" eindeutig und allgemein überzeugend zu schließen. Das Dilemma beginnt bereits bei der Entziehung der FE, deren Voraussetzungen im § 4 StVG andere sind als die im § 69 StGB. Sie pflanzt sich fort bei der Unterschiedlichkeit in der richterlichen und der verwaltungsmäßigen (sicherheitspolizeilichen) Beurteilung der verschiedenen Tatbestandsvoraussetzungen. Diese Differenzen auszugleichen, konnte dem Gesetzgeber mit den angewandten Mitteln nicht gelingen. 89

S. 64. A. A. Wohl, D A R 1962, 116, der die Entziehung und Wiedererteilung der FE allein in die Hand des Riditers legen will. 91 Im Ergebnis ebenso Cramer S. 65 ff. 92 Cramer S. 66 bezeichnet die Konzeption der gesetzlichen Regelung sogar als „nicht brauchbar", was übertrieben sein dürfte, weil sie sonst schon revidiert worden wäre. 93 So mit Redit Cramer S. 66. Deshalb hat Booß schon früher die Frage gestellt, ob man nidit die Zweispurigkeit des Entziehungsverfahrens wieder beseitigen wolle. 90

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Weitere Schwierigkeiten kamen hinzu durch die Sperrfrist des § 69 a StGB. Während ihrer Dauer ist die Verwaltungsbehörde an die gerichtliche Entscheidung gebunden. Nach normalem, regelmäßigem Ablauf der Sperrfrist ist der verurteilte Antragsteller bei der Verwaltungsbehörde so gestellt wie ein Antragsteller, der noch nicht im Besitze einer FE war. Die Verwaltungsbehörde wird deshalb bei der Wiedererteilung der FE gemäß §§ 2 StVG, 15 c StVZO zu entscheiden haben. Sie ist darum nach Ablauf der gerichtlichen Sperrfrist (§ 69 a Abs. 1 StGB) nicht verpflichtet, die FE wiederzuerteilen 94 . Anders ist es bei einer Abkürzung der Sperrfrist nach § 69 a Abs. 7 StGB durch das Gericht, weil hier der Strafrichter eine neue Entscheidung über die Eignung des Verurteilten trifft, an die die Verwaltungsbehörde bei der Wiedererteilung der FE gebunden ist 95 .

III. Wie läßt sich diese unbefriedigende Rechtslage, f ü r die der betroffene Staatsbürger kein Verständnis aufbringen wird, wie schon Booß bemerkt 96 , wenn er ausführt „ . . . denn der Verwaltungsbeamte muß ja nun dem Mann evtl. klar machen, daß der Richter zwar geglaubt hat, er sei nach sechs Monaten wieder geeignet, daß der Richter sich aber offenbar getäuscht hat", in rechtspolitisch einwandfreier Weise lösen? Booß97 meint in diesem Zusammenhange, das Fahrverbot könne die Lösung bringen, um wieder eine saubere Trennung zwischen Justiz und Verwaltung herzustellen. Diese Prognose, die Booß im Jahre 1961 (!) „gewagt" hat, ist nach Einführung des Fahrverbotes als Nebenstrafe seit dem 1.1. 1965 jedoch nicht eingetroffen, obwohl das Fahrverbot (§ 44 StGB) zu den kriminalpolitisch bedeutsamsten Neuerungen des 2. Straßenverkehrssicherungsgesetzes zählt, das die Möglichkeit eröffnet hat, einem schuldhaft handelnden Täter das Führen eines Kraftfahrzeuges jeder oder einer bestimmten Art für die Dauer von einem bis drei Monaten zu verbieten. Eine Nebenfolge ohne Strafcharakter ist das ordnungsrechtliche Fahrverbot nach § 25 StVG, das in seinen Voraussetzungen enger ist. Die beiden Fahrverbote sind primär als Denkzettel- und Besinnungs94 Ebenso Schendel S. 77; A. A. anscheinend Cramer verlangt, die für eine Untauglichkeit sprechen. 95 Ebenso Schendel, S. 77; a. A. Cramer S. 69. 08 In „Folgenlose Verkehrsgefährdung". S. 148/9. 97 S. 149.

S. 67 f., der neue Tatsachen

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maßnahmen entsprechend der Absicht des Gesetzgebers unentbehrlich geworden. Cramer98 f a ß t seine Kritik an der hier allein interessierenden Zweispurigkeit bei der Entziehung und Wiedererteilung der FE dahin zusammen, d a ß sie nur durch eine R e f o r m des Rechts der Entziehung der FE beseitigt werden könne. Auf G r u n d der gewonnenen Erkenntnisse ist festzuhalten, d a ß bei den Überlegungen zur Neugestaltung der Entziehung der FE primär Verfahrensfragen eine Rolle spielen. Dabei ist prinzipiell die Frage zu klären, ob die jetzige Zweispurigkeit (Doppelkompetenz) verfahrensmäßig einer Konzentration der Zuständigkeit zur Entziehung und Wiedererteilung der FE weichen sollte. Nach wohl herrschender M e i n u n g " besteht ein wesentlicher Nachteil der gesetzlichen Regelung (§§ 69 ff. StGB) darin, daß der Strafrichter nicht berechtigt ist, die gesamte Persönlichkeit des Täters charakteriologisch zu überprüfen. W ä h r e n d der Strafrichter Eignungsmängel des Täters, die sich nicht in der T a t ausgewirkt haben, bei der Betrachtung und Beurteilung des Täters aus prozeßimmanenten Gründen unbeachtet lassen muß, hat die Verwaltungsbehörde nach Ablauf der strafrichterlichen Sperrfrist die Möglichkeit und die Pflicht, die Fahrtauglichkeit des Täters, der einen A n t r a g auf Wiedererteilung der FE stellt, unter allen körperlichen, psychologischen und charakteriologischen Gesichtspunkten zu prüfen. Daher — so folgert Cramer100 — liegt es nahe, der Verwaltungsbehörde die ausschließliche Kompetenz zur Entziehung der FE zuzuweisen. Diese auf den ersten Blick bestechend erscheinende Lösung widerspricht aber der grundsätzlichen Ansicht des Gesetzgebers 101 , wonach die Entziehung der FE als gerichtliche Maßregel der Sicherung und Besserung durch Einfügung der §§ 42 a N r . 7, 42 m in das StGB durch das 1. Straßenverkehrssicherungsgesetz vom 19. 12.1952 eingef ü h r t worden war, weil sich die Beschränkung der Zuständigkeit zur Entziehung der FE auf die Verwaltungsbehörde als „Hemmnis f ü r eine sachgemäße strafgerichtliche Bekämpfung von Verkehrszuwiderhandlungen erwiesen" hatte. Die von Cramer vorgeschlagene Lösung 102 bewirkt z w a r eine Vereinheitlichung der Vorschriften, wodurch die Grundlage f ü r Kollisionen und ihre Beseitigung durch entsprechende N o r m e n , wie § 4 98

S. 162 f. Vgl. Fischer S. 32; B G H S t . 15, 393; Cramer S. 168, 63 ff. 100 S. 215 ff. 101 Vgl. Begründung der Regierungsvorlage zit. bei „Floegel-Hartung, verkehrsrecht, 16. Aufl., 1966, zu §§ 42 m — o StGB, R z . 1, S. 1759. 102 S. 215/6. 99

Straßen-

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Abs. 2 und 3 StVG, § 15 b Abs. 1—3 StVZO in Verbindung mit § 69 StGB, entfällt, doch harmoniert sie (auch) nicht mit dem Grundsatz, daß der Richter die Strafe für eine Verkehrszuwiderhandlung nur dann gerecht bemessen kann, wenn auch die Entscheidung über die Entziehung der FE in solchen Fällen in seiner H a n d liegt 103 . Wenn die Entziehung der FE durch den Fortfall des § 69 StGB wieder allein Sache der Verwaltungsbehörde wäre, bedürfte es einer Vorschrift, die es dem Gericht ermöglichte, einem Täter, gegen den sich in einem Strafverfahren wegen Verletzung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften der dringende Verdacht der Fahruntüchtigkeit ergibt, vorläufig von der Verkehrsteilnahme auszuschließen, bis das Entziehungsverfahren abgeschlossen ist 104 . Außerdem soll — nach Cramer — die Verwaltungsbehörde verpflichtet sein, auf „Anordnung des Gerichts" (§ 69 StGB) oder der zuständigen Behörde (§ 25 StVG) ein Verfahren zur Uberprüfung der Fahrtauglichkeit einzuleiten 105 . Was geschieht aber, wenn die Verwaltungsbehörde diese Anweisung ablehnt, weil sie — entgegen der Meinung des Strafrichters — keine dringenden Gründe für die Annahme der Fahruntüchtigkeit annimmt? Handelt es sich bei dieser „Anordnung" um ein Amtshilfeersuchen zwecks aktiver Mitwirkung von Verwaltungsbehörden? Ist der Begriff der „Anordnung", der i. d. R. als verwaltungsrechtlicbe Rechtshandlung zu definieren ist, für das Strafrecht überhaupt geeignet? Wie läßt sich diese „Anordnung des Gerichts" durchsetzen? Gesetzt den Fall, die Verwaltungsbehörde p r ü f t die Fahrtauglichkeit des Täters und kommt zu dem Ergebnis, daß er „geeignet" ist: kann der „beschwerte" Strafrichter, der anderer Ansicht ist, wie der — im anderen Falle — benachteiligte Täter gegen die Entscheidung der Verwaltungsbehörde einen „Rechtsbehelf" einlegen? Dabei ist zu berücksichtigen, daß es gegen Verwaltungsanordnungen keine Rechtsbehelfe gibt 106 . Auf diese gravierenden Fragen ist Cramer nicht eingegangen. Die „vorläufige" Entziehung der FE nach dem Vorschlage von Cramer107 ist nur zulässig, wenn ein erheblicher Wahrscheinlichkeitsgrad dafür besteht, daß es in dem behördlichen Verfahren zur Entziehung der FE kommen wird. Für die „Prognose" soll auf den Augenblick abgestellt werden, in dem über die „vorläufige Entziehung" der FE unter Berücksichtigung des dabei vorliegenden Mate103

Vgl. Begründung der Regierungsvorlage zum StrVerkSGes. Jagusch, zu § 42 m — o StGB, Rz. 1, S. 1103. 104 So Cramer S. 224, 228. 105 Cramer, S. 214, 224. 106 Hans J. Wolf}, VerwRedit I, 8. Aufl., 1971, S. 323. 107 S. 229.

1952, zit. bei

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rials entschieden wird. Und welcher „Prognosetermin" ist für die Verwaltungsbehörde maßgeblich? Auch hier schweigt Cramer. Aus diesen wenigen Beispielen — sie könnten vermehrt werden! —, die einmal den von Cramer vertretenen Grundsatz, die Doppelspurigkeit zugunsten der Verwaltungsbehörde zu beseitigen, und zum andern die vorgeschlagene gesetzliche Kodifikation betreffen, ist ersichtlich, daß auch gegen die von ihm angestrebte Regelung Bedenken bestehen108. Mit bloßen theoretischen Spekulationen, die nicht alle praktischen Möglichkeiten und Varianten berücksichtigen (können), ist der „gordische Knoten" der Doppelkompetenz nicht aufzuknüpfen. Es dürfte vielmehr notwendig sein, nach Anwendung der spekulativ gewonnenen Erkenntnisse über die Fehler der Doppelkompetenz und der Kollisionsnormen auf eine repräsentative Zahl von Entscheidungen gesetzgeberische Denkmodelle zu entwickeln über die Entziehung und Wiedererteilung von Fahrerlaubnissen. Diese Denkmodelle sollten die Grundlage bilden für eine Reform der Gesetzgebung. Dabei dürften auch die Anregungen von Schmid109 zu prüfen sein, der empfiehlt, die strafgerichtliche Sperrfrist zu beseitigen und an ihre Stelle nur eine gesetzliche Mindestfrist einzuführen, um der eingehenderen Persönlichkeitswürdigung Rechnung zu tragen, und die von Krieger110, der das prozessuale „Nebeneinander" von Strafrichter und Verwaltungsbehörde bestehen lassen möchte, „weil es sich nun einmal eingespielt habe", aber das Strafrecht von dem verwaltungsrechtlichen Begriff der „Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges" als „Fremdkörper im Strafrecht" befreien will. Sollte es bei dieser Untersuchung zu einer „Entflechtung" der Doppelspurigkeit kommen, so ist weiter zu prüfen, ob die „Inspektorenverwaltung" 111 allein in der Lage ist, bei ihrer heutigen Struktur und Personalausstattung die immer komplexer werdenden Fragen der Entziehung und Wiedererteilung der FE zu lösen, mit anderen Worten: nicht nur das „Wie" der gesetzgeberischen Regelung, sondern auch das „Wer" der Zuständigkeit bedarf der weiteren Untersuchung. 108 Vgl d a z u a u c h vom 1 4 . 1 1 . 1 9 6 2 .

Booß,

VerkMitt. 1963, S. 18, Anm. zum Urt. des Hess. V G H

S. 8. S. 1 2 / 1 3 . m Y g j f e r n e r , DVBl. 1959, S. 531, der von der „Inspektorenverwaltung" nidit mit einem bösartigen Akzent spricht, sondern damit andeuten will, daß die Entscheidungen der Verwaltungsbehörden zu einem erheblichen Teil von Nichtjuristen getroffen werden, und zwar über Sachverhalte, die im Grunde eine gründliche juristische Ausbildung verlangen würden. Das gilt z. B. auch hinsichtlich der med.-psych. Gutachten, die die Verwaltungsbehörde — wie der Richter — einer selbständigen verantwortlichen Prüfung zu unterziehen hat. Vgl. dazu Beine a. a. O. S. 47 ff. 109 110

Die Bindungswirkung von Verkehrszeichen im Ordnungswidrigkeitsverfahren KLAUS STERN

Wem ist nicht das ungute Gefühl vertraut, das bei einer auch folgenlosen Mißachtung eines Verkehrszeichens entstehen kann, es sei denn, man gehöre gleich dem Jubilar dieser Festgabe zu jener Gattung überzeugter Fußgänger, die, wie dem Verfasser dieser Zeilen aus langjähriger kollegialer Verbundenheit wohl bekannt, auch das Rotlicht einer Fußgängerampel gewissenhaft beachten? Indes beweist die engagierte Mitarbeit Richard Langes in Institutionen wie etwa dem Deutschen Verkehrsgerichtstag oder der Arbeits- und Forschungsgemeinschaft für Straßenverkehr und Verkehrssicherheit an der Universität zu Köln, daß er trotz eigener „Auto-Enthaltsamkeit" an Problemen des Verkehrsrechts auch außerhalb strafrechtlicher Bezüge besonders interessiert ist. Das berechtigt den Öffentlich-Rechtler, mit dem Jubilar ein Jahrzehnt nicht nur in einer gemeinsamen Fakultät verbunden, den bislang nicht eben häufig unternommenen Versuch fortzusetzen, Verbindungslinien zwischen Verwaltungsrecht und (Sonder-) Strafrecht 1 herzustellen. Dabei sollen einige Gedanken zur Verbindlichkeit von Verkehrszeichen in einem Ordnungswidrigkeitsverfahren vor dem Strafgericht dargeboten werden. Das Problem ist nicht neu: In dem einer Verkehrsübertretung folgenden Ordnungswidrigkeitsverfahren wird der Bußgeldbescheid mit der Behauptung angegriffen, das Verkehrszeichen diene nicht der Regelung von Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs im Sinne von § 45 StVO 2 , hätte also nicht angeordnet werden dürfen und sei mithin nicht rechtmäßig. Bekannt ist auch das von den meisten Gerichten3 praktizierte Verfahren, zu einer Entscheidung zu kommen, die auf den folgenden 1 Einen entscheidenden Anteil an der Ausgliederung von „Verwaltungsunrecht" aus dem „Kriminalunrecht" verdanken wir R. Lange. Vgl. etwa GA 1953, 3 ff.; J Z 1956, 73 ff.; J Z 1956, 519 ff. 2 Die neue Formel „Sicherheit und Ordnung des Verkehrs" gemäß § 45 StVO vom 1 6 . 1 1 . 1 9 7 0 (BGBl. I S. 1565) enthält sachlich keine Änderung gegenüber der Formulierung „Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs" nach § 4 StVO a. F.: OLG Düsseldorf, DAR 1971, 276; Verkehrsrechtl. Mi«. 1972, 6. 3 BGHSt. 20, 125 ff.; 23, 86 ff.; OLG Hamburg, Verkehrsrechtl. Mitt. 1967, 86; J Z 1970, 586 f.; N J W 1972, 66 f.; OLG Karlsruhe, N J W 1967, 1625 f.; BayObLG, DÖV 1967, 460 ff.; OLG Stuttgart, N J W 1967, 122 f.; OLG Celle, N J W 1967, 743 f.

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Überlegungen beruht. Das Verkehrszeichen wird (nunmehr)4 als Verwaltungsakt in Form der Allgemeinverfügung qualifiziert; nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts sind grundsätzlich alle Verwaltungsakte mit Ausnahme5 des Falles der Nichtigkeit bis zur Aufhebung im Verwaltungsstreitverfahren wirksam6. Daraus folgert man: War das Verkehrszeichen im Zeitpunkt seiner Nichtbeachtung gültig, so stellt der Verstoß gegen das durch das Zeichen verkörperte Gebot oder Verbot eine Ordnungswidrigkeit dar, die auch dann nicht entfällt, wenn das Verkehrszeichen in einem möglichen — parallel laufenden — Verwaltungsstreitverfahren für rechtswidrig erklärt und aufgehoben werden sollte. Dem Strafrichter sei nämlich verwehrt, den Verwaltungsakt auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen; er sei vielmehr an dessen Existenz gebunden und müsse, vom Falle der Nichtigkeit des Verkehrszeichens abgesehen, von dessen Nichtbeachtung ausgehen (Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes). Daß dieses Vorgehen nicht befriedigen kann, dürfte nicht nur dem Autofahrer einleuchten. Der Jurist wird fragen müssen, warum hier die Rechtsordnung ohne Not auseinanderdividiert und in die voneinander angeblich unabhängigen Bereiche Verwaltungsrecht und (Sonder-)Strafrecht zerlegt wird, wo sich doch gerade das Ordnungswidrigkeitenrecht dadurch auszeichnet, daß Verstöße gegen verwaltungsrechtliche Vorschriften oder gegen — strafbewehrte — Verwaltungsakte geahndet werden sollen. Knüpft aber die Verhängung der Buße an eine Verletzung derartiger Normen oder ihrer Konkretisierungen an, so geht die Sanktion ersichtlich dann ins Leere, wenn der strafbewehrte Verwaltungsakt rückwirkend aufgehoben wird. Tatbestand und Bußanordnung können eben nicht so säuberlich getrennt werden, wie man glaubt. Nur am Rande sei angemerkt, daß für den Strafrichter diese Probleme — jedenfalls soweit es den hier interessierenden Bereich des Straßenverkehrsrechts angeht — erst zu dem Zeitpunkt akuteil wurden, als die Rechtsprechung die Verkehrszeichen nicht mehr als Rechts-

4 Seit BVerfG, N J W 1965, 2 3 9 5 ; grundlegend BVerwGE 27, 181 ff.; ferner BVerwGE 32, 204 ff.; 37, 116 ff.; BVerwG, N J W 1973, 71 ff.; BadWürtt. V G H , V G H E 18, 213 ff.; RhPf. OVG, AS 11, 441 ff.; O V G Münster, DVBl. 1973, 503 (504). 5 Abw. O. Bachof, D Ö V 1967, 132, der audi für nichtige Verkehrszeichen eine Verbindlichkeit aus § 1 StVO herleiten will. 6 Dieser Rechtsgrundsatz hat nunmehr Eingang in die Regelung des § 39 II EVwVerfG 1973 (BT-Drucks. V I I / 9 1 0 ) gefunden.

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normen, sondern als Verwaltungsakte qualifizierte 7 . Rechtsnormen nämlich sind entweder gültig oder nichtig, aber nicht vernichtbar 8 , d. h. sie sind verbindlich oder unverbindlich. Da es sich bei Verkehrszeichen in keinem Falle um Gesetze im formellen Sinne handeln konnte, griff auch die Vorlegungspflicht nach Art. 100 I G G zum Bundesverfassungsgericht nicht ein, so daß dem Strafrichter neben der Prüfungs- auch die Verwerfungskompetenz zustand. Bei Ungültigkeit der Gebots- oder Verbotsnorm konnte das Strafgericht relativ problemfrei auf Freispruch erkennen. Angesichts der evident unterschiedlichen Ergebnisse je nach Qualifizierung der Verkehrszeichen als Norm oder Verwaltungsakt drängt sich die Frage nach den Motiven für den Wandel der Rechtsprechung auf. Sollte es möglicherweise die Furcht gewesen sein, alle Verkehrszeichen mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage gemäß Art. 80 G G für nichtig erklären zu müssen9? Doch lassen wir diese Fragen beiseite und prüfen die Rechtslage auf Grund der herrschenden Meinung weiter. Zugegebenermaßen gerät der Strafrichter in Schwierigkeiten, wird er mit Formeln wie „Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten" 10 konfrontiert. Gebietet nicht der Grundsatz der Gewaltenteilung — so mag er fragen —, daß sich die Judikative nicht zur Kontrollinstanz der Exekutive aufschwingen darf, sofern dies nicht wie bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit ihre ureigenste Aufgabe ist, sondern daß sie die fertigen „Verwaltungsfabrikate" als gültig hinzunehmen und daran ihre Entscheidung auszurichten hat? Indessen ist der Grundsatz der Gewaltenteilung selbst zu oft durchbrochen worden, um noch uneingeschränkt Geltung beanspruchen zu können. Dies gilt auch für das Verhältnis Exekutive — Judikative: So prüft der Richter im Prozeß um eine Amtspflichtverletzung nach, ob

7 Zu dem mehrfachen Wechsel der Rechtsprechung vgl. Bachof, D Ö V 1967. 132; K. Vogel, in: Drews-Wacke-Vogel-Martens, Gefahrenabwehr, 8. Aufl. 1975, S. 128 f. 8 H.-J. Papier, Der verfahrensfehlerhafte Staatsakt, 1973, bes. S. 21 ff.; Ch. Pestalozzi JuS 1974, 212 ( 2 1 4 ) ; A. Arndt, BB 1960, 993 ( 9 9 4 ) ; K. A. Bettermann, A ö R Bd. 86 (1961), 129 (158); zuletzt W. Skouris, DVB1. 1975, 357 (358 f.). 9 Dazu L. Renck, JuS 1967, 545 (546) im Anschluß an Ch. Sasse, D Ö V 1962, 321 (326). Anders BVerwGE 6, 317 (319); O L G Stuttgart, J Z 1964, 716 f.; sowie O. Bachof, J Z 1962, 354 N r . 22, die Art. 80 GG für nicht anwendbar erklären. 1 0 Dazu Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 6. Aufl. 1974, Rdnr. 27, 28 zu § 40. Gegen eine Bindung des Strafrichters aus dem Gesichtspunkt der Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten wendet sich vehement K. Mohrbotter, J Z 1971, 213 ff.

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der Beamte rechtswidrig 11 gehandelt hat 1 2 . Ähnliches gilt, wenn der Strafrichter über „Widerstand gegen die Staatsgewalt" gemäß § 113 StGB entscheiden muß; ist doch die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung gemäß § 113 I I I StGB Voraussetzung der Strafbarkeit 1 3 und damit vom Strafrichter zu ermitteln. Hinzu kommt, daß es sich in Bußgeldverfahren gar nicht um die Sühne echten Kriminalunrechts handelt. Vielmehr ist das Amtsgericht durch § 68 I OWiG, also kraft ausdrücklicher gesetzlicher Rechtswegzuweisung im Sinne des § 40 I S. 1 VwGO, f ü r zuständig erklärt worden, über Einsprüche gegen Bußgeldbescheide von Verwaltungsbehörden zu judizieren 14 , was heißt über Verwaltungsakte und Verwaltungsunrecht 15 . Strafbewehrte Verwaltungsakte sind im übrigen gar nicht so selten, wie Thierfelder16 unlängst nachgewiesen hat, ohne freilich die hier interessierenden Vorschriften des Straßenverkehrsrechts zu erwähnen. Als letztes und wohl gewichtigstes Argument gegen eine leichtherzige Verurteilung des Bürgers sei Art. 19 IV G G herangezogen. Er gebietet die Gewährung umfassenden Rechtsschutzes 17 gegen jegliche Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt. Die Feststellung des O L G Stuttgart 1 8 , Art. 19 IV G G sei schon deshalb nicht verletzt, weil der Betroffene Anfechtungsklage vor den Verwaltungsgerichten erheben könne, geht fehl. Hier handelt es sich nicht um die Versagung verwaltungsgerichtlichen Schutzes, sondern um Schutz vor der Verhängung einer Geldbuße und anderer nachteiliger Sanktionen, wie etwa der Eintragung ins Verkehrszentralregister gemäß § 28 N r . 3 StVG. Wenn nach der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung das verwaltungsgerichtliche Verfahren keinen Einfluß auf die Bußgeldentscheidung nehmen soll, ist die Argu11

B. Bender, Staatshaftungsrecht, 2. Aufl. 1975, Rdnr. 712. Die Möglichkeit des Betroffenen, die Rechtswidrigkeit nach § 113 I 4 V w G O feststellen zu lassen, ändert daran nichts; von dieser Möglichkeit wird regelmäßig nur Gebrauch gemacht, weil dadurch die im Zivilprozeß schwierige Beweisführung erleichtert werden kann. 13 Zu beachten bleibt allerdings, daß die Rechtmäßigkeit der Amtshandlung nach spezifisch strafrechtlichen Bedingungen zu bestimmen ist: H. Günther, N J W 1973, 309 ff.; ferner H. Wagner, Jus 1975, 224 ff. 14 Die Entscheidung über Ordnungswidrigkeiten stellt keine Ausübung von Strafgewalt dar: OVG Münster, N J W 1974, 1346, unter Bezug auf BVerfGE 27, 18 (33), daselbst weitere Nachw. aus der Rechtsprechung. 15 Lange, JZ 1956, 519 (522) spricht zutreffend von „Sanktionsrecht". 16 H. Thierfelder, DVBl. 1968, 138 f. 17 Dazu K. Stern, Zur verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle. Ein Plädoyer für ihre Ausweitung, in: Verfassung, Verwaltung, Finanzkontrolle, Festschrift für Hans Schäfer, 1975, S. 59 (61 ff.). 18 OLG Stuttgart, D Ö V 1967, 132. 12

D i e Bindungswirkung v o n Verkehrszeidien

863

mentation des Gerichts nachgerade ein Hohn. Der Umfang, in dem Art. 19 IV GG die Gewährung von Rechtsschutz gebietet, wird vielmehr von folgenden Überlegungen bestimmt: Durch einen rechtswidrigen (strafbewehrten) Verwaltungsakt wird der Bürger in seinen Rechten verletzt, weil ihm ein Verhalten angesonnen wird, das nicht von Gesetz und Recht gedeckt bzw. gefordert wird. Das steht mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 2 Abs. 1 nicht in Einklang. Die Rechtsordnung gewährt daher die Möglichkeit, den Verwaltungsakt unter den in der V w G O näher geregelten Kautelen rückwirkend 19 (§113 I S. 1 V w G O ) aufheben zu lassen. Falls der Verwaltungsakt schon vollzogen wurde — worunter auch die freiwillige Befolgung seitens des Adressaten verstanden wird —, gewährt das Gesetz darüber hinaus gemäß § 113 I S. 2 V w G O ausdrücklich die Möglichkeit, die Folgen des Vollzugs beseitigen zu lassen. Mit anderen Worten: Der Bürger ist so zu stellen, als ob der rechtswidrige Verwaltungsakt nicht bestanden hat 2 0 . Dies folgt aus dem Grundsatz der Rechtsgebundenheit des Verwaltungshandelns, der Bestandteil des Rechtsstaatsgebots ist. Wäre das Verwaltungsgericht zur Entscheidung über die Ordnungswidrigkeit befugt, so könnte der Bürger im Anfechtungsverfahren gegen das Verkehrszeichen auch beantragen, den Bußgeldbescheid im Wege der Folgenbeseitigung aufzuheben 21 . Durch die Zuständigkeitsverlagerung auf das Strafgericht kann die Situation eintreten, daß das Verwaltungsgericht das Verkehrszeichen zwar wegen Rechtswidrigkeit rückwirkend beseitigt, der Bürger aber gleichwohl wegen dessen Mißachtung bestraft wird, die Rechtswidrigkeit mithin in seinem Rechtskreis fortwirkt. Hier gilt es zu überlegen, ob nicht der Gedanke einer sanktionsaufhebenden Folgenbeseitigung22 zu entwickeln ist, etwa des Inhalts, daß die Aufhebung rechtswidriger strafbewehrter Verwaltungsakte bei der Entscheidung über die verwirkte Buße in einem anderen Verfahren zu berücksichtigen ist, um dem Bürger trotz der Zuständigkeit verschiedener Gerichtsbarkeiten den durch die Verfassung gebotenen umfassenden Rechtsschutz zu sichern und voll durchzusetzen. Ähnliche Überlegungen haben im übrigen Rechtsprechung und Literatur zu § 890 Z P O veranlaßt, beim rückwirkenden Wegfall des 19 Eyermann-Fröhler, a . a . O . (Anm. 10), Rdnr. 33, 36 zu § 113; K.Stern, Verwaltungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen Klausur, 2. Aufl. 1974, S. 96. 20 B. Bender, Staatshaftungsrecht, Rdnr. 216. 21 D a z u zuletzt H. von Mangoldt, DVB1. 1974, 825 ff. mit umfangreichen Nachw. 22 Ähnlich spricht W.-R. Schenke, JR 1970, 449 (451), v o n einer strafrechtlichen Folgenbeseitigung.

864

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Unterlassungstitels eine spätere Bestrafung wegen Verstoßes gegen die Unterlassungspflicht mit der Begründung abzulehnen, ein unrichtiger Titel gewähre keine Grundlage f ü r eine Bestrafung 23 . Uberaus treffend formulierte sehr frühzeitig das Reichsgericht für diese Tatbestände: „Es ist rechtlich unstatthaft, von Verletzung eines Rechts nur um deswillen zu sprechen, weil es zur Zeit des verletzenden Eingriffs als R e c h t galt, w ä h r e n d es in d e r T a t kein Recht

war2i."

Als Zwischenergebnis ergibt sich somit: Die Rechtswidrigkeit eines Verkehrszeichens muß, solange der Betroffene sie noch gerichtlich geltend machen kann, im Bußgeldverfahren Berücksichtigung finden. Konsequent wäre die Lösung, dem Strafrichter selbst die Kompetenz zur Entscheidung darüber zuzusprechen 25 . Es vermag nämlich schwerlich einzuleuchten, daß der Richter zwar die Nichtigkeit des Verwaltungsaktes überprüfen und ggf. feststellen soll, die weniger schwerwiegende Form der Rechtswidrigkeit hingegen nicht, da bekanntermaßen die Abgrenzungskriterien von bloßer Vernichtbarkeit und Nichtigkeit von Verwaltungsakten keineswegs als restlos geklärt anzusehen sind. Allerdings wird in einem solchen Falle nur inzidenter über die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes entschieden, so daß das Ergebnis des Ordnungswidrigkeitsverfahrens keinen unmittelbaren Einfluß auf den Fortbestand des Verkehrszeichens besitzt. Im Interesse der Rechtssicherheit kann man sehr wohl die Meinung vertreten, es solle gesondert vom Bußgeldverfahren ein Prozeß gegen die Verwaltungsbehörde angestrengt werden, weil diese bei obsiegendem Urteil des Bürgers zur Entfernung des Schildes verpflichtet ist. In diesem Fall werden andere Wege gesucht werden müssen, um der Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die Rechtmäßigkeit des Verkehrszeichens im Ordnungswidrigkeitsverfahren Geltung zu verschaffen 26 . Gegen dieses Ergebnis hat der B G H vorgebracht 27 , die Rechtsordnung gebiete keineswegs, den rückwirkenden Wegfall einer N o r m oder eines Verwaltungsakts zu berücksichtigen. Dies lasse sich unschwer mit der Regelung des § 79 BVerfGG 2 8 belegen, der nur bei 23

P. Krause, JuS 1970, 221 (224) mit Nachw. RGSt. 14, 261 (263). 25 So H.Janicki, JZ 1968, 94 (96); in den Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit des behördlichen Aktes Strafbarkeitsvoraussetzung ist, will auch D. Lorenz, DVB1. 1971, 165 (172) dem Strafrichter das Prüfungsredit zuerkennen; allerdings klammert er die hier behandelten Verstöße im Straßenverkehr aus dieser Gruppe strafbewehrter Verwaltungsakte aus — eine Unterscheidung, die nicht überzeugend ist. 26 Dazu unten S. 868 ff. 27 BGHSt. 23, 86 (91). 28 BVerfGE 11, 263 (265) spricht von einer Ausnahmeregelung. 24

Die Bindungswirkung von Verkehrszeichen

865

Strafurteilen 29 eine Wiederaufnahme zulasse, sofern das Urteil auf einer für nichtig erklärten Norm beruhe; im übrigen verhindere sie jedoch nur die Vollstreckung 30 . Mögen audi die Erwägungen, die den Gesetzgeber zu einer Höherbewertung der Rechtssicherheit gegenüber dem Rechtsschutz veranlaßt haben 31 , durchaus zu respektieren sein, für die hier zu entscheidenden Sachverhalte können sie jedoch keine Geltung beanspruchen, da es sich nicht um rechtskräftig abgeschlossene Tatbestände handelt. Solange der Bürger die Möglichkeit hat, das Verkehrszeichen mittels Anfechtung rückwirkend zu beseitigen, darf ihm nicht unbedingter Gehorsam gegenüber dem Verwaltungsakt abverlangt werden, weil insoweit sein subjektiver Rechtsschutzanspruch Vorrang vor dem Schutz der Rechtssicherheit genießt. Diese Situation ändert sich erst dann, wenn die Fristen zur Rechtsmitteleinlegung abgelaufen sind. Denn nunmehr hat sich der Bürger seines Anspruchs auf staatlichen Schutz seiner Rechte begeben; er muß das im Interesse der Allgemeinheit geschaffene Gebot der Rechtssicherheit auch gegen sich gelten lassen und einen rechtswidrigen Verwaltungsakt, sofern er nur Bestandskraft erlangt hat, beachten. Entscheidend für die Strafbarkeit einer Zuwiderhandlung gegen ein Verkehrszeichen wird damit die (noch vorhandene) Anfecbtungsbefugnis des Verkehrszeichens durch den Bürger. Auch das von Honnacker32 vorgebrachte Argument, eine Änderung oder gar Aufhebung von Verwaltungsakten durch die Behörde selbst hätte ja auch keine Rückwirkung, vermag nicht zu überzeugen. In diesen Fällen wird die Verwaltung aus eigenem Antrieb tätig und nicht etwa, weil der Verwaltungsakt einer gerichtlichen Kontrolle nicht standgehalten hat. Ferner kann die Behörde selbst bestandskräftige Verwaltungsakte grundsätzlich 33 auch noch nach Ablauf der Rechtsmittelfrist aufheben; der Bürger hingegen erreicht eine Kassation nur innerhalb der vom Gesetzgeber zur Uberprüfung eingeräumten Rechtsmittelfristen. Diese Aufhebungsmöglichkeit aller2* Leibholz-Rupprecht, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, K ö l n 1 9 6 8 , R d n r . 3 zu § 79, versteht den Begriff Strafurteil übrigens extensiv, so daß er audi Bußgeldbescheide u m f a ß t . 30 Eine ähnliche Regelung enthält § 183 V w G O für den Fall, d a ß ein Landesverfassungsgericht eine N o r m für nichtig erklärt h a t ; allerdings kann durch Landesgesetz die Nichtigkeitsfolge auch auf rechtskräftige Entscheidungen erstreckt werden, was i. d. R . zu einer W i e d e r a u f n a h m e des Verfahrens führen dürfte. Zum Problem vgl. Eyermann-F röhler, a. a. O . ( A n m . 10), R d n r . 2 zu § 183.

Leibholz-Rupprecht, a. a. O . , R d n r . 1. H. Honnacker, N J W 1967, 1 7 6 9 unter Bezug a u f B a y O b L G , V R S 17, 71. 33 Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 1 9 7 5 , R d n r . 88 zu § 4 2 mit weit. N a c h w . 31 32

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dings muß ihm mit allen Konsequenzen erhalten bleiben; anderenfalls wird sein Rechtsschutz unzulässigerweise verkürzt. Offenbar war zumindest ein — nicht eben unbedeutendes — Organ der Rechtspflege der hier vertretenen Meinung. Bekanntlich ist den Obergerichten eine eigene Auffassung unter Abweichung von der Ansicht eines anderen Obergerichts bei „Strafe" einer Vorlegungspflicht zum Bundesgerichtshof verboten 34 ; deshalb ersann das O L G Frankfurt 35 einen ebenso einfachen wie erfolgreichen Ausweg: Es bejahte kurz entschlossen die Nichtigkeit (!) der Ausnahmebewilligung zum Parken von Konsulatsfahrzeugen, um zu einem Freispruch zu gelangen. Wie sehr das Urteil vom Ergebnis bestimmt war, hat Boergen36 in seiner Anmerkung überzeugend nachgewiesen. Wenngleich auch an dieser Stelle Zweifel an der Begründung des Urteils des O L G Frankfurt angemeldet werden müssen, so erscheint jedenfalls das Ergebnis des Freispruchs im Lichte der obigen Ausführungen überzeugend. Doch sollte man fragen, ob sich nicht ein anderer, weniger problematischer Weg als der vom O L G Frankfurt eingeschlagene finden läßt, um bei rechtswidrigen Verkehrszeichen zu einem Freispruch zu gelangen. Man könnte, wie bereits angedeutet, einen Ansatz zur Lösung in der heute beinahe ketzerischen37 Frage suchen: Sind Verkehrszeichen wirklich Allgemeinverfügungen 38 ? Selbst Verfechter der Allgemeinverfügungstheorie wie etwa Bacbof, der sich schon 1951 39 zu dieser Auffassung bekannt hat, räumen nämlich ein, daß sich Verkehrszeichen ohne Zwang weder in die Kategorie der Rechtsnorm noch des Verwaltungsakts einordnen lassen. Im Grunde handelt es sich ebenso wie bei bestimmten Plänen 40 um typische Grenzfälle 41 . Ein Ergebnis solcher Vorlage ist das hier kritisierte Urteil BGHSt. 23, 86 ff. OLG Frankfurt, N J W 1969, 1917; gegen dieses Urteil wendet sich OLG Hamburg, JZ 1970, 586, unter Hinweis auf seine Entscheidung in Verkehrsrechtl. Mitt. 1967, 86. 38 R. Boergen, N J W 1970, 208 ff.; ablehnend auch D. Strauß, DAR 1970, 92 (95). 37 Menger-Erichsen, VerwArch. Bd. 59 (1968), 366 (367), bemerken ironisch: „Über diesen Transformator eines verfassungsgerichtlichen Verdikts von zwei Sätzen beherrscht die Theorie der Allgemeinverfügung heute die Praxis in Verwaltung und Rechtsprechung." 38 Ablehnend etwa D. Baldauf, N J W 1967, 745; R. Hoffmann, JZ 1964, 702 ff.; L. Renck, JuS 1967, 545 ff.; neuestens auch K. Vogel, in: Drews-Wacke-VogelMartens, Gefahrenabwehr, S. 128 ff. 39 O. Bachof, JZ 1951, 375. 40 Gutachten und Referate zum 50. Deutschen Juristentag, 1974, unter dem Titel: Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates an die planende staatliche Tätigkeit, dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung? 41 O. Bachof, DÖV 1967, 132; so auch A. Podlech, DÖV 1967, 740 ff. 34

35

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Die Bindungswirkung von Verkehrszeichen

Angesichts d e r unterschiedlichen D e f i n i t i o n des Begriffs A l l g e m e i n v e r f ü g u n g in d e n einzelnen V e r w a l t u n g s v e r f a h r e n s g e s e t z e n 4 2 u n d d e r wachsenden

Schwierigkeit

der Einordnung

von Hoheitsakten

das rigide B e g r i f f s p a a r R e c h t s n o r m - V e r w a l t u n g s a k t 4 3 , mehr

fest

konturierte

Begriffe

statt

unter

die m e h r

schwammiger

und

„Auffangtat-

b e s t ä n d e " 4 4 f o r d e r t , ist a u f dieses P r o b l e m u n d seine saubere K l ä r u n g nachdrücklich h i n z u w e i s e n 4 5 . F e s t steht n ä m l i c h , w i e d a r g e l e g t ,

daß

die Q u a l i f i k a t i o n des V e r k e h r s z e i c h e n s als R e c h t s n o r m 4 6 m i t der u n b e dingten Unwirksamkeitsfolge

bei F e h l e r h a f t i g k e i t

z u einer

beacht-

lichen P r o b l e m v e r k ü r z u n g b e i t r a g e n w ü r d e . O b u m g e k e h r t ein A u s weichen a u f die F i g u r des sog. dinglichen V e r w a l t u n g s a k t e s 4 7

erfolg-

v e r s p r e c h e n d sein k ö n n t e , erscheint z w e i f e l h a f t . Z w a r soll die stenz v o n V e r w a l t u n g s a k t e n , die sachenrechtliche

treffen, u m die E i g e n s c h a f t e n v o n Sachen rechtlich z u oder zu gestalten48,

Exi-

Zustandsregelungen

u n d die d a m i t n u r m i t t e l b a r

qualifizieren

personenbezogen

Vgl. etwa § 1 0 6 II LVerwG Schleswig-Holstein; § 3 1 S. 2 EVwVerfG 1973. Dazu D. Volkmar, Allgemeiner Rechtssatz und Einzelakt, 1962; ferner aus jüngster Zeit M. Abelein, Die Abgrenzung Verwaltungsakt — Verordnung, in: Recht und Staat, Festschrift für G. Küchenhoff, Bd. 2, 1972, S. 419 ff.; W.Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, V V D S t R L Heft 30 (1972), S. 245 ff.; A. v. Mutius, Rechtsnorm und Verwaltungsakt, in: Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift für Hans J . Wolff, 1973, S. 167 ff. Eine gute Darstellung der Problematik bringt, auf die Verkehrszeichen beschränkt, R. Hoffmann, J Z 1964, 702 ff. 44 Die Begriffsverwirrung setzt schon ein beim Merkmal „Personenkreis": Muß es sich um einen feststehenden oder feststellbaren bzw. einen „nach allgemeinen Merkmalen bestimmten" ( § 3 1 S. 2 EVwVerfG 1973) Personenkreis handeln (so etwa J.Martens, DVB1. 1968, 328; K. Obermayer, Staats- und Verwaltungsrecht, S. 182; A.v. Mutius, a . a . O . , S. 185 ff.) oder genügt mit O. Bachof (Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, § 46 VI a 3) ein unbestimmter Personenkreis, sofern die Anordnung nur konkret ist? 4 5 Auch das Urteil des BVerwG vom 9. 6. 1967, BVerwGE 27, 181 ff. mit Anm. J.Martens, in: DVBl. 1967, 773, weist auf die bestehenden Einordnungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten hin. 4 6 Wie sie von der Rechtsprechung vor dem Urteil des BVerfG vertreten wurde, nachdem die Gerichte von der Qualifikation als Allgemeinverfügung im Jahre 1950 abzurücken begannen: vgl. Bachof, D Ö V 1967, 132. Nachw. bei R. Fritz, Die Rechtsnatur der Verkehrszeichen, Diss. Kiel 1966, S. 22 ff., sowie A. Podlech, D Ö V 1967, 740 (741 Fn. 2). 4 7 Dazu grundlegend N. Niehues, Dinglichkeit im Verwaltungsrecht, Diss. Münster, 1963; ders., D Ö V 1965, 319; ders., zuletzt Verwaltungssachenrecht, in: Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift für Hans J . Wolff, 1973, S. 247 ff.; ferner H.Grund, DVBl. 1974, 499 ff.; A. v. Mutius, DVBl. 1974, 904 ff. mit Nachw. 4 8 Beispielhaft etwa die Widmung einer Straße als „adressatloser" Verwaltungsakt (dazu N.Niehues, D Ö V 1965, 319 (322)) oder nach Ansicht des VG Ansbach (BayVBl. 1975, 120 f.) die Baugenehmigung. O V G Münster (DVBl. 1973, 503 ff.) sieht eine Planungsgebietsfestlegung als dinglichen Verwaltungsakt an. 42

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sind, nicht bestritten werden 4 9 . Doch vermag die Auffassung, durch Verkehrszeichen werde eine konkrete Verkehrssituation geregelt 50 , nicht restlos zu befriedigen. So hat v. Mutius51 überzeugend dargetan, daß amtliche Verkehrszeichen weniger eine wegerechtliche Regelung als vielmehr eine „verkehrsrechtliche Ausübungsschranke des Gemeingebraudis" 5 2 darstellen und ihnen damit ein unmittelbarer personeller Bezug innewohnt. An dieser Stelle kann dieses Problem indessen nicht weiter vertieft werden; hier ging es lediglich darum hervorzuheben, welche Kette von Unsicherheiten durch den Wandel der Rechtsprechung in Richtung Allgemeinverfügung entstanden ist. Allgemeinverfügungen sind Verwaltungsakte und als solche im Rahmen des § 4 2 I V w G O anfechtbar. Dieser Ausgangspunkt weist den Weg zur ersten strittigen Frage, nämlich der Wirkung der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen den Verwaltungsakt — ein Problem, das für den Strafprozeß von grundlegender Bedeutung ist. Haben Widerspruch und nachfolgende Klageerhebung nach § 80 I S. 1 V w G O aufschiebende Wirkung, so verliert das Verkehrszeichen jedenfalls bis zum rechtskräftigen Abschluß des Vorverfahrens oder des gerichtlichen Verfahrens seine Verbindlichkeit für den Rechtsmittelführer, und zwar ex tunc 5 3 . Damit wäre eine Bestrafung während der Dauer des Verwaltungsverfahrens sowie des Verwaltungsprozesses 54 nicht zulässig, und zwar folgerichtig 55 auch dann nicht, a Das gilt um so mehr, als dieser Begriff nun auch, wenngleich mißverständlich, Eingang in die Gesetzessprache zu finden scheint: etwa § 31 S. 2 EVwVerfG 1973: „Allgemeinverfügung ist ein Verwaltungsakt, der . . . die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft." 5 0 Dazu besonders Menger-Erichsen, a . a . O . (Anm. 37), S. 369 ff.; Bachof, a. a. O. (Anm. 44), § 46 V I I I ; neuestens BadWürtt. VGH, BadWürtt. Verwaltungspraxis 1974, 58 ff. 5 1 A. a. O. (Anm. 43), S. 214 f. 52 Vgl. dazu K.Kodal, Straßenrecht, 2. Aufl. 1964, S. 268, 701; BVerwG, D Ö V 1973, 238 ff.; DVBl. 1973, 496; L. Renck, JuS 1967, 545 (547); U. Penski, D Ö V 1966, 845; G. Hust, MDR 1966, 634 (637); J.Martens, DVBl. 1968, 322 (329); W.-D. Hees, Verwaltungsrechtliche Probleme der amtlichen Verkehrszeichen, Diss. Stuttgart 1970, S. 107. 5 3 So P.Weides, JuS 1964, 275 (280); F.Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 1974, Anm. 7 zu § 80; Eyermann-Fröbler, a. a. O. (Anm. 10), Rdnr. 6 zu § 80; ausführlich W. Wieseler, Der vorläufige Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte, Berlin 1967, S. 57 ff. m. Nachw.; a. A. etwa OLG Celle, N J W 1967, 743 (744); H.Honnacker, N J W 1967, 1769; Siegmund-Schultze, DVBl. 1963, 745 (746, 751). 54 Nicht gefolgt werden kann dem Urteil des AG Bonn, N J W 1967, 1480 (mit abl. Anm. Honnacker, N J W 1967, 1769). Das Gericht stellt zwar zutreffend fest, selbst ein nachträglich eingelegter Widerspruch beseitige die Vollziehbarkeit des Verkehrszeichens rückwirkend. Es hält aber den bis zum Abschluß des Verwaltungsverfahrens bestehenden Schwebezustand für nicht vereinbar mit Art. 103 II G G und spricht deshalb frei. Wäre die Schlußfolgerung des Gerichts zutreffend,

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wenn der Widerspruch erst nach der Übertretung eingelegt wurde, weil der Verwaltungsakt als von Anfang an noch nicht wirksam anzusehen ist 56 . Dem Strafrichter ist der Boden für eine Verurteilung entzogen, weil das Verkehrszeichen auch im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung als gleichsam nicht existent zu gelten hat. Bei dieser Rechtslage bleibt nichts anderes übrig, als den Ausgang des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens abzuwarten, weil nur ein klageabweisendes Urteil das Hindernis für eine strafgerichtliche Entscheidung beseitigen kann 57 . Dabei muß freilich die zeitliche Verzögerung des Bußgeldverfahrens berücksichtigt werden, die regelmäßig zur (Verfolgungs-) Verjährung führen dürfte, da die Frist gemäß § 26 IV StVG i. V. mit § 31 II OWiG nur drei Monate beträgt. Abhilfe vermag die Konstruktion einer Aussetzungspflicht zu schaffen. N u n ist eine analoge Anwendung des § 262 StPO bei Klärung verwaltungsrechtlicher Vorfragen unbestritten 58 . Die Aussetzung bewirkt jedenfalls dann, wenn die Vorentscheidung in den anderen Verfahren eine unbedingte N o t wendigkeit für das Strafverfahren darstellt, die Unterbrechung der Verjährung nach § 78 I S. 1 StGB 59 . Zwar besteht für den Strafrichter regelmäßig keine Pflicht, das Verfahren auszusetzen, vielmehr ist die Aussetzung seinem Ermessen anheimgestellt, wie schon der Formulierung des § 262 StPO zu entnehmen ist 60 , so daß dann das Merkmal „unbedingte Voraussetzung" nicht mehr vorliegen würde. so hätte der die Grundlage der Bestrafung bildende § 21 StVG gemäß Art. 100 I G G dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden müssen, worauf schon MengerEricbsen, a. a. O. (Anm. 37), S. 370 f., hinwiesen. 55 A. A. hingegen B G H S t . 23, 86 ff. 56 Nicht eingegangen werden soll hier auf den Theorienstreit, ob der Suspensiveffekt eine Wirksamkeits- oder eine bloße Vollzugshemmung beinhaltet; vgl. dazu umfassend H.-J. Papier, VerwArch. Bd. 64 (1973), 290 ff. Selbst wenn man sich der vom BVerwGE 13, 1 ff. vertretenen Meinung anschließt, es werde die Wirksamkeit des Verwaltungsakts nicht berührt, sondern lediglich sein Vollzug gehemmt, so bedeutet das doch, d a ß in dieser Zeit keine rechtlichen und tatsächlichen Folgerungen aus dem Verwaltungsakt gezogen werden dürfen ( R e d e k e r - v o n Oertzen, a. a. O., (Anm. 33), R d n r . 1 zu § 80). — Entschieden zu weit hingegen der Ratschlag von L. Renck (JuS 1967, 545, 551) und D. Baldauf ( N J W 1967, 745), in jedem Falle anzufechten, denn „die Anfechtung w i r k t f ü r den Anfechtenden ex tunc, und so können alle Verkehrssünder, selbst wenn das Zeichen zu Recht! gesetzt wurde, nicht bestraft werden, weil eine rechtsbeständige u n d mithin vollziehbare Anordnung zur Tatzeit nicht bestanden h a t " . Hierbei w i r d der nur vorläufige Charakter des Suspensiveffekts übersehen. 57 Bei klageabweisendem Urteil entfällt der Suspensiveffekt des eingelegten Rechtsmittels rückwirkend: BVerwGE 24, 92 (98); O V G Berlin, J R 1967, 277 f. 58 Statt aller Nachweise vgl. Th. Kleinknecht, Strafprozeßordnung, 31. Aufl. 1974, Anm. 4 zu § 262. 59 B G H S t . 24, 6. 60 D a z u auch B a y V e r f G H , GA 1963, 375 (376).

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Gleichwohl dürfte eine Ermessensentscheidung des Strafrichters nur anzunehmen sein, wenn der Bürger den Verwaltungsprozeß oder das verwaltungsgerichtliche V o r v e r f a h r e n noch nicht in G a n g gebracht hat, weil dann in der T a t das die Grundlage der Verurteilung bildende Verkehrszeichen noch Verbindlichkeit besitzt. In den Fällen jedoch, in denen das Verwaltungsvor- oder Verwaltungsgerichtsverfahren bereits anhängig ist, kann der Richter nichts anderes tun, als den Ausgang dieses Verfahrens abzuwarten. D e n n nunmehr ist der Fortgang des S t r a f v e r f a h r e n s von der Entscheidung über diese V o r frage abhängig und die Aussetzung bewirkt ein R u h e n der V e r j ä h rung 6 1 . W i r d im verwaltungsgerichtlichen V e r f a h r e n die Rechtmäßigkeit des Verkehrszeichens rechtskräftig bestätigt, es also für von A n f a n g an verbindlich erklärt, so k a n n der Strafrichter im f o r t geführten Ordnungswidrigkeitsverfahren den Betroffenen wegen der Zuwiderhandlung zu einem Bußgeld verurteilen; im Falle der Rechtswidrigkeit des Zeichens ist freizusprechen. N u n ist verschiedentlich der Versuch unternommen worden, die aufschiebende Wirkung des gegen ein Verkehrszeichen eingelegten Rechtsbehelfs zu negieren, um die S t r a f b a r k e i t des Verstoßes auch gegen ein rechtswidriges Gebots- oder Verbotszeichen 6 2 zu begründen 6 3 . So hat etwa Honnacker64 ausgeführt, wenn der nachträglichen Änderung oder Aufhebung von Verkehrszeichen keine rückwirkende K r a f t zukomme, könne diese auch ein Widerspruch als Versuch zu einer derartigen Änderung nicht entfalten. Diese Argumentation verkennt das Wesen des Suspensiveffekts, der bei noch nicht abgeschlossenen Verwaltungsvor- oder Verwaltungsgerichtsverfahren den E i n t r i t t gg. irreparabler Zustände zu Lasten des Bürgers verhindern soll« 5 . Allerdings hat das V G K ö l n 6 6 die Auffassung vertreten, die A u f stellung von Parkverbotszeichen impliziere zugleich die Anordnung

61 Eine Aussetzungspflicht bejahen Menger-Erichsen, a. a. O. (Anm. 37), S. 377; K. Janicki, JZ 1968, 94 (95); W.-R. Schenke, a . a . O . (Anm. 22), S. 455. Einen besonderen Aspekt dieser Pflicht betont B. Schreven, NJW 1970, 155, indem er unter Bezug auf BGHSt. 5, 110 (115) auf die Bindung des Strafrichters an das Gestaltungsurteil wegen dessen reditsbegründender Wirkung hinweist. ®2 BGHSt. 23, 86 ff. will sogar bei für den Bürger günstigem Ausgang des Verwaltungsprozesses eine Wiederaufnahme des Bußgeldverfahrens verweigern! Anders BVerfGE 22, 21 (27), die ausdrücklich auf diese Möglichkeit verweist. 63 Ausführlich gegen die Strafbarkeit von Verstößen gegen rechtswidrige Verwaltungsakte P. Krause, JuS 1970, 221 (222). «4 A. a. O. 65 Redeker-von Oertzen, a. a. O. (Anm. 33), Rdnr. 1 zu § 80. 66 VG Köln, N J W 1968, 1347.

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Die Bindungswirkung von Verkehrszeichen

der sofortigen Vollziehung 67 . An dem unausweichlichen Konflikt mit der in § 80 I I I 1 VwGO statuierten Begründungspflicht68 argumentierte sich das Gericht vorbei, indem es diese Norm für „nicht anwendbar" erklärte. Seine Begründung, bei Erlaß des Verwaltungsaktes in Form eines Verkehrszeichens kenne die Behörde noch nicht den Adressaten, an den sich die Anordnung wende, zeigt allzu deutlich, wie wenig die Verkehrszeichen in das Prokrustes-Bett Verwaltungsakt passen. Eine interessante Lösung hat das O V G Münster 69 vorgeschlagen, indem es im Wege der Analogie die Verkehrszeichen den „unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten" gemäß § 80 II Nr. 2 VwGO gleichgesetzt und damit den Suspensiveffekt ausgeschlossen hat. Klar erkannt hat das Gericht in seinem Beschluß zwar, daß die aufschiebende Wirkung jedem Rechtsbehelf gegen einen belastenden Verwaltungsakt zukommt und nur unter den Voraussetzungen der in § 80 II VwGO geregelten Fälle ausgeschlossen ist. Gegen die These des Gerichts verfängt auch der Einwand von Strauß10 nicht, daß es sich hier um eine im Strafprozeß unzulässige Analogie zu Lasten des Betroffenen handele; denn die Analogie greift im Bereich des Verwaltungsvor- oder -gerichtsverfahrens Platz und regelt lediglich Vorfragen für den Strafprozeß, ist also einem anderen Rechtsgebiet als dem Strafrecht zuzuordnen. Gegen die Lösung des O V G Münster spricht aber, ohne zur Frage, ob überhaupt eine Gesetzeslücke vorliegt 71 Stellung zu nehmen, folgendes: Nach § 80 II Nr. 2 VwGO müssen die Maßnahmen „unaufschiebbar" sein. Dieser Begriff ist inhaltlich bislang noch nicht abschließend geklärt. Da es sich um Tätigkeiten von Polizeivollzugsbeamten handelt, kann die Heranziehung der Ermächtigungsnormen für polizeiliches Tätigwerden Aufschluß geben. Gemäß § 15 I S. 2 PolG, § 2 S. 1 OBG N R W 7 2 hat die Polizei zum Zwecke der Gefahrenabwehr die notwendigen unaufschiebbaren Maßnahmen zu treffen. Die Verwaltungs8 7 Ablehnend Löwer, 1 6 9 ff.

NJW

1968,

1541;

J.R.Schmidt,

BadWürtt.

YBl.

6 8 Beim Fehlen der Begründung ist die A n o r d n u n g per se f e h l e r h a f t : von Oertzen, R d n r . 2 3 zu § 8 0 ; B a y V G H . B a y V B l . 1975, 2 0 f. 6 9 O V G Münster, O V G E 24, 2 0 0 ff.; ähnlidi B G H S t . 23, 8 6 ff. 70 D. Strauß, D A R 1 9 7 0 , 9 2 ( 9 3 ) .

1968,

Redeker-

71 ]. R. Schmidt, D Ö V 1 9 7 0 , 6 6 3 ( 6 6 4 ) verneint eine Lücke, weil der Gesetzgeber in allen nicht v o n § 80 I I N r . 1 — 3 erfaßten Fällen des automatischen Ausschlusses des Suspensiveffekts noch die Möglichkeit der A n o r d n u n g des sofortigen Vollzugs nach N r . 4 gewähre. 72

A n d e r e Landesgesetze weichen d a v o n nicht ab.

872

Klaus Stern

Vorschrift zum Polizeigesetz vom 4. 12. 1969 73 erklärt dazu: „Unaufschiebbar ist eine Maßnahme dann, wenn ein Schaden als unmittelbar bevorstehend anzusehen ist und Maßnahmen der an sich zuständigen Behörde zu spät kommen würden." Eine ähnliche Definition findet sich in der Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Ordnungsbehördengesetzes vom 28. 11. 1969 74 zu § 2 S. 1 OBG: „Unaufschiebbar ist eine Maßnahme dann, wenn der Schaden nach vernünftiger Einschätzung als unmittelbar bevorstehend angesehen werden kann, so daß ohne Eingreifen der Polizei ein Tätigwerden der Ordnungsbehörden zu spät kommen könnte 7 5 ." Schon aus diesen Begriffsbestimmungen wird deutlich, daß entscheidend auf die Lage des Einzelfalles abzustellen ist; eine schematisierende Betrachtungsweise (etwa: „Alle Handlungen der Polizei, die diese anstelle der an sich zuständigen Ordnungsbehörde zur Abwehr von Gefahren vornimmt, sind unaufschiebbar") verbietet sich, weil dem Erfordernis eines unmittelbar drohenden Schadeneintritts, der logischerweise nur auf einen konkreten Sachverhalt bezogen sein kann, nicht Rechnung getragen wird. Diese Überlegungen zur Unaufschiebbarkeit des (allgemeinen) polizeilichen Tätigwerdens werden bestätigt durch die polizeiliche Kompetenz zur Regelung des Straßenverkehrs nach § 44 II StVO. Danach dürfen Verkehrsregelungen durch Zeichen und Weisungen im Sinne von § 36 StVO sowie durch Bedienung von Lichtzeichenanlagen nach § 37 StVO nur von der Polizeibehörde vorgenommen werden. Da beide Arten dieser Verkehrsregelung den sonstigen Verkehrsregeln, zu denen auch die Beachtung der von der Straßenverkehrsbehörde aufgestellten Verkehrszeichen gehört, vorgehen, darf die Polizei nicht willkürlich eingreifen, weil sonst die an sich bestehende Kompetenz der Ordnungsbehörde beeinträchtigt, ja im Einzelfall sogar ausgeschlossen wird. Vielmehr muß ein polizeiliches Einschreiten stufenweise erfolgen: Reichen die allgemeinen Verkehrsregeln nicht aus, so soll eine Regelung durch Lichtzeichenanlagen erfolgen. Erst wenn diese der jeweiligen Verkehrssituation nicht ge73

MB1. N R W S. 2000. MBl. N R W S. 1990, geändert durch Runderlaß vom 4. 3.1971 (MB1. N R W S. 556). 75 Ein eindrucksvolles Beispiel bildet das Urteil des BadWürtt. VGH, ESVGH 21, 167ff.: Danach durfte der Polizeivollzugsdienst ein an „enger Straßenstelle" i. S. von § 16 I 2 StVO a. F. abgestelltes Fahrzeug abschleppen, weil „Gefahr im Verzug" vorlag, nämlich ein Sachverhalt, in dem „durch ein Abwarten bis zum Eingreifen der an sich zuständigen Behörde ein drohender Schaden entstehen würde . . V o g e l , a. a. O. (Anm. 7), S. 87, weist auf die Gleichwertigkeit der Begriffe „Gefahr im Verzug" und „unaufschiebbar" hin; dazu auch OVG Münster, DVB1. 1973, 922 f. 74

Die Bindungswirkung von Verkehrszeichen

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recht werden können, hat der Polizeibeamte einzugreifen, dessen Anordnung wiederum den Lichtzeichen vorgeht. In diesem Sinne spricht die Begründung zu § 36 Abs. 2 und 4 StVO 7 6 davon, daß der Polizeibeamte „erforderlichenfalls" einzugreifen habe bzw. „wenn besondere Verhältnisse es erfordern". Aber selbst dieses nur unter besonderen Voraussetzungen zulässige Handeln der Polizei wird vom Gesetz nicht als unaufschiebbare Maßnahme begriffen, wie ein Vergleich mit § 44 II S. 2 StVO beweist: dort werden der Polizei besondere Kompetenzen bei „Gefahr im Verzug" zugebilligt; erst bei dieser Alternative werden jedenfalls unaufschiebbare Maßnahmen getroffen. Als Fazit ist festzustellen: Grundsätzlich sind Handlungen der Polizei nicht schon dann unaufschiebbar, wenn ihr eine besondere gesetzliche Kompetenz gemäß §§ 20 II, 15 II PolG zugewiesen ist, sondern nur dann, wenn diese auf Grund ihrer subsidiären Zuständigkeit gemäß der Generalklauseln der §§ 15 I, 20 I PolG, 2 S. 1 OBG eingreift 77 . Darüber hinaus kann natürlich eine k r a f t besonderer gesetzlicher Zuweisung getroffene Maßnahme unaufschiebbar sein, wie das Beispiel des § 44 II 2 StVO zeigt. Zu dieser Vorschrift sei noch angemerkt, daß die Polizei sich gemäß ausdrücklicher gesetzlicher Regelung jedes Mittels zur Sicherung des Verkehrs bedienen darf. Sie darf insbesondere auch Verkehrszeichen oder Ampeln aufstellen 78 . Sind aber die nach § 44 II 2 StVO getroffenen Maßnahmen — also auch Verkehrszeichen — unaufschiebbar, so unterfallen nur die auf Grund dieser Vorschrift von der Polizei aufgestellten Verkehrszeichen automatisch der Ausnahmevorschrift des § 80 II N r . 2 VwGO. Unaufschiebbar ist danach jede Handlung, die zur Beseitigung eines drohenden Schadeneintritts erforderlich ist, sofern durch ihr Unterbleiben eine konkrete Gefahr für Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit oder Eigentum einzelner entsteht 79 . Daraus ergibt sich, daß nicht alle Handlungen von Polizeivollzugsbeamten unaufschiebbar sind, insonderheit nicht alle diejenigen, die den Straßenverkehr betreffen. Damit fehlt es für einen Analogieschluß im Rahmen des § 80 II N r . 2 V w G O bereits an dem gesetzlich geregelten wesentlich ähnlichen Tatbestand, so daß von einer Funktionsgleichheit zwischen Anordnungen von Polizeibeamten und Regelungen durch Verkehrszeichen schwerlich geredet werden kann. Kaum ein Polizist nämlich wird nachts auf leeren Straßen ein ein76

Abgedruckt bei Jagusch, Straßenverkehrsredit, Rdnr. 12, 14 zu § 36 StVO. Ähnliche Überlegungen bei Eyermann-Fröhler, a. a. O. (Anm. 10), Rdnr. 24 zu § 80. 78 Jagusch, a. a. O., Rdnr. 9 zu § 44 (Verwaltungsvorschrift). 79 Ähnlich Menger-Erichsen, a. a. O. (Anm. 37), S. 376; Schunck-De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. 1967, § 80 Anm. 3 b. 77

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Klaus Stern

sames Auto an zügiger Einfahrt in eine einsichtbare Hauptstraße hindern, wie es durch ein Vorfahrtszeichen geschieht. Das Beispiel zeigt anschaulich, daß sich Verkehrszeichen eben nicht der jeweiligen konkreten Verkehrssituation anpassen, wie dies bei Weisungen von Verkehrspolizisten regelmäßig der Fall ist, sondern eher der abstrakten Gefahrenabwehr dienen 8 0 . Interessant zur Eingrenzung des § 80 I I N r . 2 V w G O ist auch ein Blick in die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift. Ursprünglich war eine besondere Regelung für Tätigkeiten von Polizeivollzugsbeamten nicht vorgesehen; sie wurde erst auf Vorschlag des Bundesrates eingefügt 8 1 . Allein diese Tatsache führt die ständig wiederholte Behauptung, die aufschiebende Wirkung bei Anfechtung eines Verkehrszeichen führe zu einem Chaos 8 2 , ad absurdum; denn hätten allgemein alle verkehrsregelnden Maßnahmen um ihrer selbst willen der sofortigen Vollziehung bedurft, so hätte sich eine diesbezügliche Regelung den Verfassern des Entwurfs geradezu aufdrängen müssen. Somit besteht keine Möglichkeit, bei Klagen gegen Verkehrszeichen die aufschiebende Wirkung generell per analogiam zu § 80 I I N r . 2 V w G O zu beseitigen; andere rechtsähnliche Tatbestände der Ausnahmeregelung des § 80 Abs. 2 V w G O liegen ersichtlich nicht vor. Als Ausweg für die Zukunft bietet sich nur eine Regelung des Gesetzgebers gemäß § 80 I I N r . 3 V w G O an 8 3 , um die sofortige Durchsetzbarkeit zu erreichen 84 . Daneben bleibt es der Verwaltungsbehörde im Einzelfall natürlich unbenommen, die sofortige Vollziehung nach § 80 I I N r . 4 anzuordnen, etwa im Zusammenhang mit dem einen Widerspruch zurückweisenden Bescheid. Solange jedoch der förmliche 8 5 Bundesgesetzgeber nicht den Suspensiveffekt eines Rechtsbehelfs gegen ein Verkehrszeichen ausgeschlossen hat und die Ausnahmeregelungen des § 80 I I N r . 1 — 4 V w G O nicht erfüllt sind, beansprucht die allgemeine Regel

8 0 Dazu Menger-Ericbsen, a . a . O . , S. 3 7 6 ; H.K.Schmaltz, N J W 1969, 1318; Schmidt, D Ö V 1970, 6 6 3 ; R. Hoffmann, N J W 1966, 875. 8 1 Vgl. dazu BR-Drucksache 55, 3. Wahlperiode, S. 56 — Sitzung vom 29.11. 1957. 8 2 VG Köln, N J W 1968, 1347 (1348); dagegen schon R. Hoffmann, J Z 1964, 702 (705 f.), der zu Recht auf die aus § 1 StVO folgende Pflicht zur Beachtung des angefochtenen Verkehrszeichens hinweist. Ähnlich M. Hagedorn, N J W 1967, 744. 8 3 Eine Zusammenstellung der gesetzlichen Ausschlüsse des Suspensiveffekts findet sich bei K. Finkelnburg, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 1973, S. 104. 8 4 Dazu auch B. Schreven, a. a. O. (Anm. 61). 85 Redeker-von Oertzen, a. a. O. (Anm. 33), Rdnr. 21 zu § 80. 8 8 Vgl. oben Anm. 58.

Die Bindungswirkung v o n Verkehrszeichen

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des § 80 I V w G O Geltung, nach der Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung zukommt. Daraus folgt, daß durch Widerspruch oder Klage gegen ein Verkehrszeichen dessen Geltung bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verwaltungs- oder Verwaltungsgm'c&isverfahrens für den Beschwerdeführer aufgehoben wird. Dem Strafrichter ist damit die Grundlage für seinen Richterspruch entzogen; er hat zwar die Strafandrohungsbefugnis, nicht aber den Tatbestand, dessen Verletzung pönalisiert ist. Aus diesem Grunde muß er die verwaltungsgerichtliche Entscheidung über Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verkehrszeichens abwarten, bevor er über den ihm unterbreiteten O r d nungswidrigkeitstatbestand judizieren kann. Damit wegen der kurzen Frist von drei Monaten keine Verjährung eintritt, hat er das Verfahren gemäß § 2 6 2 S t P O analog auszusetzen. Nach rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts kann das Strafgericht seine schon oben (S. 869) angedeutete Entscheidung fällen: Wenn das Verkehrszeichen für rechtswidrig befunden und gemäß § 113 V w G O rückwirkend aufgehoben wird, hat der Strafrichter auf Freispruch zu erkennen; wird dem Verkehrszeichen Rechtmäßigkeit attestiert, ist der Bußgeldbescheid zu bestätigen. 8 7 )

8 7 Abgeschlossen im Juli 1 9 7 5 . — Zu dem behandelten Problemkreis erschien aus schweizerischer Sicht jüngst der Beitrag von H. Nef, Prüfung v o n Verwaltungsverfügungen durdi den Strafrichter? in: E r h a l t u n g und E n t f a l t u n g des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, Festgabe der schweizerischen Rechtsfakultäten zur H u n d e r t j a h r f e i e r des Bundesgerichts, 1 9 7 5 , S. 2 1 3 ff.

"Wie weit reicht § 30 des Ordnungswidrigkeitengesetzes? RUDOLF SCHMITT

I. § 30 (früher § 26) OWiG ist von zentraler Bedeutung nicht nur für das Ordnungswidrigkeitenrecht, sondern f ü r das Strafrecht überhaupt 1 . Ergibt doch bereits Abs. 1 dieser Bestimmung, daß die dort vorgesehenen Sanktionen nicht nur als Folgen von Ordnungswidrigkeiten, sondern auch als Reaktionen auf Straftaten zulässig sind. Streng genommen gehört die Bestimmung daher in das Strafgesetzbuch; zumindest müßte dieses eine entsprechende Vorschrift enthalten. Das war ursprünglich auch vorgesehen. Der Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten 2 sah die Einführung eines § 42 q in das Strafgesetzbuch mit folgendem Inhalt vor: „Als weitere Nebenfolgen der Tat sind gegen juristische Personen und Personenvereinigungen Geldbußen nach dem Recht der Ordnungswidrigkeiten zulässig."

Dieser Paragraph ist dann aber nicht Gesetz geworden 3 . Angeblich wurde er als überflüssig angesehen. In Wahrheit dürfte sich hier erstmals das schlechte Gewissen (des Gesetzgebers) hinsichtlich der „Verbandsgeldbuße" zeigen, dem wir im Rahmen unseres Themas noch mehrfach begegnen werden. Jedenfalls blieb es dabei, daß die materiell-rechtliche Vorschrift lediglich in das Ordnungswidrigkeitengesetz eingestellt wurde; die Einfügung einer besonderen Verfahrensvorschrift in die Strafprozeßordnung ließ sich freilich nicht vermeiden 4 .

II. § 30 OWiG befaßt sich, wie die Uberschrift des 6. Abschnittes besagt, mit der „Geldbuße gegen juristische Personen und Personenvereinigungen". Wir wollen diese Sanktion als „Verbandsgeldbuße" bezeichnen, weil ihre Besonderheit darin liegt, daß sie nicht einer natür1 Der Verf. betrachtet das Ordnungswidrigkeitenrecht als Teil des Strafrechts. Vgl. näher Rudolf Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht dargestellt für den Bereich der Wirtschaft, 1970, S. 11 ff. (16). 2 Vgl. BT-Drucksache V / 1 3 1 9 S. 4, 61. s Vgl. Bode N J W 1969, 1286. 4 Sie findet sidi in § 444 S t P O .

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Rudolf Schmitt

liehen Person, sondern einer juristischen Person oder einer nicht rechtsfähigen Personenvereinigung auferlegt wird. Erfaßt werden also zunächst alle juristischen Personen des Privatrechts 5 ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Körperschaften oder Stiftungen handelt. Dies ist deshalb von praktischer Bedeutung, weil sich die Rechtsform der Stiftung im Wirtschaftsleben steigender Beliebtheit erfreut. — Gleichgestellt sind den juristischen Personen bestimmte Personenvereinigungen, die zwar keine Rechtsfähigkeit besitzen, konstruktiv aber den juristischen Personen verwandt sind, nämlich die nicht rechtsfähigen Vereine und die „Personenhandelsgesellschaften", also die Offenen Handelsgesellschaften und die Kommanditgesellschaften. Diese Liste des § 30 ist freilich nicht ganz vollständig. Systematisch betrachtet fehlen die Reedereien und die BGB-Gesellschaften (soweit sie nicht bloße Gelegenheitsgesellschaften sind)6,7- Göhler mag Recht damit haben, daß für die Einbeziehung der BGB-Gesellschaften kein Bedürfnis bestand8. Für die Reedereien ließe sich das aber wohl kaum sagen. — Unberechtigt wäre es jedoch, wenn beanstandet würde, daß § 3 0 die GmbH & Co. nicht nennt. Zwar wirft diese Gesellschaftsform im Rahmen des § 30 besondere Probleme auf, wovon noch zu sprechen sein wird. Doch handelt es sich zweifellos um einen Unterfall der Kommanditgesellschaft, so daß die GmbH Sc Co. von der gesetzlichen Formulierung „Personenhandelsgesellschaft" miterfaßt wird.

III. Auch die Verbandsgeldbuße ist natürlich eine Geldbuße im Sinne von § 17 OWiG. Sie enthält daher, wie § 17 Abs. 3 expressis verbis sagt, einen Vorwurf. Einen Vorwurf aber kann der Verband als solcher nicht auf sich laden. Daher ist die Festsetzung von Geldbußen gegen Verbände an und für sich dogmatisch ebensowenig begründbar wie die Verhängung von Verbandsgeldstrafen. Darauf habe ich schon 5 Auf die Sonderproblematik der juristischen Personen des öffentlichen Rechts kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. aber Pohl-Sichtermann, Geldbuße gegen Verbände, 1974, S. 66 ff. • Vgl. schon Rudolf Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht, S. 27 (mit weiteren Nachweisen). 7 Zu weitgehend aber wohl der Vorschlag von Tiedemann, die Rechtsform überhaupt unberücksichtigt zu lassen (Gutachten C zum 49. Deutschen Juristentag, 1972, S. C 58). 8 Vgl. Göhler, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 4. Auflage 1975, § 30 Anm. 1 B c). Anderer Ansicht aber Pohl-Sichtermann, Geldbuße, S. 64/65.

Wie weit reicht § 3 0 des Ordnungswidrigkeitengesetzes

879

vor fast zwanzig Jahren hingewiesen 9 , und diese Auffassung ist seither nicht widerlegt, sondern im Gegenteil von mehreren Autoren übernommen worden 1 0 . Ich beabsichtige auch nicht, meine Ansicht bei dieser Gelegenheit aufzugeben. N u r läßt sich von diesem Standpunkt aus kein Aufsatz über das gewählte Thema schreiben. Es wird daher für die folgenden Ausführungen unterstellt, daß eine Verbandsgeldbuße dogmatisch möglich ist, welchen Standpunkt ja auch der Gesetzgeber seit geraumer Zeit eingenommen hat.

IV. D a der Verband als solcher nicht handeln kann 1 1 , muß die Verbandsgeldbuße an die Handlung einer natürlichen Person anknüpfen. Selbstverständlich dürfen diese „Anknüpfungstat" und der Verband nicht beziehungslos nebeneinander stehen. J a man kann sagen, daß die genaue Bestimmung der erforderlichen Beziehung zwischen dem Verband und der die Verbandssanktion auslösenden Individualhandlung die Kernfrage des „Verbandsstrafrechts" überhaupt ist. Im Vordergrund steht dabei die Festlegung des Personenkreises, dessen Handlungen geeignet sind, Verbandssanktionen auszulösen. § 30 O W i G beschränkt diesen Personenkreis sehr stark, im Ergebnis auf die „gesetzlichen Vertreter" der Verbände 1 2 . N u r wer den Verband rechtsgeschäftlich vertritt, kann ihm auch eine Geldbuße anlasten.

1.

Als erstes ergibt sich an dieser Stelle die oben bereits angedeutete besondere Problematik der G m b H & Co. K G , deren Wesenseigentümlichkeit ja darin besteht, daß der Komplementär eine (nicht handlungsfähige) G m b H ist. Daher nimmt die im Schrifttum überwiegende Meinung an, daß § 30 O W i G auf die G m b H & Co. keine Anwendung finden könne 1 3 . Hingegen hat das O L G H a m m es für möglich gehalten, bei Anwendung des § 30 auf das für diese G m b H handelnde 9 Vgl. Rudolf Schmitt, Strafrechtliche M a ß n a h m e n gegen Verbände, 1 9 5 8 , S. 2 1 5 ff. ( 2 1 7 ) . 1 0 Vgl. nur Jescbeck J Z 1959, 4 6 2 , Lang-Hinrichsen J Z 1 9 7 0 , 7 9 7 und PohlSichtermann, Geldbuße, S. 3 9 . 1 1 Vgl. B V e r f G E 20, 3 3 6 . Ausführlicher hierzu Rudolf Schmitt, Strafrechtliche M a ß n a h m e n , S. 181 ff. ( 1 8 7 ) . 12

Ähnliche Formulierung bei Pohl-Sichtermann,

13

Vgl. Pohl-Sichtermann

Geldbuße, S. 111.

N J W 1 9 7 3 , 2 2 1 7 / 2 2 1 8 (mit weiteren Nachweisen).

880

Rudolf Schmitt

Organ abzustellen 14 . Obwohl ich glaube, daß diese Entscheidung sich noch in den Grenzen zulässiger Auslegung bewegt, wäre es doch sehr wünschenswert, wenn der Gesetzgeber die Frage anläßlich der ohnehin fälligen Neufassung des § 30 eindeutig regeln würde; denn schließlich spielt die G m b H & Co. in unserem Wirtschaftsleben eine eminent wichtige Rolle, weil sie die Vorteile einer Personengesellschaft mit der Haftungsbeschränkung einer Kapitalgesellschaft vereinigt.

2.

Unabhängig davon muß aber die Frage aufgeworfen werden, ob § 30 den Kreis der natürlichen Personen nicht zu stark eingeschränkt hat. Zugegeben ist allerdings, daß bei diesen Personen auch eine „Aufsichtspflichtverletzung" im Sinne von § 130 OWiG genügt. In diesem Falle bildet dann letztlich doch die Handlung einer anderen natürlichen Person den Ausgangspunkt für die Verbandsgeldbuße. Doch geht das eben immer nur über die Aufsichtspflichtverletzung gerade einer der in § 30 genannten Personen, genauer gesagt im Rahmen des § 1 3 0 Abs. 2 N r . 2 OWiG, wobei aber erhebliche Beweisschwierigkeiten bestehen 15 . Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das uns nun schon bekannte Unbehagen des Gesetzgebers gegenüber dem Institut der Verbandsgeldbuße auch zu der starken Einschränkung des Personenkreises geführt hat. Schon in meiner Habilitationsschrift hatte ich vorgeschlagen, wenigstens die Handlungen der „leitenden Angestellten" als „Anknüpfungstaten" zuzulassen 16 . Diesem Vorschlag konnte man seinerzeit noch entgegenhalten, daß der Begriff des „leitenden Angestellten" nicht hinreichend abgrenzbar sei. Nachdem aber das Bundesarbeitsgericht neuerdings, wenn auch aus anderem Anlaß, in mehreren Entscheidungen diesen Begriff exakt umschrieben hat 17 , läßt sich der Einwand der mangelnden Abgrenzbarkeit nicht mehr aufrechterhalten. — Vielleicht sollte man sogar noch einen Schritt weitergehen. Es fällt auf, daß § 9 OWiG („Handeln für einen anderen") in seinem Abs. 1, soweit es sich um die Vertretung von Verbänden handelt, im wesentlichen denselben Personenkreis umschreibt wie § 30 Abs. 1. Dann aber wird dieser Personenkreis in § 9 Abs. 2 14 N J W 1973, 1851 ff. Zustimmend Göhler a. a. O. § 30 Anm. 2 A. — Es scheint auch eine entsprechende Entscheidung des OLG Köln ergangen zu sein (vgl. PohlSichtermann, Geldbuße, S. 243). 15 Vgl. Tiedemann a. a. O. C 58 und Pohl-Sichtermann, Geldbuße, S. 113. 16 Vgl. Rudolf Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen, S. 189 f. 17 Vgl. vor allem N J W 1974, 965 ff. und N J W 1975, 797 ff.

Wie weit reicht § 30 des Ordnungswidrigkeitengesetzes

881

ganz erheblich erweitert. Eine entsprechende Erweiterung bringt der bereits erwähnte § 130 O W i G in Abs. 2 N r . 3. Warum soll § 30 nicht an die beiden genannten Vorschriften angeglichen werden? — Eine Erweiterung des Kreises der natürlichen Personen in § 30 O W i G 1 8 erscheint mir umso unbedenklicher, als diese Vorschrift ja die Verknüpfung zwischen der Individualhandlung und der Verbandsgeldbuße — durchaus zutreffend — nicht nur aus der Zugehörigkeit des Täters zu einem bestimmten Personenkreis herleitet, sondern in Abs. 1 N r . 1 und 2 weitere „Verknüpfungskriterien" aufstellt, auf die hier nicht näher einzugehen ist 19 .

V. Die Tatsache, daß die Verbandsgeldbuße begriffsnotwendig an die Handlung einer natürlichen Person anknüpfen muß, besagt noch nicht, daß diese Handlung auch verfolgt und sanktioniert werden muß. Etwas anderes soll aber gerade im Rahmen des § 30 O W i G gelten. Schon der Wortlaut von Abs. 1 bezeichnet die Verbandsgeldbuße ausdrücklich als „Nebenfolge" der Straftat oder Ordnungswidrigkeit der natürlichen Person. Die Literatur pflegt diese Regelung im allgemeinen als unvermeidlich zu bezeichnen und führt zur Begründung dieser These sogar verfassungsrechtliche Argumente an. Eben diese Argumente bedürfen aber dringend der Nachprüfung:

1.

Betroffen sein könnte zunächst der Schuldgrundsatz, dem das Bundesverfassungsgericht — vielleicht etwas voreilig — den Rang eines Verfassungsrechtssatzes verliehen hat, und zwar gerade auch für den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts 20 . Indes gilt hier: Würde man mit dem Schuldgrundsatz ernst machen, so dürfte es überhaupt keine Verbandsgeldbußen geben. Denn die Verbände können nicht handeln und schon gar nicht schuldhaft handeln 21 . Betrachtet man aber Verbandsgeldbußen grundsätzlich als möglich, und davon woll18 Hierfür audi — in anderer Hinsicht — Backes J Z 1973, 342 F N 24; Tie demann a. a. O., C 57; Pohl-Sichtermann, Geldbuße, S. 115. 19 Vgl. neben den einschlägigen Kommentaren vor allem Bode N J W 1969, 1287, Demuth-Schneider, Betriebsberater 1970, 650 und Pohl-Sichtermann, Geldbuße, S. 145 ff. 20 Vgl. BVerfGE 20, 323 ff. (333). 21 Das erkennt auch das Bundesverfassungsgericht an; vgl. BVerfGE 20, 336.

882

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ten wir ja ausgehen, so kann aus dem Schuldgrundsatz nur die Forderung hergeleitet werden, daß die natürlichen Personen, deren Handlungen zum Ausgangspunkt von Verbandsgeldbußen gemacht werden, schuldhaft gehandelt haben22. Nicht aber läßt sich die weitere Forderung ableiten, daß diese Individualhandlungen auch verfolgt und sogar mit einer Sanktion belegt werden müssen23. 2. Weiter wird zur Begründung der Ausgestaltung der Verbandsgeldbuße als Nebenfolge der Grundsatz „ne bis in idem" herangezogen24, der durch Artikel 103 Abs. 3 GG Verfassungsrang erhalten hat. Nun besagt diese Bestimmung ihrem Wortlaut nach an sich nur, daß niemand — also nicht ein- und dieselbe Person25 — wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf. Wollte man aber die Bestimmung extensiv auslegen mit der Konsequenz, daß auch nicht zwei Personen wegen derselben Tat mit Sanktionen belegt werden dürfen, so würde diese Auslegung gerade nicht für sondern gegen die Nebenfolgelösung sprechen. Bei dieser Auslegung dürfte man entweder nur die natürliche Person oder nur den Verband mit einer Sanktion belangen. 3. Vollends neben der Sache liegt schließlich der Hinweis, Art. 103 Abs. 3 GG könne, falls man auf die akzessorische Ausgestaltung der Verbandsgeldbuße verzichte, möglicherweise auch dadurch tangiert werden, daß die natürliche Person durch die Verbandsgeldbuße — zusätzlich zu der gegen sie verhängten Sanktion — auch noch als Mitglied des Verbandes betroffen werde26. Zunächst spricht auch diese Argumentation nicht für sondern gegen die Nebenfolgelösung. Wollte man das beanstandete Ergebnis vermeiden, so dürfte man eben eine Geldbuße entweder nur gegen die natürliche Person oder nur gegen den Verband festsetzen. Vor allem aber ist das kein Problem des Art. 103 Abs. 3 GG. Denn die natürliche Person wird nur einmal mit einer Sanktion belegt, das andere Mal lediglich mittelbar von der Zutreffend Göhler a. a. O. Vorbem. 4 vor § 30. Sachlich übereinstimmend Pohl-Sichtermann, Geldbuße, S. 54. 2 4 Besonders von Göhler a. a. O. § 30 Anm. 3. 2 5 Vgl. Pohl-Sichtermann, Geldbuße, S. 56. 2 6 Darauf hebt die Amtliche Begründung sogar in erster Linie ab. Vgl. BTDrucksache V/1269, S. 61. 22 23

Wie weit reicht § 30 des Ordnungswidrigkeitengesetzes

883

gegen den Verband verhängten Sanktion betroffen. Schließlich darf man nicht vergessen, daß die zusätzliche Belastung der schuldigen natürlichen Person recht leicht wiegt gegenüber der Tatsache, daß die Verbandsgeldbuße stets auch unschuldige Verbandsmitglieder in Mitleidenschaft zieht. Diese Folge ist der Verbandsgeldbuße immanent und — neben anderen Gesichtspunkten — ein wesentlicher Grund, warum ich sie seit jeher ablehne 27 . 4. D a die Beschränkung auf eine Nebenfolge auch nicht aus der N a t u r der Verbandsgeldbuße hergeleitet werden kann, ergibt sich folgendes: Erkennt man die Möglichkeit von Verbandsgeldbußen überhaupt an, so gibt es keine Gründe, insbesondere keine des Verfassungsrechts, diese Sanktion nur als Nebenfolge zuzulassen 2 8 .

VI. Von geringerer Bedeutung, aber dafür umso umstrittener, ist die Frage, ob prozeßwirtschaftliche Gründe für die Nebenfolgekonstruktion sprechen. Diese Frage wird von der Amtlichen Begründung ausdrücklich bejaht 2 9 , von Tiedemann aber mit Entschiedenheit verneint 30 . Pohl-Sichtermann prüft die Frage sehr gründlich und kommt schließlich ebenfalls zur Verneinung 3 1 . Wir werden auf diesen Aspekt weiter unten in anderem Zusammenhange noch zurückkommen. So viel darf aber jetzt schon gesagt werden: Es ist nicht von entscheidender Bedeutung, ob formell ein oder zwei Verfahren durchgeführt werden. Maßgeblich ist vielmehr, ob, wenn eine Verbandsgeldbuße isoliert festgesetzt werden kann, die Ermittlungsarbeit gegen die natürliche Person erspart bleibt oder nicht.

VII. Vorher müssen wir uns noch kurz der Frage zuwenden, ob die Verbandsgeldbuße nach geltendem Recht überhaupt als Nebenfolge angesprochen werden kann, wie es das Gesetz in § 30 Abs. 1 sagt, und 27 28 29 30 31

Vgl. Rudolf Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen, S. 216. Im Ergebnis übereinstimmend Pohl-Sichtermann, Geldbuße, S. 63. Vgl. BT-Drucksache V/1269 S. 61 rechts. Vgl. Tiedemann a. a. O. C 58. Vgl. Pohl-Sichtermann, Geldbuße, S. 59—63.

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Rudolf Schmitt

wie es daher auch die Literatur nahezu einhellig behauptet 32 . Bekanntlich enthält § 30 auch einen Abs. 4, der die „selbständige" Festsetzung der Geldbuße zuläßt. Satz 1 dieses Absatzes ist freilich so eng gefaßt, daß er nicht als Beseitigung des Prinzips der Nebenfolge aufgefaßt werden kann. Anderes gilt aber von Satz 2, der, wie Göhler richtig hervorhebt 33 , eigentlich vor Satz 1 in das Gesetz hätte eingestellt werden sollen. Nach Satz 2 kann nämlich die Verbandsgeldbuße immer dann selbständig festgesetzt werden, wenn das Verfahren gegen die anlaßgebende natürliche Person eingestellt wird. Das ist im Strafverfahren vielfach möglich, im Bußgeldverfahren aber immer, weil in ihm das Opportunitätsprinzip ohne Einschränkung gilt (§ 47 OWiG). Göhler will sogar aus der isolierten Festsetzung einer Verbandsgeldbuße eo ipso die Einstellung des Verfahrens gegen die natürliche Person folgern 34 . So großzügig wäre idi nicht; aber unzweifelhaft kann durch Einstellung des gegen den Verbandsvertreter gerichteten Verfahrens die Verbandsgeldbuße — jedenfalls im Bereiche des Ordnungswidrigkeitenrechts — stets zur alleinigen Sanktion und damit zur „Hauptfolge" gemacht werden 35 . — Die Nebenfolgekonstruktion ist daher nicht nur unnötig, sondern vom geltenden Recht auch nicht konsequent durchgeführt.

VIII. Wenn die Anlaß gebende Individualhandlung weder verfolgt noch sanktioniert werden muß, erhebt sich die oben bereits angedeutete weitere Frage, ob überhaupt ihre Ermittlung erforderlich ist. Darf eine Verbandsgeldbuße auch dann ausgesprochen werden, wenn der Täter der „Anknüpfungstat" im dunkeln bleibt? Dieses Problem, das ich als das der „anonymen Verbandssanktion" zu bezeichnen pflege, ist altbekannt 36 , aber durch Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Oberlandesgerichts Köln erneut aktuell geworden 37 . Vgl. nur Rotberg, Ordnungswidrigkeitengesetz, 5. Auflage 1975, § 30 Rdnr. 1. A. a. O. § 30 Anm. 8 B. 3 4 A. a. O. § 30 Anm. 8 C. Ebenso wohl O L G Hamburg N J W 1971, 1000. 3 5 Unrichtig will Pohl-Sicbtermann (Geldbuße, S. 180) auch dann noch eine „Nebenfolge" annehmen. Richtig jedoch Demuth-Scbneider a . a . O . S. 651 und O L G H a m m N J W 1973, 1851. 3 6 Vgl. bereits Rudolf Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen, S. 142 ff. 3 7 Die Entscheidung des Bayerisdien Obersten Landesgerichts findet sich in N J W 1972, 1771 ff. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln ist in dem hier interessierenden Teil wörtlich wiedergegeben bei Pobl-Sichtermann, Geldbuße, S. 243 ff. (244 Fußnote 2). 32

33

Wie weit reicht § 3 0 des Ordnungswidrigkeitengesetzes

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An sich ist es für die „Anknüpfungstat" gleichgültig, von welchem Individuum sie begangen worden ist; insofern sind „anonyme Verbandsgeldbußen" begrifflich möglich. Es bestehen gegen sie auch ebensowenig verfassungsrechtliche Bedenken wie gegen die selbständige Festsetzung von Verbandsgeldbußen überhaupt. Doch liegt eben eine „taugliche" Anknüpfungstat nur dann vor, wenn sie von einem Angehörigen der im Gesetz genannten Personenkategorien in der vom Gesetz vorausgesetzten Weise begangen worden ist. Nach dem geltenden Wortlaut des § 30 bedeutet dies, daß ein „gesetzlicher Vertreter" des jeweiligen Verbandes eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung ausgeführt haben muß, die auch den zusätzlichen Erfordernissen des § 30 Abs. 1 N r . 1 und 2 genügt. Wenn man aber so viel festgestellt hat, kennt man im allgemeinen auch die Person des Täters. Daher muß die obige These, daß „anonyme Verbandssanktionen" begrifflich möglich sind, dahin ergänzt werden, daß sie kaum jemals praktisch werden dürften, wenn man an die Feststellungen so strenge Anforderungen stellt, wie dies aus rechtsstaatlichen Gründen unerläßlich ist. Die hier vertretene Aufassung von der begrifflichen Möglichkeit, aber praktixdien Bedeutungslosigkeit der „anonymen Verbandssanktionen" ist bereits früher in der Literatur geäußert worden 3 8 . Jedenfalls darf man nicht weiter gehen, wenn man nicht bei „Verdachtssanktionen" landen will.

IX. Schließlich noch eine Bemerkung zu dem erst durch das E G S t G B neu eingefügten Abs. 5 von § 30. Wie die Verweisung in seinem Abs. 3 auf § 17 Abs. 4 O W i G zeigt, muß die Verbandsgeldbuße — wie jede andere Geldbuße — zugleich auch die Funktion der „Gewinnabschöpfung" übernehmen. Glücklich ist diese Regelung nicht, und sie führt gerade bei der Verbandsgeldbuße zu kaum lösbaren Schwierigkeiten mit der Zumessung 39 . I m S t G B hat der Gesetzgeber bekanntlich seit dem 1. Januar 1975 die Geldstrafe von der Gewinnabschöpfungsfunktion entlastet und hierfür besondere Bestimmungen über den „Verfall" eingefügt (§§ 73 ff.). Es wäre ein großer Fortschritt, wenn eine entsprechende 3 8 Vgl. Demuth-Schneider a . a . O . S. 6 5 1 unter Berufung a u f Rotberg, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 4. A u f l a g e 1 9 6 9 , § 2 6 R d n r . 12. Zustimmend PohlSichtermann, Geldbuße, S. 183. — Zu großzügig aber wohl Göhler a.a.O. §30 Anm. 8 A. 3 9 Vgl. schon Rudolf Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht, S. 2 9 (m. w . N . ) .

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Rudolf Schmitt

Regelung auch für das Ordnungswidrigkeitenrecht eingeführt würde. Diese Reform kann aber nur für das gesamte Rechtsgebiet und nicht isoliert auf den Bereich der Verbandssanktionen erfolgen. Vorerst mußte jedenfalls verhindert werden, daß die Gewinnabschöpfung sowohl über die Verbandsgeldbuße als auch über die Verfallsvorschriften des StGB erfolgt, was dann denkbar wäre, wenn die Verbandsgeldbuße an eine Straftat anknüpft. Eine solche doppelte Gewinnabschöpfung zu verhindern, ist der Sinn des neuen Abs. 5 von §30.

X. Die vorstehenden Ausführungen können wie folgt zusammengefaßt werden: "Wenn man an dem Institut der Verbandsgeldbuße (§ 30 OWiG) überhaupt festhält, und das wird der Gesetzgeber tun, dann besteht kein triftiger Grund, diese Sanktion nur als Nebenfolge zuzulassen, was auch schon vom geltenden Recht nicht konsequent durchgehalten worden ist. Freilich müssen das die Verbandsgeldbuße auslösende Delikt bzw. die entsprechende Ordnungswidrigkeit (einer natürlichen Person) exakt festgestellt werden, und daran dürfte die Festsetzung „anonymer" Verbandsgeldbußen in der Regel scheitern, wenngleich sie nicht als schlechterdings unzulässig bezeichnet werden können. — Ferner sollte § 30 O W i G erweitert werden, und zwar einmal bezüglich der von ihm erfaßten Verbände, vor allem aber hinsichtlich des Personenkreises, dessen Handlungen eine Verbandsgeldbuße auszulösen vermögen. — Weiterhin sollte die Neufassung zum Anlaß genommen werden, die bestehende Unklarheit bezüglich der GmbH & Co K G zu beseitigen. — Schließlich sollte man das Ziel nicht aus dem Auge verlieren, die Geldbuße und damit auch die Verbandsgeldbuße von der zusätzlichen Funktion der „Gewinnabschöpfung" zu befreien, wie dies bei der Geldstrafe bereits geschehen ist. Ich wäre glücklich, wenn ich für diese Thesen auch die Zustimmung des Mannes gewinnen könnte, dessen Aufsatz „Zur Strafbarkeit von Personen verbänden" die neuere Diskussion über die Verbandssanktionen eigentlich erst in Gang gebracht hat 4 0 .

40

Richard Lange J Z 1952, 261 ff.

OSTRECHT — ZIVIL- UND ZIVILPROZESSRECHT — ÖFFENTLICHES RECHT

Der sowjetkommunistische Einparteienstaat und seine ideologische Begründung BORIS MEISSNER

I. Die Parteilehre Lenins und die Errichtung der Einparteiherrschaft in Rußland In der Sowjetunion und den meisten „Volksdemokratien", unter Einschluß der D D R , bildet die Lehre von der „Partei neuen Typus" die ideologische Begründung für die totalitäre Form der Einparteiherrschaft. Diesem Kernstück der marxistisch-leninistischen Ideologie liegt der Parteilehre Lenins zugrunde, die nicht nur eine marxistische, sondern auch eine russisch-revolutionäre Wurzel aufweist. Lenin ist bei der Formulierung seiner Parteilehre durch die radikalen Gedankengänge eines Netschajew und Tkatscbew sehr viel stärker beeinflußt worden als durch die Vorstellungen von Marx und Engels1. Von marxistischer Seite verdankt Lenin noch Kautsky eine wesentliche Anregung f ü r seine Konzeption. Die Parteilehre Lenins läßt so den Unterschied zwischen dem Marxismus und Leninismus, der auch in verschiedenen anderen ideologischen Bereichen besteht, besonders deutlich werden. Marx und Engels strebten die politische Organisation der gesamten Arbeiterklasse in einer Partei an. Von ihnen wurde jedoch, wie aus dem Kommunistischen Manifest von 1848 hervorgeht, die Existenz anderer proletarischer Parteien neben den Kommunisten nicht ausgeschlossen2. Den Kommunisten sollte nur die Aufgabe zufallen, die „Interessen des gesamten Proletariats" zu vertreten. Der „Bund der Kommunisten" sollte gemäß den Statuten von 1847 3 auch nicht so zentralistisch aufgebaut sein, wie dies später bei der bolschewistischen Partei der Fall war. Es wurde zwar die Unterwerfung der Mitglieder unter die Beschlüsse des Bundes gefordert, jedoch die Vertretung der eigenen Auffassung nicht ausdrücklich verboten. 1

Vgl. D. Shub: Lenin, Wiesbaden 1962, S. 429 f. Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Stuttgart 1953, S. 35. 3 Wortlaut: G. Brunner (Hrsg.): Das Parteistatut der KPdSU 1903—1961, Köln 1965, S. 95 ff. 2

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Marx und Engels unterschieden zwischen einer politisch bewußten Minderheit, die meist aus Intellektuellen bestand, und der breiten Masse des Proletariats, die sich durch revolutionäre Spontaneität auszeichnete. Engels wandte sich dagegen, diese beiden Teile scharf voneinander zu scheiden und lehnte eine diktatorische Führung und übertriebene Disziplin ab 4 . In einem Schreiben an Bebel aus dem Jahre 1892 hob er hervor, „daß die Disziplin in einer großen Partei keineswegs so straff sein kann als in einer kleinen Sekte" 5 . Im Einklang mit dieser Auffassung von Engels erklärte Marx 1872/73 bei seiner Kritik an Bakunin und Netschajew, daß das Proletariat um seiner selbst willen niemals und durch niemand zum bloß chaotischen Material f ü r die bewußte Bearbeitung und Formung durch „Meister" und „Priester" degradiert werden dürfe. Kautsky ist es gewesen, der die elitäre Stellung der politisch bewußten Minderheit stärker betont hat. In einem Aufsatz 1901 stellte er fest, daß die bürgerliche Intelligenz als der eigentliche Träger des sozialistischen Bewußtseins anzusehen sei, das von außen in das Proletariat hineingetragen würde 6 . Dieser Gedanke wurde von Lenin in seinem grundlegenden Werk „Was tun" (1902) aufgegriffen, das durch die von Netschajew entwickelte Gestalt des Berufsrevolutionärs und die elitären Vorstellungen Tkatschews von einer kommunistischen Minderheitsdiktatur stark beeinflußt war 7 . Für Lenin konnten nur im Besitz der richtigen theoretischen Einsicht befindliche intellektuelle Berufsrevolutionäre, die den Typus des Volkstribuns und nicht des Gewerkschaftssekretärs verkörperten, als Avantgarde des Proletariats die Träger eines politischen Klassenbewußtseins sein, da das konkrete Proletariat nur eines „tradeunionistischen", d. h. gewerkschaftlichen Bewußtseins fähig wäre. Löste sich die Arbeiterbewegung von der Führung dieser selbstgewählten, in einer Partei straff organisierten Avantgarde, so mußte sie „unvermeidlich verbürgerlichen". Diese These Lenins unterschied sich wesentlich von der Auffassung von Marx, daß die Befreiung der Arbeiter nur ein Werk der Arbeiter 4 Vgl. / . Fetscher (Hrsg.): D e r Marxismus. Seine Gesdiichte in D o k u m e n t e n , Bd. III, München 1965, S. 166 ff. 5 F. Engels: Briefe an Bebel, Berlin 1958, S. 178. 6 Vgl. 1. Fetscher (Hrsg.): D e r Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten, Bd. II, München 1964, S. 451. 7 Vgl. B. D. Wolfe: Lenin, Trotzkij, Stalin. Drei, die eine R e v o l u t i o n machten, Frankfurt a. M. 1965, S. 208 ff. V o m sowjetischen Standpunkt: B. N. Ponomarjow u. a. (Red.): Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1971, S. 55 ff.

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selbst sein könne. Sie stand aber im vollen Einklang mit Gedankengängen, die von der terroristisch-konspirativen Richtung der revolutionären Bewegung in Rußland im 19. Jhr. vertreten worden waren. An erster Stelle ist dabei Netscbajew8 zu nennen, der eine Zeitlang eng mit Bakunin, dem Gegenspieler von Karl Marx, zusammengearbeitet hat. Mit Recht weist Berdiajew darauf hin, daß Netscbajew den Organisationstypus der bolschewistischen Partei in vielem vorweggenommen hat, indem er für äußerste Zentralisierung und eine despotische Macht der revolutionären Partei eintrat. Zu diesem Zweck sollte ganz Rußland mit kleinen, durch straffe Disziplin zusammengehaltenen revolutionären Zellen durchsetzt werden, denen zur Erreichung ihrer Ziele alles erlaubt sein sollte. Die Massen, die er gewaltsam zur Revolution bringen wollte, verachtete er ebenso wie die Demokratie. Den Idealtypus eines Revolutionärs schildert er in seinem „Katechismus eines Revolutionärs" mit den Worten 9 : „Ein Revolutionär ist ein dem Tod geweihter Mensch. Er hat keine persönlichen Interessen und Angelegenheiten, keine persönlichen Gefühle und Erlebnisse, kein Eigentum, ja nicht einmal einen Namen. Sein ganzes Wesen ist von einem einzigen Interesse, von einer einzigen Idee und Leidenschaft erfüllt: von der Revolution. Er hat mit der bürgerlichen Ordnung, mit der zivilisierten Welt und ihrer Moral gebrochen. Er lebt nur in dieser Welt, um sie zu vernichten. Er kennt nur eine Wissenschaft — die der Zerstörung. Für einen Revolutionär ist alles sittlich und wertvoll, was seinem Hauptziel dient." Noch größere Bedeutung als Netscbajew sollte geistesgeschichtlich gesehen Tkatscbew™ als Vorläufer Lenins zukommen. Seine Gedankengänge haben wesentlich zur Bildung der „Narodnaja Wolja" (Volkswille) beigetragen. Das Statut ihres Exekutivkomitees 1879 11 läßt deutlich den straffen Aufbau dieser ersten russischen Partei erkennen, der zum Vorbild für Lenin werden sollte. Tkatscbew forderte die Machtergreifung durch eine straff organisierte Minderheit, die sich zum Sturz der zaristischen Autokratie des Terrors bedienen sollte. Er war ebensowenig wie Netscbajew ein Demokrat. Das Volk bildete für ihn nur das Material, das von der revolutionären Minderheit benutzt werden konnte, wenn die Ge8 Vgl. N. Berdiajew: Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus, Luzern 1937, S. 69 ff.; D.%ub: Politiceskie dejateli Rossii (Politische Persönlichkeiten R u ß lands) 1850—1920, N e w York 1969, S. 71 ff. 9 Zitiert nach Berdiajew, a. a. O., S. 70 f. 10 Vgl. Berdiajew a. a. O., S. 79 ff., Sub, Politiceskie dejateli Rossii, a. a. O., S. 67 ff. 11 Wortlaut: Brunner, a. a. O., S. 97 ff.

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legenheit zum Umsturz günstig war. Auf die Reife für die Revolution kam es dabei nicht an. Der Anarchismus Bakunins, der auf die Vernichtung des Staates gerichtet war, wurde von ihm entschieden abgelehnt. Die revolutionäre Minderheit sollte vielmehr die Staatsmacht dazu benutzen, den revolutionären Prozeß weiter voranzutreiben. Die besonderen Bedingungen Rußlands ermöglichten es nach Auffassung Tkatscbews, das kapitalistische Entwicklungsstadium zu umgehen. Er forderte daher die sofortige Übernahme der Regierungsgewalt durch die organisierten Revolutionäre. Die revolutionäre Regierung sollte einen despotischen Charakter haben. Die Machtergreifung bildete für Tkatscbew nur das Vorspiel zur eigentlichen Revolution, die mit Hilfe der Staatsmacht vollzogen werden sollte. Die alte konservative Ordnung sollte zerschlagen und durch eine neue kommunistische ersetzt werden. Die Rolle des Volkes ist für Tkatscbew mit der Machtergreifung ausgespielt. Die revolutionäre Umgestaltung der Staats- und Gesellschaftsordnung bildete für ihn die ausschließliche Aufgabe der nunmehr herrschenden revolutionären Minderheit. Tkatscbew schrieb12: „Für die tatsächliche Umwälzung braucht die Minderheit die Hilfe des Volkes nicht mehr. Dessen Rolle ist in dem Augenblick ausgespielt, wenn es die Einrichtungen, die es unterdrückten, zerstört und die Tyrannen und Ausbeuter, von denen es beherrscht wurde, gestürzt hat. Indem sie die revolutionäre Zerstörungswut des Volkes benutzt, um die Feinde der Revolution auszurotten, und ihre konstruktive Tätigkeit dem Charakter und den dringendsten Bedürfnissen des Volkes anpaßt (nämlich dessen konservativen Eigenschaften), wird die revolutionäre Minderheit den Grundstein zum Bau einer neuen und vernünftigen Gesellschaftsordnung legen." Er fügt an anderer Stelle hinzu 13 : „Weder jetzt noch in der Zukunft wird das einfache Volk aus eigener K r a f t die soziale Revolution zustande bringen. N u r wir, die revolutionäre Minderheit, können und sollen es so bald wie möglich tun . . . Natürlich ist das Volk notwendig für eine ,soziale Revolution', aber nur unter der Bedingung, daß die revolutionäre Minderheit die Führung übernimmt." Ähnlich dachte Lenin. Die schicksalhafte Spaltung der russischen Sozialdemokratie 1903 in einen bolschewistischen und menschewisti12 13

Zitiert nach Shub, Lenin, a. a. O., S. 22. Ebenda, S. 68.

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sehen Parteiflügel ist hauptsächlich durch unterschiedliche Auffassungen in den Fragen des organisatorischen Aufbaus und der prinzipiellen Haltung der Partei bedingt worden 14 . Die Menschewisten unter Martow, zu denen sich später Plechanow, der marxistische Lehrmeister Lenins, hinzugesellte, traten für eine demokratische Massenpartei nach dem Vorbild der west- und mitteleuropäischen Sozialdemokratie ein. Lenin forderte dagegen im Einklang mit seinen Ausführungen in „Was tun" die Bildung einer elitären Kampforganisation von Berufsrevolutionären, deren Zielsetzung von der revolutionären Theorie bestimmt war. Sie sollte nach dem Vorbild der „Narodnaja Wolja" aufgebaut werden. Gegen den von Lenin propagierten zentralistisch-konspirativen Aufbau der Parteiorganisation haben sich vor allem Rosa Luxemburg und Trotzkij gewandt. Sie waren der Meinung, daß der von Lenin propagierte Zentralismus und die von ihm geforderte eiserne Disziplin aufgrund ihres autoritären Gehalts zwangsläufig zu einer Minderheitsdiktatur innerhalb der Partei führen mußten. Rosa Luxemburg erkannte bereits 1904, daß die Leninsche Konzeption die Alleinherrschaft eines selbstherrlichen Zentralkomitees zur Folge haben würde. Sie schrieb15: „Jetzt stellt sich das ,Ich' des russischen Revolutionärs auf den Kopf und erklärt sich wieder einmal für einen allmächtigen Lenker der Geschichte — diesmal in der höchsteigenen Majestät eines Zentralkomitees der sozialistischen Arbeiterbewegung. Der kühne Akrobat übersieht dabei, daß das einzige Subjekt, dem jetzt die Rolle des Lenkers zugefallen, das Massen-Ich der Arbeiterklasse ist, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler machen und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen. Und schließlich sagen wir doch unter uns offen heraus: Fehltritte, die eine wirkliche revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees." Für Rosa Luxemburg war das empirische Proletariat das Subjekt der revolutionären Aktion, die keiner straffen Organisation bedurfte. Lenin ging dagegen vom theoretisch deduzierten Massen-Ich aus, das der von ihm angestrebten Ordenspartei von Berufsrevolutionären ge-

Vgl. Wolfe, a. a. O., S. 306 ff. Zitiert nach I. Fetscher: D i e Freiheit im Lichte des Bonn 1959, S. 51. 14

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stattete, die empirischen Arbeiter nach dem Willen der Parteiführung zu manipulieren. Auch Trotzkij machte 1904 seine Bedenken gegen die Leninsche Konzeption geltend. Direkt prophetisch mutet heute seine Voraussage an 16 : „Die Organisation der Partei tritt an die Stelle der Partei selbst, das Zentralkomitee an die Stelle der Organisation und schließlich tritt der Diktator an die Stelle des Zentralkomitees." Lenin ließ sich durch diese Kritik nicht beirren. Er trat in seiner Schrift „Ein Schritt vorwärts — zwei Schritte zurück" 1904 entschieden für das zentralistische Organisationsprinzip ein. Er scheute sich dabei nicht, den Zentralismus, dem erst später das Attribut „demokratisch" angehängt wurde, bei seinem richtigen Namen zu nennen und ihn als „bürokratisch" zu bezeichnen17. „Bürokratismus versus Demokratismus, das heißt eben Zentralismus versus Autonomismus, das ist das organisatorische Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie gegenüber dem organisatorischen Prinzip der Opportunisten der Sozialdemokratie." Und er fügte hinzu: „Das letztgenannte Prinzip ist bestrebt, von unten nach oben zu gehen, und darum verteidigt es ü b e r a l l . . . den Autonomismus, den ,Demokratismus'... Das erstgenannte Prinzip ist bestrebt von oben auszugehen, und verteidigt die Erweiterung der Rechte und Vollmachten der zentralen Körperschaft gegenüber dem Teil." Mit diesem Bekenntnis zu einem autoritären Organisationsprinzip verband Lenin die Forderung, daß jeder revolutionäre Sozialdemokrat ein Jakobiner sein müsse. Ohne Säuberung und Gewalt gebe es keine erfolgreiche Revolution. Rosa Luxemburg sprach sich in einem Artikel in scharfer Form gegen den von Lenin befürworteten „Ultrazentralismus" aus18. Dieser erschien ihr „als eine mechanische Übertragung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Bewegung von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen". Sie betonte, daß die Gedankengänge Lenins „hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Schurigelung und nicht auf die Zusammenziehung der Bewegung zugeschnitten" wären. 16 L. Trotzki: Nasi politiceskie zadaüi (Unsere politischen Aufgaben), Genf 1904, S. 54. 17 W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. I, Ost-Berlin 1953, S. 399. 18 Vgl. R. Luxemburg: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, Neue Zeit, 22. Jg., 1904, Bd. II, S. 487 ff.

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D a ß Lenin auf der Grundlage des zentralistischen Organisationsprinzips selbst die Einmanndiktatur f ü r zulässig hielt, geht aus der folgenden Äußerung nach der Oktoberrevolution hervor 1 9 : „ D a ß in der Geschichte der revolutionären Bewegung durch die D i k t a t u r einzelner Personen sehr o f t die D i k t a t u r der revolutionären Klassen zum Ausdruck gebracht, getragen, vollstreckt wurde, das bezeugt die unbestreitbare E r f a h r u n g der Geschichte.. . Deshalb besteht nicht der geringste prinzipielle Widerspruch zwischen dem sowjetischen (das heißt dem sozialistischen) Demokratismus und der Anwendung der diktatorischen Macht einzelner Personen." Seine erstmalige Fixierung f a n d das Prinzip des „demokratischen Zentralismus" in dem vom IV. (Vereinigungs-) Parteikongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) 1906 in Stockholm angenommenen Parteistatut. Seit der endgültigen organisatorischen Trennung der beiden Parteiflügel 1912 ist dieses Organisationsprinzip von der bolschewistischen Partei im Einklang mit Lenin immer in einem autoritären Sinne verstanden worden. In der Zeit von 1903 bis 1917 gab es innerhalb der russischen Sozialdemokratie, die sich geschlossen zum Marxismus bekannte, nicht nur unterschiedliche Auffassungen in der Frage der Organisation der Partei, sondern auch über den Gang der Revolution und die A r t der künftigen Revolutionsregierung 2 0 . Marx und Engels hatten in ihren Schriften den Standpunkt vertreten, d a ß z w a r die E r k ä m p f u n g einer bürgerlich-demokratischen O r d n u n g gewaltsam erfolgen mußte, nicht aber die spätere proletarisch-sozialistische Revolution, soweit die Voraussetzung eines demokratischen Staatswesens gegeben war. In jedem Fall setzte die revolutionäre Umwälzung die ökonomische und soziale Reife f ü r die proletarisch-sozialistische Revolution, d. h. die volle Enfaltung des Kapitalismus voraus. Dieses Zwei-Revolutionen-Schema und die Auffassung, daß die demokratische Republik die spezifische Form der Verwirklichung der „ D i k t a t u r des Proletariats" bildete, lagen auch dem ersten Parteiprogramm der S D A P R von 1903, das auf Plechanow und Lenin zurückging, zugrunde 2 1 . In dem Parteiprogramm w u r d e die gewaltsame Ersetzung der zaristischen Autokratie durch eine demokratische Republik gefordert, deren Verfassung vor allem die Zusammenfassung der obersten Staatsgewalt in den H ä n d e n einer gesetzgebenden Volksvertretung, ein allgemeines Wahlrecht und die wichtigsten Grundrechte gewährleistet sollte. Die „ D i k t a t u r des Proletariats" 19 20

W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. II, Ost-Berlin 1953, S. 384. Vgl. Wolfe, a. a. O., S. 382 ff.

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wurde als ein Fernziel bezeichnet, das eine unerläßliche Voraussetzung für eine spätere soziale Revolution bildete. Ebenso wie die Menschewisten, d. h. die gemäßigten russischen Sozialdemokraten, vertrat Lenin zu dieser Zeit die Auffassung, daß die kapitalistische Entwicklungsstufe in Rußland — einem im Sinne der heute gebräuchlichen Terminologie ausgesprochenen Entwicklungsland — nicht ohne gefährliche Folgen für eine demokratische Staatsgestaltung übersprungen werden konnte. Im Gegensatz zu dieser orthodoxen Auffassung befürwortete Trotzkij, angeregt durch Parvus-Helphand, im Rahmen der von ihm entwickelten Theorie von der „permanenten Revolution" und durchaus im Sinne der früher erwähnten Vorstellungen Tkatschews aufgrund der besonderen Eigenart der russischen Verhältnisse den sofortigen Ubergang von der bürgerlich-demokratischen zur proletarisch-sozialistischen Revolution. Lenin wandte sich anfangs entschieden gegen die „halbanarchistischen" Gedankengänge Trotzkijs und wies auf die gefährlichen Folgen eines sofortigen Übergangs zur zweiten Revolutionsphase hin. Es war die Gefahr einer neuen Minderheitsdiktatur im Staate, die ihn beunruhigte und zum Ausspruch veranlaßte 22 : „Wer auf einem anderen Wege zum Sozialismus gelangen will außer auf dem des politischen Demokratismus, der gelangt unvermeidlich zu Schlußfolgerungen, die sowohl im ökonomischen als auch politischen Sinne absurd und reaktionär sind . . . " Erst im Jahre 1917 setzten sich die beiden Hauptakteure der Oktoberrevolution über die gegenseitigen Warnungen und damit über das marxistische Ursprungskonzept hinweg. Mit den „April-Thesen" übernahm Lenin Trotzkijs „unsinnige, halbanarchistische I d e e n . . . einer unmittelbaren Eroberung der Macht zwecks sozialistischer Umwälzung". Trotzkij wiederum fand sich mit der von Lenin kompromißlos vertretenen autoritären Organisationsform der Partei ab und wurde ihr glühendster Verfechter. Er hat die Gleichsetzung von Einparteiherrschaft und „Diktatur des Proletariats" ebenso wie Sinowjew und Bttcharin, die Repräsentanten der „linken" und „rechten" Opposition in der Parteiführung, besonders deutlich gemacht. In der Auseinandersetzung mit der „Arbeiteropposition" auf dem „X. Parteitag der Kommunistischen Partei Rußlands (KPR) im März 1921 erklärte Trotzkij23: „Die Wählbarkeit innerhalb der Arbeiter21 Vgl. B. Meissner: Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln 1962, S. 117. 2 2 Zitiert nach Wolfe, a. a. O., S. 388. 2 3 Desjaty s-ezd Rossijskoj Kommunisticeskoj Partii (bolsevikov) — Der zehnte Kongreß der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewisten), Stenographischer Bericht, Moskau 1921; zitiert nach A. Bilinsky: Sozialismus oder Oligarchie, Ztschr. für Politik, 1965, S. 146.

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klasse scheint über die Partei gestellt zu werden, als ob die Partei nicht berechtigt wäre, ihre D i k t a t u r auch dann aufrecht zu erhalten, wenn die D i k t a t u r vorübergehend auf eine veränderliche Stimmung der Arbeiterdemokratie prallt. Dies ist die Erkenntnis, ich würde sagen, der revolutionären geschichtlichen Priorität der Partei, die verpflichtet ist, ihre D i k t a t u r ohne Rücksicht auf die vergänglichen Schwankungen sogar unter Arbeitern aufrechtzuerhalten." Auf dem X I I I . Parteikongreß der K P R im Mai 1924 sagte er 2 4 : „In der letzten Konsequenz hat die Partei redit, weil die Partei das einzige historische Instrument ist, das dem Proletariat gegeben ist, um seine fundamentalen Probleme zu lösen . . . Ich weiß, d a ß man nicht gegen die Partei recht haben kann. Man k a n n nur mit der Partei und durch die Partei recht haben, denn die Geschichte hat keinen anderen Weg geschaffen, auf dem man das, was recht ist, erfassen könnte." Erst im Exil scheint Trotzkij die Erkenntnis gekommen zu sein, daß die Parteilehre Lenins die entscheidende theoretische Voraussetzung f ü r die persönliche Autokratie Stalins geschaffen hat. Er schreibt in seiner Biographie Stalins, die infolge seiner Ermordung unvollendet geblieben ist 25 : „Es ist beinah eine Versuchung, den Schluß zu ziehen, daß der zukünftige Stalinismus bereits im bolschewistischen Zentralismus wurzelte oder allgemeiner — in der Untergrundhierarchie der Berufsrevolutionäre." Die Verbindung zwischen der Partei- und der Staatslehre stellte Lenin in seiner Schrift „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten"? am Vorabend der Oktoberrevolution her 2 6 . In ihr werden die Sowjets als der neue „Staatsapparat" behandelt, mit dessen H i l f e die bolschewistische Partei ihre Herrschaft ausüben und behaupten würde. Die in der Revolution von 1905 entstandenen Sowjets (Räte) 2 7 wurden von Lenin anfangs wegen ihres spontanen Charakters abgelehnt. Erst nach der Februarrevolution 1917, nachdem sie zentrale Organe entwickelten, die zusammen mit der bürgerlichen „Proviso-

24 Trinadcatyj s-ezd Rossijskoj Kommunisticeskoj Partii (bolsevikov) — Der dreizehnte Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewisten), Stenographischer Bericht, Moskau 1924, S. 166. 25 L. Trotzky: Stalin, K ö l n 1952, S. 94. „Untergrund-Hierarchie" statt „unterirdische Hierarchie" dürfte die treffendere Übersetzung sein. 26 Vgl. W.I.Lenin: Werke, Bd. 26, Ost-Berlin 1961, S. 71 ff.; R. Löwenthal: D e r Einparteistaat als Vorbild, Merkur, 21. Jg., 1967, S. 907. 27 Vgl. O. Anweiler: D i e Rätebewegung in R u ß l a n d 1905—1921, Leiden 1958.

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tischen Regierung" eine „Doppelherrschaft" ausübten, war er bereit, sie als eine dauerhafte Institution zu akzeptieren. Die Sowjets stellten anfangs Standesvertretungen der revolutionären Arbeiter, Soldaten und Bauern unter Beteiligung aller sozialistischen Parteien dar. Die Herausbildung eines Sowjetstaats mit einem sozialistischen Mehrparteiensystem wäre durchaus eine mögliche Alternative zu dem von der Konstituierenden Versammlung angestrebten parlamentarischen System gewesen. Durch die Machtergreifung der bolschewistischen Minderheit in der Oktoberrevolution ist eine andere Entwicklung erfolgt, die in erster Linie durch das Machtstreben Lenins bestimmt war. Die Menschewisten und die rechten Sozialrevolutionäre, die bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung die absolute Mehrheit erzielten 28 , schieden nach der Oktoberrevolution unter Protest aus dem Sowjetkongreß aus. Im Juli 1918 folgten nach der im Januar 1918 erfolgten gewaltsamen Auseinandertreibung der Konstituierenden Versammlung und dem Brest-Litowsker Frieden die linken Sozialrevolutionäre, die sich anfangs an einer Koalitionsregierung beteiligt hatten. Es verblieben so nur einzelne sozialistische Splittergruppen in den lokalen Sowjets 2 9 . Die Bolschewisten waren es, welche die Räte gegen ihren Willen in Staatsorgane, den Staat in einen Sowjetstaat verwandelten, gleichzeitig aber das Machtmonopol für sich beanspruchten. Soweit die Sowjets wirkliche Macht besaßen, was während der Bürgerkriegszeit der Fall war, wurde sie ihnen schrittweise von der bolschewistischen Partei entzogen 30 . Bereits 1919 wurde der unitarische und nicht nur zentralistische Aufbau der K P R festgelegt. Die Kommandozentrale der Partei bildeten das Polit- und Orgbüro und das Sekretariat, an dessen Spitze 1922 Stalin als Generalsekretär trat. Die Regierungs- und Organisationsgewalt wurde in den Händen der obersten Parteiorgane konzentriert. Die innere Logik dieser Entwicklung lag in Lenins Parteilehre begründet. Aus seiner Parteikonzeption ergab sich die ideologische Begründung für den dualistischen Aufbau des Sowjetstaates, gemäß der die Partei als die „führende und lenkende K r a f t " die Gesellschaft repräsentiert, während dem Staate als Apparat nur eine instrumentale Bedeutung zukommt. Vgl. Vgl. Leningrad 30 Vgl. Frankfurt 28

29

G. v. Rauch: Geschichte der Sowjetunion, 5. Aufl., 1969, S. 79. L. M. Kaganovic: Partija i Sovety (Die Partei und die Sowjets), Moskau1928. L. Scbapiro: Die Gesdiichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, a. M. 1961.

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Nach der bolschewistischen Machtergreifung hat Lenin die These, daß die Diktatur des Proletariats nur über die Kommunistische Partei verwirklicht werden könne, gegen eine Reihe von Gegnern einer Einparteiherrschaft in der bolschewistischen Parteiführung durchgesetzt 31 . D a ß die Errichtung einer permanenten Parteidiktatur, der sich diese gemäßigten Bolschewisten widersetzten, zur Wiederherstellung der Autokratie unter kommunistischen Vorzeichen führen würde, ist von Rosa Luxemburg frühzeitig erkannt worden. Sie wies 1918 darauf hin, daß die Beseitigung der Demokratie durch Lenin und Trotzkij zur „Diktatur einer Handvoll Politiker" geführt habe, welche den lebendigen Quell, den das „aktive, ungehemmte, energische Leben der breiten Volksmassen darstellen würde", verschüttet habe 32 Der Widerstand gegen die bolschewistische Einparteidiktatur bei den linkssozialistischen und anarchistischen Kräften führte während des X . Parteikongresses der K P R 1921 zum „Kronstadter Aufstand" 3 3 . Dieser richtete sich im Namen einer „Dritten Revolution" gegen die „kommunistische Autokratie". Von den Aufständischen wurden „frei gewählte Sowjets" unter Zulassung aller sozialistischer Parteien und eine Umwandlung der „verstaatlichten Gewerkschaften" in „freie Organisationen der Arbeiter, Bauern und Intellektuellen" gefordert. Die starken, oppositionellen Strömungen und der Kronstadter Aufstand, der unter Beteiligung der Parteitagsdelegierten unter Führung Trotzkijs niedergeworfen wurde, hatten Lenin deutlich die Gefahren aufgezeigt, die der kommunistischen Einparteiherrschaft, die anfangs einen autoritären und nicht totalitären Charakter aufwies, drohten. Lenin hatte bis dahin die Auffassung vertreten, daß die Partei die ihr zufallende Herrschaftsfunktion nur erfüllen könne, „wenn sie möglichst zentralistisch organisiert ist, wenn in ihr eiserne Disziplin herrscht, die an militärische Disziplin grenzt, und wenn ihr Parteizentrum ein mit Machtbefugnissen ausgestattetes autoritatives Organ mit weitgehenden Vollmachten ist" 3 4 . Diese Grundsätze allein genügten ihm seit der Auseinandersetzung mit der „Arbeiteropposition" und der Gruppe „demokratischer Zentralismus", welche die Stellung 31 Vgl. R. V. Daniels: Das Gewissen der Revolution. Kommunistische Opposition in Sowjetrußland, Köln/Berlin 1962, S. 85 ff. 32 Vgl. R. Luxemburg: Die russische Revolution, Frankfurt a. M. 1963, S. 69, 73. 3 3 Vgl. Kronstadt, in: F.Kool; E.Oberländer (Hrsg.): Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Olten/Freiburg i. Br. 1967, S. 283 IT.; Schapiro, a . a . O . , S. 222 ff.; Daniels, a. a. O., S. 176 ff. 34 Vgl. W. I. Lenin: Aufnahmebedingungen der Kommunistischen Internationale, zitiert nach I. Fetseber: Die Freiheit im Lichte des Marxismus-Leninismus, a. a. O., S. 48.

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der Gewerkschaften und der Sowjets stärken wollten, nicht mehr. Er veranlaßte daher den X. Parteitag, das Organisationsprinzip der „monolithischen Einheit" zu billigen, das eine Fraktions- und Gruppenbildtsng in der Partei, die bis dahin zulässig war, verbot 35 . Seit dem X. Parteitag, auf dem die Neue ökonomische Politik (NEP) verkündet wurde, trat Lenin auch in stärkerem Maße für periodische Säuberungen, die einen individuellen Charakter haben sollten, ein. Er forderte außerdem eine Verbesserung des Kontaktes mit den Massen und damit verbunden eine verstärkte Bekämpfung der Bürokratisierung des Partei- und Staatsapparats. Während des Bürgerkrieges hatte sich die bolschewistische Partei die bedingte Unterstützung von Teilen der im Zustand der Halblegalität verharrenden anderen sozialistischen Parteien gesichert. Daraufhin waren im November 1918 die „loyalen Menschewisten" und im Februar 1919 jene „Sozialrevolutionäre", die bereit waren, der „äußeren und inneren Konterrevolution" abzusagen, wieder in das Zentrale Exekutivkomitee, das höchste Exekutivorgan der Sowjets, aufgenommen worden. Die Möglichkeit der Errichtung von Gefolgsparteien der KPR war damit durchaus gegeben. Das Risiko einer solchen Entwicklung erschien Lenin offenbar zu groß und widersprach auch seiner Vorstellung von einem kommunistischen Einparteistaat. Nach dem Kronstadter Aufstand setzte er daher der bisherigen Duldung nichtkommunistischer Parteien, von einzelnen lokalen Sowjets abgesehen, ein Ende. Zahlreiche nichtkommunistische Politiker wurden nach dem X. Parteitag verhaftet und in den Hohen Norden, nach Sibirien und Zentralasien verschickt.

II. Die Weiterentwicklung der Parteilehre durch Stalin und die Herausbildung eines autokratisch-totalitären Herrschaftssystems Nach dem Tode Lenins im Januar 1924 ist seine Parteilehre von Stalin weiter ausgebaut worden. Ausgehend von seiner mechanistischen Staatskonzeption, die den Staat nur als einen Apparat oder eine Maschine ansah, hat Lenin die Sowjets und die übrigen Massenorgani35 Vgl. Schapiro, a. a. O., S. 231. Vom sowjetischen Standpunkt: N. I. Satagina: Razvitie leninskogo ucenija o partii (Die Entwicklung der Leninschen Lehre von der Partei), Moskau 1970; M. D. Stubecnikova: V. I. Lenin o rukovodjascij roli partii v uslovijach diktatury proletariata (W. I. Lenin über die führende Rolle der Partei unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats), Voprosy Istorii KPSS (Fragen der Geschichte der KPdSU), 1960, H. 2; dtsch. Ubersetzung: Ost-Probleme, 12. Jg., 1960, S. 438 ff.

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sationen als „Transmissionen" oder „Hebel" bezeichnet. Sie bildeten mit der Partei als der „führenden" und „lenkenden" K r a f t zusammen den „Mechanismus" oder das „System" der „Diktatur des Proletariats". Auf die „führende Rolle" der 1925 in Kommunistische Partei der Sowjetunion ( K P d S U ) umbenannten bolschewistischen Partei und die Struktur des „Medianismus der Diktatur des Proletariats" ist Stalin in seiner Schrift „Zu den Fragen des Leninismus" 1926 näher eingegangen. Aus seinen Ausführungen geht die diktatorische, das gesamte öffentliche Leben total beherrschende Stellung der K P d S U , welche die staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen als Herrschaftsmittel benutzt, deutlich hervor. Stalin bezeichnet die Partei als „die grundlegende führende K r a f t im System der Diktatur des Proletariats". Als „höchste Form der Klassenorganisation" verwirklicht sie die Diktatur des Proletariats. Sie tut dies aber nicht unmittelbar, sondern mit Hilfe von Massenorganisationen, die ihr als „Transmissionen" und „Hebel" zur Lenkung der Volksmassen dienen. Die gesamtstaatliche Organisation, die mit der Einparteiherrschaft verbunden ist, umfaßt daher nach Stalin36: „die Gewerkschaften als Massenorganisation des Proletariat", die die Partei mit der Klasse, vor allem auf dem Gebiete der Produktion, verbindet; die Sowjets als Massenorganisation der Werktätigen, die die Partei mit diesen, vor allem auf staatlichem Gebiet, verbindet; die Genossenschaften als Massenorganisation, hauptsächlich der Bauernschaft, die die Partei mit den Bauernmassen, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, verbindet; der Jugendverband als Massenorganisation der Arbeiter- und Bauernjugend, eine Organisation, die berufen ist, der Avantgarde des Proletariats die sozialistische Erziehung der neuen Generation und die Herausbildung der jungen Reserven zu erleichtern; und schließlich die Partei als grundlegende, führende K r a f t im System der Diktatur des Proletariats, die berufen ist, alle diese Massenorganisationen zu leiten — das ist im allgemeinen das Bild des „Mechanismus" der Diktatur, das Bild des „Systems der Diktatur des Proletariats". Stalin war zwar bemüht, eine gewisse Unterscheidung zwischen der „Diktatur des Proletariats" und der „Diktatur der Partei" zu treffen, gab aber zugleich klar zu erkennen, daß es sich bei der führenden Rolle der Partei um Herrschaft und nicht Hegemonie handelte. Die Tatsache der Parteidiktatur brachte er mit den Worten zum Ausdruck 3 7 : 39

"

J . Stalin: F r a g e n des Leninismus, Moskau 1 9 4 7 , S. 1 5 0 f. Ebenda, S. 151 f.

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„Als höchster Ausdruck der führenden Rolle der Partei, z. B. bei uns, in der Sowjetunion, im Lande der Diktatur des Proletariats, muß die Tatsache bezeichnet werden, daß keine einzige wichtige politische und organisatorische Frage durch unsere Sowjet- und andere Massenorganisationen ohne leitende Weisungen der Partei entschieden wird. In diesem Sinne könnte man sagen, daß die Diktatur des Proletariats dem Wesen nach die ,Diktatur' seiner Avantgarde, die ,Diktatur' seiner Partei als der grundlegenden führenden Kraft des Proletariats ist." Das Hauptargument, daß Stalin gegen die Auffassung geltend machte, daß die Partei bei der Verwirklichung der Diktatur eine auf der Gewalt gegründete Herrschaft und nicht nur Führung ausüben würde, hat er durch seine eigene Politik widerlegt. Sein Streben nach Alleinherrschaft sollte schrittweise zu einer Umgestaltung der Parteidiktatur von einer autoritären zu einer totalitären Einparteiherrschaft führen. Durch die bolschewistische Machtergreifung wurde die Russische Revolution in eine ganz bestimmte Richtung abgedrängt. Diese Wendung war in keiner Weise zwangsläufig. Sie wurde aber durch Faktoren begünstigt, die durch den besonderen historischen Werdegang Rußlands bedingt waren. In sehr viel stärkerem Maße war die Entwicklung zum Stalinismus in bestimmten Eigenheiten des Leninismus, die eine klare Abweichung vom ursprünglichen Marxismus darstellten, wie z. B. in der Einparteiherrschaft und ihrer ideologischen Begründung, angelegt. Das Wesen und die Eigenart der sowjetischen Staats- und Gesellschaftsordnung ist durch die tiefgehenden sozialstrukturellen Wandlungen der Jahre 1928/29 bis 1938/39, die ihr Urheber als „Revolution von oben" bezeichnet hat, sehr viel stärker bestimmt worden als durch die Oktoberrevolution. Diese revolutionäre Umwälzung mit Hilfe der Staatsmacht, die den seinerzeitigen Vorstellungen Tkatschews ganz entsprach, sollte zur vollen Herausbildung der bei Lenin im Ansatz vorhandenen totalitären Wesenszüge der Einparteiherrschaft führen. Die Notwendigkeit einer zweiten bolschewistischen Revolution ist von Stalin bereits 1926 dadurch begründet worden, daß er einen qualitativen Unterschied zwischen einem bürgerlichen und einem proletarischen Revolutionstyp feststellte 38 : „Die Hauptaufgabe der bürgerlichen Revolution besteht darin, die Macht zu ergreifen und sie mit der vorhandenen bürgerlichen Ökonomik in Einklang zu bringen, während die Hauptaufgabe 38

Ebenda, S. 140.

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der proletarischen Revolution darin besteht, nach der Machtergreifung eine neue, die sozialistische Ökonomik aufzubauen. Die bürgerliche Revolution wird gewöhnlich mit der Machtergreifung abgeschlossen, während die Machtergreifung in der proletarischen Revolution erst ihr Anfang ist, wobei die Macht als Hebel für den Umbau der alten Ökonomik und die Organisierung der neuen benutzt wird." Stalin hat mit diesen Worten Marx gleichsam auf den Kopf gestellt 39 . Nach Marx konnte eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung nur aus einer wirklichen Volksrevolution, d. h. einer „Revolution von unten" hervorgehen. Der politisch-ideologische Überbau, dessen Kernstück der Staat bildete, hatte sich der neuen Sozialstruktur des ökonomischen Unterbaus anzupassen. Nach Stalin war eine kleine herrschende Gruppe, nur wenn sie im Besitz der richtigen Erkenntnis war, legitimiert, die Gesellschaft mit Hilfe der Staatsmacht nach ihrem Bilde zu formen. In der Praxis bedeutete dies, daß die herrschende Gruppe ihre bisherige soziale Basis durch eine andere auswechselte. An die Stelle der meist intellektuellen Berufsrevolutionäre und einem relativ hohen Anteil der Arbeiterschaft, traten bürokratische Politiker und Administratoren sowie eine „neue Intelligenz". Dieser zusammenhängende revolutionäre Prozeß, der zehn Jahre umfaßte, hat sich in zwei Etappen vollzogen, wobei das Jahr 1934 eine Zäsur darstellt 40 . Die planökonomische „Revolution von oben" steht im Mittelpunkt des ersten Abschnitts, der mit der „Großen Säuberung" verbundene Kampf Stalins um die Alleinherrschaft ist für den zweiten Abschnitt kennzeichnend. Am Beginn der zweiten Etappe steht der X V I I . Parteikongreß der KPdSU im Januar 1934. Auf ihm ist ein neues Parteistatut angenommen worden, in dem zum ersten Mal das Organisationsprinzip des „demokratischen Zentralismus" näher bestimmt wurde. Gemäß der im Art. 18 enthaltenen Begriffsbestimmung bedeutet der „demokratische Zentralismus" 4 1 : ,,a) Wählbarkeit aller leitenden Organe der Partei von unten nach oben; b) die periodische Rechenschaftslegung der Parteiorgane vor ihren Parteiorganisationen; c) straffe Parteidisziplin und Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit; 30 Vgl. R. Löwenthal: Totalitäre und demokratische Revolution, Der Monat, November 1960, S. 35 f. 40 Vgl. B. Meissner: Shdanow, Osteuropa, 2. Jg., 1952, S. 15. 41 Vgl. Brunner, a. a. O., S. 150.

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d) unbedingte Verbindlichkeit der Beschlüsse der höheren Organe für die unteren Organe und alle Parteimitglieder." Der „demokratische Zentralismus" ist unter Stalin mit einer besonders engen Auslegung des Prinzips der „monolithischen Einheit" verbunden worden. Audi nach 1921 war trotz des Verbots einer Fraktions- und Gruppenbildung in der Partei die Möglichkeit zur Bildung von „Plattformen", d. h. zur Formulierung gemeinsamer Stellungnahmen verschiedener Parteiführer zu konkreten Tagesfragen gegeben. Diese Möglichkeit für eine Minderheit, sich zu artikulieren, wurde von Stalin 1927 nach dem Sieg über Trotzkij sowie Sinowjew und Kamenew als Repräsentanten der „linken Opposition" ausgeschlossen. Die „linke Opposition" war besonders bestrebt gewesen, unter der Devise der „Arbeiterdemokratie" besonderen Nachdruck auf die demokratische Seite des Organisationsprinzips des „demokratischen Zentralismus" zu legen42. Nachdem es Stalin gelungen war, mit Bucharin, Rykow und Tomski) 1929 auch die Repräsentanten der „rechten Opposition" auszuschalten, wurde auf die bedingungslose Unterordnung der Minderheit unter die Beschlüsse der Mehrheit geachtet. Die verstärkte Betonung der autoritären Seite des „demokratischen Zentralismus" bedeutete daher, daß aufgrund des hierarchischen Aufbaus der Partei die Entscheidungen der Parteispitze für alle unteren Organe wie bei einer Armee Befehle darstellten, die bedingungslos auszuführen waren. Nachdem die Beschlüsse der obersten Parteigremien gefaßt waren, besaß die unterlegene Minderheit kein Recht, ihre Auffassung weiter zu vertreten und damit die Diskussion über die strittigen Fragen fortzuführen. Wichtig ist, daß durch die Große Verwaltungsreform von 193443 der „demokratischen Zentralismus" in seiner totalitären Auslegung auch zum bestimmenden Organisationsprinzip der Sowjets und damit des Staatsapparats erhoben wurde und auch für die anderen Teile des „Systems der Diktatur des Proletariats" verbindlich war. Außerdem wurde durch die Einführung des produktions-territorialen Prinzips die dualistische Struktur des Sowjetstaates klarer herausgearbeitet und dem hauptamtlichen Parteiapparat eine bessere Möglichkeit geboten, auf den Staatsapparat einzuwirken. Eine fast noch größere Bedeutung als der stalinistischen Auslegung der von Lenin aufgestellten Parteigrundsätze, kam in der zweiten Etappe der „Revolution von oben" der Einführung des Führerprin42

Vgl. Daniels, a. a. O., S. 349 ff. Vgl. B. Meissner, Die Ministerien in Rußland, Europa-Archiv, 3. Jg., 1948, S. 1204 f.; Derselbe: Rußland im Umbruch, Frankfurt/Main 1951, S. 20. 43

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zips zu. Erst dadurch wurde die Entstehung eines autokratisch-totalitären Herrschaftssystems in der Sowjetunion, die in Verbindung mit dem Führerkult und dem Massenterror das besondere Wesen des Stalinismus ausmachte, möglich. Unter Lenin galt in der Partei und im Staat das Organisationsprinzip der „kollektiven Führung" 4 4 . Es bedeutete, daß die Beschlüsse durch Kollegien getroffen wurden, die auch eine gemeinsame Kontrolle über die Durchführung ausübten. Aus dem Prinzip der „kollektiven Führung" ergab sich eine oligarchische Führungsstruktur, welche einer totalitären Entwicklung des diktatorischen Systems Grenzen setzte. Die Gefahr, die mit dem Streben Stalins nach Alleinherrschaft verbunden war, ist von seinen anfänglichen Verbündeten frühzeitig richtig erkannt worden. Auf dem XIV. Parteitag im Dezember 1925 erklärte Kamenew45: „Wir sind gegen die Schaffung einer „Führer"theorie. Wir sind gegen die Aufstellung eines „Führers" (Woshd'). Wir sind dagegen, daß das Sekretariat durch die Vereinigung seiner politischen und organisatorischen Funktionen über der politischen Gesamtorganisation steht. Wir sind für eine Parteiverfassung, die die Vollmachten unserer höchsten Körperschaften (werchusdhka) an das Politbüro überträgt, in dem alle politischen Führer unserer Partei vereinigt sind und das gleichzeitig das Sekretariat als das technische Ausführungsorgan der Beschlüsse der größeren Körperschaft einsetzt." Er schloß mit den Worten: „Wir sind gegen die Theorie der Einmannherrschaft; wir sind gegen die Schaffung eines .Führers'." Stalin ließ sich durch diese Widerstände nicht beirren. Das in der Roten Armee bereits geltende Prinzip der einheitlichen Befehlsgewalt (Jedinonatschalije), d. h. die Einmannleitung wurde 1929 in der Industrieverwaltung und 1934 im Rahmen der Großen Verwaltungsreform im gesamten politisch-staatlichen Bereich eingeführt. Stalin wurde auf dem X V I I . Parteitag im Januar 1934 als „Woshd"' (Führer) gefeiert. Die von ihm angestrebte Stellung eines unbeschränkten Selbstherrschers setzte er aber erst mit Hilfe der Großen Säuberung 1934 bis 193 8 46 , von der auch zahlreiche seiner engsten Mitarbeiter

44

Vgl. P. A. Rodionow: Kollektivnost'-vyssij princip partijnogo rukovodstva (Die Kollektivität — das höchste Prinzip der Parteiführung), Moskau 1967. 45 Cetyrnadcaty s-ezd Vsesojuznoj Kommunisticeskoj Partiij (bolsevikov) — Der vierzehnte Kongreß der KPdSU (Bolschewisten), Stenographischer Bericht, Moskau 1926, S. 274/5. 46 Vgl. / . Carmichael: Säuberung. Die Konsolidierung des Sowjetregimes 1934 bis 1938, Berlin u. a. 1972.

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betroffen wurden, durch. Sie ermöglichten es ihm, nach der zentralen Planung auf vollsozialisierter, d. h. im Grunde staatskapitalistischer Grundlage auch eine totale „Kontrolle von oben" durchzusetzen. Die bolschewistische Partei wurde durch diese Ereignisse einem tiefgehenden Funktions- und Strukturwandel unterworfen. In der Hülle des kommunistischen Einparteistaats bildete sich ein stalinistischer Führerstaat heraus, der trotz einer anderen ideologischen Grundlage viele gemeinsame Züge mit faschistischen Einparteistaaten aufwies, die ebenfalls auf dem Führerprinzip beruhten. Es war bemerkenswert, daß die Herausbildung einer persönlichen Autokratie zu einem Zeitpunkt erfolgte, an dem die innere Staatsform in Gestalt des Einparteistaates zum ersten Mal in der formellen Rechtsverfassung der U d S S R , d. h. im geschriebenen Grundgesetz verankert worden war. Die herrschende Stellung der Partei wurde bis 1936 in den Sowjetverfassungen, die dem Grundgesetz der R S F S R vom 10. Juli 1918 nachgebildet worden waren, verschwiegen. „Wir werden von einer Partei r e g i e r t . . . , von der unsere Verfassung schweigt, die aber nicht destoweniger das rechtliche und tatsächliche Wesen dieser Verfassung ausmacht", schrieb schon 1922 der sowjetische Staatsrechtler Gurwitscb47. Erst in der unter maßgeblicher Beteiligung Stalins zustande gekommenen zweiten Bundesverfassung der U d S S R vom 5. Dezember 1936 ist die für die politische und rechtliche Ordnung des Sowjetstaates entscheidende Tatsache der Einparteiherrschaft an zwei Stellen eindeutig zum Ausdrude gebracht worden. Im Art. 126 der noch heute geltenden Unionsverfassung wird im Einklang mit der Parteilehre Lenins festgestellt, daß die K P d S U „den führenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen sowohl wie der staatlichen darstellt". Damit ist das Machtmonopol der Partei ausdrücklich im formellen Verfassungsrecht verankert und die Partei als selbständige Herrschaftsinstitution in das weitere staatliche Organisationsgefüge einbezogen worden 4 8 . Seit dem Höhepunkt der Großen Säuberung, bei der die nächsten Kampfgefährten Lenins, unter ihnen Sinojew, Kamenew, Bucbarin, Rykow und Tomskij den Tod fanden, bildete die neue Bundesver-

4 7 Zitiert nach B. Dennewitz; B.Meissner (Hrsg.): Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. I, Hamburg 1947, S. 126. Der sowjetische Jurist Raevic? erklärte: „In der wirklichen russischen Verfassung bildet die Kommunistische Partei den bedeutendsten Bestandteil", Vlast' Sovetov (Sowjetmacht), 1923, Nr. 10, S. 27. 4 8 Vgl. K. 'Westen: Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und der Sowjetstaat, Köln 1968.

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fassung nur die Fassade für den stalinistischen Führerstaat. Der selbstherrliche Diktator und nicht die Partei bildeten in dieser Zeit den politischen, wenn auch nicht den juristischen Kern der Macht. Obgleich Stalin als Führer von Partei und Staat ständig hervorgehoben wurde, ist das Führeramt weder in der Staatsverfassung, noch im Parteistatut, welches das Kernstück der materiellen Rechtsverfassung der UdSSR bildet, verankert worden. Das Regime Stalins war ohne Zweifel eine echte Selbstherrschaft, da sie in der Verfassungswirklichkeit ihre Berufung nur aus sich selbst ableitete und ihre absolute Gewalt auf der Kontrolle mehrerer gleichwertiger Machtquellen gründete. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es besonders deutlich geworden, daß als Träger der letzten Entscheidungsgewalt und damit der Souveränität im Staate allein der selbstherrliche Diktator und die von ihm erkorenen Ratgeber anzusehen waren. Wirkten sie verfassungsrechtlich auch meist im Rahmen der Partei, so war doch ihre Macht so weit konsolidiert und unbeschränkt, daß sie auch gegen die Partei und notfalls ohne sie regieren konnten, so lange sie über die anderen Herrschaftsinstitutionen verfügten. Zu diesen gehörten außer dem Staatsapparat im engeren Sinne, d. h. dem Regierungsapparat (einschließlich der Wirtschaftsverwaltung), die Polizei, der eine Schlüsselstellung im stalinistischen System zufiel, und die Armee. Die Partei behielt zwar ihren ideologischen Vorrang, war aber ihrer zentralen Machtstellung verloren gegangen. Sie bildete jetzt selbst nur eine von mehreren „Transmissionen" und auch nur einen von vielen „Hebeln" im System der persönlichen Autokratie.

III. Die Revision der Parteilehre durch Chruschtschow und die Wandlungen der Einparteiherrschaft unter ihm und seinen Nachfolgern Nach dem Tode Stalins im März 1953 hat es Chruschtschow verstanden, eine Herrschaftsinstitution nach der anderen wieder der Kontrolle der Partei und damit des hauptamtlichen Parteiapparats zu unterwerfen. Die Einmannleitung, d. h. das Führerprinzip, wurde in der Partei abgeschafft, und durch das „kollektive Führungsprinzip" ersetzt. An die Stelle des selbstherrlichen Diktators trat ein „Führerkollektiv", das durch die verbliebenen Vollmitglieder des ZKPräsidiums, das auf dem X I X . Parteikongreß der K P d S U im Oktober 1952 die Aufgaben des Polit- und Orgbüros übernommen hatte, gebildet wurde.

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Die „Entstalinisierung" führte zu einer begrenzten Abkehr vom Stalinismus, die mit einer Reihe von institutionellen Veränderungen verbunden war 49 . In den Parteigrundsätzen trat keine sichtbare Veränderung ein, wohl aber im Parteibegriff und in der Frage nach der zukünftigen Rolle der Partei. Die entsprechende Revision der Parteilehre, die nicht ihren eigentlichen Kern betraf, ist durch die Volksstaatskonzeption Chruschtschows50 verursacht worden. Dieser hatte in Verbindung mit dem neuen Parteiprogramm der KPdSU von 1961 die These entwikkelt, daß die „Diktatur des Proletariats" mit dem Beginn des von ihm 1959 verkündeten „umfassenden Aufbaus des Kommunismus" in der Sowjetunion „nach innen" abgestorben sei. Aus dem Sowjetstaat, der als proletarische Diktatur, d. h. als Klassenstaat entstanden sei, wäre ein „Staat des gesamten Volkes" geworden. Infolge dieser Entwicklung habe sich die KPdSU aus einer Avantgarde der Arbeiterklasse zu einer Avantgarde des ganzen sowjetischen Volkes, zu einer „Partei des gesamten Volkes" gewandelt. Chruschtschow behauptet außerdem im Widerspruch zu den „Klassikern", daß die Partei, obgleich sie eine Herrschaftsorganisation darstellt auch nach dem „Absterben des Staates" in der „klassenlosen Gesellschaft" bestehen bleiben würde. Von Chruschtschow mag die Lehre vom Volksstaat und der Volkspartei als ideologische Grundlage für Reformen gedacht gewesen sein, die eine Umwandlung des Sowjetstaates von einem totalitären zu einem freieren autoritären Einparteistaat ermöglichen sollten. Dazu ist es infolge seines Sturzes im Oktober 1964 nicht gekommen. Die „Entstalinisierung" ist unter seinen Nachfolgern wesentlich eingeschränkt und der institutionelle Aufbau des Einparteistaates, wie er für die Stalin-Ära charakteristisch gewesen ist, wiederhergestellt worden. Als symbolisch ist die auf dem X X I I I . Parteikongreß der KPdSU im März/April 1966 erfolgte Umbenennung des ZK-Präsidiums in Politbüro und die Wiederherstellung der Bezeichnung Generalsekretär für den Ersten Sekretär anzusehen. Am „kollektiven Führungsprinzip" wird seit dem Sturz Chruschtschows im verstärkten Maß festgehalten. Infolgedessen ist es Breshnew als Generalsekretär nicht gelungen, die gleiche dominierende

4 ' Vgl. B. Meissner: D i e Verfassungsentwicklung der Sowjetunion seit dem T o d e Stalins, Jb. des öffentlichen Rechts der Gegenwart N . F., Bd. 22, Tübingen 1973, S. 101 ff. 50 Vgl. Westen, a. a. O., S. 20 ff.

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Stellung wie Chruschtschow, der die höchten Partei- und Staatsämter in einer Hand vereinte, zu gewinnen 51 . Bereits vor dem X X I I I . Parteitag wurde deutlich erkennbar, daß die Nachfolger Chruschtschows eine orthodoxe Linie in der Staatsführung und Parteilehre einzuschlagen gedachten. Von den sowjetischen Ideologen und Juristen ist der „Staat des gesamten Volkes" numehr als eine höhere Stufe der fortbestehenden „Diktatur des Proletariats" dargestellt worden 52 . Infolgedessen wird die Hegemonie der Arbeiterklasse in Verbindung mit der „Partei des gesamten Volkes" stärker betont. Die These von der Unsterblichkeit der Partei ist dagegen in den Hintergrund getreten. Mit dieser Hervorkehrung der diktatorischen Züge des Staates der „entwickelten" und „reifen" sozialistischen Gesellschaft soll offenbar eine stärkere Bindung der Sowjetgesellschaft an den kommunistischen Einparteistaat erreicht werden. Diesem Zweck dient auch die ständige Betonung der „führenden Rolle der Partei", die sidi nach der Intervention in der Tschechoslowakei im August 1968 noch wesentlich verstärkt hat 5 3 . Die Strukturelemente, die für die totalitäre Form einer kommunistischen Einparteiherrschaft charakteristisch sind 54 , bestehen in der Sowjetunion weiter. Es erscheint daher berechtigt, den sowjetkommunistischen Einparteistaat, trotz der Unterschiede vom stalinistischen System, die sich vor allem auf den Führerkult und den Massenterror beziehen, weiterhin als totalitär zu bezeichnen. Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, daß die K P d S U den Anspruch auf eine Bevormundung der Gesellschaft durch eine totale Kontrolle im Innern und eine weitgehende Abschließung nach außen weiter aufrecht erhält. Wenn dieser Anspruch sich nicht im vollen Umfange verwirklichen läßt, so liegt dies teils an der Weite des Raumes und dem besonderen Charakter der Sowjetunion als eines 5 1 Vgl. B. Meissner: Die oberste P a r t e i - und Staatsführung der Sowjetunion seit dem X X I V . P a r t e i k o n g r e ß der K P d S U , E u r o p a - A r c h i v , 2 9 . J g . , 1974, S. 2 4 9 ff. 5 2 Vgl. D. Cesnokov: R a z v i t i e Sovetskoj socialisticeskoj gosudarstvennosti (Die Entwicklung der sowjetischen sozialistischen Staatlichkeit), K o m m u n i s t , 1 9 6 5 , H . 17, S. 11 ff.; V. M. Cchikvadse: Gosudarstvo, demokratija, zakonnost' (Staat, D e m o kratie, Gesetzlichkeit), Moskau 1967, S. 114 ff.; ders.: R a z v i t i e n a r o d n o j suscnosti socialisticeskogo gosudarstva (Die Entwicklung des Volkscharakters des sozialistischen Staates), Sovetskoe gosudarstvo i p r a v o (Sowjetstaat und Recht), 1966, H . 10, S. 3 ff. 5 3 Vgl. K. Westen: Die führende R o l l e der Kommunistischen P a r t e i im sozialistischen Staat, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, K ö l n , 1 9 7 0 , N r . 2 . 5 4 Vgl. B. Meissner: Herrschaftssystem und Verfassungsrecht der Sowjetunion, i n : Wirtschaftsstaat U d S S R , H a n n o v e r 1 9 7 0 , S. 58 ff.

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Vielvölkerstaates, teils daran, daß sich inzwischen Subsysteme in der Sowjetgesellschaft herausgebildet haben, die von der Partei schwieriger zu erfassen sind. Zu diesen Subsystemen gehören auch oppositionelle Strömungen, die eine tiefgreifende Veränderung des bestehenden Systems anstreben. Ihr Hauptteil bezeichnet sich als „Demokratische Bewegung" und vertritt nicht nur reformkommunistische, sondern auch demokratische Gedankengänge in einem westlichen Sinn 55 . Die weitere Entwicklung der Sowjetunion und ihrer Gefolgsstaaten, einschließlich der D D R , hängt entscheidend davon ab, ob es diesen Reformkräften mit der Zeit gelingen wird, stärkeren Einfluß auf die Gestaltung der Sowjetpolitik zu gewinnen.

55 Vgl. A. v. Tarnow: Demokratie in der Illegalität, Stuttgart 1971. C. Gerstenmaier: Die Stimme der Stummen. Die demokratische Bewegung in der Sowjetunion, Stuttgart 1971; B. Lewytzkyj: Politische Opposition in der Sowjetunion 1960—1972, München 1972; Ders.: Die linke Opposition in der Sowjetunion, Hamburg 1974; H.Brahm (Hrsg.): Opposition in der Sowjetunion, Düsseldorf 1972; A. Rothberg: The Heirs of Stalin. Dissidence and the Soviet Regime 1953—1970, Ithaca 1972; P. Reddaway: Uncensored Russia: The Human Rights Movement in the Soviet Union, London 1972.

Zur Schadensersatzhaftung mit und ohne Verschulden im neuen Zivilgesetzbuch der DDR K L E M E N S P L E Y E R u n d P E T E R VON W N U C K

Sowohl das bisher geltende Recht der D D R wie auch das am 1. Januar 1976 in K r a f t getretene neue Zivilgesetzbuch* setzen in der Regel ein Verschulden voraus, wenn ein Bürger oder ein Betrieb schadenersatzpflichtig gemacht werden soll. Freilich gibt es auch zahlreiche Fälle einer verschuldensfreien H a f t u n g . Der Kreis der haftbaren Tatbestände wird indes anders als bei uns in der Bundesrepublik gezogen. Dabei spielt naturgemäß die jeweils getroffene Grundentscheidung für eine bestimmte Form der Ordnung von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft eine große Rolle. Für den Leser, der mit dem Recht der D D R nicht vertraut ist, muß eine Feststellung vorweg getroffen werden, damit er nicht ganze Komplexe, die bei uns zur zivilrechtlichen Verantwortlichkeit gehören, in den folgenden Ausführungen vermißt. Die vertraglichen Beziehungen zwischen den volkseigenen und den ihnen gleichgestellten Betrieben sind seit vielen Jahren in einem besonderen „Vertragsgesetz" geregelt. D a s B G B fand auf diese Rechtsverhältnisse schon seit langem keine Anwendung mehr. Auch das neue Z G B der D D R spart daher diesen Sektor aus und umfaßt nur die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern selbst, zwischen diesen und den sozialistischen Betrieben sowie die außervertraglichen Rechtsverhältnisse der volkseigenen Wirtschaftsträger (bei einem Autounfall beschädigt der L K W des volkseigenen Betriebes A den Wagen des Betriebes B). D a s Problem der Verantwortlichkeit für schuldhaftes oder auch unverschuldetes Fehlverhalten interessiert hier also nur insoweit, als es innerhalb des beschriebenen zivilrechtlichen Rahmens auftritt. Die zivilrechtliche H a f t u n g in der D D R versteht sich als Teil der umfassenderen materiellen Verantwortlichkeit und wird in der Hauptsache durch die Verpflichtung eines Bürgers oder eines Betriebes bestimmt, für den einem anderen Bürger oder einem anderen Betrieb zugefügten Schaden vermögensmäßig einzustehen. Sie allein ist Gegenstand der folgenden Erörterungen. Zur materiellen Verantwortlichkeit gehören aber auch etwa Garantiepflichten, die H a f t u n g für Verzug oder Verpflichtungen aus Rücktritt vom Vertrag 1 . * GBl. I 1975, 465 ff. 1 Vgl. P i i s c h e l , „Zur Vorwerfbarkeit schadensstiftenden Handelns bei der materiellen Verantwortlichkeit im Entwurf des Z G B " , Staat und Recht 1975, 217 ff. (220).

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Gesetzliche Grundlage für die zivilrechtliche Verantwortlichkeit ist in der DDR seit dem 1.1. 1976 nicht mehr das BGB von 1896, sondern ein neues Zivilgesetzbuch, das nur noch 480 Paragraphen enthält 10 . Das BGB konnte allerdings schon vorher längst nicht mehr als zuverlässige Quelle für das in der DDR geltende Zivilrecht angesehen werden, da seit langem eine nicht zu übersehende Entwicklung vom Bürgerlichen Recht weg stattgefunden hat 2 . Bereits auf dem V. Parteitag, der vom 10. bis zum 16. Juli 1958 in Berlin abgehalten wurde, hatte W. Ulbricht erklärt, die noch angewendeten umfangreichen Teile des Bürgerlichen Gesetzbuches würden den neuen persönlichen Beziehungen und Vermögensverhältnissen der Bürger eines sozialistischen Staates nicht gerecht3. Der Parteitag faßte dementsprechend den Beschluß, u. a. ein neues Zivilgesetzbuch erstellen zu lassen4. Es folgten jahrelange Beratungen und Diskussionen, an denen sich zahlreiche Wissenschaftler beteiligten. Einen zentralen Streitpunkt bildete die künftige Ausgestaltung der zivilrechtlichen Ersatzpflicht für Schadenszufügungen. Dies erklärt sich aus der erheblichen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Einstandspflicht für Schäden im Rechtssystem der DDR. Das Schadensersatzrecht des BGB beruht vornehmlich auf dem Ausgleichsgedanken, und die Ersatzleistung ist fast durchweg ohne Verfolgung eines poenalen oder erzieherischen Zweckes auf die Wiederherstellung des früheren Zustands gerichtet5. Der „materiellen Verantwortlichkeit" nach sozialistischem Rechtsverständnis kommt hingegen neben dieser Funktion des Schadensausgleichs insbesondere auch die Aufgabe der Erziehung zur Schadensvorbeugung und Schadensverhütung zu 6 . Damit soll dieses Rechtsinstitut (zusammen mit den anderen Verantwortlichkeitsregelungen, etwa des Straf-, Arbeits- oder Wirtschaftsrechts) den Schutz der Gesellschaft vor Rechtsverletzungen verstärken und so direkt oder mittelbar auch die Erfüllung der von der Führung gestellten Aufgaben, d. h. vor allem der Pläne, fördern. Als Fernziel will man einen Zustand erreichen, in dem der Mensch freiwillig von 10 Zum Regelungsgegenstand des ZGB vgl. Lieser-Triebnigg, „Das neue Zivilgesetzbuch der DDR", Deutschland Archiv 1975, 1042ff.; ferner Brunner, „Das neue Zivilrecht der DDR", JuS 1975, 744 ff. 2 Hierzu Westen, deutsche Studien 1963, 447 ff.; Thieme, Königsteiner Kreis 1963, Nr. 1, 1 ff. 3 Protokoll des V. Parteitages Bd. 1, Seite 55. 4 Protokoll des V. Parteitages Bd. 2, Seite 1354 f. 5 Palandt-Heinrichs, Kommentar zum BGB, 34. Aufl., München 1975, Vor § 249 Anm. 3. • So Püscbel, Staat und Recht 1975, 217 ff. (223); Bley, „Schadenersatz im Zivilrecht", Berlin (Ost) 1963, Seite 70 ff.

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Rechtsverstößen Abstand nimmt, potentielle Schadensquellen vor Schadenseintritt erkennt, von sich aus beseitigt und einen einmal eingetretenen Schaden durch eigene Initiative möglichst gering hält 7 . Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Haftungsvorschriften wird durch die bis in die einzelne Zivilrechtsbeziehung hineinreichenden Auswirkungen einer zentral gelenkten Wirtschaft besonders betont. In einer streng bedarfsorientierten und detailliert geplanten Wirtschaft können bereits Schäden verhältnismäßig geringen Umfangs, die nicht in das Plankalkül einbezogen sind, zu Störungen im gesamten Planablauf führen — dies vornehmlich, wenn ein Betrieb geschädigt ist. Wie man eine solche, einer zentralplanwirtschaftlichen Ordnung adäquate Verantwortlichkeit für Schäden zu konzipieren hat, ist indessen keineswegs unbestritten. Unterschiedliche Auffassungen zeigten sich bereits bei der grundsätzlichen Einordnung der zivilrechtlichen Haftung in das System der rechtlichen Verantwortlichkeit überhaupt. Die einen sprachen sich für eine Vereinheitlichung der Verantwortlichkeitsregelungen in allen Rechtsgebieten aus. Nicht nur das Urteil über die Rechtswidrigkeit, vielmehr auch der Schuldvorwurf müsse in der gesamten Rechtsordnung ein einheitlicher sein, selbst wenn die Rechtsfolgen in den verschiedenen Gebieten durchaus differieren mögen. Eine solche Entscheidung sei aus Gründen der Rechtsklarheit geboten und solle bei der Neukonzeption berücksichtigt werden. Es widerspreche dem Erfordernis der Transparenz des Rechts und finde demzufolge kein Verständnis beim Bürger, wenn dasselbe Verhalten etwa einen zivil- und arbeitsrechtlichen, nicht aber einen strafrechtlichen Schuldvorwurf begründe. Daher dürfe es keine nur auf einen Teilbereich der sozialistischen Rechtsordnung begrenzte Feststellung einer Pflichtverletzung geben 8 . Die Gegner dieser Auffassung betonen, jeder Zweig des sozialistischen Rechts habe seine besonderen Leitungsaufgaben, die sich nach den jeweils zu bewältigenden objektiven Erfordernissen bestimmten 9 . Wenn der Maßstab der Verantwortlichkeit innerhalb der einzelnen Rechtsgebiete inhaltliche Unterschiede aufweise, so sei hierin kein 7 Bley a . a . O . ; Horsters, „Die materielle Verantwortlichkeit im sozialistischen Recht", Diss. Köln 1967, Seite 2. 8 So insbesondere Posch, „Der Fahrlässigkeitsbegriff im Zivilrecht", Neue Justiz 1974, 551 ff. (554); ferner DähnjGruel, „Rechtliche Verantwortung und allseitige Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit", Staat und Recht 1971, 768 ff. 9 Püschel, Staat und Recht 1975, 217 ff. (228 f.); Göhring, „Gedanken zur Regelung der subjektiven Voraussetzungen der zivilrechtlichen materiellen Verantwortlichkeit im ZGB", Neue Justiz 1975, 48 ff. (51); Kietz/Mühlmann, „Zur Konzeption des Verschuldens im Zivilrecht", Neue Justiz 1966, 310 ff. (311).

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Mißstand zu erblicken; die einzelnen Rechtszweige reagierten ja auch verschieden auf die Rechtsverletzungen, und dies sei lediglich „eine notwendige Konsequenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Bewertungen und Zielsetzungen bei dem Einsatz von Sanktionen unterschiedlichen Charakters" 1 0 . Geteilt waren die Meinungen auch zu der Frage, welchen Platz die subjektiven Voraussetzungen für die Schadensersatzpflicht in der im ZGB zu normierenden Verantwortlichkeitsregelung einnehmen sollten. Es boten sich insbesondere zwei Möglichkeiten an. Man könne im Grundsatz von der Verpflichtung ausgehen, daß in der Regel alle Folgen eines Fehlverhaltens zu tragen seien. Der Verursacher werde aber im allgemeinen von der Schadensersatzpflicht befreit, wenn der Schaden nicht durch sein Verschulden eingetreten sei 11 . Zweifel in dieser Hinsicht gingen dann zu Lasten des Schädigers. Die Alternative bestände darin, die Schuld als positive Voraussetzung der Haftung in das Schadensersatzrecht aufzunehmen. Damit wäre zum Ersatz des Schadens — soweit das Gesetz nicht etwas anderes bestimmt — nur verpflichtet, wer neben der Verursachung die subjektive Voraussetzung des Verschuldens erfüllt 12 (was im Einzelfall nachzuweisen wäre). Des weiteren gingen auch die Vorstellungen darüber auseinander, wie der Begriff des Verschuldens im ZGB näher zu bestimmen sei — insbesondere welchen Bewertungsmaßstab man für die Fahrlässigkeit wählen solle. Den streng objektiven Fahrlässigkeitsbegriff des B G B hielten manche nicht für geeignet, „an das aktive schadensvorbeugende Handeln" der Menschen zu appellieren 13 . In den Thesen zu den allgemeinen Bestimmungen über Schuldverhältnisse wurde folgende Normierung vorgeschlagen: „Fahrlässig handelt, wer nicht alles in seinen Kräften Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um die Verbindlichkeit ordnungsgemäß zu erfüllen" 1 4 . Dieser Fahrlässigkeitsbegriff ist also stark subjektiv gefärbt. Gegen dieses Fahrlässigkeitsverständnis wurde ins Feld geführt, der Maßstab zur Entscheidung, ob der Pflichtverletzer den gesellschaftlichen Anforderungen entSo Püschel, Staat und Recht 1975, 217 ff. (228). Ähnlich § 82 Abs. 1 VertragsG, §§ 299 Abs. 1, 307 Abs. 1 ungar. ZGB. 1 2 Vgl. z. B. sdion Art. 222 ZGB R S F S R (Russische Sowjetische Föderative Sozialistische Republik) und Art. 37 G r Z (Grundlagen des Zivilrechts und des Zivilprozeßrechts der UdSSR und der Unionsrepubliken vom 8. 12. 1961, deutsche Übersetzung in: Berichte des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin, Reihe Wirtschaft und Recht, N r . 17, Berlin 1962). 13 So Püschel, „Allgemeine Bestimmungen über Schuldverhältnisse" in: „Probleme des sozialistischen Zivilrechts", 1963, S. 132 ff. (150). 1 4 Bei Püschel a. a. O., S. 150. 10 11

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sprechen habe, müsse für alle gleich sein. Ansonsten sei das Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung u. U . von den individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Vertragspartners abhängig. Auf diese "Weise aber werde das Leistungsprinzip ausgehöhlt 15 . Die E n t scheidung für eine objektivierte Verschuldensregelung im Z G B sei eine notwendige Bedingung zur Verwirklichung des Gesetzes der Verteilung nach Leistung 16 . Für die Ausgestaltung der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit als objektive hat man daher z. B. den Vorschlag gemacht, nur auf die Erfordernisse des Zivilrechtsverkehrs abzustellen 17 . Dem wurde aber entgegengehalten, die darin zum Ausdruck kommende Konzeption lasse den erzieherischen Gedanken des Zivilrechts vermissen 18 . Nach anderer Ansicht sollte überhaupt die These aufgegeben werden, daß die Einstandspflicht für negative Verhaltensfolgen nur dann eine erzieherische Wirkung habe, wenn ein Verschulden des Handelnden erwiesen sei. Auch über objektiv wirkende Faktoren könne menschliches Verhalten reguliert und ein gewünschter Effekt stimuliert werden. Der Schadensausgleich wirke seinem ökonomischen Wesen nach stets und ohne Rücksicht auf Verschulden auf den Schädiger ein und wecke dessen materielles Interesse an der alsbaldigen Entdeckung und Beseitigung der Schadensursachen 19 . Diese Ansicht findet gegenwärtig aber kaum mehr Unterstützung 2 0 . Man ist heute vielmehr fast einhellig der Auffassung, daß die gewünschte pädagogische Wirkung im Hinblick auf die Wahrung der gesamtgesellschaftlichen Interessen durch Verhütung von Schäden nur dann erzielt werden könne, wenn den Pflichtverletzer neben den materiellen Sanktionen im allgemeinen auch das gesellschaftliche Unwerturteil in Form des Schuldvorwurfs trifft. Dies ändert jedoch nichts daran, daß die materielle Verantwortlichkeit u. U . auch zufällig eintretende Folgen und weiter eine Einstandspflicht für Schäden aus Quellen erhöhter G e f a h r ohne Rücksicht auf Verschulden umfassen soll 21 . Das Ergebnis der jahrelangen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen dokumentierte zunächst der in der D D R eingehend beratene So Kietz/Mühlmann, Neue Justiz 1966, 310 ff. (312). KietzIMühlmann a. a. O., S. 312. 17 So Artzt, Drews u. Niethammer auf der wissensdiaftlichen Beratung über Konzeption und Regelung des Verschuldens im ZGB vom 13. April 1966 (Bericht v. Wüstneck, Neue Justiz 1966, 433 ff. (434 f.). 18 Vgl. Wüstneck a. a. O., S. 434. 19 So Klinkert, „Zu einigen Grundfragen der zivilrechtlidien materiellen Verantwortlichkeit", Neue Justiz 1968, 238 ff. (240). 20 Dagegen zuletzt eingehend Püscbel, Staat und Recht 1975, 217 ff.; ferner Bley, Staat und Recht 1972, 943 ff. (950). 21 Vgl. Püschel a. a. O., S. 220 f. 15

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Entwurf eines neuen Zivilgesetzbuches22. Dieser wurde am 19. 6. 1975 nicht grundsätzlich verändert von der Volkskammer als Gesetz verabschiedet und ist seit dem 1. Januar 1976 geltendes Recht. Das ZGB trägt der Idee einer allgemeinen, umfassenden zivilrechtlichen Haftung 2 3 Rechnung. Zwar wird nach wie vor zwischen der Haftung für Pflichtverletzungen aus Verträgen (§§ 82 ff. ZGB) und der Verantwortlichkeit für (außervertragliche) Schadenszufügung (§ 330 ZGB) unterschieden. Hierdurch soll jedoch lediglich verdeutlicht werden, daß es bei der vertraglichen Einstandspflicht nicht zuerst um Schadensersatz, sondern um die Erfüllung der (primären) Verbindlichkeit geht24. Entscheidend ist aber, daß die deliktischen Haftungsnormen (§§ 330 ff. ZGB) über § 93 ZGB auch auf die Verantwortlichkeit eines Vertragspartners für Schadenshandlungen Anwendung finden sollen (vgl. bei uns § 276 I 2 i. V. m. §§ 827/8 BGB). Die Schuldformen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit sind im ZGB definiert. Was den Vorsatz angeht, so wird sogar die subtile, ansonsten mehr im Strafrecht bedeutsame Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Vorsatz getroffen: „Vorsätzlich handelt ein Bürger, der den Schaden bewußt herbeiführt oder sich bewußt damit abfindet, daß als mögliche Folge seines Handelns ein Schaden eintritt", § 333 Abs. 2 ZGB. Fahrlässigkeit ist einem Bürger vorzuwerfen, der den Schaden dadurch verursacht, daß er sich aus mangelnder Sorgfalt, aus Leichtfertigkeit, Gleichgültigkeit oder aus ähnlichen Gründen nicht so verhält, wie es in der gegebenen Lage, entsprechend den allgemein an ihn zu stellenden Anforderungen zur Vermeidung des Schadens notwendig ist, § 333 Abs. 3 ZGB. Als grob fahrlässig ist das Verhalten eines Bürgers dann zu bewerten, wenn er „grundlegende Regeln des sozialistischen Zusammenlebens in verantwortungsloser Weise" verletzt, § 333 Abs. 4 ZGB. Man ist also den Stimmen nicht gefolgt, die eine Abgrenzung der Schuldformen im Zivilrecht für nicht notwendig erachteten, da der Eintritt bestimmter Rechtsfolgen im zivilrechtlichen Bereich für den 22 Der Entwurf wurde nach D D R - A n g a b e n in w e i t über 3000 Veranstaltungen mit mehr als 100 000 Teilnehmern diskutiert. D e m Ministerium für Justiz sind rund 1500 Änderungs- und Ergänzungsvorschläge zugegangen (vgl. Tribüne v o m 21. Februar 1975). — Der Gesetzentwurf w a r bis zur Verabschiedung am 19. 6. 1975 nur als Drucksache der Volkskammer herausgegeben w o r d e n und lag außerdem den jeweiligen Veranstaltungsleitungen aus Vertretern v o n Partei- und Staatsorganen vor. (Siehe audi „Informationen des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen", N r . 4/1975, S. 5 ff. (5). 23 Siehe Püschel in: „Probleme des sozialistischen Zivilrechts", S. 147, der die Beseitigung des „dem geltenden Recht innewohnenden Dualismus zwischen vertraglicher und deliktischer H a f t u n g " fordert. 24 D a z u Püschel a. a. O., S. 146.

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Regelfall zwar vom Vorliegen eines Verschuldens überhaupt, nicht aber von einer speziellen Schuldart abhänge 25 . Diese Auffassung berücksichtigt in der Tat nicht in gebührender Weise die Funktion der materiellen Verantwortlichkeit als Instrument der Erziehung zur Schadensvorbeugung. § 340 ZGB gestattet dem Gericht z. B., in Ausnahmefällen den Betrag herabzusetzen, wenn der Schaden „fahrlässig verursacht wurde und so hoch ist, daß in Anbetracht der wirtschaftlichen Lage und des Einkommens des Schädigers sowie ihrer voraussichtlichen Entwicklung ein voller Ausgleich des Schadens nicht zu erwarten ist". Hier wird der Unterschied zu unserem Schadensersatzrecht deutlich erkennbar. Dieses dient, wie erwähnt, ganz überwiegend dem Schadensausgleich; es ist Mittel der Konfliktbereinigung zwischen Schädiger und Geschädigtem und daher dem Prinzip der Totalreparation verhaftet. Die Rechtsfolgen einer leichten Fahrlässigkeit sind folglich im allgemeinen die gleichen wie die der groben Leichtfertigkeit oder des Vorsatzes. Wird eine Ersatzpflicht bejaht, dann erfaßt sie prinzipiell alle Nachteile einschließlich des entgangenen Gewinns. Ausnahmen z. B. im Frachtrecht (§ 430 HGB), im Eisenbahnfrachtrecht und im Rahmen der Gefährdungshaftung erklärt man mit den dortigen Besonderheiten, z. B. damit, daß bei fehlendem Verschulden die H a f t tung des Schädigers nicht überspannt werden dürfe. Selbst in den Fällen, in denen nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit (vgl. §§ 680 u. 521 BGB, f. d. D D R §§ 278 u. 283 ZGB) oder für die „Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten" (z. .B § 690 BGB) gehaftet wird, ist die dann eintretende Ersatzpflicht erst recht im Umfang nicht beschränkt. Eine generelle Ermächtigung für die Gerichte, die Ersatzpflicht bei geringer Schuld oder niedrigem Einkommen des Täters zu beschränken, hätten die Väter des BGB wohl aus Gründen der Rechtssicherheit für nicht unbedenklich gehalten. Lediglich der Schmerzensgeldanspruch des § 847 BGB genießt eine gewisse Sonderstellung. Zwar steht auch hier die Ausgleichsfunktion im Vordergrund, zugleich soll aber auch dem Genugtuungsgedanken Rechnung getragen werden 26 , was sich darin äußert, daß bei vorsätzlichen Körperverletzungen und Gesundheitsbeeinträchtigungen in der Regel ein höherer Schmerzensgeldbetrag zu gewähren ist als bei Fahrlässigkeit. Trotz des vielzitierten hohen Ranges des Erziehungs- und Vorbeugecharakters in der Verantwortlichkeitskonzeption des Zivilgesetz25 So vor allem Posch, Neue Justiz 1974, 551 ff. (551); vgl. ferner Kietz/Müblmann, „Zur Regelung des Verschuldens im künftigen ZGB", Neue Justiz 1966, 429 ff. (431 f.). 26 BGH GrZS 18, 149 ff. (154).

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budies haben sich die Autoren doch nicht dazu entschließen können, von dem objektiv-abstrakten ( = normativen) Fahrlässigkeitsbegriff des B G B mehr als verbal Abstand zu nehmen. Insbesondere ist keine den strafrechtlichen Maßstäben ähnliche Subjektivierung des Fahrlässigkeitsbegriffs erfolgt in der Weise, daß etwa die Gewährleistung der (vollen) Äquivalenz generell von den individuellen Fähigkeiten oder Möglichkeiten des Pflichtverletzers abhängig gemacht worden wäre. Ob man auf die allgemein an den Bürger in der gegebenen ( = konkreten) Lage zu stellenden Anforderungen abhebt wie das ZGB oder aber — wie § 276 B G B — auf die im Verkehr erforderliche Sorgfalt abstellt, wird in der Praxis kaum zu unterschiedlichen Bewertungen führen 27 . Verschieden ist nur die äußere Gestalt der Begriffe: "Welchen Anforderungen der einzelne unterworfen ist, wird in der D D R durch seine Stellung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß bestimmt und kann im übrigen wegen der wünschenswerten Stimulation im Interesse der Verwirklichung des Leistungsprinzips nur einer objektiven Bewertung unterliegen. Hierbei muß dann wohl der durchschnittliche Leistungsstandard eines in der konkreten Lage „normal Handelnden" zum Maßstab genommen werden, womit annähernd eine inhaltliche Deckungsgleichheit der beiden Fahrlässigkeitsbegriffe erreicht wäre. Einer der augenfälligen Unterschiede zwischen der Verantwortlichkeitskonzeption des ZGB und dem Schadensersatzrecht des B G B zeigt sich im Deliktsrecht. Die Generalklausel des § 330 — der an die Stelle unserer §§ 823 ff. B G B treten soll — knüpft die Verpflichtung eines Bürgers oder Betriebes zum Schadensersatz nur an die unter Verletzung obliegender Pflichten begangene rechtswidrige Schadensverursachung, also an ein objektives Kriterium. Ein Verschulden des Erfolgsverursachers scheint danach gar nicht zum Entstehungstatbestand der materiellen Verantwortlichkeit zu gehören. Die Frage, ob derjenige, der rechtswidrig einen Schaden herbeigeführt hat, letztlich auch zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, hängt aber regelmäßig doch davon ab, ob ihn am Schadenseintritt ein Verschulden trifft, denn § 333 Abs. 1 ZGB formuliert: „Die Verpflichtung eines Bürgers zum Schadensersatz entfällt, wenn er den Schaden nicht schuldhaft (vorsätzlich oder fahrlässig) verursacht hat." Diese Normierung muß so verstanden werden, daß dem Erfahrungssatz, wonach der Initiator einer rechtswidrigen Schädigung diese in der Regel auch schuldhaft herbeigeführt habe, Rechnung getragen werden soll 28 . Der Schädiger hat sich also zu entlasten und ggf. das Vgl. auch Horsters a. a. O., S. 16. Püschel, Staat und Recht 1975, 217 ff. (224 f.); s. auch Püschel, last im Zivilrecht", Neue Justiz 1973, 344 ff. 27

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„Die Beweis-

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Risiko des Mißlingens zu tragen, was sich aus der Tatsache rechtfertigt, daß er dem Schaden meist näher steht als der Geschädigte, der denselben nicht einmal verursacht hat 29 . D a ß die Autoren des ZGB diese Konzeption gewählt haben, überrascht nicht. Die Frage, wen die Beweislast für die Schuldhaftigkeit des Schädigerhandelns trifft, wird in der sozialistischen Gesetzgebung oft in dieser Weise beantwortet 3 0 . Es spricht also grundsätzlich eine Vermutung f ü r ein Verschulden des Schädigers. Dieser kann sich von der H a f t u n g nur befreien, indem er den Nachweis führt, daß ihn kein Verschulden treffe. In unserem Zivilrecht hat dagegen in der Regel derjenige, der Schadensersatz begehrt, alle Voraussetzungen seines Anspruchs, also auch die ein Verschulden des Schädigers begründenden Tatsachen, zu beweisen mit der Folge, daß er selbst im Falle eines non liquet in der Tatfrage die Folgen der Beweisfälligkeit zu tragen hat. Fälle mit einer umgekehrten Beweislastregelung sind unserem Recht indes nicht fremd. Es sei nur beispielhaft auf die Bestimmungen des § 836 BGB und des § 18 StVG verwiesen. Die Position des Schadensverursachers nach § 333 Abs. 1 ZGB ist mit der eines beweisbelasteten Schädigers in unserem Privatrecht nur äußerlich identisch. Während der die Beweislast tragende Schädiger — so sieht es jedenfalls die D D R — „auf sich allein gestellt" sein soll, obliegt dem Schadensverursacher nach dem ZGB lediglich eine besondere Verantwortung zur Beweisführung, was aber weder den Geschädigten noch das zur Erforschung der objektiven Wahrheit verpflichtete Gericht von einer sorgfältigen Sachaufklärung befreit 31 . Die These, daß der mit der Beweisführung Belastete bei uns „allein stehe", ist sicher überzeichnet. Sie wird der heutigen Stellung des Gerichtes im Prozeß (s. § 139 ZPO) — den wir nicht mehr bloß als Instrument für die Parteien, sondern auch als eine Einrichtung für die Gemeinschaft ansehen — nicht gerecht. Dennoch ist eines richtig: Die Beweisführung durch die Parteien spielt in einem prinzipiell von den Parteien, ihrer Initiative und ihren Dispositionen ausgehenden Zivilprozeß (so bei uns) eine andere Rolle als in einem Verfahren, das sich als Teil der staatlichen Leitungstätigkeit versteht und das durch das Prozeßgeschehen zum „Konflikthintergrund" vorstoßen, der Störungsbeseitigung dienen und erzieherisch wirken will. Hier hat die sich an den Prozeßbeteiligten orientierende Beweispflicht und Beweisführung eigentlich nur „technischen" Charakter. Das Gericht muß ohne Rücksicht auf solche Regelungen von Amts wegen alles tun, um 2

» Siehe Klinkert, N e u e Justiz 1968, 238 ff. (241). Art. 88 GrZ, Art. 37 GrZ, § 339 ungar. ZGB. 31 Püschel, Staat und Recht 1975, 217 ff. (225).

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eine materiell richtige, also auf den wahren Sachverhalt gegründete Entscheidung zu fällen. Dies wurde in der D D R weitgehend schon vor Inkrafttreten der neuen Z P O am 1. Januar 1976 so gehalten 32 . Soweit ein Betrieb einem Bürger oder einem anderen Betrieb rechtswidrig Schaden zufügt, werden an die Befreiung von der materiellen Verantwortlichkeit höhere Anforderungen gestellt. Der Grund liegt in den gesteigerten gesellschaftlichen und ökonomischen Möglichkeiten, die einem Betrieb zur Schadensvorbeugung offenstehen sollen 33 . Dementsprechend wird ein Betrieb von der Verpflichtung zum Schadensersatz nur befreit, „wenn er die Umstände, die zum Schaden geführt haben, trotz Ausnutzung aller ihm durch die sozialistischen Produktionsverhältnisse gegebenen Möglichkeiten nicht abwenden konnte", § 334 ZGB. Innerhalb von Verträgen ist die Partei materiell verantwortlich, die ihre Vertragspflichten nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllt, § 82 Abs. 1 ZGB. Diese in Form einer Generalklausel getroffene Regelung umfaßt auch die sog. positive Forderungsverletzung und schließt so die im B G B vorhandene Lücke. Aus der materiellen Verantwortlichkeit erwächst für den Vertragsgegner ggf. das Recht, Verzugszinsen zu verlangen, die Abnahme der Leistung zu verweigern, vom Vertrag zurückzutreten oder Schadensersatz zu fordern. Auch unser „Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte", den die Rechtsprechung bekanntlich auf den Rechtsgedanken der §§ 328 ff. B G B zurückführt 34 , ist in § 82 Abs. 3 ZGB ausdrücklich erfaßt: „Soll eine Leistung nach dem Zweck des Vertrages auch anderen dienen oder vom Empfänger auf andere übertragen werden, ist der Leistende diesen gegenüber für Pflichtverletzungen ebenso verantwortlich wie seinem Vertragspartner." § 82 Abs. 2 ZGB entspricht unserem § 278 BGB. 3 2 Vgl. heute § 2 Abs. 2 des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren in Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssadien — Zivilprozeßordnung — (GBl. I 1975, 533 ff.): „Die Gerichte sind verpflichtet, . . . die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen aufzuklären, wahrheitsgemäß festzustellen und nach den Rechtsvorschriften zu entscheiden"; siehe zu dem angesprochenen Problemkreis auch Püschel, „Die Beweislast im Zivilrecht", Neue Justiz 1973, 344 ff.; ferner Pleyer, „Wirtschaftsrechtliche Betrachtungen zur Funktion des Zivilprozesses in der zentral geplanten Wirtschaft der SBZ" in: „Zentralplanwirtschaft und Zivilrecht", Stuttgart 1965, S. 79 ff.; zur neuen Z P O vgl. Kellner, „Die Grundsatzbestimmungen der neuen Zivilprozeßordnung", Neue Justiz 1975, 542 ff. 3 3 Vgl. Joachim/Knüpf er, „Stellung und Aufgabe der Betriebe im Zivilrecht" Wirtschaftsrecht 1975, 7 ff. (9); ferner Göhring, „Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit des Betriebes für Schadenszufügungen", Neue Justiz 1975, 508 ff. (509). 3 4 Dazu B G H N J W 1959, 1676.

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Die Rechtsfolgen für die Verletzung eines im vertraglichen Vorfeld geschaffenen Vertrauenstatbestandes (sog. culpa in contrahendo) sind gleichfalls im ZGB geregelt: „Ein Partner, der bei der Vorbereitung eines Vertrages Pflichten verletzt, auf deren Erfüllung der andere Partner vertrauen durfte, hat den daraus entstandenen Schaden zu ersetzen", § 92 Abs. 2 ZGB. Eine insbesondere im Hinblick auf die planwirtschaftliche Ordnung bedeutsame Vorschrift beinhaltet § 83 ZGB, der dem Schuldner einer Leistung die Pflicht auferlegt, seinem Vertragspartner von zu erwartenden Leistungsstörungen Mitteilung zu machen und im Falle drohenden Verzugs den voraussichtlich späteren Leistungstermin bekanntzugeben. Der Gläubiger ist gleichfalls gehalten, geeignete Maßnahmen zur Abwendung des potentiellen Schadens zu treffen, § 83 Abs. 2 ZGB. Wen gleich der Gedanke der gegenseitigen Rücksichtnahme unausgesprochen heute auch unser Vertragsrecht beherrscht, so wird man die eben erwähnte Bestimmung doch als Hinweis auf die Allgemeinbelange (Verhinderung volkswirtschaftlicher Schäden!) zu deuten haben sowie als Betonung des Grundsatzes, daß sich der einzelne als Teil eines größeren Ganzen fühlen soll. Der Eintritt des Schuldnerverzugs ist — anders als nach dem BGB (§ 285) — nicht vom Vorliegen eines Verschuldens abhängig. Er tritt einfach aufgrund der Tatsache ein, daß die Leistung nicht in der vereinbarten oder gesetzlich bestimmten Zeit erbracht wird, § 85 Abs. 1 ZGB. Auch die meisten zivilrechtlichen Folgen des Verzugs werden ohne Rücksicht auf Verschulden ausgelöst. So ist der Gläubiger etwa berechtigt, während des Schuldnerverzugs seine Gegenleistung zu verweigern, § 85 Abs. 2 ZGB. Er kann ferner vom Vertrag mit dem in Verzug befindlichen Schuldner nach Abmahnung — ganz oder teilweise (!) — zurücktreten, § 86 Abs. 1 ZGB, sowie — im Falle einer Geldschuld — Verzugszinsen verlangen, § 86 Abs. 3 ZGB. Steht indes der Ersatz eines durch den Verzug entstandenen Schadens in Rede, so hat der Schuldner diesen nur zu ersetzen, wenn er denselben schuldh a f t herbeigeführt hat, § 86 Abs. 4 i. V. m. § 93 ZGB 35 . Strengere Rechtsfolgen als das BGB spricht das ZGB zum Nachteil des Gläubigers im Annahmeverzug aus (§§ 87, 88 ZGB, die bezeichnenderweise von einer Leistung des Gläubigers sprechen). Der Gläubiger hat dem Schuldner auch den durch den Verzug entstandenen Schaden zu ersetzen, soweit die Verursachung schuldhaft erfolgte, § 88 Abs. 3 i. V. m. § 93 ZGB. Die gleichermaßen strikten Anforderungen des ZGB an beide Partner eines gestörten Leistungsverhältnisses erklären sich aus der 35

Vgl. Püschel, Staat und Recht 1975, 217 ff. (221).

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Sorge um einen geregelten Wirtschaftsablauf. Jeder Fall des Verzuges — auch der durch einen einzelnen Bürger — bedeutet eine Gefahr für die Plankalkulation (Wartezeiten, Lagerkosten) und kann mithin Nachteile für die Allgemeinheit mit sich bringen. Insoweit ist diq Verantwortlichkeit für Gläubiger und Schuldner prinzipiell dieselbe. Dem Bereich, den wir mit dem Stichwort „Gefährdungshaftung" ansprechen, sind im ZGB die unter der Überschrift „Erweiterte Verantwortlichkeit für Schadenszufügung" zusammengefaßten §§ 343 bis 347 gewidmet. Als erstes fällt auf, daß die DDR nicht mit unserem Enumerationsprinzip arbeitet, sondern in § 344 ganz allgemein denjenigen Betrieben, „deren Tätigkeit zu einer erhöhten Gefahr für andere führt", eine Verantwortlichkeit „für den aus dieser Tätigkeit verursachten Schaden" zuweist. Gleiches gilt für Schäden, die „auf das Unterhalten und Betreiben von Anlagen sowie auf den Besitz von Sachen oder Stoffen zurückzuführen" sind, bei denen eine „erhöhte Gefahr für Leben, Gesundheit und Eigentum anderer nicht oder nicht vollständig auszuschließen ist". In den folgenden Vorschriften wird dann (offenbar beispielhaft) die Haftung beim Betrieb von Bahnen, Kraft-, Luft- und Wasserfahrzeugen, für die Haltung von Tieren und für den Einsturz von Gebäuden u. ä. geregelt. Die oben wiedergegebene, an die „erhöhte Gefahr" anknüpfende Generalklausel mag uns etwas unbestimmt vorkommen und unserer Vorstellung, daß die Voraussetzungen für schwerwiegende Eingriffe in das Vermögen der Bürger oder Unternehmer genau gesetzlich geregelt sein sollen, nicht entsprechen. Es ist an unsere sehr präzisen Formulierungen etwa im RHaftpflichtGes. oder im StVG, aber auch an § 823 BGB selbst zu erinnern und schließlich daran, daß die Heranziehung der guten Sitten als Schadensersatzgrund nur dann ausreicht, wenn andererseits Vorsatz vorliegt (§ 826 BGB)36. Es ist jedoch zu bedenken, daß die DDR diesen Gesichtspunkten eine ungleich geringere Bedeutung beimißt, da sie nicht den einzelnen in den Mittelpunkt ihrer Ordnung setzt. Der im Interesse der Gesamtheit herbeizuführende Effekt (Haftung) erscheint unter solchen Voraussetzungen viel bedeutsamer als das Interesse des Rechtssubjekts an Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der Voraussetzungen, unter denen es zum Ersatz (ohne Verschulden!) herangezogen wird. Bekanntlich sind wichtige Materien wie das eheliche Vermögensrecht37 und die mate36 Der Eingriff in das Unternehmen oder in das Persönlichkeitsrecht werden bei uns mit Recht als „partielle Generalklauseln" angesehen. Ein Teil der gegen sie erhobenen Bedenken geht wohl auf diesen Umstand zurück. 37 Richtlinie Nr. 24 des Plenums des Obersten Gerichts der D D R vom 22. 3. 1967, GBl. II, S. 180 ff.

Zur Sdiadensersatzhaftung mit und ohne Verschulden

923

rielle Verantwortlichkeit des einzelnen Werktätigen in der D D R 3 8 im Gesetz nur rudimentär geregelt und erst durch das Oberste Gericht näher konkretisiert worden. Solche Erwägungen rechtfertigen auch eine Generalklausel für die Gefährdungshaftung. Sie erschwert sicher die Kalkulationen der „gefährlichen Betriebe", was aber nicht so problematisch erscheint, da diese zum größten Teil dem Staat gehören, der sonst auf anderen Wegen, nämlich über die Sozialversicherung oder die Sozialfürsorgeunterstützung (in der Bundesrepublik Sozialhilfe) zugunsten des geschädigten Bürgers helfend eingreifen müßte. Die erweiterte Verantwortlichkeit entfällt (in Übereinstimmung mit unserer Regelung) nur dann, wenn der Schaden auf ein unabwendbares Ereignis zurückzuführen ist (Einzelheiten s. § 343 Abs. 2 ZGB). Diese Befreiungsmöglichkeit besteht allerdings nicht, wenn der Schaden beim Betrieb eines Luftfahrzeugs entstanden ist, § 343 Abs. 3 ZGB (vgl. auch § 33 unseres Luftverkehrsgesetzes). Eine vom Verschuldensvorwurf losgelöste Verantwortlichkeit aus erlaubtem gefährlichem Tun ist heute wohl in allen hochindustrialisierten und hochtechnisierten Staaten unabweisbar. Der Umstand, daß diese H a f t u n g auf das moralische Unwerturteil verzichtet, soll auch nicht mit der sozialistischen Rechtsauffassung, welche die präventive und erzieherische Aufgabe des Rechts besonders betont, im Widerspruch stehen. Man deutet diese erweiterte Verantwortlichkeit vielmehr dahin, daß sie zur Vervollkommnung der individuellen Kenntnisse, Fähigkeiten und Tätigkeiten im Umgang mit gefährlichen Anlagen und Gerätschaften zu erziehen sowie eine Fortentwicklung der Technik zu stimulieren habe 39 . (In anderen Fällen wird freilich einer H a f t u n g ohne Verschulden eine für die Sorgfalt der Beteiligten negative Rolle zugeschrieben.) Dem westdeutschen Leser wird auffallen, daß eine ziffernmäßige Begrenzung der H a f t u n g aus erweiterter Verantwortlichkeit grundsätzlich nicht vorgesehen ist (s. aber § 344 Abs. 2 ZGB). Angesichts der weitgehenden Sozialisierung der Produktionsmittel ist der Schaden, der Bürgern und außerstaatlichen Organisationen entstehen kann, ohnehin begrenzt, und es erscheint daher vielleicht tragbar, ihn in voller Höhe zu ersetzen. Bei Schäden durch industrielle Betriebe o. ä. kommt außerdem nur eine juristische Person des sozialisierten Sektors als Schuldner in Betracht. Ist ein volkseigener Betrieb durch einen anderen Betrieb geschädigt worden, handelt es sich praktisch nur 38 Richtlinie Nr. 29 des Plenums des Obersten Gerichts der D D R vom 25. 3. 1970, GBl. II, 267 ff. 39 Schneider, „Zum Verhältnis von Haftung und Verantwortlichkeit", Staat und Recht 1972, 1727 ff. (1731).

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um eine Schadensverlagerung. O b die in § 340 ZGB für fahrlässig verursachte Schäden vorgesehene Ermächtigung der Gerichte, die Schadensersatzhöhe herabzusetzen, auch f ü r die H a f t u n g ohne Verschulden gilt, wird die künftige Praxis erweisen müssen. Prinzipielle Probleme scheinen nicht zu entstehen, so daß auf diesem Wege eine Haftungsbegrenzung erreicht werden könnte, sofern ein Bürger ersatzpflichtig ist. Wenn außenstehenden Dritten in Erfüllung betrieblicher Aufgaben Schäden aus (verschuldetem oder unverschuldetem) Fehlverhalten eines Mitarbeiters des betreffenden Betriebes entstehen, ist der Beschäftigungsbetrieb im Außenverhältnis immer materiell verantwortlich, § 331 ZGB. Damit geht die Einstandspflicht der Betriebe nach dem ZGB weit über die des „Geschäftsherrn" nach dem gegenwärtigen § 831 BGB hinaus. (Eine Reform ist bekanntlich in Vorbereitung 40 .) § 831 BGB gründet die H a f t u n g auf eine Verschuldensvermutung bei der Auswahl von Hilfspersonen oder bei der organisatorischen Vorbereitung oder Überwachung der zum Schaden führenden Verrichtung. § 331 ZGB gibt dem Betrieb indes keine Möglichkeit der Haftungsbefreiung. Die Vorschrift gestaltet die Rechtsfolge der Verantwortlichkeit nicht als Vorwurf eigenen Versagens des Betriebes aus, sondern als Einstandspflicht für das Fehlverhalten des schadenverursachenden Mitarbeiters. Auch haften der Anstellungsbetrieb und der Schadensverursacher dem Dritten nicht als Gesamtschuldner. Ein solches Schadensereignis läßt — im Gegensatz zum BGB — keine Rechtsbeziehung zwischen dem geschädigten Dritten und dem Arbeitnehmer entstehen. Die Sanktionen, die den Werktätigen u. U. im Innenverhältnis treffen, bestimmen sich nach arbeitsrechtlichen Vorschriften. Auf diese Weise sucht man den erzieherischen Einfluß des Kollektivs auf den einzelnen und das Verantwortungsbewußtsein des einzelnen gegenüber dem Kollektiv zu fördern. Dem gesamten System der zivilrechtlichen materiellen Verantwortlichkeit für Schadenszufügung legt das ZGB den Gedanken zugrunde, daß der Geschädigte bei der Durchsetzung seiner Rechte nicht allein auf sich selbst gestellt sein soll; vom Schädiger wird erwartet, daß er keine starre Abwehrhaltung einnimmt, sondern mit dem Geschädigten bei der Schadensabwicklung zusammenwirkt 4 1 und daß er mit dem Geschädigten auf diese Weise den Konflikt gemeinsam — nach Möglichkeit ohne Inanspruchnahme der Gerichte — beilegt, § 16 Satz 2 40 Vgl. den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung sdiadensersatzreditlicher Vorschriften, 1967 I, Wortlaut, S. 4. 41 Püschel, Staat und Recht 1975, 2 1 7 f f . (225); vgl. audi Püschel, Neue Justiz 1973, 344 ff. (345 f.).

Zur Sdiadensersatzhaftung mit und ohne Verschulden

925

ZGB. So ist der Weg zu einem partnerschaftlichen Verhalten geebnet und die am Schadensereignis Beteiligten sollen zur gemeinsamen Fehleranalyse im Interesse der Volkswirtschaft angehalten werden. In diesem Lichte ist die Beweislastumkehr bei der Verschuldenshaftung ebenso zu sehen wie die oben beschriebene Ausweitung der H a f t u n g aus Quellen erhöhter Gefahr. Wer materiell verantwortlich ist, hat grundsätzlich entsprechend den praktischen Erfordernissen Schadensersatz in Geld zu leisten, § 337 Abs. 2 Satz 1 ZGB. Die Beteiligten können statt dessen jedoch auch die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands vereinbaren, § 337 Abs. 2 Satz 2 ZGB. Anstelle des Schmerzensgeldanspruchs des § 847 BGB wird ein angemessener Ausgleich für die Beschränkungen hinsichtlich der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gewährt. Der für eine Gesundheitsbeschädigung Verantwortliche hat ferner erhebliche oder längere Zeit andauernde Beeinträchtigungen des Wohlbefindens materiell zu kompensieren, § 338 Abs. 3 ZGB. Abschließend läßt sich sagen, daß das neue ZGB der D D R — insbesondere was die Haftungstatbestände angeht — einen beachtlichen Versuch darstellt, einerseits tradiertes Recht, wie es im BGB seinen Ausdruck findet, den Erfordernissen des heutigen täglichen Lebens anzupassen, zu modernisieren und dem Wortlaut nach zu vereinfachen. Es wäre andererseits aber verfehlt, vornehmlich einen verbalen Unterschied zum BGB festzustellen und darüber hinaus auf die Einarbeitung einiger von Rechtsprechung und Lehre entwickelter Rechtsinstitute zu verweisen. Das ZGB bemüht sich vielmehr, das im Ostblock als Dogma geltende Prinzip der Übereinstimmung der persönlichen Interessen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen normativ zu verwirklichen. Das Gesetz darf daher nicht zuerst als Instrument des einzelnen Bürgers zur Verwirklichung seiner Rechte und zur Gewährung seines individuellen Schutzes vor Rechtsverletzungen verstanden werden. Es dient vor allem — dies verdeutlichen insbesondere die beschriebenen Haftungstatbestände und subtilen Verschuldensregelungen — der Ausrichtubng des einzelnen Bürgers auf die Lösung der sog. Hauptaufgabe. Ein wichtiger Besandteil derselben ist der Schutz der Gesellschaft vor Beeinträchtigungen durch Rechtsverletzungen. O b die Ersetzung des BGB, dem der Justizminister der D D R „einen schon fast an Perfektionismus grenzenden inhaltlichen Ausregelungseffekt" nachsagt 42 , durch das nur 480 Vorschriften enthaltende ZGB

42 So Heusinger in einer Fernseh-Pressekonferenz im Februar 1975 (Informationen des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen N r . 4/1975, S. 5).

926

Klemens Pleyer und Peter von Wnuck

die gesetzten hohen Erwartungen erfüllt, läßt sich gegenwärtig noch nicht absehen. Der Vertrauensvorschuß ist groß — die Bewährungsprobe steht indes erst bevor. 43 , , ,, , „ v (abgeschlossen Oktober 1975)

43

Neueste Literatur, die im Text nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Bergmann)Joachim, „Zum I n k r a f t t r e t e n des Zivilgesetzbuches am 1. J a n u a r 1976", Wirtschaftsrecht 1975, 193 ff. Mühlmann, „Die Funktion der Grundsätze des ZGB bei der Verwirklichung des sozialistischen Zivilrechts", Neue Justiz 1975, 625 ff. Ranke, „Die Herausbildung der leitenden Prinzipien des sozialistischen Zivilrechts", N e u e Justiz 1975, 532 ff. Krüger, „Die mündliche Verhandlung im Zivil-, Familien- u n d Arbeitsrechtsverfahren", Neue Justiz 1975, 657 ff.

Nemo minus iuris transferre potest, quam ipse habet, oder warum Erbteilungsverbote so kraftlos sind G E R H A R D KEGEL

„Man kann nichts mitnehmen", sagte der Bettler zur Matrone vor dem Schaufenster des Juweliers. Trotzdem wollen viele noch aus dem Grabe heraus herrschen oder fürsorgen. Ihr Werkzeug ist die Verfügung von Todes wegen. Sie ändert im Einzelfall die gesetzliche Erbfolge, die ihrerseits auf durchschnittlichem Erblasserwillen ruht. Der Wille des Erblassers wird beide Male geachtet. Ja, er ist suprema lex. Viele Erblasser möchten, daß ihr Gut beisammen bleibt, vor allem der „Familie" erhalten wird. Deswegen verbieten sie (durch sog. Erbteilungsverbot), daß die Miterben den Nachlaß teilen (unten I), oder sie geben einem Testamentsvollstrecker die Nachlaßverwaltung (unten II). I. Erbteilungsverböte Das BGB erlaubt dem Erblasser, die Auseinandersetzung des Nachlasses zu verbieten (§ 2044 I I ) . Darin folgt es dem preußischen 1 , gemeinen 2 und sächsischen3 Recht, während das französische Recht Erbteilungsverbote grundsätzlich nicht duldet 4 . Die Erbteilungsverbote sind von verschiedener Art (unten 1) und ihre Wirkung — oder besser: ihre Wirkungsschwäche — frappiert (unten 2). a) Gegenstände

^

Arten

„Der Erblasser kann durch letztwillige Verfügung die Auseinandersetzung in Ansehung des Nachlasses oder einzelner Nachlaßgegenstände ausschließen . . . " (§ 2044 I 1 BGB) 5 . Der ganze Nachlaß, ein einzelner Nachlaßgegenstand, aber auch eine Mehrheit einzelner Nachlaßgegenstände (eine Gruppe) kann demnach unter Teilungsverbot gestellt sein. 1

ALR I 17 §§ 118—121. Z. B. Dernburg, Pandekten, 7. Aufl. (unter Mitwirkung von Biermann) I, 1902, 462 zu Fn. 16 (§ 197, 2) und III, 1903, 348 zu Fn. 2 (§ 176 vor 1). 5 § 2346 Satz 1 BGB. 4 Art. 815 Abs. 1 c. civ. D a z u Ferid, Das Französische Zivilrecht II, 1971, 1485 f., 1490 f. 2

928 b)

Gerhard Kegel

Dauer

Das Erbteilungsverbot kann befristet sein oder nicht. Die gewöhnliche Erbeinsetzung wirkt ewig. Ebenso das gewöhnliche Vermächtnis. Der Erblasser sagt, wer seine Habe erhält, und damit hat sich's. Bedenken kommen, wenn der Erblasser das Steuer nicht ganz aus der Hand gibt. Zwar kann er selbst nicht mehr steuern. Aber er kann das Ruder auf bestimmte Punkte festlegen. Er setzt z. B. erst X zum Erben ein, dann aber nicht dessen Erben, sondern Y und nach dessen Tod nicht Y's Erben, sondern Z. Er herrscht oder sorgt aus dem Grab. Das Erbteilungsverbot ist immer ein solcher Herrschafts- oder Fürsorgeakt. Dem Regiment aus dem Grabe zieht das Gesetz Grenzen: der Erblasser darf grundsätzlich nur für die nächste Generation, nur für ein „Menschenalter"6 vorkehren: — — — —

§ 2044 II BGB (Erbteilungsverbot), § 2109 BGB (Nacherbschaft), §§ 2162, 2163 BGB (Vermächtnis), § 2210 BGB (Testamentsvollstrecker).

Folgerichtig

müßte

man

die

Rechtsgeschäfte

unter

Lebenden

gleichermaßen begrenzen. So macht es das englisch-amerikanische Recht mit der „rule against

perpetuities",

die übrigens ebenfalls

grundsätzlich nur die nächste Generation zu binden erlaubt 7 . In Deutschland ist das Gegenstück unter Lebenden verkümmert. Die Bindung auf über ein Menschenalter wird unterdrückt bei Wiederkauf, Miete, Pacht und Rentenschuld (§§ 503, 567, 581 II, 1202 II BGB) und noch mehr eingeengt beim Dienstvertrag und der Gesellschaft (§§ 624, 724)8. Stärker wirken die Unzulässigkeit der Verfügungsbeschränkung (§ 137 Satz 1) und das Verbot bedingter oder befristeter Auflassung (§ 925 II). Außerdem dürfte der Wunsch, Schicksal zu spielen, bei uns geringer sein als unter den Angelsachsen. Freilich, wer diesen Wunsch hat, kann ihn unter Lebenden auf allerlei Umwegen verwirklichen, vor allem durch die Errichtung einer Stiftung. 5 Motive zu dem Entwürfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich V, 1888, 689: „Der Deutlichkeit wegen wird hervorgehoben, daß das Theilungsverbot sich sowohl auf den Nachlaß als Inbegriff aller gemeinschaftlichen Nachlassgegenstände als auf einzelne Nachlassgegenstände beziehen kann." 6 Flad in Planck's Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch V, 4. Aufl. 1930; 451 (§ 2109 Bern. 2); Kipp-Coing, Erbrecht, 12. Bearb. 1965, 218 (§ 48 I). 7 Belege bei Kegel, Zur Schenkung von Todes wegen, 1972, 35 Fn. 157. 8 Dazu A. Hueck, Zur Problematik langfristiger Gesellschaftsverträge, Festschrift Larenz 1973, 741—748 (743—745).

N e m o minus iuris transferre potest, quam ipse habet

929

Für das Erbteilungsverbot hat, wie bemerkt, der Gesetzgeber in § 2044 II BGB die allgemeine Frage beantwortet, wie lange man anderen die freie Verfügung über ihr Gut vorenthalten darf: die Kinder darf man binden, die Enkel nicht (vereinfacht gesagt). c)

Freiheitsspielraum

Nach dem Maße, in dem der Erblasser die Freiheit der Miterben einschränken will, unterscheidet man zwei Arten des Teilungsverbots 9 : — eine milde: Teilung soll nur einverständlich möglich sein (jeder kann nein sagen) und — eine strenge: Teilung soll auch einverständlich nidit möglich sein (keiner kann ja sagen). Im milden Fall ist das Teilungsverbot Vermächtnis (§ 1939 BGB) zugunsten und zulasten jedes Miterben 10 . Es ist Vorausvermächtnis (§ 2150), obwohl das hier wenig besagt, weil der „Konservative" (der Teilungsunwillige) durch das Teilungsverbot nichts gewinnt, sondern bloß nichts verliert 11 . Man kann sich sogar fragen, ob überhaupt ein Anspruch und nicht vielmehr nur eine Einrede (oder Einwendung) zugewandt ist, nämlich das Recht (oder die Möglichkeit), dem Teilungsanspruch anderer Miterben (§ 2042 I BGB) zu widersprechen; aber auch eine Einrede oder Einwendung könnte m. E. (trotz des Wortlauts von § 2174 BGB) vermacht werden. 9 B G H Z 40, 115 (117); Strohal, D a s deutsche Erbrecht II, 3. Aufl. 1904, 109 f. (noch nicht ganz deutlich); Lehmann in / . v. Staudingers K o m m e n t a r zum Bürgerlichen Gesetzbuch V 1, 11. Aufl. 1954, 644 (§ 2044 Bern. 5, 6); Lange, Lehrbuch des Erbrechts, 1962, 581 ( § 4 6 I I 3 a); Kipp-Coing (oben Fn. 6) 507 f. ( § 1 1 6 IV 3); von Lübtow, Erbrecht II, 1971, 829 (5. Hauptteil, 4. K a p . § 6 C I I ) ; Bartholomeyczik in Erman, H a n d k o m m e n t a r zum Bürgerlichen Gesetzbuch II, 5. Aufl. 1972, 1502 (§ 2044 Bern. 2, 4, 5); Wolf in Soergel-Siebert, Bürgerliches Gesetzbuch VI, 10. Aufl. 1974, 229 f. ( § 2 0 4 4 Bern. 4); Kregel in RGRK (Das Bürgerliche Gesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes) V 1, 12. Aufl. 1974, 376 f. ( § 2 0 4 4 Bern. 2, 3); Keidel in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 34. Aufl. 1975, 1674 (§ 2044 Bern. 1 a). 10 Lehmann in Staudinger (oben Fn. 9) 644 (§ 2044 Bern. 5); Lange (oben Fn. 9) 581 Fn. 9 ( § 4 6 II 3 a); von Lübtow (oben Fn. 9) 829 (5. Hauptteil, 4. K a p . § 6 C I I ) ; Bartholomeyczik in Erman (oben Fn. 9) 1502 (§ 2044 Bern. 5: Vorausvermächtnis); Wolf in Soergel-Siebert (oben Fn. 9) 229 ( § 2 0 4 4 Bern. 4); Kregel in RGRK (oben Fn. 9) 376 (§ 2044 Bern. 2); Keidel in Palandt (oben Fn. 9) 1674 ( § 2 0 4 4 Bern. 1 a). Ähnlich Kipp-Coing (oben Fn. 6) 507 ( § 1 1 6 I V 3 a: „gewisse Verwandtschaft mit einem Vermächtnis"). A. M. Strohal (oben Fn. 9) 110 (Auflage). 11 Die Frage müßte vertieft werden. D a s Teilungsver^oi ist das negative Gegenstück zur Teilungsanordnung. Ober deren Abgrenzung vom Vorausvermächtnis: Mattern, Einzelzuweisungen von Todes wegen, D N o t Z 1963, 450—464 (besonders 452 Fn. 8, 456 f., 463 f.).

Gerhard Kegel

930

Das strenge Teilungsverbot ist Auflage zugunsten und zulasten jedes Miterben 12 ' 13 . Auch dem Alleinerben kann der Erblasser die Nachlaßteilung verbieten: der Erbe darf einen, mehrere oder alle Nachlaßgegenstände nicht veräußern. Das ist als Auflage zu werten. Da Teilungsverbote (an Mit- oder Alleinerben) Vermächtnis oder Auflage sind, können sie nicht nur letztwillig (d. h. einseitig und grundsätzlich widerruflich) auferlegt werden, sondern auch bindend durch Erbvertrag (§§ 2278 II, 2279 I, 2289 I 2 BGB) 14 .

2. a) Gültigkeit

von

Wirkungen

Verfügungen

Geerbt wird der ganze Nachlaß. Das BGB kennt bloß die Universalsukzession. Der heres ex re certa ist verbannt 15 . Einzelgegenstände kann der Erblasser nicht dinglich, sondern nur obligatorisch (durch Vermächtnis) weiterleiten. Daraus könnte man schließen: das Verbot, den ganzen Nachlaß zu teilen, wirke dinglich, eine gleichwohl vorgenommene Teilung sei unwirksam; hingegen wirke das Verbot, einzelne Gegenstände oder Gruppen von solchen zu teilen, lediglich verpflichtend, die trotzdem vorgenommene Teilung sei gültig. 12 B G H Z 40, 115 (117); Binder, Die Rechtsstellung des Erben III, 1905, 248 (für den Fall, d a ß man den trotz Teilungsverbots geschlossenen Auseinandersetzungsvertrag als wirksam ansieht); Lehmann in Staudinger (oben Fn. 9) 644 (§ 2044 Bern. 6); Kipp-Coing (oben Fn. 6) 508 ( § 1 1 6 I V 3 b); von Lübtow (oben Fn. 9) 829 (5. Hauptteil, 4. Kap. § 6 C I I ) ; Bartholomeyczik in Erman (oben Fn. 9) 1502 (§ 2044 Bern. 4); Wolf in Soergel-Siebert (oben Fn. 9) 230 (§2044 Bern. 4); Kregel in RGRK (oben Fn. 9) 376 f. (§2044 Bern. 3); Keidel in Palandt (oben Fn. 9) 1674 (§ 2044 Bern. 1 a). A. M. Strohal (oben Fn. 9) 109 f. (Teilungsanordnung, nicht Auflage); Kress, Die Erbengemeinschaft, 1903, 206 Fn. 11 und 231 Fn. 16 (ebenso); Ebbecke in Planck (oben Fn. 6) 324 f. (§ 2044 Bern. 3: Teilungssagt hat). 13 Nach den Motiven (oben Fn. 5) 688 f. ist das Erbteilungsverbot weder Vermächtnis noch Auflage, w i r k t aber wie beide nur obligatorisch. 14 Binder (oben Fn. 12) 248 (für den Fall, d a ß man den trotz Teilungsverbots geschlossenen Auseinandersetzungsvertrag als wirksam ansieht); Lange (oben Fn. 9) 581 Fn. 7 (§ 46 II 3 a); Wolf in Soergel-Siebert (oben Fn. 9) 229 (§ 2044 Bern. 3); Kregel in RGRK (oben Fn. 9) 376 (§ 2044 Bern. 1). A. M. Kress (oben Fn. 12) 231 Fn. 16 (folgerichtig, vgl. oben Fn. 12 a. E.); Kipp-Coing (oben Fn. 6) 506 zu Fn. 7 (§ 116 I V vor 1); von Lübtow (oben Fn. 9) 829 (5. Hauptteil, 4. K a p . § 6 C I I : nicht folgerichtig, vgl. oben Fn. 12). 15 D a z u Lindemann, Erben nach Gegenständen, D R 1944, 646 f. und D N o t Z 1951, 215 f.

Nemo minus iuris transferre potest, quam ipse habet

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Dem ist indessen nicht so. Vielmehr wirkt nach fast einhelliger Meinung jedes Teilungsverbot nur verpflichtend: die Erben können sich, wenn sie einig sind, über das Verbot hinwegsetzen16. Sie sind also nur durch Pietät gebunden17 und, wer pietätlos ist, könnte den Erben zurufen: „Schlagt sie (die Teilungsverbote) tot, das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht!" Nur ganz wenige lassen Teilungsverbote, wenn sie dinglich gemeint sind, auch dinglich wirken, gleich, ob der ganze Nachlaß, einzelne Gegenstände oder Gruppen von solchen nach dem Willen des Erblassers zusammenbleiben sollen18. Was den Freiheitsspielraum angeht (oben 1 c), wirkt also das (häufige) strenge Teilungsverbot nicht schärfer als das (seltene) milde: Einschränkung der Verfügungsmacht, die dem Erblasserwillen am besten entspräche, bleibt aus. Auch der mit einem Teilungsverbot belastete Alleintrhe ist nicht gehindert, den Nachlaß zu zerstreuen. Aber, wenngleich verbotswidrige Verfügungen gültig sind, kann mittelbarer Druck den oder die Erben von Verfügungen abschrecken. b) Mittelbarer

Zwang

aa) Einfluß Dritter. Beim milden Teilungsverbot (Vermächtnis) hat jeder Miterbe gegen die anderen einen Anspruch, die Teilung zu unterlassen. Mindestens haben die anderen keinen Anspruch gegen ihn auf Teilung (§§ 2042 I, 2044 I) 19 . Er macht einfach nicht mit und

16 Motive (oben Fn. 5) 688 f. (nur obligatorische Wirkung; höchstens Pflicht zur Vereinbarung dinglichen Teilungsaussdilusses, soweit sachenrechtlich zulässig); KG KGJ 42 A 113 (116—118: sehr gründlich [diese Entscheidung ist gekürzt abgedruckt OLGE 40, 112, Leitsätze Recht 1919 Nr. 1524]); BGHZ 40, 115 (118); Strohal (oben Fn. 9) 108 f.; Ebbecke in Planck (oben Fn. 6) 324 (§ 2044 Bern. 3); Lehmann in Staudinger (oben Fn. 9) 644 (§ 2044 Bern. 3); Lange (oben Fn. 9) 581 ( § 4 6 II 3 a); Kipp-Coing (oben Fn. 6) 508 ( § 1 1 6 IV 3 c); von Lübtow (oben Fn. 9) 830 (5. Hauptteil, 4. Kap. § 6 C II); Bartholomeyczik in Erman (oben Fn. 9) 1502 f. (§ 2044 Bern. 2, 4, 6); Brox, Erbrecht, 3. Aufl. 1974, 272 (§31 II 2 b); Wolf in Soergel-Siebert (oben Fn. 9) 230 ( § 2 0 4 4 Bern. 4); Kregel in RGRK (oben Fn. 9) 376 ( § 2 0 4 4 Bern. 1, 3); Keidel in Palandt (oben Fn. 9) 1674 (§ 2044 Bern. 1 a); Bartholomeyczik-Schliiter, Erbrecht 10. Aufl. 1975, 263 (§ 39 II 2). 17 Dagegen nimmt Binder (oben Fn. 12) 250 „eine Rechtspflicht, keine bloße Pietätspflicht" an (unten Fn. 18). 18 Binder (oben Fn. 12) 246—252 (der Auseinandersetzungsvertrag soll nichtig sein); Dernburg, Das bürgerliche Recht des Deutschen Reiches und Preußens I, 3. Aufl. 1906, 418 (§ 124 III 3) und V, 2. Aufl. 1905, 507 (§ 178 VII), ähnlich seiner Auffassung zum preußischen Recht: Lehrbuch des Preussischen Privatrechts III, 4. Aufl. 1896, 723 Fn. 8 (S. 245, 2), in dem die Frage schon streitig war (KG KGJ 52 A 113 [116 mit Nachweisen]). 19 Oben S. 929.

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Gerhard Kegel

kann nicht dazu gezwungen werden. Der Wunsch des Erblassers, den Nachlaß zusammenzuhalten, erfüllt sich daher dann, aber auch nur dann, wenn die Miterben uneins sind: divide et impera. Beim strengen Teilungsverbot an Miterben und beim Teilungsverbot an den Alleinerben, die beide Auflage sind 20 , ist der Kreis derer, die Fortbestand des Nachlasses verlangen können, ein anderer als beim Vermächtnis. Denn nach § 2094 B G B können Vollziehung der Auflage verlangen: der Erbe, jeder Miterbe und der, dem der Wegfall des Beschwerten unmittelbar zustatten käme; schließlich die „zuständige Behörde", wenn die Vollziehung der Auflage im öffentlichen Interesse liegt wie etwa bei Kunstsammlungen. Zweifelhaft ist, ob ein Erbe oder Miterbe, der selbst durch eine Auflage begünstigt ist, ihre Vollziehung verlangen kann. Wenn ja, wirkte die Auflage stärker als das Vermächtnis, weil noch andere nach § 2094 B G B auf Erfüllung bestehen können. Deswegen wird einem Auflagebegünstigten trotz § 2094 der Anspruch auf Vollziehung der Auflage versagt 21 . In der T a t schließen Auflage und Vermächtnis einander aus. N u r wird man in solchen Grenzfällen doppelt sorgfältig prüfen müssen, ob der Erblasser Auflage oder Vermächtnis gewollt hat. Beim Teilungsverbot wird indes die Frage nicht praktisch: für den Alleinerben nicht, weil er nichts von sich selbst verlangen kann; für den Miterben nicht, weil er nichts zu verlangen braucht, sondern die Teilung verweigern kann. Daher können nur die übrigen in § 2094 Genannten dem Willen des Erblassers nachhelfen. Aber sie werden sich selten aufraffen. Denn ihr Eigeninteresse ist gering und sie könnten sich dem Verdacht aussetzen, bloß „nuisance value" zu erstreben. Audi hier bestätigt sich, daß der Erblasser mit einem Teilungsverbot nur dann etwas erreicht, wenn er freiwillige Gefolgschaft findet, sei es vom Alleinerben, sei es von einem Miterben, sei es nach § 2094 von Ersatzmännern oder Behörden. Es muß sich also ein Uberlebender den Wunsch des Verstorbenen zu eigen machen, und je mehr Personen hier in Frage kommen, um so größer ist die Chance: teile so viel wie möglich und herrsdie!

Oben S. 930. Johannsen in RGRK (Das Bürgerliche Gesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes) V 2, 12. Aufl. 1975, 103 ( § 2 1 9 4 Bern. 4 mit Hinweis auf die unveröffentlichte Entscheidung des B G H IV Z R 220/51 vom 8. 5. 1952 [dort S. 8 — 1 0 ] ) ; Dieckmann in Soergel-Siebert, Bürgerliches Gesetzbuch VI, 10. Aufl. 1974, 439 (§ 2194 Bern. 7). A. M. Kregel in RGRK (oben Fn. 9) 376 a. E. (§ 2044 Bern. 3). 20

21

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bb) Sanktionen des Erblassers. Außer durch Einschaltung mehrerer Personen kann der Erblasser dadurch Druck ausüben, daß er an die verbotswidrige Teilung Sanktionen knüpft. Das stärkste Druckmittel ist die Bedingung: „Wer teilt, fliegt." Da es den heres ex re certa im BGB nicht gibt, kann die conditio dinglich nur den Verlust des ganzen Erbrechts (oder eines Bruchteils des Erbrechts) bewirken, also Nacherbfolge herbeiführen. Dies Geschütz kann zu schwer sein, wenn das Teilungsverbot nur Einzelgegenstände oder Gruppen von solchen betrifft 22 . Aber, auch wenn der ganze Nachlaß ungeteilt bleiben soll, macht die Enterbung wenig Sinn. Denn der oder die bisherigen Erben, denen das Teilungsverbot in der Regel zugute kommen soll, verlieren den Nachlaß. Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet. Nur, soweit die nächsten aus der „Familie" Nacherben werden, wird der „patriarchalische" Wille des Erblassers noch Wirklichkeit. Audi dies ist ein Fall von „divide et impera". Nur ist die Gewalt nicht verteilt auf mehrere gleichzeitig (Miterben und Personen, die nach § 2094 Vollziehung einer Auflage verlangen können), sondern nacheinander (Vor- und Nacherbe). Daß bei Einigkeit von Vor- und Nacherben das Teilungsverbot des Erblassers überspielt werden kann, ergibt Analogie zur Einigkeit der Miterben 23 . Eine andere Frage ist, ob und wieweit der Vormann aus § 137 Satz 1 BGB Einwendungen gegen die Nacherbfolge erheben kann 24 . Aber, wenn und soweit er es kann, wird nur um so mehr vom Erblasserwillen abgewichen. Schließlich kann der Erblasser sanftere Druckmittel wählen, z. B. Vermächtnisse aussetzen oder Auflagen anordnen für den Fall, daß geteilt wird. Man kann das einer Vertragsstrafe vergleichen. Dazu hat schon unter der Herrschaft des sächsischen BGB das O A G Dresden entschieden, wenn sich ein Pächter unter Vertragsstrafe verpflichtet habe, im letzten Pachtjahr kein Inventar mehr zu veräußern (weil der Verpächter es kaufen wollte), dann werde nicht die Verfügungsmacht des Pächters aufgehoben, sondern das rechtliche Interesse des Ver2 2 Dazu Schott, Über Veräußerungsverbote und Resolutivbedingungen, Festgabe für Felix Dahn III, 1905, 305—341 (333—341). 2 3 Oben S. 931 zu Fn. 16. 24 Ob § 137 Satz 1 BGB durdi Vereinbarung einer auflösenden Bedingung des Erwerbs für den Fall der Weiterverfügung „umgangen" werden kann, ist streitig. Dafür z. B. Hefermehl in Soergel-Siebert, Bürgerliches Gesetzbuch I, 10. Aufl. 1967, 572 (§ 137 Bern. 10). Dagegen z . B . Schott (oben Fn. 22) 324—333; Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts II, 2. Aufl. 1975, 363 (5 17, 7). Nach Liebs, Die unbeschränkbare Verfügungsbefugnis, AcP 175 (1975), 1—43 (35 a. E. f.) bedeutet die Frage praktisch wenig.

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pächters an der Befolgung des Veräußerungsverbots habe im Anspruch auf die Vertragsstrafe „aufgehen" sollen 25 .

II. Testamentsvollstreckung An Teilungsverbote, die der Erblasser den Miterben auferlegt hat, ist auch der Testamentsvollstrecker gebunden 26 . Der Erblasser kann auch dem Testamentsvollstrecker selbst die Teilung verbieten 2 7 . Implicite tut er das, wenn er die sog. Verwaltungsvollstreckung nach § 2 2 0 9 B G B anordnet 2 8 . Während das Teilungsverbot nach § 2044 I 1 B G B nur Miterben trifft, kann die Testamentsvollstreckung auch den Alleinerben an der Auflösung des Nachlasses hindern. Wie das Teilungsverbot kann die Testamentsvollstreckung gegenständlich den ganzen Nachlaß, einzelne Nachlaßstücke oder Gruppen von solchen erfassen (§ 2008 I) und wie das Teilungsverbot dauert die Testamentsvollstreckung grundsätzlich nicht länger als ein Menschenalter (§ 2210). Es gibt auch Unterschiede im Freiheitsspielraum. Sie betreffen hier das Ende der Testamentsvollstreckung. So kann die Testamentsvollstreckung vom Erblasser zeitlich unbegrenzt gewollt sein (das entspricht dem strengen Erbteilungsverbot) oder die Dauer der Testamentsvollstreckung kann dem Ermessen des Testamentsvollstreckers überlassen sein (ein Gegenstück zum milden Teilungsverbot). Wirken kann die Anordnung der Testamentsvollstreckung nicht stärker als das Teilungsverbot: zwar hält man den Testamentsvollstrecker für verpflichtet, nicht zu teilen 2 9 ; aber, wenn der oder die Erben und der Testamentsvollstrecker einig sind, können sie den Nachlaß in alle Winde verstreuen 30 . 25 Wengler und Brachmann, Das Bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen I, 1878, 102 mit Nachweisen (§ 223 Bern. 5). Vgl. unten Fn. 50. 2 8 B G H Z 40, 115 (118); Ebbecke in Planck (oben Fn. 6) 325 (§ 2044 B e m . 3 a . E ) ; Lange (oben Fn. 9) 581 Fn. 12 ( § 4 6 II 3 a); Bartholomeyczik in Erman (oben Fn. 9) 1503 (§ 2044 Bern. 7). 2 7 B G H Z 56, 275 (278). 2 8 Z . B . B G H Z 57, 84 (87); Müller in Soergel-Siebert, Bürgerliches Gesetzbuch VI, 10. Aufl. 1974, 4 9 7 (§ 2 2 0 9 Bern. 1). 2 9 Z . B . Ebbecke in Planck (oben Fn. 6) 325 ( § 2 0 4 4 Bern. 3 ) ; Kregel in RGRK (oben Fn. 9) 376 f. (§ 2044 Bern. 1, 3). 3 0 K G K G J 52 A 113 (116: wegen § 137 Satz 1 B G B ) ; L G Bremen Rpfleger 1967, 411 (wegen § 137 Satz 1 BGB) mit zust. Anm. Haegele; B G H Z 56, 275 ( 2 7 8 — 2 8 3 : wegen § 137 Satz 1 B G B ; auf S. 2 8 2 offen lassend, ob zur Gültigkeit der Verfügung des Testamentsvollstreckers auch zu fordern ist, daß keine Interessen von Nadilaßgläubigern beeinträchtigt werden); Fiad in Planck (oben Fn. 6) 643

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Die Frage ist hauptsächlich erörtert für den Sonderfall pinentgeltlicher Verfügungen des Testamentsvollstreckers. Die verbietet ihm § 2205 Satz 3 BGB, außer wenn sittliche Pflicht oder Anstandsrücksicht sie fordern. Hier beengt den Testamentsvollstrecker nicht (oder nicht allein) der Wille des Erblassers, den Nachlaß zusammenzuhalten, sondern (allein oder auch) der Wille des Gesetzgebers. M. E. kann der Testamentsvollstrecker unentgeltlich verfügen, wenn der oder die Erben zustimmen31. Der BGH verlangt außerdem, daß die Vermächtnisnehmer zustimmen32. Grund des B G H : der Testamentsvollstrecker sei auch dem Vermächtnisnehmer nach § 2216 I BGB verpflichtet, den Nachlaß ordnungsmäßig zu verwalten, und hafte ihm bei Verschulden nach § 2219 I auf Schadenersatz33. Aber der Vermächtnisnehmer ist nicht Eigentümer, er ist kein heres ex re certa. Warum sollte er zustimmen müssen, daß der Testamentsvollstrecker die Nachlaß-£«ie verschenkt, wenn ihm die Nachlaß-Gans vermacht ist? Und, selbst wenn der Testamentsvollstrecker die Nachlaß-Gans verschenkt, warum sollte der, dem die Gans vermacht ist, besser stehen als der, dem sie der Erblasser (oder gar der Testamentsvollstrecker selbst) verkauft hat? Außerdem paßt nicht, daß nach Ansicht des BGH die Genehmigung der Erben (jedenfalls, wenn Vermächtnisnehmer fehlen) ausreicht, eine dem § 2205 Satz 3 widersprechende Verfügung des Testamentsvollstreckers wirksam zu machen34, während dem Testamentsvollstrecker die sonst nach § 2 2 1 7 I mögliche Freigabe an den Erben, der dann selbständig verfügen kann 35 , als Gesetzesumgehung verboten sein soll 36 . (§ 2205 Bern. 7 c : Verweisung auf K G K G J 52 A 113); Mattern B W N o t Z 1961, 153; Lange (oben Fn. 9) 581 zu Fn. 11 ( § 4 6 II 3 a: wegen § 1 3 7 BGB); Brox (oben Fn. 16) 217 (§ 26 V 1 a: Verweisung auf B G H Z 56, 275) und 2 7 2 ( § 3 1 II 2 b: wegen § 1 3 7 B G B ) ; Kregel in RGRK (oben Fn. 9) 376 f. ( § 2 0 4 4 Bern. 1, 3) und ebenda V 2, 12. Aufl. 1975, 24 (§ 2205 Bern. 2 ) ; Keidel in Palandt (oben Fn. 9) 1674 (§ 2044 Bern. 1 a: wegen § 137 Satz 1 B G B ) ; Liebs (oben Fn. 24) 41 (wegen § 137 Satz 1 BGB). A . M . Binder (oben Fn. 12) 250 f. im Einklang mit seiner Meinung (oben Fn. 18), der Auseinandersetzungsvertrag zwischen Miterben entgegen dem Teilungsverbot sei nichtig); Dernburg (oben Fn. 18) I 418 (§ 124 III 3) und V 507 (§ 178 V I I ) ; Dittmann in / . v. Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch V 2, lO./ll.Aufl. 1960, 1047 ( § 2 2 0 4 Bern. 2 sub b), 1066 (§ 2205 Bern. 49 a. E.), 1079 (§ 2208 Bern. 12). 31 Bettermann J M B 1 N R W 1949, 65; Mattern B W N o t Z 1961, 1 5 1 — 1 5 3 ; Herne in Erman, Handkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch II, 5. Aufl. 1972, 1634 (§ 2205 Bern. 18: allerdings mit Umweg über Freigabe nach § 2 2 1 7 BGB und vielleicht nur dem B G H [oben Text anschließend] folgend). Vgl. auch Liebs (oben Fn. 24) 41. 32 B G H Z 57, 84 (91—95). Ebenso Brox (oben Fn. 16) 219 ( § 2 6 V 3 b); Müller in Soergel-Siebert (oben Fn. 28) 491 ( § 2 2 0 5 Bern. 7 1 ) ; Kregel in RGRK V 2 (oben Fn. 30) 24 und 30 f. (§ 2205 Bern. 2 und 2 1 ) ; Keidel in Palandt (oben Fn. 9) 1776 (§ 2205 Bern. 3 vor a). 3 3 B G H Z 57, 84 (94). 3 4 B G H N J W 1963, 1613 (1615 sub b). 3 5 B G H Z 56, 275 (284 f.). 3 6 B G H Z 57, 84 (89). Vgl. Haegele Rpfleger 1972, 46.

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A n d e r e w o l l e n eine unentgeltliche V e r f ü g u n g des Testamentsvollstreckers, die durch sittliche Pflicht oder Anstandsrücksicht nicht gedeckt ist, erlauben, w e n n kein Widerspruch zum Erblasserwillen erkennbar ist, die Erben zustimmen und die Interessen v o n Dritten, insbesondere v o n Vermächtnisnehmern und Nachlaßgläubigern, nicht beeinträchtigt werden 3 7 . Z u m Teil w i r d die unentgeltliche V e r f ü g u n g des Testamentsvollstreckers immer verboten, weil der W i l l e des Erblassers vorgehe 3 8 .

Auch für den Erblasser, der den Nachlaß durch Verwaltungstestamentsvollstreckung zusammenhalten will, gilt also: divide et impera. Nur durch Gewaltenteilung kommt er ans Ziel und muß sich außerdem auf den Testamentsvollstrecker als Person verlassen, da er rechtlich nichts ausrichten kann. Nicht umsonst wird daher betont, es komme entscheidend auf die Persönlichkeit des Testamentsvollstreckers an 39 , er müsse „des Adels der Verantwortung würdig" sein40. Warum wird der Erblasser vom Recht so im Stich gelassen? War nicht sein Wille suprema lex 41 ?

37 LG Bremen Rpfleger 1967, 411 (in demselben Fall w i e B G H Z 57, 84 [oben Fn. 3 2 ] ) mit zust. Anm. Haegele; Flad DFG 1936, 135; Dittmann in Staudinger (oben Fn. 30) 1062 a. E. f. (§ 2205 Bern. 37); von Lübtow (oben Fn. 9) 950 (5. Hauptteil, 6. K a p . § 2 D II b a bb); Haegele oft, zuletzt wohl Rpfleger 1972, 44 (billigt aber dort und auf S. 47 B G H Z 57, 84). Nach einigen genügt zur Gültigkeit der unentgeltlichen Verfügung, daß im gegebenen Fall der Wille des Erblassers nicht verletzt ist: Flad in Planck (oben Fn. 6) 645 (§ 22:05 Bern. 12: nidit eindeutig für den Fall, d a ß Nachlaßbereditigte oder -gläubiger geschädigt werden könnten); Lange (oben Fn. 9) 307 ( § 2 9 VI 2 b). Dahingestellt, ob Erbenzustimmung genügt oder außerdem Einklang mit Erblasserwillen und Wahrung von Drittinteressen nötig sind: R G D R 1939, 1949 (1950 sub 2). 3 8 R G Z 74, 215 (218 f.); RGZ 105, 246 (249 a . E . f.); OLG Düsseldorf N J W 1963, 162; OLG Düsseldorf J M B 1 N R W 1966, 272 (Widerspruch zum Erblasserwillen und fehlende Verfügungsmacht des Testamentsvollstreckers und der Erben). Zum selben Ergebnis kommen mit anderer Begründung: KG K G J 33 A 164 (172 f . : weil weder Testamentsvollstrecker noch Erbe Verfügungsmacht hätten und wegen Interesses der Nachlaßgläubiger, insbesondere der Vermächtnisnehmer); KG H R R 1933 N r . 19 (Verweisung auf KG K G J 33 A 164 und R G Z 74, 215); LG Köln J M B 1 N R W 1949, 26 (weil Testamentsvollstrecker und Erben Nichtberechtigte seien) mit abl. Anm. Bettermann 65; Kipp-Coing (oben Fn. 6) 306 ( § 4 8 IV 2 c: Erbe könne nicht verfügen und daher auch nicht zustimmen); Bartholomeyczik-Schlüter (oben Fn. 16) 304 ( § 4 2 V 4 : ebenso [nicht k l a r genug in Erman (oben Fn. 9) 1502 (§ 2044 Bern. 2 ) ] ) . 39 Haegele (oben Fn. 37) 47 unter III 4 a. E. 40 Kohler N J W 1957, 1174. 41 Oben S. 927,

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III. Grund der Gültigkeit von Verfügungen 1. § 137 BGB Als Grund für die schwache Wirkung v o n Teilungsverboten wird allgemein § 137 Satz 1 BGB genannt: „Die Befugnis zur Verfügung über ein veräußerliches Recht kann nicht durch Rechtsgeschäft ausgeschlossen oder beschränkt werden." Das gelte auch für den Erblasser 42 . § 137 Satz 1 habe damit „im Erbrecht eine überragende Bedeutung erlangt" 43 . Indessen ist zweifelhaft, ob § 137 Satz 1 gerade mit Erbteilungsverboten etwas zu tun hat. Z w a r trägt die Vorschrift, wie schon bemerkt 44 , dazu bei, eine zeitliche Beschränkung der Rechtsgeschäfte unter Lebenden minder dringlich zu machen. Aber ein Zusammenhang mit dem Erbteilungsverbot steht schon geschichtlich im Zwielicht. Das Erbteilungsverbot war im preußischen, gemeinen und sächsischen Recht zugelassen 45 . Verfügungsbeschränkungen waren im preußischen Recht erlaubt 46 , aber nicht im gemeinen Recht 47 und grundsätzlich nicht im sächsischen Recht 48 . Gleichwohl war im preußischen Recht streitig, ob Erbteilungsverbote dinglich wirkten 4 9 , und im sächsischen Recht wurde gerade für letztwillige Veräußerungsverbote zugunsten Dritter die dingliche Wirkung angeordnet 5 0 . D i e Erste 42 Nachweise oben Fn. 30. Ferner z . B . B G H Z 40, 115 (117 f.); B G H Z 57, 84 (87); Strohal (oben Fn. 9) 108; Lehmann in Staudinger (oben Fn. 9) 644 (§ 2044 Bern. 3); Kipp-Coing (oben Fn. 6) 508 ( § 1 1 6 I V 3 c); Bartholomeyczik-Schlüter (oben Fn. 16); von Lübtow (oben Fn. 9) 830 (5. Hauptteil, 4. Kap. § 6 C I I ) ; Wolf in Soergel-Siebert (oben Fn. 9) 230 (§ 2044 Bern. 4). 43 44 Haegele (oben Fn. 37) 47 unter I I I 4. Oben S. 928. 45 46 Oben S. 927. ALR I 4 §§ 15—19 (mit I 2 §§ 1—3). 47 Z. B. Dernburg (oben Fn. 2) I 504 (§ 217, 3). 48 49 § 223 Satz 2 BGB, abgedruckt unten Fn. 50. Oben Fn. 18. 50 § 223: „Veräußerungen gegen ein gesetzliches, gegen ein nach Maßgabe der Gesetze v o m Gerichte unter Androhung der Nichtigkeit erlassenes, gegen ein in einem letzten Willen zu Gunsten eines Dritten vom Eigenthümer angeordnetes, oder gegen ein in einem Vertrage mit der Wirkung einer auflösenden Bedingung festgesetztes Verbot sind nichtig, ausgenommen wenn die Veräußerung in Folge des Rechtes eines Anderen geschehen mußte. In anderen Fällen eines Veräußerungsverbotes besteht die demselben zuwiderlaufende Veräußerung, vorbehältlidi der Verbindlichkeit des Zuwiderhandelnden, den Betheiligten zu entschädigen." — § 794: „Verträge, welche auf Veräußerung von Sachen gerichtet sind, die einem gesetzlichen oder nach Maßgabe der Gesetze vom Gerichte unter Androhung der Nichtigkeit erlassenen, oder durch einen letzten Willen zu Gunsten eines Dritten angeordneten, oder in einem Vertrage mit der Wirkung einer auflösenden Bedingung festgesetzten Veräußerungsverbote unterliegen, sind nichtig." Zur Entstehungsgeschichte und Auslegung des § 223 Satz 1 im Hinblick auf vertragliche Veräußerungsverbote (Rechtsgeschäft unter Lebenden) mit der Wirkung einer a u f lösenden Bedingung Schott (oben Fn. 22) 314—317.

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Kommission nahm (den jetzigen) § 137 Satz 1 BGB nur auf, um klarzustellen, daß entgegen dem preußischen Recht Verfügungsbeschränkungen unzulässig seien51. Soweit nicht schlicht gemeinrechtliche Tradition beharrend fortwirkte 52 , dürfte § 137 Satz 1 zu verstehen sein als ein für das Bürgertum siegreiches Gefecht in dem großen Kampf mit dem Adel um das richtige Privatrecht: hier die Erhaltung führender „Familien" mit ausgeprägter Lebensform durch Herausstellung Einzelner bei der Erbfolge und durch Unveräußerlichkeit des Gutes (Fideikommiß); dort gleiches Erbrecht der Kinder und frei verfügbares, wirtschaftlichen Unternehmungen dienendes, aber auch haftendes Vermögen53. Die Freisetzung (genauer: die Freierhaltung) des Vermögens durch das Verbot von res extra commercium (§137 Satz 1) bildet den Kern. Folgen sind die Unterwerfung des Vermögens unter Zwangsvollstreckung und Konkurs sowie Klarheit und Übersichtlichkeit der Rechtslage für Erwerber und Geldgeber54. Man mag auch Freiheit und (wegen der Erbfolge) Gleichheit nennen. Aber zu weit greift wohl, wer hier Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit bemüht 55 . Indes § 137 Satz 1 betrifft nur Einzelgegenstände. Auf Vermögen kann er nur mittelbar wirken. Erbteilungsverbote dagegen können außer Einzelgegenständen und Gruppen von solchen den ganzen Nachlaß ergreifen 56 . Nur soweit sie auf Einzelgegenstände oder Gruppen von solchen abzielen, könnte § 137 Satz 1 sie außer Kraft setzen. Man könnte sagen: was einer durch Rechtsgeschäft unter Lebenden nicht kann, kann er auch nicht durch Testament oder Erbvertrag. Aber man kommt gar nicht erst zu § 137: die Würfel fallen schon vorher. 2.

Universalsukzession

Wir haben den Grundsatz der Universalsukzession. Es gibt keinen heres ex re certa 57 und es gibt auch kein dingliches Vermächtnis (Vindikationslegat), wie § 2174 BGB zeigt. Das heißt nicht bloß: ich kann dinglich keine Einzelstücke aus dem Nachlaß erwerben. Es 51 Liebs (oben Fn. 24) 15 f. Zur Entstehungsgeschichte auch Schott (oben Fn. 22) 309—314. 52 Liebs (oben Fn. 24) 16 zu Fn. 75. 53 Vgl. Kegel, Zum Pflichtteil vom Großgrundbesitz, Festschrift Cohn, 1975, 85—134 (90 f.). 54 Vgl. Liebs (oben Fn. 24) 15—25, 33—40. 55 So aber Baur JZ 1961, 335, zitiert von Liebs (oben Fn. 24) 10. 56 Oben S. 297. 57 Oben S. 930 zu Fn. 15.

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heißt vielmehr auch: der Erblasser kann Einzelstücke nicht dinglich geben oder sonstige dinglichen Verfügungen treffen. Der Erblasser kann nur verpflichten (durch Vermächtnis, Auflage, Weisungen an den Testamentsvollstrecker). Für § 137 Satz 1 gibt es daher gar keinen Ansatzpunkt, soweit sich das Erbteilungsverbot auf Einzelgegenstände oder Gruppen von solchen erstreckt. Auch, soweit der Erblasser den ganzen Nachlaß zu teilen verboten hat, ist § 137 Satz 1 nicht etwa deswegen im Spiel, weil der Nachlaß die Summe aller Einzelgegenstände ist. Denn das Verbot, den ganzen Nachlaß zu teilen, macht die einzelnen Nachlaßgegenstände nicht unverfügbar, stellt sie nicht extra commercium. Vielmehr gilt nach § 2041 B G B Surrogation: wird entgeltlich weggegeben, dann tritt das Entgelt in den Nachlaß. Zwar ist Surrogation eher die Ausnahme als die Regel. Dennoch: dinglich ist die Verfügungsmacht nicht eingeschränkt und nur obligatorische Einschränkung macht die gleichwohl vorgenommene Verfügung nicht nichtig (§ 137 Satz 2). Ohnehin versteht sich, daß die zur Erfüllung von Nachlaßverbindlichkeiten nötigen Verfügungen auch nach dem Willen des Erblassers zulässig sein sollen 58 , und, daß vollstreckende Gläubiger und die Konkursmasse von Erbteilungsverboten nicht berührt werden, ist ausdrücklich gesagt (§ 2044 I 2 mit § 751 Satz 2 B G B ; § 16 I I 2 K O ) .

3. Verfügung von Todes wegen Allein, auch die Universalsukzession ist noch nicht der letzte Grund für die dingliche Unwirksamkeit von Erbteilungsverboten. Denn, selbst wenn wir den heres ex re certa und das Vindikationslegat hätten, könnte der Erblasser immer noch keine dinglich wirkenden Erbteilungsverbote erlassen. D e r Grund für diese Kraftlosigkeit liegt im Unterschied zwischen

Rechtsgeschäften

unter Lebenden

und Verfügungen von Todes

wegen,

jedenfalls wenn man den Vergleich auf vermögensre