Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit: Pommern vor, während und nach der napoleonischen Besetzung [1 ed.] 9783412521332, 9783412521318

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Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit: Pommern vor, während und nach der napoleonischen Besetzung [1 ed.]
 9783412521332, 9783412521318

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Dirk Alvermann/Irmfried Garbe (Hg.)

Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit Pommern vor, während und nach der napoleonischen Besetzung

forschungen zur pommerschen geschichte

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VERÖFFENTLICHUNGEN DER HISTORISCHEN KOMMISSION FÜR POMMERN Für die Historische Kommission für Pommern herausgegeben von Gerd Albrecht, Felix Biermann, Nils Jörn, Michael Lissok und Haik Thomas Porada RE I HE V: FO R SCH U N GE N Z U R P OMME RSCHE N GE SCHI CHTE Ba n d 5 5

ERNST MORITZ ARNDT IN SEINER ZEIT POMMERN VOR, WÄHREND UND NACH DER NAPOLEONISCHEN BESETZUNG

Herausgegeben von DIRK ALVERMANN und IRMFRIED GARBE

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Die gemeinsam mit dem Pommerschen Landesmuseum in Greifswald ausgerichtete Tagung wurde aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert. Wir danken der Sparkasse Vorpommern für ihre Unterstützung. Die Arbeit der Historischen Kommission für Pommern wird gefördert durch das Land Mecklenburg-Vorpommern und das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg an der Lahn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Gemälde von Richard Knötel: Vor dem Rathaus auf dem Ringe zu Reichenbach am Tage des Bekanntwerdens der österreichischen Kriegserklärung an Napoleon vom 12. 8. 1813 (Max von Schenkendorf, Theodor Körner, Ernst Moritz Arndt, Heinrich Theodor von Schön, Freiherr vom und zum Stein, Freiherr Karl Aug. von Hardenberg, Wilhelm von Humboldt). Aus: Die deutschen Befreiungskriege: Deutschlands Geschichte von 1806 –1815, hg. von Paul Kittel, Berlin [1902] Korrektorat: Anja Borkam, Jena Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz und Layout: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52133-2

Inhalt Geleitwort  . . ...............................................................................................................  9 Grußwort  . . ................................................................................................................  13 Napoleon – Arndt – Geist der Zeit  ..........................................................................  15 Fritz Petrick Rügen 1769 Schwedisch-Pommern im Jahr der Geburt Ernst Moritz Arndts  . . ............................  19 Indravati Félicité Diplomatie und Propaganda Frankreich, Schweden und Norddeutschland in den Napoleonischen Kriegen  .......  29 Ralph Tuchtenhagen „Ruhe des Nordens“ und „bewaffnete Neutralität“ Die Napoleonischen Kriege im Ostseeraum und Pommern aus russischer Perspektive  .. ........................................................................................  43 Anke Wiebensohn Zwischen Schweden, Frankreich und Preußen Zur Lage Vorpommerns an der Wende zum 19. Jahrhundert  ...................................  63 Nils Jörn Das Königreich Schweden und seine deutschen Provinzen angesichts der napoleonischen Gefahr in der Darstellung des Wismarer Superintendenten Joachim Heinrich Eyller  ...........................................................................................  79 Felix Biermann und Gunnar Möller Stralsund, Kolberg, Stettin Pommerns Festungen zur Zeit der Napoleonischen Kriege  ......................................  89 Heinz Duchhardt Arndts „Bestseller“ Die Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn vom Stein ­ zwischen Hommage und politischer Standortbestimmung  ......................................  125 Hans-Georg Knothe Die Beiträge Ernst Moritz Arndts in der Diskussion über eine zu schaffende Verfassungsordnung für Deutschland  .......................................................................  141

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Inhalt

Dirk Alvermann Arndt, die Deutschen und die Anderen  .. ..................................................................  169 Gunnar Müller-Waldeck Vom Durst nach Franzosenblut Beobachtungen um Arndts Hassgesänge und ihr historisches Schicksal  ..................  181 Irmfried Garbe Ernst Moritz Arndt als Protestant Erscheinung und Rezeption  .. ....................................................................................  195 Die Autoren ­dieses Bandes  .......................................................................................  251 Namensregister  .........................................................................................................  253

Arndt-Büste in der Installation des Pommerschen Landesmuseums „Mit den Patrioten zur vereinten Provinz 1806 –1815“ neben den Büsten von Blücher und Gneisenau, moderner Gipsabguss der Büste von Bernhard Afinger (1854), Foto: I. Garbe

Geleitwort „Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit. Pommern vor, während und nach der napoleonischen Besetzung“ lautete das Rahmenthema für die Jahrestagung der Historischen Kommission für Pommern, die sie in Kooperation mit dem Pommerschen Landesmuseum in Greifswald vom 19. bis 21. September 2019 veranstaltete. Aus Anlass des 250. Jahrestages der Geburt Ernst Moritz Arndts auf der Insel Rügen am 26. Dezember 1769 sollten die Einflüsse analy­siert werden, denen Arndt und seine Zeitgenossen ausgesetzt gewesen waren. Dabei wurde der grundlegende gesellschaftliche und politische Wandel, der sich in der Zeit der Napoleonischen Kriege in ganz Europa vollzogen hatte, aus verschiedenen Perspektiven ausgeleuchtet. Die politischen und militärischen Auseinandersetzungen, die Schweden, zu dessen politischem Herrschaftsbereich das nördliche Vorpommern bis 1815 gehörte, und Preußen, zu dessen Kernlanden Hinterpommern und Altvorpommern zählten, mit dem expandierenden französischen Kaisertum ­zwischen 1806/1807 und 1815 führten, prägten weit über das 19. Jahrhundert hinaus das Bild von Freund und Feind in den Dörfern und Städten entlang der südlichen Ostseeküste. Die Impulse für die Entstehung des deutschen Nationalstaats, die u. a. mit der Romantik auch von Pommern ausgingen, sind ohne die Berücksichtigung der krisenhaften Zustände jener Jahrzehnte nicht zu verstehen. Diese Rahmenbedingungen prägten auch das Werk Ernst Moritz Arndts. Seine Auffassungen von Staat, Nation, Individuum, politischer Teilhabe der Bürger und individueller Freiheit speisten sich aus fundamentalen Ideen der Aufklärung des 18. und der frühen Romantik des 19. Jahrhunderts. Sie waren von z. T. so gegensätzlichen Denkern wie Rousseau, Herder, den Schlegels oder Fichte inspiriert. Daraus erwuchs die Kritik an der kulturellen und politischen Vorherrschaft Frankreichs in Europa, die sich im Gefolge der imperialen Politik Napoleons radikalisierte. Waren aus der Französischen Revolution die Forderung nach unteilbarer individueller und bürgerlicher Freiheit und das Konzept der Menschenrechte entstanden, so entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Idee von der nationalen Einheit in einer allgemein respektierten Mannigfaltigkeit, zu deren Konsolidierung und Erhaltung Arndt die Betonung kultureller und sprachlicher Besonderheiten forderte. Einige seiner Vorstellungen gehören restlos der Vergangenheit an, andere hatten ihre Zeit, manche sind aktuell, wie das kulturprägende Gedankengut von Romantik und Aufklärung überhaupt. Das schriftstellerische Gesamtwerk Arndts verdient unter manchen Gesichtspunkten eine kritische Würdigung, die bei dieser Tagung anhand von Kernthemen des Arndt’schen Werkes verfolgt und engagiert diskutiert wurden: Nation, Verfassung, Glaube und Kultur. Als die Historische Kommission für Pommern im Jahre 1911 auf Initiative des damaligen Oberpräsidenten der Provinz Pommern, Helmuth Freiherr von Maltzahn-Gültz, im Uhrenturm des Stettiner Schlosses gegründet wurde, lag die napoleonische Besetzung des preußischen und des schwedischen Pommerns noch nicht einmal ein Jahrhundert zurück. Es waren nicht zuletzt die Verluste an Archiv- und Kulturgut, die ­zwischen 1806 und 1813

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Geleitwort

eingetreten waren, die das Bewusstsein für den Wert beförderten, den eine Bewahrung und Erforschung der eigenen Geschichte darstellen. So gehört es seit nunmehr 109 Jahren zu den Aufgaben der Historischen Kommission für Pommern, staatliche Stellen in Fragen des Archivwesens, der Boden- und Baudenkmalpflege sowie der Landesgeschichte zu beraten, insbesondere aber auch Quelleneditionen und Forschungsergebnisse zu veröffentlichen.1 Gerade für die bei dieser Tagung interessierende Zeit stehen wir hinsichtlich der archi­ va­lischen Überlieferungen vor einem großen Dilemma: Der Bestand „Französisches Okkupationsarchiv“ im Stettiner Staatsarchiv, der die Zeit der napoleonischen Besetzung Pommerns ­zwischen 1806 und 1813 umfasste, wurde im Frühjahr 1945 beim Anrücken der Roten Armee auf Stettin bei Arnswalde in der Neumark vergraben – in der Annahme, ihn nach kurzer Zeit wieder bergen zu können. Erst um 1948 wurden polnische Behörden auf das Versteck aufmerksam. Als man den Bestand schließlich fand, war der große unterirdische Papierquader bis auf einen kleinen Kern verfault; und auch dieser Kern gehört mit einem Umfang von wenigen Dutzend Akten im polnischen Staatsarchiv Stettin heute zu den aufgrund seines Schimmelbefalls nicht benutzbaren Archivalien.2 Allerdings könnte hier der im Landesarchiv Greifswald lagernde Bestand der sogenannten Interimistischen Kriegs- und Domänenkammer für die Erforschung der napoleonischen Ära in Pommern bis zu einem gewissen Grade für Ergänzungen herangezogen werden, wenn ­dieses Archiv mit hinreichend Personal ausgestattet und die Bestände endlich angemessen gelagert würden. Auch das Stadtarchiv Stralsund bietet für die Geschichte SchwedischPommerns unter französischer Besetzung einen bisher noch nicht gehobenen Schatz an Quellen. Dieses Archiv ist nach jahrelanger Schließung im letzten Quartal 2019 endlich wieder für die Forschung zugänglich. Ein letztes Beispiel aus dem Bereich der für die Historische Kommission für Pommern so wesentlichen Quellenüberlieferung mag an dieser Stelle die Möglichkeiten illustrieren, die bei einer umfassenden Recherche – in ­diesem Fall in den ebenfalls seit Jahrzehnten stark vernachlässigten kirchlichen Archiven Vorpommerns – für ein besseres Verständnis der Zeit um 1800 bestehen: Im Spätsommer 2019 edierten zwei Mitglieder der Historischen Kommission, Felix Schönrock und Detlef Witt, das 1822 abgefasste Inventar der ­Kirchen der Synode Grimmen, die den Raum z­ wischen Greifswald, Stralsund und Tribsees abdeckte.3

1 Zur Motivation für die Entstehung d ­ ieses Gremiums der landesgeschichtlichen Forschung vgl. die einschlägigen Beiträge in: Die Historische Kommission für Pommern 1911 – 2011. Bilanz und Ausblick, hg. von Nils Jörn und Haik Thomas Porada (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte 47), Köln/Weimar 2018. 2 Haik Thomas Porada, Pommern, Skandinavien und das Baltikum. Sachthematisches Archivinventar zu den frühneuzeitlichen Beständen an Nordica, Baltica und Sueco-Pomeranica im Staatsarchiv Stettin (Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte an der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald 6), Schwerin 2005, S. 25 u. S. 33. 3 Detlef Witt und Felix Schönrock, Die Inventare der Pfarrkirchen der Grimmer Synode von 1822 und die Ausstattungen der K ­ irchen von Brandshagen, Reinberg und Gristow, in:

Geleitwort

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Dieses Inventar entstand im Auftrag des Preußischen Kultusministeriums in Berlin und schildert den Zustand der Dorf- und Stadtpfarrkirchen sieben Jahre nach dem Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen, als die Erinnerungen an die Zeit der Einquartierung napoleonischer Truppen im Land noch ganz frisch waren. Damit komme ich auf unsere Tagung zurück. An deren Beginn wurden die mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Liedern Arndts auf diese Zeit eingestimmt, und sie erfuhren anschließend in einem öffentlichen Abendvortrag präzise Details zum Leben auf Rügen und im festländischen Teil von Schwedisch-Pommern in der Zeit um 1769. Am Folgetag widmeten sich die Referentinnen und Referenten in zwei Sektionen in unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen dem Rahmenthema und sichteten zen­ trale Ideen Ernst Moritz Arndts. Zuerst ging es um eine europäische Perspektive, die im Falle Pommerns immer auch eine des Ostseeraums gewesen ist. Sodann wurde auf regionaler und lokaler Ebene die Situation in Pommern selbst beleuchtet. Arndts Vorstellungen und Initiativen in verfassungspolitischer, ethnologischer und religiöser Hinsicht kamen am Nachmittag zur Sprache, ehe in einem zweiten öffentlichen Abendvortrag in einem Vergleich der großen Festungsstädte an der südlichen Ostseeküste – nämlich Stralsund, Stettin und Kolberg – ein Blick auf die bauliche Dimension des Krieges zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie die daraus resultierenden archäologischen und kartographischen Hinterlassenschaften geworfen wurde. Am letzten Tag begaben sich gut 80 Tagungsgäste auf eine Exkursion auf den Spuren Ernst Moritz Arndts durch das Barther Land und die alte Hansestadt Stralsund. Die inhaltliche Vorbereitung der Tagung lag seitens der Historischen Kommission in den Händen von Dirk Alvermann, Irmfried Garbe, Nils Jörn, Felix Biermann, Gerd Albrecht und Gunnar Möller. Ein herzlicher Dank gilt auch dem Team des Pommerschen Landesmuseums, namentlich Gunter Dehnert und Julia Kruse, für den großartigen Einsatz bei der Planung und organisatorischen Begleitung dieser Veranstaltung. Für die finanzielle Unterstützung haben wir der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, und der Sparkasse Vorpommern, vertreten durch Jörg Berner, in besonderer Weise zu danken. Die Ergebnisse dieser – auch von der medialen Resonanz her erfolgreichen – Jahrestagung vom September 2019 publiziert die Historische Kommission für Pommern mit dem vorliegenden Band in ihrer Schriftenreihe Forschungen zur pommerschen Geschichte. Für ihre Bereitschaft, neben der Gewinnung der Referentinnen und Referenten nun auch in bewährter Weise wieder diesen Sammelband zu redigieren und herauszugeben, sei Dirk Alvermann und Irmfried Garbe herzlich gedankt, die bereits für die von unserer Kommission getragene Vorgängerveranstaltung vor mehr als zehn Jahren und die daraus erwachsene

Kirchliches Leben ­zwischen Trebel und Strelasund. Beiträge zur Geschichte des Kirchspiels und der Synode Grimmen, hg. von Haik Thomas Porada und Wolfgang Schmidt, Kiel 2019, S.  127 – 198.

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Geleitwort

Publikation verantwortlich zeichneten.4 In dieser traditionsreichen Schriftenreihe konnten 2019 mehrere neue Bände veröffentlicht werden, die sich mit aktuellen Forschungsergebnissen zur pommerschen Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert beschäftigen, darunter der dritte Band des Biographischen Lexikons für Pommern,5 die Dokumentation der Stralsunder Jahrestagung unserer Kommission von 2015 anlässlich des 200. Jahrestages des Übergangs von Schwedisch-Pommern an Preußen 6 und schließlich eine Dissertation, in der die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens in Stralsund und Reval im 18. Jahrhundert in vergleichender Perspektive untersucht wurde.7 Das Ziel der Tagung war es, ein umfassendes Bild der Persönlichkeit Arndts und seiner Zeit zu zeichnen, dabei aktuelle Forschungen aus verschiedenen historischen Disziplinen einzubeziehen und die Quellensituation im Ostseeraum zu beleuchten. In der Diskussion zu den einzelnen Vorträgen wurden die Desiderate der historischen Forschung deutlich angesprochen. Mit der vorliegenden Publikation wird nun die biographische Dimension, auch in ihren regionalen Bedingtheiten, um eine europäische Perspektive ergänzt. Im Namen des Vorstands der Historischen Kommission wünsche ich dieser Veröffentlichung eine breite Rezeption über Pommern hinaus. Grimmen, Ostern 2020 



Haik Thomas Porada

4 Ernst Moritz Arndt. Anstöße und Wirkungen, hg. von Dirk Alvermann und Irmfried Garbe (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte 46), Köln/Weimar/Wien 2011. 5 Biographisches Lexikon für Pommern, Band 3, hg. von Dirk Alvermann und Nils Jörn (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte 48, 3), Wien/Köln/Weimar 2019. 6 Vom Löwen zum Adler. Der Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen 1815, hg. von Nils Jörn und Dirk Schleinert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte 52), Wien/Köln/Weimar 2019. 7 Matthias Müller, Das Entstehen neuer Freiräume. Vergnügen und Geselligkeit in Stralsund und Reval im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur pommerschen Geschichte 51), Wien/Köln/Weimar 2019.

Grußwort Meine sehr geehrten Damen und Herren, werte Gäste, liebe Kollegen und Kolleginnen, ich darf Sie herzlich hier im Pommerschen Landesmuseum begrüßen! Die Historische Kommission für Pommern thematisiert auf ihrer Jahrestagung „Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit“ und bietet dazu noch eine Exkursion an. Der würdige Anlass ist der 250. Geburtstag dieser historischen Persönlichkeit. Für den Historiker und historisch Interessierten ist diese „Arndt-Zeit“ überaus interessant. Pommern befindet sich im Spannungsbogen von schwedischen, preußischen, französischen und russischen Interessen. Und man fragt sich überrascht, wie eine dünn besiedelte Agrarregion wie Pommern mit recht vielen Personen in Verbindung gebracht werden kann, die dann national und international ausstrahlten und das Geschichts- und Traditionsbild vieler Generationen prägten. Ich denke da an den Kolberger Joachim Nettelbeck, die Militärs Ferdinand von Schill, August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau, Gebhard Leberecht von Blücher, die Romantiker Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge, Turnvater Friedrich Ludwig Jahn und eben Ernst Moritz Arndt. Diese Tagung und die nachfolgende Exkursion wird – da bin ich mir sicher – dazu beitragen, diese prägende Zeit besser zu verstehen. Ausdrücklich bedanken möchte ich mich daher bei allen Referenten, darunter Frau Indravati Félicité aus Paris, die den längsten Weg hatte. Seien Sie alle herzlich willkommen! Bedanken möchte ich mich auch bei den Akteuren der Historischen Kommission, die ­dieses interessante Programm konzipierten und aktiv gestalten. So etwas sollten wir öfter machen! Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Sparkasse Vorpommern haben d ­ ieses Projekt finanziell unterstützt – auch dafür herzlichen Dank. Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, wünsche ich nun eine interessante und kurzweilige Zeit und fühlen Sie sich wohl in unserem Haus. Uwe Schröder Direktor des Pommerschen Landesmuseums Greifswald

Napoleon – Arndt – Geist der Zeit Napoleon Bonaparte wurde im August 1769 auf Korsika geboren, im selben Jahr wie Ernst Moritz Arndt auf der Insel Rügen. Korsika verlor in jenem Sommer seinen Status als Republik und kam nun endgültig unter die französische Krone. Rügen bildete seit über einem Jahrhundert die südlichste Provinz des Königreichs Schweden und schien in politischer Ruhe und relativem Wohlstand angekommen zu sein. 1769 war nicht abzusehen, dass sich Arndts Biographie ab einem bestimmten Zeitpunkt auf das Handeln eines Napoleon Bonaparte beziehen sollte. Beide verließen sie ihre Inseln noch vor ihrem 20. Lebensjahr. Der schulische Spätentwickler Arndt schlug die Laufbahn eines Akademikers und Publizisten ein, der früh entwickelte Napoleon die des Militärs. Arndt und Napoleon begegneten sich nie direkt. Aber beide wussten ab einem bestimmten Moment ihres politisch aktiven Lebens voneinander – Arndt sehr viel früher von Napoleon als Napoleon von Arndt. Darin war Arndt keine Ausnahme. Für eine ganze Generation europäischer Intellektueller bildete der politisch erfolgreiche französische Konsul und ­Kaiser den geheimen Gravitationspunkt für etwa anderthalb Jahrzehnte – im Positiven wie im Negativen. Napoleon gewann viele Verehrer unter den Deutschen. Arndt jedoch gehörte spätestens seit 1802 nicht mehr dazu. Mehr als eine Dekade seines Lebens widmete er – zusammen mit Freunden – der geistigen, politischen und militärischen Auseinandersetzung mit Napoleon. Über seiner Beschäftigung mit Bonapartes politischem System wurde aus dem schwedischen Untertan im Laufe eines knappen Jahrzehnts ein Anhänger Preußens. Der Zeitkritiker Arndt entschloss sich, gegen die europa- und deutschlandpolitischen Folgen von Napoleons Militärdiktatur einzuschreiten, und entwickelte eine Vision nationaler Selbstbestimmung mit langer Wirkungsgeschichte. Andere dagegen faszinierte die Idee einer französisch-europäischen Universalmonarchie, die einen stabilen Frieden unter dem Imperator garantieren sollte. So wurde in Posselts Europäischen Annalen 1807 eine Eloge auf Napoleon, den „großmüthigen Retter Deutschlands“, publiziert, in der es hieß: „Und hat Er einst Frieden und Selbständigkeit den deutschen Völkern gesichert, so laßt uns Ihm ein Nationaldenkmahl errichten, würdig des ersten und einzigen Wohlthäters der gesammten deutschen Nation: Auf der steilsten und höchsten Felsenwand Deutschlands werde mit ungeheuern Lettern aus glänzendem Metall sein Nahmen eingegraben, daß er im Gold der Morgensonne weit in die Gefilde strahle, denen er eine bessere Zukunft erkämpfte! Das Denkmahl paßte der Kühnheit seiner Arbeiten und sein Nahme bürgte für des Denkmahls Ewigkeit. Nach Jahrhunderten würden dann die Enkel, gewohnt, alles, was groß und edel ist, aus Napoleons Zeiten abzuleiten, mit Dankbarkeit hinzusetzen: Er konnte Deutschland in Abhängigkeit erhalten; allein er erhub es zu einem selbständigen Völkerbunde!“ 1

1 W., Ueber Deutschlands politisches Interesse, in: Europäische Annalen 1807, S. 90 – 100, hier S. 99 f. Hervorhebungen im Original.

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Napoleon – Arndt – Geist der Zeit

Abb. 1: „Fichte-Schleiermacher-Jahn-Arndt“. Holzstich nach einer Zeichnung von Ludwig Burger (1825 – 1884). Aus: Ferdinand Schmidt, Preußens Geschichte in Wort und Bild, Berlin 1862, p. 1199

Solche Beiträge waren es, die Arndt und seine Freunde in Rage brachten. Das Beispiel Spaniens ermunterte die preußisch-deutsche Patriotenpartei, politische Alternativen zu verfolgen. Seit Mitte 1808 entwickelten Gneisenau, Scharnhorst, Stein und andere Napoleonkritiker Volksbewaffnungs- und Aufstandspläne. Der Stockholmer Herausgeber des Nordischen Kontrolleurs proklamierte im November jenes Jahres 1808: „Nur allgemeine Insurrektion und Todtschlag kann Europa vor allgemeiner Sklaverei retten.“ 2 Die „antinapoleonischen Befreiungskriege“ sind mehr als eine nachträgliche Konstruktion. Dass am Ende aber die Besiegung Napoleons tatsächlich erreicht wurde, war bis zur Leipziger Schlacht im Oktober 1813 keineswegs sicher. Napoleon selbst scheint sich lange Zeit Sicherheitssuggestionen hingegeben zu haben. „Urteilen Sie doch selbst“, schrieb er am 2. Dezember 1811 an Marschall Davout in Hamburg, „was zu befürchten ist von einem so braven, so vernünftigen, so kalten, so geduldigen Volke, das von jeder Ausschreitung so weit entfernt ist, daß kein einziger Mann während des Krieges in Deutschland ermordet wurde.“ 3

2 Ernst Moritz Arndt, Spanien und Portugal [2. Folge], in: Nordischer Kontrolleur, 2 (1808), S. 521 – 558, hier S. 550. Arndt setzt dort fort: „Wagtet ihr Eins zu seyn, Einen Willen, Eine Liebe, Einen Haß zu haben, nur an das Vaterland und die Ehre und nicht an Eure fünfzig und hundert Herren und Herrlein und Zaunkönige zu denken, die feig und ehrvergessen euer Leben und eure Freiheit täglich verkaufen […]“. 3 Zitiert bei Friedrich Stählin, Napoleons Glanz und Fall im deutschen Urteil. Wandlungen des deutschen Napoleonbildes, Braunschweig 1952, S. 30. Zum Hintergrund vgl. Johannes Wilms, Napoleon. Eine Biographie, München 2007, Drittes Buch.

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Abb. 2: Yorck, v. Stein, Schön und Arndt in Berathung mit den ostpreußischen Patrioten. Aus: Vorbilder der Vaterlandsliebe, des Hochsinns und der Thatkraft, Bd. II, hg. v. Franz Otto, Leipzig 1861, S. 15

Im Erleben Arndts waren die vier Jahre 1812 bis 1815 jene Jahre, die er am intensivsten im Gedächtnis behielt. Das spiegelt sich nicht zuletzt in seinen autobiographischen Schriften. In den Erinnerungen aus dem äußeren Leben nimmt die Vergegenwärtigung dieser Lebensperiode fast die Hälfte des Buches ein und seine Wandelungen und Wanderungen mit dem Reichsfreiherrn vom Stein bringen außer den vier Jahren kaum einen anderen Zeitraum wirklich eingehend zur Sprache. Einen anschaulichen Aspekt dazu bieten die – wenigen – Arndt-Darstellungen, die ihn als Mitglied der patriotischen Aktionspartei zeigen. Die Darsteller des 19. Jahrhunderts hatten noch – anders als die des 20. Jahrhunderts – im Blick, dass Ernst Moritz Arndt stets Teil eines aktiven Kreises war. Ihm selbst war das nachdrücklich bewusst. So reflektierte er beim Abschied in den politischen Untergrund angesichts einer ungewissen Zukunft gegenüber seinem Greifswalder Freund Karl Schildener: „Unser Gedächtnis kann unter uns nicht vergehen, aber auch das wandelnde Leben muß einem jeglichen von uns

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immer die frischen Spuren zeigen, wo seine letzten Schritte gegangen sind. So sind wir alle gemacht, daß einer des andern bedarf, daß er seine Mängel freundlich aufdecke und wieder zudecke, daß er ergänze und nach einer andern Seite die Wege weiter führen helfe, die schon still standen.“ 4 In ­diesem Sinne hat die Historische Kommission für Pommern – die Arndt bereits 2010 anlässlich seines 150. Todestages im Hinblick auf sein Werk und dessen Wirkungsgeschichte gewürdigt hat 5 – gemeinsam mit dem Pommerschen Landesmuseum in Greifswald seinen 250. Geburtstag 2019 zum Anlass einer erneuten Annäherung an das Thema genommen. Der Betrachtung der historischen Persönlichkeit, auch in ihren regionalen Bedingtheiten, wurde hier eine europäische Perspektive zur Seite gestellt. Im Mittelpunkt steht dabei die historische Situation in Pommern und im Ostseeraum in den Jahren vor, während und nach der napoleonischen Besetzung. Hier vertraten Preußen, Russland, England und Schweden – zu dessen Herrschaftsbereich auch Pommern gehörte – ihre jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen. Die Auseinandersetzungen dieser Akteure mit dem expandierenden französischen Kaisertum ­zwischen 1806/1807 und 1815 bestimmten weit über das 19. Jahrhundert hinaus das Bild von Freund und Feind entlang der südlichen Ostseeküste. Sie prägten auch das Werk Ernst Moritz Arndts. Ohne ihre Kenntnis findet der moderne Leser kaum Zugang zu seinen Auffassungen von Staat, Volk, Nation und Recht, von politischer Teilhabe und individueller Freiheit. Ohne die Einordnung in die örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten lässt sich auch Arndts Kritik – in all ihrer Dynamik und Radikalität – an der politischen und kulturellen Hegemonie Frankreichs in Europa kaum nachvollziehen. Indem wir die Beiträge der Tagung (mit einer thematischen Ergänzung zu Arndts populären Liedern) hier der Öffentlichkeit übergeben, bedanken wir uns besonders bei den Autorinnen und Autoren für die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und für die fruchtbaren Diskussionen. Dem Pommerschen Landesmuseum gilt unser Dank für die Gastfreundschaft während der Tagung in seinem Haus und der Historischen Kommission für Pommern für die Aufnahme des Tagungsbandes in ihre Veröffentlichungsreihe. 

Die Herausgeber



4 Ernst Moritz Arndt. Ein Lebensbild in Briefen, hg. v. Heinrich Meisner und Robert Geerds, Berlin 1898, S. 66 Nr. 43 an Karl Schildener v. 27. 10. 1811 aus Trantow. 5 Ernst Moritz Arndt – Anstöße und Wirkungen, hg. v. Dirk Alvermann und Irmfried Garbe (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V 46), Köln/Weimar/Wien 2011.



Rügen 1769 Schwedisch-Pommern im Jahr der Geburt Ernst Moritz Arndts Fritz Petrick

Als Ernst Moritz Arndt am 26. Dezember 1769 auf Rügen, im damals noch nicht „Groß“ genannten Schoritz, zur Welt kam, standen die Insel und der diesseits der Peene gelegene Teil Vorpommerns als Territorien des Heiligen Römischen Reiches bekanntlich unter königlich-schwedischer Lehensherrschaft. Allerdings war das Königreich Schweden seit dem Ende des Großen Nordischen Krieges keine im Ostseeraum vorherrschende Großmacht mehr, sondern de facto nur noch eine vor allem vom Zarenreich bedrängte Regionalmacht, die sich – zumindest handelspolitisch von Göteborg aus – bereits westwärts und nach Übersee zu orientieren begonnen hatte. Zudem herrschte König Adolf Friedrich (1710 – 1771) aus dem Hause Holstein-Gottorf, der als hiesiger Landesherr offiziell „zu Stettin, Pommern, der Kassuben und Wenden Herzog, Fürst zu Rügen, Graf zu Gützkow“ tituliert wurde, in Schweden selbst realiter nur dem Namen nach. Die Macht hatten die dortigen Reichsstände – Adel, Geistlichkeit, Bürgertum und Bauernschaft – bereits 1719/1720 übernommen und der vom Ständereichstag kontrollierte hochadlige Reichsrat bestellte seither auch den in Stralsund, der Hauptstadt des „Herzogtums Pommern Königlich-Schwedischen Antheils und Fürstentums Rügen“, residierenden Generalstatthalter bzw. -gouverneur für Schwedisch-Pommern. Von 1766 bis 1772 war das Generalleutnant Hans Henrik Graf von Liewen junior (1704 – 1781). Zur Zeit der Statthalterschaft Liewens lebte übrigens auch dessen 1766 – im Alter von 80 Jahren – suspendierter Amtsvorgänger Axel Graf von Löwen (1686 – 1772) noch immer in Stralsund, wo er dann starb. Löwen hatte sich sowohl in der Stadt als auch auf Rügen schon 1755 bestens etabliert: Er hatte sich in Stralsund ein großes Haus zugelegt – das er zum repräsentativen Palais ausbauen ließ – und auf der Insel das nahe der Glewitzer Fähre gelegene Adelsgut Losentitz und die nördlich daran angrenzende „Schoritzer Begüterung“ erworben, zu der außer Schoritz auch Dumsevitz und Silmenitz gehörten. Das vom Vorbesitzer damals gerade erst von Grund auf erneuerte Schoritzer Herrenhaus wurde dann – nach dem 1767 erfolgten Weiterverkauf der Schoritzer Begüterung an Malte Friedrich Graf und Herr zu Putbus (1725 – 1787) – Ernst Moritz Arndts Geburtshaus. Rügen, mit seinen Halb- und Nebeninseln eigentlich ein – wenn auch sehr kleiner – Archipel, war damals nur auf dem Wasserweg erreichbar. Brücken und Dämme existierten noch nicht. Für die Verbindung ­zwischen dem vom Greifswalder Bodden und Strelasund im Süden und einer ganzen Kette von Bodden im Westen und Nordosten weithin umschlossenen Inselkern, dem „Land Rügen“ (Muttland), und dem Festland, den Inseln Ummanz und Hiddensee sowie den Halbinseln Jasmund und Wittow sorgten mit Muskelkraft betriebene Fähren. Eine reguläre Anlegestelle für Seeschiffe, und zwar für die z­ wischen Ystad

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Fritz Petrick

Diese Kartenskizze (Autor Dr. Peter Meißner, Bergen auf Rügen) gilt nicht nur für 1708, als die „Land[es]straßen“ in einer offiziellen „Spezifikation“ vom 21. Mai ausgewiesen wurden (Dähnert III, S. 1058), sondern prinzipiell für das gesamte 18. Jahrhundert, also auch für das Geburtsjahr Ernst Moritz Arndts. Sie zeigt außer den Land- und den wichtigsten sonstigen Straßen auch die Furten und Fähren. Was sie topographisch leider gar nicht ausweist, das sind die Anlegestellen der rügischen Boddenschifffahrt, die für Stralsund etwa ebenso bedeutsam war wie für die an Flussmündungen gelegenen Seehandelsstädte die Flussschifffahrt. Zu den wichtigsten Anlegestellen der Boddenschifffahrt gehörte z. B. auch die am Kleinen Jasmunder Bodden befindliche „Bootsstelle Bergen“.

und Stralsund verkehrenden schwedischen Postjachten, gab es nur auf dem Wittower Bug. Und falls dort aus Schweden ankommende Reisende wegen oft widriger Wetterverhältnisse die Passage nicht auf dem Seeweg durch die Hiddensee von Rügen trennenden Bodden

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Rügen 1769

(Stralsunds „Nordansteuerung“) fortsetzen konnten, mussten sie sich vom Dwarsdorfer „Postbauern“ über den Rassower Strom zum „Land Rügen“ rudern lassen, um dann den beschwerlichen – heute längst der Vergessenheit anheimgefallenen – alten Landweg via Trent, Gingst, Landow, Rothenkirchen und Rambin zur Alten Fähre zurückzulegen und mit ihr nach Stralsund überzusetzen. Für diese wie ebenso für viele von Stralsund nach Schweden Reisende war Rügen damals ein lieber gemiedenes Transitland; zum interessanten Reiseland sollte die Insel erst in Arndts Mannesjahren werden. Mit einem damals längst vermessenen Areal von 140.548 Pommerschen Morgen und 219 Quadratruten (≈ 925 Quadratkilometer) sowie – allerdings erst 1783 gezählten – 23.431 Einwohnern (≈ 25 je Quadratkilometer) war Rügen nicht nur erheblich kleiner, sondern auch etwas dünner besiedelt als der schwedische Teil Vorpommerns mit einem Areal von 443.320 Pommerschen Morgen und 8 Quadratruten (≈ 2900 Quadratkilometer) und 78.558 Einwohnern (≈ 27 je Quadratkilometer).1 Mit Bergen und Garz, die zusammen 2177 Einwohner zählten, besaß Rügen nur zwei relativ unbedeutende Städte, während in Schwedisch-Pommern immerhin zwölf z. T. erheblich größere und bedeutendere Städte mit insgesamt 29.119 Einwohnern existierten. Statistisch wurde die Bevölkerung der Städte damals von den Magistraten erfasst, die des „platten Landes“ von den Pastoraten der Kirchspiele – und das nicht nur nach Alter, Geschlecht und Familienstand, sondern auch nach ihrem Status als entweder „freie“ oder „unfreie Untertanen“. Auf Rügen waren von 21.254 Bewohnern des „platten Landes“ 15.028 (≈ 70 Prozent) „unfrei“, d. h. „leibeigen“, in Vorpommern waren das von 49.439 „nur“ 27.418 (≈ 55 Prozent).2 Stralsund 10.840

Greifswald 5033

Wolgast 3623

Barth 2927

Bergen 1435

Loitz 1164

Grimmen 1163

Tribsees 1061

Lassahn 1016

Garz 732

Gützlow 668

Damgarten 612

Richtenberg 561

Franzburg 451

Tab. 1: Schwedisch-Pommerns Städte und ihre Bewohner 17833 Rügianische Synode

Barthische Synode

Wolgastische Synode

Grimmsche Synode

Greifswaldische Synode

Loitzische Synode

21.254

20.347

8596

7736

7435

5330

4527 (53)

3987 (52)

4237 (57)

3548 (67)

davon unfrei (in %) 15.028 (70)

11.119 (55)

Tab. 2: Schwedisch-Pommerns „plattes Land“ und seine freien und unfreien Bewohner 1783 4



1 Für 1769 liegen nur vereinzelte statistische Daten vor. Die Daten für 1783 nach Thomas H ­ einrich Gadebusch, Schwedischpommersche Staatskunde, Erster Theil, Greifswald 1786, S. 27. 2 Ebd., S.  257 – 261. 3 Ebd., S. 257 und 260. 4 Ebd., S. 256 und 259.

22

Fritz Petrick

Nach Gadebusch galten „leibeigene Untertanen“ gemäß Landesverfassung „gleich dem Grund und Boden, den sie bewohnen, [als] ein völliges Eigenthum ihrer Grundherrschaft und […] ein in den Güthern steckendes Kapital […], das den Eigenthümern wider ihren Willen nicht genommen werden kann“.5 Während die Grundherren „ihre Leibeigenen vertauschen, verpfänden, verkaufen, aus einem Hof in den andern, aus einem Dorfe in das andere versetzen, auch die Höfe, Äcker und Wiesen ihnen nehmen und zu Ackerwerken machen“ durften, war es Leibeigenen verboten, von ihrer zu einer anderen Herrschaft zu wechseln oder gar außer Landes zu gehen. Sie ohne Vorlage einer schrift­ lichen Genehmigung ihrer Herrschaft an Bord zu nehmen, war Schiffern untersagt. Leibeigene durften „weder zu Bauerrecht auf dem Lande oder zu Bürgerrecht in den Städten angenommen, noch zum Soldaten angeworben werden“. Grundherren konnten ihnen entlaufene Leibeigene zurückfordern und – als Gerichtsherren auch aus ganz anderen Gründen – bestrafen. Ohne Einwilligung ihrer Grundherrschaft durften Leibeigene keine Ehe eingehen, weder mit ihresgleichen noch mit freien Partnern, die widrigenfalls ihre eigene Freiheit verloren und Untertanen der Grundherrschaft ihres leibeigenen Partners werden mussten. „Trittst Du mein Huhn, wirst Du mein Hahn“ oder „die unfreye Hand zieht die freye nach sich“, hieß es sprichwörtlich auch in anderen deutschen Ländern.6 Wie es bei Gadebusch weiter heißt, währte die Unfreiheit der Leibeigenen, wenn sie nicht vorher „los-“ bzw. „freigekauft“ wurden, bis an ihr Lebensende. Konnten sie „Alters und Schwachheit halber ihren Höfen und Wirtschaften nicht mehr vorstehen“, hatte ihr Grundherr ihnen ein „Altenteil“ zuzuweisen und sie „zu unterhalten und zu versorgen“.7 – „Freikaufen“ konnten Leibeigene sich allerdings auch selber, denn sie waren vermögensfähig und erbberechtigt, so dass zumindest einige von ihnen das dafür benötigte „Loskaufgeld“ aufbringen konnten. „Zu unsern Zeiten“, konstatierte Gadebusch, „finden die Unterthanen, besonders in den Güthern des Domanii [Landesherrn] und der Kommünen [Städte], keine großen Schwürigkeiten, sich für ein leidliches Loskaufgeld von der Leibeigenschaft frey zu machen“.8 Auf den Gütern des Adels, insbesondere der Rugianischen Ritterschaft, mochte es schwieriger und kostspieliger gewesen sein. Ernst Moritz’ Vater Ludwig Nikolaus Arndt (1740 – 1805), der als Schafhirt wie schon sein eigener Vater und Großvater leibeigener Untertan der Herrschaft Putbus war, konnte sich am 28. März 1769 für 80 Taler „loskaufen“ – und endlich, am 10. April 1769 in Vilmnitz, die zuvor schon freigekommene Friederike Wilhelmine Schumacher (1743 – 1804) heiraten, die ihm bereits im Vorjahr den ersten Sohn Karl Christian (1768 – 1842) geboren hatte, der als unehelich geborenes Kind 5 Ebd., S. 286 f. 6 Johann Friedrich Eisenhart, Grundsätze der deutschen Rechte in Sprüchwörtern, Helmstedt 1759, S. 75. 7 Gadebusch (wie Anm. 1), S. 290. 8 Ebd., S. 291.

Rügen 1769

23

bei der ­Mutter geblieben war. „Frey, los und ledig“ gesprochen wurde Ludwig Nikolaus Arndt von dem erwähnten Malte Friedrich Grafen und Herrn zu Putbus, dem er fortan als „Inspektor“ der ebenfalls erwähnten Schoritzer Begüterung diente, bis er 1776 das dazugehörige Gut Dumsevitz pachten und sein eigener Herr werden konnte. Malte Friedrich hatte die Herrschaft Putbus 1755 von seinem Vater Moritz Ulrich (1699 – 1769) übernommen, der 1729 in Stockholm als Erblandmarschall für SchwedischPommern und Rügen bestätigt, 1731 in den schwedischen Adels- und Grafenstand erhoben und 1733 zum Präsidenten des Wismarer Tribunals ernannt worden war. Als der Vater 1763 auf eigenen Wunsch aus dem Amt schied, avancierte Malte Friedrich zum Königlich-Schwedischen Hofmarschall und nach dem Tod des Vaters wurde er 1769 Erblandmarschall. Als Erblandmarschall amtierte Malte Friedrich nur bis 1773, dann übernahmen seine jüngeren Brüder Ernst August Heinrich (1743 – 1780) und Gottlieb Ludwig Ferdinand (1737 – 1804) ­dieses Amt. Der offiziell nach wie vor als „Haupt“ der „Landstände von Prälaten, Ritterschaft[en] und Städten im Königlich-Schwedischen Herzogthum Vorpommern und Fürstenthum Rügen“ 9 geltende Erblandmarschall fungierte freilich seit dem Ende des Großen Nordischen Krieges nur noch als „Anführer und Sprecher der Ritterschaft“,10 d. h. des „lehngesessenen“ Adels. Dazu gehörten in Schwedisch-Pommern damals an die 100 Adelsgeschlechter, von denen über 20 diverse Lehnsgüter auf Rügen besaßen.11 Nächst den Grafen und Herren zu Putbus, deren Vorfahren mit den ersten Rügenfürsten verwandt gewesen waren, zählten noch etliche andere, z. T. mehrfach verzweigte und vielfach miteinander versippte Geschlechter zum hiesigen Uradel wie die von Barnekow, von Bohlen, von Gagern, von Krassow, von der Lancken, von Normann, von der Öhe (der kleinen Insel bei Schaprode), von Platen und von Usedom. Und wie die Herren zu Putbus hatten auch einige von Barnekow, von Krassow und von Platen Aufnahme in Schwedens Ritterhaus gefunden. Vom genuin schwedischen Adel waren nur die Grafen Brahe (als Erbherren der Herrschaft Spycker) sowie die Freiherren Schoultz von Ascheraden dauerhaft in den Besitz von Lehnsgütern auf Rügen und in Vorpommern gelangt. Neu hinzugekommen waren mit Gütern auf Rügen belehnte und in den schwedischen Adelsstand aufgenommene Patrizier Stralsunds wie die von Kathen, von Schmiterlöw, von Schwarzern und von Wolffradt. Diverse andere Erwerber von Lehnsgütern auf Rügen, die sich wie die von Bagevitz, von Harder, von Ho[ch]wächter, von Langen und von Mühlenfels das erforderliche Adelspatent vom K ­ aiser verschafft hatten, galten hier als „reichsadlig“. Gleich ihnen erhielten 1769 vier Söhne des bereits im 9 Christinas Königliche Resolution an gesamte Landstände, vom 24. Juli 1649, Abs. IV , in: Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-Urkunden, Erster Band, hg. von Johann Carl Dähnert, Stralsund 1765, S. 815. 10 Gadebusch (wie Anm. 1), S. 349. 11 Zum Folgenden vgl. Fritz Petrick, Rügens Schwedenzeit 1648 – 1815, Putbus 2009, S. 50 und 54 – 72.

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Fritz Petrick

Jahr zuvor verstorbenen Gutspächters Johann Diek (1697 – 1768), der 1767 vom Grafen Axel von Löwen das eingangs erwähnte Lehngut Losentitz gekauft und um die damit erforderlich gewordene Erhebung in den Adelsstand ersucht hatte, das kaiserliche Patent (die Tochter nicht). Als ältester Sohn übernahm Rittmeister Moritz von Dycke (1737 – 1822) Losentitz.12 Von insgesamt 532 Gütern und Dörfern Rügens, die Gadebusch allerdings nur namentlich für 1782 auflistete, gehörten 382 (72 Prozent) zum „Rügianischen Adlichen Distrikt“, nur 79 zum „Königlichen Amt Bergen“, d. h. zum Domanium (15 Prozent), und nur 71 (13 Prozent) zum „Stralsunder Kommissariat für Rügen“, das den hiesigen Grundbesitz der Hospitäler, Stiftungen, ­Kirchen und Bürger der Stadt verwaltete.13 Bemerkenswerter­weise verfügten hier auch 21 der insgesamt 27 Pastorate über eigenen Grundbesitz,14 so in den Flecken Gingst und Sagard, die teilweise auch dem Königlichen Amt untertan waren – Sagard zudem den Herrschaften Spycker (Brahe) und Ralswiek (Barnekow). Die Stadt Garz gehörte als Amtsstadt zum Königlichen Amt. Der Amtshauptmann – seinerzeit ein Samuel Fredrik Fischer (1713 – 1782) – wohnte in Bergen im „König­lichen Gerichtshaus“, während der ritterschaftliche Landvogt – damals Carl Gustav von ­Wolffradt (1718 – 1794) – ein eigenes Haus in der Stadt bewohnte und hier nicht nur hohes Ansehen genoss, sondern auch entsprechenden Einfluss ausübte.15 Ganz unmittelbar in Bergen präsent war die Rugianische Ritterschaft mit dem vom Landvogt kuratierten „Adelichen Fräuleinskloster“. Von den zwölf Kanonissinnen gehörten 1769 drei zu den von Platen, je zwei zu den von Gagern und von Krassow sowie jeweils eine zu den von Kahlden, von Normann und von der Oehe. Priorin war Eleonora ­Tugendreich von Barnekow († 1777).16

12 Ihm widmete Arndt – neben Charlotte von Kathen – 1819 sein Buch Von dem Wort und dem Kirchenliede (freundliche Mitteilung von Dr. Irmfried Garbe). 13 Gadebusch (wie Anm. 1), S. 50 – 54. – Gadebusch verweist S. 45 auf die von Johann Carl Dähnert in alphabetischer Ordnung verfasste Topographische Tabelle und Beschreibung über das platte Land und gesammte Güter und Dörfer in Pommern und Rügen für 1782, die Angaben zur Lage, Größe, Einrichtung, zu Herrschafts- und Besitzverhältnissen sowie Zahl und Stand der Bevölkerung aller Ortschaften enthält. Vgl. Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-Urkunden. Der Supplementen und Fortsetzung Erster Band, hg. von Johann Carl Dähnert, Stralsund 1782, S. 1273 – 1302. 14 Thomas Heinrich Gadebusch, Schwedischpommersche Staatskunde, Zweyter Theil, Greifswald 1788, S. 254. 15 Vgl. Fritz Petrick, Vom Rügianischen Distrikt zum Kreis Rügen – Die Verwaltung auf Rügen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Insel im pommrischen Meer. Beiträge zur Geschichte Rügens, hg. von Irmfried Garbe und Nils Jörn, Greifswald 2011, S. 142 f. 16 Johann Jacob Grümbcke, Gesammelte Nachrichten zur Geschichte des ehemaligen Cistersienser Nonnenklosters Sct. Maria in Bergen auf der Insel Rügen, Stralsund 1833.

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Rügen 1769 Distrikt

Alle

Adl. Distrikt

Königl. Amt

Städtischer Besitz

Rügianischer

532

382

Bergen

79 Stralsunder Kommissariat 71

FranzburgBarthischer

216

82

Franzburg

45 Stralsunder Kommissariat 52

Barth

37

Wolgastischer

141

92

Wolgast

49

Greifswaldischer

62

11

Akad. Amt Eldena

24

Loitzer

59

37

Loitz

22

Tribseeischer

49

46

Loitz

3

Grimmscher

21

15

Loitz

6

SchwedischPommern

1080

665

Stadt Greifswald

265

27

150

Tab. 3: Güter und Dörfer auf dem „platten Land“ in Schwedisch-Pommern 178217

Für die Landesherrschaft war der Rügianische Distrikt nur einer von den insgesamt sieben Distrikten Schwedisch-Pommerns. Wie im Rügianischen Distrikt wurden die Domänen auch im Franzburg-Barthischen, im Loitzer, im Grimmschen, im Tribseeischen und im Wolgastischen Distrikt von Königlichen Amtshauptleuten mit Sitz in Franzburg, Loitz und Wolgast verwaltet. Einzige Ausnahme war das im Greifswaldischen Distrikt von einem „Akademischen“ Amtshauptmann geleitete „Akademische Amt“ Eldena, das dem Unterhalt der Universität diente. Und ebenso wie im Rügianischen Adlichen Distrikt entsandten die Konvente der Ritterschaften im Franzburg-Barthischen, im Wolgastischen und im kombinierten Loitz-Grimmsch-Tribseeischen Adlichen Distrikt jeweils einen Deputierten – also zusammen vier – zu den Landtagen, die in der Regel mindestens einmal jährlich im Stralsunder Landständehaus abgehalten wurden. Lediglich der Greifswalder Adliche Distrikt verzichtete einige Zeit lang auf einen eigenen Deputierten. – Im Geburtsjahr Ernst Moritz Arndts tagten die Landstände übrigens ausnahmsweise, und das sogar mehrmals, in Greifswald 18 und Deputierter der Rügianischen Ritterschaft war Heinrich Detloff von Platen (1729 – 1784) auf Lipsitz.19 Nächst den Ritterschaften der 7 Distrikte zählten immerhin 8 von den 14 damaligen Städten Schwedisch-Pommerns zu den Landständen: außer den vier „Seestädten“ Stralsund, Greifswald, Wolgast und Barth auch Grimmen, Tribsees, Loitz und Damgarten. Als nicht „landsässig“ galten die zum Domanium gehörenden „Amtsstädte“ Gützkow und Lassahn (Amt Wolgast), Franzburg und Richtenberg (Amt Franzburg) sowie Garz (Amt Bergen); der Status Bergens war umstritten. „Vorsitzende Städte“ waren Stralsund und Greifswald, wobei Stralsund das „Korps der Ehrbahren Städte“ anführte, zu dem Greifswald und die 17 Gadebusch (wie Anm. 1), S. 44 – 54. – Siehe auch Anm. 13. 18 Stadtarchiv Stralsund, Rep 13, Nr. 0728. 19 Landesarchiv Greifswald, Rep 10, Nr. 445.

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Fritz Petrick

sechs „Nachsitzenden Städte“ (Wolgast, Barth, Grimmen, Tribsees, Loitz und D ­ amgarten) gehörten. Ihren Magistraten stand das Recht zu, jeweils einen Deputierten zu den Landtagen zu entsenden.20 Außer dem Erblandmarschall sowie den Deputierten der Ritterschaften und Städte nahmen an den Landtagen drei ritterschaftliche und zwei städtische Landräte teil. Deren Aufgabe war es, die „Königlich Hochpreisliche Regierung“, der neben dem Kanzler nur drei Regierungsräte angehörten, darunter der die Amtshauptleute beaufsichtigende „Schlosshauptmann“, gefragt und ungefragt zu beraten sowie jeweils auftragsgemäß Beihilfe zu leisten. Für die Besetzung frei gewordener Landratsstellen präsentierten die Adlichen Distrikte der Regierung jeweils zwei Kandidaten, von denen dann einer als Königlicher Landrat „bestellt“ werden musste.21 Wenigstens ein Landrat kam fast immer aus dem Rügianischen Adlichen Distrikt. Im Geburtsjahr Arndts war das Julius Christoph von der Lancken (1729 – 1800) auf Vorwerk.22 Als städtische Landräte waren die „worthabenden“ Bürgermeister“, d. h. die jeweils ersten von den vier bzw. drei Bürgermeistern, Stralsunds bzw. Greifswalds von vornherein gesetzt. 1769 stand Stralsunds „worthabender“ Bürgermeister Christian Ehrenfried Charisius (1722 – 1783), 1761 schwedisch geadelt von Charisien, als Königlicher Landrat an der Spitze der städtischen Bürgerschaft Schwedisch-Pommerns – wie vor ihm übrigens schon sein Onkel Johann Ehrenfried Charisius (1684 – 1760).23 Ein Erbamt, wie der Erblandmarschall, besaß er damit freilich nicht. Prälaten, die in der überkommenen – und von der schwedischen Landesherrschaft wörtlich übernommenen – Ständenomenklatur an erster Stelle genannt wurden, gab es auf Rügen und in Pommern seit der Reformation nicht mehr. Sinngemäß kam als Prälat eigentlich nur der allerdings vom Landesherrn im Einvernehmen mit Ritterschaft und Städten berufene Generalsuperintendent in Frage, galt er doch als „das Haupt der Geistlichkeit im Lande, dem das Kirchenregiment […] vom Landesherrn anvertrauet ist“.24 Als Ernst Moritz Arndt in der Garzer K ­ irche getauft wurde, war Laurentius Stenzler (1698 – 1778) Generalsuperintendent von Schwedisch-Pommern sowie auch – in Personalunion – Präpositus der Greifswalder Synode und Pleban zu Gützkow, wo er 1767 seinen Schwiegersohn Johann August Kriebel (1735 – 1818) als Vizepleban eingesetzt hatte. Sein fast gleichnamiger Sohn, Magister Lorenz Stenzler (1745 – 1786), sollte 1773 übrigens Pastor in Garz werden und hier schon 1780, so frühzeitig wie es damals üblich war, Ernst Moritz und seinen Bruder Karl Christian Arndt einsegnen.25 20 21 22 23

Gadebusch (wie Anm. 1), S. 54 und 345. Ebd., S.  346 – 349. Landesarchiv Greifswald, Rep. 10, Nr. 445. Stadtarchiv Stralsund, Hs. 360: Johann Albert Dinnies, Verzeichnis der sämtlichen Bürgermeister, Syndicorum und anderer Rathspersonen der Stadt Stralsund, mit Beifügung dessen, was man von ihren Lebensumständen auffinden mögen, Zweiter Theil, Bl. 490 – 509 und 616 – 620. 24 Gadebusch (wie Anm. 16), S. 206. 25 Erich Gülzow, Präpositus Picht und General von Dycke, zwei Vorkämpfer E. M. Arndts im Kampf gegen die Erbuntertänigkeit, in: Pommersche Jahrbücher, Bd. 29 (1935), S. 110, Anm. 50.

Rügen 1769

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Mit Ausnahme der Rügianischen Synode, die den gesamten Rügianischen Distrikt mit Bergen und Garz umfasste, waren die fünf vorpommerschen Synoden mit den Distrikten geographisch nicht deckungsgleich.26 So gehörten die Stadt Gützkow zur Greifswalder Synode, die Städte Barth und Damgarten zur Barthischen, Grimmen und Tribsees zur Grimmschen, Wolgast zur Wolgastischen und Loitz zur Loitzischen Synode. Von den Städten existierten – als Geistliche Ministerien – lediglich Stralsund und Greifswald außerhalb dieser fünf Synoden, an deren Spitze jeweils ein von der Landesherrschaft berufener Präpositus stand. In der Rügianischen Synode gab es allerdings vier Präposituren und ebenso viele Pastoren, die zugleich Präpositi waren: in Bergen (1.) für Südostrügen (einschließlich der Herrschaft Putbus und der Halbinsel Mönchgut), in Gingst (2.) für den Nordwesten von „Land Rügen“, Ummanz und Hiddensee sowie in Poseritz (3.) für Südwestrügen. In der (4.) Präpositur für Jasmund und Wittow amtierte von den Pastoren in Sagard, in Bobbin, in Altenkirchen und in Wiek der jeweils Älteste als Präpositus. „In den 27 rügischen Pfarren amtierten 1770 – 1787 insgesamt 48 Pastoren“, von denen einige in näheren Kontakt zur Familie Arndt traten.27 Als weitere Besonderheit ist für die Rügianische Synode zu vermerken, dass die ­Pastoren und Präpositi in Gingst und Poseritz sowie die Pastoren in Altenkirchen und Sagard, in Kasnevitz, Patzig und Rappin (alle Präpositur Bergen) über „zum Pastorat gehörige Unterthanen“, also Leibeigene, verfügten und zudem Polizei- und Gerichtsgewalt über „einige unter ihnen wohnende freie Leute“ besaßen.28 Deshalb soll hier für Ernst Moritz Arndts Geburtsjahr auch noch – und damit abschließend – erwähnt werden, dass Generalgouverneur Graf von Liewen die damals gerade vakant gewordene Stelle des Pastors und Präpositus in Gingst mit Johann Gottlieb Picht (1736 – 1810) besetzte. Picht, erstgeborener Sohn eines recht wohlhabenden Seilermeisters, hatte in seiner Heimatstadt Halle die Lateinische Schule für Knaben besucht und an der Friedrichs-Universität studiert, um danach ein Pastorat anzutreten. Zunächst aber musste er sich nach dem Studium wie damals üblich als Hauslehrer verdingen, so 1760 schließlich auch in Stralsund. Um in Schwedisch-Pommern ein Pastorat zu erhalten, war er – wie hier durchaus nicht unüblich – bereits 1761 Regimentspfarrer geworden, und zwar bei den in Barth und seit 1766 in Greifswald stationierten Husaren. Gingst zählte 1769 knapp 500 Einwohner, von denen höchstens 150 als frei galten. Der neue Pastor und Präpositus bekam es hier allerdings mit etlichen leibeigenen Untertanen sowohl des Pastorats als auch des Königlichen Amtes zu tun, die sich bereits seit einigen Jahren gemeinsam auf dem Rechtsweg um die Aufhebung ihrer Leibeigenschaft bemüht 26 Gadebusch (wie Anm. 14), S. 188 – 203. 27 Günter Ott, Ernst Moritz Arndt. Religion, Christentum und ­Kirche in der Entwicklung des deutschen Publizisten und Patrioten, Bonn 1966, S. 47, der die theologische Ausrichtung der Pastoren referiert und ihre Beziehungen zur Familie Arndt (freundliche Ergänzung durch Dr. Irmfried Garbe). 28 Ebd., S. 254; siehe auch Gottfried Holtz, Pastoratsgerichte (auf Rügen), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, 5 (1955/56), Sonderheft 1, S. 143 – 149.

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Fritz Petrick

hatten. Es gereicht Picht zur Ehre, dass er sich dieser Sache umgehend annahm. Unterstützung fand er nicht nur beim Generalgouverneur von Liewen und dessen Nachfolger Fredrik Carl Graf von Sinclair (1704 – 1781) sowie bei der Stralsunder Regierung, sondern auch beim Schwedenkönig Gustav III. (1746 – 1792), der in Gingst kurz Station machte, als er nach dem Tod des Vaters im Mai 1771 aus Paris kommend nach Stockholm zurückkehrte. Am 15. Juni 1773 schloss Picht seine Ansprache an die von ihm freigelassenen Untertanen des Pastorats mit dem Appell: „Seyd frey! seyd tugendhaft! und seyd glücklich!“ 29

29 Rede über den rechten Gebrauch der wahren Freyheit bey der am 15ten Junius 1773 vollzogenen Freygebung der vormahligen Königl. Pastorats-Unterthanen zu Gingst gehalten von J. G. Picht, Pastor und Präpositus zu Gingst, in: Erich Picht: Drei Generationen Picht als Geistliche auf Rügen, Suvigliana 1997, S. 125 – 129 (Zitat). Von Ernst Moritz Arndt ist der alte Präpositus Picht, „dieser thätige und alles Gute eifrig befördernde Mann“, in seinem Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen (Berlin 1803. Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 2007, S. 221) besonders gewürdigt worden.

Diplomatie und Propaganda Frankreich, Schweden und Norddeutschland in den Napoleonischen Kriegen Indravati Félicité

Am Ende seines Pamphlets Über das Kontinentalsystem und dessen Beziehungen zu ­Schweden, das 1813 in französischer Sprache herausgegeben wurde, stellte August Wilhelm von ­Schlegel (1767 – 1845) folgende Frage: „Welche der Entscheidungen unter denen, die Schweden den gegenwärtigen Umständen entsprechend treffen kann, ist die vorteilhafteste und die ehrenwerteste? […] Das Bündnis mit dem heutigen Frankreich oder, besser gesagt, mit Napoleon, führt zur Notwendigkeit, dem Kontinentalsystem mit all seinen Prinzipien zu folgen. Und man versuche nicht, mich zu überzeugen, dass ein Bündnis mit Frankreich gut wäre, indem man mir die alte diplomatische Devise wiederholt, dass Frankreich der natürliche Verbündete Schwedens ist. Ist es noch dasselbe Frankreich, dasselbe Schweden, dasselbe Europa, auf deren Beziehungen sich diese These bezog? Damals gab Frankreich Subsidien, heute fordert es Tribut […]. Da alles sich verändert hat, ist die Bedeutung d ­ ieses Ausdrucks, natürlicher Verbündeter, auch nicht mehr dieselbe wie früher. […] Aber da es Menschen gibt, die glauben, man kann in einer völlig anderen Vergangenheit Regeln für die Gegenwart finden […]: diese sollten sich die Mühe geben, die Geschichte der Bündnisse z­ wischen Schweden und Frankreich zu untersuchen, und sie werden sehen, dass diese für Schweden nie wunderbare Früchte getragen haben. […] Aber wir wiederholen es: die Umstände in Europa sind so außerordentlich und unerhört, dass jede routinierte Diplomatie völlig fehl am Platz ist.“ 1 In dieser Flugschrift stellte Schlegel nicht nur die Verlässlichkeit napoleonischer Diplomatie in Frage. Vielmehr erklärte er, dass man im Jahre 1813 Diplomatie als Begriff völlig neu definieren müsse und dass das Beispiel der französisch-schwedischen Allianz, die seit dem Dreißigjährigen Krieg und dem Westfälischen Frieden ein Pfeiler der politischen Ordnung in Europa gewesen war, das beste Beispiel für diesen Umschwung liefere. Viele Gegner Napoleons teilten diese Meinung: Napoleon hatte in ihren Augen die alten Regeln und Prinzipien der Diplomatie missbraucht, um seine aggressive Politik in ganz Europa durchzusetzen. Im Verhältnis mit Schweden drückte sich diese Aggressivität am stärksten in Pommern aus, das zweimal, 1807 bis 1810 sowie 1812/1813, von französischen Truppen besetzt worden war. Napoleons Strategie in Norddeutschland zeige, führte Schlegel weiter aus, dass Diplomatie lediglich der Deckmantel für Hegemonie und Invasion war.



1 August Wilhelm Schlegel, Sur le système continental, et sur les rapports avec la Suède, London 1814 [Erstausgabe Stockholm 1813], S. 88 – 90. Hervorhebung im Original.

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Indravati Félicité

Der Romantiker Schlegel hatte diesen Text in enger Zusammenarbeit mit der Schriftstellerin Germaine de Staël (1766 – 1817) geschrieben; diese hatte 1786 den schwedischen Botschafter in Paris, Erik Magnus von Stael-Holstein (1749 – 1802), geheiratet. Sie war bekanntlich eine Gegnerin Napoleons und, obwohl in der Schweiz geboren, schwedische Patriotin. Außerdem versuchte sie zur damaligen Zeit, ihren berühmten Essay De l’Allemagne (Über Deutschland) trotz der napoleonischen Zensur zu veröffentlichen.2 Dieser sollte ­später zum Vorbild für Kulturtransfer durch literarische und soziologische Analyse werden. Der kurze Text Schlegels wurde 1813 in Stockholm unter dem Schutz des Königlichen Prinzen Bernadotte (1763 – 1844, schwedischer König ab 1818) herausgegeben. Erst ein Jahr ­später folgten zwei Neuauflagen in London. Es handelte sich bei dieser Schrift also nicht nur um eine persönliche Meinungsäußerung, sondern auch um Propaganda für Schweden, das sich in einer schwierigen diplomatischen Lage befand. Nachdem Schweden und Frankreich 1810 in Paris zunächst eine Allianz geschlossen hatten, verschlechterte sich ihr diplomatisches Verhältnis aber 1811/1812 so sehr, dass Schweden 1813 schließlich der Sechsten Koalition gegen Napoleon beitrat. Nun galt es, diesen Seitenwechsel zu rechtfertigen. Im vorliegenden Beitrag sollen die diplomatischen Beziehungen z­ wischen Schweden und Frankreich in den Jahren 1810 bis 1813 untersucht werden. Ziel ist es festzustellen, ob und inwiefern sich die Analyse Schlegels im Verlauf der Verhandlungen z­ wischen N ­ apoleon und der schwedischen Regierung widerspiegelt. Dazu soll die Dreiecksbeziehung von Diplo­ matie, Propaganda und Krieg in drei Schritten analysiert werden. Erstens werden die diplomatischen Verhandlungen in Norddeutschland und in Schweden von 1810 bis 1812 untersucht. Zweitens wird für ­dieses Verhältnis die Bedeutung des Handels Schwedens mit England bestimmt. Drittens schließlich soll die Art und Weise betrachtet werden, wie diese Diplomatie 1813 Gegenstand einer Propaganda von beiden Seiten, sowohl der schwedischen als auch der französischen, wurde. Am Ende werden wir erneut auf Schlegels einleitende Analyse zurückkommen, um folgende Fragen zu beantworten: Hatten sich die europäische Diplomatie und ihre Grundvoraussetzungen 1813 derart gewandelt, dass die alten, vorrevolutionären Grundsätze ­zwischenstattlicher Beziehungen nicht mehr galten? Oder war Schlegels Behauptung schlichtweg Propaganda?

1. Norddeutschland und die diplomatischen Beziehungen ­zwischen Schweden und Frankreich 1810 bis 1812 Spätestens seit dem Westfälischen Frieden war die schwedisch-französische Allianz, wie Schlegel es ausdrückte, ein „natürlicher Bestandteil“ der europäischen Diplomatie. Im 18. Jahrhundert jedoch war das Bündnis ­zwischen Stockholm und Paris 3 bereits zerbrechlich

2 Pauline Laure Marie de Broglie comtesse de Pange, Madame de Staël et l’Europe, Paris 1970, S.  64 – 71. 3 Éric Schnakenbourg, La France, le Nord et l’Europe au début du XVIIIe siècle, Paris 2008.

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geworden. Zwischen 1718 und 1772 bestimmten nämlich zwei entgegengesetzte Parteien auf dem schwedischen Reichstag abwechselnd die schwedische Außenpolitik: die „Mützen“, die für England und Russland tendierten, und die „Hüte“, die profranzösisch waren.4 Allerdings schien letzteres Bündnis durch die Lebensart und den Geschmack der schwedischen Aristokratie, w ­ elche Frankreich sehr nahestand, gesichert: Der Hochadel reiste nach Frankreich, sprach Französisch und teilte die Ideen der Aufklärung.5 König Gustav III. (1746 – 1792, König 1771 – 1792) war sogar ein offener Befürworter der Aufklärung und der Französischen Revolution.6 1772 tarierte er durch eine neue Verfassung das Gleichgewicht ­zwischen Reichstag und König zugunsten der profranzösischen Partei neu aus. Sein Sohn Gustav IV . Adolf (1778 – 1834, König 1792 – 1809) hingegen war ein Feind der französischen Ideen. Die napoleonische Politik in Frankreich sowie in Europa führte ihn zu einem endgültigen Bruch mit Frankreich. 1805 trat er an der Seite Großbritanniens der Dritten Koalition gegen Napoleon bei; es war das erste Mal seit mehr als 150 Jahren, dass Schweden Frankreich direkt angriff. Schweden gehörte dann auch der Vierten Koalition 1806/1807 an. Durch diese Kriege verlor Schweden allerdings Finnland und Pommern; es waren denn auch diese Verluste, die den Ständereichstag veranlassten, Gustav IV . Adolf 1809 zur Abdankung zu zwingen und seine Kinder aus der Thronfolge auszuschließen.7 Die meisten Offiziere, die am Staatsstreich teilgenommen hatten, waren überzeugt davon, dass Schweden zum traditionellen profranzösischen Kurs zurückkehren müsse, und sie wollten einen Monarchen, der Frankreich gegenüber einen weniger aggressiven Kurs vertrat. Neuer König wurde deshalb der Onkel Gustavs IV. Adolf, nämlich der äußerst frankophile Karl XIII. (1748 – 1818, König 1809 – 1818). Dieser schloss auch gleich nach seiner Thronbesteigung Frieden mit Frankreich. So zeichnete sich eine Rückkehr zum traditionellen, „natürlichen“ schwedisch-französischen Bündnis ab. Da Karl XIII. keine Kinder hatte, adoptierte er Christian August von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, um die Thronfolge zu sichern. Christian August verstarb jedoch bald nach der Adoption.8 Und so machte sich Karl auf die Suche nach einem neuen Kronprinzen, den er adoptieren konnte. 1810 wurde er so auf den französischen General und „maréchal d’Empire“ Jean-Baptiste Bernadotte (1763 – 1844) aufmerksam.

4 Harald Freter, Der Übergang vom schwedischen Ständeparlamentarismus zu Verfassungsstaat und parlamentarischer Demokratie (1719 – 1921), in: Der skandinavische Weg in die Moderne. Beiträge zur Geschichte Norwegens und Schwedens vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, hg. v. Peter Brandt, Werner Daum und Miriam Horn, Berlin 2016, S. 81 – 96. 5 Charlotta Wolff, L’aristocratie suédoise et la France dans la seconde moitié du XVIIIe siècle, in: Histoire, économie et société, 29/1 (2010), S. 56 – 67. 6 Claude Nordmann, Gustave III: un démocrate couronné, Lille 1986. 7 Hildor Arnold Barton, Scandinavia in the Revolutionary Era 1760 – 1815, Minneapolis 1986. 8 Jean-Marc Olivier, Les archives de Bernadotte devenu Charles XIV Jean de Suède-Norvège (1792 – 1844), in: Revue d’histoire nordique, 2 (2006), S. 203 – 214.

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Wie wurde nun aber schließlich aus Bernadotte, einem General Napoleons, der neue Thronfolger Schwedens? Die Antwort dazu lässt sich in den Abläufen der Napoleonischen Kriege in Norddeutschland finden. Bernadotte 9 stammte aus der südfranzösischen Stadt Pau. Er war während der Revolutionskriege in der Armee aufgestiegen. 1797 wurde er als Offizier nach Italien geschickt, wo er Napoleons Feldzug unterstützen musste. 1798 war er Botschafter in Wien, von Juli bis September 1799 Kriegsminister. Obwohl er den Staatsstreich des 18. Brumaire (9. November 1799), der den Übergang vom Directoire zum Konsulat unter der Leitung von Napoleon markierte, nicht unterstützt hatte, schonte ihn Napoleon und berief ihn in den Staatsrat. Das Verhältnis z­ wischen beiden Männern blieb ihr Leben lang ambivalent und schwankte stets z­ wischen Bewunderung und Rivalität. 1804 erkannte Bernadotte Napoleon öffentlich als ­Kaiser an. Er wurde zum Gouverneur von Hannover und zum Maréchal d’Empire ernannt. Das Maréchalat d’Empire war eine der höchsten Würden im damaligen Frankreich. Dieser Rang war mit der Verleihung eines Adelstitels und einer Rente verbunden; der Maréchal musste aber auch an den wichtigen Schlachten teilnehmen.10 Diese militärische Aufgabe war es auch, die Bernadotte schließlich nach Norddeutschland führte. Im Oktober 1806 hatte Bernadotte preußische Kontingente in und bei Halle nieder­ geschlagen. Er verfolgte diese dann weiter in Richtung Norden. Am 6. November trafen die flüchtenden preußischen und die ihnen nacheilenden französischen Truppen in Lübeck erneut aufeinander.11 Nun aber hatten diese Truppenbewegungen schwedische Einheiten, die als Verbündete Englands im hannoverschen Lauenburg nahe Lübeck stationiert waren, beunruhigt, so dass sie nach Lübeck vorrückten. Die Franzosen erwiesen sich jedoch als militärisch überlegen, und die Schweden versuchten zu fliehen.12 Ehe sie es aber schafften, auf der Trave zu flüchten, wurden viele ihrer Schiffe von Bernadotte beschlagnahmt und die Equipage gefangen genommen. Bernadotte – und dies sollte ihm bei den Schweden hoch angerechnet werden – behandelte sie aber mit Güte und Respekt. 1807 wurde Bernadotte zum Gouverneur der Hansestädte ernannt.13 Als Maréchal d’Empire war er mithin der höchste französische Offizier in Norddeutschland und es oblag ihm, die militärische Lage einzuschätzen und dementsprechend die anderen Staaten anzugreifen oder mit ihnen in diplomatischen Kontakt zu treten. Wie gesehen befand sich 9 Franck Favier, Bernadotte. Un maréchal d’Empire sur le trône de Suède, Paris 2010. 10 Louis Chardigny, Les maréchaux de Napoléon, Paris 1977. 11 David G. Chandler, The Campaigns of Napoleon, New York 1966, S. 443. 12 Antjekathrin Grassmann, „Vom reichsfreyen Bürger zum vogelfreyen Republikaner“. Traditionen und Chancen der drei Hansestädte 1806, in: Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum: Wahrnehmungen und Transformationen, hg. v. Michael North und Robert Riemer, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 126 – 142. 13 Torvald Höjer, Bernadotte und die Hansestädte, in: Hansische Geschichtsblätter, 73 (1955), S.  146 – 157.

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Schweden ab 1809 in einer schweren Sukzessionskrise.14 Napoleon hätte diese liebend gerne ausgenutzt, um in Schonen einzufallen und so den Zugang zur Ostsee zu kontrollieren. Er warf Schweden denn auch vor, die Häfen Pommerns, vor allem Stralsund, für englische Schiffe offenzuhalten, was sein System der Kontinentalsperre erheblich schwächte:15 Das Ziel dieser Sperre war es nämlich, England durch eine Handelsblockade völlig aus dem europäischen Handel auszuschließen; daraus hätte sich der Zusammenbruch der englischen Wirtschaft ergeben sollen, der Frankreichs wichtigstem Feind auf den Meeren den Gnaden­stoß versetzt hätte. Außerdem empfand Napoleon die Nichteinhaltung der Sperre als persönliche Demütigung, weil die französische Propaganda in Frankreich so tat, als wäre die Kontinentalsperre durchgesetzt.16 Ferner hielten die Franzosen seit 1807 einen großen Teil Norddeutschlands besetzt und es war ihr erklärtes Ziel, die dort fließenden Menschen-, Waren- und Informationsströme zu kontrollieren. Derweil konzentrierten sich ihre Bemühungen zunächst auf die Häfen der Nordsee und die Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg. Durch die Besetzung Hamburgs glaubten die Franzosen, den Knoten­punkt aller Verbindungen im Norden zu kontrollieren. Sie vernachlässigten so aber die Ostseeseite. Diese Unterschätzung der Bedeutung der Ostsee für den europäischen Handel stellte mindestens seit dem 18. Jahrhundert eine Konstante französischer Politik im Norden dar: Man benutzte Hamburg als „Observatoire“ und glaubte, dort Informationen aus erster Hand über die ganze Küstenregion von den Niederlanden bis Polen bekommen zu können.17 Spätestens 1807, ab Dänemarks Beitritt zur Kontinentalsperre, musste die französische Regierung jedoch feststellen, dass die Ostseehäfen eine wichtige Rolle im Warenverkehr spielten, der von England nach Mitteleuropa strömte. Dänemark hatte nämlich in ­diesem Jahr den Hafen von Tönning dem britischen Handel versperrt, so dass die Engländer verstärkt Göteborg ansegelten. Diese schwedische Stadt wurde ab 1809 zur Drehscheibe ­zwischen England und der Ostsee.18 Während der Unmut gegen Schweden so in Frankreich täglich wuchs, verhandelte ­Bernadotte im April 1809 einen Waffenstillstand mit Schweden, ohne die französische Regierung davon in Kenntnis zu setzen.19 Diese Entscheidung missfiel Napoleon sehr, in 14 Siehe auch den Beitrag von Ralph Tuchtenhagen in ­diesem Band. 15 Michael North, Die Auswirkungen der Kontinentalsperre auf das nördliche Deutschland und den Ostseeraum, in: Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen, hg. v. Andreas Klinger, Hans-Werner Hahn und Georg Schmidt, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 135 – 148. 16 Über das grundlegende Fehlen an Vertrauen in Napoleons Wirtschaftspolitik bei den Kaufleuten siehe Silvia Marzagalli, Boulevards de la fraude. Le négoce maritime et le blocus continental, 1806 – 1813: Bordeaux, Hambourg, Livourne, Villeneuve-d’Ascq 1999, S. 221 f. 17 Lucien Bély, Jean-Baptiste Poussin, envoyé de France à Hambourg: négociateur subalterne et informateur de premier plan, in: Les Relations entre la France et les villes hanséatiques de Hambourg, Brême et Lübeck. Moyen Âge – XIXe siècle, hg. v. Isabelle Richefort und ­Burghart Schmidt, Paris/Brüssel 2006, S. 423 – 442, hier S. 424 – 428. 18 Marzagalli (wie Anm. 16), S. 165. 19 Dunbar Plunket Barton, Bernadotte and Napoleon 1763 – 1810, London/Dublin 1921, S. 204 f.

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Stockholm aber, wo der Adel gerade auf der Suche nach einem Nachfolger für den betagten und kinderlosen König Karl XIII. war, steigerte sie Bernadottes Popularität enorm.20 In der Tat erwies sich Bernadottes Ungehorsam gegenüber Napoleon als kluger Schachzug für seine persönliche Karriere. Bernadotte wusste durch seine Tätigkeit als Gouverneur in Norddeutschland, dass trotz der diplomatischen Spannungen um die Kontinentalsperre ein großer Teil der politischen Elite in Stockholm noch am traditionellen französischschwedischen Bündnis festhielt. Auch hatte er während seines Aufenthalts in Hamburg ein Gespür für die Prioritäten der Region entwickelt: Der Handel hatte für die Menschen dort Vorrang. Schweden konnte die Besetzung Pommerns durch die Franzosen akzeptieren, solange der Handel und die Schifffahrt davon nicht beeinträchtigt waren.21 Dieses Verständnis für die örtlichen Realitäten sorgte dafür, dass die Schweden Bernadotte seit 1806 als Freund ihrer Nation betrachteten. 1810 kehrte Bernadotte nach Paris zurück, wo er bei Napoleon zwischenzeitlich in Ungnade gefallen war, weil beim letzten großen französischen Sieg bei Wagram sich seine Einheit den Österreichern hatte geschlagen geben müssen.22 Allerdings hatten Schweden und Frankreich im Pariser Vertrag vom 6. Januar 1810 Frieden geschlossen. Durch diesen Vertrag erhielt Schweden Pommern wieder zurück und verpflichtete sich im Gegenzug, die Kontinentalsperre einzuhalten. In der Hoffnung auf eine diplomatische Unterstützung Frankreichs in den Verhandlungen mit Russland, das 1809 Finnland annektiert hatte, wendete sich ein Teil der schwedischen Aristokratie an Bernadotte mit dem Vorschlag, ihn als Kandidaten für die Wahl des neuen Kronprinzen durch die Stände aufzustellen.23 Napoleon sah trotz seines schlechten Verhältnisses zu Bernadotte in dessen Wahl die Möglichkeit, Schweden und dadurch die Ostseeschifffahrt besser kontrollieren zu können. Er gab deshalb seine Zustimmung und Bernadotte wurde am 21. August 1810 in Ørebro zum neuen Kronprinzen gewählt. Er kam am 20. Oktober in Helsingborg an. Am 5. November adoptierte ihn Karl XIII. und er nahm den Namen Karl Johann an.

2. Der „Seefrieden zu jedem Preise“? England als Zankapfel der schwedisch-französischen Beziehungen Parallel zu diesen Ereignissen lief der Handel mit englischen Waren in Pommern jedoch weiter. Nach dem Pariser Vertrag und der Evakuierung Pommerns errichteten die Franzosen Anfang 1810 ein Konsulat in Stralsund, um weiter kontrollieren zu können, ob die Maßnahmen gegen den englischen Handel eingehalten wurden. Das war jedoch nicht der Fall. So berichtete der Vizekonsul Auguste-Jean Mahélin kurz nach seiner Ankunft, dass „Mecklenburg und Pommern von mehreren Zucker-, K ­ affee- und K ­ olonialwarentransporten 20 Ebd., S.  250 – 301. 21 Ebd., S. 199. 22 Arnaud Blin, Wagram 5 – 6 juillet 1809, Paris 2014, S. 185 – 191. 23 Barton (wie Anm. 19), S. 250.

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aus Stralsund durchquert waren“.24 Fünf Tage s­päter erhielt Mahélin einen Bericht der Hamburger Polizei, nach dem drei Hamburger Handelshäuser, die in Verbindung mit England standen, ihre Korrespondenz nach Stralsund verlagert hatten.25 Ab 1810 war die Ostsee also wieder für den englischen Handel offen. Napoleon hoffte sehr, dass der neue schwedische Kronprinz Bernadotte dieser Situation ein Ende setzen würde. Jedoch liefen die Dinge nicht ab wie vorgesehen: Der Franzose Bernadotte erwies sich als loyaler Verteidiger schwedischer Interessen und wurde dadurch, auch wenn ungewollt, der Totengräber der schwedisch-französischen Allianz. Er erklärte zwar England den Krieg, aber d ­ iesem Schritt folgte keine ernste Maßnahme zur Einhaltung der Blockade. Am 25. Oktober 1810 wurde der schwedische Minister in Paris, Baron Gustaf Lagerbielke (1777 – 1837), von Napoleon zu einer Audienz berufen. Sie verlief nach dem Bericht des schwedischen Diplomaten sehr dramatisch und pathetisch: „Kurz nach 9 Uhr morgens wurde ich eingeführt; ich traf den Herzog von Cadore [damaliger französischer Außenminister] beim ­Kaiser, woraus ich sogleich schloss, ich sei zur Anhörung einer offiziellen Erklärung berufen, deren Diskussion mir aber nicht erlaubt sein würde. Dennoch entschloss ich mich, bei jeder Gelegenheit, wo es mir nur möglich sein würde, ein Wort auszubringen. Es ist mir unmöglich, Eurer Majestät alles, was der K ­ aiser in einer Zeit von wenigstens fünf Viertelstunden gesagt, wieder zu berichten; denn seine Aufregung war so groß, seine Rede so abgebrochen, seine Wiederholungen waren so häufig, dass es zu schwer war, alles im Gedächtnis zu klassifizieren.“ 26 Und in der Tat zeichnete sich der Bericht von Lagerbielke nach ­diesem theatralischen Auftritt dadurch aus, dass er nur aufgeregte Sätze von Napoleon festhielt, ohne seine eigenen Antworten auch nur zu erwähnen. Napoleon beklagte sich während dieser Audienz über die offensichtliche Fortführung des schwedischen Handels mit England: „Gut, bleiben Sie bei den Engländern! Nach dem Schaden zu urteilen, den Sie mir in ­diesem Jahre zugefügt haben, waren Sie nie bessere Freunde der Engländer, als in ­diesem Augen­blicke. – Ach ja, das sagen Sie mir; Sie versichern mir, dass Schweden lieber bei mir bleibt. Aber Beweise, sage ich Ihnen, Beweise! – Wahrhaftig! […] Sie haben mich beschwatzt; Sie haben die Gewandtheit gehabt, die schlechte Jahreszeit zu gewinnen; Sie haben die Zeit gehabt, Ihre Verhältnisse mit England auseinanderzusetzen. Ist es recht, dass ich die Strafe dafür leide, wenn, gegen die Treue der eingegangenen Verbindlichkeiten, dergleichen noch 24 Bericht des Konsuls Mahélin an den französischen Außenminister, 7. Juni 1810, zit. von ­Marzagalli (wie Anm. 16), S. 167. 25 Bericht des Polizeigeneraldirektors d’Aubignosc an Mahélin, 12. Juni 1810, zit. von S. ­Marzagalli (wie Anm. 16), S. 168. 26 Correspondance de Bernadotte, prince royal de Suède, avec Napoléon, depuis 1810 jusqu’en 1814, précédée de notices sur la situation de la Suède, depuis son élévation au trône des Scandinaves, pièces officielles recueillies et publiées par M. Bail, ancien inspecteur aux revues, membre de la Légion d’honneur, hg. v. Charles-Joseph Bail, Paris 1819, S. 57 f. Die folgenden Zitate ebd., S. 58 – 63.

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bestehen? […] Ja, der Ausfuhrhandel, das ist das Steckenpferd. Wo ist denn diese neu­ trale Flagge? Es gibt keine neutralen mehr! England erkennt keine mehr an! Ich will auch keine mehr anerkennen.“ Nach dieser langen Klage emotionalisierte der K ­ aiser laut Lagerbielkes Bericht die Lage: „– Leiden! Glauben Sie, dass ich nicht selbst leide; dass Frankreich, Bordeaux, Holland, Deutschland nicht leiden? Aber das Ende von allem ist genau d ­ ieses: ‚Der Seefrieden zu jedem Preise‘. ‚Ja, Schweden ist die einzige Ursache der Krise, ­welche ich leide‘, fuhr der ­Kaiser, sich noch mehr erhitzend, fort. ‚Schweden hat mir mehr Schaden getan, als die fünf Koalitionen zusammen. Aber jetzt, in alle seine Verbindungen mit dem übrigen Europa zurückgetreten, benutzt es dieselben, um mit England Handel zu treiben.“ Diese Anschuldigungen waren die Rechtfertigung für ein Ultimatum, das erst am Ende von Napoleons Tirade gestellt wurde: „Wählen Sie: Kanonenschüsse auf die Engländer, ­welche sich Ihren Küsten nähern, und die Konfiskation ihrer Waren in Schweden – oder den Krieg mit Frankreich. Ich kann Ihnen keinen großen Schaden tun; ich besetze Pommern, und Sie kümmern sich nicht viel darum. Aber ich kann Sie durch die Russen, durch die Dänen angreifen lassen; ich kann alle Ihre Schiffe auf dem Kontinente konfiszieren lassen, und ich werde es tun, wenn Sie nicht in vierzehn Tagen gegen England im Kriegsstande sind.“ Napoleon, der selbstgekrönte K ­ aiser der Franzosen, verlangte nun unbedingten Gehorsam, woraufhin Bernadotte antwortete, er sei kein Vasall des Kaisers der Franzosen. In der Folgezeit verschlechterten sich die diplomatischen Beziehungen z­ wischen Frankreich und Schweden zusehends. 1812 war das Verhältnis zu Frankreich wieder so angespannt wie 1805 unter dem franzosenfeindlichen Gustav IV . Adolf.27 Napoleon ließ daraufhin Pommern ein zweites Mal besetzen, und Schweden schloss sich der antifranzösischen Koalition an. Wie es zu ­diesem diplomatischen Bruch ­zwischen zwei alten Verbündeten kam und wie zwei Franzosen und ehemalige Kriegskameraden wie Bernadotte und Napoleon zu Erzfeinden wurden, diese Frage sollte in den Monaten und Jahren danach sowohl die französische als auch die schwedische Regierung nicht zur Ruhe kommen lassen. Eine Vielzahl von Publikationen zu ­diesem Thema entstand in ganz Europa. Deren Ziel war es, die Diplomatie des Gegenspielers zu diskreditieren. Wie und warum dies geschah, ist Thema des nächsten Abschnittes.

27 Dieser endgültige Bruch erfolgte durch einen Brief Bernadottes an Napoleon vom 11. Februar 1812. Der Brief ist veröffentlicht in: Recueil de lettres, proclamations et discours de Charles Jean, Prince royal et ensuite Roi de Suède et de Norvège, Bd. 1, Stockholm 1825, S. 55 f.: „Peu jaloux de la gloire et de la puissance qui Vous environnent, Sire, je le suis beaucoup de ne pas être regardé comme vassal. V[otre] M[ajesté] commande à la majeure partie de l’Europe, mais sa domination ne s’étend pas jusqu’au pays où j’ai été appelé“.

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3. Diplomatie, Diplomatik und Propaganda Anhand einer Flugschrift aus dem Jahr 1813 soll gezeigt werden, wie das Thema Diplomatie im Kontext der Auseinandersetzung ­zwischen Napoleon und Bernadotte benutzt wurde, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Anfang 1813 wurde ein „Bericht an S[ein]e Maj[estät] den König von Schweden, von Seinem Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, vom 7. Januar 1813“ von der Königlichen Schwedischen Buchdruckerei in Stockholm veröffentlicht.28 Das 37 Seiten umfassende Buch war zweisprachig – auf derselben Seite befanden sich eine in Französisch und eine in Deutsch verfasste Spalte.29 Die diplomatische Korrespondenz lief damals international in französischer Sprache. Diese Briefe waren extra für die Veröffentlichung übersetzt worden. Der Übersetzer war kein anderer als August von ­Kotzebue (1761 – 1819), eine der führenden Persönlichkeiten im Kampf gegen die französische Besetzung Norddeutschlands.30 Das Buch sollte „Bericht über die politischen Verhältnisse Schwedens mit Frankreich seit zwei Jahren [er]statten“. Diesem Bericht von Außenminister Lars von Engeström (1751 – 1826), der 14 Seiten lang war, folgten 17 genau datierte Aktenstücke. Darin fanden sich Briefe, die Engeström mit dem französischen Bevollmächtigten in Stockholm, Freiherr Charles-Jean-Marie d’Alquier (1752 – 1826), und seinem Geschäftsträger Auguste Sabatier de Cabre getauscht hatte. Die ersten Seiten des Buches riefen die Entwicklung der diplomatischen Beziehungen ­zwischen Schweden und Frankreich seit 1810 in Erinnerung. Bereits „im Laufe des Jahres 1810“ habe Frankreich „Kennzeichen des Übelwollens“ offenbart. Der französische Bevollmächtigte in Stockholm, d’Alquier, war dort äußerst herrisch aufgetreten. Nach einem Zwischenfall in Stralsund, bei dem klar war, dass französische Freibeuter Landsturmrekruten angegriffen hatten, hatte d’Alquier vom schwedischen König Satisfaktion gefordert.31 Von ­diesem Zeitpunkt an war d’Alquiers Verhalten zusehends beleidigend geworden. Bei einem königlichen Ball im Oktober 1811 blieb er demonstrativ sitzen, während der König noch stand. Kurz danach verließ er den Ball ohne den König zu begrüßen, was die anwesenden schwedischen Adligen sehr schockiert hatte und das diplo­matische Corps „entsetzte“.32 Ein anderes Mal wiederum ließ er sich bei einem Diner mit dem 28 Rapport à Sa Majesté le Roi de Suède par Son Ministre d’État et des Affaires étrangères, en date de Stockholm le 7 janvier 1813, hg. v. Lars von Engeström, Stockholm 1813. 29 Man findet aber auch andere (mindestens zwei) Ausgaben, alle aus dem Jahr 1813, nur in französischer Sprache. 30 Über Kotzebues politische Schriftstellertätigkeit siehe Christoph Jürgensen, Federkrieger: Autorschaft im ­Zeichen der Befreiungskriege, Stuttgart 2018, S. 145 – 182. 31 Correspondance de Bernadotte (wie Anm. 26), S. 42. 32 Note an das französische Außenministerium, veröffentlicht in: Napoléon et Bernadotte en 1811 d’après les documents inédits des Archives des Affaires étrangères, à Paris, hg. von Pierre Coquelle, Paris 1909, S. 39.

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russischen Gesandten in Stockholm, Alexander Iwanowitsch Tschernyschow (1785 – 1857), abwertend über Bernadotte aus: Dieser sei „ein hitzköpfiger Südländer, der allzu vulkanische Ideen hatte“.33 Dass es sich hierbei nicht um diplomatisches Fehlverhalten gehandelt hatte, bezeugt die Tatsache, dass d’Alquier trotz dieser Vorfälle von Napoleon nicht abberufen, sondern vielmehr befördert worden war: Er hatte nämlich die prestigeträchtigere Stelle in Kopenhagen erhalten. Darüber hinaus hatte ihm Napoleon erlaubt, Stockholm zu verlassen, ohne sich vom König zu verabschieden, was einer erneuten Erniedrigung gleichgekommen war. Daraus lässt sich schließen, dass hinter ­diesem Verhalten eine Strategie der öffentlichen Demütigung stand. In Frankreich war man nämlich über diese Provokationen d’Alquiers bestens informiert: Die französische Regierung unterhielt in Nordeuropa ein Informanten­ netz, das auch die französischen Diplomaten im Norden überwachte.34 Aus diesen gewollten publiken Erniedrigungen erklärt sich der Wille zur Öffentlichkeit der schwedischen Seite. Das zeigt sich eben in dem Bericht des schwedischen Außenministers, der mit einer interessanten Verknüpfung von Diplomatie und Öffentlichkeit begann. Da das Buch auf Befehl des Königs herausgegeben worden war, lobte Außenminister ­Engeström seinen Monarchen mit dem Argument: „Nichts ehrt eine Nation mehr, als wenn die Regierung ihre diplomatischen Verhandlungen zur allgemeinen Kenntnis bringt, und nichts dient besser die Übereinstimmung des Monarchen mit seinem Volke zu befestigen, als diese unverhohlene Mitteilung der Geheimnisse der Politik. […] Die Nation wird in den d ­ iesem Bericht angehängten Aktenstücken, ­welche ihr nach Eur[er] Maj[estät] Willen vorgelegt werden, den Gang kennen lernen, ­welchen die Regierung während des blutigen Schauspiels, das Europa fortdauernd verwüstet, beobachtet hat.“ 35 Die allgemeine Bekanntmachung der arcana imperii – der Geheimnisse der Staatsführung – wurden hier erstens als Beweis für gute Politik und zweitens als Garantie für gutes Einvernehmen z­ wischen einer Nation und ihrer Regierung stilisiert. Diese Behauptung kontrastierte stark mit der verfassungsrechtlichen Entwicklung in Frankreich unter ­Napoleon: Artikel 58 der Verfassung des Jahres 10 der Republik (1802) beauftragte einzig und allein den Staatschef mit der „äußeren Verteidigung des Reiches“. Napoleon führte nach 1805 zunehmend eine persönliche Diplomatie, was Konflikte mit seinem Außenminister Talleyrand (1754 – 1838) verursachte. Nachdem dieser 1807 aber entlassen worden war, wurden hauptsächlich fleißige Exekutoren der von Napoleon gewollten Politik auf ­diesem Posten ernannt.36 Diese Alleinherrschaft wurde von vielen Beobachtern als Grund für die französische Eroberungspolitik in ganz Europa gedeutet, was die oben zitierte Stelle 33 Ebd., S. 15: „En général, ajoute Tzernicheff dans son rapport au Tzar, Alquier s’exprima sur le compte du prince royal d’une manière tout à fait inconcevable, en disant: ,qu’au fond, c’était un bon diable, mais que c’était une tête du Midi, qui avait des idées trop volcaniques‘.“ 34 Ebd., S. 39. 35 Rapport à Sa Majesté le Roi de Suède (wie Anm. 28), S. 1. 36 Thierry Lentz, Napoléon diplomate, Paris 2012, S. 45 – 74.

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gut bezeugt. Die Transparenz der schwedischen Diplomatie wurde hingegen nicht nur als Geschenk an die schwedische Nation dargestellt, sondern auch als Mittel gegen „das blutige Schauspiel, das Europa fortdauernd verwüstet“. Die offene Haltung des schwedischen Königs machte aus ihm einen würdigen ­Vertreter der Ideen der Aufklärung und sogar der Französischen Revolution. Napoleon dagegen entwickelte sich zu einem reaktionären Despoten, der durch Geheimdiplomatie und blutige Eroberungen ganz Europa in den Abgrund zu stürzen drohte und die Ideale der Aufklärung verraten hatte. Auch die Gegenüberstellung beider Sprachen unterstrich die Vorstellung eines Gegensatzes ­zwischen der französischen und der schwedischen Politik. Mit seiner Übersetzung des Textes erlaubte Kotzebue allen deutschsprachigen Staatsmännern, die wahren Ziele der französischen Diplomatie zu durchschauen. Und das Mittel dieser Offenlegung war die deutsche Sprache, der so die Rolle einer Enthüllerin – heute würde man sagen einer „Whistleblowerin“ – zukam. Diese Art der Argumentation zugunsten einer Offenlegung diplomatischer Ziele war aber ein Erbe der Französischen Revolution; ein Erbe, das sich die Gegner Napoleons zu eigen machten. Im Mai 1790 hatte der Revolutionär Constantin-François Chassebœuf de La Giraudais Graf Volney (1757 – 1820) nämlich seine Amtskollegen der Verfassunggebenden Versammlung (Assemblée Constituante) ermahnt, auf die „geheimnisvollen Riten dieser schikanierenden Diplomatie“ zu verzichten, da diese „nur das Interesse von Häusern und Familien im Auge hat, ihr einziger Antrieb die Leidenschaften Einzelner sind und ihre Mittel nur aus Bestechungen und Intrigen bestehen“. Diese Tirade gegen die Diplo­matie im Stil des Ancien Régime ist im Übrigen nach dem neuesten Forschungsstand die erste überlieferte Aussage, die das Wort Diplomatie im modernen Sinne enthält.37 Bis 1789 benutzte man in ­diesem Zusammenhang vor allem die Wörter négociation und, um den Funktionsträger zu bezeichnen, je nach Rang, „Botschafter“ (ambassadeur), „Unterhändler“ (négociateur), „Gesandter“ (envoyé).38 Das Adjektiv diplomatique hingegen wurde bereits in seiner heutigen Bedeutung („diplomatisch“) verwendet, ohne jedoch dadurch seinen ursprünglichen Sinn verloren zu haben, und zwar als Synonym für Urkundenlehre. Diese enge etymologische Verknüpfung spiegelt sich im von Engeström herausgegebenen Buch wider, da in dessen Einführung auf die 17 angehängten „Aktenstücke“ als integrativer Bestandteil der „unverhohlene[n] Mitteilung der Geheimnisse der Politik“ ausdrücklich hingewiesen wurde. Durch geschickt gewählte Schriftstücke wurde bei den Lesern der 37 Volney spricht von einer „diplomatie tracassière n’ayant pour objet que des intérêts de maison et de famille, pour leviers que des passions d’individus, et pour moyens que des corruptions et des intrigues“. Vgl. Virginie Martin, Du noble ambassadeur au fonctionnaire public: l’invention du „diplomate sous la Révolution française“, in: L’identité du diplomate (Moyen Âge – XIXe siècle). Métier ou noble loisir?, hg. von Indravati Félicité, Paris 2020, S. 121 – 133, hier S. 123. 38 Karl Friedrich Reinhard, Le néologiste français ou vocabulaire portatif des mots les plus nouveaux de la langue française, avec l’explication en allemand et l’étymologie historique d’un grand nombre, Nürnberg 1796, S. 137.

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Eindruck erweckt, dass sie, wenngleich verzögert, den kompletten Ablauf der Gespräche ­zwischen der französischen und der schwedischen Regierung in diesen entscheidenden Monaten mitverfolgen könnten. Dass das Buch sicherlich nicht alle Aktenstücke beinhaltete, die damals ausgetauscht worden waren, trat dabei in den Hintergrund. Die Leser waren eher daran interessiert, diese wichtigen Ereignisse zu rekonstruieren als nach eventuell fehlenden Aktenstücken zu suchen. Veröffentlichungen solcher Art machten aus der Diplomatie ein wirksames Instrument des europäischen Propagandakrieges. Die Ziele ­dieses Krieges waren vielfältig, weil jede Partei sich der Propaganda bediente. Die schwedische Seite wollte damit beweisen, dass, genauso wie es einen „gerechten Krieg“ gebe, auch eine „gerechte Diplomatie“ existiere. Um dies zu beweisen, wurde am Ende des Buches ein wichtiger Unterschied ­zwischen Frankreich und Schweden herausgearbeitet, und zwar das wiederkehrende Motiv des diplomatischen Schweigens: „Man hatte sich bereits an den französischen Geschäftsträger, Herrn de Cabre, gewandt um eine Erklärung über die Einnahme von Pommern 39 zu verlangen. Man forderte ihn auf sich zu erklären, ob er in Stockholm sich befinde als Geschäftsträger einer befreundeten oder einer feindlichen Macht: da mehrere Monate ohne Antwort verflossen, und allerlei in Dunkel gehüllte und dem Völkerrecht nicht gemäße Anspinnungen [,intrigues‘ im französischen Original] stattgefunden hatten, so ward Hr. de Cabre zurückgeschickt.“ 40 Durch das bewusste Nichtantworten, durch das Schweigen brach Frankreich den diplo­matischen Austausch und verursachte somit die Ausweisung des Geschäftsträgers de Cabre aus Stockholm. Hier findet sich wieder das Bild des „In-Dunkel-Gehüllten“. Diese intransparente Haltung, das Schweigen, das Verweigern der Kommunikation, kam einem Völker­rechtsbruch gleich. Denn das diplomatische Schweigen kontrastierte, wenn man so will, hörbar mit der von den französischen Revolutionären geforderten Offen­ legung von diplo­matischen Fragen, dem zielorientierten Austausch von Gedanken und der damit einhergehenden Inflation an diplomatischen Diskursen. Gleichzeitig verstärkte das Schweigen die Möglichkeiten der antifranzösischen Propaganda für Schweden, das von der Veröffentlichung dieser Art von diplomatischen Austauschen nur profitieren konnte.

4. Schluss Zum Schluss gilt es, wieder auf die Einführungsfragen zurückzukommen: Hatte sich, wie Schlegel es behauptete, Europa 1813 derart verwandelt, dass keiner der alten Grundsätze der Diplomatie noch gültig war? Oder ist diese Behauptung auch Ausdruck des Zeitgeistes, der die Revolution unbedingt als Zäsur sehen wollte? Die Antwort liegt sicherlich dazwischen. Einerseits hielten die europäischen Staatsmänner an alten Regeln und Gepflogenheiten der Diplomatie fest: Zum Beispiel betrachtete man Diplomatie immer noch als ein Monopol 39 Es ging um die zweite Besetzung Pommerns durch die napoleonischen Truppen ab 1812. 40 Rapport à Sa Majesté le Roi de Suède (wie Anm. 28), S. 12.

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des Adels. So verlangte ein ehemaliger Revolutionär wie d’Alquier seine Erhebung in den Adelsstand, sobald er auf seinen ersten diplomatischen Posten berufen geworden war.41 Zudem hatten die europäischen Eliten – auch die neuen, die aus den Umwälzungen der Jahrhundertwende hervorgegangen waren – die Tatsache verinnerlicht, dass Französisch die Sprache der „großen Politik“ war.42 Andererseits hatten die Napoleonischen Kriege auch etwas Neues in die zwischenstaatlichen Beziehungen gebracht, nämlich eine Beschleunigung der europäischen Integration. Dies zeigte sich eben an der Wandlung in der öffentlichen Darstellung von Diplomatie: Es ging nicht mehr darum, die Staatsgeheimnisse als Symbole der Macht zur Schau zu stellen,43 sondern sie öffentlich und laut anzuprangern. Und genau darin hatte die französische Diplomatie versagt, was das Schweigen de Cabres auf eklatante Weise zeigte. Durch die Öffentlichkeit der diplomatischen Kommunikation hatte es sich als notwendig erwiesen, über die Mitwirkung von Literaten die diplomatischen Korrespondenzen und Gepflogenheiten in öffentlich wirksame Form zu übersetzen. Diese Übersetzung hatte zwei Dimensionen. Die erste entsprach der Übertragung in eine andere Sprache, die weniger elitär als die französische Hofsprache war. Hier kam der deutschen Sprache diese Rolle zu, bedeutete „deutsch“ etymologisch doch „vom Volke“.44 Die zweite Dimension war die Offenlegung einer breiten Leserschaft von Geschehnissen, die im Ancien Régime allenfalls einem kleinen Kreis von eingeweihten Staatsmännern vorbehalten gewesen war. Aus diesen Gründen kristallisierte sich über die Schriften der bedeutenden Literaten aus Norddeutschland, wie Schlegel, Kotzebue und nicht zuletzt Arndt, um die Geschichte Schwedisch-Pommerns ein Teil des Diskurses zu Nationalgefühl, zu politischer Identität und auch zu dessen Gegenteil, hier der französischen Alterität. Dies wiederum trug letztlich zu einem Fortdauern der geschichtlichen und nationalidentitären Relevanz Pommerns für Gesamtdeutschland bis heute bei, wie etwa die republikweite Aufmerksamkeit und Diskussion um den Namen der Universität Greifswald hervorragend bezeugt.

41 Dictionnaire des anoblis, 1270 – 1868, hg. v. Henri Gourdon de Genouillac, Paris 1875, S. 18. 42 Marc Fumaroli, Quand l’Europe parlait français, Paris 2003. 43 Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2004, S. 34 – 45. 44 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York 1975, S. 129.

„Ruhe des Nordens“ und „bewaffnete Neutralität“ Die Napoleonischen Kriege im Ostseeraum und Pommern aus russischer Perspektive Ralph Tuchtenhagen

Als sich der Große Nordische Krieg im Jahre 1721 seinem Ende zuneigte und sich die Herrscher Schwedens und Russlands im finnländischen Nystad (finn. Uusikaupunki) bereitfanden, ihre Unterschrift unter einen Vertrag zu setzen, der die militärische, wirtschaftliche und politische Erschöpfung Schwedens besiegelte, löste Russland seinen westlichen Nachbarn als Großmacht im Ostseeraum ab und bestimmte fortan die geopolitischen Leitlinien im Nordosten Europas. Zwar versuchte Schweden während des 18. Jahrhunderts, Russland in zwei Kriegen (1741 – 1743, 1788 – 1790) noch einmal in die Knie zu zwingen und seine im Baltikum und Südostfinnland an St. Petersburg verlorenen Besitzungen zurückzugewinnen. Doch verhinderte in beiden Fällen eine unzureichende militärische Vorbereitung Schwedens einerseits und das Eingreifen der wegen des transbaltischen Handels an einem politischen Gleichgewicht im Ostseeraum interessierten Seemächte Großbritannien und der freien Niederlande andererseits eine Veränderung des von Russland dominierten Machtsystems.1

1 Zur Stellung Russlands im Ostseeraum während des 18. Jahrhunderts vgl. in jüngerer Zeit: Göran Rystad, Klaus-Richard Böhme und Wilhelm M. Carlgren, In Quest of Trade and Security – The Baltic in Power Politics, 1500 – 1990, Bd. 1: 1500 – 1890, Lund 1994; David Kirby, The Baltic World 1772 – 1993: Europe’s Northern Periphery in an Age of Change, London etc. 1995, S. 13 – 29; Hamish M. Scott, The Emergence of the Eastern Powers, 1756 – 1775, Cambridge 2001; ders., The Birth of a Great Power System, 1740 – 1815, Harlow, New York 2006, S.  24 – 27, 150 – 156; Alan Palmer, Northern Shores: A History of the Baltic Seas and Its Peoples, London 2006, S. 137 – 156. Zu den schwedischen Revanchekriegen des 18. Jahrhunderts: Gunnar Artéus, Gustav III :s ryska krig, Stockholm 1992; Anssi Vuorenmaa, Kustaa III:n Venäjä: Ruotsin ja Suomen välinen sota Suomessa 1788 – 1790, in: Kustaa III:n sota ja Ruotsinsalmen meritaistelut, hg. v. Kymenlaakson maakuntamuseo, Kotka 1993, S. 59 – 71 (auch engl. King Gustavus III and Russia: The War between Sweden and Russia in Finland 1788 – 1790, in: The War of King Gustavus III and Naval Battles of Ruotsinsalmi, hg. v. P ­ rovincial Museum of Kymenlaakso, Kotka 1993, S. 61 – 73); Lars Ericson u. a., Svenska slagfält, Stockholm 2003, S. 359 – 365; Joachim Mickwitz, Jyrki Paaskoski, På vakt i öster 4: 1700-talet, Esbo 2004 (finn.: Itärajan vartijat. 4: 1700-luku, Espoo 2005); Nils Erik ­Forsgård, Maktbalans och stormaktskrig 1722 – 1814 (Krigen kring östersjön 5), Helsinki 2008; Hakkapeliitasta tarkk’ampujaan, hg. v. Jukka Partanen (Suomalainen sotilas 2), Helsinki 2010; Martin Peterson, Drömmen om stormakten Sverige: från Gustav III:s ryska krig 1788 – 1790 till kriget mot Norge 1814 (Stormaktstidens soldater i krig 4), Stockholm 2015; Stepanovna Špilevskaja, Opisanie vojny meždu Rossiej i Šveciej v Finljandii v 1741, 1742 i 1743 godach, Moskau 22017.

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1. Bis zum Frieden von Tilsit (1807): Die politischen Rahmenbedingungen des Nordens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Schon nach dem „Hüte-Krieg“ von 1741 bis 1743 hatten Russland, Schweden, Dänemark und Preußen versucht, die Ostsee durch wechselseitige und multilaterale Verträge in ein „Meer des Friedens“ (mare pacificum) zu verwandeln. Solche Absicherungs- und Isolationsversuche gegenüber den Staaten außerhalb des Ostseeraums wurden jedoch von den Briten regelmäßig durchkreuzt, vor allem weil sie fürchteten, durch eine wechselseitige Einigung der Ostseeanrainerstaaten selbst wirtschaftliche und politische Nachteile erleiden zu müssen und ihre neben den Niederländern führende Position im Ostseehandel zu verlieren. Divide et impera und balance of power 2 waren deshalb hier wie weltweit die entscheidenden Maximen der britischen Politik. Russland hingegen arbeitete seit 1763 unter der Führung von Kaiserin Katharinas II. (1729 – 1796, reg. 1762 – 1796) wichtigstem Mitarbeiter in außenpolitischen Angelegenheiten, Nikita Panin (1718 – 1783), an einem „Nordischen System“ (russ. severnaja sistema), in dem alle Mächte des Nordens (im alten Sinne des Wortes: Russland, Preußen, England, Polen, Dänemark, Schweden) unter der Ägide Russlands zusammengebunden werden sollten.3 2 Vgl. Heinz Sigfrid Koplowitz Kent, War and Trade in Northern Seas: Anglo-Scandinavian Economic Relations in the Mid-Eighteenth Century, Cambridge 1973; Jaap R. Bruijn, The Long Life of Treaties: The Dutch Republic and Great Britain in the Eighteenth Century, in: Navies in Northern Waters, 1721 – 2000, hg. v. Rolf Hobson und Tom Kristiansen (Cass Series – Naval Policy and History 26), London 2004, S. 41 – 59; Els S. van Eyck van ­Heslinga, A Competitive Ally: The Delicate Balance of Naval Alliance and Maritime Competition between Great Britain and the Dutch Republic 1674 – 1795, in: Navies and Armies: The Anglo-Dutch Relationship in War and Peace 1688 – 1988, hg. v. Gerard J. A. Raven und Nicholas A. M. Rodger, Edinburgh 1990, S. 1 – 11. Zur militärwirtschaftlichen Abhängigkeit Großbritanniens vom Ostseeraum vgl. Robert Greenhalgh Albion, Forests and Sea Power: The ­Timber Problem of the Royal Navy, 1652 – 1862, Cambridge/Mass. 1926, S. 139 – 199; Roger Charles Anderson, Naval Wars in the Baltic during the Sailing Ship Epoch, 1522 – 1850, Princeton/NJ 1910, S.71 – 221. Allgemein zur Geschichte der britischen balance-of-power-Konzeption v. a. im 18. Jahrhundert vgl. Michael Sheehan, The Balance of Power: History and Theory, London 2000, S. 98 – 121. 3 Vgl. Fritz Arnheim, Beiträge zur Geschichte der nordischen Frage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2 (1889), S. 410 – 443; Erik Amburger, Rußland und Schweden 1762 – 1772. Katharina II., die schwedische Verfassung und die Ruhe des Nordens, Berlin 1934; P. A.Aleksandrov, Severnaja sistema, Moskau 1914; Knud Rahbek-Schmidt, Wie ist Panins Plan zu einem Nordischen System entstanden?, in: Zeitschrift für Slawistik, 2 (1957), S. 406 – 422; David M. Griffiths, The Rise and Fall of the Northern System: Court Politics and Foreign Policy in the First Half of ­Catherine’s II Reign, in: Canadian Slavic Studies 4 (1970), S. 547 – 569; Jörg Philipp Lengeler, Das Ringen um die Ruhe des Nordens. Großbritanniens: Nordeuropa-Politik und Dänemark zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 18), Frankfurt/M. etc. 1998; Hans Bagger, The Role

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Dieses Bündnissystem an Russlands Nordwestflanke richtete sich vor allem gegen die in russischer Interpretation kriegstreiberische Politik der zentral- und westeuropäischen Staaten, deren Kern der französisch-habsburgische und seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch der preußisch-habsburgische Gegensatz waren. Das militärisch-strategische Ziel war die Verhinderung von Mehrfrontenkriegen. Insbesondere wollte die St. Petersburger Regierung den Rücken frei haben für die im 18. Jahrhundert chronisch virulente Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich. Dazu kam die in dieser Zeit zunehmende Kapertätigkeit auf den Weltmeeren, von der – inoffiziell – insbesondere Großbritannien profitierte. Vor ­diesem Hintergrund fanden sich im Jahre 1780 Russland, Schweden und Dänemark zu einer gemeinsamen „Deklaration über die bewaffnete Neutralität zur See“ zusammen, deren wichtigste Punkte bestimmten: 1.  Neutrale Schiffe dürfen Häfen kriegführender Parteien ungehindert anlaufen. 2.  Das Eigentum kriegführender Parteien auf neutralen Schiffen (Ausnahme: Konterbande) ist geschützt. 3.  Als Konterbande gelten alle militärischen Güter (z. B. Waffen, Munition). 4.  Als blockiert gilt ein Hafen, wenn er de facto von feindlichen Kriegsschiffen kontrolliert wird. 5.  Bei der Anerkennung der Legalität einer „Prise“ (Aufbringen von Schiffen) sind diese Grundsätze zugrunde zu legen; die Seestreitkräfte neutraler Staaten übernehmen den Schutz des Seehandelsverkehrs.4



of the Baltic in Russian Foreign Policy 1721 – 1773, in: Imperial Russian Foreign Policy, hg. v. Hugh R ­ agsdale, Cambridge 1993, S. 36 – 72; Hans Bagger, Dansk-russiske forbindelser i 1700-tallet, in: Danmark og Rusland i 500 år, hg. v. Svend Aage Christensen und Henning Gottlieb, København 22010, S. 62 – 84. Zur Kontinuität der St. Petersburger Außenpolitik im Ostseeraum: Otto Brandt, Das Problem der „Ruhe des Nordens“ im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, 140 (1929), S. 550 – 565; Alan Palmer (wie Anm. 1), S. 137 – 156; Lars Bangert Struwe, Allieret eller neutral? Dansk sikkerhedspolitik 1740 – 1807, in: Danmark og Napoleon, hg. v. Eric Lerdrup Bourgois und Niels Høffding, Højbjerg 2007, S. 17 – 32; Scott, Birth (wie Anm. 1), S. 150 – 156. 4 Vertrag vom 27. Februar (neuer Stil) bzw. 9. März (alter Stil) 1780. Text abgedruckt in: A Collection of Public Acts and Papers: Relating to the Principles of Armed Neutrality, Brought forward in the Years 1780 and 1781, London 1801; Official Documents Bearing on the Armed neutrality of 1780 and 1800 (Pamphlet Series of the Carnegie Endowment for International Peace. Division of International Law 27), Washington D. C. 1917, S. 23 – 66; Convention Signed between His Britannic Majesty, and the Emperor of Russia at St. Petersburgh the 5/17 June 1801, and Extracts from the Two Conventions of Armed Neutrality Concluded in 1780 and 1800 (French and English), London 1801; vgl. Sir Francis Piggott and G. W. T. Omond, Documentary History of the Armed Neutralities 1780 and 1800. Together with Selected Documents Relating to the War of American Independence 1776 – 1783 and the Dutch War 1780 – 1784 (Law of the Sea Series 1), London 1919; Isabel de Madariaga, Britain, Russia and the Armed Neutrality of 1780: Sir James Harris’ Mission to St. Petersburg during the American Revolution, New Haven 1962. Zum allgemeinen Kontext vgl. Carl Jacob Kulsrud, Maritime Neutrality to 1780: A History of the Main Principles Governing Neutrality and Belligerency to 1780, Boston 1936.

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In der Konsequenz richteten die drei vertragschließenden Staaten einen gemeinsamen Patrouillendienst zur See ein, der ­später auch von weiteren Mitgliedern des Bündnisses genutzt werden konnte. Die Konsequenz dieser Machtagglomeration im Norden waren eine vorhersehbare rapide Verschlechterung der russisch-britischen Beziehungen und eine Verschärfung der Konflikte außerhalb der von Patrouillenschiffen kontrollierten Seegebiete. Die Anerkennung der von Großbritannien abgefallenen USA durch Russland ein Jahr nach Beendigung des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges (1775 – 1783) machte das Verhältnis der beiden Staaten zueinander nicht besser.5 Russland, Preußen, Schweden und Dänemark erneuerten deshalb im Jahre 1800 die Neutralitätsdeklaration, die sich im Zeitalter der Napoleonischen Kriege nun allerdings nicht mehr allein gegen die Kapertätig­keit Großbritanniens und den Landkrieg, sondern auch gegen die Flottenaktivitäten Frankreichs und anderer Seemächte richtete.6 Als Russland allerdings am 8. Oktober 1801 aus der Zweiten Koalition (1798 – 1802) gegen Napoleon ausscherte, einen Friedensvertrag mit Frankreich schloss und damit die Kontinentalblockade gegen Großbritannien einleitete, die eine Schließung aller europäischen Häfen für englische Im- und Exporte bedeutete,7 geriet das nordeuropäische Neutralitätsbündnis in den Strudel einer volatil gewordenen europäischen Allianzpolitik: Großbritannien versuchte deshalb, das „Nordische System“ an seinem schwächsten Punkt zu treffen, und verlangte von Dänemark, dessen Handel stark vom britischen Markt abhängig war, den sofortigen Austritt aus dem Neutralitätsbündnis. Erwartungsgemäß weigerte sich die dänische Regierung, dieser Forderung nachzukommen. Der Verlust der Neutralität würde, so das Kalkül Kopenhagens, einen militärischen Konflikt 5 Vgl. Thorvald Boye, De væbnede neutralitetsforbund: Et avsnit av folkerettens historie, København 1912, S. 139 – 213; Herbert Wrigley Wilson, The Armed Neutrality, 1780 – 1801. Section II. Naval operations (1800 – 1801). The Command of the Sea, 1803 – 1815, in: John Emerich Edward Dalberg Baron Acton, The Cambridge Modern History, Bd. 9: Napoleon, hg. v. Adolphus William Ward, George Walter Prothero and Stanley Leathes, Cambridge 1934, S.  103 – 121; Thomas Alfred Walker, The Armed Neutrality, 1780 – 1801: The Baltic Powers, in: ebd., S.  172 – 180; Piggott and Omond (wie Anm. 4); C. C. Lloyd, Navies, War and Peace in a Time of Upheaval, hg. v. Charles William Crawley (The New Cambridge Modern History 9), Cambridge 1965, S. 76 – 90 (auch als Digitalisat, letzter Zugriff: 24. 04. 2020). 6 Text abgedruckt in: Official Documents Bearing on the Armed Neutrality (wie Anm. 4), S. 157 – 117; Convention Signed […] at St. Petersburgh (wie Anm. 4); vgl. Piggott and Omond (wie Anm. 4); Seved Johnson, Neutralitetsförbundet 1800 i sitt storpolitiska sammanhang, in: Historisk tidskrift (S) 73 (1953), S. 313 – 327. 7 Russisch-französischer Friedensvertrag von Paris (08. 10. 1801), abgedruckt in: Vnešnajaja politika Rossii XIX i načala XX veka. Dokumenty Rossijskogo Ministerstva inostrannych del. Serija pervaja, Bd. 1, Moskau 1963, S. 26 – 31; Sobranie traktatov i konvencij, zaključennich Rossieju s inostrannymi deržavami / Recueil des Traités et Conventions conclus par la Russie avec les puissances étrangéres, hg. v. Fedor Fedorovič [George Frédéric de] Martens, Bd. 13: Traktaty s Francieju / Traités avec la France 1717 – 1807, St. Petersburg 1902, S. 263 – 270; vgl. Andrej A. Lobanov-Rostovskij, Russia and Europe 1789 – 1825, Durham N. C. 1947, S. 89; vgl. Clas Theodor Odhner, Gustaf III:s besök i Köpenhamn 1787 och förslag till ett skandinavisk förbund, in: Historisk tidskrift, 1 (1881), S. 161 – 194.

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mit Frankreich und Russland heraufbeschwören. Gleichzeitig standen schwedische Truppen, die ein Ausscheren aus dem Neutralitätsbündnis verhindern oder bestrafen sollten, bereits an der Grenze zu Norwegen, um bei einem britischen Schlag gegen Dänemark Norwegen für Schweden zu besetzen. Und sollte Preußen das dänische Jütland erobern – was wahrscheinlich war –, hätte die französisch-russische Koalition die Ostsee für Großbritannien sperren und auf diese Weise die Kontinentalblockade auf Kosten Dänemark-Norwegens durchsetzen können. Die Londoner Reaktion auf die dänische Weigerung kam prompt, weil von längerer Hand vorbereitet: Am 12. März 1801 entsandte die britische Regierung ein Eskader unter Admiral Hyde Parker (1739 – 1807) und Horatio Nelson (1758 – 1805) nach Seeland. In der darauffolgenden „Schlacht auf der Reede“ (dän. Slaget på Reden) am 2. April 1801 konnten die Briten zwar keinen klaren Sieg erringen, doch hatte sich die internationale politische Lage inzwischen grundlegend zu ihren Gunsten verändert: Nachdem London am 21. März 1801 Friedensverhandlungen mit Paris eingeleitet hatte, schickte man am 24. März einen britischen Kurier nach Russland, um zu einer politischen Einigung mit dem Zaren zu kommen. Dass Zar Paul I. (1754 – 1801, reg. 1796 – 1801) kurz zuvor ermordet worden war, sollte sich dabei keineswegs als Nachteil herausstellen. Pauls Nachfolger, Alexander I. (1777 – 1825, reg. 1801 – 1825), gab die Koalition mit Napoleon bereitwillig auf, um seine Regentschaft nicht mit einer schweren außenpolitischen Bürde antreten zu müssen, und schloss ein Neutralitätsabkommen mit Großbritannien – beides letztlich auch, um den Staatssäckel zu schonen und die russische Außenpolitik neu zu sortieren. Zum Zeitpunkt der Kopenhagener Seeschlacht wussten allerdings weder Parker und Nelson noch die Dänen von den britisch-russischen Winkelzügen. Als die dänische Regierung am 8. April schließlich die Nachricht vom Tod des Zaren erhielt, war in Kopenhagen klar, dass der Neutralitätsbund des Jahres 1800 faktisch keinen Bestand mehr hatte. Der am folgenden Tag geschlossene Waffenstillstand ­zwischen Dänemark und Großbritannien bestätigte zwar die Neutralität Dänemarks, ließ das Land jedoch mit Schweden im Chaos der Koalitionskriege allein. In dem ein halbes Jahr s­ päter geschlossenen dänisch-britischen Friedensvertrag vom 23. Oktober 1801 verlor Dänemark deshalb seine gesamte Kriegsflotte an Großbritannien. Die stolze Kolonial- und Handelsmacht sollte Jahre brauchen, bis sie ihren Außenhandel mit bewaffneten Konvois wieder effektiv s­chützen konnte. Und an eine aktive Kriegführung war nicht einmal mehr zu denken.8 8 Northern Waters: 1801, in: Nelson, the New Letters, hg. v. Colin White, Suffolk 2005. S. 245 – 270; vgl. Lars Lindeberg, De så det ske. Englandskrigene 1801 – 14: Slaget på Reden, Guldalder, Statsbankerot, København 1974, S. 14 – 17; Ole Feldbæk, Denmark and the Armed Neutrality 1800 – 1801: Small Power Policy in a World War, København 1980; ders., Slaget på Reden, København 1985 (ND 2001); ders., The Battle of Copenhagen 1801: Nelson and the Danes, Barnsley 2002; Digby George Smith, Navies of the Napoleonic Era, Atglen/Pa. 2004, S.  82 – 88; Gareth Glover, The Two Battles of Copenhagen 1801 and 1807: Britain and Denmark in the Napoleonic Wars, Barnsley 2018, S. 64 – 83; Andrew Lambert, Two Battles of Copen­ hagen 1801 and 1807: Britain and Denmark in the Napoleonic Wars, in: The Mariner’s Mirror, 105 (2019), S. 96 – 98; Dudley Pope, The Great Gamble: Nelson at Copenhagen, London 2001;

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Diese Misere hing aber nicht nur mit den Briten, sondern auch mit der Haltung der Stockholmer Regierung zusammen. Der schwedische König Gustav IV . Adolf (1778 – 1837, reg. 1792 – 1809) hatte den britisch-dänischen Waffenstillstand des Jahres 1801 zu seinen Gunsten interpretiert, von einem Verrat der Dänen am Neutralitätsbündnis gefaselt und alles getan, um Dänemark beim neuen Zaren zu desavouieren. Außerdem schmiedete man in Stockholm Pläne, die darauf abzielten, zunächst Norwegen und ­später Kopenhagen anzugreifen und damit eine Konzeption umzusetzen, die Schweden schon im 17. Jahrhundert unter Karl X. Gustav (1622 – 1660, reg. 1654 – 1660) verfolgt hatte, nämlich die Auslöschung oder zumindest massive territoriale Beschneidung Dänemarks zugunsten einer Expansion Schwedens. Zusammen mit dem finnischen Reichsteil hätte dies zum Aufstieg Schwedens als einer nordeuropäischen Großmacht geführt, die nicht nur den nördlichen Teil des südlichen Ostseeraumes, sondern auch die Zugangswege ­zwischen Nord- und Ostsee kontrolliert hätte. Russland, das seit den Tagen Peters des Großen genau aus ­diesem Grund eine Allianzpolitik mit Dänemark verfolgt hatte, wäre auf diese Weise in die Gewässer des Finnischen Meerbusens zurückgedrängt worden und hätte seine Herrschaft auf den Weltmeeren nur noch kostenintensiv und logistisch aufwändig über das Eismeer oder den Fernen Osten verteidigen können. Vielleicht hätte Schweden sogar sein seit den Tagen von Nystad verlorenes Dominium maris Baltici erneuern können. Über Planspiele kamen s­olche außenpolitischen Dessins allerdings nicht hinaus. Faktisch behielt Russland im Ostseeraum das Heft des Handelns fest in der Hand. Dänemark und Schweden mussten sich in ihrer Außenpolitik weiterhin nach den Vorgaben Russlands richten. Als der Zar offiziell auf die auf Großbritannien zielenden Klauseln des Neutralitätsbundes von 1800 verzichtete, blieb den beiden Ostseemächten deshalb nichts weiter übrig als sich anzuschließen. Vorerst schien das Mantra der russischen Ostseepolitik, die „Ruhe des Nordens“, also weiterhin Wirkung zu zeigen.9

2. Der „Pommersche Krieg“ (1805 – 1807) Mit dem Dritten Koalitionskrieg (1805) allerdings, der Napoleon die Herrschaft über Mittel­europa bringen und zur Bildung des Rheinbundes (12. Juli 1806) führen sollte, war es mit der Ruhe vorbei. Zwar waren Russland und Schweden – zusammen mit dem Habsburgerreich und Großbritannien Teil der antinapoleonischen Koalition – von den großen militärischen Ereignissen nur am Rande betroffen (diese spielten sich vor allem in Otto von Pivka, Navies of the Napoleonic Era, New York 1980, S. 58 – 88; Henning Søby Andersen, En lus mellem to negle: dansk-norsk neutralitetspolitik 1801 – 1807, Odense 1991. 9 Vgl. Søby Andersen (wie Anm. 8), S. 22. Zum weiteren Kontext vgl. Karl V. Key-Åberg, De diplomatiska förbindelserna mellan Sverige och Storbritannien under Gustav IV Adolfs krig emot Napoleon intill konventionen i Stralsund d. 7 sept 1807, Uppsala 1890. Zur „Ruhe des Nordens“ Amburger (wie Anm. 3); Lengeler (wie Anm. 3); Brandt (wie Anm. 3).

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Süddeutschland, Italien und auf den Meeren ab). Doch hatte Schweden Großbritannien und Russland das Recht eingeräumt, Schwedisch-Pommern als Aufmarschgebiet gegen die Franzosen zu ­nutzen. Großbritannien schickte nur ein kleineres Truppenkontingent, bezahlte an Schweden jedoch umfangreiche Subsidien zum Ausbau der pommerschen Verteidigungsanlagen. Russlands Truppenstärke war hingegen beträchtlich. Beide Kontingente fasste man mit britischen und schwedischen Einheiten unter dem Oberbefehl Gustavs IV. Adolf zu einem gemeinsamen Armeekorps zusammen.10 Ziel der britisch-russisch-schwedischen Truppenkonzentration in Schwedisch-Pommern war ein Angriff auf das Kurfürstentum Hannover, das, seit 1714 in Personalunion mit der englischen Krone vereint, von französischen Truppen besetzt war; außerdem die Befreiung der Niederlande von französischer Okkupation.11 Der pommersche Feldzug verlief jedoch anders als geplant. Gustav IV. Adolf überwarf sich während der Vorbereitung des Feld­zuges mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1770 – 1840, reg.  1797 – 1840), weil dieser mit Napoleon diplomatische Gefälligkeiten austauschte – und schuf sich dadurch neben Frankreich einen Feind in direkter Nachbarschaft zu den schwedisch-pommerschen Besitzungen.12 Hinzu kam, dass Preußen schon seit den Tagen des Westfälischen Friedens (1648) als Konkurrent Schwedens in der Pommernfrage agierte. Jederzeit konnte eine kleine diplomatische Unstimmigkeit zum Grund für einen preußischen Angriff auf Schwedisch-Pommern werden, wenn die Umstände günstig schienen. Deshalb mussten die in Pommern stationierten Truppen nun sowohl als Angriffs- wie als Verteidigungsarmee organisiert werden. In der Folge geriet der Angriff auf Hannover ins Stocken. Ein Teil der schwedischen Angriffstruppen wurde abgezogen und nach Schwedisch-Pommern zur Verteidigung gegen einen möglichen preußischen Angriff zurückbeordert. Allerdings kam es nur zu einigen kleineren schwedisch-preußischen Gefechten um die hannoversche Enklave Lauenburg, die schließlich von schwedischen Truppen besetzt wurde. Der Koalition fehlte trotz eines hinzustoßenden englisch-deutschen Korps die Schlagkraft gegen die französischen Besatzungstruppen in den hannoverschen Gebieten. Der Feldzug fiel in

10 Vgl. Sten Carlsson, 1792 – 1810 (Den svenska utrikespolitikens historia, Bd. 3/1), Stockholm 1952, S. 351; Ulf Sundberg, Svenska krig 1521 – 1814, Hargshamn 1998, S. 358. Zu den innerpommerschen militärischen Entwicklungen vgl. Theodor Pyl, Der Französische Krieg und der Übergang Rüg. Pommerns an Preussen (Pommersche Geschichtsdenkmäler 6), Greifswald 1889, S. 113; Lars Dalgren, Sverige och Pommern 1792 – 1806: Statskuppen 1806 och dess förhistoria, Uppsala 1914 (dt.: Pommern und Schweden 1792 – 1806. Der Staatsstreich 1806 und dessen Vorgeschichte, Greifswald 1916, in: Pommersche Jahrbücher, 17 (1916), S. 1 – 199), hier S.102 – 116; Oskar Eggert, Besatzungszeit in Pommern 1806 – 1808, Hamburg 1954. 11 Zur „Franzosenzeit“ im Kurfürstentum Hannover vgl. Helmut Stubbe da Luz, „Franzosenzeit“ in Norddeutschland (1803 – 1814). Napoleons Hanseatische Departements, Bremen 2003, S. 83. 12 Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, S. 180 – 191.

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sich zusammen, Napoleons überwältigender Sieg in Austerlitz (2. Dezember 1805) tat ein Übriges, um alle weiteren Pläne in der hannoverschen Frage in Makulatur zu verwandeln.13 Auch Dänemark musste nun seinen seit der Katastrophe von 1801 verfolgten neutralen Kurs aufgeben. Mit der Bildung des Rheinbundes im Juli 1806 verlangte der französische ­Kaiser vom dänischen König Christian VII. (1749 – 1808, reg. 1766 – 1808), das ehemals zum Heiligen Römischen Reich gehörende Herzogtum Holstein dem Rheinbund anzugliedern. Hierbei kam Dänemark trotz seiner Weigerung und mit Hilfe einer Truppenmobilisierung in den Herzogtümern noch ungeschoren davon.14 Nur einige Monate ­später jedoch, als sich Berlin im Rahmen der Vierten Koalition nach dem französischen Sieg über Preußen erzwungenermaßen der Kontinentalblockade gegen Großbritannien anschließen musste (21. November 1806) und dieser Schritt von den Briten prompt mit einer Blockade gegen Frankreich (7. Januar 1807) beantwortet wurde, geriet Dänemark ­zwischen die Fronten eines Handelskrieges, in dem Neutralität ökonomischer Selbstmord bedeutet hätte.15 Napoleon hatte Dänemark und Preußen spätestens zu ­diesem Zeitpunkt aus der russischen Einflusssphäre herausgebrochen und sie zu einem Bestandteil seines eigenen machtpolitischen Gravitationssystems gemacht. Anfang 1807 besetzten französische Truppen Schwedisch-Pommern, das nach dem Debakel der Dritten Koalition nicht mehr zu verteidigen war. Die langwierige Belagerung des letzten schwedischen Rückzugspostens Stralsund, die sich ­zwischen Januar und August 1807 hinzog, endete trotz zwischenzeitlicher Entsatzversuche Preußens und Großbritanniens (April/Juni 1807) mit dem Verlust der Provinz (einschließlich Rügens), die bis 1810 fest in französischer Hand blieb.16 Eine zwischenzeitliche Rückeroberung durch Preußen unter Ferdinand von Schill (1776 – 1809) im Jahre 1809 konnte daran nicht grundsätzlich 13 Vgl. Gustaf Björlin, Sveriges krig i Tyskland åren 1805 – 1807, Stockholm 1882; Carlsson (wie Anm. 10), S. 99 – 105; Martin Wehrmann, Geschichte von Pommern, Bd. 2, Gotha 1921, S. 269 (ND Würzburg 1992); Sundberg (wie Anm. 10), S. 358 – 362; vgl. Stamm-Kuhlmann (wie Anm. 12), S. 192 – 202. 14 Gesetze und Gewohnheitsrechte in Holstein blieben jedoch unangetastet. Vgl. Franklin Kopitzsch, Schleswig-Holstein im Gesamtstaat 1721 – 1830: Absolutismus, Aufklärung und Reform, in: Geschichte Schleswig-Holsteins: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Ulrich Lange, Kiel 1996, S. 281 – 332, hier S. 285; Jann MarkusWitt, Frieden, Wohlstand und Reformen. Die Herzogtümer im dänischen Gesamtstaat, in: Schleswig-Holstein von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, hg. v. dems. und Heiko Vosgerau, Kiel 2002, S. 221 – 261, hier S. 256; Olaf Klose und Christian Degn, Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1721 – 1830 (Geschichte Schleswig-Holsteins 6), Neumünster 1960, S. 161 – 427; Ole Feldbæk, Revolutionskriege und Gesamtstaat. Das Ende der Neutralitätspolitik, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, 116 (1991), S. 107 – 123. 15 Zum breiteren Kontext vgl. Diedrich Saalfeld, Die Kontinentalsperre, in: Die Auswirkungen von Zöllen und anderen Handelshemmnissen auf Wirtschaft und Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Hans Pohl, Stuttgart 1987, S. 121 – 139. 16 Précis historique de la campagne faite en 1807 dans la Poméranie suedoise par le corps d’obser­ vation de la Grande-Armée, commandé par le maréchal Brune […], Limoges 1825 (auch als Digitalisat, letzter Zugriff: 18. 04. 2020); Michael Handwerg, Die Belagerung der Festung

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etwas ändern.17 Erst der Friedensschluss z­ wischen Schweden und Frankreich im Januar 1810 brachte Pommern wieder an Schweden zurück. Eine spätere Truppeneinquartierung unter dem französischen Militärgouverneur Joseph Morand (1757 – 1813) ­zwischen Januar 1812 und März 1813 blieb Episode.18

3. Von Tilsit nach Fredrikshamn (1807 – 1809) Die Ereignisse des Jahres 1807 hatten zum Zusammenbruch des russischen „nordischen Systems“ geführt. Mit der französischen Bedrohung Holsteins und der Besetzung Schwedisch-Pommerns sowie der preußischen Niederlage gegen Napoleon war eine Neuauflage des Neutralitätsbundes unmöglich geworden. Außerdem war der der preußischen Niederlage folgende Friede zu Tilsit z­ wischen Napoleon, Alexander I. und Friedrich Wilhelm III. vom 7./9. Juli 1807 für die politischen Verhältnisse im Ostseeraum von größter Bedeutung und bestimmte die Politik Russlands in den folgenden Jahren entscheidend. Wichtig wurden dabei zwei Punkte:19 Stralsund 1807 und deren Folgen für Vorpommern: Tagebuchaufzeichnungen eines Vertrauten (Pommern. Geschichte Mythen Ereignisse, Bd. IV), Stralsund 2009. 17 Wenn auch der Name Schill in der Emphase der deutschen und besonders borussischen nationalromantischen Bewegung des 19. Jahrhunderts einen besonderen Wohlklang besaß, bedeutete die Rückeroberung Stralsunds für die weitere allgemein- und militärgeschichtliche Entwicklung der schwedisch-pommerschen Gebiete wenig. Vgl. Andreas Önnerfors, Slutakten: napoleon­ krigen och övergången till Preussen, in: ders., Svenska Pommern: kulturmöten och identifikation, 1720 – 1815, Lund 2003, S. 449 – 485; Frank Bauer, Schills Zug 28. April – 31. Mai 1809: Hoffnung und Scheitern eines Aufstandsversuches (Kleine Reihe Geschichte der Befreiungskriege 1813 – 1815 26), Potsdam 2009; Hans-Joachim Hacker, Schill und Stralsund, in: Für die Freiheit – gegen Napoleon: Ferdinand von Schill, Preußen und die deutsche Nation., hg. v. Veit Veltzke, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 391 – 400. 18 Ulf Sundberg, Svenska freder 1249 – 1814, Stockholm 2002, S. 351 (zum Frieden von 1810); Georg Swederus, Sveriges krig och politik åren 1808 – 1815, Stockholm 1864, S. 260 – 275; ­Reinhard Kusch, Stralsund von 1720 bis 1815, in: Geschichte der Stadt Stralsund, hg. v. ­Herbert Ewe (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund X), Weimar 1984, S. 202 – 233, hier S. 232; Horst Auerbach, Festung und Marinegarnison Stralsund, Rostock 1999, S. 13 f.; vgl. Andreas Önnerfors, Svenska Pommern (wie Anm. 17), S. 449 – 484; Schwedisch-deutsche Regimenter der Garnisonsstadt Stralsund, hg. v. Senat der Hansestadt Stralsund (Sundische Reihe 5), Stralsund 1990, S. 26. 19 Der Friedensvertrag ist abgedruckt in: Gesetz-Sammlung für die Königlich-Preußischen Staaten […], Bd. 1 (1806 – 1810), Berlin 1866 – 1867, S. 153 – 164; auch in: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß 1789 – 1815, hg. v. Walter Demel und Uwe Puschner (Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung 6), Stuttgart 1995, S. 52 – 56; Französische Fassung: Albert Vandal, Napoléon et Alexandre: L’alliance russe sous le premier empire, Bd. 1, Paris 31893, S. 499 – 504 (auch als Digitalisat, letzter Zugriff: 16. 04. 2020); Napoleonische Friedens­verträge. Campo Formio 1797, Lunéville 1801, Amiens 1802, Pressburg 1805, Tilsit 1807, Wien-Schönbrunn 1809, bearb. v. Peter Hersche (Quellen zur neueren Geschichte 5), Bern 21973, S. 45 – 52 (auch als Digitalisat, letzter Zugriff: 24. 04. 2020).

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1.  Russland erhielt Neuostpreußen, erkannte Napoleons Brüder als Herrscher in den von Napoleon geschaffenen neuen Republiken bzw. Königreichen an und trat der Kontinentalsperre gegen Großbritannien bei. 2.  Preußen verlor seine westelbischen Besitzungen und die polnischen Teilungsgebiete (= Geburtsstunde des „Herzogtums Warschau“) – und fiel damit als Machtfaktor im Ostseeraum zunächst aus. Dem Friedensvertrag folgte noch am 7. Juli ein Geheimabkommen, in dem Russland und Frankreich Europa in Interessensphären aufteilten. Dabei verpflichtete sich Russland, Schweden und Dänemark in die Kontinentalblockade gegen Großbritannien zu zwingen, falls Großbritannien nicht vor dem 1. Dezember 1807 Frieden schloss. Sollte dies nicht gelingen, sollten Schweden und Dänemark als Feinde Russlands und Frankreichs gelten.20 Man kann diese Klausel auch so interpretieren, dass Napoleon, der den Einfluss Russlands auf seine früheren Allianzpartner natürlich gut kannte, versuchte, die russische Dominanz im Ostseeraum für seine Zwecke zu ­nutzen. Ein dänisch-schwedisch-preußisches Bündnis gegen Frankreich und Russland schien angesichts der desolaten Situation der preußischen Truppen und Finanzen unwahrscheinlich und galt als vernachlässigbares Risiko. Als der Tilsiter Friedensvertrag, und wohl auch das Geheimabkommen, in London bekannt wurden, stellte die britische Regierung Kopenhagen ein Ultimatum, indem sie verlangte, Dänemark solle sich entweder auf die Seite Großbritanniens stellen oder die Kriegsflotte als Garantie für seine Neutralität ausliefern. Man befürchtete, Dänemark könne von französischen und russischen Truppen besetzt werden und/oder Frankreich sich der dänischen Flotte bemächtigen. Dänemark verweigerte sich dem Ultimatum dann vor allem deshalb, weil es fürchtete, ohne seine Kriegsflotte erst recht zur Beute der französisch-russischen Koalition zu werden.21 Und die Aussicht, Dänemark werde im Falle eines dänisch-britischen Bündnisses von der britischen Flotte verteidigt, schien der Kopenhagener Regierung mehr als abenteuerlich. Die Folge der dänischen Widerspenstigkeit vorherzu­ sagen, war kein Hexenwerk: Vom 2. bis 5. September 1807 kreuzten Schiffe der Royal Navy im Öresund, legten die dänische Hauptstadt in dem im dänischen kollektiven Gedächtnis bis heute traumatisch gebliebenen „Bombardement von Kopenhagen“ in Schutt und Asche und erzwangen die Auslieferung der dänischen Kriegsflotte mit geöffneten Stückpforten.22 20 Das Geheimabkommen, abgedruckt in Vandal (wie Anm. 19), S. 504 f., wurde in der „Erfurter Konvention“ vom 12. Oktober 1808 nachträglich formalisiert und im Detail geregelt. Die Erfurter Konvention ist abgedruckt in: Recueil des traités de la France (1713 – 1893), hg. v. ­Alexandre Jehan Henry de Clercq, Bd. 2: 1803 – 1815, Paris 1864, S. 284 – 286 (auch als Digitalisat, letzter Zugriff: 24. 04. 2020). 21 Zu den tatsächlichen dänisch-französischen Beziehungen im Vorfeld der Ereignisse von 1807 vgl. Eric Lerdrup Bourgois, I fælles interesse: de dansk-franske relationer 1789 – 1807, in: Danmark og Napoleon, hg. v. ders. und Høffding (wie Anm. 3), S. 33 – 56. 22 Vgl. J. H. Rose, Canning and Denmark in 1807, in: The English Historical Review, 11, No. 41 (January 1896), S. 82 – 92, https://www.jstor.org/stable/547517, letzter Zugriff: 12. 10. 2020.

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Damit verlor Dänemark zum zweiten Mal innerhalb von sechs Jahren nicht nur seine militärische Schlagkraft zur See, sondern auch die Möglichkeit, seine Handelsschiffe zu eskortieren. Ein erneuter massiver Einbruch des Seehandels war die Konsequenz. Er führte dazu, dass Dänemark mit Frankreich am 31. Oktober 1807 in Fontainebleau einen Allianz­ vertrag schloss, der in den Jahren 1808 und 1809 einen mühsamen, mit Hilfe kleinerer Schiffe und königlich autorisierter Freibeuter ausgefochtenen Krieg gegen Großbritannien und das mit Großbritannien verbündete Schweden („Kanonenbootkrieg“) nach sich zog. Dieser schadete dem dänischen Allianzpartner allerdings mehr als er nützte. Die hohen Kriegskosten schröpften die dänische Staatskasse ebenso wie die 1807 von Napoleon verhängte Kontinentalblockade gegen Großbritannien und die britische Konterblockade, die einen weiteren Niedergang des dänischen Außenhandels nach sich zogen. Vor allem der norwegische Reichsteil geriet ­zwischen 1807 und 1814 in eine politische und wirtschaftliche Isolation, die ihrerseits eine massive Wirtschaftskrise und schlimme Hungersnöte auslösten. Zudem besetzte Großbritannien nach dem Abschluss der dänisch-französischen Allianz alle dänischen Überseekolonien, die somit als potentielle Versorgungsbasen sowohl für Norwegen und den dänischen Nordatlantik als auch für das dänische Kernland entfielen.23 Nach dem britischen Angriff auf Kopenhagen ergab sich auch für Schweden eine neue außenpolitische Situation. Dänemarks Allianzvertrag mit Frankreich im Zusammenspiel mit dem Geheimabkommen von Tilsit implizierte einen Angriff auf Schweden, sobald Russland sich zu ­diesem Schritt entschließen würde. Und da sich das mit Großbritannien verbündete Schweden russischen Avancen, sich der Kontinentalblockade anzuschließen, widersetzte, wurde es in einen Zweifrontenkrieg mit Russland und Dänemark (1808/1809) hineingezogen, der – bei kaum nennenswerten dänischen Erfolgen – 1809 zum Verlust Anthony Nicolas Ryan, The Causes of the British Attack on Copenhagen in 1807, in: E ­ nglish Historical Review, 68 (1958), S. 37 – 55; Lindeberg (wie Anm. 8), S. 27 – 28; von Pivka (wie Anm. 8), S. 89 – 140; Søby Andersen (wie Anm. 8), S. 108 – 115; Smith (wie Anm. 8), S. 111 – 114. Zum innerdänischen militärischen Kontext vgl. Ole Louis Frantzen, The Danish Armed forces 1800 – 1814, in: Between the Imperial Eagles: Sweden’s Armed Forces during the Revolutionary and Napoleonic Wars 1780 – 1820, hg. v. Fred Sandstedt (Meddelande. Armémuseum 58/59), Stockholm 2000, S. 179 – 212; Thomas Munch-Petersen, København i flammer: hvordan England bombarderede København og ranede den danske flåde i 1807, København 2007 (engl.: Defying Napoleon: How Britain Bombarded Copenhagen and ­Seized the Danish Fleet in 1807, Stroud 2007); København 1807: belejring og bombardement, hg. v. Peter Henningsen, København 2007; Det venskabelige bombardement: København 1807 som historisk begivenhed og national myte, hg. v. Rasmus Glenthøj und Jens ­Rahbek Rasmussen, København 2007; Jan Møller, 1807: København i flammer, København 22007; Rolf Scheen, Flådens ran: tabet af den dansk-norske flåde 1807, København 2007; Rasmus Glenthøj und Morten Nordhagen Ottosen, Experiences of War and Nationality in Denmark and Norway, 1807 – 1815, London/New York 2014, S. 28 – 58; Glover (wie Anm. 8), S. 115 – 157. 23 Vgl. Lars Lindeberg (wie Anm. 8), S. 33 – 39; Lerdrup Bourgois und Høffding (wie Anm. 3), S. 57 – 74; Glenthøj und Nordhagen Ottosen (wie Anm. 22), S. 98 – 137; G ­ lover (wie Anm. 8), S. 177 – 187.

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Finnlands, zum Sturz Gustavs IV. Adolf und zum Ende des schwedischen Absolutismus führte. Der Krieg, der sich zunächst nur im finnischen Teil des schwedischen Königreiches abspielte und erst im Frühjahr 1809 auf das schwedische Kernland überschwappte,24 führte schon am 29. März zu einer Deklaration Alexanders I., dass er die überkommenen Gesetze und Privilegien der Finnländer achten werde, falls Finnland der russischen Oberherrschaft huldige.25 An eben jenem Tage fegte in Stockholm ein Militärputsch König Gustav IV. Adolf vom Thron. Danach war es nur noch eine Frage der Zeit, wann Schweden kapitulieren würde. Der schließlich von der schwedischen Interimsregierung geschlossene Friede von Fredrikshamn (finn. Hamina) vom 17. September 180926 schrieb fest, dass Schweden die sechs finnländischen Verwaltungsdistrikte (län), außerdem Västerbotten, die Ǻland-Inseln und Lappland östlich der Flüsse Torne, Muonio und Könkämä an Russland abzutreten hatte. In Rumpfschweden hob danach eine Hexenjagd auf die im Handumdrehen ausgemachten Sündenböcke an. Mehrere Todesurteile gegen schwedische Offiziere fertigten die höchsten Reichsgerichte aus. Deren Vollstreckung konnte jedoch in letzter Minute und auf russischen Druck hin verhindert werden; am Ende gar mündete alles in eine allgemeine Amnestie, mit dem Effekt, dass sich St. Petersburg zahlreiche Offiziere verpflichtete und dafür sorgte, dass Schweden das willfährige Werkzeug in der Hand der Zaren blieb, das es spätestens seit den 1790er Jahren gewesen war. 24 Vgl. Sveriges krig åren 1808 och 1809, 9 Bde., hg. v. Generalstaben, Stockholm 1890 – 1922; Swederus (wie Anm. 18), S. 9 – 151; Carl Otto Nordensvan, Finska kriget 1808 – 1809, Stockholm 1898; Hugo Schulman, Striden om Finland 1808 – 1809, Borgå 1909; Carl-Birger J. Petander, 1808 – 1809-års krig, 5 Bde., Vasa 1955 – 1959; Allan Sandström, Sveriges sista krig: de dramatiska åren 1808 – 1809, Örebro 1994; Martin Hårdstedt, Finska kriget 1808 – 1809, Stockholm 2006; Allan Sandström, Det stora nederlaget: när Sverige och Finland delades 1808 – 1809, Örebro 2008; Glenthøj und Nordhagen Ottosen (wie Anm. 22), S. 59 – 97. Zum Thema Sveaborg/Suomenlinna: Wilhelm Odelberg, Sveaborgs gåta, Malmö 1958; Stig Claesson, Sveaborg eller rock happy, Stockholm 1981. 25 Die wichtigsten Dokumente finden sich in englischer Übersetzung in: Finland and Russia 1808 – 1920: From Autonomy to Independence: A Selection of Documents, hg. v. David G. Kirby, London/Basingstoke 1975, S. 11 – 18; vgl. Lars Gabriel von Bonsdorff, Den ryska pacificeringen av Finland 1808 – 1809, Helsingfors 1929; I. M. Bobovič, K voprosu o prisoedinenii Finljandii k Rossii, in: Skandinavskij sbornik, 15 (1970), S. 247 – 254; Osmo Jussila, How Did Finland Come under Russian Rule?, in: Finland and Poland in the Russian Empire: A Comparative Study, hg. v. Michael Branch, Janet M. Hartley und Antoni Maczak (SSEES Occasional Papers 29), London 1995, S. 61 – 73; Frank Nesemann, Ein Staat, kein Gouvernement. Die Entstehung und Entwicklung der Autonomie Finnlands im russischen Zarenreich 1808 bis 1826, Frankfurt/M. etc. 2003, S. 37 – 85. Zum symbolpolitischen Gehalt des Landtags von Borgå vgl. Henrika Tandefelt, Borgå 1809: ceremoni och fest (Skrifter utgivna av Svenska Litteratursällskapet 718), Helsingfors 2009. 26 Schwedischer Vertragstext abgedruckt in: Taimi Torvinen, J. R. Danielson-Kalmari Suomen autonomian puolustajana, Porvoo 1965, S. 448. Auszüge (Art. IV und VI ) in: Kirby (wie Anm. 25), S. 22 f., http://www.histdoc.net/historia/se/frhamn.html, letzter Zugriff: 24. 04. 2020; vgl. Erik Hamnström, Freden i Fredrikshamn, Uppsala 1902. Martin Hårdstedt, Finska kriget 1808 – 1809, Stockholm 2006, S. 332 – 347.

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4. Von Moskau nach Paris (1812 – 1814) Die Jahre z­ wischen 1809 und 1812 brachten aus russischer Sicht eine Rückkehr der nordeuropäischen „Ruhe“, wenn auch unter deutlich veränderten Vorzeichen und gewiss nicht unter der Flagge einer bewaffneten Neutralität. Garant dieser eher ruhigen Jahre war die russische Allianz mit Napoleon seit den Tagen des Tilsiter Friedens. Sie zerbrach jedoch im Jahre 1812, als die Blockade gegen Großbritannien auf Russland selbst zurückschlug und eine wirtschaftliche und politische Krise heraufbeschwor. Die unausweichlichen Folgen des Allianzbruchs konnte Russland natürlich nicht alleine stemmen. Unter anderem deshalb fanden sich am 5. April 1812 Russland und Schweden in einer Allianz gegen Frankreich zusammen. Sie bescherte nicht nur Russland einen durchaus ernst zu nehmenden militärischen Partner,27 sondern auch Schweden einen lukrativen Ausgleich für den Verlust Finnlands. Im Zuge dieser sechsten antinapoleonischen Koalition (1812 – 1814) versprachen sich die Alliierten die Garantie ihrer jeweiligen Territorien (was sich vor allem auf die schwedischen Abtretungen an Russland von 1809 bezog). Außerdem sollte Schweden bei einem Waffengang gegen Napoleon das mit Napoleon verbündete Dänemark angreifen, Seeland besetzen, Kopenhagen bedrohen und mit russischer Hilfe in den Besitz Norwegens gelangen. Würde jedoch Dänemark der Koalition beitreten, wollte sich Russland für schwedische Gebietskompensationen in Deutschland einsetzen. Schweden verpflichtete sich zudem, für die Zeit nach der Eroberung Norwegens französisch besetzte Gebiete in Deutschland anzugreifen.28 Eine Folge ­dieses Bündnisses war der legendäre Russlandfeldzug Napoleons, der im Herbst 1812 in eine logistische und bald auch taktische Katastrophe mündete. Und es kam noch schlimmer: Während des schmach- und leidvollen Rückzugs der Franzosen im Winter 1812/1813 schloss Preußen mit Russland eine antifranzösische Allianz; Großbritannien, 27 Die Regierungsgeschäfte in Schweden führte inzwischen der ehemalige Maréchal de France und Mitstreiter Napoleons Jean-Baptiste Bernadotte (1763 – 1844) als schwedischer Kronprinz Karl Johann (später Karl XIV. Johann, reg. 1818 – 1844). Zwar regierte dieser 1812 noch nicht offiziell, aber die schwedische Politik dieser Zeit ging fast ausschließlich auf seine Pläne und Maßnahmen zurück. Zu Karl Johan während seiner Kronprinzenzeit vgl. Torvald T. Höjer, Carl XIV Johan, Bd. 2: Kronprinstiden. Stockholm 1943; Clemens Amelunxen, Jean-Baptiste Bernadotte. Marschall Napoleons – König von Schweden, Köln/Weimar/Wien 1991, S. 71 – 84. 28 Vgl. Swederus (wie Anm. 18), S. 151 – 207; Torkel Jansson, Två stater – en kultur: 1812 års politik och den svensk-finländska samhällsutvecklingen efter skilsmässan, in: Sverige i fred: Statsmannakonst eller opportunism? En antologi om 1812 års politik / Itsekkyyttä vai valtiomiestaitoa. Ruotsin idänpolitiikka ja Suomi vuodesta 1812 vuoteen, hg. v. Tapani Suominen, Stockholm 2002, S. 151 – 176; Heikki Talvitie, Sverige och 1812 års politik, in: ebd., S. 15 – 74; Israel Hwasser, Om allianstractaten emellan Sverige och Ryssland år 1812, Stockholm 1838; Oscar Alin, Förhandlingarna om allianstraktaken mellan Sverige och Ryssland af den 5 april / 24 mars 1812, Stockholm 1900; Torvald Höjer, Carl Johan i den stora koalitionen mot Napoleon, Uppsala 1935; Franklin D. Scott, Bernadotte och Napoleons fall, Stockholm 1937; Glenthøj und Nordhagen Ottosen (wie Anm. 22), S. 174 – 207.

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Schweden und Mecklenburg stießen im Frühjahr 1813 dazu, die Österreicher im Sommer. In Hamburg und in vielen anderen deutschen Städten tobten Aufstände gegen die französischen Besatzungstruppen. Dänemark hielt zwar weiterhin zu Napoleon. Aber nach der Völkerschlacht von Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813), die für die Koalition mit einem überwältigenden Sieg endete, wuchs der Druck auf das Königreich ins Unerträgliche. Die alliierten Truppen schlugen nach der Völkerschlacht unterschiedliche Richtungen ein: Während Russen, Preußen und Briten auf Paris marschierten, zog die sogenannte Nordarmee unter der Führung des schwedischen Kronprinzen Karl Johan alias Jean-­ Baptiste Bernadotte nach den mit der dänischen Krone unierten Herzogtümern Schleswig und Holstein und errang dort mehrere Siege gegen das Heer der Verteidiger. Der schließlich von Schweden und Dänemark unterzeichnete Friede zu Kiel (14./15. Januar 1814) sah vor, dass Dänemark Norwegen an Schweden zedieren, dafür mit Schwedisch-Pommern kompensiert werden und 1 Million Reichstaler und militärische Unterstützung von Seiten der Schweden erhalten sollte. Außerdem übernahm die schwedische Krone einen Teil der dänischen Staatsschulden. Diese Punkte wurden im E ­ rsten Pariser Frieden (30. Mai 1814) ­zwischen der antifranzösischen Koalition und dem neuen französischen König Louis XVIII. (1755 – 1824, reg. 1814 – 1824) stillschweigend anerkannt, indem der schwedische König Karl XIII. (1748 – 1818, reg. 1809 – 1818) im Text des Friedensvertrags bereits als „Sa Majesté le Roi de Suède et de Norwège“ firmierte.29 Diese Formulierung wie auch der Kieler Friede insgesamt führten zu einem bewaffneten Aufstand der Norweger: Schweden beendete ihn mühelos im kürzesten und bisher letzten Krieg seiner neuzeitlichen Geschichte (26. Juli bis 14. August 1814).30 Am 4. November 1814 entstand ein schwedisch-norwegisches Unionsreich, in dem Norwegen vom schwedischen König in außenpolitischen Fragen mitregiert wurde, in inneren Angelegenheiten jedoch weitgehend eigenständig blieb. Einen vollwertigen Ersatz für den Verlust Finnlands bildete Norwegen aus schwedischer Sicht damit nicht, weil die finnische Reichshälfte vor 1809 nie Autonomierechte wie das Königreich Norwegen genossen hatte, sondern bis zuletzt ein integraler Bestandteil des Schwedischen Reiches geblieben war. Eher als eine politische Einheit „Finnland“ dominierte im schwedischen politisch-geographischen Diskurs des Jahres 1814 deshalb die traditionelle Vorstellung vom östlichen Reichsteil (schwed. österled). Die hierdurch hervorgerufene Unzufriedenheit einiger Mitglieder der schwedischen Regierung und der höheren Ränge des schwedischen 29 Traité de paix signé à Paris le 30 mai 1814 et traités et conventions signés dans la même ville le 20 novembre 1814, Paris 1815, S. 15, Art. 9. 30 Die Besetzung der Åland-Inseln durch ein schwedisches Expeditionskorps im Jahre 1918 – eine Spätfolge des Verlustes von Finnland im Jahre 1809 – ist dabei nicht mitgezählt, weil es zu militärischen Auseinandersetzungen jenseits einiger Attentate nicht kam. Zum Schwedisch-­ Norwegischen Krieg von 1814 vgl. Swederus (wie Anm. 18), S. 535 – 546; Gustaf Björlin, Kriget i Norge 1814, Stockholm 1893; Lars Tingsten, Sveriges krig och yttre politik februari-augusti 1814, Stockholm 1925; Lars Ericson Wolke,The war with Norway in 1814 and the occupation of 1814 – 1815, in: Sandstedt (wie Anm. 22), S. 438 – 474; Glenthøj und N ­ ordhagen Ottosen (wie Anm. 22), S. 208 – 223.

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Militärs reichte aber nicht hin, um das zentrale politische Ziel Russlands im Ostseeraum, die Wiederherstellung der „Ruhe des Nordens“, zu gefährden.31 Die Wiener Schlussakte von 1815 bildete dann nicht mehr als einen Epilog zum nordeuropäischen Kriegstheater: Sowohl der Friede von Fredrikshamn (1809) als auch der Friede zu Kiel (1814) wurden auf Betreiben Russlands und Großbritanniens von den vertragschließenden Parteien völkerrechtlich anerkannt. Die Tatsache, dass Schwedisch-Pommern und Rügen, die Dänemark ursprünglich als Kompensation für den Verlust Norwegens erhalten sollte, an Preußen gingen, das dafür die dänischen Reparationszahlungen an Schweden übernahm und an Dänemark das Herzogtum Lauenburg abtrat, änderte an der russischen Machtstellung im Ostseeraum gar nichts und blieb ein billiges Zugeständnis. Auch die Veränderungen in den nunmehr als preußische Provinz Neuvorpommern und Rügen firmierenden Gebieten waren keineswegs so einschneidend, dass sich hieraus etwa eine signifikante Minderung des russischen Einflusses im südlichen Ostseeraum ergeben hätte. Da sich Preußen auf dem Wiener Kongress hatte verpflichten müssen, die traditionelle Rechts- und Ständeordnung Neuvorpommerns und Rügen zu garantieren, bedeutete der Erwerb ­dieses Gebietes nicht automatisch einen außenpolitischen Machtzuwachs.32 31 Vertragstext: Dänisch: Freds-Tractat imellem Danmark og Sverrig. Sluttet i Kiel den 14de Januar 1814, Kiøbenhavn 1814 (auch als Digitalisat, letzter Zugriff: 18. 04. 2020). Schwedisch: Freds Fördrag Emellan Hans Maj:t Konungen af Swerige och Sweriges Rike Å ena, samt Hans Maj:t Konungen af Danmark och Danska Riket Å andra sidan, Afhandlet och slutit i Kiel den 14 Januarii, Ratificerat i Stockholm den 31 i samma månad, och i Köpenhamn den 7 Februarii, 1814 / Traité de Paix Entre Sa Majesté le Roi de Suède et le Royaume de Suède D’une part, et Sa Majesté le Roi de Dannemarc et le Royaume de Dannemarc De l’autre, Fait et conclu à Kiel le 14 Janvier, ratifié a Stockholm le 31 du même mois et á Copenhague le 7 Fevrier, 1814, Stockholm 1814 (auch als Digitalisat, letzter Zugriff: 24. 04. 2020); Johannes Rosenplänter, Der Friedensvertrag ­zwischen Schweden und Dänemark: Deutsche Neuübersetzung, in: Sonja Kinzler (unter Mitarbeit von Doris Tillmann, Johannes Rosenplänter, Martin Krieger), Der Kieler Frieden 1814: ein Schicksalsjahr für den Norden / A Fateful Year for the North / Et skjebneår for hele Norden, Neumünster 2013, S. 59 – 172. Allgemein zu den Ereignissen von 1814 und zum Frieden von Kiel vgl. Nils Edén: Kielerfreden och unionen, Uppsala 1884; Naarva Bjørgo, Øystein Rian und Alf Kaartvedt, Norsk utenrikspolitikks historie, Bd. 1: Selvstendighet og union fra middelalderen til 1905, Oslo 1995, S. 221 – 235; Georg Nørregård, Freden i Kiel 1814, København 1954; Glenthøj und Nordhagen Ottosen (wie Anm. 22), S.  252 – 256. 32 Die Sonderstellung der ehemals schwedisch-pommerschen Gebiete innerhalb des Königreiches Preußen musste die preußische Krone bis mindestens 1849 hinnehmen, als eine gesamtpreußische Rechtsreform auch diese erfasste. Vgl. Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, Bd. 5, hg. v. Johann Ludwig Klüber, 20. Heft, Erlangen 1815, S. 502 – 518 (Art. XX ‒XXIII ); vgl. Georg Nørregård, Danmark og Wienerkongressen 1814 – 15, København 1948; Ernst Carlsson, Sverige på kongressen i Wien 1814 – 15, in: Historisk tidskrift, (1883), S.  67 – 136; Hans Fenske, Die Verwaltung Pommerns 1815 – 1845: Aufbau und Ertrag (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V/26), Köln/Weimar/Wien 1993; Harald Lutter, Zur verfassungsgeschichtlichen Stellung des Provinzialverbandes Pommern und seiner ständischen Vorformen, in: Baltische Studien, NF 80 (1994), S. 52 – 80; Johannes

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5. Einige Schlussfolgerungen Zum Schluss mögen einige zusammenfassende Bemerkungen ein etwas klareres Bild von den turbulenten Jahren ­zwischen 1800 und 1815 vermitteln. Ein Ergebnis der Napoleonischen Kriege und ihrer Folgeereignisse im Ostseeraum war die Westverschiebung des schwedischen Machtanspruchs – außerdem eine sprachliche „Skandinavisierung“ der Untertanen des schwedischen Königs, bei der die finnische Sprache, die von einem Großteil der Bevölkerung des ehemals östlichen Reichshälfte gesprochen wurde, durch ein dänisch-­norwegisches Mischidiom im Königreich Norwegen ersetzt wurde. Das erleichterte die Kommunikation z­ wischen der schwedischen Krone und ihren Untertanen, rückte aber die Grenze zum Russländischen Reich näher an die schwedische Hauptstadt heran. Im Hintergrund dieser Veränderungen stand eine russische Expansion im europäischen Nordosten, wie sie zunächst durch den Sieg über einen schwachen Gegner (Schweden), ­später durch eine Taktik der verbrannten Erde und des Ausweiches, schließlich durch eine Verfolgung der feindlichen (französischen) Truppen nach Westen und durch ein Agglomerieren weiterer Verbündeter im europäischen Nordosten in den Jahren ­zwischen 1808 und 1814 möglich geworden war. Beide Veränderungen, die Westverschiebung wie die Skandinavisierung der schwedischen Machtsphäre nützten Russland insofern, als die russische Expansion, die vorerst rein militärischer Natur gewesen war, durch die Friedensverträge von Fredrikshamn und Kiel auch völkerrechtlich abgesichert werden konnte. Und da aus russischer Sicht nach der entbehrungsreichen Zeit der Napoleonischen Kriege an eine dauerhafte, flächen­deckende militärische Kontrolle nicht zu denken war, bildete eine auf Bündnispolitik und Neutralität gründende russische Außenpolitik im Ostseeraum die vorerst beste Option, um künftige Mehrfrontenkriege zu vermeiden. Mit anderen Worten: Russland knüpfte dort an, wo es 1801 aufgehört hatte. Wenn man im Rahmen von Darstellungen zur Geschichte Europas die Periode nach 1815 gerne als „Restaurations­epoche“ bezeichnet, dann traf diese Charakterisierung eben auch auf die russischen außenpolitischen Entwürfe dieser Zeit im Ostseeraum zu. Die Entstehung des Großfürstentums Finnland unter russischer Oberherrschaft führte einerseits zu einer Kompensation Schwedens auf dem Rücken Dänemarks, andererseits zum Verlust Schwedisch-Pommerns, das als Kompensationsmasse an Dänemark fiel. Die schwedische Präsenz im norddeutschen Raum war damit an ihr Ende gelangt, Schweden und sein direkter politischer Einfluss auf die skandinavische Halbinsel beschränkt, Dänemark als außenpolitischer Akteur im Ostseeraum marginalisiert. Dies alles war ein Erfolg der russischen Waffen – aber auch der russischen Diplomatie. Letzteres zeigte sich noch einmal sehr deutlich auf dem Wiener Kongress, an dem schwedische und dänische Vertreter Weise, Die Integration Schwedisch-Pommerns in den preußischen Staatsverband, in: Vom Löwen zum Adler: Der Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen 1815, hg. v. Nils Jörn und Dirk Schleinert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V/52), Köln/Weimar/Wien 2019, S. 57 – 70.

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zwar teilnehmen durften, bei den Verhandlungen jedoch kaum Einflussmöglichkeiten besaßen. Die äußere Gestalt des „Neuen Nordens“ nach 1815 war völlig in das Belieben Alexanders I. gestellt, der, als Autokrat völlig souverän, die Ostseefrage entscheiden konnte, wie es für ihn persönlich und Russland am profitabelsten erschien. Bezeichnend für diese überwältigende Dominanz Russlands im Norden war u. a. die Tatsache, dass der dänische König Frederik VI. (1768 – 1839, reg. 1808 – 1839) während der Wiener Verhandlungen immer ­wieder, und meist vergeblich, um eine Audienz beim Zaren nachsuchte. Und hatte sich der Zar einmal dazu herabgelassen, ihn zu empfangen, tauschte er mit seinem könig­lichen Bittsteller allenfalls belanglose Artigkeiten aus. Deutlicher konnte die hierarchische Kluft ­zwischen Dänemark und Russland kaum ausfallen. Wirft man einen Blick auf die zeitliche Dauer der russischen außenpolitischen Konzeptionen, liegt der Verdacht nahe, dass die Petersburger Regierung nicht nur die „Ruhe des Nordens“ und die „bewaffnete Neutralität“ Schwedens und Dänemarks, sondern auch seine Expansion nach Finnland als Langzeitstrategie verfolgte. Strategisch besaß die Eroberung Finnlands eine gewisse Logik, weil sich der Finnische Meerbusen auf diese Weise in ein Binnengewässer des Zarenreiches verwandeln ließ. Zwischen Hanko im Norden und Baltischport im Süden konnte die russische Marine die enge Ostseebucht ohne sonderliche Mühe für feindliche Schiffe sperren. Aber ­welchen Sinn hatte eine Eroberung Finnlands in politischer Hinsicht? Ausgehend vom Tilsiter Frieden bzw. dem Geheimabkommen ­zwischen Russland und Frankreich ist besonders in der älteren finnischen und schwedischen Historiographie die Vorstellung entstanden, es habe einen lange gehegten russischen Plan gegeben, Finnland dem Russländischen Reich einzuverleiben. Völlig aus der Luft gegriffen war dieser Verdacht der schwedischen Regierung im Jahre 1809 und ­später nicht. Um ihn zu erhärten, hat man in der Historiographie üblicherweise auf zwei Ereignisse des 18. Jahrhunderts verwiesen. Ein erstes Angebot, Finnland unter den „Schutz“ der Zarenkrone zu stellen, hatte die St. Petersburger Regierung schon in der Endphase des „Kleinen“ Schwedisch-Russischen Krieges von 1741 bis 1743 (schwed. Lilla ofreden) verlautbaren lassen. Dieser Schritt war von der damaligen Kaiserin Elisabeth I. (1709 – 1761, reg. 1741 – 1761 [a. S.]) gut vorbereitet worden: Während des Krieges hatte sie die russischen Truppen angewiesen, mit Finnland nicht weniger hart zu verfahren wie im Großen Nordischen Krieg (1700 – 1721), an den sich zu dieser Zeit noch viele Finnländer erinnern konnten. Sodann hatte sie mit dem Adel in Finnland Verhandlungen aufgenommen und in einem Manifest vom 18. März 1742 (a. S.) eine Vereinigung Finnlands mit Russland in Form eines autonomen Staates unter russischem Protektorat in Aussicht gestellt.33 Zu ­diesem Zeitpunkt jedoch waren weder der Adel noch die anderen Stände in Finnland zu einem solchen Schritt bereit, noch hatte das Gefühl der Niederlage von 1721 überwogen, noch hatte man die Hoffnung gehegt, die Schmach rächen und verlorene Territorien zurückgewinnen zu können. 33 Das Manifest der Kaiserin Elisabeth vom 18. März 1742, hg. v. Arno Rafael Cederberg, Helsinki 1937. Zum Schwedisch-Russischen Krieg („Hüte-Krieg“) vgl. Sundberg (wie Anm. 10), S. 318 – 324 (mit Literatur).

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Der zweite Ereigniskomplex steht im Kontext des Schwedisch-Russischen Krieges von 1788 bis 1790. Am 9. August 1788 hatten einige Offiziere der schwedischen Armee in Finnland die sogenannte Liikala-Note unterzeichnet, die die Kriegserklärung Schwedens an Russland als ungesetzlichen Akt brandmarkte. Aus dem gleichen Grund hatten sie Friedens­ verhandlungen mit Russland und eine Wiederherstellung Schwedens in den Grenzen von 1743 propagiert.34 Mit der Antwort der russischen Zarin Katharina II. (reg.  1762 – 1796) hatte die russische Seite sodann versucht, eine Minderheitengruppe der Liikala-Offiziere vor ihren Karren zu spannen, indem sie deren Meinung unterstützte, Finnland müsse sich von Schweden lossagen und sich unter russischen Schutz stellen. Dass aus diesen Plänen nichts wurde, hatte die Stockholmer Regierung weniger der eigenen militärischen Tüchtigkeit als der Friedensvermittlung Großbritanniens und Preußens zu verdanken. Die französisch-russischen Vereinbarungen des Allianzvertrages von 1807 bargen also durchaus die Gefahr, Finnland erneut zum Spielball russischer Interessen werden zu lassen. Beweisbar ist eine direkte kausale Linie von Tilsit nach Fredrikshamn in Bezug auf die finnländische Frage jedoch nicht. Die derzeit bekannten Quellen legen eher den Schluss nahe, dass der Friede von Fredrikshamn ein direktes Ergebnis des Kriegsverlaufs, nicht einer lang angelegten russischen Strategie gegenüber Schweden war. Und Dänemark? Der schon von den britischen Überfällen arg gebeutelte Staat wurde mit den Vereinbarungen von Kiel zum ersten politischen Opfer einer gegen Frankreich gerichteten Treibjagd, zu der die Koalition nach der vernichtenden Niederlage ­Napoleons in Russland (1812) geblasen hatte und die mit dem Einmarsch der russischen und preußischen Koalitionstruppen in Paris am 31. März 1814 ihren triumphalen Abschluss fand. In dieser längeren Perspektive kann der Verlust Norwegens auch als Ergebnis des britischen Angriffs auf Kopenhagen 1807 interpretiert werden. Im russischen Interesse lag dabei der erfolgreiche Versuch, den Öresund für Schiffe, die aus dem Ostseeraum kamen, p­ ermeabel zu machen, indem die traditionelle Rolle Dänemarks als Torwächter ­zwischen Nordund Ostsee geschwächt und Schweden gleichzeitig mit dänischen Besitzungen nicht am ­Öresund, sondern weiter im Norden entschädigt wurde. Die Bedeutung der Jahre 1807 bis 1815 für die dominierenden Ostseemächte Großbritannien und Russland zu bestimmen, bleibt bei alledem eine komplexe Angelegenheit, die allein schon durch die stets wechselnde Richtung der militärischen und diplomatischen Aktivitäten im Norden Europas deutlich wird. Russland erreichte mit der Übernahme von Finnland eine territoriale Erweiterung im Ostseeraum und eine erweiterte Schutzzone für seine Hauptstadt St. Petersburg, die es aber wegen der staatsrechtlichen und wirtschaftlichen 34 Jussi T. Lappalainen, The Anjala Covenant the Consequence of Abortive Hostilities, in: Under Two Crowns: The River Kymi, Border River 1743 – 1811 / Kahden kruunun alla: ­Kymijoki rajana 1743 – 1811, hg. v. Kymenlaakso Regional Council, Kymenlaakson liitto, Kotka 1998, S. 23 – 32. Eine populärwissenschaftliche, in den Fakten aber verlässliche und ausführliche Darstellung bietet Allan Sandström, Officerarna som fick nog: Anajalamännen och Gustav III:s ryska krig 1788 – 1790, Stockholm 1996.

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Autonomie des entstandenen Großfürstentums kaum anders als militärpolitisch ­nutzen konnte. Der übrige Ostseeraum sollte vor allem eines bleiben: „ruhig“. Diese Konzeption spielte freilich auch Großbritannien in die Hände. Die britische Regierung hatte im Rahmen der territorialen Neuordnung des Nordens sein traditionelles Konzept einer balance of power und seine Handelsinteressen im Ostseeraum durchsetzen, ja konsolidieren können und muss deshalb als der eigentliche Sieger der nachnapoleonischen Epoche auf der Ostsee angesehen werden. Russland und Preußen hingegen suchten ihre außenpolitischen Interessen während des 19. Jahrhunderts vor allem im ostmitteleuropäischen kontinentalen Raum. Sie waren gemeinsam mit dem Habsburgerreich besonders in der Polenfrage ineinander verflochten. Bis in die 1870er Jahre betonte etwa Bismarck, dass Preußen eine Land- und keine Seemacht sei. Und auch die russische Politik im Ostseeraum kam bis zur deutschen Reichsgründung (1871) über das traditionelle Konzept der „Ruhe des Nordens“ nicht hinaus. Dabei wurde Großbritannien jedoch während des 19. Jahrhunderts immer deutlicher zu einem Hauptgegner Russlands im Ostseeraum. Dies zeigen besonders die Operationen der britischen Flotte in der Ostsee während des Krimkrieges (1853 – 1856). Nach dem von Russland verlorenen Krimkrieg befand sich das Zarenreich dann vollends in der Defensive, bevor es im Vorfeld des E ­ rsten Weltkriegs wieder erstarkte und sich nun mit der deutschen Flottenpräsenz im Ostseeraum unter Wilhelm II. auseinanderzusetzen hatte, während Großbritannien hier kaum mehr eine Rolle spielte.35 Doch dies ist schon ein anderes Thema.

35 Zur Metamorphose des deutschen Kaiserreiches von einer „Land-“ zu einer „Seemacht“ im Ostseeraum vgl. die Ausführungen von Christian Graf von Krockow, Bismarck und die Folgen, in: Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung. Biographische Perspektiven, hg. v. Ulrich Lappenküper (Wissenschaftliche Reihe der Otto-von-Bismarck-Stiftung 25), Paderborn 2017, S. 101 – 108, hier S. 103 – 105.

Zwischen Schweden, Frankreich und Preußen Zur Lage Vorpommerns an der Wende zum 19. Jahrhundert Anke Wiebensohn

Was prägte ­dieses Land, seine Landschaft und seine Menschen an der Wende zum 19. Jahrhundert? Dazu eine kleine Charakterisierung aus der Feder Ernst Moritz Arndts: „Der Pommer ist kalt und langsam, scheint dadurch oft unempfindlich, ist aber im Grund seines Karakters, wenn man sich die Mühe giebt, mit im umzugehen, gutmüthig. Grobheit und Plumpheit und Ungefälligkeit in kleineren Diensten des Lebens fließen oft in ­diesem Karakter mit zusammen. Arge List und Tücke findet man gottlob selten. Unsre Leiber, wenn sie gleich viel von der Sehnenkraft der Väter verloren haben, sind doch nicht schwach, vielmehr aller Arbeit und Beschwerde gewachsen. […] Der Pommer ist träge und unnachdenkend über kleine Verbesserungen und Hülfen seiner Existenz, aber im Ackerbau und bei jeder schweren Arbeit, auf der See und im Kriege thut er auch mehr, als die meisten Teutschen, die ich arbeiten gesehen habe. Man sagt, er sei gefräßiger als der Thüringer und Sachse; allerdings, aber er arbeitet auch strenger und sein kälteres Klima ist schon zehrender.“ 1 Ob man einen derartigen Kausalzusammenhang z­ wischen dem Klima eines Landstriches und dem sogenannten Charakter seiner Bewohner nun für wissenschaftlich plausibel hält oder nicht, mag dahingestellt bleiben. Ein anschauliches Beispiel für Arndts Duktus in einem seiner wichtigsten historischen Werke, dem Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen, bildet die Textpassage allemal. Und sie zeichnet – freilich überspitzt – einen Menschenschlag, der an harte Lebensumstände gewöhnt war, durch sie und sein Land geformt. Im Folgenden geht es daher darum, uns einen Überblick der um 1800 herrschenden Zustände im schwedischen Anteil Vorpommerns zu schaffen, wie sie zu Arndts erster Wirkungszeit in seiner Heimat herrschten. Das soziale und wirtschaftliche Gefüge Schwedisch-Pommerns am Ende seiner Schwedenzeit stehen dabei im Mittelpunkt.

1. Schwedische Wirtschaftspolitik in Pommern Aus den naturräumlichen Gegebenheiten im Zusammenspiel mit politischen Entwicklungen entstand in Schwedisch-Pommern eine bestimmte Wirtschaftsweise und damit verbunden eine gewisse soziale und rechtliche Struktur, die sich im Grunde bis 1945 nur wenig veränderte.



1 Ernst Moritz Arndt, Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen. Nebst einer Einleitung in die alte teutsche Leibeigenschaft, Berlin 1803, S. 225 f.

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Entsprechend der jeweiligen innerschwedischen machtpolitischen Konstellation verfolgte Schwedens Wirtschaftspolitik in seinen deutschen Besitzungen unterschiedliche Interessen.2 Seit dem Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bis zum Großen Nordischen Krieg galt als primäres Ziel, Pommern einerseits als Absatzmarkt für schwedische Produkte, andererseits als Bezugsquelle für günstiges Getreide zu ­nutzen.3 Um eine möglichst reibungs­lose Austauschbeziehung zu gewährleisten, erkannten schon seit 1630 die Pommern schwedische Münzen an. 1652 führte Schweden die bereits in Livland gültige Lizenttaxe in ­seinen südlich der Ostsee gelegenen Besitzungen ein und zeitnah etablierte sich zudem eine regelmäßige Postverbindung ­zwischen Stralsund und Stockholm über Ystad. Pommersche Schiffe und Kaufleute wurden in schwedischen Häfen gleichberechtigt behandelt. Diverse Maßnahmen der schwedischen Administration bewirkten die zügige Wiederbelebung der nach dem Dreißigjährigen Krieg darniederliegenden Landwirtschaft, woraufhin sie deren Erträge mittels rechtlicher Bestimmungen relativ eindimensional nach Schweden lenkten. Im Falle dort auftretender Missernten griff sogar ein Verbot für pommersche Händler, überhaupt an Drittländer Getreide zu verkaufen. Streckenweise umfassten die Getreideimporte aus Pommern die Hälfte der schwedischen Gesamteinfuhr an Getreide, selten weniger als 30 Prozent.4 Gleichzeitig behinderten die Behörden die gewerbliche Entwicklung, z. B. durch die stark beschränkte Vergabe von Privilegien für die Neugründung von Manufakturen. Stattdessen gestatteten die Zolltaxen den günstigen Import der schwedischen Hauptausfuhr­ artikel jener Zeit: Fisch, Tran und Eisen. Diese Wirtschaftspolitik steuerte die ökonomische Ausrichtung der deutschen Provinz bereits von Beginn an in sehr einseitige Bahnen, d. h. gewollt in Richtung einer starken Abhängigkeit vom Mutterland, und war dessen Bedürfnissen und merkantilistischen Maximen untergeordnet: Das platte Land hatte Getreide zu produzieren, die Städte waren für den Verkauf und die Verschiffung zuständig.5 Im 18. Jahrhundert wandelte sich die vom schwedischen Mutterland aus verfolgte Wirtschaftspolitik in Pommern dann entsprechend den Strömungen im eigenen Land. Nach dem durch die Niederlage im Großen Nordischen Krieg 1720 besiegelten Ende der Großmachtzeit fuhren die Skandinavier zunächst einen Kurs mit intensiverem Protektionismus und merkantilistischer Steuerung. Ab den 1760er Jahren aber setzten sich zunehmend liberalökonomische Kräfte durch, womit zugleich eine veränderte Behandlung der pommerschen 2 Vgl. in der langfristigen Perspektive vom Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts: Gunnar Söderberg, Die Handelsbeziehungen z­ wischen Schweden und Deutschland, Diss. Phil., Leipzig 1906. 3 Vgl. ebd., S. 56. 4 Vgl. Werner Buchholz, Öffentliche Finanzen und Finanzverwaltung im entwickelten frühmodernen Staat. Landesherr und Landstände in Schwedisch-Pommern 1720 – 1806 (Veröffent­ lichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur Pommerschen Geschichte 25), Köln/Weimar/Wien 1992, S. 107 – 116. 5 Vgl. Lotte Müller, Die Entwicklung des Stralsunder Seehandels in der Zeit der schwedischen Herrschaft 1648 – 1814, Königsberg/Pr. 1925, S. 28 – 37.

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Provinz einherging.6 Dort richteten sich unterdessen manche neidvolle Blicke auf die staatliche Wirtschaftsförderung im südlichen, jetzt preußischen Teil Vorpommerns.7 Der Großteil der schwedischen Bestrebungen, nun etwa gezielt die Einrichtung von Manufakturen zu unterstützen, zeitigte jedoch überwiegend nicht die gewünschten Ergebnisse.8

2. Handel und Gewerbe Die aus dem Mittelalter herrührende Gewerbeverfassung erwies sich nämlich als sehr resistent. In den Städten unterlagen die meisten Gewerbe dem Zunftzwang. In Stralsund blieb „die Wirtschaftspolitik des Rates in mittelalterlicher Weise auf die Versorgung der Stadt und auf die Verfolgung der Interessen ihrer Bürger gerichtet; [hinzu kam ein] kleinliches und kurzsichtiges Festhalten an alten Bestimmungen und erstarrten Zunftgesetzen“.9 Dennoch hatten sich bis zum Ende der Schwedenzeit mancherlei Ausnahmen eingeschlichen und per Gewohnheitsrecht verfestigt. Als preußische Beamte 1837 – also 20 Jahre nach der Besitzergreifung – versuchten, das System in Neuvorpommern vollständig zu ergründen, stießen sie auf erhebliche Schwierigkeiten, denn es lagen schlicht keine „klaren gesetzlichen Bestimmungen [vor], sondern [die Gewerbeverfassung] beruht auf […] vielfach verschiedenen statuarischen Festsetzungen und Privilegien, Observanzen und häufig auf rechtskräftigen Erkenntnissen“.10 Stadt und Land waren weiterhin als rechtliche Räume streng getrennt. „Nur solchen Handwerkern, w ­ elche nicht jedermänniglich arbeiten, sondern die vom Adel in seinen Gütern angesetzt werden, wohin namentlich – mit wenig Consequenz – Schmiede, Leinweber, Rademacher, Schneider, Zimmerleute gehören sollen, dürfen sich auf dem platten Lande etablieren.“ 11 Nach der Polizei-Ordnung von 1681 war demnach auch das gewerbliche, nicht für den Eigenbedarf produzierende Bierbrauen und Branntweinbrennen auf dem Land verboten, was dort eine Weiterverarbeitung des agrarischen Haupterzeugnisses Getreide gesetzlich unterband. Unter diesen Bedingungen konnte sich, im Unterschied zu anderen Gebieten des Alten Reiches, kein ländliches Gewerbe etablieren. Insgesamt war Ende des 18. Jahrhunderts die Anzahl der Gewerbetreibenden – relativ gesehen – rückläufig, nur die der Schiffer und die der Branntweinbrenner erhöhte sich z­ wischen 1750 und 1805.12 6 Vgl. ebd., S. 65 und 77. 7 Vgl. Jörg-Peter Findeisen, An der Schwelle einer neuen Sozialordnung. Schwedisch-­Pommern nach 1750 ­zwischen Zunft und Konkurrenz, in: Beiträge zur Geschichte Vorpommerns. Die Demminer Kolloquien 1985 – 1994, hg. v. Haik Thomas Porada, Schwerin 1997, S. 35 – 75, hier S. 44. 8 Vgl. ebd., S. 46 f. 9 Müller (wie Anm. 5), S. 50. 10 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. Hauptabteilung (HA), Rep. 120 B Ministerium für Handel und Gewerbe, Abt. I 1, Nr. 1 adh., Bl. 12v. 11 Ebd. 12 Vgl. Findeisen (wie Anm. 7), S. 38 – 41.

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Trotz mancher Bemühungen steigerte sich auch das pommersche Handelsvolumen bis zum Ende der Schwedenzeit nicht im erhofften Maße. Dies lag zum Teil an den Gesetzen, zum Teil an den Kriegen und Krisen des 18. Jahrhunderts, „einen ebenso großen Teil der Schuld trägt aber die Stralsunder Kaufmannschaft selbst“.13 Sie klammerte sich an den überkommenen Strukturen fest, lähmte sich durch Zwist und langwierige kostspielige Prozesse gegenseitig, schottete sich ab gegenüber Neuerungen und Fremden. Ihre erwirtschafteten Überschüsse investierte sie entweder in „zinsbare Capitale“ oder in Landbesitz.14 Dies verurteilte schon Johann David von Reichenbach als Zeitgenosse. Der Historiker Jörg-Peter Findeisen wies über Zeitungsanzeigen zu Konkurs, Verpachtung und Verkauf von Gütern tatsächlich ein nicht unbeträchtliches Ausmaß bürgerlichen Landbesitzes und bürgerlicher Pächter in Schwedisch-Pommern nach. Kaufleute suchten auf solchem Weg ihre Kreditwürdigkeit zu erhöhen und ihre Gewinne langfristig sicher anzulegen, anstatt die risikoreichere Investition in eine Erweiterung ihrer Geschäfte oder in Manufakturen zu wagen.15 Eine Ausnahme bildeten Mälzereien und Brauereien, also die unmittelbare Weiterverarbeitung des im Land so reichlich erzeugten Getreides. Dementsprechend hatten die Brauer und Mälzer sowie die Getreideexporteure im 18. Jahrhundert die kommunalen Interessenvertretungen Stralsunds, etwa der Kaufmannskompagnie, so weit durchdrungen, dass diese den Rat dominierten und die innerstädtische Wirtschaftspolitik ganz in ihrem Sinne ausrichteten.16

3. Bildungswesen und Universität Stralsund stellte um 1800 mit ca. 11.200 Einwohnern die größte Stadt des Landes dar, Greifswald beherbergte rund 5700 Menschen. Als Sitz von Verwaltung und Militär sowie als Ort von Bildung und Kultur müssen beide Städte zudem als Brennpunkte der Verbindungen nach Schweden erwähnt werden. Neben den wirtschaftlichen Beziehungen bestanden auch auf kultureller und akademischer Ebene Kontakte, wobei die Universität Greifswald als zentrale Mittlerinstanz im Transfer von Ideen, Geistesströmungen und Literatur bzw. Büchern allgemein gilt, indem sich beispielsweise durch in Greifswald angefertigte Übersetzungen schwedische Schriften im deutschen Raum verbreiteten. Ebenso 13 Müller (wie Anm. 5), S. 95. 14 Johann David von Reichenbach, Patriotische Beyträge zur Kenntniß und Aufnahme des Schwedischen Pommerns, 4. Stück, Greifswald 1785, S. 152. 15 Vgl. Findeisen (wie Anm. 7), S. 42 – 44. Werner Buchholz belegte rechnerisch, dass die Gewinnmöglichkeiten in den vorgezeichneten Bahnen (also v. a. der Getreideexport nach Schweden) so lukrativ waren, dass die Suche nach alternativen Handelspartnern oder Einnahmequellen für die meisten gar nicht relevant wurde. Außerdem habe der Verlust der Zollfreiheit im Sund von Aktivitäten außerhalb des Ostseeraumes abgeschreckt, vgl. Buchholz (wie Anm. 4), S. 114. 16 Vgl. Reinhard Kusch, Stralsund von 1720 bis 1815, in: Geschichte der Stadt Stralsund, hg. v. Herbert Ewe, Weimar 1985, S. 202 – 233, hier S. 205.

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standen Studenten und Professoren oft in wechselseitigem Austausch nach Norden, wofür die Aufenthalte Ernst Moritz Arndts ein bekanntes Beispiel darstellen.17 Durch besondere akademische Qualität schien sich die Universität allerdings im 18. Jahrhundert nicht hervo­rgehoben zu haben, wie aktuelle Forschungen bestätigen. Sie führte ein „bescheidenes, abgelegenes und unbedeutendes Dasein“,18 stand in schlechtem Ruf auch wegen angeblich zu leicht zu erlangender Abschlüsse und Doktortitel, so dass viele schwedische Universitäten ein Greifswalder Zeugnis nicht anerkannten. Studenten frönten scheinbar einem wilden, lasterhaften Lebensstil und über seine Kollegen urteilte der 1791 gestorbene Professor Peter Ahlwardt: „Unter der schwedischen Regierung war diese Universität so eine Art von Versorgungsanstalt für gelehrte Invaliden, ein Sibirien, wohin man Gelehrte, die man in Schweden nicht gebrauchen konnte, als Professoren relegierte.“ 19 Missbilligung erfuhr nicht nur die höhere, sondern in erster Linie die ­Allgemeinbildung und das Elementarschulwesen in Schwedisch-Pommern zugleich durch den Aufklärer ­Reichenbach. Besonders das Landschulwesen sei völlig unzureichend ausgeprägt und bedinge den schlechten Bildungsstand der Landbevölkerung 20 – allerdings ist dies ein Topos, den zahlreiche Aufklärer und Bildungsreformer des 18. Jahrhunderts im Reich bedienten und es bedürfte einer vergleichenden empirischen Untersuchung, um hier eine außergewöhnliche Rückständigkeit Schwedisch-Pommerns zu belegen. Sicher jedoch hängt der Bildungsgrad zugleich eng mit dem ländlichen Sozial- und Rechtsgefüge zusammen, und dies kann zweifellos im reichsweiten Vergleich als eines der am härtesten ausgeprägten gelten.

4. Ländliches System So ist das schwedische Vorpommern des 18. Jahrhunderts als ein Gebiet der „extremen Gutsherrschaft“ charakterisiert worden: sowohl quantitativ im Hinblick auf die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzflächen und die schwindende Anzahl der selbstständigen Bauernstellen als auch qualitativ hinsichtlich des Rechtscharakters der Bauern und ihres Untertänigkeitsverhältnisses.21 Strukturelle Ähnlichkeiten bestanden demnach eher 17 Vgl. Stefan Herfurth, Freiheit in Schwedisch-Pommern. Entwicklung, Verbreitung und Rezeption des Freiheitsbegriffs im südlichen Ostseeraum zum Ende des 18. Jahrhunderts (Moderne europäische Geschichte 14), Göttingen 2017, S. 37 und 81 – 85. 18 Zit. ebd., S. 180. 19 Zit. ebd. 20 Vgl. genauso auch Arndt (wie Anm. 1), S. 222 – 225, wo ausgeführt wird, dass zumeist der Küster im Ort dürftig die Schule bediene, in die zu viele Kinder nicht gehen dürften, weil sie als Arbeitskräfte gebraucht würden. Eigentliche Lehrerstellen gebe es kaum, s­eien auch schlecht ausgestattet. Das 1791 eingerichtete Lehrerseminar in Greifswald sollte die Ausbildung der Lehrkräfte verbessern, Erfolge standen aber zu Arndts Zeiten noch aus. 21 Die ländlichen Strukturen um 1700 untersuchte – freilich unter dem Blick ihrer Zeit – Renate Schilling, indem sie systematisch die schwedische Landesaufnahme (Matrikel) auswertete, gleichwohl unter den Einschränkungen der Unvollständigkeit und mangelnden Exaktheit. Auch sie errechnete einen Anteil von 50 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Besitz

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zu Mecklenburg als zum übrigen Pommern oder zu Brandenburg.22 Selbst in der ländlichen Architektur versinnbildlichte sich dies bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, wie A ­ lexander Padberg 1861 urteilte: „Das nördliche Pommern bis zum blauen Ländchen hat den Grundtypus in der Einrichtung des Bauernhauses mit Mecklenburg und den nördlichen Theilen Westphalens gemein.“ 23 Die Besitzstruktur des sich z­ wischen 1648 und 1815 unter schwedischer Herrschaft befindenden Teils Vorpommerns war im Laufe des 18. Jahrhunderts wesentlich vom Prozess des sogenannten Bauernlegens geprägt worden, d. h. von der Auflösung selbstständiger Bauernstellen und deren Eingliederung in ein meist adliges Gut. Die Ritterschaft erreichte in dieser Zeit mit 52 Prozent 24 sogar einen noch höheren Anteil am Landbesitz als im benachbarten Mecklenburg, während in Preußen der friderizianische Bauernschutz das Legen mehrfach verboten hatte. Die Situation der Bauern in Vorpommern gestaltete sich völlig konträr zu der in Schweden, wo sie rechtlich, wirtschaftlich und mit der Vertretung im Riksdag sogar politisch einen unvergleichlich guten Stand innehatten. In Vorpommern hingegen waren sie nach einer rechtlichen Kodifizierung von 1720 zum bloßen Inventarium des Gutes abgewertet worden.25 In seiner Abhandlung zur Geschichte Pommerns aus dem Jahr 1906 sprach Martin Wehrmann im Vergleich zum preußischen Teil von einer nahezu „völlige[n] Versumpfung der Verhältnisse“.26 Schweden der Gutsherrschaften, vgl. Renate Schilling, Schwedisch-Pommern um 1700. Studien zur Agrarstruktur eines Territoriums extremer Gutsherrschaft (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte 27), Weimar 1989, S. 68, mit 75 Tabellen im Anhang. 22 Vgl. die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse für Pommern bei Heinrich Kaak, Die Gutsherrschaft. Theoriegeschichtliche Untersuchungen zum Agrarwesen im ostelbischen Raum (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 79), Berlin/New York 1991, S.  179 – 181. 23 Alexander Padberg, Die ländliche Verfassung in der Provinz Pommern (Die ländliche Verfassung in den einzelnen Provinzen der Preußischen Monarchie 2), Stettin 1861, S. 52. 24 Vgl. Werner Buchholz, Pommern, in: Das Ende der Frühen Neuzeit im „Dritten Deutschland“. Bayern, Hannover, Mecklenburg, Pommern, das Rheinland und Sachsen im Vergleich, hg. v. dems. (Historische Zeitschrift, Beiheft, N. F. 37), München 2003, S. 77 – 119, hier S. 88; vgl. auch Gerhard Heitz, Die Differenzierung der Agrarstruktur am Vorabend der bürger­ lichen Agrarreformen, in: Deutsche Agrargeschichte des Spätfeudalismus, hg. v. dems., H ­ artmut Harnisch, Berlin 1986, S. 89 – 109. 25 Vgl. Werner Buchholz, „Se. Königl. Majestät […] Vorsorge für die Aufhelfung des Ackerbaus [und für] eine allgemeinere Wohlhabenheit der arbeitenden Klasse“. Strukturkrise und Gesellschaftsreformen in Vorpommern 1806 und ihre Behandlung in Preußen nach 1815, in: Krise, Reformen – und Finanzen. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806 (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F., Beiheft 9), hg. v. Jürgen Kloosterhuis und Wolfgang Neugebauer, Berlin 2008, S. 214 – 243, hier S. 215. Vgl. zu dem Edikt von 1720 und seinen Auswirkungen auch Carl Johannes Fuchs, Der Untergang des Bauernstandes und das Aufkommen der Gutsherrschaften. Nach archivalischen Quellen aus Neu-Vorpommern und Rügen, Strassburg 1888, S. 174 – 176. 26 Martin Wehrmann, Geschichte von Pommern, Bd. 2: Bis zur Gegenwart (Allgemeine Staaten­ geschichte, 3. Abt.: Deutsche Landesgeschichten 5), Gotha 1906, S. 242.

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sei weder willig noch fähig zur Förderung seiner Provinz gewesen, habe vieles sich selbst überlassen und althergebrachte Konventionen geschont. Völlig aus der Luft gegriffen oder nur der borussophilen Ausrichtung Wehrmanns geschuldet scheinen ­solche Vorwürfe jedoch nicht zu sein. Bereits Zeitgenossen wie Johann David von Reichenbach urteilten ähnlich. 1727 in Greifswald geboren, als Staatsdiener sowohl in Stockholm als auch ­später in Stralsund tätig und zudem selbst Pächter eines Gutes, kann Reichenbach als Kenner der Materie gelten, der mit der Publikation seiner Patriotischen Beyträge ein ­Zeichen der Aufklärung im Norden setzte. Die Kritik an der Leibeigenschaft geriet bei ihm zu einer Systemfrage, ­welche nicht zuletzt durch Nachlässigkeit und Unkenntnis seitens der schwedischen Regierung zu verantworten sei. 27 Durchaus vorhandene Bestrebungen von Gutsbesitzern, ihre Wirtschaftsweise z. B. durch Flurbereinigungen (effektivere, eindeutigere Aufteilung ihres Landes ­zwischen den selbstbewirtschafteten und den bäuerlich genutzten Flächen) zu verbessern oder Maßnahmen zur Erhöhung der Bodenauslastung einzuleiten, sind bislang nur für Einzelfälle wie Felix Dietrich von Behr nachgewiesen worden und standen zumeist im Lichte ökonomisch-pragmatischer, weniger humanitärer Überlegungen.28 Die aus der Rückschau heraus entstandene, deutlich euphemisierende Wertung Padbergs von 1861 führt die Fortschritte des 18. Jahrhunderts im „Landbau“ auf den Einzug der holsteinischen Schlagwirtschaft, die Auflösung von Hut- und Triftgerechtigkeiten sowie die Aufhebung bäuerlicher Frondienste zurück. Dieser Autor reklamiert all diese Veränderungen als Leistungen der Gutsherren. Der Nachsatz: „wobei zwar zugleich ein großer Theil des Bauerstandes mit unterging, weil die Grundherren sehr oft es ihrem Interesse angemessen fanden, die Bauergüter in Vorwerke zusammenzuziehen“, offenbart andererseits den Charakter und die Motivation der Veränderungen, die mitnichten mit dem Bauernschutz im preußischen Pommern gleichzustellen sind.29 Neuere Darstellungen betonen demgegenüber die durchaus vorhandenen Bestrebungen des Landesherrn zu Reformen, ­welche am Widerstand aus der Provinz selbst gescheitert ­seien. Die Stände beriefen sich in ­diesem Konflikt in einseitiger Weise auf die Bauernordnung von 1616, die zwar das Legen gestattete, jedoch als Entschädigung dem Bauern seine Habe, die Hofausstattung und persönliche Freiheit für sich und seine Familie ließ. Während Gutsherren und Städte ihre Rechte eifrig durchsetzten, vernachlässigten sie ihre Pflichten gegenüber den Bauern zusehends. Viele Bauern gerieten in ein enges persönliches 27 Vgl. Herfurth (wie Anm. 17), S. 172 – 178 und 186. Reichenbach führte auch die geringe Bevölkerungsdichte des Landes auf die Leibeigenschaft zurück, die durch Elemente wie Schollenbindung und Heiratskonsens wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten und damit Wachstum verhinderte. 28 Vgl. Dirk Schleinert (Hg.), Der ideale Gutsbetrieb in Schwedisch-Pommern. Eine Reformschrift des Landrates Felix Dietrich von Behr von 1752 (Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte 14), Greifswald 2011, dort neben der Edition der Schrift auch eine in den zeitlichen und geographischen Kontext einordnende Einleitung. 29 Padberg (wie Anm. 23), S. 109.

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Untertänigkeitsverhältnis bei hoher Belastung durch zu leistende Dienste, besonders auf den privaten Gütern.30 Ein gleichlautender Tenor findet sich auch in späteren Darstellungen der Stralsunder Regierung, die den preußischen Zentralbehörden die historische Gewordenheit der dortigen Agrarverfassung zu erläutern hatte.31 Von der Gesamtbevölkerung von rund 113.000 Menschen im Jahr 1800 lebten etwa zwei Drittel auf dem Land und von diesen galten gut 60 Prozent als Leibeigene.32 Ernst Moritz Arndt ereiferte sich darüber, wie ganze Dörfer aufgekauft, Bauernhäuser und Gärten geschleift, ein mächtiges Gutshaus darauf errichtet und das Ganze mit Gewinn wieder verkauft worden sein soll.33 Auch im Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen beschrieb er die Periode nach dem Siebenjährigen Krieg als eine Zeit sich steigernden Ackerbaus, zunehmender Schifffahrt und des Bevölkerungswachstums. Interessant sind dabei seine Begründungen für diese Entwicklungen, in der sich latente Kulturkritik mit einer missbilligenden Haltung gegenüber den generellen sozioökonomischen Tendenzen seiner Zeit und speziell den daraus resultierenden Nachteilen für den Bauernstand vermischen. „Bei näherer Einsicht wird man indeß finden, daß diese Veränderungen meistens nicht so sehr in einer besseren inneren Organisation liegen, als sie durch äußere Zufälligkeiten veranlaßt wurden, z. B. durch den Amerikanischen Freiheitskampf, und durch den neuesten zehenjährigen französischen Revolutionskrieg, w ­ elche die Preise des Korns, unsers fast einzigen Ausfuhrprodukts, in einer ungewöhnlichen Höhe hinantrieben, uns mit den Rhedereien ein augenblickliches Handelsübergewicht gaben, Geld ins Land brachten, und mit d ­ iesem Gelde die wachsende Lust nach mehrerem und die Mittel, den Ackerbau, dessen Vortheile wir zu schmecken anfingen, mit mehr Thätigkeit zu betreiben. Wir wissen alle, wie die meisten unsrer Gutsbesitzer, selbst die Pächter, seit dieser Epoche, wenn nicht alle reich, doch wohlhabend geworden sind; wir wissen alle, wie wir an Kenntnissen und Bedürfnissen des Luxus und an Lebenseleganz seit den letzten 30, 20 Jahren gewachsen sind. […] Je höher der Ertrag der Aecker geworden ist, desto mehr hat man geeilt, die Bauerdörfer zu zerstören, und Höfe und Vorwerke daraus zu machen.“ 34 Lediglich auf den Domänen sowie den Gütern der Städte, Stiftungen und anderen Institutionen standen die Bauern etwas besser, indem der Dienstumfang zumindest 30 Vgl. ebd. sowie Fuchs (wie Anm. 25), S. 183 f.; Wehrmann (wie Anm. 26), S. 244. Zur Einordnung des Topos Leibeigenschaft in europäische Zusammenhänge vgl. auch den Tagungsband Jan Klussmann (Hg.), Leibeigenschaft. Bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit (Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft 3), Köln/Weimar/Wien 2003. 31 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 87 Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, Abt. B, Nr. 10963, S. 46 – 50. 32 Vgl. Buchholz (wie Anm. 4), S. 81. Zu gleichen Ergebnissen gelangt Findeisen (wie Anm. 7), tabellarischer Anhang, S. 59 und S. 61. 33 Vgl. Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen 1769 – 1815, hg. v. Rolf Weber, Berlin 1985, S. 91 und S. 121. 34 Arndt (wie Anm. 1), S. 189 f.

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vertraglich mit den Pächtern festgelegt war, manch ein Untertänigkeitsverhältnis in Pacht oder gar Erbpacht umgewandelt wurde und allgemein Willkür und unbillige Härte vermieden werden sollte.

5. Schwedischer Staatsstreich und gescheiterte Agrarreform Als letzter schwedischer Monarch war Gustav IV. Adolf (reg. 1792 – 1809) bestrebt gewesen, das ländliche Sozialgefüge und damit die Vormachtstellung des pommerschen Adels aufzubrechen.35 Den Anlass zum offenen Konflikt bildeten Streitigkeiten ­zwischen ihm und den Ständen Vorpommerns in finanziellen Fragen, vor allem brauchte er Geld für seinen Kampf gegen Napoleon. Sowohl die Landstände als auch ihr Landesherr waren jedoch bereits extrem verschuldet, zu etwa 40 Prozent beim ritterschaftlichen Adel, der ja zugleich einen Anteil an den Landständen als Institution stellte. Durch ihre zahlreichen privaten Güterspekulationen und die dafür erforderlichen hohen Kredite hatten die Gutsbesitzer somit selbst erheblich zu der Misere sowie den steigenden Bodenpreisen beigetragen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatten große Investitionen der Gutsbesitzer in die Ausstattung ihrer Betriebe, den Landesausbau, die Modernisierung, Extensivierung und Intensivierung der Landwirtschaft weitere kostspielige Kredite erfordert, deren Zinsen und Fälligkeiten aus den laufenden Einnahmen bestritten werden mussten.36 Eine tatsächliche Steigerung der Erträge war jedoch an der Wende zum 19. Jahrhundert „unter den Bedingungen der Leibeigenschaft“ 37 gar nicht mehr möglich. Als nun um 1805 die Boden- und Getreidepreise sanken, die Zinsen aber stiegen, konnte das Gesuch des Königs um zusätzliche Anleihen nur abgelehnt werden. In dieser Situation wählte Gustav IV . Adolf im Sommer 1806 die Flucht nach vorn und konterte mit einer Reihe durchgreifender Maßnahmen zur „Zusammenführung aller 35 Vgl. zur ausführlichen Genese der schwedischen Bestrebungen seit etwa 1770 und der darauf­ folgenden Reaktionen der vorpommerschen Stände Fuchs (wie Anm. 25), S. 203 – 216; ­Buchholz (wie Anm. 4), S. 419 – 421; ders., Landständische Verfassung und bäuerliches Eigentumsrecht in Schwedisch-Pommern und Schweden 1720 – 1815. Ein Vergleich, in: ­Zeitschrift für Ostforschung, 37 (1988), S. 78 – 111; Findeisen wies auch mehrere aus Schwedisch-­Pommern selbst stammende Reform-Denkschriften nach, vgl. Jörg-Peter Findeisen, Zukunftsorientiertes Wirtschaftsdenken in Schwedisch-Pommern z­ wischen 1650 und 1806, in: Beiträge zur Geschichte Vorpommerns. Die Demminer Kolloquien 1985 – 1994, hg. v. Haik Thomas Porada, Schwerin 1997, S. 83 – 94. 36 Vgl. Buchholz (wie Anm. 25), S. 219 f. Buchholz räumt ein, die „systematische Erforschung dieser Bodenspekulation steht noch aus“, verweist aber auf „Stichproben“ im Landesarchiv Greifswald, Rep. 73 Hofgericht Greifswald. In Bezug auf die Investitionen in Modernisierung widerspricht er damit seiner eigenen Darstellung aus dem Jahr 2003, wo es noch hieß, die Gutsbesitzer s­eien aufgrund ihrer komfortablen wirtschaftlichen Lage (zollfreier Getreideexport nach Schweden, „staatlich garantierte billige Arbeitskräfte“) Innovationen gegenüber verschlossen gewesen; vgl. Buchholz (wie Anm. 24), S. 90. 37 Buchholz (wie Anm. 25), S. 226.

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Herrschaftsgewalt in der Hand des Monarchen“.38 Mit der Auflösung der pommerschen Regierung am 18. Juni 1806 übertrug er alle Befugnisse auf den Generalgouverneur Hans Henrik von Essen (1755 – 1824)39 als seinen direkten Vertreter. In den folgenden Wochen wurden als Ansatz zu einem alle Bereiche umfassenden Reformkatalog mehrere schwedische Gesetzeswerke in Vorpommern eingeführt. An dieser Stelle sollen jedoch die angestrebten Agrarreformen von besonderem Interesse sein. Den ersten Schritt bildete, ähnlich wie beim preußischen Oktoberedikt, die Aufhebung der Leibeigenschaft am 4. Juli 1806. Um langfristig eine breite Schicht mittelgroßer Bauernbetriebe mit zusammenhängenden Flurstücken nach dem Vorbild der Agrarverfassung im schwedischen Mutterland zu etablieren, sollte an die befreiten Bauern Domänenland (also staatliches Land) verteilt werden. Die schwedische Vorgehensweise wollte den Adligen – anders als in Preußen – zwar ihr gesamtes Land lassen, der plötzliche Wegfall der bäuerlichen Dienste wäre jedoch entschädigungslos und aufgrund ihres erheblichen Umfangs verheerend für die Gutsbesitzer gewesen. Da die Vorbereitungen hierzu, speziell für die Landvermessung, aber zu langwierig waren, wurden sie durch die beginnende französische Besetzung 1807 abgebrochen und nach der Rückgabe Vorpommerns an Schweden 1810 nicht wieder aufgenommen.40 Dies hatte zwei Gründe: Erstens verschenkte Napoleon umfangreiches Domänenland als Belohnung an seine Militärs, das diese nach dem Ende der französischen Besatzung behalten oder weiter­verkaufen durften. Zweitens vollzog sich in Schweden selbst 1809 ein doppelter, teils gewaltsamer Machtwechsel. Gustav IV. Adolf wurde durch eine Adelsrevolte seines Amtes ­enthoben. Sein Nachfolger Karl XIII. (1748 – 1818) hatte als Regenten und zukünftigen König den ehemaligen französischen Marschall Jean Baptiste Bernadotte (1763 – 1844) adoptiert und eingesetzt, der sich jedoch zunächst vorrangig den außenpolitischen Herausforderungen widmete. Aufgrund der genannten Hindernisse zur tatsächlichen Umsetzung der schwedisch inspirierten Agrarreform „fielen die ehemaligen Leibeigenen […] buchstäblich ins Nichts“,41 d. h. es war nun die entschädigungslose Einziehung von Bauernland möglich geworden. Außerdem stellte die Gesindeordnung von 1810 fast den Zustand der Leibeigenschaft wieder her, indem alle ehemaligen Leibeigenen ab einem Alter von 15 Jahren einem Dienstund Arbeitszwang unterworfen wurden; ihre Zuweisung zu einem Gut konnte mitunter 38 Buchholz (wie Anm. 24), S. 107. Vgl. auch Lars Dalgren, Pommern und Schweden 1792 bis 1806. Der Staatsstreich von 1806 und dessen Vorgeschichte, in: Pommersche Jahrbücher, 17 (1916), S. 1 – 199. 39 Vgl. zur Person und zu seiner Rolle bei der Verteidigung Vorpommerns gegen die französischen Truppen sowie insbesondere bei der Einigung Schwedens und Norwegens 1814 den Artikel auf den Seiten der norwegischen Regierung, ­welche auf dem Norsk Biografisk Leksikon beruhen: https://www.regjeringen.no/en/the-government/previous-governments/ministries-and-offices/ offices/governor-1814---1873/hans-henrik-von-essen/id479730/, letzter Zugriff: 19. 04. 2020. 40 Vgl. Buchholz (wie Anm. 25), S. 229 – 236. Für Details zu den geplanten Modalitäten der Landvergabe vgl. auch Fuchs (wie Anm. 25), S. 235 f. 41 Fuchs (wie Anm. 25), S. 237.

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durch den Kreishauptmann erzwungen werden.42 Wenngleich das preußische Pendant aus dem gleichen Jahr kaum als bahnbrechende freiheitlich-humanitäre Errungenschaft bewertet wurde,43 ist sie doch kaum mit dem vorpommerschen Gesetzeswerk vergleichbar, zumal in Schwedisch-Pommern deutlich mehr Menschen betroffen waren. Diese Umstände waren nach dem Herrschaftswechsel 1815 auch der preußischen Regierung bekannt geworden und Thema zahlreicher Schriftwechsel. So berichteten 1817 etwa Innenminister Friedrich von Schuckmann (1755 – 1834) und Justizminister Friedrich Leopold von Kircheisen (1749 – 1825) an den König und urteilten, es gebe keine wirkliche Freizügigkeit, der „Dienstzwang ist härter als jener der Leibeigenschaft selbst“,44 und die Polizeibehörden ­seien bei dessen Durchsetzung kaum an Regeln zur Verhütung von Willkür gebunden.

6. Stände Als der das ländliche sozioökonomische Gefüge wesentlich prägende Akteur verdienen die Stände einen genaueren Blick. Sie vereinigten als Institution, bestehend aus der landbesitzenden Ritterschaft und Vertretern der Städte, eine Fülle von Machtbefugnissen in sich und galten als einflussreicher Widerpart zur schwedischen Gewalt südlich der Ostsee. Werner Buchholz, der sich um die Erforschung des ständischen Systems besonders verdient gemacht hat, vergleicht explizit die schwedisch-pommerschen Landstände mit denen von Jülich-Berg und der Niederlausitz, „die gegenüber dem kurpfälzischen bzw. dem sächsischen Landesherrn und seiner Verwaltung sich ebenfalls als die Bewahrer von Kontinuität und Eigenart des Landes verstanden haben“.45 Ihre relative Eigenständigkeit gegenüber dem Landesherrn ist unbedingt hervorzuheben, was sich verstärkt im Kontrast etwa zu Brandenburg-Preußen zeigte, denn sie bedingte sich nicht zuletzt auch durch die Wechsel der territorialen Zugehörigkeiten in der Epoche der Staatsbildungsprozesse während des 17. Jahrhunderts. Schweden bestätigte den Ständen der neugewonnenen Gebiete ihre alther­gebrachten Privilegien unter Zurückstellung etwa vorhandener

42 Vgl. Johannes Weise, Die Reformpolitik Preußens. Dargestellt am Beispiel des vormaligen Schwedisch-Pommern, in: Reformen in der Geschichte. Festschrift für Wolf D. Gruner, hg. v. Anke John (Rostocker Beiträge zur Deutschen und Europäischen Geschichte 14), Rostock 2005, S. 35 – 60, hier S. 52. 43 Vgl. Klaus Tenfelde, Ländliches Gesinde in Preußen. Gesinderecht und Gesindestatistik 1810 bis 1861, in: Archiv für Sozialgeschichte, 19 (1979), S. 189 – 229; Wolfgang Radtke, Branden­ burg im 19. Jahrhundert (1815 – 1914/18). Die Provinz im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum (Brandenburgische Geschichte in Einzeldarstellungen 5, zugl. Bibliothek der branden­ burgischen und preußischen Geschichte 15), Berlin 2016, S. 376. 44 GStA PK, I. HA, Rep. 74 Staatskanzleramt, Abt. K III, Nr. 22, Bl. 23v. 45 Werner Buchholz: Die pommerschen Landstände unter brandenburgischer und schwedischer Landesherrschaft 1848 – 1815. Ein landesgeschichtlicher Vergleich, in: Land am Meer. Pommern im Spiegel seiner Geschichte. Festschrift für Roderich Schmidt, hg. v. dems. und Günter Mangelsdorf, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 427 – 455, hier S. 433.

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Integrationsbemühungen, wie es beispielsweise auch Sachsen bei der Erwerbung der Nieder­lausitz tat.46 Dies begünstigte eine wechselseitig wahrgenommene Abgrenzung und Aufrechterhaltung einer separaten regionalen Identität.47 Buchholz vergleicht unter dieser Fragestellung die Entwicklung der schwedisch-pommerschen mit den brandenburgisch-pommerschen Ständen nach der Landesteilung im Zuge des Dreißigjährigen Krieges. Dabei kommt er zu dem Schluss, trotz einer annähernd gleichen Ausgangslage hätten sich Adel und Stände auf brandenburgischer Seite rasch integriert – und durchaus freiwillig angesichts des staatlichen bzw. kurfürstlichen Entgegenkommens.48 Auf der anderen Seite der Grenze jedoch vermochten die Stände ihre Privilegien zunehmend auszubauen, zumal Schwedisch-Pommern weiterhin zum Alten Reich gehörte. Die schwedischen Gesetze galten dort nicht und auch in Schweden selbst stand bekanntlich die monarchische Gewalt im 18. Jahrhundert auf recht schwachem Fuße. Ihre Doppelfunktion als schwedische Könige sowie Herzöge von Pommern und Fürsten auf Rügen vermochten die nordischen Herrscher so zu trennen, dass Schwedisch-Pommern im 18. Jahrhundert durchaus als aktives und treues Reichsmitglied anzusehen ist. Als ein solches leistete es seinen Beitrag selbst dann, wenn die Interessen des Reiches denen Schwedens entgegenstanden.49 Die pommerschen Stände entsandten dementsprechend nur sporadisch Deputierte an den Reichsrat nach Stockholm, es existierte dort keine permanente Vertretung. Im reichsweiten Vergleich hatten nach Buchholz die pommerschen Landstände bereits im 16. und 17. Jahrhundert mehr Kompetenzen angesammelt als üblich – ihr Einfluss reichte in die Domänenverwaltung, die Hofhaltung, das Justiz- und Kirchenwesen bis hinein in die Außenpolitik, doch auch für das Gemeinwohl setzten sie sich ein. Drehund Angelpunkt ihrer Machtposition stellte gleichwohl die Kontrolle des öffentlichen Finanzwesens dar.50 Neben dem üblichen Bewilligungsrecht erreichte der Adel sogar, dass die Gutsbesitzer in ihren Bezirken die landesherrlichen Steuereinnehmer selbst einsetzten und besoldeten. Selbst bei der Akziseverwaltung als „de[m] einzige[n] Zweig der landesherrlichen Behörden­organisation […], der das ganze Land erfasste“,51 duldeten sie keine landes­herrlichen Beamten in den Gutsbezirken. Während in den Städten die Abgabe direkt 46 Für Schwedisch-Pommern vgl. Buchholz (wie Anm. 45), S. 436; für die Niederlausitz vgl. Klaus Neitmann, „der wahren, hohen Bestimmung ihrer Ständischen Existenz“. Ständewesen und Regionalismus im Markgrafentum Niederlausitz in sächsischer Zeit (1635 – 1815), in: ­Preußen und Sachsen. Szenen einer Nachbarschaft, hg. v. Frank Göse, Dresden 2014, S. 418 – 427, hier S. 422. 47 Vgl. Buchholz (wie Anm. 45), S. 430; Neitmann (wie Anm. 46), S. 418. Auch in der Selbstwahrnehmung der Niederlausitzer Stände bestand ein solches Bild: „Diese Provinz befand sich seit Jahrhunderten in dem Besitze einer wohlgeordneten ständischen Verfassung, die sie durch die Stürme vielbewegter Zeiten glücklich erhalten hatte.“ Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 37 Guts- und Herrschaftsarchive, Lieberose, Nr. 777, Bl. 162r. 48 Vgl. Buchholz (wie Anm. 45), S. 438 – 441. 49 Vgl. Buchholz (wie Anm. 4), S. 49 und 275. 50 Vgl. Buchholz (wie Anm. 45), S. 434 und 449 f. 51 Buchholz (wie Anm. 4), S. 457.

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von Akziseeinnehmern erhoben wurde, war sie auf dem Land vierteljährlich nach Anzahl der dort lebenden Menschen pauschal zu entrichten (daher auch „Quartalpersonensteuer“ genannt), wofür die Gutsherren eine entsprechende Liste bei den Akzisekollekturen einzureichen hatten. Die Einziehung selbst besorgte jedoch ein ihnen verpflichteter Landkastenkollektor.52 Oft übte dieser sein Amt nur als Nebentätigkeit aus, war hauptsächlich landesherrlicher Beamter bei der Akzise oder bei Gericht, mithin nach heutigem Verständnis ob seiner zwei verschiedenen Dienstherren in einem Interessenkonflikt gebunden. Tatsächlich aber steigerte diese Konstellation nur noch die Macht der lokalen Obrigkeiten und ihrer Organe.53 Nicht einmal beim Militärdienst reichte der landesherrliche Zugriff bis in die Gutsbezirke: Die dort lebenden Leibeigenen waren vor Werbungen geschützt, da sie als Teile des dem Gut innewohnenden Kapitals galten. Außerdem besetzten die adligen Rittergutsbesitzer und städtischen Eliten zahlreiche Posten in Regierung und Verwaltung aus ihren eigenen Reihen, wodurch enge personelle Abhängigkeiten und Überschneidungen entstanden. Lediglich der Generalgouverneur, in Personalunion zugleich Kanzler der Universität Greifswald, sowie der Präsident des Wismarer Tribunals unterstanden direkt dem König.54 Zusätzlich vermochten die Stände die Erhebungsgrundlagen der direkten Steuern in ihrem Sinne zu gestalten. Da ein realistisches Kataster fehlte, bestand de facto bis ins 19. Jahrhundert hinein nahezu kein Zusammenhang z­ wischen der Größe des tatsächlichen Grundbesitzes und der zu entrichtenden Grundsteuer. Selbst die 1709 abgeschlossene, für ihre Zeit einmalig detaillierte und umfangreiche Landvermessung Schwedisch-Pommerns 55 kam nach den systemischen Wandlungen und der damit zusammenhängenden Machtsteigerung der Stände nicht zu ihrer intendierten Anwendung als Grundlage eines ­Katasters. Stattdessen wurde bereits 1658 einfach eine fiktive, „reduzierte“ Anzahl von 10.000 Hufen für das gesamte Land festgelegt, 1681 heruntergesetzt auf 5000 Hufen. Nach einem bestimmten Schlüssel verteilte sich diese „Usualmatrikel“ dann auf Städte, Ritterschaft und Domänenämter.56 Eine wesentliche Veränderung erfuhr das System in Schwedisch-Pommern und damit die Vorherrschaft der Stände gegenüber dem König und seiner Regierung in Stralsund an der Wende zum 19. Jahrhundert. Bereits Gustav III. hatte sich um die Durchsetzung 52 53 54 55

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 226. Vgl. ebd., S. 130 f. Die umfangreichen Katasterkarten und Ortsbeschreibungen liegen mittlerweile vollständig in digitaler, effektiv recherchierbarer Form vor auf der Seite http://www.svea-pommern.de, letzter Zugriff: 15. 04. 2020. Zur Einordnung des seit 1992 laufenden Editionsprojektes in analoger, gedruckter Form vgl. auch den jüngsten Beitrag der Reihe: Ergebnisse eines Editionsprojekts im Kontext der Forschung (Die schwedische Landesaufnahme von Vorpommern 1692 – 1709, Sonderbd. 3), hg. von Michael Busch im Auftrag der Historischen Kommission für Pommern, Kiel 2015. 56 Vgl. Buchholz (wie Anm. 4), S. 167 – 184.

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seines Autoritätsanspruches gegenüber den stets als Widerpart wahrgenommenen Ständen bemüht. Die Finanzierung seiner Kriegsführung sowie die Versorgung der Bevölkerung, zu der pommersches Getreide essentiell beitrug, bildeten zentrale Streitfragen. Gustav IV. Adolf bestätigte dann als erster Monarch bei seinem Regierungsantritt 1792 die pommerschen Privilegien nicht mehr, erhöhte im Gegenteil die Steuerlast. Das Jahr 1801 markierte schließlich den Wendepunkt im Verhältnis z­ wischen beiden Parteien, als der König die landes­herrliche Kontribution um 50 Prozent heraufsetzte – denn von der Drohung der Stände, vor dem Reichshofrat zu klagen, ließ der König sich nun nicht mehr abschrecken. Schon drei Jahre s­ päter mussten die Stände einen weiteren Betrag bewilligen, der so hoch ausfiel, dass sie die Summe nicht wie bisher mittels einer Umlage aufbringen konnten, sondern ihnen selbst weitere drückende Schulden auferlegte. Die staatsstreichartige Aufhebung der landständischen Verfassung und Eingliederung in den schwedischen Staat 1806 beendete im Prinzip das Mitspracherecht der Stände – zumindest kurzfristig.57 Den weiteren Entwicklungen während der napoleonischen Zeit widmen sich andere Beiträge in d ­ iesem Band. An dieser Stelle sei nur hinzugefügt, dass auch nach dem Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen 1815 die Stände als durchsetzungsstarker Konterpart zur Berliner Zentrale auftraten und so manche Reform zu blockieren wussten. Man darf also durchaus nicht allein einer möglichen schwedischen Nachlässigkeit die „Schuld“ an den eben beschriebenen Entwicklungen zuschreiben.

7. Zusammenfassende Einordung Während in Preußen durch das Regulierungsedikt 1811 und dessen Deklaration 1816 die geregelte Neuordnung der ländlichen Besitz- und persönlichen Verhältnisse ­zwischen Gutsherren und Bauern zumindest ihren Anfang genommen hatte, stand in Neuvorpommern die Aufhebung der Leibeigenschaft völlig losgelöst von jeglicher planmäßigen Regulierung. Eine rigorose Gesindeordnung hatte den ursprünglich positiv intendierten Anfang schwedischer Agrarreformen im Grunde zunichte gemacht, überhaupt existierten nurmehr sehr wenige freie Bauernstellen. Gesetze des 17. Jahrhunderts, die das Bauernlegen ausdrücklich gestatteten und die Bauern zu bloßen Gegenständen herabwürdigten, blieben in Kraft. Insgesamt hatte sich im Verlauf der Schwedenzeit eine wirtschaftliche Elite formiert, die sich durch ihre sehr einseitige Ausrichtung charakterisieren lässt: Sie stützte sich auf die Produktion und den Export, nur in geringem Maße auf die Weiterverarbeitung von Getreide, auf Schweden als Handelspartner und auf die im Mittelalter wurzelnden systemischen Formen von Handel und Gewerbe, die Veränderungen im Wirtschaften kaum zuließen. Landwirtschaft und Getreideexport standen in einer quasinatürlichen Symbiose und waren einträglich genug, dass auf der einen Seite zu wenige Unternehmer genötigt waren, sich alternativen Erwerbsquellen zuzuwenden, und auf der anderen Seite diejenigen, 57 Vgl. ebd., S. 50 – 53 und S. 419 – 421.

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die es dennoch wagten, durch die Etablierten und deren Machtmittel verdrängt werden konnten. Der schwedische Staat verfolgte in Pommern primär eigene Interessen, so dass die gesetzgeberischen Versuche zur Wirtschaftslenkung nicht dazu führten, dass ein innovationsbereites, kapitalkräftiges Stadtbürgertum entstand. Zudem ist eine enge Verzahnung der ländlichen Verfassung mit den gewerblichen Entwicklungspotentialen zu vermuten. Die Leibeigenschaft beispielsweise behinderte die Freizügigkeit der Arbeitskräfte ganz erheblich.58 Auf dem Land bot die sehr gute Bodenqualität die lukrativsten Aussichten, in den Städten war Vermögen eher durch Handel als durch Produktion zu generieren. Ritter­schaft und städtische Obrigkeiten vermochten somit ökonomisch und institutionell eine Vormachtstellung zu etablieren, mit der sie sich gegen landesherrliche Bestrebungen genauso wie gegen innovationsfreudige Landsleute durchsetzten.

58 Vgl. ebd., S. 81.

Das Königreich Schweden und seine deutschen Provinzen angesichts der napoleonischen Gefahr in der Darstellung des Wismarer Superintendenten Joachim Heinrich Eyller Nils Jörn

Es war einmal eine kleine Stadt an der Wismarbucht, die seit dem verlustreichen Großen Nordischen Krieg viele Jahrzehnte brauchte, um zu verstehen, dass ihre großen Zeiten vorbei waren, niemals wiederkehren würden und dass niemand mehr etwas von ihr wissen wollen würde. Grandiose Zeiten hatte sie erlebt; begünstigt durch ihren guten Hafen, war sie im 12. und 13. Jahrhundert schnell zu einer bedeutenden Hansestadt aufgestiegen und hatte neben Lübeck, Hamburg und Rostock die Politik des mächtigen Bundes wesentlich mitbestimmt. Ihre Kaufleute hatten schon früh sehr weitreichende Privilegien in den nordischen Reichen England, Schottland und Frankreich errungen und diese über Jahrhunderte zu ihrem Vorteil genutzt.1 Der Durst Europas hatte dafür gesorgt, dass es in den zahlreichen Brauhäusern Wismars immer zu tun gab, man sich drei ebenso mächtige wie reich ausgestattete Stadtkirchen, mehrere wohlhabende Klöster, ein prächtiges Rathaus, befestigte Straßen und vieles andere leisten konnte, das für mecklenburgische Städte nicht selbstverständlich war.2 Innerhalb des Herzogtums nahm sie neben Rostock eine starke Position ein und agierte sehr selbstbewusst, so dass man sich im Alten Reich oftmals verwundert fragte, ob man es hier mit einer freien Reichsstadt zu tun habe. Das war sie nicht, aber in puncto Selbstbewusstsein stand sie den größeren Kommunen im Reich wenig nach. Das steigerte sich noch, als die Schweden Wismar im Zuge des Dreißigjährigen Krieges zu ihrem Zentralort auf deutschem Boden machen wollten. Die standesbewussten Landstände Bremens, Verdens und Pommerns konnten gerade noch verhindern, dass eine gemeinsame Regierung in dieser für ­solche Pläne so günstig gelegenen Stadt ­etabliert wurde, das gemeinsame höchste Gericht aber nahm seinen Sitz im ehemaligen Palast des Herzogs, einem prächtigen Gebäude, umrahmt von zwei eindrucksvollen ­Kirchen. Und der Palazzo wurde bald mit regem Leben erfüllt. Neben dem Stralsunder Syndikus David Mevius (1609 – 1670), der sehr klug als Gründungsdirektor agierte, kamen mehrere Dutzend Juristen von europäischem Niveau in die Stadt und sorgten dafür, das Tribunal zu einem

1 Siehe dazu das Wismarer Privilegienbuch, das alle Privilegien der Stadt bis zum Jahre 1350 verzeichnet sowie die Codices X und Y, die diese Privilegien bis ins 18. Jahrhundert fortführen. 2 Für die frühe Entwicklung der Stadt Luisa Radohs, Vom portus Wissemer zur Hansestadt Wismar. Untersuchungen zur Stadtentstehung Wismars im 13. Jahrhundert auf Grundlage der archäologischen Quellen (Findbücher, Inventare und kleine Schriften V), Wismar 2016.

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Modellgerichtshof im Alten Europa werden zu lassen.3 Schnell, unstrittig und kosten­günstig wurde nicht nur Recht gesprochen, sondern dank der schwedischen Soldaten auch noch vollstreckt.4 Und neben der juristischen Seite hatte das Tribunal noch eine andere, die für die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Stadt fast noch wichtiger war: Es zog zahlreiche Diplomaten aus Europa hierher, in diesen Außenposten Schwedens auf deutschem Boden. Nicht nur am Fürstenhof, sondern auch im Rathaus herrschte ein reges Kommen und Gehen,5 wichtige Gespräche wurden geführt, prächtige Bälle veranstaltet, die ausländischen Diplomaten brachten Geld und Kaufkraft in die Stadt – es schien, als würde man immer neue Rekorde aufstellen können im Verbrauch von Wein und Bier, bei den Begängnissen von Festen und Feuerwerken. Doch es kamen nicht nur die hochrangigen, gern gesehenen Gäste mit viel Geld, die Bevölkerungszahl der Stadt verdoppelte sich fast ob der vielen Soldaten, die zumeist mit ihren Familien in die Häuser der Städter einzogen. Die Stadt wurde zu einer der bedeutendsten Festungen Europas ausgebaut mit ausgefeilten Schanzen und Escarpen, Laufgräben, einem riesigen Zeug- und einem ebenso großen Provianthaus;6 das alles mit dem Geld der Städter, aber wenn man bedeutend sein will, hat das eben auch seinen Preis. Wie hoch der Preis wirklich war, sollte sich bald herausstellen. Durch die Explosion dreier Pulvertürme wurden im Herbst 1699 80 Prozent der Dächer abgedeckt,7 Anfang 3 Kjell Åke Modéer, Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium. Teil 1: Voraussetzungen und Aufbau 1630 – 1657 (Skrifter Institutet för Rättshistorisk Forskning Grundat av Gustav och Carin Olin 24), Stockholm 1975; Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653 – 1806), hg. v. Nils Jörn, Bernhard Diestelkamp und Kjell Åke Modéer (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 47), Köln/ Weimar/Wien 2003; Servorum Dei Gaudium. Lebensbeschreibungen aus dem Umfeld des Wismarer Tribunals, hg. v. Nils Jörn (Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte 3), Greifswald 2003. 4 Für die Prozessakten des Tribunals siehe die Findbücher: Akten des Schwedischen Tribunals zu Wismar – Staatsarchiv Stade – Herzogtümer Bremen und Verden, 1653 – 1715, 2 Bände, bearb. und eingel. v. Beate-Christine Fiedler, Hannover 2012; Inventar der Prozeßakten des Wismarer Tribunals, 8 Bände, hg. v. Nils Jörn (Findbücher, Inventare und kleine Schriften I), Wismar 2008 – 2011. 5 Die seit 1631 überlieferten Protokolle des Rates und der Bürgermeister sind voll von Notizen zu hochrangigen Gästen aus dem Alten Reich und dem schwedischen Großreich. Bisher sind diese Besuche leider nicht systematisch ausgewertet worden. Für die Jahre vor dem Westfälischen Frieden gibt es Prozessakten, in denen z. B. der Wirt der Hamburger Herberge, des ersten Hauses am Platze, die Bezahlung der Verpflegung hochrangiger Gäste einklagt und diese mit Namen, Aufenthaltsdauer und Verzehr benennt (AHW, Prozessakten des Tribunals, Nr. 2038). Vergleichbare Angaben findet man auch für spätere Jahrzehnte in den verschiedenen Akten. 6 Klaus-Dieter Hoppe, Der schwedische Festungsbaumeister Erik Dahlberg und Wismar, in: Wismarer Beiträge, 11 (1995), S. 43 – 53; Ulla Ehrensvärd, Erik Dahlbergh und Wismar, in: Wismarer Beiträge, 19 (2014), S. 80 – 90; Martin Meier, Baron Martin Schoultz von Ascheraden (d. J.) als Kommandant der Festung Wismar 1711 – 1716, in: Wismarer Beiträge, 20 (2015), S. 32 – 43. 7 Ein in Nürnberg im Jahre 1699 gedrucktes Flugblatt findet sich in AHW, Crull-Sammlung, Nr. 1030. In den Wismarer Ratsakten finden sich detaillierte Auflistungen über Schäden der

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Dezember 1703 stürzte der Turm der Nikolaikirche in das Kirchenschiff und machte die bis dahin so prächtige K ­ irche zu einer Ruine.8 1716 wurde die Stadt von den Nordischen Alliierten bombardiert, ausgehungert und konnte durch die Schweden nicht entsetzt werden. 1718 mussten die in jahrzehntelanger Arbeit errichteten Festungsanlagen von ihren Erbauern dem Erdboden gleichgemacht werden – die große Niederlage der einst so stolzen Großmacht wurde greifbar.9 Aber dass es so schlimm kommen musste? Zwar zogen die Schweden Ende des Jahres 1720 wieder ein und eröffneten auch das Tribunal wieder in alter Funktion. Aber große Teile Pommerns und die Herzogtümer Bremen und Verden gehörten nicht mehr zum Gerichtssprengel.10 Von Pracht war ebenso wenig die Rede wie von reichen, ausländischen Besuchern. Und aus den mehr als 3000 Soldaten, die Sold und Beute versaufen mussten, waren ganze 80 geworden, meist abgelebte Veteranen, die gern Geschichten von großen Zeiten erzählten, aber die wollte in Wismar niemand wirklich hören. Man kannte sie selbst nur zu gut. Hier war man immer schon zu mehr geboren und konnte mit weniger schlecht umgehen. Als es dann Jahrzehnte dauerte, bis die letzten Kriegsschäden repariert waren, in den 1780er Jahren der Fürstenhof brannte, einstürzte und es mehr als ein Jahrzehnt brauchte, bis das prächtigste weltliche Gebäude der Stadt wieder notdürftig repariert war,11 da sah man das Ende heraufdämmern, hatte aber immer noch nicht die Phantasie sich vorzustellen, was das Schicksal für die Stadt bereithalten würde. In einem Pfandvertrag wurden Stadt und Herrschaft 1803 für 100 Jahre an Mecklenburg zurückgegeben.12 Mit dem Tribunal, so klein es sich auch geschrumpft hatte, verlor die Stadt ein Jahr zuvor den letzten Bürger bei dieser Explosion, aber auch Korrespondenz mit Städten aus dem Alten Reich und Schweden, in der Unterstützung zum Wiederaufbau zugesagt wird (AHW, Ratsakten 0635 f.). Vgl. Klaus-Dieter Hoppe, Die Explosion der Wismarer Pulvertürme am 28. Juli 1699, in: Katastrophen in Norddeutschland. Vorbeugung, Bewältigung und Nachwirkungen vom Mittel­ alter bis ins 21. Jahrhundert, hg. von Ortwin Pelc (SWSG 45), Neumünster 2010, S. 43 – 47. 8 Siehe u. a. die Darstellung d ­ ieses Ereignisses in Dieter Schröder, Wismarische Prediger =­ ­Historie, Wismar 1734, S. 252, die aussagestarken Kirchenrechnungen der Nikolaikirche in den auf die Katastrophe folgenden Jahren und Nils Jörn, Die Wismarer Kirchenrechnungen. Eine wichtige Quelle zur Geschichte des Wismarer Handwerks, in: Wismarer Beiträge, 22 (2016), S. 32 – 55. 9 Dazu das Tagebuch von Hermann Gabriel von der Fehr über die Kriegsereignisse im Jahre 1716 (AHW, Chroniken, Nr. 18). 10 Nils Jörn, Das Tribunal nach dem Ende der schwedischen Großmachtzeit, in: Servorum Dei Gaudium (wie Anm. 3), S. 319 – 328. 11 Nils Jörn, Das Archiv des Wismarer Tribunals, in: Integration durch Recht (wie Anm. 3), S.  329 – 366. 12 Bruno Schmidt, Der schwedisch-mecklenburgische Pfandvertrag über Stadt und Herrschaft Wismar, Wismar 1901; Hans Witte, Wismar unter dem Pfandvertrage 1803 – 1903, Wismar 1903; Gerd Giese, Die Abtretung Wismars von Schweden an Mecklenburg, in: Wismarer Beiträge, 9 (1993), S. 12 – 19; Anke Wiebensohn, Die Integration Wismars in das Herzogtum Mecklenburg nach 1803 (Schriftenreihe der David-Mevius-Gesellschaft 9), Hamburg 2015.

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Glanz, als das Gericht zunächst nach Greifswald, dann nach Stralsund zog.13 Und man nahm in mecklenburgischen Zusammenhängen nicht etwa unmittelbar wieder den Platz neben Rostock ein, wie man sich das im Geheimen erhofft hatte, sondern stellte sich ganz hinten an. Keine Einladung zu Landtagen, keine Entscheidungsmöglichkeiten innerhalb der Landstände, keinen Sitz in der Regierung oder bei Gericht, dafür Steuerzahlung und weiterhin Zölle beim Handel in die Umgebung. Die nur noch 6200 Einwohner stöhnten unter ihrem Schicksal. Das wurde nicht besser dadurch, dass Wismar genau wie das übrige Mecklenburg in den Krieg Österreichs, Englands, Russlands und Schwedens gegen Napoleon gezogen wurde. Russische und schwedische Truppen marschierten im Oktober und November 1805 in Wismar ein, vier Wochen lang mussten 9000 Soldaten verpflegt werden. Ein Jahrhundert zuvor hätte die Stadt das irgendwie geschafft. Jetzt war sie seit kurzem komplett entmilitarisiert, drei Generationen lang hatte man nur mit sehr wenig Militär gelebt. Man war an Plünderungen nicht mehr gewöhnt, ebenso wenig wie an außergewöhnliche Kraftanstrengungen, die in der Großmachtzeit noch an der Tagesordnung gewesen waren.14 Das alles verschärfte sich nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt. Flüchtende Preußen zogen verfolgende Franzosen nach sich und in die Stadt, für weitere zehn Tage wollten 3600 von ihnen verpflegt werden, aber mit Wein, Weißbrot und Braten, wie die Ratsproto­ kolle bitter vermerken. Besonders allergisch reagierten die französischen Truppen auf das, was die Wismarer Käse nannten und ihnen aufzutischen wagten. Um die Franzosen etwas günstiger zu stimmen, machten die Wismarer diesen ein „Geschenk“ von 5200 Talern. Als sich herausstellte, wie sehr die Besatzer s­ olche Geschenke mochten, wurden diese immer wieder gefordert. Bis zum April 1807 wechselten so mehr als 100.000 Taler den Besitzer. Da die Stadtkasse leer war, folgte eine Umlage der Bürger der nächsten. Bis zum Sommer 1808 stand Wismar unter französischer Besatzung, erst danach zogen wieder mecklenburgische Truppen ein. Der folgende Frieden sorgte dafür, dass vor allem der Seehandel erneut aufblühte und die Wismarer immerhin für einige Monate gute Geschäfte machen konnten.15 Doch wir wissen es alle, der Frieden währte nicht lange, im August 1813 waren die unliebsamen Besucher zurück.16 Nun ist die Bühne also bereitet, unser Protagonist Joachim Heinrich Eyller (1761 – 1841) kann sie betreten. Und er betritt sie mit einem Gedicht, in dem er sehr schön „Sieben Kriegstage in Wismar, Ende August und Anfang September 1813“ zusammenfasst:

13 Nils Jörn, Die Verlegung des Wismarer Tribunals nach Pommern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Baltische Studien, NF 89 (2003), S. 93 – 112. 14 Das zeigen neben vielen anderen die Klagen der Familie Bade und Calsow sowie des Rittmeisters von Raven gegen den Wismarer Rat vor dem Hof- und Landgericht Güstrow wegen der französischen Zwangsanleihe (AHW, Ratsakten 2244 f.). 15 Wiebensohn (wie Anm. 12). 16 Die Diskussionen um die Aufteilung dieser französischen Forderungen lassen sich in einer ganzen Serie der Ratsakten nachvollziehen: AHW, Ratsakten 2246 – 2258.

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Abb. 1: Sup. Joachim Heinrich Eyller um 1833 „nach dem Leben gezeichnet von cand. theol. R. Ebers“, Quelle: Stadtarchiv Wismar

Am Sonntag ward illuminiert, französisch getanzt und musiciert, der Wein dabei war requiriert und unsre Damen hinforcirt. Montags, man wieder wegmarschirt, die Thör verrammelt, alamirt, sogar durch Strohdampf schwarz tingirt, der Bürgermeister fortgeführt. Am Dienstag Jäger einquartirt, gefrohlockt und gar schön traktiert. Zugleich wird Abends scharmuzirt. Franzmänner wieder einpassirt, die Schills und Jäger retirirt, geplündert ward, wie’s nicht gebührt. Zur Mittwoch wurd’ viel requirirt 17 Und Donnerstag contribuirt,

französischer Sieg auch proclamirt, (die Nachricht war imaginirt) die ganze Nacht illuminiert, ein Ball blieb leider! ganz früstrirt, weil alle sich bald ganz skisirt und unsre Gelder man einführt. Drangvolle Zeit uns mächtig rührt! Freitags sind Schweden einmarschirt, mit Mecklenburger einlogirt, geschmauset und auch jubelirt. Geschütz ward Samstag durchgeführt und viele Mannschaft durchpassirt, von jetzt an keine Noth gespührt. Drum dankt am achten Tag gerührt Dem Gott, der Krieg und Frieden führt!!! 17

17 Für das folgende AHW, Corpus Juris Statuarii Wismariensis, Vol. XIV, fol.  119 – 200.

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Schon d ­ ieses Gedicht eröffnet uns eine gänzlich neue Perspektive auf die Zeit, die sich natürlich in zahllosen Akten des Rates und in anderen Provenienzen niedergeschlagen hat. Dort liest man sehr nüchtern von den Bemühungen des Bürgerausschusses, unter den Wismarer Frauen das Wäschewaschen für die Garnison aufzuteilen,18 die Arbeit der Einquartierungskommission problemlos ablaufen zu lassen, um sich keine Strafe der Franzosen zuzuziehen,19 oder das Waisenhaus zum Lazarett für die französischen Soldaten umzubauen.20 Nun erhalten wir einen persönlichen, sehr privaten Einblick in einen der prominenten Wismarer Haushalte. Wer war dieser Joachim Heinrich Eyller? Er war nahezu ein Altersgenosse Arndts, 1761 in Rostock als Sohn des Kaufmanns und Ratsherrn Johann Friedrich und der Sophie Dorothea Goltermann geboren. Nach dem Studium der Theologie in Rostock machte er eine etwas verzögerte kirchenübliche Karriere und wurde mit 33 Jahren Diakon an St. Marien zu Wismar, 1807 Archidiakon, 1831 Erster Pfarrer, zwei Monate s­ päter dann Superintendent. Zehn Jahre ­später starb er an einem Schlaganfall. Verheiratet war er seit 1794 standesgemäß mit Eleonore Dorothea Koch (1758 – 1832), der Tochter seines Vorgängers als Superintendent, Ehrenreich Christoph Koch (1714 – 1784). Zu der Zeit, als er sein kleines Gedicht schrieb, war er also 52 Jahre alt, verheiratet, in verantwortlicher, leidlich bezahlter Position an der Marienkirche, lebte in einem ca. 100 Quadratmeter großen, ansehnlichen Amtshaus der ­Kirche in der Schatterau, das heute nicht mehr steht.21 Im Mai 1813 hatte er an den Schreib- und Rechenmeister Johann Anton Friedrich Soltau einen Wohnkomplex z­ wischen Böttcher- und Breiter Straße verkauft, bestehend aus einem Wohnhaus sowie einem Garten und einem Torweg, und muss also, da er das Geld nicht in anderen Häusern angelegt hatte, einiges Bargeld im Haus gehabt haben.22 Keine gute Idee, wenn mehrere tausend gut aufgelegte Besatzer in der Stadt sind und Häuser durchsuchen, wie er selbst an verschiedenen Beispielen berichtet. So hatte man einem Knecht auf der Klußmühle vor Wismar wegen eines Kantens Brot in den Unterleib geschossen, er war daraufhin verblutet. Der alte Kaufmann Wachenhusen war in der Lübschen Straße von drei jungen Burschen gestellt und von ihnen so lange als Kreisel benutzt worden, bis er sich erinnerte, wo er sein Geld hatte, immerhin 36 Reichstaler, die fröhlich lachend aufgeteilt und sofort versoffen wurden.23 Eyller nahm das ganz bewusst zur Kenntnis, er hatte Angst vor einer Haussuchung und Plünderungen und wusste, dass seine beiden Dienstmädchen 18 AHW, Bürgerausschuß und Stadtverordnetenversammlung, Nr. 0137. 19 AHW, Bürgerausschuß und Stadtverordnetenversammlung, Nr. 0138, 0309, 0342. 20 AHW, Bürgerausschuß und Stadtverordnetenversammlung, Nr. 0564. 21 Gustav Willgeroth, Die Mecklenburg-Schwerinschen Pfarren seit dem Dreißigjährigen Kriege, Bd. III, Wismar 1925, S. 1358; AHW, Kastenarchiv Techen, Nr. 11, 34, 59; Prozess­akten des Waisengerichts, Nr. 480/02. Warum Eyller nicht im Archidiakonat in unmittelbarer Nähe der Marienkirche und seiner Kollegen, des Superintendenten und des Pfarrers an der Marienkirche lebte, ist nicht bekannt. 22 AHW, Prozessakten des Ratsgerichts 1750 – 1871, Nr. 2436. 23 Tagebuch Eyllers.

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ihn nicht s­ chützen konnten und sein Amt als protestantischer Geistlicher bei überwiegend katholischen Truppen sicherlich auch keine Empfehlung war. Seinem nahezu 20 Jahre s­ päter verfassten Testament nach zu urteilen, hatte er keine irdischen Reichtümer erworben.24 Er bedachte seine Schwester, die Tochter seines verstorbenen Bruders, die er als seine Pflegetochter angenommen hatte, die Enkelin seiner Schwägerin, die er ebenfalls als Pflegetochter angenommen hatte, sowie die Tochter seiner Schwägerin. Die vier sollten sich den Erlös aus dem Verkauf seiner Kleidung und seiner Möbel zu gleichen Teilen aufteilen, das Waisenhaus und die Kochsche Stiftung, eine Freischule, erhielten je 5 Reichstaler, zur Wegebesserung setzte er 2 Reichstaler ein. Zudem bat er den Rat darum, seinen Erbinnen die Erlöse aus dem Gnadenjahr zu lassen. Leider erfahren wir nicht, was es tatsächlich zu verteilen gab. Aus dem Verzeichnis seiner auktionierten Bücher nach seinem Tode gehen keine erzielten Preise hervor, wir haben nur die Auflistung von 21 Foliobänden, 166 Quartbänden, 2325 Oktavbänden, 131 Duodezbänden, mehreren Dutzend Karten und Plänen sowie Lithographien, Kupferstichen und Eisengüssen, zahlreichen gerahmten Porträts bedeutender Theologen, aber auch von Friedrich Wilhelm III., Friedrich Wilhelm IV., Fürst Blücher und General Gneisenau; und da schloss sich wohl sein Lebenskreis, wenn man bedenkt, dass er sich mit denjenigen umgab, die die Franzosen endgültig in die Flucht geschlagen hatten. Wenn bei der Auktion nicht alles schiefgegangen war, müssen die Erben für seine Bibliothek einige tausend Reichstaler erzielt haben.25 Dies nur zur Charakterisierung unseres Tagebuchschreibers, bei dem wir uns im Folgenden mit einigen Zitaten bedienen wollen:26 „Den um 6 ¼ Uhr abends d 25ten [August] angelangten fr. Uhlanen oder Lanciers ­welche ins Mecklenburger Thor gesprengt kamen und sich von da in der Stadt, und größtentheils übers Markt nach dem Altwismar Thor verbreiteten, folgten gegen 7 Uhr circa 200 Mann fr. Chasseurs zu Pferde, und 400 Mann Dänischer Dragoner unter Anführung des nur mit einem Arm und zwar dem rechten versehenen Generals Loison,27 ­welchen Zug wieder vielleicht 20 Mann Lanciers beschlossen. Es ging alles grade durch wieder zum Altwismar Thor hinaus, nur einiges blieb hier, um den sogleich versammelten Magistrat gehörig mit den Forderungen an die Stadt bekannt zu machen. Diese waren 50/m 28 Rthlr 29 Contribution, 60/m Scheffel Haber hinlänglich Fleisch und Brot für das Armee Corps, wovon an d ­ iesem Tage 15/m Mann, und am folgenden noch mehrere kommen würden. Fast alle Mannschaft würde bivouaquiren, nur ein Bataillon würde zur Handhabung der Policey und zur Sicherheit in der Stadt bleiben. Sicherheit und Schutz sey jedem, welcher sich ruhig verhalte, zugesichert. […] Gegen 8 Uhr kamen 400 Mann fr. Infanterie, w ­ elche in der Stadt blieben, aber größtentheils auf dem 24 Prozessakten des Waisengerichts, Nr. 480/02. 25 Kastenarchiv Techen, 11,4: Verzeichnis der vom Herrn Superintendenten Eyller ­hinterlassenenen Bücher, ­welche öffentlich versteigert werden sollen 1841. 26 Tagebuch Eyllers, fol. 125 – 130. 27 Louis Henri Loison (1771 – 1816), General seit 1793. 28 50/m = 50.000. 29 Rthlr = Reichstaler.

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Markte bivouaquiren. Es wurde nun durch Trommelschlag bekannt gemacht, dass jeder Einwohner sein vorräthiges Brodt nach dem Magazin in der Kloster ­Kirche abliefern, und die ganze Nacht hindurch Licht vor den Fenstern halten sollte. Die Becker wurden aufgefordert die ganze Nacht hindurch zu backen, damit die verlangten 15/m Rationen Brodt am folgenden Tage vorräthig wären.“ Am übernächsten Morgen war das Brot aufgegessen und der französische General gab den Wismarern eine Stunde Zeit, um ihr gesamtes Brot bei zwei Kaufleuten abzuliefern. Wenn es nicht ausreiche, werde er drei Regimenter in die Stadt einrücken und diese plündern lassen. Der Rat forderte alle Bäcker der Stadt auf, ununterbrochen zu backen, und stellte Unmengen an Brot bereit, die dann teilweise von den Truppen unter den entsetzten Augen der Wismarer „mit einem wüsten Lachen in den Koth“ getreten wurden. Am nächsten Morgen fanden Truppendurchzüge von mehreren tausend Franzosen statt. Da Eyller einer derjenigen in der Stadt war, bei dem durch die Gottesdienste Informationen zusammenliefen, erfuhr er, dass die Franzosen die Strohhütten, die sie sich aus den aufgestellten Garben gebaut hatten, in Brand gesteckt hatten. Nachfolgende Truppen­ teile bauten sich einfach neue Unterkünfte aus Stroh, fackelten aber auch diese bei ihrem Abrücken wieder ab. Dieses Vorgehen stieß der Bevölkerung der umliegenden Güter ebenso bitter auf wie den Wismarern, ging es doch um einen großen Teil der Getreideernte, von dem man leben wollte, der aber auch zum Verkauf, zum Mälzen und Brauen bestimmt war, mithin die Nahrungs- und Erwerbsgrundlage für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung darstellte. Für die Truppen zum Mittag forderte man 40.000 Pfund Reis, eine Forderung, die nicht erfüllbar war, weil es nicht einmal 10 Pfund in der Stadt gab. Um sich freizukaufen, musste die Bevölkerung binnen einer Stunde 1000 Louis d’or aufbringen. Der General selbst verlangte zu Mittag unter seinen sechs Gängen einen respektablen Hecht und danach einen entsprechend dekorierten Hirsch. Da beides in der Küche gerade aus war und da wegen der Kriegszeit von denselben Franzosen, die jetzt Forderungen stellten, sowohl Fischerei- als auch Jagdverbot ausgesprochen worden war, stand der Wismarer Rat erneut vor der Heraus­ forderung, sich angemessen zu entschuldigen, kam aber nicht ganz so billig wie beim Reis davon. Diesmal wurden 5000 Louis d’or fällig, immerhin hatte man zwei Stunden Zeit. Auch wenn die Wismarer lange keine Erfahrung mehr mit solchen Forderungen hatten, fanden sie sich in der Not doch rasch zusammen. Die Verantwortlichen der Quartiere in den Kirchspielen konferierten mit Vertrauten, um sich ein finanzielles Polster anzulegen und nicht immer wieder neu überrascht zu werden. Eyller deutet dies nur an, aus den Ratsakten erhellt aber, dass die Rats- und Quartierherren insgeheim bei der ersten Forderung gleich wesentlich mehr Geld von den Einwohnern einsammelten, um für alle Weite­ rungen gerüstet zu sein. Auch der Sonntag brachte neue Überraschungen. Alle Damen von Stand wurden zu einem Ball ins Rathaus eingeladen, natürlich ohne ihre Ehemänner. Ausreden wie Krankheit etc. zählten nicht, es sollte ein französischer Sieg über die Preußen gefeiert werden. Die Damen zeigten ihre schlechte Stimmung aber wohl so deutlich, dass sie damit alle

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Sprachbarrieren überwanden und gehen durften. Eine schlechtgelaunte Wismarerin ist tatsächlich eine Maßeinheit, die man neben Kilogramm und Liter international einführen sollte – ich weiß das aus täglicher Erfahrung. Natürlich könnten wir jetzt seitenlang weitere Beispiele aus dem Tagebuch anführen für neue Rohheiten, Entgleisungen und Plünderungen der feindlichen Truppen. Eigentlich verhielten sie sich genauso, wie man das von Besatzern erwartet. In Chroniken und Briefen klingt es nur immer noch unschöner, als es tatsächlich war. Eyller jedenfalls reagierte angemessen böse auf all diese Herausforderungen, beschimpfte die Franzosen und bestärkte die eigenen Truppen. Als zwischenzeitlich die Schill’schen Jäger wieder einrückten, besuchte er Bekannte auf Wache, sprach ihnen Trost und Kampfesmut zu und brachte ihnen zur Aufheiterung der Laune Essen und natürlich einige Flaschen Rotwein. Und da er wollte, dass sie gewinnen, holte er aus seinem Keller den guten, den französischen. Stellen wir Eyller eine zuverlässige Zeugin an die Seite, die Frau des ­Tribunalregistrators Scheffel, eine gebürtige Fabricius aus Greifswald. Sie schrieb ihrem Bruder, dem Hofrat ­Fabricius in Greifswald am 4. September 1813 über das Erlebte:30 „Fr. sprengten [am 26. August] herein, besetzten alle Thöre. Der General Loison, der viele Generäle bey sich hat, wird unter das Thor vom Magistrat empfangen. Er ruft, der Magistrat sollte nach dem Markt gehen. Nun kam eine erstaunliche Menge Menschen herein; in der Stadt blieben nur die vornehmsten Offcir und einige Truppen. […] Zu 40 Personen wird seine Tafel bestellt. Den Morgen lässt er sagen, wenn seine Taafel nicht besser besetzt würde, so wollte er den Bürgermeister erschiesen laßen und den andern Rathsherrn die Knute reichen. Nun ging das Requiriren an, die Weinkeller sind fast alle läär, die LäbensMitteln, Wein, 800 Decken musten, von Fries, den andern Morgen geliefert werden. Die Stadt und alle Güter musten Pferde liefern. Die besten Pferde hier aus der Stadt wurden zum Theil ausgesucht, Preis festgesetzt und der Stadt die Zahlung überlassen; von Pöhl allein 80. So wie sie ankamen, ward ihr Mark eingebrannt, und alle weg. Eine Menge Ochsen und Kühe ward weggetrieben. Die Güter, die dicht an der Stadt liegen, mußten große Lieferung von allen nach Schwerin ­schicken. Das Korn, was noch auf dem Felde lag, wurde zu Wachtfeuer mutwillig verbrannt. Davor ließ er den 26sten des Abends 6 Uhr austrommeln, seine Truppen hätten nicht Brod genug; er hätte befohlen, wenn nicht um einer Stunde so viehl Wagen mit Brod herausführen, so sollten sie zur Plünderung hereinrücken. In den Straßen ward es bekandt gemacht, und ein jeder mußte das Brod, was er im Hause hatte, gäben. Wie das Brod um 1 Stunde ankomt, sind alle Menschen gesätiget und es liegt noch eine Menge gantze bröde dort. Den 26sten ward eine Contribution von 12000 rt gleich gefodert, [der General] war aber so gnädig und nahm mit 10.000 vorlieb. Seine Creaturen sind in Forderung unerschöplich.“ Sie berichtete im Folgenden davon, was dem gemeinsamen Bruder, der Ratsherr in Wismar war, angetan worden war. Bürgermeister von Breitenstern, Fabricius und der Stadtsekretär Walther wurden von den Franzosen als Geiseln genommen. Als die Bürger gegen immer neue, immer höhere Forderungen aufbegehrten und vor den Toren Gefechtslärm 30 Für das folgende siehe AHW, Ratsakten, Nr. 3136.

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laut wurde, der den Truppen Schills und den Mecklenburgern zuzuordnen war, wurden die drei an das Altwismartor gekettet neben zwei Wagen mit Pech und Teer. Die Franzosen gingen davon aus, dass Wismarer Bürger zu den Feinden laufen und diesen schildern würden, dass drei hochrangige Vertreter an das Tor gebunden waren und es unklug wäre, auf d ­ ieses zu schießen. Frau Fabricius fand dafür starke Worte: „Der General, der Satan! In den höchsten Galgen solte er hängen.“ Bevor man eine wackere pommersche Seele zu solchen Ausbrüchen treibt, braucht es schon eine Menge. Aber auch der fromme Eyller schimpfte in seinem Tagebuch wie ein Kesselflicker über das, was den Wismarern und ihren Nachbarn angetan wurde. Nun ist Krieg – und dies als schlichte Erkenntnis aus allen gehörten Schilderungen – ganz sicher nicht die beste Zeit, um ­zwischen den Feinden gute Gefühle aufkommen zu lassen. Umso mehr sollte man alles dafür tun, ihn zu vermeiden. Der gute Eyller, in dessen Bibliothek sich zahlreiche französische Bücher fanden, wird diese wahrscheinlich vorher gern gelesen haben, nach den unschönen Kontakten mit den französischen Soldaten bekam die Lektüre mit Sicherheit einen faden Beigeschmack. Der blieb, denn die Franzosenzeit, so kurz sie in Wismar auch war, hob die Stadt endgültig aus den Angeln. Unter den schlechten äußeren Bedingungen des Pfandvertrages, die für die ehemalige Herrschaft Wismar ­zwischen Schweden und Mecklenburg ausgehandelt worden waren, war es schwer, die Wirtschaft anzukurbeln. Das Geld, das die Franzosen von den Wismarern erpresst hatten, war ebenso wie die Mittel, die die Wismarer den Mecklen­burgern und Schweden freiwillig gegeben hatten, um sie auszurüsten, für städtische Projekte verloren. Die äußeren Rahmenbedingungen waren zudem nicht so, dass das Geld an anderer Stelle wieder hereinkam. Wichtige Innovationen wie der Bau von Eisenbahnen oder Chausseen gingen zunächst an einer Stadt vorbei, bei der nicht klar war, ob es sich lohnte, in sie zu investieren. 1903 hätte immerhin für die Schweden die theoretische Chance bestanden, das Pfand wieder einzulösen. Die wirtschaftlichen Entwicklungen waren in dieser Zeit nicht komplett gestoppt worden, immerhin waren große Brauereien gegründet worden, denn Ärger macht immer Durst – eine Erkenntnis, die zeigt, dass es doch etwas gibt, das Pommern und Mecklenburger verbindet. Auch mehrere große Reedereien befuhren von Wismar aus Europa und die Welt und machten gute Geschäfte.31 Wichtige Infrastrukturentscheidungen wurden aber in der Region in genau dieser Zeit getroffen, in denen die äußeren Umstände sehr ungünstig für Wismar waren, und so ist der Hauptbahnhof der Stadt bis heute in Bad Kleinen und man fühlt sich in Wismar trotz jahrzehntelanger positiver Entwicklung in vielen Fragen immer noch etwas abgehängt.32 31 Rainer Däbritz, Wismarsche Reedereien. Die Reederei David Daniel Erdmann & Co, in: Wismarer Beiträge, 22 (2016), S. 56 – 67; ders., Wismarsche Reedereien. Der Korrespondentreeder Johann Carl Ihn, in: Wismarer Beiträge, 25 (2020), S. 268 – 287. 32 Ein sehr viel differenziertes Bild von den Entwicklungen im 19. Jahrhundert zeichnet Anke Wiebensohn in ihrer hervorragenden Masterarbeit, vgl. Wiebensohn (wie Anm. 12).

Stralsund, Kolberg, Stettin Pommerns Festungen zur Zeit der Napoleonischen Kriege Felix Biermann und Gunnar Möller

1. Einleitung Ternis invicta coronis / Unbesiegt unter den drei Kronen – so stand es bis vor 150 Jahren noch auf einem der barocken Vortore der Festung Stralsund. Die Wirklichkeit spiegelten diese Worte nicht wider. Bekanntermaßen widerstand die Stadt zwar der Belagerung durch die kaiserlichen Truppen im Jahr 1628, sie musste sich aber 1678, 1715 und 1807 ihren Belagerern ergeben. In den vier Jahren von 1805 bis 1809, in denen sich Stralsund fast durchgängig im Kriegszustand befand, wurde die Festung viermal angegriffen (jeweils zweimal 1807 und 1809), dreimal eingenommen (einmal 1807 und zweimal 1809) und war 1809 – im Zusammenhang mit den Aktivitäten Ferdinand von Schills (1776 – 1809) – zweimal Schauplatz erbitterter Straßenkämpfe. „Der größte Teil der bedeutenderen damaligen Ereignisse [in Schwedisch-Pommern] fand in oder um Stralsund statt“, wie der Bürgermeister Otto Francke in seinem Buch Aus Stralsunds Franzosenzeit bemerkte.1 Schon in diesen wenigen Nachrichten wird die Bedeutung von Pommerns Festungen für das Verständnis der damaligen Zeitläufte deutlich: Sie waren zentrale Stützpunkte der Heeresorganisation wie auch Schauplätze bedeutender militärischer Ereignisse, und Letztere bestimmten die Epoche in mancher Hinsicht: Die Abfolge großer Kriege in Mittel­europa, insbesondere jene der napoleonischen Epoche, prägte das Handeln, Denken und die Emotionen der Akteure, auch die Radikalität, die uns in zeitgenössischen Schriften entgegentreten kann. Ernst Moritz Arndts Äußerungen und Handlungsweisen sind ohne Berücksichtigung der bewaffneten Konflikte ­zwischen 1792 und 1815 bekanntlich schwerlich zu begreifen. Die kriegerischen Aspekte der Epoche materialisieren sich in den Festungen. Unter Rückgriff auf historische Überlieferungen, Bildquellen, architektonische und archäolo­gische Zeugnisse sollen diese hier in Bezug auf die Ereignisgeschichte beleuchtet werden, wofür sich das schwedische Stralsund (Abb. 1) und das preußische Kolberg (Kołobrzeg) (Abb. 2) als Beispiele empfehlen. Beide Städte waren zu Beginn der Napoleonischen Kriege stark ausgebaute Wehranlagen der beiden damals in Pommern herrschenden Mächte, sie sind in reichen Quellen aller genannten Arten nachvollziehbar, und sie wurden zu Schauplätzen besonders dramatischer Begebenheiten jener Zeit: Kolberg mit der Belagerung von 1807, Stralsund mit dem Tod Ferdinand von Schills im Jahre 1809. Zusammen mit Stettin (Szczecin) waren diese Plätze auch die wichtigsten Festungen 1 Otto Francke, Aus Stralsunds Franzosenzeit. Ein Beitrag zur Geschichte dieser Stadt, Stralsund 1870, S. 2.

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Abb. 1: Stralsund, Luftbild der Stralsunder Altstadt von der Knieperteichseite mit Hospitaler, Küter- und Katharinenbastion (Hansestadt Stralsund, Abt. Planung und Denkmalpflege)

Abb. 2: Kolberg, die 1807 als Lazarett verwendete Marienkirche in der Altstadt, 1930 (Aufnahme Alois Raslag, Bildpostkarte Trinks und Co., Leipzig; Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Deutsche Fotothek, df_hauptkatalog_0352538)

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jener Zeit im Lande. Anhand des Beispiels von Stralsund werden die Entwicklung und die Geschicke einer pommerschen Festung in den Napoleonischen Kriegen beleuchtet, während Kolberg den Ablauf einer Belagerung veranschaulicht. Den historischen Hintergrund bilden die Revolutions- und Koalitionskriege ­zwischen 1792 und 1815, die sich zunächst aus den Konflikten ­zwischen den Mächten der Alten Ordnung und dem revolutionären Frankreich, dann aus Napoleon Bonapartes (1769 – 1821) Streben nach Machtexpansion in große Teile Europas ergaben. Seit dem Dritten Koalitionskrieg 1805 war Pommern indirekt involviert, denn dem gegen Frankreich gerichteten Bund aus Österreich, Russland und Großbritannien gehörte auch Schweden mit seinen Besitzungen im Süden der Ostsee an. Nachdem Napoleon in der Schlacht von Austerlitz Österreich und Russland geschlagen hatte, brach das Bündnis auseinander. Der Vierte Koalitionskrieg 1806/1807, in dem Preußen und Russland, England und Schweden gemeinsam gegen Frankreich antraten, betraf dann unmittelbar Pommern, denn wieder war der ­Kaiser der Franzosen siegreich. Preußisch- wie Schwedisch-Pommern wurden erobert und besetzt, Preußen war schwer getroffen und musste im Frieden von Tilsit (9. Juli 1807) harte Bedingungen, hohe Zahlungen und große Gebietsverluste akzeptieren. Danach gehörte der Großteil Pommerns – mit dem hier besonders betrachteten Kolberg – zwar weiterhin zum unbesetzten Preußen, stand aber in verschiedener Hinsicht unter dem Einfluss des übermächtigen napoleonischen Frankreich. Schwedisch-Pommern mit Stralsund war zeitweise sogar direkter französischer Herrschaft unterworfen. Diese traditionell als „Franzosen­zeit“ bezeichnete Phase umfasste nur wenige Jahre: Nach dem für Frankreich desaströsen Ausgang des Russlandfeldzuges 1812 und den daraufhin allerorten aufflammenden Befreiungskriegen brach die französische Herrschaft auch in Pommern zusammen. Als die französische Besatzung der Festung Stettin am 5. Dezember 1813 – bereits allein auf weiter Flur – kapitulierte, endete d ­ ieses kurze, aber folgenreiche Kapitel der europäischen und pommerschen Geschichte.2

2. Festungen in Pommern vom 16. bis frühen 19. Jahrhundert Seit dem 16. Jahrhundert verbreitete sich von Italien ausgehend im europäischen Forti­ fikationswesen als Reaktion auf die immer effektiveren Feuerwaffen ein neuer Typus von Befestigungsanlagen, der auf systematisch angelegten Bastionen basierte und daher als Bastionärsystem bezeichnet wird. Statt hoch aufragender Mauern wurden geduckte, aber starke Erdwerke errichtet, die im Idealfall steinerne Fronten und bunkerartige Kasematten umfassten, die Beschuss mit wirksamer Artillerie auszuhalten vermochten, die von 2 Vgl. zum Überblick zu dieser Zeitspanne mit Bezug auf Pommern: Werner Buchholz (Hg.), Pommern (Deutsche Geschichte im Osten Europas), Berlin 1999, S. 298 – 301 (Martin ­Schoebel), S. 358 – 364 (Werner Buchholz), und Veit Veltzke (Hg.), Für die Freiheit – gegen Napoleon. Ferdinand von Schill, Preußen und die deutsche Nation, Köln/Weimar/ Wien 2009, mit vielen wichtigen Beiträgen und Zeittafel.

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Vermessern nach streng geometrischen Berechnungen entworfen wurden und die insbesondere die Flankierung (Feuer entlang der eigenen Linien) ermöglichten: Der Gegner sollte sich in einem von polygonalen Bastionen und Gräben gebildeten, komplex aufgebauten Verteidigungsring und innerhalb desselben in einem Netz von Schussbahnen verlieren.3 Auch in Pommern entstanden seit dem 16. Jahrhundert derartige Befestigungen. Die besterhaltenen Bastionen dieser Art präsentiert die Gräflich-Schwerin’sche Veste Spantekow südwestlich von Anklam,4 aber insbesondere im 17. Jahrhundert verfügten etliche Schlösser, viele kleinere Orte und alle großen Städte über derartige Wehrbauten. Gerade am Meer wurden diverse Plätze mit solchen Befestigungen versehen, zur Abwehr von Küstenlandungen oder zur Sicherung der Häfen für den Nachschub über See. Der Ausbaugrad konnte sehr unterschiedlich sein, von eher schwachen, gegebenenfalls rasch und anlassbezogen errichteten Holz-Erde-Werken nur an besonders gefährdeten Abschnitten bis hin zu abgemauerten, kasemattierten Werken rund um die Örtlichkeit. Letzteres war mit ungeheurem Aufwand und großen Kosten verbunden. Solche Maßnahmen, die nur die Landesherren, bedeutende Magnaten und große Städte zu stemmen vermochten, zogen sich meist über Jahre hin. War etwas fertig, wurden schon wieder Erneuerungen notwendig, da die Belagerungs- und Waffentechnik beständige Fortschritte machte.5 Am Beispiel Stralsunds lässt sich das Wechselspiel aus Wehrbau und Angriffstechnik unter dem Druck der Ereignisse gut nachvollziehen. Nachdem die Stadt schon im Allianzvertrag von 1628 mit Schweden verbündet und 20 Jahre ­später im Zuge des Westfälischen Friedens mit Vorpommern und Stettin an das skandinavische Königreich gefallen war, wurde der verteidigungsgünstig ­zwischen Gewässern gelegene Ort zu einer der stärksten Festungen des nördlichen Mitteleuropas und Skandinaviens ausgebaut.6 Er blieb bis 1815 3 Vgl. z. B. Hartwig Neumann, Festungsbaukunst und Festungsbautechnik. Deutsche Wehrbauarchitektur vom XV . bis XX . Jahrhundert. Mit einer Bibliographie deutschsprachiger Publikationen über Festungsforschung und Festungsarchitektur 1945 – 1987, Koblenz 1988 (ND Ausgburg 2000). 4 Vgl. Georg Dehio Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Bd. 5: Mecklenburg-Vorpommern, hg. Hans-Christian Feldmann und Gerd Baier, München/Berlin 2000, S. 566. 5 Vgl. zum Überblick und mit weiterer Literatur: Klaus-Dieter Hoppe, Die schwedischen Festungen in Mecklenburg und Vorpommern, in: Ein Jahrtausend Mecklenburg und Vorpommern. Biographie einer norddeutschen Region in Einzeldarstellungen, hg. von Wolf Karge, Peter-Joachim Rakow und Ralf Wendt, Rostock 1995, S. 171 – 178; Felix Biermann, Ralf Gebuhr und Gunnar Möller, Neuzeitliche Befestigungen von Städten in Mecklenburg-­ Vorpommern, in: Archäologie unter dem Straßenpflaster. 15 Jahre Stadtkernarchäologie in Mecklenburg-Vorpommern. Ausstellungskatalog, hg. von Hauke Jöns, Friedrich Lüth und Heiko Schäfer (Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns, 39), Schwerin 2005, S. 233 – 240. 6 Zur Stralsunder Festung siehe Jürgen Petersohn, Stralsund als schwedische Festung, in: Baltische Studien, NF 45 (1958), S. 95 – 124; Herbert Langer, „Schwedenbauten“ – Festungswesen in Vorpommern während des 17. Jahrhunderts, in: Innovationen im Schwedischen Großreich, hg. v. Christoph Schmelz und Jana Zimdar (Schriftenreihe der David-Mevius-Gesellschaft 3), Hamburg 2009, S. 119 – 160; Gunnar Möller und Angela Pfennig, Die Stralsunder Festung,

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Abb. 3: Stralsund, Plan von Stadt und Festung 1807 (StA HSt)

der beherrschende Brückenkopf Schwedens südlich der Ostsee, um, wie Schwedens Festungsdirektor Johann Bernhard Virgin (1705 – 1783) 1781 feststellte, „dort eine beträchtliche Anzahl Truppen haben zu können, um sich auf einem fremden, durch das Meer vom Staate getrennten Lande zu erhalten, und um zum Waffenplatz und Depot einer Armee zu dienen, die auf dem festen Lande zu fechten bestimmt ist, oder […] ihren Rückzug zu decken“.7 Die über 380 Festungs- und Detailpläne der Stralsunder Fortifikationen im Stockholmer „Krigsarkiv“ sind ein sichtbarer Beweis für die schwedische Wertschätzung dieser Stadt. Davon sind rund 60 der napoleonischen Epoche vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis 1815 zuzurechnen.8 Die nunmehr immer perfekter ausgebauten Bastionen, Ravelins (Grabenschilde), Tenaillen (zangenförmigen Werke) und Wassergräben bestimmten ab dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts das Stadtbild für die nächsten 200 Jahre (Abb. 3). Noch heute erinnern daran die mächtigen Bastionen auf der Knieper- und Frankenteichseite in: Festungsbaukunst in Europas Mitte. Festschrift zum 30-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Festungsforschung (Festungsforschung, 3), Regensburg 2011, S. 199 – 222; Robert Oldach, Stadt und Festung Stralsund. Die schwedische Militärpräsenz in Schwedisch-­ Pommern 1721 – 1807 (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns, 20), Köln/Weimar/Wien 2018. 7 Johan Bernhard Virgin, Le defense des places mise en equilibre avec les attaques savantes et fuireuses d’aujourd’hui, Stockholm 1781; deutsch: Verteidigung der Festungen im Gleich­ gewicht mit dem Angriff, München 1820, hier S. 366 f. 8 Petersohn (wie Anm. 6), hier S. 114‒’120.

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(Abb. 1). Insgesamt waren es 13 Bastionen. Die massiven Horn- und Kronwerke sowie Verschanzungen vor den Landtoren sind dagegen kaum noch auszumachen oder existieren nur noch als Bodendenkmale. Eine Ausnahme stellt die Sternschanze auf dem Dänholm dar. Auch wenn sie in der preußischen Zeit ­zwischen ca. 1830 und 1860 Kasematten und Kasernenbauten erhielt, blieb ihre Grundform unverändert. Die verbesserte Belagerungsartillerie führte 1678 im Schwedisch-Brandenburgischen Krieg zu schweren Zerstörungen in der Stadt. In deren Folge fiel Stralsund kurzzeitig an den Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620 – 1688). 1711, 1713 und 1715 wurde Stralsund erneut durch verbündete preußische, sächsische, russische und dänische Truppen belagert und schließlich trotz Gegenwehr der Schweden unter Kommando ihres kriegerischen Königs Karl XII. (1682 – 1718) kurz vor Weihnachten 1715 erobert. Infolge der dabei deutlich gewordenen Schwachstellen baute man die Festung im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer umfangreicher aus. Exemplarisch soll nur auf ein wohl hier erstmals getestetes, ­später sehr wichtiges Fortifikationsprinzip eingegangen werden: Im Siebenjährigen Krieg, der 1758 auch zur preußischen Blockade Stralsunds führte, probierten die Schweden auf Anregung des 1756 in ihre Dienste getretenen französischen Offiziers Marc René Marquis de Montalembert (1714 – 1800) ein neuartiges Fortifikationssystem aus: Im Vorfeld der eigentlichen Bastionen, die der Franzose für überholt hielt, sollte eine Kette von sogenannten detachierten (losgelösten) Redouten entstehen, die feindliche Artillerie und Sappeure (Festungspioniere) auf Abstand zu halten hatte. Jede der gut bestückten palisadenbewehrten Erdredouten sollte außerdem eigenständig die Feinde bekämpfen, den benachbarten Werken Feuerschutz gewähren, Ausfälle der Belagerten decken sowie feindliche Truppen und deren Artillerie binden (Abb. 4). Von ­diesem Projekt gibt es ein archäologisches Zeugnis: Bereits vor 1930 wurde bei Baumaßnahmen in der Friedrich-Naumann-Straße, ca. 500 Meter nördlich der Altstadt, ein kreuzförmiger Minengang entdeckt, der ­später in Vergessenheit geriet und 1993 erneut freigelegt wurde. Er gehörte wohl zu einem 1758 auf Anregung des Marquis errichteten detachierten Werk. Das Minensystem diente dazu, ­dieses bei drohender Eroberung in die Luft zu sprengen. An weiteren Standorten derartiger Außenbefestigungen dürften noch vergleichbare Gangsysteme existieren.9 Allerdings gingen die schwedischen Fortifikationsoffiziere in der Folge wieder vom Prinzip der detachierten Werke ab und setzten weiter auf den Ausbau des bastionären Systems. Davon wurden vor gut 15 Jahren am Frankendamm Reste freigelegt: breite und tiefe Festungsgräben sowie bis zu 2,70 Meter starke Backsteinmauern der Eskarpedes Franken­hornwerks (Abb. 5). Nach Jahrringdaten aus dem hölzernen Fundament wurden diese kurz nach 1707 errichteten Vorfeldverteidigungsanlagen (Retranchements) 1756 verstärkt.10 Weitere Rettungsgrabungen am selben Hornwerk erbrachten neben Massengräbern 9 Möller und Pfennig (wie Anm. 6), S. 201 ff. 10 Renate Samariter, Archäologie in den Vorstädten Stralsunds, in: Stralsunder Hefte für Geschichte, Kultur und Alltag 2009, S. 87 – 95, hier S. 92 – 94.

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Abb. 4: Stralsund, Modell eines der detachierten Werke nach Montalembert, Original als Dauerleihgabe des Reichsarchivs Stockholm im Pommerschen Landesmuseum Greifswald (Foto StAHSt)

aus dem Dreißigjährigen und Nordischen Krieg auch massive Fortifikationen und Spuren ihrer Abtragung im Jahr 1808/1809.11 Entlang des Strelasunds legte man im 17./18. Jahrhundert zusätzliche Kanonenstellungen hinter Erdschanzen an – besonders eindrucksvoll die bereits im Dreißigjährigen Krieg erbaute und s­ päter noch ausgebaute Prosnitzer Schanze auf Rügen. So prägten Schanzarbeiten und Festungswerke über Jahrhunderte das Bild von Stralsund und seiner Umgebung. 11 Jörg Ansorge, Ein Massengrab aus der Zeit des Nordischen Krieges auf dem ehemaligen Frankenhornwerk in Stralsund, in: Archäologische Berichte aus Mecklenburg-Vorpommern, 17 (2010), S.  122 – 135; Marlies Konze, Renate Samariter, Vom Kronwerk des Dreißigjährigen Kriegs – Festungsbau in der Stralsunder Frankenvorstadt, in: Kulturerbe 8, Schwerin 2014, S. 155 – 170.

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Abb. 5: Stralsund, Reste des 1808/1809 abgebrochenen Frankenhornwerks (Foto Marlies Konze, Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern, Landesarchäologie)

3. Stralsund und Gustavia 1805/1806 – Vorbereitungen auf den Ernstfall Mit den Baumaßnahmen nach dem Siebenjährigen Krieg im Bereich des Franken- und Knieperhornwerks, der Tribseer und Semlower Bastionen – Letztere ersetzte man durch eine zeitgemäße Kaponniere (vorgeschobene Bastion mit Schießkammern) – war im Wesentlichen der Zustand der Festung zu Beginn der napoleonischen Ära am Ausgang des 18. Jahrhunderts abgeschlossen. Unter Beisein des schwedischen Königs Gustav IV. Adolf (1778 – 1837) wurden in der Zeit, als Schweden der Dritten Koalition gegen das napoleonische Frankreich beitrat (am 3. Oktober 1805 in einem Allianzvertrag mit Großbritannien), lediglich die Außenwerke vor dem Tribseer Tor verstärkt.12 1806 wurde mit Genehmigung 12 Johann Georg Eck, Reisen in Schweden, Leipzig 1806, S. 269: „Die Festungswerke […] sind in der neuesten Zeit durch mehrere Bastionen verstärkt und erweitert worden.“ Auch der Pfarrer Wendelin Zink erwähnt ein 1804 angelegtes, 1808 wieder eingeebnetes „Castel“ vor dem Tribseer Tor, vgl. Wendelin Zink, Erinnerung aus meinem Leben 1777 – 1840, hg. von Stephan Kotzula, 2 Bde. Berlin 1991, hier Bd. II, S. 5.

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des Königs geplant, etwa 1800 Meter vor den äußeren Festungsanlagen des Franken- und Kniepertors Vorstädte anzulegen. Das kam wegen der sich überstürzenden militärischen Ereignisse nicht zur Ausführung. Einen Eindruck vom Aussehen der Stralsunder Festung vermittelt ein Plan aus dem Jahr 1806 (Abb. 6). Sahen vor allem schwedische Militärs die Stralsunder Festung als eine der stärksten in Norddeutschland an,13 so fiel das Urteil anderer Fachleute kurz vor der französischen Belagerung 1807 weniger zuversichtlich aus. Der preußische General Friedrich Philipp von Cardell (1773 – 1834), dessen Bruder Carl (1764 – 1821) zu Stralsund in schwedischen Diensten stand, schätzte die Stadt im Frühjahr 1807 wie folgt ein: „Rings um die Festung ging ich, um die trefflichen VerteidigungsAnstalten zu besehen, und ich muß gestehen, daß man nichts Vollkommeneres sehen konnte. Der tätige Geist meines Bruders zeigte sich unverkennbar an allem, was […] die Artillerie, betraf; aber […] ich habe ihn [den Platz] nie für uneinnehmbar gehalten, und zwar ­erstens in Hinsicht des Terrains vor der Festung, welches so eingeengt ist, daß es fast keine Außenverteidigung zuläßt und dem Feind die Möglichkeit gibt, […] sogleich bis an den Hauptgraben und folglich unter den Hauptwall zu kommen; wird zweitens während der Belagerung […] die Stadt bombardiert, so muß die Besatzung auf dem Hauptwall braten, weil die Häuser der Stadt bis beinahe auf die Brustwehr des Walles gebaut sind; und drittens hat die Festung fast gar keine Kasematten.“ 14 Maßgeblich für eine erfolgreiche defensive Strategie sind die militärische Disziplin und die Kampfbereitschaft der Verteidiger. Diese waren bei den Schweden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht allzu hoch. Viele der schwedischen Offiziere sympathisierten mit Napoleon Bonaparte und bewunderten sein militärisches Genie.15 Andere Zeitgenossen, darunter Ernst Moritz Arndt, hielten die moralischen Qualitäten der Offiziere für bedenklich. Auch die unteren Dienstgrade, „aus allen Weltgegenden zusammengeworbenes Gesindel“, so Arndt, wiesen wohl nicht immer eine hohe Kampfmoral auf.16 Die persönliche Abneigung des schwedischen Königs Gustav IV. Adolf gegen den selbsternannten ­Kaiser Napoleon führte Schweden an die Seite anderer Staaten in den Dritten Koalitionskrieg gegen Frankreich. Schweden erhielt umfangreiche Geldzuwendungen Großbritanniens für Festungsanlagen und Truppen. In dieser Zeit marschierte ein 20.000 Mann starkes russisches Korps durch Schwedisch-Pommern nach Norddeutschland, wo 13 U. a. hielt Virgin (wie Anm. 7) Stralsund für sehr vorteilhaft befestigt. 14 Gustav von Diest, Aus der Zeit der Not und Befreiung Deutschlands in den Jahren 1806 bis 1815, Berlin 1905, hier S. 62 ff. 15 Gunnar Möller, Lord Cathcart’s expedition to Stralsund. Die Landung der Königlich-Deutschen Legion 1807 auf Rügen und in Stralsund, in: Stralsunder Hefte für Geschichte, Kultur und Alltag, 2 (2018), S. 12 – 19, hier S. 13 f. 16 Im in Stralsund stationierten Leibregiment der Königin waren nur etwas mehr als ein Viertel der Offiziere Schweden, die Übrigen stammten aus Pommern und dem weiteren Norddeutschland, dem Alten Reich, dem übrigen Baltikum, Frankreich und Russland; Oldach (wie Anm. 6), S. 133 u. S. 220; Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben, Leipzig 1840, S. 59; Möller (wie Anm. 15).

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Abb. 6: Stralsund, Grundriss der Festung von 1806 (StAHSt)

es zusammen mit Schweden, Preußen und Engländern operierte.17 Nach dem Ende der Koalition infolge der Niederlage Österreichs ging ein Großteil der 8000 in Pommern gelandeten schwedischen Soldaten wieder ins Mutterland zurück. Der Bedarf an einem ausreichend großen, relativ eisfreien Tiefwasserhafen an der Küste Schwedisch-Pommerns für die Anlandung von Truppen, von militärischer Ausrüstung und als Handelshafen führte 1806 zur Planung und zu ersten Baumaßnahmen auf den Halbinseln Großer und Kleiner Zicker im äußersten Südosten der Insel Rügen. Hier sollte eine befestigte Hafenstadt namens Gustavia mit Marinewerft, Seefahrts- und Wirtschaftsschule, ­Kaianlagen, K ­ irche, Promenaden und Th ­ eater entstehen. Die Kriegsereignisse ab dem Januar 1807 zwangen zur Einstellung der Arbeiten.18 Trotzdem diente die Örtlichkeit im Mai und Juni zur Landung von Transportschiffen aus dem ostpreußischen Pillau und eines englischen Truppenkontingents zur Unterstützung der Schweden. Auch 1813 wurden hier und an der Südküste von Göhren schwedische, russische und englische Truppen sowie Ausrüstung angelandet. 17 Horst Auerbach, Festung und Marinegarnison Stralsund, Rostock 1999, hier S. 38 ff. 18 Joachim Krüger, Gustavia – Ein Hafenprojekt aus dem Jahr 1806 auf der Insel Rügen aus historischer und archäologischer Sicht, in: Geographische und historische Beiträge zur Landes­ kunde Pommerns. Eginhard Wegner zum 80. Geburtstag, hg. v. Ivo Asmus (Greifswalder geographische Arbeiten, Sonderband), Schwerin 1998, S. 233 – 240.

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So hatte Schweden diverse Vorbereitungen für die absehbare Gefahr getroffen. Als die französischen Kriege Pommern erreichten, waren aber die preußischen Teile des Landes zuerst betroffen, denn Napoleons Hauptschlag galt der Hohenzollernmonarchie. Hier geriet dann aber nicht die stärkste preußische Festung – Stettin – in den Fokus der Ereignisse, sondern Kolberg in Hinterpommern.

4. Kolberg – Die Belagerung 1807 Die Festung Kolberg setzte der französischen Armee hartnäckigen Widerstand entgegen,19 was frühzeitig zu einem Mythos verklärt wurde, der bis 1945 lebendig war.20 Die Verteidigung des Ortes im Jahre 1807 war besonders deshalb ein bemerkenswerter Vorgang, weil 19 Zur Belagerung von Kolberg gibt es umfangreiches, vor allem älteres Schrifttum, das sich vielfach wiederholt, so dass Einzelnachweise in der folgenden Darstellung nur in Ausnahmefällen und natürlich bei direkten Zitaten erfolgen. Umfassend informieren über die Ereignisse Eduard von Höpfner, Der Krieg von 1806 und 1807. Ein Beitrag zur Geschichte der Preußischen Armee nach den Quellen des Kriegs-Archivs bearbeitet, Bd. I/1 – 2; Bd. II/3 – 4, Berlin 21855, hier Bd.II/4, S. 445 – 682; Urkundliche Beiträge und Forschungen zur Geschichte des Preußischen Heeres, Bd. 4: Kolberg 1806/07, hg. vom Großen Generalstab, Kriegsgeschichtliche Abteilung II, Berlin 1912; einen Überblick auf Grundlage älterer Zusammenstellungen geben Hans-Jürgen Eitner, Kolberg. Ein preußischer Mythos 1807/1945, Berlin 1999, S. 89 – 119 sowie Frank Bauer, Kolberg 13. März – 2. Juli 1807. Ein preußischer Mythos (Kleine Reihe Geschichte der Befreiungskriege 1813 – 1815, 18), Potsdam 2007; vgl. ferner Friedrich Maurer (Hg.), Colberg im Jahr 1807 belagert und vertheidigt. Nach authentischen Berichten von mehreren Augenzeugen, Berlin 1808; Reinhard Moritz Horstig, Colberg im Jahre 1807. Eine Jubelschrift, Stolp 1857; Hermann Riemann, Geschichte der Stadt Colberg, Colberg 1873, S.  530 – 567; Otto Rubow, Stadt und Festung Kolberg. Blätter aus Kolbergs Geschichte, Kolberg 1936, S. 34 – 48; Hieronim Kroczyński, Twierdza Kołobrzeg. Festung Kolberg, Warszawa 2000; über einzelne Aspekte: Hermann Klaje, Waldenfels und seine Grenadiere. Ein Beitrag zur Geschichte der Belagerung Kolbergs im Jahre 1807, Kolberg 1907; Olaf Jessen, „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“ Kolberg 1807 – Bündnis z­ wischen Bürger und Soldat?, in: Veltzke (wie Anm. 2), S. 39 – 57; Hieronim Kroczyński, Ferdinand von Schills Mitwirkung an der Verteidigung der Festung Kolberg im Jahre 1807, in: Veltzke (wie Anm. 2), S. 59 – 64; zu Plänen und Karten der Festung und ihrer Belagerungen u. a. Bogdan Frankiewicz, Plany oblężeń Kołobrzegu, in: Przegłąd Zachodniopomorski 10, Nr. 5 (1966), S. 97 – 103; Gottfried Loeck und Peter Jancke (Hg.), Kolberg auf alten Landkarten, Hamburg 2013; einen Überblick zu den im Schwedischen Kriegsarchiv verwahrten Plänen gibt Franz H. Viergutz, Pommersche Stadt- und Festungspläne im Kriegsarchiv zu Stockholm, in: Baltische Studien, NF 41 (1939), S. 141 – 160, hier S. 151 f.; über jene des Preußischen Kriegsministeriums Winfried Bliss (Bearb.), Die Festungspläne des Preußischen Kriegsministeriums. Ein Inventar, 2 Bde. (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 59,1/2), Köln/Weimar/Wien 2008, Bd. 1, S. 433 – 468 (über die Karten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz). 20 Vor allem in dem nationalsozialistischen Propaganda-Spielfilm Kolberg, vgl. Rolf Giese und Manfred Hobsch, Hitlerjunge Quex, Jud Süß und Kolberg: Die Propagandafilme des Drittes Reiches. Dokumente und Materialien zum NS-Film, Berlin 2005; Günter Brittinger, ­Ferdinand von Schill in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Veltzke (wie Anm. 2), S. 305 – 339,

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damit bei der eher kleinen und unbedeutenden Festungsstadt an der Persantemündung niemand gerechnet hatte. Im Oktober 1806 war die preußische Armee in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen worden, der Ausgangspunkt eines allgemeinen preußischen Zusammenbruchs: König Friedrich Wilhelm III. (1770 – 1840) floh nach Ostpreußen, große Armeeverbände ergaben sich oft weit unterlegenen französischen Truppen (etwa bei Prenzlau), und praktisch alle westlichen Landesfestungen kapitulierten kampflos, darunter Magdeburg und insbesondere, Ende Oktober 1806, Stettin. Dieser Ort war eine der damals stärksten Festungen Preußens: Von mächtigen Bastionen umgeben, vor Waffen strotzend und personell ausreichend ausgestattet, ergaben sich der greise Gouverneur und die Festungskommandantur zwei französischen Husarenregimentern.21 In dieser Atmosphäre allgemeiner Mutlosigkeit und Auflösung ging man insofern davon aus, dass das relativ schwache Kolberg ebenfalls aufgeben werde. Die im Dreißigjährigen Krieg erstmals bastionierte, seit 1653 brandenburgisch-preußische Festungsstadt, im Sieben­ jährigen Krieg dreimal von russischen Truppen belagert (1758, 1760, 1761)22 (Abb. 7), war nach über vierzigjähriger Friedenszeit in eher schwachem Zustand. Der Festungskommandant, Ludwig Moritz von Lucadou (1741 – 1812), wies – durchaus in Abstimmung mit der Bürgerschaft – jedoch entsprechende Parlamentäre sowie auch Ersuchen der nunmehr in französischem Auftrag agierenden pommerschen Landesregierung ab und versetzte die Festung in Verteidigungszustand. Kolberg wurde rasch zum Sammelpunkt versprengter und aus Kriegsgefangenschaft entlassener („ranzionierter“) preußischer Soldaten. Insbesondere fanden sich hier auch Offiziere ein, die den Krieg sozusagen auf eigene Faust fortsetzen wollten, darunter Eugen von Hirschfeld (1784 – 1811), der eine Art Partisanenkrieg in Hinter­pommern begann („Kleiner Krieg“), ebenso wie der berühmte Ferdinand von Schill. Letzterer avancierte durch kühne, aber keineswegs durchweg geschickte oder erfolgreiche Überraschungsangriffe auf die nunmehr nach Ostpreußen zielenden Nachschubwege der Franzosen rasch zum Volkshelden. Zugleich lenkte er damit aber auch die Aufmerksamkeit der französischen Armee auf das Städtchen an der Persante, die ­dieses auf ihrer Route in Richtung Weichsel sonst wohl für längere Zeit sich selbst überlassen hätte. Gleichwohl blieb es in Kolberg zunächst relativ ruhig. Erst nach über vier Monaten entsandte Napoleon eine Belagerungsarmee unter dem italienischen General Pietro Teulié (1763 – 1807), die am 8. März 1807 Kolberg einschloss. Es folgte eine fast vier Monate lange, von harten Kämpfen und furchtbaren Bombardements begleitete Belagerung, in deren Zuge mehrere tausend Menschen zu Tode kamen (Abb. 8, 9). Als die Kampfhandlungen am 2. Juli 1807 im Zuge des Waffenstillstands, der dem oben erwähnten Frieden von Tilsit ab dem hier S. 309 – 322; Joachim Schroth, Geschichte als Legitimationsstrategie oder die Frage nach der Tradition des Durchhaltefilmes. Eine Analyse von drei Historienfilmen aus geschichtskultureller Perspektive (Lit-Geschichte 133), Berlin 2016, S. 117 – 274. 21 Franz-Rudolf Zilm, Geschichte der Festung und Garnison Stettin, Osnabrück 1988, S. 16 ff.; zu den militärischen Ereignissen 1806: Höpfner (wie Anm. 19), Bd. I.1/2. 22 Vgl. M. Schönlein, Geschichte der Belagerungen Kolbergs in den Jahren 1758, 1760, 1761 und 1807, Kolberg 21878; Riemann (wie Anm. 19), S. 501 – 529; Eitner (wie Anm. 19), S. 20 – 45.

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Abb. 7: Kolberg, Plan der Festung um 1750 (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und ­Universitätsbibliothek Dresden, Kartensammlung, Inventar-Nr.: SLUB/KS A9290)

23. Juni voranging, eingestellt wurden, war die Festung noch immer in preußischer Hand. Sie wurde auch hernach nicht französisch besetzt, war also tatsächlich gehalten worden. Dazu hatten verschiedene Faktoren geführt. Zunächst war die Festung Kolberg zwar nicht besonders stark ausgebaut, „in trostlosem Zustande“ mit „elenden Vertheidigungsmitteln“,23 und kasemattierte Werke waren rar. Man konnte aber die Umgebung mittels eines ausgeklügelten Stausystems mit dem Wasser der Persante fluten; Aufseher über ­dieses Wasserwerk war der Seefahrer und Brauer Joachim Nettelbeck (1738 – 1824), der auch ansonsten als Repräsentant der Bürgerschaft einigen Anteil an der Verteidigung der Festung hatte. Diese war daher nur über einige Dämme sowie über einen schmalen Strandstreifen zu erreichen. Wegen Kolbergs von vornherein sumpfig-gewässerreicher Umgebung (Abb. 10) funktionierte auch das übliche Vorgehen von Belagerern, sich mit Laufgräben nach bestimmtem Muster an die Festungswerke heranzuarbeiten, nur in Teilbereichen. Im Laufe der Einschließung bemühten sich die Franzosen daher sogar „um die Ableitung der Persante, die Vernichtung des ganzen Ueberschwemmungs-Systems und die Versandung des Hafens“ durch die Anlage eines neuen Flussbettes und die Entwässerung in den Kampschen See. Sie nahmen wegen unüberwindbarer Schwierigkeiten aber bald wieder Abstand von dieser Planung.24 23 Höpfner (wie Anm. 19), Bd. II/4, S. 449 u. S. 452. 24 Ebd., S. 571.

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Abb. 8: Kolberg, Plan der Festung mit den gefluteten Arealen (hellgraue Flächen um das Stadtgebiet) sowie den Stellungen und Schanzanlagen der Belagerungstruppen (dunkelgraue Riegel) ­zwischen dem 11. Juni und der Einstellung der Kampfhandlungen am 2. Juli 1807 (aus Generalstab, Beiträge [wie Anm. 19], Plan IV)

Abb. 9: Kolberg, Ansicht der Belagerung von 1807 aus der Vogelschau, Holzstich von 1857 (nach Jubelfeier [wie Anm. 42])

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Abb. 10: Kolberg, Plan der Belagerung von 1758 mit den ausgedehnten Gewässern und Sümpfen rund um die Festung, Plan von Johann Gottlieb Tielke und Carl Gottfried Nestler 1776 (Ausschnitt; Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Kartensammlung, Inventar-Nr.: SLUB/KS A9286)

Dann gelang es den Belagerten, praktisch bis zum Ende der Kampfhandlungen die Persantemündung zu halten, so dass die Versorgung mit Lebensmitteln und Waffen, auch personeller Entsatz ständig erfolgen konnte. Daher war die Nachschubsituation der Preußen lange sogar besser als jene der Franzosen. Lebensmittel gab es in der Festung „eine Zeitlang in solchem Ueberfluß, daß die Kommandantur den Markt vollständig freigeben konnte“.25 Da es allerdings nicht nur an Finanzmitteln, sondern tatsächlich auch an Münzen fehlte, wurde ein papiernes Festungsgeld ausgegeben. Auch Waffen und Munition kamen über See nach Kolberg. Am 19. Mai 1807 beispielsweise, so wird in einem Tagebuch berichtet, „zeigten sich auf der Rehde zwei englische Kauffartheischiffe, beladen mit Kanonen, Gewehren, Säbeln und Munition, in Begleitung einer englischen Brigg von 18 Stück 24pfuendige Kanonen“. Letztere beschoss dann noch französische Stellungen.26 Von See her konnte auch eine schwedische Fregatte mehrfach mit ihren 44 Kanonen für die 25 Ebd., S. 458. 26 Tagebuch von der Belagerung der Festung Colberg im J. 1807. Nebst einem Anhange, enthaltend: authentische Nachrichten von dem K. Preuß. Major von Schill und dem Bürgerrepräsentanten Nettelbeck zu Colberg, Germanien [Berlin] 1808, S. 40 u. S. 43.

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Preußen in die Kämpfe eingreifen, während die Belagerer bar aller Schiffe oder fremder mariner Unterstützung waren. Zudem betrieben die Angreifer die Belagerung der aus ihrer Sicht eher peripheren Festung zunächst nur mit schwachen Kräften und wenig Artillerie; erst im Mai, vor allem aber im Juni 1807 – nach der Kapitulation der preußischen Festung Danzig (Gdańsk) – wurden den Belagerern, die mittlerweile unter dem Kommando des Generals Louis Henri Loison (1771 – 1816) standen, starke, festungsbrechende Geschütze zugeführt. Auch organisierte der Major August Neidhardt von Gneisenau (1760 – 1831), der am 29. April 1807 Lucadou als Kommandant ablöste, die Verteidigung geschickt und modern; während Lucadou die Festung defensiv zu halten versucht hatte, verband Gneisenau dies mit ständigen Offensiven, die dem Gegner keine Ruhe ließen. Der charismatische Gneisenau verstand es auch besser als sein Vorgänger, seine Truppen und die Bürger für den Kampf zu gewinnen. Im Allgemeinen wirkte sich zugunsten der Eingeschlossenen aus, dass in Kolberg von vielen Soldaten mit einer gewissen Überzeugung gekämpft wurde – die Festung war bald zum Sammelplatz standhafter Kämpfer für die preußische Sache avanciert, während die dafür weniger einsatzbereiten Personen genügend Gelegenheiten zu individuellem Abschied gehabt hatten. In der Belagerungsarmee, die vorwiegend aus Italienern, Deutschen der Rheinbundstaaten, Polen, Niederländern und anderen Hilfstruppen bestand, erfolgte der Einsatz für die französischen Ziele dagegen kaum in entsprechend emotionalem Maße; die Begeisterung für ­Napoleon als vermeintlichem Boten einer modernen und gerechteren Weltordnung ist in den Zielgebieten seiner Angriffe sicher nicht zu überschätzen, zumal Kriegsgräuel, Kontributionsforderungen und immer neue Feldzüge derartige Hoffnungen bald demolierten. General Loison schalt jedenfalls die Kampfmoral seiner Truppen, diese beklagten die schlechte Versorgung, und viele Soldaten desertierten aus den Feldlagern oder bereits auf dem Marsch nach Kolberg. Manche erschienen auch als Überläufer an den Toren des eingeschlossenen Ortes. Am 15. Juni 1807 beispielsweise bat Loison den Generalgouverneur, Marschall Guillaume-Marie-Anne Brune (1763 – 1815), französische Truppen zu entsenden. „Die Sachsen sind völlig null, sie würden sich lieber gegen uns schlagen“, und auf die Italiener könne er sich „bei nächtlichen Unternehmungen nicht verlassen“. Wegen dieser misslichen Lage war der General so verzweifelt, dass er sich „eine Kugel in die Brust“ wünschte.27 In der Stadt unterstützte offenbar sogar ein größerer Teil der zivilen Bevölkerung die Verteidigung, verpflegte Soldaten, schanzte, löschte und übernahm militärische Hilfsaufgaben. Hierbei wirkte sich auch das Engagement des Bürgerrepräsentanten ­Joachim Nettelbeck aus. Wie das Stimmungsbild unter den etwa 4450 Kolberger Einwohnern wirklich war, ist allerdings nur aus (durchaus gegenläufigen) Indizien zu erschließen, denn gerade die Haltung der Bürger wurde bald patriotisch gefeiert und kaum objektiv geschildert. Am Anfang deuten von der Bürgerschaft abgelehnte Hilfsersuchen des 27 Urkundliche Beiträge (wie Anm. 19), S. 233.

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Kommandanten auf „einen keineswegs opferwilligen Geist“.28 Den Einwohnern Kolbergs erwuchsen natürlich große Nachteile aus der monatelangen Gewaltsituation und ihnen wurden zahlreiche Opfer abgefordert. Insbesondere die obdachlosen Bewohner der zur Gewinnung von Schussfeld wie üblich niedergebrannten Vorstädte gerieten in eine prekäre Situation. Dadurch waren „gegen 100 Familien an den Bettelstab und in das größte Elend gerathen, so daß sie kein Plätzchen behielten, wo sie ihr Haupt hinlegen konnten“.29 „Der Major Gneisenau wies schließlich etwa 200 solchen Unglücklichen eine früher von Gefangenen bewohnte Kasematte an, wo sie wenigstens ihres Lebens sicher waren“.30 Es ist bemerkenswert, dass man die Vorstädte abbrannte, ein neues, für die in Kolberg wirtschaftlich wichtige Sole errichtetes Gradierwerk (Abb. 8) westlich der Stadt, das der dortigen Verteidigung hinderlich war, aber aus Kostengründen schonte. Dessen Dampfmaschine ließ Gneisenau befestigen und mit einer Kanone versehen. „Hiermit soll es mir gelingen“, so berichtete er am 10. Mai an den König, „diese kostbare Anlage, die 1½ Millio­nen Taler gekostet hat, und deren Wiedererbauung bei den gestiegenen Holzpreisen 3 Millionen kosten würde, E. K. M. zu erhalten“. Ökonomische Aspekte spielten für die Verteidiger fortwährend eine große Rolle, denn auch im Kriege musste vieles bezahlt werden. Es mangelte ständig an Mitteln, wobei sich Gneisenau zu helfen wusste: Sofern der König kein Geld senden könne, „so wollen wir uns mit freiwilligen und gewaltsamen Anleihen und Papiergeld helfen“.31 Als Lazarett diente die große Domkirche St. Marien (Abb. 2), offensichtlich eine gute Wahl, da „der Feind sich verbindlich machte, diese ­Kirche wegen den Kranken möglichst zu schonen, vorzueglich da viele von seinen gefangenen Kranken dort untergebracht waren“.32 Die Kampfhandlungen, in der oben erwähnten Literatur mehrfach minutiös beschrieben,33 unterlagen einer stetigen Steigerung: Anfangs eher ruhig, folgte eine Phase stärkeren Artillerieeinsatzes, gegenseitiger Angriffe, Graben- und Schanzenkämpfe und dann ein großer, von wüstem Bombardement markierter Schluss. Anfangs, bei geringen vorhandenen französischen Kräften, wurde ein lockerer Belagerungs- oder Blockadering um die Festung gelegt, der durch punktuelle Angriffe auf vorgelagerte Schanzen der Verteidiger nach und nach verengt wurde. Insbesondere im Süden der Stadt kam es dabei zu Gefechten, vor allem um die den Damm von Südosten her deckende Schanze auf dem Hohenberg – bei französischer Kontrolle Fort Napoleon genannt – sowie um das Dorf Sellnow (Zieleniewo) südlich Kolbergs und westlich der Persante. Das Dorf Altstadt (Budzistowo) südlich Kolbergs (Abb. 8), Ort der frühmittelalterlichen 28 29 30 31 32 33

Urkundliche Beiträge (wie Anm. 19), S. 10. Maurer (wie Anm. 19), S. 26. Höpfner (wie Anm. 19), Bd. II/4, S. 652. Urkundliche Beiträge (wie Anm. 19), S. 202. Tagebuch von der Belagerung (wie Anm. 26), S. 55. Siehe Anm. 19.

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Abb. 11: Kolberg, Plan der Schanzwerke an der Persantemündung (Maikuhle und Fort Münde) (A) sowie Plan- und Rissskizzen der Wolfsbergschanze (B) (nach Generalstab, Beiträge [wie Anm. 19], S. 69, 115)

Vorgängersiedlung, gelangte frühzeitig in die Hand der Franzosen. Das war ein ernstes Problem für die Preußen, denn von dort aus konnte bereits auf die Hauptfestung bzw. in die Stadt geschossen werden. Dabei legten die Angreifer Erdschanzen – meist einfache Lünetten – als Stellungen für Artillerie, Ausgangs- und Rückzugsorte für Attacken an, die zusammen mit Laufgräben immer näher an die Festung herangeführt wurden. Die Gräben wurden in Zickzackform vorangetrieben und gingen in Richtung der Verteidigungsfront in sogenannte Parallelen über (Abb. 8), die ein gestaffeltes Angriffssystem nach einem Entwurf des berühmten französischen Generals, Belagerungstheoretikers und Festungsarchitekten Sébastien le Prestre de Vauban (1633 – 1707) bildeten. Eine Schiffbrücke querte die Persante. Die Verteidiger ihrerseits hatten bereits seit November 1806 nicht nur die bestehenden Forts und Schanzen ausgebaut, sondern auch neue an besonders gefährdeten Stellen – teils nur aus Dünensand – angelegt sowie sogenannte Blockhäuser als feste, mit Erde und Palisaden verstärkte, turmartige Verteidigungswerke aus Bohlen errichtet. So war besonders

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das Terrain westlich der Persantemündung, die sogenannte Maikuhle, durch Langwälle und Schanzen befestigt worden, die zusammen mit dem älteren Fort Münde und der Morast-Redoute die Meeresverbindung der Festung sicherten. Bis zum 1. Juli 1807, als die Infanterie der Schill’schen Einheit in Panik die Maikuhle räumte, gelang das – wie gesagt – auch (Abb. 8, 9, 11). Die Kämpfe entbrannten aber insbesondere um das nordöstliche Vorfeld der Festung, das relativ hoch gelegene und daher gangbare sogenannte Binnenfeld. Dort hatte Gneisenau eine Schanze auf dem Wolfsberg aufwerfen lassen (Abb. 8, 11), die nie ganz fertiggestellt werden konnte, heiß umkämpft war und mehrfach den Besitzer wechselte. Hier erhielten sowohl General Teulié als auch der zweite Festungskommandant, Karl Wilhelm Ernst von Waldenfels (1772 – 1807), tödliche Verwundungen. Letzteres geschah bei einem sehr harten Gefecht am 15. Juni 1807. „Der Kampfplatz“, so ist in einem preußischen Bericht zu lesen, war danach „mit Leichen angefüllt, in den Laufgräben lagen die Todten stellenweise drei Mann hoch, das Vierte Italienische Linien-Regiment war fast vernichtet […]. Man berechnet den feindlichen Verlust auf mehr als 1000 Mann.“ 34 Fortwährend schossen die Angreifer Granaten in die Stadt, wobei eine gut organisierte bürgerliche Feuerwehr Großbrände aber lange verhindern konnte. Das Ganze gipfelte in einem massiven Bombardement am 1. und 2. Juli 1807, bei dem die mittlerweile in zahlreichen Schanzen und Gräben nahe an die Festung herangeführten französischen Kanonen sämtlich und ohne Unterbrechung zum Einsatz kamen; so wollte man vor dem absehbaren Waffenstillstand noch Tatsachen schaffen. Viele Häuser wurden beschädigt, Brände brachen aus. „Bomben, Granaten und Kugeln fielen unaufhörlich in die Stadt“, so gibt es ein preußisches Kriegstagebuch wieder, „und demolierten auf einigen Hauptwerken schon das Geschuetz in den Scharten. Auf den meisten Werken sprangen oft mehrere Kanonen und auf der Bastion Neumann sogar beinahe eine ganze Mortier [Mörser] Batterie“.35 „Die ganze nach der Se[e]küste zu liegende Stadt glich einer Feuer­ säule“, so hob das Kriegstagebuch des Regiments der Herzöge von Sachsen am 1. Juli 1807 hervor.36 Ein verschanztes Gotteshaus in der Lauenburger Vorstadt (Abb. 8) erhielt an jenem Tage einen Volltreffer: „Endlich glückte es einer feindlichen 50pfuendigen Bombe, die Munition des Artillerie-Vorposten auf der K ­ irche mit der ganzen Mannschaft in die Luft zu sprengen […]. Der Unteroffizier wollte gerade heraufgehen, als ihm die übrigen Kanoniere von oben todt und zerstümmelt entgegen geflogen kamen, wovon einige noch Stunden lang am Leben blieben. Bald darauf flogen zwei P ­ ulverwagen bei der ­Kirche auf.“ 37 34 Tagebuch von der Belagerung (wie Anm. 26), S. 82. 35 Tagebuch von der Belagerung (wie Anm. 26), S. 75 f. 36 Jenny Bryś und Steffen Arndt, Das Kriegstagebuch des Regiments der Herzöge von Sachsen zur Belagerung der Stadt Kolberg vom 14. März bis zum 8. Juli 1807, in: Baltische Studien, NF 105 (2019), S. 183 – 212, hier S. 207. 37 Tagebuch von der Belagerung (wie Anm. 26), S. 73.

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Man kann sicher annehmen, dass die Festung sich nicht mehr allzu lange hätte halten können, gerade angesichts des Verlusts der Seeverbindung. Mitten in das Inferno traf aber die Nachricht vom Waffenstillstand ein. „Zu Mittag brandte der Stadt-Thurm auf dem Rathhaus und stürzte in sich zusammen“, heißt es im sächsischen Kriegstagebuch für den 2. Juli. „Nachmittags nach 2 Uhr geschah ein Ausfall vom Feinde auf den rechten Flügel; das Gefecht wurde sehr heftig […]. Auf einmahl – es war Nachmittage um 3 Uhr – erschall die Nachricht: Es sey Waffenstillstand und mit Einmahl schwiegen alle Canonen und alle kleine Gewehrfeuer, und die in der Aktion begriffenen Truppen reichten sich einander die Hände.“ 38 Damit endete der Kampf um die Festung Kolberg. Die Ereignisse fanden von Anfang an einen großen Widerhall in Preußen, da die Verteidigung Kolbergs aus einer Serie verlorener Schlachten und sonstiger Niederlagen herausragte. Auch Ernst Moritz Arndt pries das Ereignis, etwa in seinem Lied vom Gneisenau.39 Es gibt zahlreiches zeitgenössisches Schrifttum über die Kolberger Ereignisse von 1807, das freilich, wenn es von den Akteuren selbst stammt, subjektiv gefärbte Schilderungen bietet. Das gilt beispielsweise für Joachim Nettelbecks Darstellungen seiner eigenen Rolle wie insbesondere auch in Bezug auf den Kommandanten Ludwig Moritz von Lucadou, dem er mit Abneigung gegenüberstand.40 Die Texte von anderen Autoren betrieben mitunter Heldenverehrung und Mythenbildung. Manches wurde bereits im Jahr nach der Belagerung veröffentlicht, als Napoleon auf der Höhe seiner Macht stand und die Schriften den gegen die fremde Herrschaft gerichteten patriotischen Sinn in Deutschland anregen sollten.41 Besonders instruktiv sind zweifellos zeitgenössische oder wenig ­später entstandene Abbildungen des Geschehens, die viele Details der Festung, der kurzlebigen Schanz- und Grabenanlagen zeigen.42 Diese Quellen sind auch deshalb wichtig, weil in Kolberg selbst nur noch wenig an die Festung von 1807 erinnert.

38 Kriegstagebuch Sachsen (wie Anm. 36), S. 207 f. 39 Ernst Moritz Arndt’s Werke. Auswahl in zwölf Teilen, hg. mit Einleitungen und ­Anmerkungen versehen von August Leffson und Wilhelm Steffens, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart o. J. [1912], hier Teil 1: Gedichte, S. 106 – 108. 40 Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet, hg. von Johann Christian Ludwig Haken, 3 Bde., Halle 1821 – 1823; schon 1912 heißt es in Urkundliche Beiträge (wie Anm. 19), S. VI, Nettelbecks Text sei „in seinem ganzen zweiten Teil […] als eine Tendenzschrift mit nur sehr geringer Glaubwürdigkeit anzusehen“. 41 Vgl. u. a. Tagebuch (wie Anm. 26); Maurer (wie Anm. 19); Nettelbeck (wie Anm. 40); Urkundliche Beiträge (wie Anm. 19). 42 Vgl. u. a. Frankiewicz (wie Anm. 19); Loeck und Jancke (wie Anm. 19); Viergutz (wie Anm. 19), S. 151 f.; Bliss (wie Anm. 19), S. 433 – 468; Kolbergs Jubelfeier vom 1. bis 3. Juli 1857, Zeitschriftenartikel mit Ansicht der Belagerung von 1807, Kolberg 1857. Etliche der älteren Publikationen bieten Pläne der Festung und der Belagerungsanlagen, vgl. zu solchen Quellen (unter Rückgriff auf Bestände in verschiedenen Archiven) auch die Zusammenstellung bei https://twierdzakolobrzeg.pl.

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Abb. 12: Kolberg, Kämpfe vor der Festung 1807, Holzstich von Fritz Grotemeyer um 1900 als Entwurf für ein Wandbild (Archiv Felix Biermann)

Sehr eindrückliche Vorstellungen vom brutalen Geschehen (Abb. 12) vermitteln die Funde aus archäologischen Rettungsgrabungen und die Ergebnisse zielgerichteter Forschungen. So liegen aus zahlreichen Ausgrabungen in Kolberg Geschosse und Kugeln vor, heute verwahrt im Militärgeschichtlichen Museum Kolbergs.43 Geländeerkundungen, Kartenstudien und Metallsuchprospektionen liefern Hinweise auf die Lage von Schanzen, Feldlager bzw. Biwaks sowie anderweitige Aktivitätszonen der Belagerungstruppen,44 und auf dem Hohenberg (Abb. 8) – Stätte des Fort Napoleon – wurden 2017 bei Straßenbauarbeiten mehrere Gräber freigelegt, die sehr unmittelbar veranschaulichen, dass diese rasch verklärten Kämpfe für die Beteiligten brutale, gefährliche und schreckliche Ereignisse waren.45 Kolberg selbst war hernach noch als Hafen für diverse militärische Zwecke wichtig, auch weiterhin mit Bastionen und Schanzen bewehrt sowie von preußischen Truppen besetzt – bis 1873 sollte es Festungsstatus behalten. In den weiteren Napoleonischen Kriegen blieb es aber von Kampfhandlungen verschont.

43 50 lat Muzeum Oręża Polskiego w służbie historii i kultury. Wydawnictwo jubileuszowe, hg. von Bogusław Polak, Marian Rębkowski, Hieronim Kroczyński, Barbara Zabel und Paweł Pawłowski, Kołobrzeg 2013, S. 191 f. 44 Vgl. u. a. Robert Dziemba, Reduta Polska a fortyfikacje Twierdzy Kolobrzeg podczas oblężenia w 1807 roku, Kolobrzeg 2019; https://twierdzakolobrzeg.pl/informacje/494-o-poszukiwaniachreduty-saskiej. letzter Zugriff: 12. 10. 2020. 45 Vgl. https://twierdzakolobrzeg.pl/twierdza/fortyfikacje/221-fort-napoleona-hohe-berg, letzter Zugriff: 12. 10. 2020. Die Frage, wie die Skelette innerhalb der verschiedenen neuzeitlichen Kriegshandlungen in Kolberg genau einzuordnen sind, ist allerdings noch etwas unklar.

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5. Stralsund 1807 – 1809: Von der französischen Belagerung bis zu Schills Tod Nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt war auch die Stralsunder Festung in den Kriegszustand versetzt und die Wälle dauerhaft mit Geschützen armiert worden.46 Bis zum Anfang des Jahres 1807 kamen Truppen aus Schweden nach Stralsund, auch wurde hier die Landwehr aus Bewohnern Schwedisch-Pommerns stationiert.47 Die Vorstädte wurden abgetragen und deren etwa 1600 Bewohner in der Marienkirche untergebracht. Am 28. Januar 1807 überschritten die Franzosen, unterstützt durch holländische Verbände, unter dem Kommando von Marschall Adolphe Eduard Mortier (1768 – 1835) in großer Zahl die Peene und drangen rasch bis Stralsund vor. Die Stadt wurde eher locker belagert, aber mit einer sogenannten Kontrevallationslinie (Gegenverschanzung) und Artillerieredouten umzogen, um schwedische Überraschungsangriffe zu erschweren (Abb. 13). Mehrere Ausfälle wurden blutig zurückgeschlagen. Erst der Abzug eines Großteils von Mortiers Truppen nach Kolberg versetzte die Schweden in die Lage, die Belagerung zu durchbrechen und die daraufhin zügig zur Peenegrenze zurückweichenden Franzosen und Holländer bis kurz vor Stettin zu verfolgen. Allerdings wendete sich nochmals das Kriegsglück, so dass am 18. April in Schlatkow der schwedische Generalgouverneur Hans Henrik von Essen (1755 – 1824) und Mortier einen Waffenstillstand schlossen, der am 14. Juni verlängert wurde. Schwedisch-Pommern war zwar von fremden Besatzungstruppen frei, allerdings begann mit der Ankunft des schwedischen Königs am 12. Mai der Schlussakkord seiner Herrschaft in Stralsund. In einem Vertrag mit Preußen vom 20. April des Jahres hatten sich Schweden und Großbritannien zur Aufstellung und Ausrüstung eines 5000 Mann starken Korps aus versprengten preußischen Soldaten unter dem Kommando von General Gebhard Leberecht von Blücher (1742 – 1819) verpflichtet. Auch Ferdinand von Schill hielt sich im späten Frühjahr in Stralsund auf. Gleichzeitig war vereinbart worden, dass 20.000 britische Soldaten zu den etwa 18.000 Schweden und 5000 Preußen stoßen sollten. Es kamen aber nur etwas mehr als 8000 Soldaten und Offiziere der aus Deutschen – und hier meist Hannoveranern – gebildeten King’s German Legion.48 Inzwischen war Preußen mit Russland in der Schlacht von Friedland am 14. Juni 1807 besiegt und in den Friedensvertrag von Tilsit vom 9. Juli 1807 gezwungen worden, der zum Abzug der Preußen aus Schwedisch-Pommern führte. Damit war die Sinnlosigkeit eines weiteren militärischen Vorgehens gegen das über 120.000 46 Stralsund war bereits Ende 1806 in „nachdrücklichsten Verteidigungszustand“ versetzt, die Wälle waren mit Kanonen bestückt worden; vgl. Politisches Journal nebst Anzeige von gelehrten und andern Sachen, Altona 1807 (Stadtarchiv Stralsund). 47 Francke (wie Anm. 1), S. 9 ff. Bis Ende 1806 war ein Großteil der schwedischen Armee in Schwedisch-Pommern zusammengezogen worden, vgl. Ulf Sundberg, Svenska krig 1521 – 1814, Stockholm 2002, S. 357 – 362; Die Belagerung der Festung Stralsunds 1807 und deren Folgen für Vorpommern, Tagebuchaufzeichnungen eines Vertrauten, Elmenhorst 2009. 48 Möller (wie Anm. 15).

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Abb. 13: Stralsund, Festungsplan mit den französischen Belagerungslinien vom Frühjahr 1807 (StA HSt)

Mann starke napoleonische Truppenkontingent jedem urteilsfähigen Militär klar – nur nicht dem schwedischen König. Die Einschätzung eines deutschen Offiziers der Königlich-Deutschen Legion über den schwedischen König Gustav IV. Adolf erklärt auch, wie es zur nachfolgenden Niederlage und schließlich zum Sturz des Monarchen kam: „Dieser König […] war ein noch junger, sehr steifer und ceremonieuser Mann, der verschrobene Begriffe von sich hatte, sich stärker fuehlte als er wirklich war, dem einige Schrauben im Kopf fehlten, und der sein n ­ achheriges Unglueck, bloss seinem Eigensinn, seinem Stolz und seiner Dummheit zu verdanken hatte. Ich […] habe mich innerlich ueber das ceremonieuse Wesen, den eitlen Prunk etc. ­dieses lilleputanischen Königs geärgert.“ 49 Dieses Urteil hätte ­Kaiser Napoleon sicherlich gefallen. Vom schwedischen König ist auch der theatralische Ausspruch überliefert, er wolle 49 Joachim Kannicht, Und alles wegen Napoleon. Aus dem Kriegstagebuch des Georg von Coulon, Major der Königlich Deutschen Legion, und den Briefen seiner Frau Henriette 1806 – 1815, Koblenz 1986, hier S. 49.

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Abb. 14: Stralsund, zeitgenössische Darstellung der Kampfhandlungen im August 1807 (Stralsund-Museum)

sich eher unter den Ruinen Stralsunds begraben lassen als zu kapitulieren, was die Bürger zusätzlich ängstigte, waren die Franzosen doch mit einer gewaltigen Übermacht von rund 40.000 Mann aus französischen, italienischen, spanischen, rheinbündischen, sächsischen und holländischen Kriegsvölkern nach Ende des Waffenstillstands Mitte Juli nach Schwedisch-Pommern und vor Stralsund gerückt, das jetzt förmlich belagert wurde (Abb. 14). Die Heranführung von schwerer Belagerungsartillerie und der Abzug der britischen Truppen am 13. August ließen nun auch Gustav IV . Adolf zur Einsicht in die bittere Realität gelangen, dass Schwedisch-Pommern verloren war. Als er gezwungen wurde, am 20. August Stadt und Festung durch die Stralsunder Bürgerschaft an die Franzosen übergeben zu lassen, kam das Gerücht auf, dass er aus Wut die Stadt mittels Beschuss von See und der Insel Dänholm aus in Schutt und Asche legen wolle.50 Tatsächlich gab es dort kurz nach dem Abrücken der Truppen einige Treffer aus schwedischen Geschützen. Das 50 Am 19./20. August des Nachts war der Großteil der schwedischen Truppen mit der Feldartillerie nach Rügen übergesetzt. Nur die Festungsartillerie verblieb auf den Wällen, vgl. Francke (wie Anm. 1), S. 35.

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Abb. 15: Stralsund, Kartätschenkugel im Dachsparren des Hauses Frankenstraße 28 (Foto Gunnar Möller)

führte zur handstreichartigen Eroberung des Dänholms durch die Franzosen.51 Die nachfolgenden Verhandlungen ­zwischen dem schwedischen Armeebefehlshaber General Johan Christopher Toll (1743 – 1817) mit Marschall Brune ermöglichten den ehrenvollen Abzug der schwedischen Truppen bis Ende September 1807. Marschall Brune berichtete am 23. August in einem Schreiben an den französischen Stabschef, dass er in Stralsund 500 Geschütze, 300.000 Kanonenkugeln und 1000 Zentner Pulver vorgefunden habe.52 Theoretisch hätte sich die Festung noch eine Weile verteidigen können, praktisch hätte es die Zerstörung der Stadt und den Tod vieler ihrer Bewohner bedeutet. Von den Kämpfen im Jahr 1807 zeugen zum einen eine knapp 1 Meter mächtige Planierschicht am Frankendamm – einem der Hauptkampfplätze – mit zahlreichen Kanonen- und mehreren hundert Musketenkugeln.53 Zum anderen steckt in einem Dachsparren im Haus Frankenstraße 28 eine eiserne Kartätschenkugel, die mit 51 Ebd., S. 37 ff. 52 Miscellen für die Neueste Weltkunde Nr. 72 vom 9. September 1807 (Stadtarchiv Stralsund). 53 Samariter (wie Anm. 10).

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den Kämpfen vom August 1807 in Zusammenhang stehen dürfte (Abb. 15). Weiter gibt es Uniformknöpfe napoleonischer Regimenter und Flintensteine, besonders im Bereich der französischen Kontrevallationslinie.54 Auch einige Kanonenkugeln können von jenen Kämpfen stammen.55 Um die hohen Kosten der Stationierung der französischen Soldaten für die Bewohner Schwedisch-Pommerns zu verringern, wurden der Bürgermeister David Lukas Kühl (1752 – 1837) und der Offizier Carl Dietrich von Schoultz-Ascheraden (1751 – 1814) Ende September/Anfang Oktober 1808 nach Erfurt entsandt, wo sich Napoleon gerade aufhielt. Bei einem k­ urzen Empfang konnten die pommerschen Gesandten ihr Anliegen um Reduzierung der Einquartierungen vorbringen. Ohne sich mit Kühl abgesprochen zu haben, schlug Schoultz-Ascheraden darüber hinaus die Schleifung der Stralsunder Festung vor.56 In der Tat wurden die Besatzungstruppen in der Folge verkleinert und am 1. November erhielt der Rat die Anordnung Napoleons, die Festungswerke zu schleifen, um der Stadt ihre strategische Bedeutung zu nehmen. Mit Hilfe der Bürger und tausender angeworbener Arbeiter waren die Wälle und Gräben rasch beseitigt, die Teiche wurden teilweise abgelassen und bis zum Sommer 1809 in Gartenland umgewandelt. Außerdem verbanden zwei neue Dämme vom Küter und Hospitaler Tor die Altstadt mit der Knieper Vorstadt.57 1809 wurden nach einem Plan des Greifswalder Universitätsbaumeisters Johann Gottfried Quistorp (1755 – 1835), einem Onkel von Ernst Moritz Arndts erster Ehefrau Charlotte, die Hornwerke und der Frankenteichbär (ein Bauwerk zur Regulierung des Wasserstands) gesprengt. Spuren davon kamen 2010 bei einer Grabung am Frankenhof ans Licht 58 (Abb. 16). Seit 1808 galt Stralsund deshalb als offene Stadt. Hatte Ferdinand von Schill die noch intakte Festung Stralsund 1807 persönlich kennen­ gelernt, so fand er nach seinem gescheiterten Versuch, eine Volkserhebung zu entfachen, im Mai 1809 bestürzt eine für die Verteidigung gänzlich ungeeignete Stadt vor. Nach diversen Rückzugsgefechten seines Husarenregiments von Berlin über Anhalt, Altmark 54 Gerd Sobietzky, Oberflächenfunde von der Stralsunder Flur 2, in: Archäologische Berichte aus Mecklenburg-Vorpommern, Beiheft 7 (2003), S. 5 – 97, hier S. 58 ff.; Michael Schirren und Gerd Sobietzky, Flintensteine: Bemerkungen zu einem Artefakt der Neuzeit, in: Archäologische Berichte aus Mecklenburg-Vorpommern, 10 (2003), S. 309 – 320; Kurze Fundberichte 2014, in: Bodendenkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern, 62 (2016), S. 447 ff.. 55 Bodo Bernatzki, Kanonenkugeln als Sachzeugen der Stralsunder Stadtgeschichte, in: Stralsunder Hefte für Geschichte, Kultur und Alltag (2009), S. 6 – 18. 56 Rudolf Baier, Ein stralsundischer Gesandter an Napoleon I., in: ders., Stralsundische Geschichten, Stralsund 1902, S. 277 – 303; Fritz Adler, Lebensgeschichte des Bürgermeisters D. David Lukas Kühl, Stralsund 1925, hier S. 77; Ricarda Lössner, David Lukas Kühl. Ein Stralsunder Bürgermeister (1802 – 1837) und seine Zeit, in: Stralsunder Hefte für Geschichte, Kultur und Alltag (2013), S. 72 – 81. 57 Francke (wie Anm. 1), S. 88; siehe auch Möller und Pfennig (wie Anm. 6), S. 208 ff. Laut Wendelin Zink wurden die Vorstädte ab Frühjahr 1808 wieder bebaut, ­später die Festungsanlagen durch alle Einwohner geschleift, vgl. Zink (wie Anm. 12), Bd. II, S. 38. 58 Konze und Samariter (wie Anm. 11), hier S. 168 Abb. 5, 7, 11, 17, 18.

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Abb. 16: Stralsund, Mauerreste des Frankenhornwerks mit Sprengtrichtern von 1809 (Foto Marlies Konze, Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern, Landesarchäologie)

und Mecklenburg langten die Truppen, von starken napoleonischen Einheiten verfolgt, am 25. Mai 1809 in Stralsund an. In einem k­ urzen, aber heftigen Straßenkampf wurde die kleine französische Garnison überwältigt. Bereits am 30. Mai erschienen die dänischen und holländischen Verfolger. Schill hatte vergeblich versucht, die Festungsanlagen wiederherzurichten. Halbwegs gelang das vor dem Franken- und Tribseer Tor.59 Vor Letzterem wurden die Angreifer auch erfolgreich abgewehrt. Allerdings waren die Verteidigungsbauten vor dem Knieper Tor nicht fertig geworden. Trotz tapferer Gegenwehr gelang den Franzosen hier im dritten Anlauf der Sturm in die Stadt, wo sich blutige Straßenkämpfe entwickelten. Nur ein kleiner Teil der Schill’schen Truppen konnte fliehen, Schill selbst fiel in der Fährstraße.60

59 Francke (wie Anm. 1), S. 115 ff. 60 Gottfried Basse, Schills Zug nach Stralsund und sein Ende. Tagebuch eines Vertrauten, Quedlin­burg/Leipzig 1831; Helmut Bock, Major Schill, der Treubrecher, Berlin 2013.

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6. Stralsund französisch, schwedisch und wieder französisch: 1810 – 1812 Nach dem Frieden vom 6. Januar 1810 ­zwischen Schweden und Frankreich – Gustav IV. Adolf war inzwischen gestürzt und sein Onkel als König Karl XIII. (1748 – 1818) inthronisiert worden – kam Schwedisch-Pommern wieder unter schwedische Herrschaft. Die letzten mecklenburgischen Besatzungssoldaten zogen Mitte März ab; das Leibregiment der Königin sowie das Engelbrecht’sche Regiment erschienen wieder in Stralsund. In der Folgezeit wurde sowohl durch amerikanische als auch durch getarnte englische Schiffe die Kontinentalsperre von englischen Gütern auf dem europäischen Festland massiv unterlaufen. Obwohl Schweden nach dem Friedensschluss vom Januar 1810 verpflichtet war, die Kontinentalsperre einzuhalten, ging man kaum gegen den Schmuggel vor. Über Stralsund und andere Häfen wurden die deutschen Binnenländer mit englischen Gütern beliefert. Dieses Riesengeschäft blieb den Franzosen natürlich nicht verborgen. Im Sommer 1811 erhielt der Stralsunder Festungskommandant Oberst Ludvig P ­ eyron (1766 – 1840) den Befehl von General Graf Gustav Mörner (1768 – 1841), im Fall eines Angriffs durch die Franzosen mit seinen Truppen nach Rügen überzusetzen, die nicht mitgeführten Kanonen zu vernageln und in den Sund zu stoßen, alle Schiffe in rügenschen Gewässern in Sicherheit zu bringen und die Insel zu verteidigen.61 Peyron war sich bewusst, dass dieser Plan angesichts einer geschleiften Festung zum Scheitern verurteilt war, insbesondere wenn der Strelasund zufror und passierbar wurde. Mit den verbliebenen militärischen Kräften von knapp etwas mehr als zwei Regimentern – ca. 2400 Soldaten, eine Batterie Feld­geschütze und eine Abteilung Husaren – war das nicht umsetzbar, zumal im September 1811 auch noch der pommersche Landsturm aufgelöst wurde. Die diesen kommandierenden, meist finnischen Offiziere wurden nach Schweden beordert. In der zweiten Januar­hälfte 1812 erschienen auf der Mecklenburger Grenzseite zwei französische Divisionen (rund 20.000 Mann) unter General Louis de Friant (1758 – 1829). Dieser versicherte die beunruhigten Schweden seiner freundlichen Absichten und betonte, dass er nur zur Untersuchung des Schmuggels und zur Durchsetzung der Kontinentalsperre komme. ­Peyron sah sich angesichts der Übermacht der mit Schweden verbündeten Franzosen nicht in der Lage, diesen wirksam entgegenzutreten, zumal er zum Kriegsgefangenen erklärt wurde. Blieben zunächst die Schweden als Verbündete noch unter Waffen, so änderte sich dies Anfang März. Peyron und ein Teil der schwedischen Offiziere und Unteroffiziere wurden als Gefangene nach Frankreich geführt, die Schiffe im Stralsunder Hafen beschlagnahmt und bis auf Kaperfahrzeuge in französischen Diensten sowie Fischerboote am Auslaufen gehindert. Die Annexion Schwedisch-Pommerns und die fortwährende französische Kaperung schwedischer Schiffe trieb Schweden wieder in das Lager der Briten, von denen es auch wirtschaftlich abhängig war.

61 Zeitschrift für die neueste Geschichte, die Staats- und Völkerkunde, hg. v. Friedrich Rühs und Samuel Heinrich Spiker, Bd. 2, Berlin 1814, S. 491 ff.

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7. Vor und in den Befreiungskriegen Schien der Frieden bis auf die in der Ostsee operierenden britischen Flottenverbände nun gesichert, so änderte sich die Situation rasch nach dem desaströsen Scheitern der Grande Armée im Russlandfeldzug 1812. Bereits zu Beginn des Feldzugs bestand wieder die Notwendigkeit, eine sichere Hafen- und Festungsanlage in Stralsund herzustellen, um Landungen der Briten und Schweden abzuwehren. Ab Januar 1813 galt es, die nachdrängenden russischen Truppenverbände aufzuhalten.62 Außerdem gab es immer wieder Gefechte der in Stralsund liegenden kleinen französischen Kriegsflotte mit den Briten und Schweden vor den Gewässern von Rügen sowie einige halbherzige, vergebliche Landungsversuche schwedischer und englischer Truppen auf Mönchgut.63 Diese prüften die Wachsamkeit der hier stationierten rheinbündischen und sächsischen Truppen. Um die Briten an einem Einlaufen in den Strelasund von Norden her zu hindern, wurde vermutlich von französischer Seite bei Barhöft eine Schiffssperre angelegt, deren Wracks bis heute auf dem Seeboden ruhen.64 An einen regulären Wiederausbau der Stralsunder Festung war aus Zeit-, Geld- und Personalgründen nicht zu denken. Vielmehr plante man von französischer Seite den Bau von fünf Forts um die Stadt. Eines davon war die Sternschanze auf dem Dänholm, die ja nie ganz geschleift worden war. Zudem wurde die verfallene Prosnitzer Schanze auf rügenscher Seite am Strelasund im März 1812 in vier Monaten als Fort Napoleon grunderneuert 65 (Abb. 17). Die weiteren Wehrbauten kamen nicht mehr zur Ausführung.66 Die strategische Neuausrichtung der französischen Armee sowie Unruhen in Norddeutschland führten zum Abzug der französischen Besatzer in Schwedisch-Pommern im März 1813.67 Bereits am 20. Februar 62 Allerdings wurden noch Ende September Mauer- und Feldsteine aus den abgebrochenen Festungswerken verkauft, wie der Stralsundischen Zeitung vom 29. September 1812 zu entnehmen ist (Stadtarchiv Stralsund). 63 Wilhelm Freiherr von Schauroth, Im Rheinbundregiment 1809 – 13, Köln 1914, S. 70 – 74. 64 Thomas Förster, Wrackfunde aus der Zeit der Napoleonischen Kriege vor der Küste der Insel Rügen, in: ene vruntlike tohopesate. Beiträge zur Geschichte Pommerns, des Ostseeraums und der Hanse, Festschrift für Horst Wernicke zum 65. Geburtstag, hg. von Sonja Birli, Nils Jörn, Christian Peplow, Haik Thomas Porada und Dirk Schleinert (Schriftenreihe der David-Mevius-Gesellschaft 12), Hamburg 2016, S. 195 – 211, hier S. 204. 65 Auerbach (wie Anm. 17), S. 45; Markus Sommer-Scheffler, Die Befestigungen des 17. – 19. Jahrhunderts auf der Insel Rügen, in: Bodendenkmalpflege in Mecklenburg-­ Vorpommern, 58 (2011), S. 181 – 204, hier S. 188 ff. 66 Eine 1807/08 zunächst von den Franzosen wieder ausgebaute ältere Befestigung des wichtigsten Fährortes nach Rügen, Altefähr gegenüber von Stralsund, wurde 1809 wie die Stralsunder Festung geschleift, vgl. Sundine Nr. 60 vom 27. Juli 1838 (Stadtarchiv Stralsund). Möglicherweise sollte diese Verschanzung 1813 wieder ausgebaut werden. 67 Zu der militärischen Situation in Stralsund 1812/13: Geschichte des Regiments Herzog von Sachsen unter Napoleon und der großen Armee im russischen Feldzug 1812, hg. von Carl Geisler, Jena 1840, hier S. 21 ff.

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Abb. 17: Prosnitz auf Rügen, Plan des Fort Napoleon von 1812 (Reichsarchiv Stockholm, Krigsarkivet, Utländskakartor SFP, Tyskland, Rügen No. 4a)

waren die auf Rügen stationierten sächsischen Truppen überraschend abgezogen worden, denen am 9. März der französische Gouverneur Joseph Morand (1757 – 1813) an Bord der nach Rostock absegelnden kaiserlichen Flottille mit den restlichen französischen Militärs und Beamten folgte. Zwei Tage s­ päter begann die Neuaufstellung der schwedischen Regimenter in Schwedisch-Pommern, gefolgt von der Neubildung der Landwehr, der Formierung einer schwedisch-pommerschen Legion sowie der Einsetzung der alten Verwaltung und Polizei. Mitte Mai war fast die gesamte schwedische Armee mit dem Kronprinzen Karl Johann Bernadotte (1763 – 1844) in Stralsund, das als Hauptquartier der sogenannten Nordarmee der antinapoleonischen Verbündeten diente.68

68 Knapp 20.000 Mann und 4000 Mann von der Landwehr, vgl. Paul Beitzke, Geschichte der deutschen Freiheitskriege 1813 und 1814, Bd. 2, Berlin 1855, S. 291. Die militärische Bedeutung der sog. Nordarmee betrachteten Preußen, Russen und englische Gesandte kritisch. Außerdem kam es zu Reibereien ­zwischen dem Befehlshaber der britischen Truppen in Stralsund, Gibbs, und dem schwedischen Stadtkommandanten, von Engelbrecht, vgl. Charles William Vaneof Londonderry, Geschichte des Krieges von 1813 und 1814 in Deutschland und Frankreich, 2 Bde., Weimar 1836, hier Bd. 1, S. 114 ff. u. 132 ff.

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In der Zeit vor der im Oktober stattfindenden Völkerschlacht erlebte Stralsund eine aufregende und wirtschaftlich fast einmalige Zeit.69 Stralsund war neben Kolberg der wichtigste Hafen, in dem militärische und zivile Güter aus Großbritannien in Massen den Kontinent erreichten.70 Das endete erst, als die französische Besatzung Hamburg räumte. Zur Sicherung ihrer militärischen und merkantilen Interessen stationierten die Briten rund 3500 Soldaten, die teilweise an späteren Gefechten und Schlachten in Norddeutschland und in Waterloo teilnahmen, darunter als einziges britisches Militärkontingent in der Leipziger Völkerschlacht ein Congreve’sches Raketenbataillon. Außerdem setzten die Briten mit den Schweden die einstige Festung in einen provisorischen Verteidigungs­zustand. Angeblich waren die Befestigungen vor den Altstadttoren und auf dem Dänholm von Schweden und Engländern sowie 2000 angeworbenen Zivilisten so weit wiederhergestellt, dass die Stadt nur mit einer förmlichen Belagerung hätte genommen werden können. Im Frühherbst 1813 waren die meisten militärischen Einheiten abgezogen, um bei Berlin und Leipzig gegen Truppen des französischen Kaisers anzutreten. Mit dem Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen im Ergebnis des Wiener Friedenskongresses wurden am 23. Oktober 1815 die deutschen Soldaten in schwedischen Diensten in Stralsund von ihrem Eid entbunden. Damit endeten das schwedische und zugleich das kurze französische Kapitel der Stadt.71

69 Außer dem schwedischen Kronprinzen Bernadotte (dieser seit dem 18. Mai) weilten vorübergehend im Sommer/Herbst 1813 verschiedene Persönlichkeiten in Stralsund, so JeanVictor Moreau (1763 – 1813), einstiger Revolutionsgeneral und Gegner Napoleons, Friedrich Wilhelm von Braunschweig (der „schwarze Herzog“, 1771 – 1815), Ernst August Herzog von Cumberland (1771 – 1851), späterer König von Hannover, Ludwig von Wallmoden-Gimborn (1769 – 1862), österreichischer und s­päter russischer Feldmarschall, der komplette Hofstaat des Herzogs von Mecklenburg ebenso wie zahlreiche Lübecker und Mecklenburger Familien auf der Flucht vor den zeitweise wieder vorrückenden Franzosen, ferner britische, preußische und russische Gesandte. 70 Bodo Bernatzki, 1813 – eine fast vergessene Schiffskatastrophe auf der Reede vor Stralsund, in: Stralsunder Hefte für Geschichte, Kultur und Alltag (2014), S. 11 – 15. Der britische Diplomat Lord Charles William Stewart (1778 – 1854) gibt an, dass allein britische Baumwollwaren im Wert von über 10 Millionen Pfund Sterling Europa Ende 1813/1814 erreichten. Mit über 2 Millionen Pfund unterstützte Großbritannien die schwedische Rüstung. Zu den englischen Lieferungen an Russland, Preußen und Schweden zählten u. a. 218 Geschütze, 150.000 Uniformen, fast 176.000 Paar Stiefel und Schuhe, 114.000 Decken usw.; vgl. Vaneof Londonderry (wie Anm. 68), S. 21 u. S. 213. 71 Vom Löwen zum Adler, Der Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen 1815, hg. von Nils Jörn, Dirk Schleinert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, V/52), Köln/Weimar 2019. Das im Frieden von Kiel am 14./15. Januar 1814 Schwedisch-Pommern im Tausch mit Norwegen an Dänemark übereignet wurde, blieb ohne Auswirkungen, wurde allerdings von Deutschen wie Ernst Moritz Arndt oder dem schwedisch-pommerschen Vizegouverneur Fürst Malte von Putbus (1783 – 1854) kritisiert, die für einen Anschluss an Preußen plädierten; ebd., S. 18 ff.

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8. Schluss Fast ganz Pommern war im Frühjahr 1813 wieder der französischen Besatzung ledig. Nur eine Stadt leistete noch Widerstand: Stettin (Abb. 18). Seit sieben Jahren von wechselnden napoleonischen Truppen besetzt, waren viele Stettiner an den Rand des Ruins gelangt. Von März 1813 an wurde die mit 8000 französischen und niederländischen Soldaten sowie 320 Geschützen bewehrte Festung von preußischen, schwedischen und zeitweilig russischen Truppen belagert. Die damit verbundene katastrophale Versorgungslage führte zum Exil von 16.000 der insgesamt 22.000 Einwohner.72 Erst im Spätherbst, also lange nach der Völkerschlacht von Leipzig und der Verlagerung der Kämpfe nach Süddeutschland und an den Rhein, kam es zu Kapitulationsverhandlungen. Am 5. Dezember ergab sich Stettin.73 Lediglich Danzig behauptete sich als letzte Bastion des Kaisers der Franzosen im östlichen Mitteleuropa noch bis Ende Dezember. Das weitere Geschehen auf der europäischen Bühne ist bekannt. Nach dem Einmarsch der preußischen, russischen, englischen und österreichischen Verbündeten in Frankreich und einer Reihe dortiger Schlachten dankte ­Kaiser Napoleon 1814 ab. In der letzten blutigen Schlacht der Napoleonischen Kriege im Jahr darauf im belgischen Waterloo nahmen zwar keine schwedischen Truppen teil. Doch beteiligten sich dort Akteure, die zuvor in Pommern gewirkt hatten: Blücher und Gneisenau sowie die King’s German Legion, die 1807 und 1813 zu den in Stralsund garnisonierten britischen Truppen gehörte. Bleibt abschließend die Frage: Was zeugt in Stralsund und Kolberg von jener ereignisreichen Zeit ­zwischen 1806 und 1813? In erstgenannter Stadt zu nennen sind der Rest des Ravelins vor dem Knieperhornwerk, die Gedenktafel in der Fährstraße an dem Ort, wo Schill fiel, sein Grab auf dem St.-Jürgen-Friedhof nebst dem Schill-Denkmal am Rand der Stralsunder Altstadt, der Gedenkstein für den 1809 standrechtlich erschossenen schwedischen Mitkämpfer Petersson am Kniepertor, die Kartätschenspuren am Dachwerk des Hauses Frankenstraße 28 sowie zwei Carronaden, englische Schiffsgeschütze, im Marine­ museum auf dem Dänholm. Letztere stammen allerdings von der Insel Rügen, wo sich in der Putbuser Orangerie ein weiteres, 1799 gegossenes britisches Schiffsgeschütz befindet.74 72 Zu den Zuständen in Stettin während der napoleonischen Zeit siehe Martin Wehrmann, Geschichte der Stadt Stettin, Stettin 1911, S. 420 ff. sowie G. F. Strecke, Aus einem Tagebuch über die Belagerung Stettins i. J. 1813, in: Monatsblätter der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde, 30 (1916), S. 50 – 58. 73 Allgemeine Zeitung Augsburg vom 14. Februar 1813 (Stadtarchiv Stralsund); Pomerania. Geschichte und Beschreibung des Pommernlandes zur Förderung der pommerschen Vaterlandskunde, hg. von Friedrich Thiede, Bd. 6: Allgemeine Landeskunde, Stettin 1846, hier S. 279 (auch als Digitalisat der UB Greifswald). 74 Die Carronaden stammen aus Juliusruh an der Tromper Wieck. Hier waren 1812 13 britische Kauffahrer eines aus 300 Schiffen bestehenden Konvois mit russischen Handelsgütern zusammen mit einer begleitenden Kriegsbrigg auf Grund gelaufen und mussten aufgegeben werden; siehe dazu Förster (wie Anm. 64), S. 207 f.; Arnold Ruge, Aus früher Zeit, Bd. 1, Berlin 1862,

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Abb. 18: Stettin, Plan der Festung im Jahr 1808 (Muzeum Narodowego w Szczecinie, MNS A9192)

Weiterhin kündet eine gemalte Jahreszahl 1813 an einem der Mittelpfeiler in der Heilgeistkirche von einem englischen, mit Pulver beladenen Schiff auf der Reede im Stralsunder Hafen, das explodiert war und Zerstörungen an der ­Kirche und in der Stadt verursachte 75 (Abb. 19). Stralsund hat somit einige materielle Zeugnisse der napoleonischen Ära bis heute bewahrt. In Kolberg sieht es mit originalen Zeugen bescheidener aus. Die Bastionen und Schanzen wurden weitgehend abgetragen, als sich der Ort in den folgenden Jahrzehnten vergrößerte und als Seebad keine Befestigungen mehr benötigte. Diese hatten schon zuvor ihre militärische Bedeutung verloren und waren bereits im frühen 19. Jahrhundert nicht mehr ganz zeitgemäß gewesen. Die rasante Entwicklung der Artillerie in der Folgezeit – immer weittragendere und größere Granaten, verschossen mit Bomben- und Granatkanonen auf dem Weg zum seit dem späten 19. Jahrhundert realisierten Brisanzgeschoss – überholte die klassische Festung hernach endgültig. Detachierte Werke in großer Tiefe, Fortgürtel in S. 20 ff. Die Geschütze sind wohl aus einem der von den Engländern nur teilweise beräumten und in Brand gesteckten Wracks geborgen worden. 75 Bernatzki (wie Anm. 70), S. 13. Wendelin Zink gibt in seinen Lebenserinnerungen an, dass durch die Pulverexplosion nicht nur das Pfarrhaus in der Frankenstraße Schäden erlitt, sondern bei einer Vielzahl an Gebäuden Fenster, Dächer und Zimmerdecken beschädigt wurden, vgl. Zink (wie Anm. 12), S. 64. Auch im gegenüberliegenden Altefähr gab es Schäden: Sundine Nr. 60, 27. Juli 1838 (Stadtarchiv Stralsund).

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Abb. 19: Stralsund, Pfeiler in der Heilgeistkirche in Stralsund, Inschrift von 1813 (Foto Gunnar Möller)

weitem Abstand um die Festung bzw. Stadt wurden immer wichtiger. Karten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen in Kolberg noch eine ganze Anzahl von Bastionen und den teilweise erhaltenen Gürtel von Polygonalwerken und Gräben. Die starken Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und massive Neubebauungen in der Nachkriegszeit haben die Relikte der Befestigungen dann aber weiter reduziert. Nur im Südosten der Altstadt ist noch ein Teilstück des Bastions- und Grabenzuges in der Art einer Parkanlage erhalten. Auch an die Ereignisse von 1807 erinnernde Denkmale aus der Zeit vor 1945 sind am Ende des Krieges und in der Folgezeit verloren gegangen. In Kolberg noch vorhanden sind einige detachierte Werke, so dass Fort Münde heute mit Leuchtturm (Abb. 20), die Morast-Redoute und die Salz- oder Salinenschanze, die allerdings seit den 1820er und 1830er Jahren im Zuge eines preußischen Festungsbau­ programms erneuert oder überhaupt erst in dieser Form errichtet wurden. Mit dem Zustand von 1807 haben die historistisch-bunkerartig und vorwiegend in Backstein ausgebauten Befestigungen nicht mehr viel gemein. In Kolberg fanden bis 1873, als es seinen Festungsstatus verlor, Baumaßnahmen an den Werken statt; das überprägte die Gestalt der Wehrbauten nachhaltig. Die blutig umkämpfte Wolfsbergschanze, von den Franzosen Fort Loison geheißen, ist partiell erhalten, freilich in einer in den 1830er Jahren veränderten Form, und sie wird heute als Waldbühne genutzt. Die Waldenfelsschanze nördlich davon, fast an der See, benannt nach dem unfern gefallenen Verteidiger

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Abb. 20: Kolberg, Fort Münde mit Lotsenhaus, Persantemündung und Ostsee im Jahre 1901 (Bildpostkarte Brück und Sohn Kunstverlag Meißen; Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Deutsche Fotothek [SLUB-DF], Nr. df_bs_0001890)

Kolbergs von 1807, entstand überhaupt erst in den 1830er Jahren – sie sperrt das Binnenfeld, dessen fortifikatorische Bedeutung bei der großen Belagerung deutlich geworden war. Von der alten Festung künden außerdem das schlichte Geldertor von 1708 westlich der Persante und Reste eines der „Bären“ (Batardeau) im Süden der Stadt, der zur Flutung der Niederung diente.76 Immerhin vermitteln diese Monumente gewisse Vorstellungen von der militärischen Geschichte des Ortes, der heute sehr friedlich erscheint und dessen reges Kur- und Badeleben auch die martialischen Monumente immer mehr integriert – die in den letzten Jahren durchweg sorgfältig restaurierten Festungswerke des 19. Jahrhunderts dienen heute als Fotomotive, Aussichtspunkte, Wanderziele sowie als Standorte von Cafés und Restaurants.

76 Hieronim Kroczyński, Relikty nowożytnej twierdzy kołobrzeskiej we współczesnej architekturze miasta (Kołobrzeg 1993); https://twierdzakolobrzeg.pl/jak-zwiedzac-twierdze, letzter Zugriff: 12. 10. 2020.

Arndts „Bestseller“ Die Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn vom Stein ­zwischen Hommage und politischer Standortbestimmung* Heinz Duchhardt

Schon die Druck- und Editionsgeschichte des Buches, um das es hier geht, ist aufregend genug und geeignet, von einem Bestseller der politisch-autobiographischen Literatur zu sprechen.1 Es erschien erstmals 1858 in der Berliner Weidmannschen Verlagsbuchhandlung, erlebte noch im selben Jahr eine zweite und einige Jahre nach Arndts Tod 1869 eine weitere Auflage, fand 1891 seinen Weg in die vom Leipziger Bibliographischen Institut herausgegebene vielbändige Reihe Meyers Volksbücher (Band 212), wurde 1893 im Leipziger Pfau-Verlag im Rahmen einer (unvollendeten) Gesamtedition von Arndts Sämmtlichen Werken als Band 2 wiederaufgelegt, wurde 1896 vom Leipziger Reclam-Verlag in einer von Robert Geerds besorgten (und wiederholt nachgedruckten) Neuauflage herausgebracht und erlebte dann im Umfeld des 150. Geburtstages des Freiherrn vom Stein (1907), der fast punktgenau mit dem Ablauf der in der sogenannten Berner Übereinkunft von 1886 festgelegten 50-jährigen Mindestschutzfrist für Druckwerke zusammenfiel (1908), geradezu einen Boom weiterer Auflagen: 1908 durch den Leipziger Hesse & Becker-Verlag eine von Robert Geerds besorgte (und mit dem Reclam-Text von 1896 identische) Neuauflage und im selben Jahr durch den Frankfurter Diesterweg-Verlag eine von Karl Altendorf betreute gekürzte Ausgabe „für die deutsche Jugend“, ebenfalls 1908 im Verlag des Wiesbadener Volksbildungsvereins ein Auszug, 1909 durch den Hamburger Janssen-Verlag (nachgedruckt 1912), 1910 durch den Leipziger Wigand-Verlag unter der Herausgeberschaft von Theodor Rehtwisch, ebenfalls 1910 in Auszügen durch den Düsseldorfer Schwann-Verlag und 1913 durch den Berliner Bong-Verlag. Im selben Jahr (1913) publizierte Velhagen & Klasing eine von Theodor Klumpp besorgte Teilausgabe, die wenigstens 1918, 1926 und 1935 nachgedruckt wurde. Die in der Endphase des ­Ersten Weltkriegs erschienene Ausgabe des Leipziger Reclam-Verlags (eine Neuauflage des Reclam-Textes von 1896) stand noch stärker als ihre Vorgängerinnen unter tagespolitischen, also aufrüttelnd-nationalen Vorzeichen; nicht



* Wegen einer Erkrankung des Verfassers musste dieser Text von einem anderen Konferenzteilnehmer vorgetragen werden. Ich danke Herrn Dr. Ludwig Biewer, Berlin, für die Freundlichkeit, diese Aufgabe übernommen zu haben. Der Text konnte wegen der Abwesenheit des Autors auch nicht à fond diskutiert werden. Für die freundliche Überlassung seines Manuskripts vor Druckbeginn bin ich Herrn Dr. Dirk Alvermann, Greifswald, zu Dank verpflichtet. 1 Der nachfolgende Überblick beruht weitgehend auf Autopsie, ergänzt durch die Angaben bei Karl Heinz Schäfer und Josef Schawe, Ernst Moritz Arndt. Ein bibliographisches Handbuch 1769 – 1969, Bonn 1971, Nr. 1174 – 1214.

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zufällig erlebte auch die Velhagen-&-Klasing-Ausgabe in der Weimarer Republik und im frühen „Dritten Reich“ die genannten Neuauflagen. 1914 griff das Leipziger Bibliographische Institut auf seine Erfahrungen mit ­diesem Buch zurück. 1923 erschien das Buch als Band 12 der Reihe Diesterwegs deutsche Schulausgaben, im selben Jahr verlegte es die Berliner Gesellschaft Deutscher Literaturfreunde, 1925 legte die Schriftstellerin Ricarda Huch im Leipziger Grethlein-Verlag eine neue Ausgabe vor, 1931 der Beltz-Verlag eine von Erich Sielaff, dem späteren Greifswalder und Rostocker Germanisten bearbeitete Edition, ebenfalls 1931 der Breslauer Hirt-Verlag eine von Erich Gülzow, dem Mitverantwortlichen einer staatlich geförderten kritischen Arndt-Edition (und Initiator der Pommerschen Lebensbilder) besorgte stark gekürzte, immerhin aber mit Erläuterungen versehene Teiledition, die 1941 und 1943 wiederaufgelegt wurde. Und überhaupt die NS-Zeit: 1934 brachte Georg Schübel im Bamberger Buchner-Verlag in dessen Reihe Vorkämpfer für deutsche Art, Freiheit und Größe eine Teiledition heraus, 1939 besorgte das Berliner Bong-Verlagshaus, das mit Arndt ja schon über eine lange Tradition verfügte, eine von dem vor allem als Mörike-Spezialist hervorgetretenen August Leffson besorgte und eingeleitete Edition, im selben Jahr brachte der Stuttgarter Verlag im Rahmen seiner Deutschen Volksbücher eine Ausgabe heraus, 1944 wurde in der seit langem etablierten Reihe der Wiesbadener Volksbücher, die schon im ­Ersten Weltkrieg mit einer Ausgabe an die Öffentlichkeit getreten waren, eine von Herbert Cysarz eingeleitete Ausgabe veröffentlicht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm das Interesse an dem Buch dann erkennbar ab, erwähnenswert ist nur eine von Herbert Scurla herausgegebene Auszugsedition von 1953 im Berliner Verlag der Nation, ehe 1957 schließlich, im Stein-Gedenkjahr, das auch noch andere Wiederauflagen früherer Ausgaben erlebte, der in Münster tätige Gymnasialdirektor (und Ehrenmitglied der Historischen Kommission für Westfalen) Wilhelm Steffens (1893 – 1970) im Aschendorff-Verlag die noch heute gültige historisch-kritische Edition des Buches veröffentlichte. 1991, die Öffnung für moderne Medien zeichnete sich ab, legte der Saur-Verlag München im Rahmen seines gewaltigen Unternehmens Bibliothek der deutschen Literatur eine Microfiche-Edition des Buches vor. Vorläufig letzte Facette d ­ ieses Bildes ist ein reprographischer Nachdruck der zweiten Auflage von 1858, die der Berliner Historiker Wolfgang Neugebauer 2005 besorgt und mit einem gehaltvollen Vorwort versehen hat: Der Kreis schließt sich auch insofern, als diese Ausgabe erneut in der inzwischen in Hildesheim ansässigen Weidmannschen Verlagsbuchhandlung erschienen ist. Aber die Geschichte ohne Ende wird weitergehen: Der im münsterländischen Warendorf ansässige Hoof-Verlag veröffentlichte 2013 bereits wieder eine neue Ausgabe … Auch wenn man in Rechnung stellt, dass Arndts frühe, während des sogenannten Befreiungskriegs an die Adresse der auf französischer Seite kämpfenden Soldaten gerichteten Flugschriften in großen Stückzahlen gedruckt und verteilt wurden, und man berücksichtigt, dass sein vierteiliger Geist der Zeit vor allem im E ­ rsten Weltkrieg verschiedentlich wiederaufgelegt wurde, scheint es evident zu sein, dass Arndts Wanderungen und Wandelungen die mit Abstand größten Leserzahlen erreichte, also sein „Bestseller“ wurde. Schon allein die vielen in großen Auflagen gedruckten Teileditionen im 20. Jahrhundert lassen

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daran keinen Zweifel. In dem grundlegenden Bibliographischen Handbuch von Schäfer und Schawe reichen die Editionen der Wanderungen und Wandelungen von der Nummer 1174 bis zur Nummer 1214 und nehmen sieben Seiten in Anspruch.2 Aber die Fülle der Editionen und Teileditionen kann selbstredend nicht ausreichen, um sich dem Buch erneut mit gebührender Distanz zu nähern.

1. Arndts Hommage auf Stein Angesprochen, ja bedrängt worden war Arndt im Lauf der Jahrzehnte nach Steins Tod (1831) mehrmals, ob er als früherer Weggenosse und Mitarbeiter des Reichsfreiherrn nicht doch eine Art Memoria zu Papier bringen könne, eine persönlich gefärbte Erinnerung an die gemeinsamen Jahre seit 1812. Erste Überlegungen waren wohl schon unmittelbar nach Steins Tod im Juni 1831 angestellt worden, aber sie mündeten am Ende „nur“ in einen umfangreichen Nekrolog.3 Arndt sollte nach den Wünschen von Steins Töchtern die Aufgabe einer Stein-Biographie aus den Cappenberger Archivbeständen übernehmen, aber er hatte gezögert, so dass diese Aufgabe am Ende von Steins langjährigem Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica Georg Heinrich Pertz (1795 – 1876) übernommen wurde. Aber als ihn seit Mitte der 1850er Jahre der liberal-konservative Diplomat und Theologe Christian Karl Josias von Bunsen (1791 – 1860),4 mit dem er einen intensiven Briefwechsel pflegte, immer drängender „bearbeitete“, dem Publikum in autobiographischer Form Auskunft über eine politisch eminent wirksame Zweierbeziehung zu geben, gab Arndt schließlich nach. Bunsen, dem das Buch schließlich auch gewidmet wurde, hatte – die rasch ­folgenden Auflagen der Wanderungen und Wandelungen geben davon Zeugnis – gewiss nicht übertrieben, wenn er die Erwartungshaltung eines breiten Publikums ansprach, über eine politische Freundschaft zweier Männer mehr in Erfahrung zu bringen, die je auf ihre Art die Zeit der sogenannten Befreiungskriege und des Vormärz geprägt hatten: Stein, Napoleons Intimfeind und von ihm proskribiert, als „Seele“ des europäischen Widerstands gegen den ­Kaiser der Franzosen und seine neue Form der „Universalmonarchie“, Arndt als sein publizistisches Sprachrohr und als Trommler für die nationale Einheit, die herzustellen auf dem Wiener Kongress grandios gescheitert war. In den Augen vieler Zeitgenossen musste ein solches Memoriawerk autobiographischen Charakters doppeltes Interesse finden, ganz unabhängig davon, dass die siebenbändige (und damit einen langen Atem des Lesers voraussetzende) 2 Ebd., S.  295 – 301. 3 Anonym in: Allgemeine Zeitung 1831, Außerordentliche Beilage Nr. 337 – 343. Der Nekrolog wurde wiederabgedruckt in Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben, Leipzig 1840, S. 365 – 381, und in der Historisch-Kritischen Ausgabe Ernst Moritz Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein, hg. v. Wilhelm Steffens, Münster 1957, S. 21 – 40. Vgl. auch Schäfer und Schawe (wie Anm. 1), S. 224 f. 4 Zu ihm https://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Karl_Josias_von_Bunsen, letzter Zugriff: 12. 10. 2020.

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Abb. 1: Seite aus Arndts Manuskript der Wanderungen und Wandlungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein (Staatsbibliothek Berlin Ms. germ. qu. 1380)

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Pertz-Biographie bereits vorlag, die – als Arbeit eines ganz eng an den Quellen arbeitenden Archivars – alles andere als ein Lesevergnügen bereitete, und als Arndts Erinnerungen aus dem äußeren Leben schon seit geraumer Zeit auf dem Büchermarkt waren. Arndts Wanderungen und Wandelungen war ein sehr persönliches Dokument, das – oft mit kleinen Irrtümern – aus der eigenen Erinnerung schöpfte, nicht etwa, was ohnehin nicht Arndts Sache gewesen wäre, auf breitem Aktenstudium beruhte. Stecken wir zunächst den äußeren Rahmen dieser Beziehungsgeschichte ab. Beide Männer begegneten einander zum ersten Mal Ende August 1812 in St. Petersburg: der eine – Stein – von Zar Alexander I. aus seinem böhmischen Exil nach Russland berufen, um ihm als Berater in den deutschen Angelegenheiten zur Seite zu stehen, der andere – der Greifswalder Professor Arndt – auf der Flucht vor dem immer näher kommenden Napoleon, eine Flucht, die ihn von Berlin über Schlesien und Polen nach Russland führte und die sich in eine Absetzbewegung zahlreicher preußischer Militärs in das Zarenreich einordnete. Die Parallelität der Reisetätigkeit beider Männer war kein Zufall: Stein kannte Arndt aufgrund der Lektüre seiner früheren antinapoleonischen Pamphlete, etwa seines Germanien und Europa von 1803 und des ersten Bandes seines Geist der Zeit,5 bereits hinlänglich und hatte ihn brieflich aufgefordert, zu ihm zu stoßen und ihm seine Feder für den anstehenden großen Krieg gegen Napoleon zu leihen. Arndt hat die erste Begegnung mit dem „berühmten“ Minister Stein, den er von seiner Physiognomie und seinem Wesen her spontan mit seinem Jenaer Lehrer Fichte verglich und dessen „leuchtendste Augen und freundlichste Gebärde“ 6 tiefen Eindruck auf ihn machten, gleich am Anfang des Buches anrührend geschildert: „Er empfing mich wirklich mit solcher fröhlichen Zärtlichkeit, als hätten wir uns schon Jahre gekannt, und ich, mit welcher Verehrung ich auch vor dem berühmten Mann getreten war, däuchte mir fast wie vor einem alten Bekannten vor ihm zu stehen“.7 Arndts Schilderung der Körperlichkeit Steins, die immer wieder mit Rückschlüssen auf seinen Charakter verbunden wird, wurde für das weitere 19. und das 20. Jahrhundert geradezu klassisch und soll wegen dieser Langzeitwirkung hier zitiert werden:8 „Der Freiherr Karl von [!] Stein war mittlerer Größe, dem Kurzen (ein rechter Kurzbold) und Gedrungenen stärker als dem Hohen und Schlanken, der Leib stark und mit breiten deutschen Schultern. Beine und Schenkel wohl gerundet, die Füße mit starker Rist, Alles zugleich stark und fein wie von altem Geschlecht, dessen er war; seine Stellung wie sein Schritt fest und gleich. Auf ­diesem Leibe ruhte ein stattliches Haupt, eine breite sehr zurückgeschlagene Eselsstirne,

5 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, Theil 1, [o. O.] 1806. Zu Steins Rezeption vgl. Neugebauer, in: Ernst Moritz Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein, nach der 2. Auflage Berlin 1858. Mit einer Einleitung von Wolfgang Neugebauer, Hildesheim 2005, S. VIII. 6 Ernst Moritz Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn ­Heinrich Karl Friedrich von Stein, Berlin 1858, S. 3. 7 Ebd., S. 4. 8 Ebd., S. 61. Arndts handschriftliche Fassung dieser Schilderung zeigen Abb. 1 und 2 dieses Beitrags.

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wie die Künstler sagen, daß der große Mann sie häufig haben solle; seine Nase […], eine mächtige Adlernase, unter ihr ein fein geschlossener Mund und ein Kinn, das wirklich ein wenig zu lang und zu spitz war [Goethe und er hätten nicht aus blauen, sondern aus braunen Augen die Welt angeschaut],9 mit dem Unterschiede, daß das göthische Aug breit und offen meist im milden Glanze um sich und auf die Menschen herabschaute, das steinsche, kleiner und schärfer mehr funkelte als leuchtete und oft auch sehr blitzte.“ Die mit dem 16. August 1812 beginnende Zusammenarbeit in Petersburg, die die beiden Männer fast tagtäglich zusammenführte und die, wie es heute formuliert werden würde, eine Partnerschaft „auf Augenhöhe“ war, in der Stein gegenüber seinem „literarischen Mitläufer oder Beiläufer“ 10 niemals den „Vorgesetzten“ herauskehrte, den er im Gegenteil auch durch Körperkontakt immer wieder belobigte, dauerte bis 1814. Sie schloss die Bemühungen um die Schaffung einer Deutschen Legion aus den in Russland weilenden und den Kriegsgefangenen und den zur Desertion aus Napoleons Armee zu bewegenden Deutschen ein, die freilich, obwohl ein Schwager Steins 11 am Ende an ihre Spitze trat, trotz eines engagierten Pamphlets Arndts (Kurzer Katechismus für den deutschen Soldaten) alles andere als eine Erfolgsgeschichte wurde.12 Aber es war auch der Grundgedanke, dass es gegen Napoleon einer breiten Mobilisierung des ganzen Volkes – in Gestalt von Landwehren und Landsturmen – bedürfe, um seiner Herrschaft ein Ende zu bereiten, die die beiden Männer vereinte. Hier in Petersburg sind dann wohl auch die Grundlagen einer Beziehung gelegt worden, die man heute mit dem Prädikat einer engen, von Vertrauen geprägten Freundschaft bezeichnen würde und die sich über die Stationen der kommenden Monate und Jahre – Wilna, Königsberg, Kalisch, Reichenbach, Breslau, Dresden, Leipzig und Frankfurt/Main – stetig vertiefte. Dabei hat die rezente Forschung verdeutlicht, dass Arndt über die Rolle eines bloßen Sprachrohrs Steins rasch hinauswuchs und in seiner Publizistik mehr und mehr Selbstständigkeit entwickelte; sogar in Hinsicht auf die in Wien zu findende Nachkriegsordnung wurden z­ wischen den Konzeptionen Arndts und Steins leichte Differenzen erkennbar. Als die Lebenswege wieder auseinandertraten, ist Arndt eigenem Bekunden nach von seinem Dienstsitz Bonn aus regelmäßiger Gast Steins sowohl in Nassau als auch in Cappenberg gewesen und hat auch nach Steins Ableben die Verbindung zu seiner im Nassauer Schloss lebenden Tochter Henriette, einer verheirateten Gräfin Giech (1796 – 1855), weiter gepflegt. Gerade für diese letzten Lebensjahre Steins, die er überwiegend in Cappenberg verbrachte, liegen besonders intime Bekenntnisse und Schilderungen Arndts vor, die das Wesen des Reichsfreiherrn von der privaten Seite her eindrucksvoll nachzeichnen. 9 Dirk Alvermann sieht in seinem Beitrag in d ­ iesem Buch in dieser Anmerkung eine deutliche Distanzierung von den in Mode gekommenen „rassenbiologischen Überlegenheitsträumereien“. Vgl. unten S. 179. 10 Ebd., S. 19. 11 Der österreichische Graf Ludwig Georg Thedel von Wallmoden (1769 – 1862). 12 Sie sollte nach den Befreiungskriegen mehr oder weniger in das preußische Heer überführt und dort integriert werden.

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Abb. 2: Hermann Schievelbein, 1867, rückwärtiger Sockelfries des Denkmals für den Freiherrn vom Stein (heute vor dem Berliner Abgeordnetenhaus). Arndt im Kreise von Blücher, Stein, Alexander I., Friedrich Wilhelm III. und Franz I. (Foto: A. Lettow-Alvermann)

Mit den Wanderungen und Wandelungen lieferte Arndt, um eine Zwischenbilanz zu ziehen, dem deutschen Publikum einen sehr persönlichen Rückblick auf seine Beziehungen zu Stein, der für ihn neben Goethe der bedeutendste Deutsche der ersten Hälfte seines Jahrhunderts war.13 Ich will hier nicht weiter thematisieren, dass Arndt etliche Passagen der Sache nach oder sogar wörtlich aus seinen Erinnerungen übernahm, will auch die vielen Seitenwege nicht verfolgen, die er einschlug und die sich mit Personen oder historischen Augenblicken beschäftigten, die mit Stein gar nichts zu tun hatten. Es war eine Hommage eines Mannes, der wusste, was er 1812 und viele Male ­später Stein zu verdanken hatte, eine Hommage, die zwar bestimmte im Charakter und in seinem oft aufbrausenden Naturell wurzelnde Eigenheiten des Reichsfreiherrn nicht verschwieg, die aber doch all das wieder in eine gewaltige Apotheose einband, die geradezu hymnische Züge annahm. Wie Stein mit Menschen umging, die seinen politischen Ansichten fernstanden oder geckenhaftes Sozialverhalten zeigten, wie er andererseits sich mit Gleichgesinnten wie etwa Madame de Staël (1766 – 1817) austauschte 14 – das sind schon kleine journalistische Leckerbissen, die die Konturen des Protagonisten nur noch schärfer hervortreten lassen. Arndt, der in Petersburg als eine Art Privatsekretär und als Steins publizistisches Sprachrohr wirkte, stellte Stein als 13 Arndt (wie Anm. 6), S. 61. 14 Ebd., S. 57 f.

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einen Mann dar, der die Seele des sogenannten Befreiungskriegs gegen Napoleon gewesen war, der ein klares Konzept für Deutschlands Zukunft gehabt habe, mit dem er auf dem Wiener Kongress allerdings nicht durchzudringen vermochte, als einen Mann mit einem festen Wertesystem, als einen Gutsherr, der in Cappenberg ohne jeden Adelsdünkel mit „seinen“ westfälischen Bauern lebte und sie respektierte, als einen von einem tiefen christlichen Ethos erfüllten Menschen, als einen pater familias, der seine Familie und seine Haushaltsgenossen mit seiner ganzen Fürsorge bedachte, als einen Mann, der umfassend gebildet war und den wissenschaftlichen Teil dieser Bildung zudem in das säkulare Unternehmen der Monumenta Germaniae Historica umzusetzen verstand. Diese Hommage gründete in der Sache, also in der weitgehenden Kongruenz im politischen Denken, in der Erfahrung einer gemeinsam verbrachten Lebensphase in einer turbulenten Zeit, aber sie gründete selbstredend auch in der Erinnerung, dass und wie Stein sich in den Jahren nach dem Wiener Kongress für Arndt eingesetzt hatte: der dafür gesorgt hatte, dass ihm die Bonner Professur anvertraut wurde, der, oft im Stillen, zu seinen Gunsten interveniert hatte, um die Suspension wieder aufheben zu lassen, der zu einer Art „Schutzschild gegen Verfolgungen“ im Nachgang der Karlsbader Beschlüsse geworden war. Es ist keine Frage, dass eine ganze Portion Dankbarkeit gegenüber seinem großen Gönner zweier Jahrzehnte in diese Hommage eingeflossen ist.

2. Der homo politicus im Werk Aber das Buch interessiert hier natürlich nicht nur seiner Zielperson und der Memoria eines Weggenossen wegen, sondern weil Arndt diese Schrift auch als ein Forum verstand, um als fast 90-jähriger Greis noch einmal auf die Zeitgeschichte, wie er sie erlebt hatte und wie sie bis in seine Gegenwart fortdauerte, zurückzublicken. Es waren strukturelle Phänomene, die ihm auffielen und die er (indirekt) seinen Lesern nahezubringen versuchte. Zunächst natürlich: Das Buch zentriert sich um den sogenannten Befreiungskrieg gegen Napoleon, als die „Nation“, deren Einzelteile sich lange genug Napoleon angedient hatten, endlich einmal zusammenstand und der kompletten Außensteuerung des (inzwischen namenlosen) Gebildes in der Mitte Europas durch Frankreich Einhalt gebot. Von Anklängen an seine Volkshass-Schrift von 1813 ist hier allerdings nichts mehr zu spüren. Den Lesern wenige Jahre nach der missglückten Revolution von 1848/1849 zu verdeutlichen, was es bedeutet hatte, dass gemeinsamer Widerstand etwas Großes bewirkt hatte, war wichtig, auch wenn dieser Widerstand dann nicht in eine gewünschte Gestaltung hatte überführt werden können. Zum anderen: Deutschland hat nach Stein keinen vergleichbaren „Feuerkopf“ mehr hervorgebracht, keinen Mann, der mit einer ähnlichen Leidenschaft für das Wohl seines Volkes kämpft. Es war das Lob eines charismatischen und visionären Mannes, der ein ganzes Volk mitriss und an dem es – man denkt fast zwangsläufig an die Situation des Jahres 1848 – seitdem fehle. Wendungen wie die vom „tapfersten unüberwindlichsten

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deutschen Ritter“,15 vom „Mensch des Sturmwindes“, zu dem ihn Gott gemacht habe,16 vom „treuen, tapfern frommen Mann“,17 vom Mann „mit seinem unbezwinglichen Muthe und seiner Tugend und Kraft“,18 vom „Morgenstern der Hoffnung“ 19 finden sich zuhauf. Am Ende steigert Arndt seine Apotheose bis hin zu Wendungen wie „zweiter Arminius“ und „Deutschlands politischer Martin Luther“; nicht zufällig beschließt Arndt diese Apotheose mit einem doppelten „Amen“.20 Zum Dritten: Deutschlands Zukunft muss auf den ehrlichen und geraden Stämmen des Nordens aufbauen, den Pommern und Ostpreußen, denen eine „fest und grade vor sich hin schauende und stille Mannlichkeit“ 21 eigne, auch auf den Brandenburgern und Schlesiern,22 die gewissermaßen für die Stein’schen Werte stehen. Den „nordischen“ und nordostdeutschen Stämmen gilt Arndts – des Pommern – ganze Sympathie; er schildert ihre Charaktereigenschaften in den glühendsten Farben und exemplifiziert das an psycho­ logischen Skizzen von Männern, die diesen Stammesgruppen angehörten. Und es war nicht nur eine Art regionalistische Nähe zu diesen Stämmen, die allesamt agrarisch organisiert waren, sondern auch die Wertschätzung des dortigen Bauernstandes, die Arndt, der 1803 ja auch ein einschlägiges Buch publiziert hatte,23 ganz eng an der Seite Steins, des Vaters des Oktoberedikts, gerückt hatte und seiner Begeisterung für das freie westfälische Bauerntum, die der Reichsfreiherr oft thematisierte. Es ist sicher richtig beobachtet worden, dass Arndts späten Schriften – denen aus der Zeit nach 1840 – keine Verherrlichung des deutschen Volkscharakters allgemein mehr eignete,24 aber dass er bestimmte Stämme besonders positiv konnotierte, widerspricht dem Generalbefund nicht. Daraus folgt mit zwingender Logik, dass die Führungsrolle im Prozess der nationalstaatlichen Konsolidierung Preußen zukomme und nicht etwa einem der süddeutschen 15 16 17 18 19 20 21 22

Ebd., Widmungsvorwort. Ebd., S. 62. Ebd., S. 62. Ebd., S. 65. Ebd., S. 121. Ebd., S. 298. Ebd., S. 155. Bei seiner Ankunft in Breslau war Arndt von einer Tochter des Leibarztes Hufeland mit einer Umarmung und einem Kuss begrüßt worden. An ihr hätten aber die deutschen Professoren dann doch keine Freude erlebt, sie habe sich einige Jahre s­päter nämlich mit einem „wallachischrussischen Bojaren“ vermählt, keinem anderen als dem, der in einem Pamphlet die deutschen Universitäten und Professoren wegen „Hochverrats“ angeklagt habe (S. 161), d. i. Alexander Skarlatowitsch von Stourdza (1791 – 1854), verheiratet mit Wilhelmine geb. ­Hufeland. Das von Arndt angezogene Pamphlet Stourdzas, das während des Aachener Kongresses in die Öffentlichkeit gelangte, gehörte zum weiteren Vorfeld der Karlsbader Beschlüsse. Vgl. jetzt auch Heinz Duchhardt, Der Aachener Kongress von 1818. Ein europäisches Gipfeltreffen im Vormärz, München 2018, S. 214 – 216. 23 Ernst Moritz Arndt, Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen, Berlin 1803. 24 Siehe dazu den Beitrag von Dirk Alvermann in ­diesem Band, S. 174 – 179.

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Flächenstaaten, die in Arndts Augen jeden etwaigen Anspruch, verantwortliche Träger der staatlichen Zukunft Deutschlands zu werden, durch ihre Zugehörigkeit zum Rheinbund für immer verwirkt haben. Diese Hinwendung nach Preußen war Arndt gewiss nicht an der Wiege gesungen worden, aber sie war seit 1813 irreversibel: seit Arndt in Ostpreußen den von Ludwig Yorck von Wartenberg (1759 – 1830) initiierten autonomen Widerstand des Landes gegen die französischen Besatzer kennengelernt hatte und von der Durchschlagskraft des Begriffs Patriotismus überzeugt worden war, der sich in Landsturm und Landwehr gewissermaßen materialisiere. Die Tendenz hin zum Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht, die Arndt in einer kleinen Schrift aus diesen Wochen in Worte fasste, nahm ihn endgültig für Preußen ein. König Friedrich Wilhelm III., dessen Lebenslust 1810 mit dem Tod seiner Ehefrau Luise „zerknickt“ worden sei, habe Redlichkeit, Frömmigkeit und Tapferkeit in sich getragen, die aber „erstarrt und verschlossen“ s­ eien 25 – er wird also exkulpiert, ebenso wie Arndt so weit geht, Steins Intimfeind Karl August von Hardenberg (1750 – 1822) Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Preußen ist also nur zeitweise vom rechten Weg abgekommen. Dem entsprach das Gegenbild der frankreichhörigen Rheinbundfürsten, die dem K ­ aiser der Franzosen riesige Heeresteile zur Verfügung gestellt hatten, die zögerten, sich von Napoleon zu lösen, oder dann reinen Opportunismus praktizierten. Gerade im Blick auf sie schrieb Arndt in den Wanderungen und Wandelungen – sicher, wenn er es denn noch erlebt hätte, ganz in Steins Sinn – cum ira et studio, die ihn sogar in „juristische Turbulenzen“ 26 brachte und in einem von den Angehörigen des bayrischen Generalfeldmarschalls und Fürsten Karl Philipp von Wrede (1767 – 1838) angestrengten Beleidigungsprozess schmerzliche Konse­ quenzen für ihn hatte.27 In seinen Schriften aus der Zeit des „Befreiungskriegs“ hatte er sogar eine Art Widerstandsrecht gegen „undeutsche“ Fürsten entwickelt! Preußen muss freilich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, dass extremen und eigensüchtigen Hofgruppierungen – „Schlangengezücht“, „unverschämtes garstiges Hofgewürm“ 28 – wie in der Ära der Wittgenstein,29 Schilden, Voß und Kamptz nie mehr das Feld überlassen werden. Die Krone darf sich nie mehr fremdsteuern lassen, will sie nicht ihre Reputation aufs Spiel setzen: Hier spricht natürlich der Bonner Professor, der letztlich grundlos ins Fadenkreuz der Protagonisten der sogenannten Karlsbader Beschlüsse geraten war, hier spricht aber auch der Beobachter des politischen Systems Friedrich Wilhelms IV., 25 Arndt (wie Anm. 6), S. 250 f. 26 So Neugebauer(wie Anm. 5), S. III. 27 Anlass: Arndt (wie Anm. 6), S. 218 f. Arndt wurde vom Gericht in Zweibrücken in contumaciam zu zweimonatiger Haft und einer Geldbuße von 50 Talern sowie Begleichung der Gerichtskosten verurteilt. 28 Arndt (wie Anm. 6), S. 251. 29 Das sehr negative Stein’sche (und Arndt’sche) Bild des Fürsten Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein (1770 – 1851) wird derzeit von Hans-Bernd Spies einer Revision unterzogen. Vgl. ders., Marksteine preußischer Außenpolitik seit 1795, der deutsche Erstdruck des französischerseits abgefangenen Briefes des Ministers Stein an Fürst Wittgenstein (1808) in der Aschaffenburger Zeitung und der Beginn eines Zerwürfnisses, in: Aschaffenburger Jahrbuch 33 (2019), S. 225 – 279.

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der ja die Verfassung von 1850 als aufgezwungen und nicht den preußischen Traditionen entsprechend interpretierte, mehr oder weniger auf eine Verfassungsrevision hinarbeitete, die aber dann doch nicht so weit ging, den Hochkonservativen das Feld zu überlassen, die ihrerseits die Möglichkeiten erkannten, über die Kammern Politik zu machen, und gar nicht auf Staatsstreichpläne zurückgriffen.30 Zum Vierten schließlich, die transnationale Perspektive, der Blick auf die europäischen Völkerschaften, die ihn im Sinn einer vergleichenden Typologie ja schon in seiner Schrift Germanien und Europa von 1803 beschäftigt hatten: Arndts ganzer Zorn richtet sich nicht mehr so harsch wie früher, aber immer noch deutlich – insofern passten Stein und Arndt sehr gut zueinander – gegen die Franzosen: jenes Volk, das Napoleon hinterhergelaufen sei, das unkalkulierbar bleibe und dessen Menschen einfach schlechte Charaktereigenschaften, Durchtriebenheit und einen eklatanten Mangel an Menschlichkeit besäßen, deren „Signatur“ „wälscher Trug und Uebermuth“ ­seien.31 Arndt als der in der Wolle gefärbte Gegner alles Französischen – dieser Grundzug seines politischen Weltbildes entspricht ja auch so sehr seinem Bild in der „öffentlichen Meinung“, dass es nicht weiter belegt werden muss. Dass ­dieses Bild sich im Alter im Vergleich mit seiner Volkshass-Schrift etwas abgeschwächt hatte, wird von der neueren Forschung 32 zu Recht betont. In eine ähnliche „Schublade“ steckte Arndt Russland und die Russen, die ihn immerhin ja in schwerer Zeit aufgenommen hatten. Auch wenn er in St. Petersburg manche russischen Funktionsträger kennengelernt hatte, die ihn beeindruckten – darunter etliche Frauen wie die Gräfin Orloff 33 –: Als Volk blieben sie ihm fremd, ihre Wildheit, ihr barbarisches Verhalten und ihr Mangel an Kultur konnten durch die wenigen Russen, die ihm imponierten, nicht ausgeglichen werden. Die Physiognomien der Russen mit ihren „dicken Breitköpfen und Klotzköpfen“ 34 spiegle sozusagen die jahrhundertelangen Einflüsse der Tataren und Mongolen und unterscheide die Russen sogar von den Westslawen in ganz unvorteilhafter Weise – die alte Verbastardungs-These war noch keineswegs ganz verschwunden. Bei aller begrenzten Achtung des Volkes: Das sei kein Land, in dem sich leben lasse, das sei ein „asiatisches Regiment“,35 in dem Willkür 36 und Rücksichtslosigkeit an der Tagesordnung s­ eien, ein Imperium, das er seiner Dekadenz, seiner „Menschenverachtung“ und seiner grausamen Knechtschaft wegen mit dem spätantiken Römischen Reich und den merowingischen Reichen des 6. und 7. Jahrhunderts verglich.37 Die ­Staatspolizei 30 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern. Bd. 2: Dynastie im säkularen Wandel. Von 1740 bis in das 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 144 f. 31 Arndt (wie Anm. 6), S. 171. 32 Vgl. den Aufsatz von Dirk Alvermann in ­diesem Band. 33 Arndt (wie Anm. 6), S. 72 – 74. Gemeint ist Anna Iwanowna Gräfin Orlow geb. Prinzessin Soltikow (1777 – 1824). 34 Ebd., S. 47. 35 Ebd., S. 53. 36 Ebd., S. 54 f. u. ö. 37 Ebd., S. 75.

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und ihre rabiaten Methoden „konnten mir wahrlich keine russische Lust wecken“.38 Und dann ihre Führer: Zar Paul I., um nur einige wenige Beispiele zu nennen, erschien ihm als ein höchst seltsamer Fürst, „der einen orientalischtatarischen Karakter aus Turan mit europäischer Gesittung und Bildung im wunderlichsten Gemisch verband“,39 er sei in seinem „wunderlichen“, einem Bienenkorb ähnlichen Palast ein schlimmer Autokrat gewesen, der Untertanen völlig willkürlich nach Sibirien geschickt habe. Arndts negatives Bild ­Alexanders I. sei zwar durch Steins beharrliche Hochschätzung ­dieses Fürsten zeitweise, zumal er sich von dem „schwächlichen und treulosen System“ 40 seines Kanzlers Graf Nikolai Rumanzoff (1754 – 1826) doch wieder gelöst habe, ein wenig positiver konnotiert worden, aber seine Vorbehalte blieben, um so mehr, als sich Alexander dem Stein’schen Konzept der Neuordnung der Mitte Europas versagte und ihm eine einstudierte Eitelkeit eigne, die aufrechte Männer nicht für ihn einnehmen könne. Der „andere“ Alexander habe schon in Paris seine Metamorphose erlebt, als „der steinsche Alexander ungesund und zerrissen wurde“ und als aus „den listigen und blanken russischen und französischen Elementen seiner Natur und seiner Erziehung jetzt etwas hervor“ trat, das mit Steins Willen und Charakter überhaupt nicht mehr übereinstimmte.41 Und natürlich bekamen auch diejenigen, die sich auf Gedeih und Verderb den Russen an den Hals geworfen hätten, Arndts ganzen Unmut und seine Verachtung zu spüren: August von Kotzebue (1761 – 1819), der russische Staatsrat, um nur ein Beispiel zu nennen, figuriert bei ihm nur als „Schmeißfliege“ und „Mistkäfer“.42 Die „Botschaft“ musste jedem Leser schnell klar werden: Russland kann kein Bündnispartner Preußens oder Deutschlands sein. Angesichts dessen, was Arndt in den zurück­ liegenden Jahren und Jahrzehnten aus Russland vernommen hatte, kann das kaum erstaunen: Russland musste ihm als ein reformunfähiger Staat erscheinen, als eine Autokratie, die im Krimkrieg gerade eben einen empfindlichen außenpolitischen Rückschlag erlitten hatte, als ein Imperium, das – wegen gemeinsamer revisionistischer Tendenzen, hier im Blick auf die Wiener Friedensordnung von 1815, dort im Hinblick auf den Pariser Frieden von 1856 – in akuter Gefahr stand, sich mit Frankreich kurzzuschließen und eine Art Entente zu bilden.43 Mit den höchsten positiven Prädikaten bedacht werden dagegen die Schweden, deren Geradheit, Ehrlichkeit usw. der geborene schwedische Untertan nicht müde wird zu unterstreichen. Nicht zufällig ist Arndt in schwerer Zeit immer wieder nach Schweden ausgewichen, hat dort den zweiten Band seines Geist der Zeit publiziert und 1808 und 1809 noch einmal dort gewirkt. Während Stein auf die militärische Leistungsfähigkeit 38 39 40 41 42 43

Ebd., S. 55. Ebd., S. 21. Ebd., S. 31. Ebd., S. 235. Ebd., S. 144 f. Vgl. Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung 1830 – 1878 (Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen Bd. 6), Paderborn 22007, S. 191.

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der Schweden im Befreiungskrieg nicht viel gab,44 blieb Arndt ein Bewunderer Schwedens. Bernadotte ist wohl der einzige „Schwede“, der Arndt mehr als suspekt war. Es gibt wunderbare Beispiele von Charakterzeichnungen schwedischer Männer, so etwa wenn er über Seiten hinweg den überzeugungstreuen, gleichwohl den Freuden des Lebens zugetanen Grafen Gustav Moritz Armfelt (1757 – 1814) charakterisierte.45 Arndt gab sich auch aufs Höchste gerührt, als er mitten im Krieg abends in einem in Stralsund liegenden schwedischen Schiff die Matrosen Paul Gerhardts stimmungsvolles Lied Nun ruhen alle Wälder anstimmen hörte.46 Dieser – fast etwas nostalgischen – Suecophilie entsprach im Übrigen – die „Erbfeindschaft“ wirkte nach – eine erstaunliche Dänenphobie. Den Dänen attestierte Arndt (1858) ein gerüttelt Maß an Tücke und an Gier „nach deutschem Gut und Blut“.47 Auch das wird man im politischen Raum verstanden haben, brodelte es doch trotz des Londoner Proto­ kolls von 1852 in den Herzogtümern Schleswig mit seiner besonders starken dänischen Minderheit und Holstein unverändert. Die Eskalation, die mit dem sogenannten Märzpatent des dänischen Reichsrats 1863 einsetzte,48 war über Jahre hinweg absehbar gewesen.

3. Das ceterum censeo des Völkerpsychologen Arndt entwickelte – nicht erst, aber dann auch im Alter – eine bemerkenswerte Neigung zur oft mit anthropologischen Beobachtungen gepaarten Völkerpsychologie,49 und er neigte natürlich nicht nur zu solchen Schubladisierungen, um – sicher nicht mehr als dilettierend auf ­diesem Gebiet – seine Kenntnis eines Grundbestands an Gruppen- und Völkerpsychologie anzuwenden. Nein, Arndt wäre nicht Arndt, wenn er damit für seine Zeitgenossen nicht auch eine politische Botschaft verbände. Und diese Botschaft konnte nur lauten: Preußen gehört die Zukunft, sofern die Spitze der Monarchie den Umtrieben von Hofkamarillas Einhalt gebietet, auf die norddeutschen Stämme ist im Unterschied zu den süddeutschen, die ihre Liaison mit Napoleon noch längst nicht vergessen haben, Verlass. Und in der internationalen Politik ist Deutschland gut beraten, gegenüber Frankreich und Russland höchst wachsam zu bleiben. Insofern sind die Wanderungen und Wandelungen auch eine politische Standortbestimmung, und das erklärt es auch, dass sie so oft wiederaufgelegt worden sind: einerseits sicher des Reichsfreiherrn vom Stein wegen, der – so auch schon etliche Jahre vorher Pertz – eindringlich vor Augen geführt habe, dass man national, liberal und fortschrittlich sein könne, ohne Revolutionär zu sein, der in einer Zeit, als in Preußen Tendenzen sichtbar zu werden schienen, die Zeit des Hochkonservatismus durch 44 45 46 47 48 49

Arndt (wie Anm. 6), S.36. Ebd., S.  36 – 39. Ebd., S. 184. Ebd., S. 272. Baumgart (wie Anm. 40), S. 370. Vgl. besonders eindringlich, Arndt (wie Anm. 6), S. 42 ff.

Arndts „Bestseller“

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eine „Neue Ära“ abzulösen, in seinem national und reformerisch akzentuierten Weltbild neu zu interpretieren war. Ob die Annahme sich halten lässt, dass Arndts Wanderungen und Wandelungen wesentlich dazu beigetragen habe, „den Boden für eine positive Aufnahme des deutschen Programms des Nationalvereins zu bereiten“,50 mag auf sich gestellt bleiben. Aber das zweite Grundanliegen Arndts darf darüber nicht aus den Augen verloren werden, nämlich: die Deutschen zu sensibilisieren für Nachbarn, die Böses im Sinn haben, die auf neue Chancen warten, auf Deutschland überzugreifen.

50 So Steffens (wie Anm. 3), S. 48, auch – distanziert – zitiert bei Neugebauer (wie Anm. 5), S. II.

Die Beiträge Ernst Moritz Arndts in der Diskussion über eine zu schaffende Verfassungsordnung für Deutschland Hans-Georg Knothe

1. Einleitung Ernst Moritz Arndt hat sich während seines gesamten schriftstellerischen Wirkens immer wieder zu der seinerzeit virulenten Thematik einer neuen deutschen Verfassungsordnung engagiert und leidenschaftlich geäußert. Diese intensive Befassung mit den Grundlagen der staatlichen Verhältnisse lag bei Arndt gerade deshalb besonders nahe, weil er in seiner langen Lebenszeit (1769 – 1860) Zeuge und auch Mitbetroffener geworden ist von jenem epochalen Umbruch, der die Frühe Neuzeit beendete und das heute sogenannte lange 19. Jahrhundert einleitete. Hatte er Kindheit und frühe Jugend noch unter einer gerade in seiner rügenschen und pommerschen Heimat scheinbar unerschütterlichen feudalen Adelsherrschaft verbracht, so erlebte er als junger Mann die die alte Ordnung im Kern vernichtende Französische Revolution mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen nicht zuletzt auf die deutschen Verhältnisse, im besten Mannesalter dann die napoleonische Herrschaft und deren Beendigung in den Befreiungskriegen sowie die Zeit des Deutschen Bundes und im Alter die Revolution von 1848/1849 und deren Scheitern sowie in seinen letzten Lebensjahren noch die Anfänge der industriellen Entwicklung in Deutschland. Die von Arndt nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser vielfältigen Veränderungen stammenden Äußerungen zur Verfassungsfrage sind vor allem in einigen d­ iesem Thema ex professo gewidmeten Schriften enthalten und darüber hinaus über viele seiner zahlreichen anderen Werke verstreut, weshalb eine auch nur einigermaßen erschöpfende Erfassung schon mangels einer Gesamtausgabe von Arndts Werken entsprechend schwierig ist und den Rahmen ­dieses Beitrags sprengen würde. Das Schwergewicht meiner Ausführungen soll deshalb entsprechend dem Generalthema unserer Veranstaltung auf dem Zeitraum vor, während und nach der napoleonischen Besetzung liegen, mithin von der nachnapoleonischen Zeit nur die Stellung von Arndt zur Neuordnung der deutschen Verhältnisse durch Gründung des Deutschen Bundes eingehender behandeln. Arndts Spätzeit, besonders die Revolutionsepoche 1848/1849 mit seiner Mitgliedschaft in der Frankfurter Nationalversammlung würde einen eigene Studie erfordern und kann daher hier nur überblicksartig dargestellt werden.

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2. Grundsätzliche Bewertung der Verfassungsvorstellungen von Revolution und Restauration Eine angemessene Beurteilung der von Arndt entwickelten Gedanken zur deutschen Verfassungsfrage erfordert zuerst eine Skizzierung seiner Bewertung der zu seiner Zeit diskutierten allgemeinen Verfassungsprinzipien. Der Gehalt der geschriebenen oder ­ungeschriebenen Verfassung eines Staates oder eines ähnlichen politischen Gemeinwesens erschöpft sich bekanntlich nicht in ihrem rein juristischen Regelungsmechanismus. Jeder Verfassung als rechtlicher Basis einer staatlichen Ordnung liegen vielmehr bestimmte Prinzipien weltanschaulicher, ideologischer, philosophischer, religiöser usw. Art zugrunde, die häufig im Verfassungstext gar nicht ausgesprochen oder nur angedeutet sind, sondern aus dem Text erst durch Interpretation erschlossen werden müssen. Erinnert sei nur an die jüngst wieder aufgeflammte Diskussion, ob das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung verbindlich vorschreibt. Das epochale Ereignis der 1789 ausgebrochenen Französischen Revolution brachte nun den hauptsächlich vom Staatsdenken der Aufklärung entwickelten Verfassungstypus hervor, der hier vereinfacht als liberal bzw. demokratisch bezeichnet werden soll und auf Prinzipien beruhte, die den bisher herrschenden des Ancien Régime diametral entgegengesetzt waren. Als wichtigste dieser Grundsätze lassen sich formulieren: •  rechtliche Gleichstellung der Staatsbürger statt der bisherigen Gliederung der ­Untertanen in Stände mit unterschiedlicher Rechtsstellung ihrer Angehörigen bei privilegierter Position des Adels, •  persönliche Freiheit aller Bewohner des Staatsgebietes statt der überkommenen Freiheitsbeschränkungen besonders in Form der Schollenbindung der Bauern, •  Mitwirkung einer gewählten Volksvertretung an der Gesetzgebung, •  Gesetzesbindung des Herrschers statt monarchischem Absolutismus, •  Unabhängigkeit der Rechtsprechung von der (monarchischen) Regierung, •  Gewährung von Grundrechten des Bürgers zum Schutz von dessen Freiheit und Eigentum gegen Eingriffe der Staatsgewalt. Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft 1814/1815 wurden Politik und Geistesleben Deutschlands in der Zeit des „Vormärz“ (bis 1848) maßgeblich bestimmt von der Auseinandersetzung ­zwischen den Anhängern einer weitgehenden Restauration der vorrevolutionären Verhältnisse einerseits und den mehr oder weniger an den Ideen von 1789 orientierten liberalen Kräften andererseits. Arndt nahm nun in diesen Auseinandersetzungen über die ideellen Grundlagen der nunmehr zu schaffenden Staatsordnung eine dem Neuen prinzipiell zugewandte Position ein. Bemerkenswert ist hierbei seine durchaus differenzierte Haltung zur Französischen Revolution. Im deutlichen Gegensatz zu den entschiedenen Vertretern der Restauration, die das gesamte revolutionäre Ideengut als gleichsam der von ihnen als gottgewollt erachteten Weltordnung widersprechend bekämpften, kann bei Arndt von einer pauschalen

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Ablehnung der revolutionären Anschauungen und Ziele keine Rede sein. Vor allem in seinen unmittelbar nach den Befreiungskriegen erschienenen Schriften bezeichnete Arndt die überkommene politische Ordnung vor 1789 eindeutig als überlebt und änderungsbedürftig und er hielt deshalb zu deren Überwindung die Französische Revolution im Grundsatz für notwendig. Dies belegen Äußerungen Arndts wie die in seiner Verfassungsschrift von 1814: „[I]ch würde sehr undankbar und zugleich ein Heuchler seyn, wenn ich nicht offen gestände, daß wir dieser wilden und tollen Revolution unendlich viel verdanken, […] daß sie Ideen in die Köpfe und Herzen gebracht hat, die zur Begründung der Zukunft die notwendigsten sind“.1 Oder etwas ­später in der Schrift Zum neuen Jahr 1816:2 „Wir scheuen uns nicht, […] zu sagen, daß die meisten der Grundsätze, w ­ elche die erste Volksversammlung Frankreichs […] 1789 aufstellte, die Anerkennung der ewigen Zeit und Geschichte haben.“ 3 Im Rahmen dieser politisch notwendigen Entwicklung habe sich die erste französische Nationalversammlung im Sommer 1789 gehalten mit der Aufstellung der Grundsätze, von denen die meisten „dem jetzigen Weltzustand und der jetzigen Bildung der Völker angemessen“ gewesen ­seien. Die von ihm scharf abgelehnte seit 1792 fortschreitende Radikalisierung der Revolution mit dem Jakobinerterror von 1793/1794 als Höhepunkt führte Arndt zurück auf die Hybris der Revolutionäre, die „unendliche ­Theorie“ in der „beschränkten Praxis“ rein verwirklichen zu können, was aber deshalb unmöglich gewesen sei, weil die Schaffung einer idealen Ordnung ideale Menschen erfordere, die mangels realer Existenz dann durch blutigen Terror geschaffen werden sollten. In der unvollkommenen Wirklichkeit ­seien daher nur allmählich herbeizuführende graduelle Verbesserungen der Verhältnisse möglich.4 Entschieden wendet sich Arndt gegen die zur Begründung einer restaurativen Politik vorgebrachte These, die Legitimität der vorrevolutionären Ordnung ergäbe sich aus der langen geschichtlichen Wirklichkeit dieser in ihren Anfängen bis ins Frühmittelalter zurückreichenden Herrschaftsform, eine These, die sich mit allerdings zweifelhafter Berechtigung auch auf das Gedankengut der Historischen Rechtsschule berief, die im frühen 19. Jahrhundert mit ihrem führenden Vertreter Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861) das bisher herrschende Vernunftrecht der Aufklärung in der Rechtstheorie weitgehend verdrängte.

1 Ernst Moritz Arndt, Ueber künftige ständische Verfassungen in Teutschland, o. O. 1814, S.  22 f. 2 Ernst Moritz Arndt, Zum Neuen Jahre 1816, Köln 1816, S. 22. 3 Bereits 1806 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, Erster Teil, hier zitiert nach der Wiedergabe in: Ernst Moritz Arndt’s ausgewählte Werke, hg. v. Heinrich Meisner und Robert Geerds, 16 Bde. Leipzig 1908, hier Bd. 9: Geist der Zeit I, hg. v. Heinrich Meisner, S. 173: „Ich lasse es mir daher nicht nehmen, daß die ersten Jahre der Revolution wirklich ein höherer und enthusiastischer Geist im Volke war, daß viele entschlossen waren und hofften, es werde und solle eine bessere und glücklichere Verfassung aus dem Chaos der Verwirrung und dem Kampf so mancher Ideen hervorgehen. […] wenn so viel Verstand und Güte unter den Ratenden und Herrschenden gewesen wäre als Begeisterung und Schwärmerei, es hätte damals etwas Würdiges können gemacht werden.“ 4 In ­diesem Sinne Arndt (wie Anm. 1), S. 23.

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Für die Historische Rechtsschule war das Recht, anders als für das Naturrecht der Aufklärung, nicht eine Emanation der Natur des Menschen als Vernunftwesen mit der Folge einer Gleichheit der grundlegenden Rechtsprinzipien für alle Völker und Staaten, vielmehr wurde die Rechtsordnung eines Volkes ebenso wie die sonstigen Kulturerscheinungen (Literatur, Kunst, Musik, Wissenschaft usw.) angesehen als Ergebnis eines weit in die Vergangenheit zurückreichenden historischen Prozesses, der bestimmt wurde durch den jedes einzelne Volk individualisierenden sogenannten Volksgeist. Von der Volksgeistlehre als solcher war zwar auch Arndt nicht unwesentlich beeinflusst, jedoch bekämpfte er mit aller Schärfe das von Vertretern der politischen Reaktion hieraus gezogene Postulat einer Wiederherstellung der vorrevolutionären Ordnung lediglich deshalb, weil sie in der Vergangenheit bestanden habe. Denn die bloß faktische Existenz allein könne einer Einrichtung niemals das Prädikat ihrer Rechtmäßigkeit verleihen, andernfalls auch die schlimmsten und grausamsten Einrichtungen der Vergangenheit, z. B. die Sklaverei, als vom Recht geboten geadelt werden müssten. Deshalb meinte Arndt rückblickend 1854: „[I]hnen [den Vorkämpfern der Reaktion] wirft man den Namen der historischen Schule zu, weil sie unter dem Titel, daß sie auf historischem Boden stehen und auf ­diesem Boden für das gute historische Recht auf Leben und Tod fechten wollen. […] in dem Wörtlein historisch liegt doch nimmer die Bedeutung rechtlich, am allerwenigsten aber die Bedeutung menschlich und christlich: jedes böse Unrecht, jede unmenschliche Scheußlichkeit ist ja einmal irgendwo historisch gewesen und ist es an vielen Stellen unserer armen Erde noch heute, zum Beispiel Sklaverei, Entmannung, Vielweiberei usw.; daß der kautionspflichtige Bürgers- und Bauers-Sohn von dem hinterpommerschen Junker vor einem halben Jahrhundert noch vorzugsweise geprügelt werden durfte, war ja historisch genug – aber wer wird es wagen dergleichen veraltete S­ auberkeiten und Herrlichkeiten des verknechteten siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts jetzt noch verteidigen zu wollen? […] Gottlob es leben noch genug, ­welche die Zustände jenes christlichen patriarchalischen Junkerregiments noch gekannt haben. […] Wir stehen nun einmal so: wir können und wollen in jene alte gepriesene preußische Junkerherrlichkeit, in die wegen ihrer zahmen Sittlichkeit gepriesene Leibeigenschaft und Kantonspflichtigkeit und unter die junkerliche Polizeiherrschaft nimmer zurück“.5 Zu den abzuschaffenden feudalen Institutionen rechnet Arndt vornehmlich die von ihm in einem 1803 erschienenen Frühwerk eingehend beschriebene bäuerliche Leibeigenschaft.6 In der Herrschaft des Herrn über den Leibeigenen erblickt Arndt gerade kein ­altgeheiligtes, auch vom Regenten nicht anzutastendes Recht, sondern ein unbedingt abzuschaffendes höchstes Unrecht,7 zu dessen Illustration er sich noch im hohen Alter, 1854, also geraume Zeit nach Abschaffung dieser Form der Unfreiheit, an ein Jugenderlebnis 5 So Ernst Moritz Arndt, Pro populo Germanico, Berlin 1854, S. 152 – 154. 6 Ernst Moritz Arndt, Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen. Nebst einer Einleitung in die alte teutsche Leibeigenschaft, Berlin 1803; jetzt auch als Faksimilereprint: hg. u. eingel. v. Roswitha Wisniewski, Hildesheim/Zürich/New York 2007. 7 Ebd., S. 239 f.

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Ende des 18. Jahrhunderts in einem pommerschen Dorf erinnert, wo ihm eine frappante Ähnlichkeit vieler Dorfkinder mit dem dortigen Gutsherrn aufgefallen war.8 Folgerichtig lehnt Arndt denn auch die von Schriftstellern der Romantik vertretene harmonisierende Sicht der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung, die allein von Liebe und Gnade statt von Vertrag und Recht bestimmt gewesen sei, ab, denn dieser „poetische Mystizismus“ ist einmal historisch unzutreffend, da das Mittelalter erfüllt war von schweren Kämpfen ­zwischen den damaligen politischen Gewalten, deren Beziehungen sehr wohl durch zahllose Gesetze und Verträge geregelt gewesen waren, vor allem aber ignoriere dieser Mystizismus die elende Lage der überwiegend aus Leibeigenen und Hörigen bestehenden Masse des Volkes im Mittelalter oder verharmlose sie als patriarchalisch o. Ä.9 Mit aller Schärfe bekämpft Arndt daher die Lehre des Restaurationstheoretikers Karl Ludwig von Haller (1768 – 1854), der die Legitimität der Herrschaftsverhältnisse überhaupt nicht auf Gesetz und Recht beruhend erachtet, sondern auf die angeblich gottgewollte Macht des Herrn als des von Natur aus Stärkeren, dessen Stellung durch keinerlei rechtliche Schranken gebunden ist, weshalb den Untertanen nur der Appell an die Gnade des Herrn möglich ist. In dieser Kritik stimmt Arndt überein mit Hegel, der von einem „Hass des Gesetzes“ (= auf das Gesetz) bei Haller spricht.10 Statt der vergeblichen Versuche einer Restauration der überlebten feudalabsolutistischen Verhältnisse forderte Arndt daher gerade die Durchsetzung der Herrschaft des für alle Bürger gleichen Gesetzes.

3. Kampf für die deutsche Einheit 3.1 Geschichtlicher Rückblick: Struktur des Alten Reiches und des Deutschen Bundes sowie Reaktionsperiode von 1815 bis 1848 Der lebenslange leidenschaftliche Einsatz von Ernst Moritz Arndt für die Herstellung einer staatlichen Einheit Deutschlands ist nur zu verstehen unter Berücksichtigung des Schicksals des römisch-deutschen Reiches seit dem späten Mittelalter bis zu dessen Untergang, der folgenden Jahrzehnte der napoleonischen Zeit und deren Ende sowie der Schaffung und der Geschichte des Deutschen Bundes. Diese Entwicklung soll daher sub specie ihres positiven oder weit häufigeren negativen Einflusses auf eine deutsche Einheit zunächst skizziert werden.

8 Arndt (wie Anm. 5), S. 154 f. 9 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, 4. Theil, Berlin 1818, hier zitiert nach: E. M. Arndt’s Sämtliche Werke, hg. v. Hugo Rösch, hier Bd. 11, bearb. von Erwin Schirmer, Magdeburg o. J. [1902], S. 60 – 66, ferner S. 314 – 317; so auch schon ders. Geist der Zeit I (wie Anm. 3), S.  60 f. 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, § 258, Anm.; hier zitiert nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1978, S. 402 f.

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Das Heilige Römische Reich (seit dem 15. Jahrhundert mit dem Zusatz „Deutscher Nation“) durchlief seit dem Spätmittelalter eine Entwicklung, die der sich in vergleich­baren anderen europäischen Ländern vollziehenden geradezu entgegengesetzt war. Paradigmatisch als Gegenstück zum Reich ist Frankreich zu nennen, wo dem Königtum in einem jahrhunderte­langen Prozess die Monopolisierung der obersten Gewalt bei der Krone unter Beseitigung der diesbezüglichen Machtstellung der feudalen Großen und damit die Erlangung einer Position gelang, für die der französische Staatsdenker Jean Bodin (1530 – 1596) den Begriff der Souveränität im Sinne einer Unabhängigkeit des Herrschers von jeder anderen (irdischen) Gewalt geprägt hat. Im römisch-deutschen Reich waren es demgegenüber die Landesfürsten, die ihre Machtstellung seit dem Untergang der Staufer Mitte des 13. Jahrhunderts immer stärker ausbauen konnten mit der Folge einer fortschreitenden Schwächung der kaiserlichen Gewalt. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die deutsche Königswürde mit der Anwartschaft auf das römische Kaisertum rechtlich niemals erblich wurde, das Reich vielmehr eine Wahlmonarchie blieb, wobei sich die Wahlbefugnis – endgültig festgelegt in dem Reichsgesetz der Goldenen Bulle von 1356 – auf die Kurfürsten beschränkte. Auf Kosten von K ­ aiser und Reich wesentlich gestärkt wurde das Landesfürstentum dann im 16./17. Jahrhundert als Ergebnis der durch Reformation und Gegenreformation ausgelösten Kriege. Die zur Beilegung dieser Kämpfe geschlossenen Verträge des Augsburger Religionsfriedens von 1555 und des den Dreißigjährigen Krieg beendenden Westfälischen Friedens von 1648 gewährten den Reichsständen und damit vor allem den Reichsfürsten die grundsätzliche Befugnis zur Bestimmung der Konfession ihrer Untertanen, womit Deutschland auch religiös gespalten war. Der Westfälische Friede bedeutete überhaupt den entscheidenden Sieg der deutschen Territorialfürsten über die kaiserliche Gewalt. Die einzelnen Reichsstände wurden vom Reich nahezu unabhängig; nur die Forderung der Signatarmacht Frankreich, den Reichsfürsten die volle Souveränität zu gewähren, konnte sich nicht durchsetzen. Umgekehrt wurde die Stellung des Kaisers gegenüber den Reichsständen durch die erweiterten Zustimmungsbefugnisse des aus den Ständen zusammengesetzten Reichstages vor allem zu den Reichsgesetzen stark eingeschränkt. Der berühmte Rechtslehrer Samuel Pufendorf hielt daher in seiner 1667 erschienenen Schrift De statu imperii Germanici das deutsche Reich nicht mehr für eine Monarchie, aber auch nicht für eine Aristokratie und kam zu dem resignierenden Befund: „Germaniam esse irregulare aliquod corpus et monstro quasi simile“.11 Die tatsächlich noch durchaus beachtliche Stellung, die die K ­ aiser auch nach 1648 zunächst noch behaupten konnten, beruhte nicht zuletzt darauf, dass die Kurfürsten 11 „Deutschland ist ein ungeregelter Körper und gleicht gewissermaßen einem Ungeheuer.“ Samuel von Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, hg. u. übers. v. Horst D ­ enzer (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 4). Leipzig 1994, c. VI, § 9, S. 198 f. Wegen der Verneinung der monarchischen Vollgewalt des Kaisers war die Abhandlung politisch nicht ungefährlich, weshalb sie Pufendorf unter Pseudonym erscheinen ließ und sich für sie zunächst kein Drucker fand.

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schon seit 1438 (mit nur einer Ausnahme von 1742 bis 1745) ausschließlich Kandidaten des Hauses Habsburg zu Kaisern zu wählen pflegten, die Habsburger aber seit dem Spätmittelalter von allen deutschen Dynastien den weitaus umfangreichsten Territorialbesitz angehäuft hatten, der neben dem Erzherzogtum Österreich als Kernland u. a. noch die Königreiche Böhmen und das gar nicht zum Reich gehörende Ungarn umfasste, wodurch das Habsburgerreich über den Status eines Reichsfürstentums weit hinausgewachsen und zu einer europäischen Großmacht geworden war. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts errang aber Brandenburg-Preußen unter Friedrich dem Großen in den drei Schlesischen Kriegen gegen Österreich eine ­diesem gegenüber gleichwertige Stellung als europäische Großmacht. Dieser preußisch-österreichische Dualismus bedeutete tatsächlich eine weitere erhebliche Machtminderung von ­Kaiser und Reich. Der endgültige Untergang des Reiches war schließlich eine Folge der Französischen Revolution. Im Frieden von Lunéville musste das Reich 1801 das gesamte linke Rheinufer an Frankreich abtreten. Unter dem Eindruck der einschneidenden Folgen der Nieder­ lage des Reiches kam der junge Hegel in seiner Schrift über die Verfassung Deutschlands ähnlich wie einst Pufendorf zu dem resignierenden Befund: „Deutschland ist kein Staat mehr“.12 Die territoriale Gliederung des beim Reich verbliebenen rechtsrheinischen Deutschland gestaltete der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 mit einem Schlag völlig um. Die dort verfügte Aufhebung der Reichsunmittelbarkeit fast aller ­geistlichen Fürstentümer, der meisten Reichsstädte sowie zahlloser kleiner und kleinster Territorien und die Zuweisung ihrer Gebiete an die beiden großen Mächte Preußen und Österreich und an die mittleren Staaten (Bayern, Württemberg, Baden usw.) und die dadurch bewirkte radikale Verminderung der Zahl der Reichsstände stärkte nicht etwa das Reich, sondern schwächte es nicht unerheblich weiter, denn gerade die jetzt mediatisierten kleinen Reichsstände waren bisher noch die besten Stützen der von ihnen als Schutz gegen die Begehrlichkeiten der größeren Fürsten erachteten kaiserlichen Macht gewesen, demgegenüber die gestärkten Mittelstaaten jetzt erst recht die völlige Lösung vom Reich erstrebten. Die Endphase des Alten Reiches wurde vollständig bestimmt durch die gleichzeitige Entwicklung der französischen Verhältnisse. 1804 krönte sich der General Napoleon ­Bonaparte, der schon seit 1799 als „Erster Konsul“ die diktatorische Gewalt in der Republik ausgeübt hatte, als Napoleon I. zum erblichen ­Kaiser der Franzosen. Diese kaiserliche Würde sah Napoleon als Erneuerung des Kaisertums Karls des Großen an, weshalb die römisch-deutsche Kaiserwürde daneben keinen Bestand mehr haben konnte. Der damalige römisch-deutsche ­Kaiser, der Habsburger Franz II . (reg. seit 1792), wollte aber den Kaisertitel als solchen behalten vor allem als eine die sehr heterogenen Länder des Habsburgerreiches zusammenhaltende Klammer. In der Erwartung des baldigen Endes der deutschen Kaiser­würde nahm Franz II . daher 1804 als Franz I. auch den neu geschaffenen Titel eines 12 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Die Verfassung Deutschlands, 1800 – 02, in: Hegel (wie Anm. 10), Bd. 1, Frankfurt/M. 1971, S. 449 – 452 u. S. 461.

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Kaisers von Österreich an. Die Würde des österreichischen Kaisers war – anders als die des deutschen – erblich im Hause Habsburg-Lothringen, und das Kaisertum Österreich umfasste alle Länder unter Habsburgs Szepter, auch die nicht zum römisch-deutschen Reich gehörigen. Nach dem Sieg Frankreichs über Österreich auch im Dritten Koalitionskrieg (1805) traten 1806 16 deutsche Reichsstände aus dem Reich aus und schlossen sich als souveräne Staaten zu dem ganz von Frankreich abhängigen Rheinbund mit Napoleon als „Protektor“ zusammen. Das Reich war damit zu einem Torso geworden. Auf Druck Napoleons legte schließlich Franz II . am 6. August 1806 die deutsche Kaiserkrone nieder und führte fortan nur den Titel „Kaiser von Österreich“ (als Franz I.). Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war damit jedenfalls faktisch erloschen. Dies bedeutete den Wegfall auch der übrigen Reichsorgane: Reichstag, Reichshofrat, Reichskammergericht. In dem folgenden Preußisch-Französischen Krieg von 1806/1807 erlitt auch die zweite deutsche Großmacht Preußen eine vernichtende Niederlage. Der Hohenzollernstaat verlor 1807 im Frieden von Tilsit fast die Hälfte seines Territoriums. Damit war, was Arndt und andere deutsche Patrioten sehr schmerzte, ganz Deutschland mittelbar oder unmittelbar unter die Hegemonie des napoleonischen Frankreich geraten. So traten nach dem preußischen Zusammenbruch weitere deutsche Staaten, darunter Sachsen, das ebenso wie Bayern vom Kurfürstentum zum Königreich erhoben worden war, dem Rheinbund bei, dem nur Preußen und Österreich sowie einige kleinere Länder fernbleiben konnten. Die Einführung der in der Revolution und im Kaiserreich geschaffenen französischen Rechtsordnung zeitigte in den Frankreich angegliederten Gebieten einen erheblichen Modernisierungseffekt, so durch Beseitigung der ständischen Gliederung der Bevölkerung zugunsten der Rechtsgleichheit aller Bürger. Auch zahlreiche Rheinbundstaaten orientierten sich mehr oder weniger an dem französischen Vorbild, Bayern besonders an dem straff zentralisierten Verwaltungsaufbau. Auch in Preußen setzte seit 1807 eine nach ihren Initiatoren, dem Freiherrn ­Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757 – 1831) und dessen Nachfolger als Leiter der preußischen Politik Karl August Fürst von Hardenberg (1750 – 1822), benannte Reform­periode ein. Die soeben erlittene totale Niederlage des Landes im Krieg gegen Frankreich hatte gezeigt, dass das auf der strengen ständischen Struktur mit Vorherrschaft des Adels und der jede Initiative erstickenden Bürokratie des monarchischen Absolutismus beruhende altpreußische System den gewandelten Verhältnissen nicht mehr entsprach. Ziel der Reformen war dementsprechend eine Förderung des Interesses der Bevölkerung an den öffentlichen Angelegenheiten anstelle der bisherigen bloßen Untertanenmentalität. Die wichtigsten Reformschritte waren die Einführung einer städtischen Selbstverwaltung, die Aufhebung der „Erbuntertänigkeit“ der Bauern, Freiheit des Grundeigentumserwerbs, der Berufswahl und des Gewerbes, Judenemanzipation, Heeresreform. Die Reformpolitik stieß auf den heftigen Widerstand konservativer Adelskreise, die schon 1808 an dem von Napoleon verlangten Sturz von Stein mitwirkten. Von den Reformen unangetastet blieb die absolute Monarchie.

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Der Sieg einer Koalition der europäischen Mächte über Frankreich in den Befreiungskriegen 1813 – 1815 bedeutete das Ende der Herrschaft Napoleons I. und des (ersten) franzö­ sischen Kaiserreichs. Frankreich, das wieder Königreich unter der restaurierten Dynastie der in der Revolution gestürzten Bourbonen wurde, musste in den beiden Pariser Friedensverträgen von 1814 und 1815 fast alle seit 1790 gemachten Eroberungen wieder herausgeben, vornehmlich das linke Rheinufer und die übrigen von Napoleon annektierten deutschen Gebiete sowie die Niederlande. Der 1814/1815 zur politischen Neuordnung Europas tagende Wiener Kongress verfolgte das Ziel der Schaffung eines von den Großmächten Großbritannien, Russland, Frankreich, Österreich und Preußen getragenen Gleichgewichts ­zwischen den europäischen Staaten anstelle der soeben beendeten Hegemonie einer einzigen Macht. Ein einheitlicher deutscher Staat erschien den tonangebenden Kräften auf dem Kongress als eine Beeinträchtigung ­dieses europäischen Gleichgewichts. Zudem waren die deutschen Länder überwiegend nicht bereit, von ihrer seit 1806 bestehenden Souveränität Abstriche zu machen, und nach dem Ende des napoleonischen Imperiums drohte die Rivalität ­zwischen Österreich und Preußen um die Führung in Deutschland wiederaufzuleben. Eine von den deutschen Patrioten erhoffte Einigung Deutschlands etwa in Form eines Bundesstaates konnte deshalb nicht erreicht werden. Es gelang nur die Schaffung einer lockeren Konföderation der deutschen Staaten im sogenannten Deutschen Bund, der an die Stelle des 1806 faktisch und nunmehr auch rechtlich untergegangenen Alten Reiches trat, mit dessen einstigen Grenzen die Bundesgrenzen im Wesentlichen zusammenfielen. Von den (anfangs) 41 Gliedstaaten des Deutschen Bundes waren 37 monarchische Flächenstaaten, die übrigen 4 die verbliebenen Freien Städte Deutschlands: Frankfurt am Main, Hamburg, Bremen, Lübeck. Die Monarchien waren von höchst unterschiedlicher Größe: Neben den beiden europäischen Großmächten, dem Kaisertum Österreich und dem Königreich Preußen, die die meisten der in der napoleonischen Zeit verlorenen Territorien zurückerhielten, Preußen zudem den Großteil des von Frankreich wieder abgetretenen Rheinlandes sowie Westfalen, gehörten zum Bund mehrere mittlere Staaten, darunter die nunmehrigen vier Königreiche Bayern, Hannover, Sachsen, das allerdings einen Großteil seines bisherigen Gebietes an Preußen abtreten musste, und Württemberg sowie zahlreiche Kleinstaaten (sieben Großherzogtümer, ein Kurfürstentum, zwölf Herzogtümer, zehn Fürstentümer, eine Landgrafschaft). Die Rechtsnatur des Deutschen Bundes ist schwer zu bestimmen. Nach den Artikeln 1 und 2 der zur Ergänzung der Bundesakte von 1815 ergangenen Wiener Schlussakte von 1820 war der Bund ein „völkerrechtlicher Verein der souveränen Fürsten und freien Städte“, der „in seinem Innern als eine Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten, […] in seinen äußeren Verhältnissen aber als eine in politischer Einheit bestehende Gesamt-Macht“ bestand.13 Die Souveränität der Gliedstaaten, einschließlich 13 Die Deutsche Bundesakte v. 8. Juni 1815 ist abgedruckt in: Günter Dürig und Walter Rudolf (Hg.), Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, München 21979, S. 11 ff., die Wiener Schlußakte v. 15. Mai 1820, ebd. S. 65 ff.

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ihrer ­Bündnisfähigkeit mit ausländischen Mächten, sofern sie nicht gegen die Sicherheit des Bundes oder einzelner Bundesstaaten gerichtet waren, wurde stark betont. Der Deutsche Bund kann daher nicht als eigentlicher Bundesstaat, sondern nur als Staatenbund mit gewissen bundesstaatlichen Zügen bezeichnet werden. Ein persönliches Bundes­ oberhaupt (Kaiser) existierte ebenso wenig wie eine Volksvertretung, eine eigentliche Bundesregierung oder Bundesgerichte. Oberstes Organ des Bundes war die in Frankfurt am Main tagende Bundesversammlung, auch Bundestag genannt, die aus Gesandten der Bundesstaaten bestand. Artikel 13 der Bundesakte schrieb die Einrichtung einer „landständischen Verfassung“ in allen Bundesstaaten vor, deren näherer Charakter als Ständevertretung oder als moderne Volksvertretung offenblieb. Nach Artikel 57 der Schlussakte durfte hierdurch aber die die gesamte Staatsgewalt umfassende Souveränität der Fürsten nicht beeinträchtigt werden. Der Deutsche Bund wurde damit weder nach dem Wortlaut seiner Verfassung noch in der Verfassungswirklichkeit der Forderung weiter deutscher Gesellschaftskreise nach deutscher Einheit und Freiheit gerecht, wie nicht zuletzt Arndt betonen sollte. Die politische Wirklichkeit des Deutschen Bundes in der Zeit von 1815 bis zur Revolution von 1848 war geprägt von dem Kampf der auf Beibehaltung der überkommenen absolutistisch-ständischen Ordnung gerichteten Bestrebungen der monarchischen Regierungen gegen die wesentlich vom Bürgertum getragene liberale Bewegung, deren Ziel in der Schaffung einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung unter Beteiligung des Volkes sowie einer wirklichen Einheit Deutschlands bestand. Die restaurative und reaktionäre Politik der Bekämpfung aller freiheitlichen Bestrebungen wurde maßgeblich formuliert und geleitet von dem führenden Staatsmann der ­Epoche bis 1848, dem österreichischen Staatskanzler Klemens Wenzel Lothar Fürst von ­Metternich (1773 – 1859), der geradezu als Symbolfigur des gegen Freiheit und Einheit gerichteten Systems galt. Den Deutschen Bund nutzte Metternich als Werkzeug für die Unterdrückung jeder freiheitlichen Bewegung in den Mitgliedstaaten. Dies geschah etwa in den zu Bundesgesetzen erhobenen Karlsbader Beschlüssen von 1819, die die Bundesstaaten vornehmlich zur Einführung einer rigiden Pressezensur verpflichteten. Weitere Maßnahmen staatlicher Verfolgung von als „Demagogen“ bezeichneten Oppositionellen waren besonders ein umfassendes System polizeilicher Kontrolle und Bespitzelung, strenge staatliche Überwachung der Universitäten, Unterdrückung der studentischen Burschenschaften und sonstiger als oppositionell geltender Vereinigungen, Entfernung von Beamten aus dem Dienst, die auch Arndt betraf, der 1820 seiner Professur an der Universität Bonn enthoben und erst 1840 rehabilitiert wurde. Der in der Deutschen Bundesakte an die Bundesstaaten erteilte Auftrag zum Erlass von Verfassungen wurde bis 1848 nur in einigen mittleren (nämlich Bayern, Baden, Württemberg und Sachsen) und kleineren Staaten erfüllt, nicht hingegen von Preußen und Österreich, die absolute Monarchien blieben.

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3.2 Arndts Kritik an der tatsächlichen deutschen Stellung in der europäischen Staatenwelt und seine Vorstellungen zur Überwindung dieser Verhältnisse In dem in Kapitel 1 skizzierten fortschreitenden Machtverlust des römisch-deutschen Reiches zugunsten der mit dem schließlichen Untergang des Reiches völlig souverän gewordenen Territorialfürstentümer erblickte Arndt während seines gesamten Wirkens das Grundübel der deutschen politischen Entwicklung überhaupt. Die Schwäche von ­Kaiser und Reich habe den einzelnen auswärtigen Großmächten des entstehenden europäischen „Konzerts“ mannigfache Möglichkeiten eröffnet, in ihren jeweiligen Interessen auf die Politik der mit dem Bündnisrecht zu auswärtigen Staaten ausgestatteten deutschen Territorialfürsten Einfluss zu nehmen, wobei die im Westfälischen Frieden vorgesehene Einschränkung, die Bündnisse dürften sich nicht gegen K ­ aiser und Reich sowie gegen den Landfrieden richten, praktisch kaum von Bedeutung gewesen sei. Insbesondere habe die von Arndt als „Vielstaaterei“, „Vielherrschaft“, „Vielfürsterei“ oder ähnlich bezeichnete territoriale Zersplitterung Deutschland seit über drei Jahrhunderten zum Schauplatz der Kriege ausländischer Mächte werden lassen, deren Heere von streitenden deutschen Fürsten ins Land gerufen worden waren mit der Folge vertiefter Feindschaft z­ wischen den deutschen Ländern.14 Dieser Analyse von Arndt ist im Grundsatz sicher zuzustimmen. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, dass der Friedensschluss von Münster und Osnabrück zu einer langen Epoche des Friedens in Deutschland und Europa geführt hätte. An die Stelle der Religionskriege waren nunmehr die rein machtpolitisch motivierten Kriege ­zwischen den meist absolutistisch regierten Staaten getreten, etwa die zahlreichen Erbfolgekriege. In den Jahrzehnten vom Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 bis zum Ende des Nordischen Krieges 1721 gab es in Europa fast ununterbrochen kriegerische Auseinandersetzungen z­ wischen den verschiedenen europäischen Mächten, die sich nicht zuletzt auch auf deutschem Gebiet abspielten. Wegen des den deutschen Staaten zustehenden eigenen Rechts zur Kriegführung mit auswärtigen Mächten konnte es hierbei geschehen, dass fremde Heere auf deutschem Gebiet operierten, obwohl das Reich als solches gar nicht Kriegspartei war, wie etwa im Nordischen Krieg von 1700 bis 1721.15 Das bekannte Diktum von Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778), 14 Die vorstehende Diagnose der Gründe für den sich abzeichnenden Untergang des Alten R ­ eiches findet sich vor allem in dem Werk von Ernst Moritz Arndt, Germanien und Europa, Altona 1803, S. 414 – 417 u. S. 421 – 424. 15 Hierzu eingehende Schilderung bei Johann Stephan Pütter, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Zweyter Theil von 1558 – 1740, Göttingen 2 1788, S. 364 f.: „Die kurze Ruhe, die Europa nach dem Ryßwickischen Frieden [1697] […] zu genießen hatte, war kaum zu rechnen, als im Jahre 1700 schon wieder ein […] Nordischer Krieg ausbrach, und bald darauf auch der Spanische Successionsfall eintrat […]. An ­diesem letztern Kriege sah sich auch das Teutsche Reich im Ganzen Teil zu nehmen genöthigt. Das geschah zwar beim Nordischen Kriege nicht; aber auch dieser erstreckte sich doch mehr als einmal auf Teutschen Boden, zumal da die kriegführenden Könige von Dänemark, Schweden und Polen zugleich Teutsche Reichsstände waren […]. Eben das gab Anlaß, daß der Nordische Krieg ein traurigbelehrendes Beyspiel einer neuen Unvollkommenheit in der Teutschen

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das Reich sei seiner Struktur nach nicht in der Lage, die Nachbarländer zu gefährden, es sei aber umgekehrt imstande, Angriffe der Nachbarländer abzuwehren,16 ist nur in seinem ersten Teil zutreffend, im zweiten Teil widerspricht es hingegen völlig dem historischen Befund. Schon während der Befreiungskriege beteiligte sich Arndt an der Diskussion über die nach dem Ende der französischen Vorherrschaft zu errichtende Ordnung der europäischen und deutschen Verhältnisse. Er bezog hierbei dezidiert Stellung zugunsten einer deutschen Einigung. Eine Restauration des Alten Reiches lehnte er ab, da dies auch die Wiederherstellung der nicht zuletzt von ihm selbst beklagten Ohnmacht der Reichsgewalt bedeuten würde.17 Aus dem gleichen Grund sprach sich Arndt auch gegen die von manchen Stimmen befürwortete Schaffung eines bloßen Bundes der deutschen Staaten im Sinne einer „Eidgenossenschaft“ aus, da eine s­ olche „zersplitterte Vielherrschaft“ ohne monarchische Spitze ebenfalls zu permanenter Schwäche Deutschlands gegenüber den anderen europäischen Mächten führen würde.18 Im Deutschen Bund konnte Arndt deshalb, wie die meisten deutschen Patrioten, nicht die Erfüllung des Wunsches nach einem geeinten deutschen Staatswesen erblicken. Von Anfang an äußerte er erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Bundes zur Wahrung und Verteidigung der gesamtdeutschen Interessen. Als Hauptgrund für diese Schwäche galt ihm nicht zu Unrecht die beibehaltene Souveränität der Einzelstaaten, die an deren Willen zweifeln lasse, „zu einem Zuge und zu einer Richtung für die Geschäfte und Sorgen des Vaterlandes vereinigt und zusammengehalten“ zu werden.19 Nach der von ihm scharf abgelehnten französischen Juli-Revolution von 1830 gelangte Arndt zu einer etwas günstigeren Beurteilung des Deutschen Bundes, sozusagen als des geringeren Übels gegenüber

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Reichsverfassung blicken ließ. Vermöge des Westphälischen Friedens hatte jeder Reichsstand das Recht der Bündnisse, Krieges und Friedens; aber vermöge des Landfriedens, der schon älter als der Westphälische Friede, und in ­diesem schon von neuem befestiget war, sollte kein Reichsstand des anderen Land mit Krieg überziehen. Allein wenn nun Dänemark Chursachsen, Schweden hingegen […] Braunschweig-Zelle zu Bundesgenossen hatte? und wie wenn nun die Kriegsläufte ­zwischen Dänemark und Schweden so fügten, daß Chursächsische Kriegsvölker als Dänische Bundesgenossen gegen Braunschweig-Zellische als Schwedische Hilfsvöler zu fechten kamen […]? Da waren freylich Chursachsen und Braunschweig-Zelle nicht die eigentlich kriegführenden Theile; aber sie übten doch alle Gattungen von Feindseligkeiten gegen einander, ohne daß von einer Klage auf Landfriedensbruch die Frage war. So schien beinahe der Landfriede eine allgemeine Ausnahme zu bekommen, wenn zwey auswärtige Mächte mit einander Krieg führten, und jede diesen oder jenen Teutschen Reichsstand zum Bundesgenossen hatte; wo nicht […] auch umgekehrt, wenn einzelne Reichsstände unter sich in Mißhelligkeiten geriethen, und auswärtige Mächte als Bundesgenossen ­dieses oder jenes Theils zu den Waffen griffen, wie z. B. in den Oesterreichischen Successionsansprüchen von 1740 an das Haus Baiern auf ­solche Art von der Krone Frankreich unterstützt wurde.“ Vgl. hierzu Kurt von Raumer, Saint Pierre und Rousseau. Das Problem des ewigen Friedens, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 108 (1952), S. 669 – 689. Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, 3. Theil, o. O. 1813, S. 230 – 235. Ebd., S.  235 – 248. Arndt (wie Anm. 1), S.71; rückblickend auch ders., Meine Wanderungen und Wandlungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich von Stein, Berlin 1858, S. 269.

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dem von radikalen Revolutionären favorisierten Konzept einer europäischen Eidgenossenschaft von Republiken, da anstelle des Bundes errichtete Republiken Deutschland ganz sicher unter die Herrschaft seiner westlichen und östlichen Nachbarn bringen würden.20 Entschieden wandte sich Arndt gegen die besonders nach dem Ende des napoleonischen Imperiums in Europa verbreitete Vorstellung, die politische Zersplitterung Deutschlands (und Italiens) sei eine unverzichtbare Voraussetzung für die Wahrung des europäischen Gleichgewichts. Umgekehrt erfordere ein wirkliches europäisches Gleichgewicht die staatliche Einigung Deutschlands und Italiens, denn beide Länder würden bei Fortdauer ihrer Vielstaatlichkeit unweigerlich unter die Herrschaft der auswärtigen Großmächte Russland, Frankreich, England geraten, während umgekehrt ein geeintes Deutschland für diese Mächte keine Gefahr bedeuten könnte.21 Es mutet in der Tat auch im heutigen Rückblick merkwürdig an, dass auf dem Wiener Kongress hauptsächlich die Sicherung des europäischen Gleichgewichts gegenüber Deutschland thematisiert worden ist, obwohl ­dieses Gleichgewicht in den zwei Jahrzehnten vor 1815 sicher nicht von Deutschland, sondern von einer anderen Hegemonialmacht gestört gewesen war. Arndt wies im Hinblick auf die damals virulenten Bestrebungen europäischer Völker nach nationaler Einheit auf die Politik Frankreichs hin, einerseits auf die Einheit vieler anderer Völker – er nennt Polen, Spanier, Italiener – hinzuwirken, dagegen allein bei den Deutschen die Zwietracht zu fördern; diesen – scheinbaren – Widerspruch führte er darauf zurück, dass „wir [Deutschen] zusammenhaltend ihnen [den Franzosen] mehr als gewachsen wären“.22 Für sachlich ganz unbegründet hielt Arndt die damals von Teilen der deutschen Bildungsschicht gehegte Erwartung, mangels eines Nationalstaates würden die Deutschen den anderen europäischen Völkern ein Vorbild an universaler Humanität ohne nationale Verengung;23 20 Ernst Moritz Arndt, Belgien und was daran hangt (1834), in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd. 15: Kleine Schriften III, S. 66 – 154, hier S. 133 – 136. 21 Ernst Moritz Arndt, Über Preußens Rheinische Mark und über Bundesfestungen (1815), hier zitiert nach: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd. 14: Kleine Schriften II, S.  5 – 69, hier S. 60 f.: „Man prahle ja nicht mit dem europäischen Gleichgewicht und mit der europäischen Gerechtigkeit, solange so große und ehrwürdige Völker, als die Deutschen und die Italiener sind, fast rechtlos und ehrlos dastehen und von den Fremden, die ihre Angelegenheiten entscheiden, […] zerrissen und zerhudelt werden dürfen. Oder kann das europäische Gleichgewicht nicht bestehen, wenn diese beiden Völker nicht fremder Willkür preisgegeben bleiben und in eine Menge kleiner und ohnmächtiger Königtümer, Fürstentümer und Tyrannien zerrissen daliegen? […] Deutschland ist das große Puppentheater des Gleichgewichts, worauf die übrigen Völker Europas spielen […]. Nein, Europa kommt nicht aus dem Gleichgewicht, wenn Deutschland ein mächtiges Reich wird […], dann erst ist Europas heilige Mitte gesichert; die Russen und die Franzosen und die Engländer dürfen nicht mehr freveln, aber auch Deutschland kann ihr Dasein nicht gefährden.“ 22 Ernst Moritz Arndt, Polen, ein Spiegel der Warnungen für uns (1831), in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd. 15: Kleine Schriften III, Leipzig 1908, S. 49 – 65, hier S. 49 – 55 u. S. 64. 23 Ausgedrückt wird diese Erwartung etwa mit dem Epigramm „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus“ in

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­ mgekehrt würde die Kleinheit der deutschen Verhältnisse in der „zersplitterten Vielherru schaft“ alle großen kulturellen Leistungen hindern und die Deutschen zum Gespött der übrigen europäischen Völker werden lassen.24 Als schlechthin lächerlich erschien Arndt das aufkommende Bestreben der Regierungen auch der kleinsten deutschen Staaten, ihre Bewohner jeweils als eigene Völker darzustellen, und er betont, dass in der Reaktionsperiode nach 1815, wie er selbst erfahren sollte, die Forderung nach deutscher Einheit ebenso zur staatlichen Verfolgung als „Demagoge“ führen konnte wie die Forderung nach politischer Freiheit.25 Ein deutsches Expansionsstreben, jede auf Eroberung nichtdeutscher Länder und Völker gerichtete Politik lehnte Arndt unbedingt ab und er hielt eine entsprechende Gefahr auch nicht für gegeben, da ein deutscher Bundesstaat, wie er ihn erstrebte, zu einer solchen Ausdehnungspolitik gar nicht imstande wäre: „Sprechet den großen Grundsatz aus, und lehret ihn euren Kindern und Kindeskindern als das heiligste Gebot eurer Größe und Sicherheit, daß ihr nie fremde Völker erobern wollet, daß ihr aber auch nimmer leiden wollet, daß man auch nur Ein Dorf von euren Gränzen abreiße.“ 26 Wenn Arndt rückwirkend bedauerte, dass auf dem Wiener Kongress die Westgrenze des Deutschen Bundes so gezogen worden ist, dass nur das linke Rheinufer wieder deutsch geworden war, nicht aber auch Elsass-Lothringen sowie die schon 1648 aus dem Reich ausgeschiedenen Gebiete der Schweiz und der Niederlande, so waren ­solche Forderungen natürlich ebenso illusorisch wie unbegründet. Arndt sah in diesen Gebieten aber keine eigentlich ausländischen Territorien, sondern Länder, die er ihrer Natur nach immer noch als deutsch betrachtete, als „halbverlorene Brüder“, von denen er hoffte, sie würden einst selbst „wiederkehren, zu denen sie gehören“.27 Diese Erwartung Arndts zeugt fraglos von einer völligen Verkennung der Einstellung der Bewohner in den genannten Gebieten. den Xenien von Goethe und Schiller, hier zitiert nach: Goethe, Berliner Ausgabe II: Gedichte und Singspiele, Berlin/Weimar 1966, S. 441. 24 So Arndt (wie Anm. 17), S. 243 – 248, auch schon ders. (wie Anm. 14), S. 423. 25 Arndt (wie Anm. 9), S. 38: „will fast jeder kleine Staat […] als ein in sich geschlossenes und verschlossenes Ganze dastehen […] [,] sollte man nicht lächeln, wenn Württemberger, Badener, Hannoveraner, Mecklenburger als eigene, selbständige Völker sich brüsten und den Namen Deutsche unter sich setzen? Ja, so weit sind die Kleinstaaten in der vollendeten monar­chischen Torheit gegangen, daß, wer vom deutschen Volke und von deutscher Eigentümlichkeit und Herrlichkeit spricht, nicht bloß als ein altfränkischer Narr ausgelacht, sondern hin und wieder fast als ein Empörer verfolgt wird. Es ist so ein dunkles Gefühl in ihnen, daß Deutschland erst vergessen werden müsse, damit Nassau, Mecklenburg, Baden usw. genannt werden dürfe. Darum haben fast allenthalben die Hof- und Polizeizeitungen stehende Artikel, wo über die sogenannte neue Deutschheit und Deutschelei und Deutschwut, wie sie es betiteln, hergefahren wird.“ 26 Vgl. Ernst Moritz Arndt, Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze, o. O. 1814, S. 53 f.; diese Schrift auch in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd.13: Kleine Schriften I, S. 145 – 196. 27 Arndt (wie Anm. 20), S. 150; ebenso ders. (wie Anm. 19), S. 269.

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4. Verfassung eines künftigen vereinigten Deutschlands 4.1 Notwendigkeit und Grundsätze einer deutschen Verfassung Über die an eine künftige deutsche Verfassung zu stellenden allgemeinen Anforderungen hat sich Arndt im Zuge der Diskussion über eine Neuordnung der deutschen Verhältnisse ­zwischen dem Ende der französischen Herrschaft und der Gründung des Deutschen Bundes vor allem in den beiden Schriften Über künftige ständische Verfassungen in Teutschland (1814) sowie Fantasien zur Berichtigung der Urtheile über künftige deutsche Verfassungen (1815) eingehend geäußert. Gegenüber den Beschuldigungen der sich formierenden restaurativen Kräfte stellte er klar, dass es sich bei den vielfältig erhobenen Forderungen nach Gewährung von Verfassungen nicht um „Geschrei eines wüsten Aufruhrs“ handelt, sondern diese Forderungen ihren Grund haben in der tatsächlichen Überlebtheit der alten Gegebenheiten.28 Verfassungen sind Ergebnisse eines Streits divergierender Meinungen als Motor aller Entwicklungen. Eine lebenskräftige Verfassung darf daher nicht von irgendeinem Gremium ex nihilo gemacht sein, vielmehr muss sie ihren Ursprung „wie ein natürliches Gewächs aus dem Willen und den Neigungen und Bedürfnissen eines Volkes“ herleiten.29 In der den Reaktionären geradezu als Teufelswerk verhassten Demokratie erblickt Arndt die dem reifen Mannesalter der Völker allein angemessene Staatsform und prophezeit, das „alle Staaten, auch die noch keine Demokratien sind, von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr demokratisch werden“.30 Das Volk ist nicht um der Fürsten willen da, sondern die Fürsten um des Volkes willen, weshalb sie abtreten müssen, „sobald das Volk ihrer nicht mehr bedarf oder sobald sie sogar das Verderben d ­ ieses Volkes sind“.31 Wenn Arndt hier die Stellung des Fürsten von einem entsprechenden Bedarf des Volkes abhängig macht, verneint er letztlich den Grundsatz der 1815 einsetzenden Restaurationspolitik, dass die monarchische Gewalt vom Volkswillen unabhängig sei. Der Begriff „Demokratie“ ist allerdings bei Arndt weiter als nach heutigem Verständnis, denn Arndt hält eine Demokratie mit einer ständischen Gliederung der Bevölkerung durchaus für vereinbar, sofern nur alle Stände, besonders Bauern und Bürger, im Parlament vertreten sind.32

28 Ernst Moritz Arndt, Phantasien zur Berichtigung der Urtheile über künftige deutsche Verfassungen, in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd.14: Kleine Schriften II, S.  70 – 185. 29 Ebd., S.  72 – 74. 30 Arndt (wie Anm. 1), S. 43 f.; diese Schrift auch in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd.13: Kleine Schriften I, S. 197 – 250. 31 Arndt (wie Anm. 21), S. 62. 32 Arndt (wie Anm. 30), S. 45 f.; in ­diesem Sinne schon die von Arndt anonym publizierten: Beherzigungen vor dem Wiener Kongreß von X. Y. Z., o. O. 1814, S. 1 – 19, bes. S. 9 ff.

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4.2 Staatsform und -organisation Arndts Vorstellungen von der verfassungsrechtlichen Struktur des erstrebten gesamtdeutschen Staatswesens haben sich in den Jahrzehnten ­zwischen dem Ende des Alten Reiches und dem 1848/1849 unternommenen Versuch der Schaffung einer deutschen Reichsverfassung entsprechend der Veränderung der Verhältnisse durchaus gewandelt. Diese gewandelten Betrachtungsweisen betrafen aber mehr, wenn auch nicht unwichtige, Einzelfragen, demgegenüber die allgemeine Zielsetzung einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung im Wesentlichen unverändert blieb. Der nach den Befreiungskriegen zu errichtende deutsche Staat sollte sich nach den Vorstellungen von Arndt in seiner Grundstruktur an dem bis 1806 existierenden Alten Reich orientieren. Diese weitgehende Koinzidenz beschränkte sich aber im Wesentlichen auf die zu errichtenden Organe als ­solche. Die Kompetenzen dieser Organe waren hingegen wesentlich zu verändern, und zwar im Sinne einer Stärkung der neuen Reichsgewalt, die ja gerade nicht das lange Siechtum und den schließlichen Untergang der früheren erleiden sollte. Die beiden Strukturprinzipien, die Arndt auch für das neue Reich als unverzichtbar ansah, waren die schon für das alte grundlegend gewesenen, nämlich Föderalismus und monarchische Herrschaftsform. Die von Arndt entschieden befürwortete bundesstaatliche Struktur des zu gründenden neuen deutschen Reiches erforderte den grundsätzlichen Fortbestand der existierenden deutschen Länder. In einem föderalistischen Aufbau erblickte Arndt neben einem wirksamen Schutz gegen die Diktatur eines Einzelnen vor allem ein Mittel zur sehr wünschenswerten Erhaltung der Besonderheiten und Eigenarten eines jeden Landes, die er „als tiefste und letzte Wurzel aller Freiheit“ bezeichnet.33 Einen zentralistischen Einheitsstaat nach dem Muster von Frankreich lehnte Arndt für das neue Reich unbedingt ab.34 Das monarchische Prinzip wollte Arndt sowohl auf der Reichsebene als auch auf der Ebene der das Reich bildenden Länder Platz greifen lassen. Oberhaupt auch des neuen Reiches sollte wieder ein ­Kaiser sein. Um ­dieses Reich vor dem Schicksal des 1806 untergegangenen zu bewahren, trat Arndt entschieden für eine Erblichkeit der Kaiserwürde ein anstelle des früheren Wahlkaisertums, das den Kurfürsten die Durchsetzung immer größerer Zugeständnisse in den Wahlkapitulationen ermöglicht hatte.35 Als den prädestinierten Träger der Kaiserkrone sah er etwa seit den Befreiungskriegen den König von Preußen an, den er allein für fähig hielt, den Partikularismus der anderen deutschen Staaten zu brechen und den beherrschenden Einfluss der ausländischen Großmächte auf die deutschen Angelegenheiten zu beenden.36 Das war nicht immer so. Das alte friderizianische Preußen vor den stein-hardenbergischen Reformen hatte 33 34 35 36

Arndt, Geist der Zeit III (wie Anm. 17), S. 249. Vgl. z. B. Arndt, Der Rhein (wie Anm. 26), S. 45. Arndt (wie Anm. 1), S. 201, 202. Arndt (wie Anm. 21), S. 66 – 69; auch Arndt, Belgien (wie Anm. 20), S. 147.

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Arndt noch 1806 scharf kritisiert als „angestrengtesten und despotischen Soldatenstaat voll der unleidlichen monarchischen Aristokratie […], wo alles aristokratisch streng und despotisch herrscht“ und dem, auch unter und gerade unter Friedrich dem Großen, deutsche Belange völlig uninteressant gewesen ­seien.37 Diese Meinung hatte er unter dem Eindruck der Reformpolitik nach 1807 und vor allem der Leistungen Preußens in den Befreiungskriegen aufgegeben. Österreich hielt er hingegen für die Funktion der Wahrnehmungen der deutschen Interessen nicht mehr für geeignet, da es durch den Erwerb beträchtlicher nichtdeutscher Gebiete im Osten bei gleichzeitiger Aufgabe der habsburgischen Besitzungen in Südwestdeutschland (Vorderösterreich) keine primär deutsche Macht mehr sei.38 Als weiteres Reichsorgan neben dem ­Kaiser sollte ein deutscher Reichstag treten, bestehend aus alle fünf bis sechs Jahre von den Ständen der einzelnen Länder gewählten, öffentlich und mündlich verhandelnden Abgeordneten,39 der damit – anders als der Reichstag des Alten Reiches und der Bundestag des Deutschen Bundes – keine Versammlung der Gesandten der Landesfürsten, sondern ein, wenn auch indirekt gewähltes, Parlament gewesen wäre. Auf Reichs- wie auf Landesebene verfocht Arndt nachdrücklich den rechtsstaatlichen Grundsatz der liberalen Bewegung vom Vorrang des Gesetzes auch gegenüber dem Monar­ chen, der in den beiden größten Staaten des Deutschen Bundes Preußen (bis 1848) und Österreich sogar noch absoluter Herrscher war. Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes war der Monarch nicht mehr legibus solutus, sondern wie die Bürger an das Gesetz gebunden. Für Gesetzesverletzungen konnte er zwar nicht persönlich zur Verantwortung gezogen werden, wohl aber haftete anstelle des Herrschers dessen zuständiger Minister, der deshalb an einer Verhinderung von Gesetzesverstößen interessiert war, wie Arndt unter Hinweis auf die Rechtslage u. a. in England und Norwegen ausführte.40 Weiterhin hielt es Arndt für notwendig, die politischen und rechtlichen Voraussetzungen auch für einen einheitlichen deutschen Wirtschaftsraum als Ergänzung der staatlichen Vereinigung zu schaffen. So forderte er schon seit 1813 eine gemeinsame Währung, die Gleichheit von Maßen und Gewichten sowie die Aufhebung der den Handel z­ wischen den deutschen Staaten hemmenden inneren Zölle, Geleit- und Durchzugsgelder.41 Dementsprechend begrüßte Arndt die mit Wirkung ab 1. Januar 1834 erfolgte Gründung des Deutschen Zollvereins ­zwischen Preußen und den meisten mittleren und kleineren deutschen Staaten als Anfang einer wirtschaftlichen Einheit Deutschlands und trat entschieden für eine Erweiterung des Vereins auch auf die übrigen deutschen Staaten ein.42 37 Arndt, Geist der Zeit I (wie Anm. 3), S. 160. 38 Arndt, Preußens Rheinische Mark (wie Anm. 21), S. 38 f. 39 Arndt (wie Anm. 1), S. 30 f. 40 Arndt, Beherzigungen (wie Anm. 32), S. 40 – 42; auch Arndt (wie Anm. 28). 41 So Arndt, Geist der Zeit III (wie Anm. 17), S. 251 f.; auch Arndt (wie Anm. 1), S. 73 f. 42 Arndt, Belgien (wie Anm. 20), S. 136 – 138.

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Zur Frage einer deutschen Wehrverfassung äußerte sich Arndt mehrmals mit teilweise unterschiedlicher Akzentsetzung. Das als Produkt der absoluten Fürstenmacht entstandene System der im Frieden wie im Krieg existierenden stehenden Heere aus geworbenen oder gepressten Berufssoldaten lehnte er zu Beginn des 19. Jahrhunderts als ein „Grundübel der neueren Zeit“ ganz entschieden ab. Das hierdurch vom Volk getrennte Heer sei zum Instrument allein des Fürsten und damit wichtigstes Machtmittel des Absolutismus und der Despotie geworden, während sich das seiner einstigen Wehrhaftigkeit beraubte Volk zu furchtsamen und duckmäuserischen Untertanen verformt habe. Die Folge dieser Entwicklung sei eine Zunahme und Verlängerung der Kriege und eine Verarmung der Staaten und Völker durch die ständig gesteigerten Aufwendungen für das Militär gewesen.43 Nach den Befreiungskriegen hat Arndt seine Ablehnung der stehenden Heere auf die Friedenszeiten beschränkt. An die Stelle der bisherigen volksfremden Berufsheere forderte er eine reichseinheitlich geregelte und beaufsichtigte „kriegerische Erziehung und feste Kriegsordnung und Kriegsübung“ und damit die Wiederherstellung des „alten teutschen Kriegsgeistes“ 44 unter ausdrücklicher Betonung des rein defensiven Zwecks dieser Maßnahmen, nämlich der Verhinderung von Einfällen fremder Heere in Deutschland, unter denen das Alte Reich seit dem 17. Jahrhundert so sehr gelitten hatte.45 Die der einstigen Reichs­armee anhaftenden bekannten Schwächen und Unzulänglichkeiten sollten auch durch eine straffe und eindeutige Regelung der Befehlsgewalt über die Truppen vermieden werden. Der in Friedenszeiten jedem Landesfürsten zustehende Oberbefehl über das Heer seines Landes unter dem ­Kaiser als Oberfeldherrn sollte im Kriegsfall auf den ­Kaiser übergehen.46 Mit seinen Gedanken über die Beschaffenheit des Justizwesens für das künftige Deutschland betrat Arndt ein politisch und ideologisch besonders gefährliches Gelände, auf dem im Vormärz ein Schwerpunkt der Auseinandersetzungen z­ wischen den restaurativen Kräften und der bürgerlich-liberalen Bewegung lag und speziell in Deutschland zudem der Streit um die Justizhoheit ­zwischen einem künftigen Reich und den Einzelstaaten, der schon eine der wichtigsten Ursachen für die fortschreitende Schwächung des Alten Reiches gewesen war (Stichwort: privilegium de non appellando), wieder aufzuleben drohte. Arndt wollte die Rechtsprechung, insoweit nach dem Vorbild des Reiches vor 1806, ­zwischen Reich und Ländern verteilen: Die Fürsten sollten als oberste Richter ihrer Länder fungieren, der ­Kaiser die Stellung eines „Oberrichters“ innehaben und zudem ein „allgemeines deutsches Oberreichsgericht“ bzw. mehrere „große Reichsgerichte“ errichtet werden.47 Über die Zuständigkeiten von Landes- und Reichsgerichten (diese als Rechtsmitte­linstanzen gegenüber den Landesgerichten?) äußerte sich Arndt nicht näher; es ist jedoch sehr 43 Arndt, Geist der Zeit I (wie Anm. 3), S. 57 – 60, bes. S. 57: „Das Schlimmste aller dieser Übel ist die schreckliche Menge der stehenden Heere.“ 44 Arndt, Zum Neuen Jahre (wie Ann. 2), S. 71 f. 45 Arndt (wie Anm. 1), S. 29 f. 46 Arndt, Geist der Zeit III (wie Anm. 17), S. 248 f. 47 Zum Ganzen: Arndt, Geist der Zeit III (wie Anm. 17), S. 248 f., 253; ferner Arndt (wie Anm.1), S. 30.

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wahrscheinlich, dass er ein Appellationsprivileg nach den Erfahrungen mit der alten Reichsjustiz ablehnte. – Ein erstrangiges Ziel der Anhänger einer rechtsstaatlichen Justiz bestand in der Erreichung und Sicherung der Unabhängigkeit der Gerichte gegen Eingriffe der vor 1848 größtenteils von aristokratisch-konservativen Kräften getragenen monarchischen Regierungen. Auch insoweit unterstützte Arndt eindeutig die Reformkräfte. So setzte er sich in der hochumstrittenen Frage der von den liberalen Reformern geforderten Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen nach englischem und französischem Muster unter Berufung auf das altdeutsche Vorbild für den Öffentlichkeitsgrundsatz auch im deutschen Prozess ein, da er in der Öffentlichkeit eine Garantie der bürgerlichen Freiheit gegen die Gefahr von Missbräuchen seitens der staatlichen Gewalt erblickte.48 Weiterhin unterstützte Arndt die Forderung nach grundsätzlicher Unabsetzbarkeit der auf Lebenszeit zu ernennenden Richter, deren Absetzung nur durch „Urteil und Recht wegen Vergehen und Verbrechen“ möglich sein sollte.49 In dem politisch besonders brisanten Streit über die Einführung von Schwurgerichten, in denen statt von der Regierung eingesetzten Berufsrichtern aus dem Volk gewählte Laien als Geschworene in Strafprozessen über Schuld oder Unschuld des Angeklagten entschieden, wie das im englischen und seit der Revolution auch im französischen Prozess der Fall war, setzte sich Arndt ebenfalls für ein Richten durch Geschworene ein, in dem er einen „Sproß altgermanischer Freiheit“ erblickte.50 Neben diesen aus damaliger Sicht fortschrittlichen, liberalen und teilweise sogar demokratischen Zielbeschreibungen finden sich bei Arndt aber gerade im Bereich des Justizwesens auch gewisse rückwärtsgewandte, sozusagen nostalgische Ansichten über die nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft (wieder) herzustellenden deutschen Verhältnisse. So fordert Arndt 1813 etwa auf dem Gebiet der (Straf-)Justiz neben den vorgenannten begrüßenswerten Neuerungen etwa auch die Wieder­einführung der – nicht näher bestimmten – „alten und natürlichen Strafen“, ferner des Zweikampfes als Beweismittel und der engen Verbindung der Justiz mit der Religion und deren Riten.51 Diese Mischung von progressiven und altertümlichen Ansichten, die auch für andere Äußerungen des Arndt’schen Œuvre nicht untypisch sind, erklären sich wohl neben einem in der Zeit der Befreiungskriege besonders virulenten antifranzösischen Furor hauptsächlich aus einem auch bei Arndt wirksamen Einfluss romantischen Gedankenguts und Lebensgefühls, obwohl Arndt nicht als reiner Romantiker eingeordnet werden kann, er vielmehr, wie dargelegt, durchaus auch damals modernen Gedanken und Zielen gegenüber aufgeschlossen war. Hinsichtlich der deutschen Länder 52 trat der überzeugte Föderalist Arndt für die Aufrechterhaltung von deren Charakter als echte Staaten, nicht als bloße Verwaltungsbezirke 48 Arndt, Belgien (wie Anm. 20), S. 142 – 146. 49 Arndt, Phantasien (wie Anm. 28), S.175. 50 Arndt, Geist der Zeit III (wie Anm. 17), S. 252 f. 51 Ebd. 52 Unmittelbar nach Beginn des Befreiungskrieges forderte Arndt in damals besonders heftiger antifranzösischer Leidenschaft, dass „alles Neueste und Französische ausgetilgt [werde] als eine Erinnerung an die letzte Schande“, und verlangte demgemäß sogar die Wiederherstellung

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auch im neuen Reich ein.53 Die für die Länder zu erlassenden Verfassungen sollten daher nach dem Muster der Reichsverfassung beschaffen sein.54 Arndt hielt deshalb für die einzelnen Länder eine monarchische Spitze in Gestalt des Landesfürsten für notwendig, dessen Stellung grundsätzlich der des Kaisers auf Reichsebene entsprach. Die Landesfürsten sollten daher ebenfalls den Gesetzen des Reiches und ihres Landes unterworfen und mithin keine absoluten Monarchen (mehr) sein;55 für Gesetzesverletzungen ist der Fürst aber ebenso wie der ­Kaiser nicht persönlich verantwortlich, die Verantwortung tragen vielmehr seine Räte und Minister, die von den Ständen zur Rechenschaft gezogen und, wenn sie schuldig sind, bestraft werden können.56 Die Staatlichkeit der Länder wird aber nicht von dem jeweiligen Fürsten allein getragen, sondern neben der ausführenden Gewalt des Fürsten sollen die Stände „in allen Geschäften und Bedürfnissen des Landes die rathschlagende und mitregirende Macht“ innehaben.57 Unter dem „Volk“, das zur politischen und rechtlichen Mitwirkung an den Staatsangelegenheiten befugt ist, versteht Arndt, wie zahlreiche Anhänger der konstitutionellen Monarchie vor 1848, also nicht die Gesamtheit aller (erwachsenen) Staatsbürger, von denen jeder Einzelne nach dem demokratischen Grundsatz one man, one vote an den politischen Entscheidungen mitwirkt, sondern eigentliche Träger des Volkswillens sind die Stände, in w ­ elche die Bevölkerung gegliedert ist. Diese „(neu-)“ständische Einstellung war vor 1848 wohl die auch in bürgerlich-liberalen Kreisen überwiegende. Die Landtage sollen sich aus den drei Ständen des Adels, der Bürger und der Bauern zusammensetzen.58 Eine Vertretung auch der Geistlichkeit als vierten Stand lehnte Arndt für seine Zeit grundsätzlich ab trotz oder gerade wegen seines starken christlichen Glaubens, da ­Kirche und Religion durch die inzwischen eingetretene innere Verchristlichung der europäischen Völker jetzt zu einer rein geistlichen Macht geworden sei und die im Mittelalter noch notwendige unmittelbare politische Herrschaft der K ­ irche als strenge Erzieherin der Völker nunmehr unwiederbringlich verloren und jeder Versuch ihrer Wiederherstellung vergeblich sei.59 Im Hinblick auf die Zulassung des Adels als eigenen Stand zu den Landtagen setzt sich Arndt mit der seit der Französischen Revolution geübten grundsätzlichen Kritik an der Existenzberechtigung eines Adelsstandes auseinander, einer Kritik, die er in Bezug auf der deutschen Länder in den Grenzen von 1792, also vor der Neuordnung durch den Reichs­ deputationshauptschluss, vgl. Arndt, Geist der Zeit III (wie Anm. 17), S. 249. Von dieser völlig utopischen Forderung, da gerade die Interessen der durch die Neuordnung von 1803 begünstigten Fürsten verletzend, rückte Arndt wohl bald stillschweigend ab. 53 In Geist der Zeit III (wie Anm. 17), S. 249 f. plädierte Arndt für die Erhaltung der Besonderheiten und Eigenheiten jedes Landes und Gebietes „als tiefste und letzte Wurzel aller Freiheit“. 54 Arndt (wie Anm. 1), S. 32. 55 Arndt, Beherzigungen (wie Anm. 32), S. 36. 56 So Arndt (wie Anm. 1), S. 73. 57 Ebd. 58 Arndt, Phantasien (wie Anm. 28), S. 449. 59 Arndt (wie Anm. 1), S. 32 – 44 u. S. 76 – 84 mit Kritik an den diesbezüglichen Restaurationsversuchen von Johannes Müller und auch Edmund Burke, ebd. S. 33 f.

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gewisse Erscheinungen für berechtigt erklärt;60 gleichwohl will er den Adel, sofern dessen Mitglieder gewisse strenge Kriterien erfüllen (altes Geschlecht, alter Besitz, altes Recht, alte Sitte, alte Ehre), zum Landtag zulassen.61 Der neben dem Adel in den Landtagen vertretene Stand der Bürger verkörpert nach Arndt gegenüber „dem Ruhenden und Gleichen des Landes und des Bauern in Besitz, Leben, Trieben und Geschäften das Unruhige und Ungleiche der Stadt“, der – anders als die Bewohner des flachen Landes – statt in einem unmittelbaren nur in einem entfernteren Verhältnis zur stillwirkenden Natur steht und dadurch „leicht maßlos in die wilde Weite der Gelüste und Strebungen hineingerissen“ werde. Als Mittel gegen diese Gefahren empfiehlt Arndt eine Einbindung der Bürger in Gilden, Innungen und Zünfte, die ohne ihre von ihm durchaus erkannten historisch obsoleten Züge vorsichtig wiederbelebt werden sollen.62 In dieser Haltung zeigt sich wiederum, dass Arndt in politisch-weltanschaulicher Hinsicht nicht bruchlos einer der beiden Kategorien „konservativ“ oder „liberal“ zuzuordnen ist. Trotz seiner freiheitlichen Grundhaltung ahnt er die aus einer völlig ungehemmten Marktwirtschaft resultierenden Gefahren und meint, diese durch eine vorsichtige Renovierung an sich veralteter B ­ indungsformen bannen zu können. Dem dritten in den Landtagen vertretenen Stand, den Bauern, gehört offensichtlich Arndts größte Sympathie. Als Bauern definiert er denjenigen, „der selbst die Pflugsterze in den Furchen lenkt und sein Korn auf der Tenne mitdrischet“. Er bezeichnet die Bauern als „die zahlreichste und ehrenwertheste Klasse des Volks“, in der „mehr als in anderen Klassen des Volks die ursprüngliche und gediegene Naturkraft, die Reinheit der S­ itten, die treue und Redlichkeit der Gesinnung [wohnt]; in ihr wohnt der Muth und die Ausdauer, ­welche die tapfersten und rüstigsten Vertheidiger des Vaterlandes geben […], der Bauer ist des Vaterlandes erster Sohn […]. Wer also ein festes und glorreiches Vaterland will, der macht festen Besitz und feste Bauren.“ 63 Zur Erhaltung bzw. Neuschaffung eines lebensfähigen und unabhängigen Bauernstandes fordert Arndt Vorkehrungen des Staates, damit die Hälfte aller Ländereien sich im Besitz von freien Bauern befindet und die dadurch geschaffenen Bauernstellen unteilbar und nur auf den ältesten Sohn vererblich sein sollen, ferner ein Verbot des Innehabens von mehr als einer Bauernstelle durch einen Eigentümer, um eine erneute Bodenkonzentration zu verhindern.64 Zum Schutze der Bauern soll mithin der freie Grundstücksverkehr empfindlich eingeschränkt werden, womit Arndt auch auf ­diesem ökonomisch hochwichtigen Gebiet von dem damals als fortschrittlich angesehenen Dogma des freien, nur von marktmäßigen Grundsätzen bestimmten Güterverkehrs abweicht. 60 61 62 63 64

Ebd., S.  47 – 50. Ebd., S.  50 – 56. Ebd., S. 63 ff. Ebd., S. 56 u. S. 62. Im Einzelnen ebd., S. 56 – 63.

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Da die Bauern im Gefolge der Aufhebung der Leibeigenschaft jetzt nicht mehr nur als eine Art Zubehör der Scholle und damit „mehr als Sachen denn als Personen angesehen und gebraucht worden“, sondern nunmehr im neuständischen System als eigener Stand anerkannt waren, stellte sich die wichtige Frage nach der Art und Weise ihrer Vertretung in den landständischen Versammlungen. Die konservativen, insbesondere junkerlichen Kreise lehnten eine besondere Vertretung der Bauern durch von diesen gewählte Abgeordnete ab, da die Bauern von den Grundherren, also vom Adelsstand, mitvertreten würden, die deren natürliche Repräsentanten s­eien. Demgegenüber befürworteten die liberalen Kreise eine Vertretung des Bauernstandes durch eigene bäuerliche Abgeordnete. Diese Meinung vertrat auch Arndt, der leidenschaftlich für die eigene Vertretung der Bauern plädierte und die Argumente der Gegenseite in ausführlicher Erörterung Schritt für Schritt widerlegte.65 Den Landtagen soll in allen Angelegenheiten des Landes eine beratende Funktion zukommen, während die Exekutivgewalt den Fürsten innerhalb der allgemeinen deutschen Gesetze zuzukommen habe.66 Die Landstände haben ein Gesetzesvorschlagsrecht und sind gemeinsam mit den Fürsten an der Gesetzgebung beteiligt. Die Abstimmung erfolgt nach Ständen, also nicht nach Köpfen. Grundgesetze bedürfen neben dem Willen des Herrschers der Zustimmung aller drei Stände. Zu Polizei- und Verwaltungsgesetzen ist die Zustimmung von zwei Dritteln der Stände und des Herrschers notwendig. Die Stände können ferner Bitten an den Fürsten auf Abstellung „eingeschlichener Mißbräuche der Polizei und Verwaltung“ richten.67

4.3 Grundfreiheiten der Bürger 4.3.1 Pressefreiheit Unter den bürgerlichen Freiheitsrechten weist Arndt der Pressefreiheit unter Ablehnung jedweder Zensur eine ganz grundlegende Bedeutung zu. Die unter Verweis auf das englische Vorbild 68 erhobene Forderung nach „unbeschränkter Preßfreiheit“, „ohne w ­ elche auch die bürgerliche Freiheit nicht bestehen kann“,69 zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. Die Pressefreiheit ist für ihn „der Schirm der Schwachen und

65 Ernst Moritz Arndt, Über den Bauernstand und seine Stellvertretung im Staate (1815), hier zitiert nach: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd. 14: Kleine Schriften II, S.  186 – 221, hier S. 204 – 206.; auch Arndt (wie Anm. 9), S. 58. 66 Arndt (wie Anm. 1), S. 73. 67 Arndt (wie Anm. 28), S. 449 f. 68 Vgl. Arndt (wie Anm. 21), S. 65: „in der freien Britannia […] ist die Freiheit der Presse das Palladium aller bürgerlichen, politischen und kirchlichen Rechte des Engländers. Die Freiheit der Presse ist unsere einzige Hilfe“. 69 So Arndt (wie Anm. 1), S. 31; auch Arndt (wie Anm. 28), S. 175.

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Unterdrückten“, weshalb sie durch Reichsgesetz sichergestellt werden muss.70 Arndt setzt sich mit allen in der Reaktionszeit gegen die Pressefreiheit vorgebrachten Argumenten eingehend auseinander und widerlegt sie.71 Sein Kampf gegen die aufgrund der Karlsbader Beschlüsse von 1819 besonders strenge Zensur war in der Reaktionsperiode vor 1848 keineswegs ohne persönliches Risiko, wie der Verlust seines Bonner Lehrstuhls belegt. 4.3.2 Beschränkung der Befugnis der Polizei Leidenschaftlich kritisiert Arndt ferner die in der Reaktionszeit virulente Tendenz der Regierungen zu ständiger Ausweitung der Zuständigkeiten und Befugnisse der Polizei, die sich auf alle Lebensbereiche erstrecken sollten, insbesondere auch auf die Kontrolle des Geisteslebens. Demgegenüber fordert er eine Beschränkung der polizeilichen Funktionen auf den Bereich der äußeren Lebensbedürfnisse und der äußeren Sicherheit.72 Diese Beschränkung wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich durchgesetzt, etwa mit dem richtungsweisenden sogenannten Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts von 1882.73 Die Geheimpolizei, die er als eine Frucht der franzö­ sischen Zeit betrachtete,74 sollte in Friedenszeiten ganz abgeschafft werden. Zu dem Zweck der Einschränkung der Polizeiallgewalt sprach sich Arndt dafür aus, dass die ­Polizeihoheit wenigstens in Ortschaften unter 80.000 oder 100.000 Einwohnern nicht mehr in der Träger­schaft der Krone liegen, sondern die Hoheit für die mittlere und untere Polizei wieder den „Gauen“ und Gemeinden übertragen werden sollte.75

5. Arndt in der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung 1848/1849 Auf das Wirken von Arndt als Angehöriger der aufgrund der deutschen Revolution von 1848/1849 in Frankfurt am Main mit dem Auftrag der erstmaligen Schaffung einer deutschen Verfassung tagenden Nationalversammlung kann im Rahmen d ­ ieses Beitrags aus Raumgründen nur sehr überblicksartig eingegangen werden. Seine Erwartungen an die dem künftigen Deutschen Reich vom Paulskirchenparlament zu gebende Gestalt hat Arndt 70 Vgl. Arndt (wie Anm. 32), S. 22 f.; auch Arndt (wie Anm. 19), S. 74; ähnlich 1844 Arndt, Noch ein Wort für unsere große Öffentlichkeit, in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd. 16: Kleine Schriften IV, S. 34 – 67, hier S. 34 u. 49 f.: Zensur verhindere freie Rede und erziehe zu Verstellung und Duckmäuserei; ebd. S. 56: Pressefreiheit „ein unvermeidliches und unentziehbares Ding“. 71 Arndt (wie Anm. 9), S. 67, 69 – 88. 72 Arndt (wie Anm. 9), S. 96 f., bes. S. 98, 109 u. 113 f. 73 Veröffentlicht in der von den Mitgliedern des Gerichts herausgegebenen Entscheidungssammlung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts (PrOVGE), Bd. 9, Berlin 1883, S. 353 ff. 74 Arndt (wie Anm. 32), S. 27 – 29. 75 Vgl. Anm. 72.

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im Einzelnen wie folgt dargelegt: „Es soll wieder eine deutsche Einheit werden, […] ein großes deutsches Reichsparlament, wie die Bildung und Gewalt es gebieten, ein wahres Volksparlament, wie die Deutschen es noch nimmer gehabt haben. Öffentlich gewonnen, gelobt und beschworen sind einstweilen alle bisher verweigerten Freiheiten, Ehren und Rechte […] die Preßfreiheit, die Stiftung von Schwurgerichten und die Öffentlichkeit aller Versammlungen und Verhandlungen, die freie Übung aller Religionsbekenntnisse, das freie Einigungs- und Gesellungsrecht, die Gleichung oder Ausgleichung aller lästigen Vorrechte, die Schöpfung eines allgemeinen Zoll-, Gewerb- und Handelswesens und eines wirklich gesamten deutschen Heers und einer deutschen Flotte, als Blüte des Ganzen einen ­Kaiser an der Spitze der großen Reichsverwaltung und des Heers und der Fürsten usw.“ 76 Die von der Nationalversammlung zu klärende grundlegende Frage betraf natur­ gemäß die Staatsform des gesamtdeutschen Staates, ob dieser Staat also eine – natürlich konstitutionelle – Monarchie oder eine Republik sein sollte. Damit eng verbunden war das Problem einer föderalistischen oder unitarischen Struktur des neuen Reiches, denn eine einheitsstaatliche Struktur kam natürlich nur für eine Republik in Betracht, da bei einer monarchischen Spitze des Gesamtstaates auch die monarchischen Regierungen der Gliedstaaten erhalten bleiben mussten. Die Haltung von Arndt war in diesen Fragen eindeutig: Eine alle stammesmäßigen Unterschiede einebnende unitarische, zentra­listische Republik nach französischem Muster widersprach seiner Ansicht nach der begrüßenswerten Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der deutschen Verhältnisse, die gerade den besonderen Reiz Deutschlands ausmachten.77 Deshalb warnt Arndt auch, „daß ihr keine alles an sich ziehende und alles verschlingende Hauptstadt, kein Peking und Paris haben werdet, daß 20 bis 30 Hauptstädte, 10 bis 15 Universitäten, 40 bis 50 öffentliche Bibliotheken, wie es meistens jetzt schon besteht, durch alle Lande eures großen Reichs eine schöne Mannigfaltigkeit der Bildung, Kunst und Wissenschaft verteilen werden“.78 Ein republikanisch verfasstes Deutschland lehnte Arndt entschieden ab. Eine das gesamte Deutschland umfassende Republik würde wegen des heftigen Widerstands der Bevölkerung vieler deutscher Einzelstaaten gegen die dann notwendige Absetzung ihrer Fürsten 76 So Ernst Moritz Arndt, Das verjüngte oder vielmehr das zu verjüngende Deutschland (1848), in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 3), Bd. 16: Kleine Schriften IV, S. 79 – 111, hier S. 91 f. u. S. 105 – 107. 77 Ernst Moritz Arndt, Reden und Glossen, Leipzig 1848, S. 9 – 13: „welches Glück […] in d ­ iesem deutschen Vielerlei, in dieser geistigen Mannigfaltigkeit der Triebe, Anlagen, Neigungen, Weisen und S­ itten der verschiedenen deutschen Stämme ruht, eine deutsche Herrlichkeit ist. […] hüten wir uns, mit einer großen Republik eine allgemeine tabula rasa unserer gegenwärtigen Geschichte zu machen. […] in dem sie [scil. die Befürworter einer zentralistischen Republik] so sehr Verschiedenes und Mannigfaltiges, als die deutschen Stämme […] sind, zusammenzwingen wollen, [wollen sie auf jeden Fall ein unglückliches deutsches Ding] […] [,] es bleibe die deutsche Mannigfaltigkeit in der konstitutionellen republikanisch monarchischen Eidgenossenschaft deutscher Könige, Fürsten und Freistaaten.“ 78 Arndt (wie Anm.76), S. 101.

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zu einem desaströsen Bürgerkrieg führen. Eine Umwandlung der bisherigen deutschen Territorialfürstentümer in einzelne Republiken hätte die Ohnmacht ganz Deutschlands zur Folge, da diese kleinen Republiken notwendig unter französische bzw. russische Herrschaft geraten würden.79 Arndt tritt infolgedessen nachdrücklich für die konstitutionelle Monarchie ein.80 Diese von Arndt mit Entschiedenheit gewollte bundesstaatliche und konstitutionell monarchische Struktur des neuen Reiches gegenüber einem zentralistischen Einheitsstaat ist ein deutlicher Beleg für seine Ablehnung einer aggressiven und expansiven Politik eines vereinigten Deutschlands, da eine ­solche Politik von einem dezentral verfassten Staat wesentlich schwieriger betrieben werden kann als von einem Einheitsstaat. Eine der politisch und rechtlich schwierigsten Fragen, die sich dem Paulskirchenparlament stellten, war die Frage, ob und – bejahendenfalls – inwieweit Österreich zum neuen deutschen Reich gehören sollte. Es waren hier drei Lösungen denkbar: erstens Zugehörigkeit des gesamten Kaisertums Österreich, also einschließlich seiner nicht zum deutschen Bund gehörenden Länder, zweitens Zugehörigkeit nur derjenigen Teile Österreichs, die bisher zum Deutschen Bund gehört hatten, oder drittens Nichtzugehörigkeit des gesamten Kaisertums Österreichs zum neuen deutschen Reich (sogenannte kleindeutsche Lösung). Arndt stimmte im Oktober 1848 mit der großen Mehrheit der Nationalversammlung für die Zugehörigkeit des gesamten Kaisertums Österreich zum Reich.81 Als monarchisches Oberhaupt des Reiches sah die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 einen erblichen „Kaiser der Deutschen“ vor (§§ 68 ff.). Dies entsprach voll und ganz auch dem Willen Arndts. Die kaiserliche Macht sollte auf die auswärtige Politik und das Kriegswesen beschränkt sein, dagegen in Friedenszeiten die volle Herrschaft jedes Landesfürsten über Verwaltung, Rechtspflege und Heerbildung, allerdings bei gegenseitiger Musterung und Besichtigung bestehen bleiben. „Nur im Kriege schwiege der Befehl der verschiedenen einzelnen Herrscher und geböte der ­Kaiser als Diktator“.82 Über die Person des Kaisers bestimmte die Verfassung in § 68 lediglich, dass die Würde des Reichsoberhauptes einem der regierenden deutschen Fürsten übertragen werden sollte. Arndt setzte sich gemäß seiner schon seit den Befreiungskriegen vertretenen Überzeugung ganz entschieden dafür ein, die erbliche Kaiserwürde dem König von Preußen zu übertragen,83 wie dies ­später auch versucht, jedoch von dem König Friedrich Wilhelm IV . zurückgewiesen wurde und bald darauf die Revolution und das gesamte ­Verfassungsprojekt scheitern sollten.

79 Ebd., S. 79 u. S. 96 f. 80 Ebd., S. 96. 81 Arndts Brief an Christian August Brandis v. 29. „Weinmonat“ (Oktober) 1848, in: E. M. Arndt, Ein Lebensbild in Briefen, hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds, Berlin 1898, Nr. 299, S. 462 f. 82 Arndt (wie Anm. 77), Anmerkung 2, S. 17 f. 83 Ebd., S. 19 f.; Arndt (wie Anm. 76), S. 101 f.

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Als parlamentarische Vertretung befürwortete Arndt ein aus zwei Häusern bestehendes gesamtdeutsches Parlament als Organ der deutschen Reichsgesetzgebung;84 ­dieses Zweikammer-System, bestehend aus „Staatenhaus“ und „Volkshaus“, hat auch die Verfassung im Wesentlichen aufgenommen. Aufschlussreich ist, dass Arndt in der Nationalversammlung für eine Beschränkung des Wahlrechts zur zweiten Kammer des Reichstags (Volkshaus) eintrat, um die zahlenmäßige Vertretung der radikalen (republikanischen, demokratischen, sozialistischen, kommunistischen usw.) Kräfte möglichst gering zu halten. Da er aber ein Zensus-Wahlrecht wegen des d ­ iesem in der öffentlichen Meinung anhaftenden Odiums für nicht durchsetzbar hielt, befürwortete er eine hohe Altersgrenze für das (aktive) Wahlrecht von etwa 28 Jahren, „wodurch wir die Hälfte der Wähler beinahe, besonders der Jungen und Unwissenden und der dienenden und abhängigen Leute loswürden. […] Zu solchen oder ähnlichen Korrekturen hoffe ich werden die Deutschen vom 21. Lebensjahr abspringend, allmählig kommen“.85 In dieser und anderen Ansichten – genannt sei hier nur noch sein Widerstand gegen die in der Nationalversammlung beantragte völlige Aufhebung des Adels als Stand, demgegenüber Arndt den Adelsstand als solchen fortbestehen lassen und nur dessen das Volk (Bauern) bedrückende Vorrechte beseitigen wollte 86 ‒ zeigt sich ein gewisser Wandel Arndts zu konservativeren Vorstellungen. Der Grund für diese gewandelte Einstellung lag wohl in Arndts Befürchtung einer Machtergreifung seitens der unteren Schichten, wie sie in der gleichzeitigen Französischen Revolution mit dem Juni-Aufstand von 1848 von Teilen der besitzlosen Einwohner von Paris gegen die dortige, von allen Männern über 21 Jahren, also nach dem damals demokratischsten Wahlrecht gewählte, Nationalversammlung und die von diesen bestellte Regierung versucht und blutig niedergeschlagen wurde. Die im heutigen Schrifttum an Arndts Haltung in der Nationalversammlung geübte Kritik, er habe sich nicht ohne Wenn und Aber zum Grundsatz der Volkssouveränität bekannt,87 wodurch die Stellung des Kaisers und der Fürsten zu einer bloß repräsentativen geworden wäre, was nach den damaligen Machtverhältnissen als völlig illusorisch nur der Reaktion genützt hätte, wird daher Arndts Intentionen nur unvollständig gerecht.

6. Ergebnis Aus meinen Ausführungen geht hervor, dass Ernst Moritz Arndt auch in Bezug auf die Verfassungsfrage politisch, ideologisch und weltanschaulich nicht einfach einzuordnen ist. Dies teilt er mit den meisten anderen bedeutenden Persönlichkeiten. In den damaligen 84 Arndt (wie Anm. 76), S. 100. 85 Arndts Brief an Moritz August von Bethmann-Hollweg v. 18./19. 10. 1848, in: Lebensbild (wie Anm. 81), Nr. 298, S. 461. 86 Arndt (wie Anm. 77), Teil A, S. 7/8: „es bleibe der Adel in solcher Weise, daß er nicht mehr drücken, drängen und verdrängen könne! Man lasse ihm seinen Namen, Wappen, Schilder, seine Erinnerungen!“ 87 So etwa von Thomas Stamm-Kuhlmann, Ernst Moritz Arndt über Demokratie und Volkssouveränität, in: Baltische Studien, NF 92 (2006), S. 85 – 112.

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heftigen Auseinandersetzungen über die Zukunft Deutschlands und Europas nach der Französischen Revolution und der napoleonischen Zeit kann er weder als durchgängiger Vertreter des Fortschritts noch – und dies erst recht nicht – als sturer Reaktionär oder als fanatischer deutscher Nationalist erachtet werden. Nicht abzusprechen ist ihm sein lebenslanger Einsatz für den Verfassungsstaat und gegen eine Restauration feudalabsolutistischer Verhältnisse. Der leidenschaftliche deutsche Patriotismus Arndts wird zwar von seinem manchmal geradezu irrationalen Franzosenhass verdunkelt, er entbehrt aber expansiver Tendenzen, die er vielmehr eindeutig ablehnt. Insgesamt ist Arndt ein Kind des 19. Jahrhunderts, der trotz unleugbar vorhandener Schattenseiten ein ehrendes Andenken statt undifferenzierter Verdammung verdient.

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Dieser Beitrag handelt nicht davon, wie Arndt die eine oder andere fremde Nation – ­seien es Franzosen, Russen, Schweden, Ungarn, Italiener oder Engländer – in seinen Werken darstellte oder beurteilte. Er handelt auch nicht von Arndts Einstellung gegenüber den Juden. Es geht eher um Arndts Verhältnis zum Eigenen und zum Fremden, um seinen Volksbegriff im weiteren Sinne. Auf ­diesem Wege soll auch eine Annäherung an die Frage nach einem wie auch immer gearteten Rassismus Ernst Moritz Arndts, deren Behandlung einen nicht geringen Teil der populären und wissenschaftlichen Literatur über Arndts Werk nach 1945 prägt, ermöglicht werden. Die Urteile darüber, ob Arndt ein Rassist gewesen sei oder nicht, gehen ebenso weit auseinander – und sind häufig auch so wenig eindeutig – wie fast alle übrigen Urteile über Arndt. Hannah Arendt hat sich in ihrem Buch über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ganz unmissverständlich geäußert. Bei der Betrachtung des ­vorimperialistischen Rassebegriffs betonte sie, dass die deutschen Patrioten, die nach 1814 den deutschen Nationalismus zu einer Waffe für die Errichtung eines gesamtdeutschen Nationalstaates entwickelten, in ihren Augen Liberale mit antiaristokratischem Antrieb waren. „Von spezifischen Rasseelementen“, schreibt sie weiter, „oder selbst von völkischen Vorstellungen ist bei ihnen nicht viel zu finden.“ 1 Und sie schloss Ernst Moritz Arndt in ­dieses Urteil ausdrücklich ein.2 Friedrich Hertz, dessen seit 1905 veröffentlichten kämpferischen Essays gegen die modernen Rassentheorien ihn 1933 seinen Hallenser Lehrstuhl kosteten, gab 1927 eine denkbar knappe Charakteristik Arndts: „Im Laufe seines überaus langen Daseins, in den Stürmen einer leidenschaftlichen Propheten- und Dichterseele und einer ungeheuren Zeit hat Arndt goldhaltige Gedanken und Phrasenschlacken, wundervolle Bilder und wilde, blutrünstige Hassesworte vulkanisch ausgeworfen […]. Arndts Wirken bezeichnet den Übergang vom Weltbürgertum zum modernen Nationalismus, vom Humanitätsgedanken zur Rassenidee. Er selbst hat jedoch diesen Weg nicht bis zum Äußersten verfolgt.“ 3 Brian Vick, der Arndt für einen Rassisten hält, dessen Anschauungen biologisch determiniert s­ eien, meint andererseits: „Arndt was only racist up to a point, or was at most a 1 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1962, S. 256. 2 Ebd., S. 256, Anm. 13. 3 Friedrich Hertz, Das Problem des Nationalcharakters bei E. M. Arndt, in: Völkerpsychologische Charakterstudien, hg. v. Franziska Baumgarten (Forschungen zur Völkerpsychologie und Soziologie, 3), Leipzig 1927, S. 46 – 72, hier S. 46 f.

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conflicted racist.“ 4 Die Grenzen von Arndts Rassismus zieht Vick mit Hinweis auf die fehlende Behauptung einer „ethnischen Reinheit“ des einen oder anderen Volkes bei Arndt. Ganz anders bewertet Rybak Arndts „Rassen-Konzeption“, für deren Charakteristikum er gerade die Behauptung von „Reinheit“ und „Überlegenheit“ der „germanischen Rasse“ gegenüber anderen bei Arndt hält.5 Bei dieser Ausgangslage muss man sich natürlich die Frage stellen, wie ein so weites Spektrum von Urteilen zustande kommen kann. Eine mögliche Erklärung ist sicher die Komplexität des Volksbegriffs im Arndt’schen Gesamtwerk. Betrachtet man seine verschiedenen Äußerungen dazu ­zwischen 1800 und 1850, dann ist Volk bei ihm nämlich recht vieles: •  ein Medium der Offenbarung göttlicher Grundkraft, also quasi Teil des Heilsplans, •  ein historisch gewachsenes geistiges Grundgefüge, das vielfältig von geographischen und gesellschaftlichen Faktoren bedingt wird, •  schließlich eine von politischen Einflüssen und Erfordernissen bestimmte Größe •  und tatsächlich sieht Arndt ein Volk auch von biologischen Komponenten geprägt. Alle diese Aspekte des Volksbegriffs lassen sich kaum zu einem kohärenten Bild zusammenfügen. Und wenn doch, dann wären darin zwangsläufig einige unauflösbare Widersprüche angelegt. Aber vielleicht gibt es den einen Volksbegriff bei Arndt ja überhaupt nicht. Arndts Werk überspannt eine produktive Schaffensphase von sechs Jahrzehnten. Es ist ja wahrscheinlich, dass in ­diesem halben Jahrhundert seine Vorstellungen zum Thema Änderungen unterworfen waren. Wenn dem so wäre, sollten sie sich an zeitlich b­ estimmbaren Zäsuren im Werk festmachen lassen. Daher soll hier Arndts Volksbegriff in seiner Entwicklung z­ wischen 1800 und 1850 nachgegangen werden. Insofern bleibt dieser Beitrag dem Motto „Arndt in seiner Zeit“ verpflichtet, auch wenn dabei deutlich über die napoleonische Ära hinausgegriffen wird. Arndt verfasste Zeit seines Lebens immer wieder anthropologische Schriften im engeren Sinne, zum Teil mit beträchtlichem Umfang. Für die Darstellung des Arndt’schen Volksbegriffs wurden hier drei Gruppen von Werken ausgewählt, die unterschiedlichen Phasen der Biographie Arndts angehören. Es wurden zunächst die Greifswalder Jahre von etwa 1800 bis 1806, dann die späte napoleonische Ära 1813 bis 1815 und schließlich die 1840er Jahre nach der Aufhebung von Arndts Berufsverbot untersucht. Arndts frühe anthropologische Vorstellungen, wie sie auch schon in seiner Habilitationsschrift zu Rousseau aus dem Jahr 18006 aufscheinen, sind ganz der Anthropologie seiner Zeit verhaftet, ohne hier etwas wesentlich Neues oder Originelles beizutragen. 4 Brian Vick, Arndt and German Ideas of Race: Between Kant and Social Darwinism, in: Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven, hg. v. Walter Erhart und Arne Koch, Tübingen 2007, S. 65 – 76, hier S. 73. 5 Jens Rybak, Ernst Moritz Arndts Judenbilder. Ein unbekanntes Kapitel, in: Hefte der ErnstMoritz-Arndt-Gesellschaft, 5 (1997), S. 102 – 138, hier S. 105 f. 6 Ernst Moritz Arndt, Dissertatio historico-philosophica, sisstens, momenta quaedam, quibus status civilis contra Russovii et aliorum commenta defendi posse videtur, Greifswald 1800.

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In d ­ iesem Sinne erklärt sich Arndt auch ­später die Verschiedenheit der Völker seiner Zeit aus einem Zusammenwirken verschiedener Elemente. Zunächst nahm er eine ursprüngliche Anlage an, die geistig bestimmt sei.7 Diesen „Volkscharakter“ hielt er in seinen früheren Jahren für eine Art Naturtrieb oder Instinkt, den, einmal ausgeprägt „weder Klima noch Gesetzgebung, noch Religion“ ändern oder tilgen können.8 Wesentliche Grundzüge seiner anthropologischen Vorstellungen skizzierte Arndt 1810 in seiner Einleitung zu historischen Karakterschilderungen.9 Es ist sein erstes dezidiert anthropologisches Werk und fußt auf einer 1806 in Greifswald gehaltenen Vorlesung. In seinen späteren Werken widmete er dann neben der ursprünglichen Anlage vor allem dem örtlichen Milieu viel Aufmerksamkeit. Dazu rechnet er die Geographie, das Klima sowie ­Sitten, Gesetze und Religionen. All dies wiederum ist dem Faktor der Zeit unterworfen. Welchem dieser Elemente Arndt die größte Wirkung zumisst, kann mit S­ icherheit nicht bestimmt werden.10 Arndts 1803 in Germanien und Europa 11 vorgelegte vergleichende Typologie der europä­ ischen Nationen ist gewissermaßen das realpolitische Gegenstück zu den eher theoretisierenden Karakterschilderungen. Wie sie ist Germanien und Europa frei von nationalistischen Voreingenommenheiten und steht ganz in der Tradition Herder’scher Völkerpsychologie.12 Arndt preist darin den Wert der nationalen Verschiedenheiten der Völker. Für ihn hat jede Nation eine eigene anthropologische Grundverfasstheit, die respektiert werden muss und der Rechnung zu tragen ist und deren Existenzberechtigung er dabei an mehreren Stellen hervorhebt.13 Arndt plädiert für kompakte Nationen. Das „Gleichgewicht der Völker“ ist ihm wichtiger als die Befriedigung des „Ausdehnungsdrangs eines jeden Staates“, wie wir es bei Fichte finden.14 Dieser politische Entwurf steht im Wesentlichen im Einklang mit seinen anthropologischen Ideen. Das änderte sich in den Jahren um 1810. Charakteristisch und das wichtigste Indiz dafür ist die von ihm seit 1815 ausführlich diskutierte Völkervermischung, deren Effekte er als „Verbastardung“ bezeichnet. Der Begriff der „Verbastardung“, der in seinen frühen

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Hier benutzt nach dem Nachdruck mit deutscher Übersetzung in: Gerettete Arndt-Schriften, hg. v. Albrecht Dühr und Erich Gülzow, Arolsen 1953, S. 1 – 51. Ernst Moritz Arndt, Versuch in vergleichender Völkergeschichte, Leipzig 21844, S. 26. Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit. Vierter Theil, Berlin 1818, S. 285. Ernst Moritz Arndt, Einleitung zu historischen Karakterschilderungen, Berlin 1810. Ausführlich über diese Aspekte handelt Rudolf Krügel, Der Begriff des Volksgeistes in Ernst Moritz Arndts Geschichtsanschauung. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft (Pädagogisches Magazin, 566), Langensalza 1914, S. 37 – 45. Ernst Moritz Arndt, Germanien und Europa, Altona 1803. Vgl. Paul Michael Lützeler, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1992, S. 59. Vgl. dazu Ingrid Hruby, Imago mundi. Eine Studie zur Bildungslehre Ernst Moritz Arndts (Europäische Hochschulschriften, R.11, Pädagogik 110), Frankfurt/M. 1981, S. 2 f. Vgl. Klaus von Beyme, Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien 1789 – 1945, Wiesbaden 2002, S. 441.

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anthropologischen Betrachtungen eher im Sinne rousseauscher Kultur- und Zivilisationskritik gebraucht und verstanden wurde, wird am Ende der Freiheitskriege zunehmend rassisch gefüllt. Das lässt sich vor allem in seiner Schrift Fantasien zur Berichtigung über künftige deutsche Verfassungen, die 1815 im Wächter erschien, beobachten.15 Arndt bezieht die „Verbastardung“ jetzt ausdrücklich auf die „verderbliche Vermischung der Völker miteinander, die Zusammenmischung zu vieler fremdartiger Bestandtheile“.16 Letztlich ist dieser Diskurs das argumentativ notwendige Gegenstück zu einer Behauptung, die ihm noch wichtiger ist: „Die Deutschen sind nicht durch fremde Völker verbastardet, sie sind keine Mischlinge geworden, sie sind mehr als viele andere Völker in ihrer angebornen Reinheit geblieben und haben sich aus dieser Reinheit ihrer Art und Natur […] entwickeln können; die glücklichen Deutschen sind ein ursprüngliches Volk.“ 17 Dieser Ursprünglichkeitsmythos geht bei Arndt, wie bei fast allen Zeitgenossen auch, auf die klassischen Berichte des Tacitus zurück.18 Arndt ging aber noch weiter, indem er das Gesagte zu einer Art biologistisch verstandenem Programm erhob. Er erklärt, „daß man einen unedlen Stamm durch häufige Mischung mit einem edleren bis zu einem gewissen Grade wohl geschwind scheinbar verbessern kann, daß aber diese Verbesserung auf die Dauer nicht anhält, sondern daß das Unedle, was übrig blieb, immer wieder zurückschlägt und das Edle allmählig wieder verschlingt; daß aber das andere viel mühseligere und viel langsamere Verfahren nie fehlt, welches aus jedem Stamm (gleichviel ob edel oder unedel) immer das Kräftigste und Schönste ausliest und miteinander zeugen läßt. So wird durch die Paarung des Gleichen und Zusammengehörigen miteinander allein ein edles und vorzügliches Geschlecht. […] jedes Volk wird nur dadurch das beste und edelste werden und das Beste und Edelste hervorbringen können, daß es immer das Kräftigeste und Schönste seines Stammes ausliest und miteinander zeugen läßt. […] Diese ­Theorie, die in der Regel gewiß Stich hält, sollte von den Gesetzgebern mehr ins Auge gefaßt werden und ist von einigen alten Gesetzgebern, w ­ elche die natürlichen Dinge mehr natürlich sahen und begriffen als wir, gewiß sehr ins Auge gefaßt 15 Ernst Moritz Arndt, Fantasien zur Berichtigung der Urtheile über künftige deutsche Verfassungen, zitiert nach: Ernst Moritz Arndt’s Schriften für und an seine lieben Deutschen. Zum ersten Mal gesammelt und durch Neues vermehrt, Zweiter Theil, Leipzig 1845, S. 319 – 462. 16 Arndt Ebd., S. 363. 17 Ebd. S. 376. 18 Vgl. Ernst Moritz Arndt, Ueber den deutschen Studentenstaat, in: Der Wächter, eine Zeitschrift in zwanglosen Heften, hg. von Ernst Moritz Arndt, Bd. 1, Köln 1815, S. 317 – 383, hier S. 359. Dort bemerkt Arndt: „Auf diese Reinheit und Ungemischtheit des Stammes muß ich nach meiner historischen Ansicht einen sehr großen Werth legen, ohne daß ich die Gründe und Beweise dieser Ansicht hier weiter durchführen kann. Tacitus hat vielleicht nicht gewußt, wie sehr er die alten Germanen gelobt hat, als er sagte, sie seyen ein reines mit keinen andern Völkern gemischtes und ihnen selbst nur gleiches Volk. Ohne fremde Reize und Triebe, ohne viele Stacheln früher entwickelter Sinnlichkeit oder früher verdorbener Künstlichkeit, w ­ elche die Reste untergegangener oder verdorbener Völker oft in die kräftigen und rohen hineinwerfen, haben die späteren Enkel jener Germanen wachsen und blühen können.“

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worden. Sie haben mehr auf reines und gleiches Blut gesehen als wir. Das Horazische ­Fortes creantur fortibus et bonis bleibt gewiß wahr.“ 19 Es ist auffällig, wie stark diese Aussagen von seiner 1803 in Germanien und Europa vorgelegter vergleichenden Typologie der europäischen Nationen abweichen. Die historische Entwicklung seit 1806 hat hier ganz sicher zu einer Radikalisierung nicht nur im politischen Denken Arndts geführt. Sie hat auch ethnozentristische Reinheitsphantasien befeuert, die man zuvor nicht bei ihm findet. Diese sind keineswegs eigenständig, sondern stehen in enger Abhängigkeit von der politischen Idee seiner Volkshass-Agenda, die er zwei Jahre zuvor in seiner Schrift Ueber Volkshass und den Gebrauch einer fremden Sprache 20 formuliert hatte. Hier vermischen sich auf brisante Art anthropologische und nationale Elemente zu einer kulturpolitischen Agenda, die für die spätere Arndt-Rezeption prägend werden sollte. Die Ausgangslage, mit der Arndt die Notwendigkeit des Volkshasses für die S­ chaffung und Erhaltung eines deutschen Nationalbewusstseins begründet, beschreibt er als Minder­ heitenposition der Deutschen. Von Gott ­seien sie in die Mitte Europas gesetzt, als ­dessen Herz und Mittelpunkt, als Kontakt- und Austauschzone für andere Kulturen und Völker. Als allem Fremden gegenüber aufgeschlossene Mittler gefährdeten sie sich in ­seinen Augen selbst am meisten. Als Nachahmer und Anverwandler fremder Kultur drohe ihnen, dass sie ihre Eigenart und Unverwechselbarkeit verlören. Im Volkshass formuliert Arndt also in erster Linie ein „kulturelles Differenzbewusstsein“.21 Hass wird auf dieser Ebene bei Arndt nicht als ausgreifendes, sondern als das Selbst eingrenzendes Phänomen gefordert. Der Volkshass ist ihm ein „heller Spiegel“,22 der das Eigene zu erkennen und zu bewahren gestattet und das, was nicht dazu gehört, ausschließt. Dabei setzt er dem Hass aber zugleich eine Grenze: „So bleibe denn der Haß als ein heiliger und schützender Wahn im Volke. Was durch Tugend, Wissenschaft, und Kunst bei dem einen Volke in seiner Art vortrefflich ist, das Große und Menschliche, was die erhabene Einheit und Göttlichkeit der Welt ausmacht, wird darum auch dem andern Volke angehören und als Gemeingut der Menschheit von ihm angenommen und geehrt werden. […] Auf dieser Höhe hört der Volkshaß auf; da beginnt die große Gemeinschaft der Völker, die allgemeine Menschheit, und da wird die Menschlichkeit und Liebe nimmer fehlen, die uns alle zu Kindern Eines Gottes und Einer Erde macht. Jede Tugend und Größe durchbricht von selbst die Schranken, w ­ elche ­zwischen Menschen und Völkern stehen; wer da noch hassen kann, der ist ein Barbar oder ein Thier. Ein solcher bin ich nicht, wenn sie auch sagen, dass ich es bin.“ 23 19 Arndt (wie Anm. 15), S. 368 f. 20 Ernst Moritz Arndt, Ueber Volkshaß und den Gebrauch einer fremden Sprache, Leipzig 1813. 21 Wolfgang Kaschuba, Ernst Moritz Arndt: (M)Ein Volksfreund?, in: Volksfreunde. Historische Varianten sozialen Engagements, hg. v. Bernd Jürgen Warneken, Tübingen 2007, S. 33 – 41, hier S. 36 f. 22 Arndt (wie Anm. 20), S. 16. 23 Ebd., S. 20 f.

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Mit dieser begrifflichen Gradation des Volkshasses als anthropologisches Prinzip von Projektion und Reflexion,24 hinter dem unangetastet das Allgemeinmenschliche steht, mag Arndt glauben, der geltenden Auffassung von Liebe und Menschlichkeit nicht zu nahegetreten zu sein. Er scheint auch zu meinen, dass der von ihm geforderte Volkshass nicht individualisiert werden könne. Denn „als ganzes Volk mit ganzem Volke“, betont er, würden die Menschen nur im Krieg miteinander zu tun haben, wenn ein Volk nämlich versuche, das andere zu unterjochen. „Und da“, so Arndt weiter, „ist es gut für sie und für die Welt, wenn sie mit recht heißem Haß einander begegnen, und wehren, daß solches nicht geschehe.“ 25 Im emotionalen Gesamthaushalt der Nation müsse darum folgerichtig der Volkshass auch dauerhaft sein, von Generation zu Generation vererbt. Das hier einem eher zeitgebundenen emotionalen Impuls oder Affektdenken im Kontext der Napoleonischen Kriege der Anstrich eines gelehrten Gedankengebäudes gegeben werden sollte, ist offensichtlich. Weder die unendliche Fortsetzung des Volkshasses noch die Unterscheidung des jeweils Eigenen der Völker vom dem „allgemein Menschlichen“ war den einfachen Zeitgenossen verständlich. Beides war eine gefährliche pseudointellektuelle Spielerei, die offensichtlich an Instinkte appellierte, nicht an den Verstand. An Arndts Volkshass-Schrift von 1813 haben sich immer wieder Kontroversen entzündet. In den jüngeren historischen Bewertungen hat man Arndt vor allem vorgeworfen, dass er von dieser Sicht, gerade im Verhältnis zu den Franzosen auch nach dem Ende der Befreiungskriege nicht abgerückt sei. Tatsächlich ist das nicht ganz richtig – wie ein gründlicherer Blick auf die dritte Entwicklungsphase in Arndts Volksbegriff, in den 1840er Jahren, zeigt. Während wir in der Zeit seines Berufsverbots kaum Äußerungen zu ­diesem Thema finden, setzt unmittelbar nach der Begnadigung seine erneute und öffentliche Auseinandersetzung damit ein. Schon in seinem weitgehend unbekannten Essay Talleyrand 26 von 1842 lässt sich ein Abrücken von der Volkshass-Agenda beobachten. Statt des Volkes rückt Arndt hier die ­Kultur, in ­diesem Falle die hegemoniale Stellung der französischen Kultur, in den Fokus und versieht seine Kritik mit einer antiaristokratischen Spitze. Er sorgt sich hier ausdrücklich nicht mehr um den früher befürchteten Identitätsverlust des deutschen Volkes, sondern um die Folgen der französisch geprägten höfischen Erziehung auf den Charakter der adligen Eliten. Damit entfällt das wesentliche Motiv, das seine Volkshass-Schrift getragen hatte. Nur vier Jahre ­später wurde Arndt noch deutlicher. Damals forderte Ferdinand ­Delbrücks Kritik an der Unzeitgemäßheit von Arndts populärem Lied Was ist des Deutschen Vaterland? den inzwischen fast 80-Jährigen zu einer öffentlichen Stellungnahme heraus.27 24 Kaschuba (wie Anm. 21), S. 37. 25 Arndt (wie Anm. 20), S. 20. 26 Ernst Moritz Arndt, Talleyrand, in: Ernst Moritz Arndts Schriften für und an seine lieben Deutschen. Zum ersten Mal gesammelt und durch Neues vermehrt, Dritter Theil, Leipzig 1845,S.  345 – 382. 27 Das Volkslied: Was ist des Deutschen Vaterland? Würdigung desselben von Ferdinand Delbrück. Nebst Zuschrift an E. M. Arndt und Erwiderung von ihm, Bonn 1846.

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­Delbrück machte Arndt verschiedene Vorhaltungen, von denen in ­diesem Zusammenhang aber vor allem die Kritik am achten Vers des Liedes interessiert. 1813 hatte Arndt gedichtet, das deutsche Vaterland sei, „wo jeder Franzmann heißet Feind / wo jeder Deutsche heißet Freund“ – und eben diese, gleichsam ein ganzes Volk umfassenden Feindschaft hielt ­Delbrück für bedenklich. Arndt erklärte in einer öffentlichen Stellungnahme den Vers mit den historischen Umständen der Napoleonischen Kriege und fügte hinzu: „Dieser Vers, damit verderblicher Volkshaß nicht gemehrt werde, darf eben jetzt so nicht mehr gesungen werden, sondern ist zu folgenden Worten umgewendet, die Sie in der letzten Ausgabe meiner Gedichte vom Jahr 1843 lesen können: ,Was ist des Deutschen Vaterland? / Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand, / Wo walsch und falsch hat gleichen Klang / Und deutsch meint Herzensüberschwang.‘“ 28 Auch wenn das manchem schon damals nicht weit genug ging: Schlussendlich wendete Arndt sich vom „verderblichen Volkshaß“ – wie er ihn selbst nannte – ab. So wurde es jedenfalls von den Zeitgenossen interpretiert. Ein damaliger Rezensent, der den Streit kommentierte, betonte denn auch, Arndt meine, dass heute der „deutsche Wille ein anderes Vaterland zu erstreben hätte, als ein Franzmannen und Wälschen feindliches“.29 Fragt man sich nun, warum am Ende seines Lebens verglichen mit der Volkshass-Schrift von 1813 kaum mehr als eine diffuse Abneigung gegen „fremde“ und „wälsche“ S­ itten übrig blieb, so ist das zum einen natürlich mit veränderten politischen Umgebungsverhältnissen zu erklären, zum anderen aber vielleicht auch mit einer politischen Einsicht, die Arndt erkennen ließ, dass Volkshass kein integraler Bestandteil eines künftigen deutschen Nationalbewusstseins sei. Dieser Aspekt kann hier nicht weiterverfolgt werden, obwohl das sowohl reizvoll als auch möglich wäre. Stattdessen soll der Frage nachgegangen werden, ob der Widerruf der Volkshass-Agenda irgendeine Entsprechung in Arndts Anthropologie findet. Tatsächlich erschienen ja zur selben Zeit in schneller Folge zwei umfangreichere Werke, die Arndt explizit anthropologischen ­Themen widmete: der Versuch über vergleichende Völkergeschichte 30 (1843) und Die Persönlichkeit oder das Gepräge des Volks, was man wohl Charakter zu nennen pflegt, vorzüglich in Beziehung auf das deutsche Volk 31 (1847). Beide Werke sollen hier etwas eingehender betrachtet werden. Das ist schlicht geboten, weil dieser Teil des Spätwerkes wenig bekannt ist und in den Diskussionen zum Thema bisher kaum eine Rolle spielte. Dabei stellt die Schrift von 1847 in vielerlei Hinsicht nicht nur eine Ergänzung zu den Sichten dar, die bisher vorgestellt wurden. Sie ist geradezu 28 Delbrück (wie Anm. 27), S. 24 f. Vgl. dazu und zu ähnlichen Überarbeitungen von Arndts populären Gedichten auch den Beitrag von Müller-Waldeck in ­diesem Band. 29 Blätter für literarische Unterhaltung, Leipzig 1846, Bd. 2, S. 1431 f. 30 Vgl. Anm. 7. 31 Ernst Moritz Arndt, Die Persönlichkeit oder das Gepräge des Volks, was man wohl Charakter zu nennen pflegt, vorzüglich in Beziehung auf das deutsche Volk, 1847, zitiert nach Ernst Moritz Arndts Schriften für und an seine lieben Deutschen. Zum ersten Mal gesammelt und durch Neues vermehrt, Vierter Theil, Berlin 1855, S. 55 – 153.

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eine Abkehr, ja teilweise ein Widerruf von früheren Ansichten, nicht nur hinsichtlich der ethnischen „Reinheit“ der Deutschen, sondern auch der „­ Völkervermischung“ im Allgemeinen.32 Arndt ging in seinem Alterswerk nämlich von der alttestamentlich begründeten monogenetischen Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung aller Menschen aus: „Wir mögten bei d ­ iesem Anblick [der verschiedenen Völker und ihrer Geschichte] glauben, an der Wiege so ungeheurer Verschiedenheiten und Stufen hätten auch verschiedene Adame und Even gestanden, aber der Naturkundige sagt uns: was mit einander zeugt und artet, ist Eines Stammes, und das sogenannte Gesetz der Sparsamkeit oder vielmehr der Weisheit Gottes befiehlt, daß wir glauben sollen, alle diese Verschiedenheit sey doch aus Einem Menschenpaar entsprungen.“ 33 Diese Ausgangslage fordert auch die Bejahung einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Menschen, die Arndt selbstverständlich bestätigt: „Gott hat alle Menschen in gleicher Würde und zur möglichen Erreichung gleicher Würdigkeit geschaffen; […] denn das ist Gottes auch von mir geglaubtes Geheimniß.“ 34 Dass diese Auffassung eine biologistisch geprägte Vorstellung von Rasse nicht zulässt, liegt eigentlich auf der Hand. Die klare Absage an das noch 1815 erklärte biologische Konzept folgt bei Arndt demnach auf dem Fuß. Hören wir ihn selbst: „Nach den Beschreibungen der Alten, vorzüglich nach Tacitus, welcher nach der Meinung Vieler die Germanen in einem zu hellen Spiegel gesehen und in mancher Hinsicht zu schön gemalt hat, ward früher ein ungemeines Gewicht darauf gelegt, daß die unendlichen Völkerschaften der Germanen alle doch als ein einiges, großes, ungemischtes Volk von Einer Art, Sitte, Gestalt, Sprache erschienen, daß sie ein einartiges reines Geschlecht seyen. […] Aus dieser Reinheit und Ungemischtheit des Stammes haben Manche auch eine gewisse Vorzüglichkeit und Adlichkeit des ganzen Germanenvolkes herleiten wollen; aber das ist eine leidige, verfängliche, zu vielen verderblichen Herleitungen und Zwisten verführende und durch keine Erfahrung unterstützte und bestätigte Meinung. Wir sehen in der Geschichte viel Gemischtes, was vorzügliches Talent und große Tugend offenbart, wenn wir gleich nicht läugnen können, daß da, wo vielfache Mischungen verschiedenartiger Völker sich begeben, eine gewisse Leichtfertigkeit, Unstetigkeit und Wildheit der Triebe sich gar häufig zeigt. Dies hat aber vielleicht, und zwar sehr wahrscheinlich, nicht sosehr in der Mischung des Vielerlei seinen Grund, als in einem andern, dieselbe fast immer begleitenden Umstande. Dergleichen Mischung nämlich geschieht gewöhnlich an großen Völkerscheiden, wo oft drei, vier verschiedenartige Völker an einander gränzen, meistens an wüsten oder wüstgemachten Gegenden oder in Gebirgen, wo eben durch den häufigen Zusammenstoß dieser Verschiedenartigen im Krieg und im Frieden, durch den Zusammenlauf von leichtem oder räuberischem Gesindel, durch verbotenen und gesetzlosen Verkehr ein verdorbenes Menschengeschlecht erzogen 32 Diese Beobachtung schon bei Hertz (wie Anm. 3), S. 67. 33 Arndt (wie Anm. 30), S. 9. 34 Ebd., S. 12.

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wird, das sich in dem Enkel und Urenkel so fortpflanzt. Es erscheint also, das wahrscheinlich nicht die Mischung an sich, sondern die Mischung gerade aus solchen Menschen und unter solchen Oertlichkeiten, Umständen und Verhältnissen an solcher Entwickelung und Erscheinung schuld sind.“ 35 Es fällt – nebenbei bemerkt – ins Auge, dass Arndt in d ­ iesem Text die Metapher vom „hellen Spiegel“ aufgreift und damit gewissermaßen seine Volkshass-Schrift von 1813 zitiert. Das ist ein weiteres Indiz – abgesehen von der inhaltlichen Seite, auf die gleich e­ ingegangen wird – dass er hier mit seinem alter ego der Befreiungskriege ins Gericht geht und nicht mit irgendeiner anonymen These.36 Wie radikal die Abkehr Arndts tatsächlich war, kann man erst ermessen, wenn man seine Charakterisierung der Deutschen in derselben Schrift zur Kenntnis nimmt. Von der Verherrlichung des deutschen Volkscharakters, einer vor allem als Konfrontation zu den „Welschen“ formulierten schutzbedürftigen germanischen Identität, als Teil einer anschaulichen mythischen Narration zur Versinnlichung der Nation,37 findet man dort nichts mehr. Den aufrichtigen, ehrbaren, einfachen, bodenständigen, treuen und freiheitsliebenden Germanen, der dem überzivilisierten, verweichlichten, durch Luxus verdorbenen „Welschen“ ganz im Sinne der auf Tacitus zurückgehenden Völkerstereotype gegenübergestellt wurde und im Zuge der Benennung nationaler Charaktereigenschaften bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zum Grundbestand des nationalen Germanenmythos gehörte,38 unterzieht Arndt jetzt einer gründlichen Kritik. „Vieles gar nicht Schmeichelhaftes“ 39 über den deutschen Charakter hat er mitzuteilen. „Wir sind ein schweres Volk und fühlen die Arbeit und Noth der Welt und die Aufgabe des Lebens oft viel schwerer, 35 Arndt (wie Anm. 31), S. 83 f. 36 Die Metapher wird von Arndt sonst nicht häufig und ausschließlich im Frühwerk vor 1815 bemüht – soweit ich sehen kann. Außer in den hier genannten Werken taucht sie nur noch in den Briefen an Freunde, in den Fantasien für ein künftiges Deutschland, im dritten Teil des Geist der Zeit und im ersten Band der Fragmente über Menschenbildung auf, aber jeweils in anderem Zusammenhang; vgl. Ernst Moritz Arndt, Briefe an Freunde, Altona 1810, S. 9, E. von S., Fantasien für ein künftiges Teutschland, hg. v. Ernst Moritz Arndt, Frankfurt am Main 1815, S. 24; Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, Dritter Theil, [London] 1813, S. 435; Ernst Moritz Arndt, Fragmente über Menschenbildung, Bd. 1, Altona 1805, S. 18. 37 Vgl. dazu Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos (Rowohlts Enzyklopädie, 568), R ­ einbek 1996, S. 128. 38 Ute Schneider, Die Erfindung des Bösen: Der Welsche, in: „Gott mit uns“. Natur, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hg. v. Gerd Krummeich und H ­ artmut ­Lehmann, Göttingen 2000, S. 37 – 51, S. 39; vgl. für das Fortwirken auch Dörner (wie Anm. 37), S. 130 ff.; Peter von Polenz, Zwischen „Staatsnation“ und „Kulturnation“. Deutsche Begriffsbesetzungen um 1800, in: Sprache und bürgerliche Nation. Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Dieter Cherubim, Siegfried Grosse und Klaus J. Mattheier, Berlin 1998, S. 55 – 70, hier S. 61, 65. 39 Arndt (wie Anm. 31), S. 110.

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als gut und recht ist; und ­dieses uns oft schwächende und übermannende Gefühl macht uns häufig sowohl leiblich als geistig auch da schwerfällig, wo wir leicht leben und leicht tragen könnten und sollten.“ 40 Und wie weit ist es mit den gescheiten Deutschen her? – „So viele kindliche, einfältige Menschen, aber auch so auserlesene köstliche Dummköpfe als Deutschland“, meint er, könne kaum eine andere Nation aufweisen. 41 Die hochgepriesene deutsche Kunst und Wissenschaft bekommen ebenso ihren Teil, denn „unsere angeborne, so oft schon genannte Schwere bringt auch da eine Schwerfälligkeit, Ungewandtheit, Farblosigkeit, Unklarheit und Neblichkeit, etwas Unbestimmtes, Zerfließendes und Dämmerndes hervor, wo es immer hell und klar seyn sollte, nämlich in der geistigen Darstellung und in der darstellenden Kunst. Gerade hier darf man die strengen Urtheile der Fremden am wenigsten überhören; in dem Vorwurfe einer solchen Schlottrigkeit, Farblosigkeit und Neblichkeit ist nur zu viel Wahres.“ 42 Und vollends die „Kerntugenden“ des Deutschen halten dem kritischen Blick Arndts nun nicht mehr Stand. „Gutmüthig­keit, Redlichkeit und Treue, Tugenden, die er sich ganz freiwillig und so beilegt, als verständen sie sich von selbst wie deutsche Haus- und Familientugenden und würden wenigstens im deutschen Grade bei andern Völkern nicht gefunden. […] Es wird diese Ueberschrift von den meisten Deutschen gewöhnlich in solcher Breite ausgesprochen, als könnte darunter mit Sicherheit schon gestellt werden, was deutscher Charakter heißen sollte. […] Aber fehlen denn diese Tugenden irgendwo in der Welt so ganz und gar, daß wir sie gleichsam als ganz besondere deutsche Tugenden mit großer Selbstgefälligkeit ausrufen müssen? Können sie fehlen? Gottlob nein! nirgends wo Menschen sind. […] Aber die Treue selbst, d ­ ieses gewaltige Wort, dürfen wir in der ganzen vollen Bedeutung es uns mit gutem Gewissen nehmen? Ich zweifle. […] müssen wir hier, bei dem Klange d ­ ieses gewaltigen Namens, nicht vor vielen Völkern, namentlich vor Engländern, Spaniern, Franzosen und Russen die Augen niederschlagen? […] für das Große sieht es mit dem Ruhm der deutschen Treue bedenklich aus.“ 43 Der hier gebotene knappe Überblick zeigt, dass es nicht den einen unwandelbaren Volksbegriff in Arndts Werk gibt. Seine Vorstellungen, die in den Jugendjahren noch der Herder’schen Völkerpsychologie verwandt sind, radikalisieren sich während der Befreiungskriege bis an die Grenzen eines biologisch determinierten Rassismus. Von solchen Vorstellungen wendete er sich in den 1840er Jahren wieder ab und revidierte sie umfassend. Dieses Ergebnis macht es schwer, Arndt mit dem einen oder anderen Etikett zu versehen. Es zeigt auch, dass es durchaus sinnvoll und ertragreich ist, sich – gerne auch wiederholt 44  – 40 41 42 43 44

Ebd., S. 112. Ebd., S. 113. Ebd., S. 121. Ebd., S. 123, 125, 126. Die hier vorgetragenen Argumente beruhen weitgehend auf einem 2010 veröffentlichten Essay: Dirk Alvermann, Über Arndt, in: Wortmeldungen zu Ernst Moritz Arndt, hg. v. Irmfried Garbe, Greifswald 2010, S. 17 – 32.

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mit nationalen Denkmalen in ihrer Widersprüchlichkeit ­auseinanderzusetzen.45 Sie sind gewisser­maßen verkrustet von Zuschreibungsphänomenen, überzogen mit einer Patina aus Rezeption und Instrumentalisierung, die ihnen ihre heute wahrnehmbare Gestalt gibt. Sicher ist kein Aspekt dieser Gestalt zufällig, sondern in Werk und Leben angelegt. Bei Arndt ist das nicht anders. Den neugierigen, aufgeschlossenen jungen Mann, dem wir wunderbare Reiseberichte und die fulminanten Frühwerke Ein menschliches Wort über die Freiheit der alten Republiken 46 oder Germanien und Europa 47 verdanken, nehmen wir heute fast genauso wenig wahr, wie den nachdenklichen Alten in den ’80ern, der das eigene Werk und seine Vorurteile hinterfragte. Arndt war dieser Umstand vermutlich bewusst. Er war schließlich schon zu Lebzeiten ein Monument geworden, nicht nur im übertragenen Sinne. In der öffentlichen Wahrnehmung blieb das Bild konserviert, das er in seiner publizistisch einflussreichsten Schaffensphase geboten hatte – der Trommler der Befreiungskriege, der Franzosenfresser, der Aufpeitscher. Was er ­später in den 1840er Jahren schrieb, dürften seine Zeitgenossen, gemessen daran, kaum wahrgenommen haben. Das hat ihn nicht daran gehindert, solchen Ideen, die er einst selbst befeuert hatte, im Alter entgegenzutreten. In einem seiner letzten Werke, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein,48 erteilte Arndt 1858 den in Mode kommenden rassenbiologischen Überlegenheitsträumereien einiger Zeitgenossen ausdrücklich und auch recht witzig eine Abfuhr: „Hiebei sei ein für alle Mal gesagt und zwar gegen Diejenigen, ­welche immer mit der feinsten weißen Haut und den silberklarsten blauen Augen als dem Urstämpel des edelsten Menschen und dem ächtesten Geniezeichen herankommen, daß die Beiden größten Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts, Göthe und Stein, aus braunen Augen die Welt anschauten.“ 49

45 Gunnar Müller-Waldeck, Ernst Moritz Arndt heute: Vom Nutzen, sich Widersprüchen zu stellen, in: Schriftenreihe der Ernst-Moritz-Arndt-Gesellschaft e. V., Groß Schoritz 2020, S.  6 – 17. 46 Ernst Moritz Arndt, Ein menschliches Wort über die Freiheit der alten Republiken, Greifswald 1800. 47 Arndt (wie Anm. 11). 48 Ernst Moritz Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn ­Heinrich Karl Friedrich von Stein, Berlin 1858. Vgl. zum Werk und zu seiner Geschichte den Beitrag von Heinz Duchhardt in ­diesem Band. 49 Arndt (wie Anm. 48), S. 61. Vgl. handschriftliche Fassung des Zitats in Abb. 2 des Beitrags von Heinz Duchhardt in ­diesem Band.

Vom Durst nach Franzosenblut Beobachtungen um Arndts ­Hassgesänge und ihr historisches Schicksal Gunnar Müller-Waldeck

„Möge das unreine Blut unsere Ackerfurche tränken“ heißt es in der Marseillaise, ein blutrünstiger Hassgesang gegen die blutrünstigen Tyrannen dieser Welt, schon lange und bis heute die Nationalhymne der französischen Republik. Kampflieder dieser Art sind in der Geschichte immer wieder Fanal gewesen. Sie haben die Kämpfer ausgerüstet mit der inneren Statur und Motivierung, unter Missachtung des eigenen Lebens politische Ziele militärisch erfolgreich durchzusetzen. Höhepunkt blutrünstiger Gewaltdichtung der Befreiungskriege 1813/1815 war sicherlich Theodor Körners Lied von der Rache 1 (Melodie: Die Wacht am Rhein), das dessen Vater Gottfried Körner, der Schiller-Freund und -Vertraute, nicht in die posthume Anthologie Leyer und Schwerdt hatte aufnehmen wollen 2 und das angeblich erst seine Witwe kurz vor ihrem Tod (1843) „frei gab“.3 Darin heißt es dann u. a.: Drauf, Brüder, drauf mit Büchse, Schwert und Lanze Drauf, drauf mit Gift und Dolch!

Und weiter: „Was Völkerrecht? – Was sich der Nacht verpfändet, / Ist reine Höllensaat“. Und mit unübersehbarer Drastik wird formuliert „…denkt der verrat’nen Brüder / Und sauft euch satt in Blut!“ Weiter ist zu lesen: Ha, ­welche Lust, wenn an dem Lanzenknopfe Ein Schurkenherz zerbebt Und das Gehirn aus dem gespalt’nen Kopfe An blut’gen Schwerte klebt!

Das Ganze schließt mit den Reimen:

1 Theodor Körner, Lied von der Rache, in: Werke Bd. I, Leipzig und Wien 1893, S.120 f. In die populären Ausgaben wurde es nach wie vor nicht aufgenommen. 2 Theodor Körner, Leyer und Schwerdt. Einzige rechtmäßige, von dem Vater des Dichters veranstaltete Ausgabe, Berlin 1814 (mehrere Nachauflagen). 3 Vgl. Theodor Körner, Sämmtliche Werke. Vollständigste Ausgabe in 3 Theilen. Mit dem Bildnisse des Dichters und dem Facsimile seiner Handschrift, Berlin o. J. [1845].

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Gott mit uns! – Der Hölle Nebel weichen Hinauf, du Stern, hinauf! Wir türmen dir die Hügel ihrer Leichen Zur Pyramide auf! Dann brennt sie an, – und streut es in die Lüfte, Was nicht die Flamme fraß! Damit kein Grab das deutsche Land vergifte Mit überrhein’schem Aas.4

Auch die sogenannten modernen Kriege des 20. Jahrhunderts, von „modernen“ nationalistischen Ambitionen getragen, verzichteten nicht auf grobe Propagandatexte in „lyrischer“ Form: „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Britt, jeder Klapps ein Japs!“ Hier wurde sogar noch eine Art von Humor „eingearbeitet“. Wenn schon der Dialektiker Brecht seinen Kampfgefährten und den Nachgeborenen zuraunte: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge, auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser“, dann gilt dies umso mehr für das „poetische Sprechen“ und die nationalistische Attitüde der großen politischen Mächte seiner Zeit und ihrer poetischen Künder. Die ­kurzen Halbwertzeiten dichterischer oder zumindest gereimter Produkte nationalistischen Herkommens – wie oben beschrieben – sind literaturhistorisch gewöhnlich absehbar, es sei denn, neue kriegerische Kollisionen der Weltmächte sorgten für neue propagandistische Brauchbarkeit. Eine laute zeitgenössische Stimme im Chorus der Freiheitssänger von 1813 – 1815 ist vor allem Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860) geworden. Mit Denkmalen und Straßennamen schon vor und dann vor allem in der Kaiserzeit ausgiebig geehrt – Arndt war vom preußischen König schon 1840 (nach dem Tode seines Vaters Friedrich Wilhelms III.) vom „Demagogen“-Vorwurf rehabilitiert worden –, 1870/1871 und in den Weltkriegen aufs Panier erhoben, würdigten nach der Spaltung Deutschlands nach 1945 Medaillen und Briefmarken in Ost und West sein patriotisches Dichten und seine Publizistik – jeweils unter gegensätzlichen politischen Aspekten –, während er heute als Autor weitgehend in Vergessenheit geraten sein dürfte. Die wilhelminische Literaturgeschichte von Robert Koenig (1886) eröffnete die ArndtWürdigung mit dem Satz: „An der Spitze der Vaterlandsdichter steht ein Mann, dessen Name noch heute jedes echten und rechten Deutschen Herz höher schlagen macht, Ernst Moritz Arndt, der vom achtzehnten bis ins neunzigste Jahr sich die Sangeskraft und Sanges­ lust lebendig erhalten hat.“ 5 Auch er war in Fragen kriegerischer Drastik und hinsichtlich eines wirkungsvollen Feindbildes nicht zurückhaltend. Jüngere Kämpfer und Autoren wie Theodor Körner 4 Körner (wie Anm. 1). 5 Robert Koenig, Deutsche Literaturgeschichte Achtzehnte Auflage, Bielefeld und Leipzig, 1886, S. 582.

Vom Durst nach Franzosenblut

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Abb. 1: Patriotische Dichter um 1812/1813: Ludwig Uhland (1787 – 1862), Theodor Körner (1791 – 1813), Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860), Friedrich Rückert (1788 – 1866), hinzu gehörte der hier nicht abgebildete Max von Schenkendorf (1783 – 1817). Aus: Friedrich Kreyßig, Die Dichter der Befreiungskriege, Leipzig 1870, S. 214

(„Du sollst den Stahl in Feindesherzen tauchen“) und Max von Schenkendorf („Denn nur Eisen kann uns retten / und erlösen kann nur Blut / Von der Sünde schweren Ketten, / von des Bösen Übermuth“) hatten es vorgemacht und mit den Metaphern Blut und Eisen aufgewartet, Umschreibungen eines heroisch-paternalistischen Wertesystems, das auf der vagen Vorstellung eines wehrhaften Volkskaisertums gründete. Hier hatte sich der rund 20 Jahre ältere Arndt feurig eingereiht und das Seine geliefert. Blut und Eisen – nicht zufällig griff Bismarck ­später diese Begriffe auf –, sie wurden eine Art Logo seiner Politik, allerdings bei einer sorgsam ausbalancierten deutschen Ostpolitik, die zu seinen historischen Leistungen gehört. Bei Arndt, einem Mann der Feder, sind es besonders die waffenklirrenden und franzosenfeindlichen Lieder und Gedichte, die in den Widerstandsjahren gegen die französische Okkupation „ins Volk“ drangen und das heißt, ihren Platz in Anthologien und Liederbüchern fanden und Franzosenhass als patriotische Grundhaltung priesen. In seinem Vaterlandslied Was ist des deutschen Vaterland? heißt es auf diese leitmotivische Frage u. a.: „wo jeder Franzmann heißet Feind und jeder Deutsche heißet Freund“ – eine politische Kampfparole, die im Laufe seines langen Lebens einige aufschlussreiche

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Umformungen erlebte und sein Reim-Repertoire immer neu herausforderte.6 1843 verwirft er diesen Reim der Urfassung und schreibt nun als Antwort auf die deutsche Vaterlandsfrage: „wo walsch [= welsch] und falsch den gleichen Klang und deutsch meint Herzensüberschwang“, eine etwas nebulos-romantisch formulierte Phrase.7 Auch damit scheint er auf Dauer nicht zufrieden gewesen zu sein und bosselte weiter daran herum. 1858 stoßen wir im Allgemeinen Deutschen Kommersbuch des Moritz Schauenburg zu der eigens von ihm autorisierten Neufassung: „wo jeder Frevler heißet Feind und jeder Edle heißet Freund“,8 eine Formulierung, die auf jeden Nationalismus verzichtet. Wenn man nun eine Entwicklungslinie vom nationalistischen Hass-Sänger zum eher friedfertigen Formulierer ziehen möchte und mutmaßt, der Text sei nunmehr vom alten, friedlich gewordenen Kämpen hinaufgeläutert worden bis zu jener „Fassung letzter Hand“, die 1858 abgedruckt wird, muss überrascht sein, wenn er eben diese scheinbar neue Formulierung bereits 1818 in Albert Methfessels broschiertem Allgemeinen Commers-und Liederbuch, also bereits sechs Jahre nach dem Entstehen des Liedes entdeckt!9 Oder hatte Methfessel, der erste Komponist, hier selbst Hand an den Text gelegt? Urheberrechtsfragen wurden damals nicht ganz so streng gesehen wie heute. Und wurde diese Version von Friedrich Silcher und Friedrich Erk, den Herausgebern des bei Schauenburg verlegten Allgemeinen Deutschen Kommersbuchs von 1858 dem alten Arndt lediglich zur Autorisierung vorgelegt, also: „vorgeschlagen“? Denn mit Sicherheit hat er den Herausgebern damals nicht nur sein neuentstandenes „Eisenlied“ (Anfang und Ende 1856) übergeben (nicht zu verwechseln mit dem Vaterlandslied von 1813 (Der Gott, der Eisen wachsen ließ und dem Lob des Eisens s. u.), sondern sich bei der Gelegenheit auch den Gesamtbestand der aufgenommenen Arndt-Lieder angesehen. Auch das berühmte Vaterlandslied: Der Gott, der Eisen wachsen ließ, Der wollte keine Knechte, Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß Dem Mann in seine Rechte, Drum gab er ihm den kühnen Muth, Den Zorn der freie Rede, Daß er bestände bis aufs Blut, Bis in den Tod die Fehde. 6 Ernst Moritz Arndt, Lieder für Teutsche, o. O. 1813, S. 81. Der Erstdruck findet sich bereits im Liederanhang der ersten beiden Auflagen des anonym publizierten Soldatenkatechismus, vgl. Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten, Petersburg 1812, S. 91. Von hier übernahm ihn Arndt dann 1813 in die Auflagen des weitverbreiteten Katechismus für den teutschen Wehrmann. 7 Ernst Moritz Arndt, Gedichte – der neuen Ausgabe zweite vermehrte Auflage, Leipzig 1843, S. 207. 8 Schauenburgs allgemeines Deutsches Kommersbuch unter musikalischer Reaktion von Friedrich Silcher Friedrich Erk, Lahr 1858, S. 114. 9 Albert Methfessel, Allgemeines Commers- und Liederbuch, Rudolstadt 1818, S. 97.

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blieb textlich nicht in der Urform, in der es lautete: Wir wollen heute Mann für Mann Mit Blut das Eisen röthen, Mit Feindesblut, Franzosenblut – o süßer Tag der Rache! Das klinget allen Deutschen gut, Das ist die große Sache.10

Daraus wurde über den Umweg mit „Henkerblut, Franzosenblut“ 11 die letzte Arndt-Version „mit Henker- und mit Knechteblut“.12 Zudem wurde es im Kommersbuch von 1858, wo die Fassung letzter Hand unterbreitet wird, rückdatiert auf 1813.13 Im Gewirr der ­Versionen geht der letzte Wille des Autors gelegentlich unter, der Komponist Albert Methfessel, der die Melodie lieferte, druckte es 1818 in seinem Allgemeinen Commers- und Liederbuch natürlich auch in Arndts damaliger Version: „Mit Feindesblut!“ 14 Ob der Sinneswandel bzw. die merkliche „nationalistische Abrüstung“ dieser Passage lediglich der wachsenden „Altersweisheit“ des Dichters geschuldet war, wird sich im Nachhinein kaum ergründen lassen. Immerhin gab es in dieser Zeit zumindest Arndt-kritische Stimmen. In mindestens zwei Publikationen, die Arndt gekannt und nicht ohne Aufmerksamkeit gelesen haben dürfte, könnten bei ihm Nachdenklichkeit angestoßen haben, denn beide wurden von achtbaren Autoren vorgelegt, deren Argumente nicht abgetan werden konnten. 1843 wurde der dritte und abschließende Kommentarband eines umfangreichen Anthologie-Unternehmens von Heinrich Kurz (1805 – 1873) vorgelegt, das Handbuch der poetischen Nationalliteratur der Deutschen von Haller bis auf die neueste Zeit.15 Die ersten beiden Bände, 1840/1842 erschienen, nahmen von Arndt sechs Gedichte auf, darunter die Erstfassung des besagten Vaterlandsliedes und Deutscher Trost, in dem die deutschen National­ tugenden gepriesen werden: Wohl steht dir das grade Wort, Wohl der Speer, der grade bohrt, 10 11 12 13

Arndt (wie Anm. 5), S. 82. Methfessel (wie Anm. 6), S. 14. Schauenburgs allgemeines Deutsches Kommersbuch (wie Anm. 8), S. 14. Ebd. Das Internet-Gutenberg-Projekt präsentiert das Lied in der „Franzosenblut“-Version und datiert es richtig mit 1812. Zur Editionsgeschichte vgl. Gisela Probst-Effah, Zur Geschichte des Liedes „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“, in: Ad marginem, 45 (1980), S. 68. 14 Albert Methfessel, All gemeines Commers-und Liederbuch, Rudolstadt 1818, S. 124 f. 15 Handbuch der poetischen Nationalliteratur der Deutschen von Haller bis auf die neueste Zeit, vollständige Sammlung von Musterstücken aus allen Dichtern und Dichtungsformen, nebst Angabe der frühern Lesarten, biographischen Notizen und literarisch-ästhetischem Kommentar, hg. v. Heinrich Kurz, 4 Bde. Zürich 1840 – 1846.

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Wohl das Schwert, das offen ficht Und von vorn die Brust durchsticht. Laß den Wälschen Meuchelei, Du sei redlich, fromm und frei, Laß den Wälschen Sklavenzier, Schlichte Treue sei mit dir!16

Auch wird neben „deutscher Freiheit“ auch ein „deutscher Gott“ beschworen. Ebenso wie die in die Sammlung aufgenommenen Gedichte zeugen die nicht aufgenommenen von der Absicht des Anthologisten, nicht allzu sehr im blutrünstigen Duktus der Rache zu schwelgen. Mir scheint, Kurz präsentierte die frankreichfeindlichen Passagen vorwiegend als Belege für die ­später vorgelegte spürbar distanzvolle Kommentierung. So fehlt das Vaterlandslied mit den Worten: „Wir wollen heute Mann für Mann / Mit Blut das Eisen röthen“, völlig. Auch steht stellvertretend für die sieben Apotheose-Gedichte auf Helden der Befreiungskriege Das Lied vom Feldmarschall und z. B. nicht das blutrünstigere Lied vom Schill („Sechshundert Reiter mit redlichem Muth, / Sie dürsteten alle Franzosenblut. […] Ihr Schützen, Gott segne euch jeglichen Schuß, / Durch ­welchen ein Franzmann erblassen muß.“) Der Herausgeber Kurz kommentierte 1843: „Von glühendem Franzosenhaß erfüllt, dem er [Arndt], wie die meisten seiner Zeitgenossen, auch dann noch nicht entsagen konnte, als die Zeit desselben verschwunden war, trug er denselben in alle seine prosa­ ischen und poetischen Darstellungen hinein; er bildete beinahe überall den Mittelpunkt, von dem alle übrigens Gedanken ausgehen; selbst wenn Arndt das deutsche Volk besingt, erscheint der Gegensatz zum wälschen Wesen als die Basis und der eigentliche Hebepunkt seiner Gesänge“.17 Dies ist, wohlgemerkt, eine zeitgenössische bemüht zurückhaltende, aber kritische Einschätzung, die Arndt zur Kenntnis genommen haben dürfte. Dass (neben dem allgemein interessierten Leser) die lebenden unter den aufgenommenen Autoren in einem solchen Handbuch damals voller Aufmerksamkeit nachschlugen, erscheint mir wahrscheinlich. Die Aufnahme ins Handbuch bedeutete für Arndt sicherlich Genugtuung, denn Heinrich Kurz, der heute Vergessene, war seinerzeit eine Autorität in Sachen Philologie und Dichtkunst. Auch er – 35 Jahre jünger als Arndt – hatte als „Demagoge“ bezahlen müssen. Als Theologiestudent war er 1824 in die „Alte Leipziger Burschenschaft“ eingetreten, wurde deswegen in Leipzig relegiert und wechselte nach München, wo er 1827 promoviert wurde und danach sein Orientalistik-Studium in Paris fortsetzte. 1830 ließ er sich in München als Privatdozent nieder, wo er wiederum mit der Macht kollidierte: Die Herausgabe des liberal-oppositionellen „konstitutionellen Tageblattes“ Die Zeit führte 1832 zur Verurteilung 16 Ebd., Bd. 2, Abt. 2, Zürich 1842, S. 38. 17 Ebd., Bd. 3: Kommentar, Zürich 1843, S. 371.

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wegen Majestätsbeleidigung. Nach verbüßter zweijähriger Haftstrafe emigrierte er 1834 in die Schweiz nach St. Gallen, wo er 1839 als Protestant und Ausländer sein Lehramt für deutsche Sprache und Literatur an der Kantonsschule verlor, aber in Aarau ein angesehener Schulmann und Literaturwissenschaftler wurde.18 Von hier aus ließ er nun sein besagtes Handbuch unter günstigerem politischen Stern und jenseits deutscher monarchistischer Empfindlichkeiten erscheinen. Zwei Gründe mögen für den vorsichtigen Abstand von Kurz zum Arndt’schen Franzosenhass günstig gewesen sein, zum einen die freiere Luft der neutralen Schweiz nebst dem dort fehlenden furor teutonicus gegen Frankreich und die Franzosen, zum andren Kurz’ eigene familiäre „Frankreich-Verquickung“. Sohn eines deutschen Schuhmachers und einer französischen ­Mutter, war er in Paris geboren worden und dürfte schon „von Hause aus“ den antifranzösischen Anwandlungen und Ausfällen Arndts gegenüber immun gewesen sein. Eine zweite Publikation, die Arndts Aufmerksamkeit nicht entgangen sein kann, erschien 1848 in Magdeburg bei Heinrichshofen: Johann Peter Eckermanns Nachtrag der Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens.19 Jenseits von Fragen der strengen Goethe-­Philologie, inwieweit Notizen und Gesprächsaufzeichnungen Dritter hier eingeflossen sein mochten, musste diese Veröffentlichung den Zeitgenossen als wichtige Goethe-­Quelle gegolten haben. Und Arndt war bekanntermaßen ein großer Goethe-Verehrer, der die nachfolgend zitierten Passagen kaum hat übersehen können: „Auch ist ein politisches Gedicht immer nur als Produkt eines bestimmten Zeitzustandes anzusehen, der aber freilich vorübergeht und dem Gedicht für die Folge denjenigen Wert nimmt, den es vom Gegenstande hat […]. Doch will ich nicht leugnen, dass Arndt, Körner und Rückert einiges gewirkt haben.“ 20 Einige Zeilen s­päter lesen wir: „[I]ch hasste die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte, als wir sie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdanke. […] Überhaupt, ist es mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolks empfindet als wäre es dem eigenen begegnet. […] Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß.“ 21 Und schließlich notierte Eckermann: „Sowie ein Dichter politisch wirken will […], ist er als Poet verloren; er muß seinem freien Geiste […] Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit 18 Hartmut Walravens, Kurz, Heinrich, in: Killy Literaturlexikon, Bd. 7, Berlin 22010, S. 144. Von 1846 an war er Kantonsbibliothekar und beendete seine Berufstätigkeit 1866. 19 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letztern Jahren seines Lebens, Nachtragband, Magdeburg 1848. 20 Ebd. S. 311 f. Notiz vom 14. März 1830. 21 Ebd. S. 315 f.

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und des blinden Hasses über die Ohren ziehen.“ 22 All diese Äußerungen waren damals für jeden Goethe-Freund Pflichtlektüre. Hat das zur späteren (schrittweisen!) Abrüstung seiner Hassgesänge beigetragen? Natürlich bleibt dieser Punkt Spekulation. Immerhin aber liegt der Gedanke nah, dass der späte und bereits zur Legende gewordene Arndt sich um seinen Nachruhm sorgte und in dieser Frage eine letzte ordnende Hand an seinen poetischen Nachlass legte. Doch ging er bei den späten Editionen seiner Gedichte in dieser Beziehung nicht besonders systematisch oder gründlich vor und hatte nicht den Ehrgeiz einer Gesamtrevision seiner frankreichfeindlichen lyrischen Produktion. Noch 1850 konzentrierte er sich offenbar in Sachen Änderung lediglich auf jene beiden Lieder, die als favorisierte Arndt-Dichtungen in das Liedgut markiger Männerchöre Eingang gefunden hatten, nämlich auf Des Deutschen Vaterland und Vaterlandslied („Der Gott, der Eisen wachsen ließ“), wo ihm der martialische Ton nicht mehr angemessen erschien.23 In Gedichten wie Der Freudenklang, in dem „Rothe Rache“ geschworen wird oder Schlachtgesang, in dem es heißt: Zu den Waffen! zu den Waffen! Zur Hölle mit den wälschen Affen Das alte Land soll unser seyn! Kommt alle ­welche Klauen haben, Kommt Adler, Wölfe, Krähen, Raben! Wir laden euch zur Tafel ein!

bekannte er sich auch 1850 noch unredigiert zum alten Lieblingsfeind, war sich aber wohl im Klaren, dass ­solche Gedichte in der Rezeption ohnehin verblasst waren. In noch späteren Arndt-Ausgaben, die aber zu seinen Lebzeiten erschienen, blieben auch andere HassGedichte unrevidiert wie Marsch! (1812), in dem die Franzosen schlicht als „teuflische Brut!“ gebrandmarkt wurden, verbunden mit der Aufforderung: „Vertilget den welschen, den teuflischen Tand!“, oder das s­päter seltener gedruckte Des deutschen Knaben Robert Schwur (1812) mit den Worten: Auch schwör ich heißen blut’gen Haß, Und tiefen Zorn ohn’ Unterlaß dem Franzmann und dem fränzschen Tand Daß sie nie schänden deutsches Land. 22 Dieses letzte „Kappen-Zitat“ stand bereits im 2. Teil der Gespräche, gehört aber, wie eine ­Parallel-Lektüre mit dem Nachtragsband erweist, in dieselbe Gesprächssituation vom 14. März 1832. Bei der entsprechenden Passage Eckermanns im Teil II lesen wir als Datieruing „Anfang März 1832“ und danach „einige Tage s­päter“. Es wird hier zitiert nach der Reclam-Ausgabe von Gustav Moldenhauer, Leipzig 1884, Teil II, S. 245. 23 Vgl. Beitrag von Irmfried Garbe S. 215 in ­diesem Band, auch Dirk Alvermanns Argumentation S. 174 f. ist zuzustimmen!

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Abb. 2: Titelkupfer von Conrad Geyer (1816 – 1893) nach Ludwig Richter (1803 – 1884) für die Ausgabe Gedichte von Ernst Moritz Arndt, neue Auswahl, Leipzig Weidmannsche Buchhandlung 1850

Auch das waren natürlich Texte, die nach der Formel ad usum Delphini hätten revidiert werden können. Im Übrigen ist die späte Gedichtausgabe von 1850 mit der martialischen Kampf- und Racheschwur-Lyrik mit einem versöhnlichen Biedermeiertitelkupfer verziert, das man hier kaum erwartet hätte, geschaffen vom Maler und Zeichner des deutschen Heimes, Ludwig Richter. Das wilde, „unsortierte“ Nebeneinander von „gezähmten“ und „hass-belassenen“ Gedichten in späten Zusammenstellungen von Arndts Hand erklärt sich also möglicherweise aus pragmatischen Umständen, nämlich der Tatsache, dass die beiden oft variierten Lieder zum favorisierten Liedgut damaliger Männerchöre gehörten und nicht zuletzt dadurch von Generation zu Generation weitergereicht wurden und eben deshalb in ihrem Sinn und Reimbestand von Mal zu Mal neu auf den Prüfstand kamen. Denn das

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Männerchorwesen – musikalisch geprägt von Zelter, Methfessel, Zöllner, s­päter Silcher und einigen anderen seinerzeit bekannten, heute oft vergessenen Chorleitern und Kompo­ nisten – war damals offenbar ein stärker wirkendes Medium als das in einsamer Kammer für sich genossene gedruckte Gedicht- und Liederbuch. Auch von Körner ist bekannt, dass er unter den Lützowern eigens einen Soldaten-Chor gründete, dem er seine neuesten Schöpfungen (oft zu adaptierten Weisen singbar!) übergab. Heinrich Kurz, der den Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 noch erlebt hat, musste zur Kenntnis nehmen, dass seine Feststellung von 1843, die Zeit des Frankreichhasses sei inzwischen „verschwunden“, nur zehn Jahre nach Arndts Tod von der politischen Realität eingeholt wurde. Der neue Krieg gegen den „Erbfeind“ empfahl das alte poetische Waffenarsenal. Koenig schrieb über Körners Lieder – und für Arndts Gedichte galt Ähnliches! –, sie lebten noch „im Munde des Volkes und sind 1870 und 1871 mit demselben Feuer gesungen worden, wie 1813 bis 1815“.24 Schon ein flüchtiges Durchblättern von Soldatenliederbüchern und Anthologien aus jener neuen Kriegszeit verdeutlicht, dass die von Arndt so feinsinnig gemeinten Umdichtungen und Neutralisierungen der Gewaltmetaphern im neuen nationalistischen Milieu und Kriegsklima keinen Bestand mehr hatten bzw. von vornherein keine Chance erhielten. Die Arndt-Lieder wurden in ihrer frankreichfeindlichen Erstfassung abgedruckt und gesungen und bildeten gemeinsam mit anonymen neueren Hervorbringungen wie Siegreich wolln wir Frankreich schlagen … u. a. einen gemeinsamen Chorus. Ein Blick in die verbreiteten und reich illustrierten historischen wie literaturhistorischen kaiserzeitlichen Jubel-Darstellungen (u. a. Robert Koenig, 1886 bzw. Ludwig Stacke, 1896)25 belehrt uns, dass der Rückblick auf das 19. Jahrhundert von dessen Ende – also vom wilhelminischen Deutschland her – sich als einheitlicher Geschichtsstrom darstellt, der, schon immer von verlässlich-konservativen Werten dominiert, mit einem ewig gleichbleibenden nationalen Patriotismus aufwartete und nun ruhmvoll einmündete in das Kaiserreich der Reichsgründung von 1871. So ist bei Koenig 1886 zu lesen: „Vor allem aber ist die Romantik in dem Sange der Befreiungskriege vertreten durch Schenkendorf, dessen Name mit denen Arndts und Körners den schönen Dreiklang bildet, der forttönen wird im Herzen unseres Volkes, so lange die Erinnerung an jene begeisterungsvollen Jahre darin lebt, die ja selbst wie ein romantisches Traumbild den Nachgeborenen lange Zeit erschienen war, bis in den großen Tagen von 1870/71 die Erfüllung anbrach.“ 26 Die Träume von einer konstitutionellen Monarchie demokratischen Zuschnitts wie auch die Aufstände und revolutionären Kämpfe von 1848 waren mehr oder minder als eine von unbotmäßigen „Aufrührern“ verursachte Art anmaßenden Rowdytums („Proletarierhaufen 24 Koenig (wie Anm. 5), S. 582. 25 Ludwig Stacke, Deutsche Geschichte, 2. Bd.: Von der Reformation bis zum Regierungsantritt ­Kaiser Wilhelms II. mit 4 Karten, 24 Tafeln und Beilagen in Farbendruck und Holzschnitt sowie 378 Textabbildungen, Bielefeld 71896. 26 Koenig (wie Anm. 5), S. 577.

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riefen“, Gewehr entluden sich durch „Ungeschick eines Soldaten“ und „den Schlag eines Arbeiters auf den Hahn“) eingeschätzt worden, die den König – inzwischen Friedrich Wilhelm IV. – zutiefst „enttäuschten“, „demütigten“ und „schmerzten“.27 Musste er doch den Märzgefallenen barhäuptig seine Reverenz erweisen und zur Besänftigung der Volksmassen mit schwarz-rot-goldener Schleife am Revers durch Berlin reiten. Hier wird sinnfällig, dass Arndts vage „Staatsutopie“ in Gestalt einer parlamentarisch kontrollierten konstitutionellen Monarchie mit einer Art erblichem „Volkskaisertum“ an der Spitze ruhmlos gescheitert war und dass der Geschichtsstrom des 19. Jahrhunderts mit etlichen Brüchen und Enttäuschungen der Patrioten aufwartete. Man hatte – gewisser­ maßen als Lohn des patriotischen Engagements von 1813 – erwartet, dass auch die Landesfürsten einlenkten und eine politisch-moralische Einheit mit „dem Volk“ anboten, also Landesverfassungen neuen Zuschnitts „freiwillig“ anstrebten. Die patriotisch-nationalen Träumer projizierten seinerzeit das junge preußische Herrscherpaar als vermeintlich bürger­nahe Idealfamilie auf den historischen Horizont und erhoben die Königin Luise zu „Preußens Herzensdame“, zur „Heiligen für das Volk“, zur „preußischen Madonna“ zum „guten Engel für die gute Sache“.28 Sie schwebte – zumal nach ihrem zeitigen LungenTod mit 34 Jahren – als eine vergeistigte Heilsbringerin über einem befreiten und national geeinten Traum-Deutschland. Die patriotische Dichtergarde Friedrich de la Motte Fouqué, August Wilhelm Schlegel, Novalis, Heinrich von Kleist, Max von Schenkendorf, Theodor Körner, Zacharias Werner u. a. – sie alle dichteten Apotheosen auf die junge Königin, die als Märtyrerin aus Leid um das Vaterland verstorben sei. Eine Blücher-Anekdote wollte wissen, dass der Alte beim Einzug in Paris ausgerufen hätte: „Luise, du bist gerächt!“ Und selbst dem „Insurgenten“ Ferdinand von Schill dichtet die Anekdote einen patriotischen „Geheimauftrag“ der Königin an! Der etwas hölzern-steife König Friedrich Wilhelm III. hatte sicher den größeren Realismus als seine Bewunderer. Er betonte wiederholt, dass er sich selbst in ­diesem WunschBild des Herrscherpaares nicht wiederfinden könne und nicht dem bürgerlichen Traumbild eines genialisch entschlossenen Reformers entsprach.29 Der frühe patriotische Nationalismus aus der Zeit der Befreiungskriege, der auf den illusionären Traum von einer gefestigten bürgerlichen Nation abzielte, schlug nach Arndts Tod in den imperialistischen Nationalismus wilhelminischer Prägung um. Ein Blick in die historischen und literaturhistorischen Wertungen (von wilhelminischer Warte!) im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts servieren das von oben her entworfene Konstrukt einer behaupteten, schon ewig stabilen politisch-moralischen Einheit von Hohenzollerndynastie und 27 Vgl. Darstellung von Stacke (wie Anm. 25), S. 726 ff: „Die deutsche Revolution des Jahres 1848“. Hier wird auch berichtet, dass der König („Romantiker auf dem Thron“) geweint haben soll. 28 All diese und viele andere poetische Bilder und Metaphern entstammen der Luisen-Lyrik, deren Hauptvertreter im Folgenden aufgeführt werden. 29 Vgl. auch die Einschätzung Heinrich von Treitschkes, zit. bei Stacke (wie Anm. 25), S. 547 f.

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Volk, wie es sie in der Realität nie gegeben hatte. Dass die hochherzigen Illusionen all der Kämpfer und Sänger von 1812/1813, die auf einen nationalen deutschen Verfassungsstaat abzielten, enttäuscht wurden und ins Leere liefen, mussten die überlebenden Veteranen noch zur Kenntnis nehmen. Aufschlussreich ist, dass in den späten Jahrzehnten der Hohenzollerndynastie der Luisen-­ Mythos eine deutliche Wandlung bzw. Ergänzung erfuhr: von der Märtyrerin des Freiheitskampfes zur posthumen Stamm-Mutter der neuen Kaiserreichs!30 Die erwähnten dichtenden Protagonisten waren verstorben, der Nachfolger des Königs Friedrich ­Wilhelm IV. – aus Krankheitsgründen regierungsunfähig – machte seinem Bruder Platz, der dann als Preußenkönig (seit 1861) Wilhelm I. in Versailles 1871 die Kaiserwürde annahm, den Kanzler Bismarck an seiner Seite wusste und sich als Luises Zweitgeborener wiederum auf seine berühmte ­Mutter berufen konnte. Vermeintlich herrschte Kontinuität des Denkens, der Staatsidee und Erfüllung aller patriotischen Verheißungen von 1813 – so sollte und wollte man es glauben. Es war nicht zuletzt der immer weiter ausgeschmückte Luisen-Kult mit der semireligiösen Verehrung, der den nunmehrigen K ­ aiser in seinen späten Jahren fast zu einem beliebten Landesvater umformte („Wir wollen unsern alten K ­ aiser Wilhelm wieder haben!“, sang man ­später als Gassenhauer!). Dies hatte vergessen machen, dass Wilhelm als schneidiger junger Militär und „Kartätschenprinz“ den badischen Aufstand von 1848 hatte bändigen lassen, wenngleich seine persönliche Verantwortung für das blutige Einschreiten so einfach nicht belegbar ist. Die wesentlichen Mythen des Kaiserreichs wurden nach dem Sieg über Frankreich nun in gigantischem Format in Stein und Bronze verewigt: das Hermann-Denkmal im Teutoburger Wald (1875), das Niederwalddenkmal („Die Wacht am Rhein“) gegenüber Rüdesheim am Rhein (1883), das Kyffhäuserdenkmal (1896), das Romanische Forum in Berlin mit dem seinerzeit höchsten Kirchturm Berlins, jenem der K ­ aiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (1895), das Völkerschlachtdenkmal (1913) in Leipzig. Keine Frage, dass auch die Schar der Freiheitskämpfer und patriotischen Dichter per Denkmal fortan der kaiserlichen Reichsidee gewissermaßen als Sockelschmuck zu dienen hatte: Theodor Körner (1871 Dresden), Max von Schenkendorf (1890 Tilsit), Ernst Moritz Arndt (1865 Bonn), Ludwig Uhland (1873 Tübingen), Friedrich Rückert (1890 Schweinfurth). Sie alle bekamen im letzten Jahrhundertviertel ihre Bronze-Denkmale. Der kurioseste Fall ist sicher das Reiterstandbild Friedrich Wilhelms III. auf dem Kölner Heumarkt (1878) gewesen. Hier musste der vom Denkmalsreiter gemaßregelte „Demagoge“ Arndt für eben jenen Herrscher, der ihn 1820 aus dem Amt gejagt hatte, als Sockelzugabe fungieren: die Hand aufs Herz gelegt. Sichert der Dargestellte, trotz aller empfangenen Demütigung, hier dem Herrscher Ergebenheit zu oder beteuert der amtsenthobene preußische Professor angesichts der Vorwürfe seine Unschuld? 30 Aus jenen Jahren stammt auch die erhebliche Fülle an Luisen-Darstellungen in Romanen, Biographien, Jugendbüchern und Bildbänden.

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Abb. 3: Sockelfiguren des Reiterdenkmals von Friedrich Wilhelm III. am Kölner Heumarkt (1878): Alexander von Humboldt, Barthold Georg Niebuhr, Neithardt von Gneisenau, Arndt, Friedrich von Motz. Foto: H. Matthiesen

Auf alle Fälle dürfte der lebende Arndt mit bitteren Gefühlen an sein Lobgedicht von 1813 auf eben diesen König gedacht haben, das mehr dem rituellen Herrscherlob als den Tatsachen verpflichtet war und das wie zum Hohn den schönen Titel trägt Der tapfere König von Preußen.31 Dass die Arndt-Rezeption des 20. Jahrhunderts mit den beiden Weltkriegen in nicht minder finstere Winkel der deutschen Geschichte führte, ist ein anderes, hier nicht zu eröffnendes Kapitel.

31 Ernst Moritz Arndt, Gedichte, Zweiter Theil, Frankfurt a. M. 1818, S. 220 – 222.

Ernst Moritz Arndt als Protestant Erscheinung und Rezeption Irmfried Garbe

1. Arndt und das geistliche Lied Der Ort, an dem Texte Ernst Moritz Arndts bis heute praktisch noch im Gebrauch sind, ist der evangelische Gottesdienst. Im aktuellen, 1994 eingeführten Evangelischen Gesangbuch (EG ) werden zwei seiner geistlichen Lieder bereitgehalten und liturgisch genutzt: das Abendmahlslied Kommt her, ihr seid geladen (EG 213) und sein Bekenntnislied Ich weiß, woran ich glaube (EG 357).1 Arndt publizierte diese Lieder zum ersten Mal 1819 im Liederanhang zu seiner hymnologischen Schrift Von dem Wort und dem Kirchenliede.2 Sie finden sich dort unter insgesamt 33 geistlichen Liedern aus seiner Feder, die z­ wischen 1807 und 1818 entstanden. Zwölf von diesen wurden überwiegend noch zu Arndts Lebzeiten in Gesangbücher verschiedener deutscher Landeskirchen aufgenommen.3 Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts enthielten dann nahezu alle Landeskirchengesangbücher des deutschsprachigen Raumes meist vier bis sechs Arndt-Lieder. Stimmung und Tonlage seiner geistlichen Lieder sind verschieden. Bis zu seinem Lebensende verdreifachte er deren Zahl auf schließlich fast 100.4 Einige ähneln im Gestus manchen seiner „patriotischen“ Lieder.5 Dazu gehört Arndts populär gebliebenes Bekenntnislied,



1 Zur Text- und Melodiegeschichte vgl. die Interpretationen von Martin Rössler, EG 213 „Kommt her, ihr seid geladen“, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 14, Göttingen 2008, S. 33 – 37; Sabine Gruber und Helmut Lauterwasser, EG 357 „Ich weiß, woran ich glaube“, in: ebd., Heft 15, Göttingen 2009, S. 31 – 35. 2 Ernst Moritz Arndt, Von dem Wort und dem Kirchenliede nebst geistlichen Liedern, Faksimile-Ausgabe mit einer Einführung von Konrad Ameln, Hildesheim/New York 1970. Veranlassung und Folgen ­dieses im November 1818 gedruckten Buches schildert Johann Friedrich Gerhard Goeters, Ernst Moritz Arndt und die Gesangbuchreform, in: Hefte der E.-M.Arndt-Gesellschaft 4 (1995), S. 31 – 56. 3 Gelegentlich findet sich auch ein fälschlicherweise Arndt zugeschriebenes Lied wie im Danziger Gesangbuch von 1844, vgl. Albert Kahle: Ueber Ernst Moritz Arndt als geistlichen Dichter, Leipzig 1860, S. 6. 4 37 finden sich in Ernst Moritz Arndt, Geistliche Lieder, Berlin 1855; die (fast) vollständige Edition mit 98 geistlichen Liedern bietet der Band: Ernst Moritz Arndts Geistliche Lieder. Nebst seiner Abhandlung von dem Wort und dem Kirchenlied. Mit dem Bildnis des Dichters, hg. von Rudolf Eckart, Greifswald 1910. 5 Dazu ausführlich, allerdings in zeittypischer Diktion: Johannes Kulp, Arndt als christlichvölkischer Dichter (Welt des Gesangbuchs, 14), Leipzig 1937.

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dessen biblischer Titel Der Fels des Heils (5Mos 32,15) im heutigen Gesangbuch allerdings nicht mehr tradiert wird. Ich zitiere die Originalfassung:6 Der Fels des Heils

Ich weiß, woran ich glaube, Ich weiß, was fest besteht, Wann alles hier im Staube, Wie Sand und Staub verweht; Ich weiß, was ewig bleibet, Wo alles wankt und fällt, Wo Wahn die Weisen treibet Und Trug die Klugen prellt.

Auch kenn’ ich wohl den Meister Der mir die Festung baut, Er heißt der Held der Geister, Auf den der Himmel schaut, Vor dem die Seraphinen Anbetend niederknie’n, Um den die Engel dienen: Ich weiß und kenne ihn.

Ich weiß, was ewig dauret, Ich weiß, was nie verläßt, Mit Diamanten mauret Mir’s Gott im Herzen fest Ja recht mit Edelsteinen Von allerbester Art Hat Gott der Herr den Seinen Des Herzens Burg verwahrt

Das ist das Licht der Höhe, Das ist der Jesus Christ, Der Fels, auf dem ich stehe, Der diamanten ist, Der nimmermehr kann wanken, Der Heiland und der Hort, Die Leuchte der Gedanken, Die leuchtet hier und dort.

Ich kenne wohl die Steine, Die stolze Herzenswehr; Sie funkeln ja mit Scheine Wie Sterne schön und hehr:7 Die Steine sind die Worte, Die Worte hell und rein, Wodurch die schwächsten Orte Gar feste können seyn.

Drum weiß ich, was ich glaube, Ich weiß, was fest besteht Und in dem Erdenstaube Nicht mit als Staub verweht, Ich weiß, was in dem Grauen Des Todes ewig bleibt Und selbst auf seinen Auen Des Himmels Blumen treibt.8

6 Arndt, Wort (wie Anm. 2) S. 115 f. 7 Im liturgischen Gebrauch setzte sich schon während des 19. Jahrhunderts die bis heute verwendete kürzere Fassung von fünf Strophen durch. Sie entstand durch Zusammenziehung der Strophen 2 und 3; weggefallen sind die letzten vier Zeilen von Strophe 2 und die ersten vier von Strophe 3, vgl. EG 357. 8 In der letzten Strophe setzten sich im liturgischen Gebrauch Wortänderungen durch: statt „Drum“ heute „So“, statt „seinen Auen“ „Erdenauen“, statt „Des Himmels Blumen“ „schon Himmelsblumen“.

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Bleiben wir einen Moment bei ­diesem Lied: Auffällig ist zunächst die rhetorisch starke Figur einer Kaskade von Ich-Aussagen, die in der Form eines Rätsels verknüpft werden. Bevor der Dichter erklärt hat, dass es „die Worte“ sind, die ihn im Glauben halten und fest in allem Wandel machen, hat er schon drei Strophen in einer Folge von gleichnishaften Bildern verschrieben. Seinen Hauptbezug entnimmt Arndt einem Vers aus dem letzten Buch der Bibel, wo vom „Edelstein“ (Offb 21,19) in der Grundmauer des himmlischen Jerusalem die Rede ist. Bei Arndt wird dieser Edelstein zum „Diamanten“, dem irdisch härtesten und wertvollsten Material. Ihm gleichen das Wort und die Worte: Sie und nur sie trotzen allem Wandel. Es dauert zwei weitere Strophen voller und nur zum Teil biblischer Umschreibungen bis „Jesus Christ“ als Urheber der unzerstörbaren, diamantenen Worte benannt wird. Aus fachtheologischer Perspektive bleibt dabei vieles – insbesondere die Konkretion des Inhalts der Worte – offen bzw. unterbestimmt. Arndt selbst liebte jedoch die vieldeutige Offenheit. „Für die großen Dinge gehören Kinderaugen und Kinderherzen“,9 befand er schon in seinem Frühwerk und beharrte darauf zeitlebens. Die Sachlogik theologischer Systeme hielt er für tot; sie interessierte ihn nicht. Wie so oft reichten dem Dichter und Christen die starke Geste („Ich weiß, was ewig bleibet“) und der christologische Bezug als solcher. Meinte Arndt doch diese weitgehend offene Bekenntnisform im biblischen Ausgangsvers vorgegeben zu finden: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn ich weiß, an wen ich glaube“ (2Tim 2,17). Die emotionale Wirkung von Arndts Bekenntnislied erreicht Leser und Sänger bis heute. Allerdings scheiden sich auch die Geschmäcker daran. In einer Textarbeit mit Interessierten teilten sich die Diskutanten deutlich und rasch in zwei Lager. Den einen war der Bekennergestus Arndts „fast unerträglich vollmundig“, „da spricht einer, der alles zu wissen scheint und keine Zweifel kennt“, „der in schwülstig-pathetischen Bildern schwelgt“. Andere fanden dagegen nachdenkenswert oder sogar elektrisierend, dass „hier jemand den Mut hat, seinen Glauben unendlich stark zu machen“, „ohne Wenn und Aber kräftige Bilder zu wagen“, „einen Glauben zu statuieren, der zum Mitbekennen ermutigt“, „der beispielgebend herausfordert“.10 Der Wortbezug seines persönlichen Glaubens und der Glaube ans wirkmächtige Wort bildeten für Arndt zwei Seiten einer Medaille.11 In dem Aufsatz Vom Wort und dem K ­ irchenliede 9 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit [Erster Teil], o. O. 1806, S. 66; erneut Ernst Moritz Arndt’s Werke. Auswahl in zwölf Teilen, hg. mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von August Leffson und Wilhelm Steffens, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart o. J. [1912], 6. Teil: Geist der Zeit I, hg. von Wilhelm Steffens, S. 48 hier wörtlich zu den Geschichtsschreibern gesprochen, sachlich aber identisch mit seiner Theologenkritik. 10 So während der Aussprache zum Vortrag Arndt als Christ in Altenkirchen/Rügen am 03. 09. 2019. Die Druckfassung d ­ ieses Vortrags: Irmfried Garbe, Verlust der Erinnerung: Ernst Moritz Arndt als Christ, in: Haltung. Vorträge und Predigten aus dem ­Kirchen- und Musiksommer 2019 (Altenkirchener Hefte, 6), Putbus 2020, S. 112 – 137. 11 Letztlich hielt er das freie Wort übrigens auch in politischer Hinsicht für entscheidend. In der Friedensrede eines Deutschen (1807) wagte Arndt die Prognose: „Die Entscheidung des Zeitalters ruht mehr auf dem Worte und der Meinung, als auf dem Befehl und dem Schwerte.“ Arndt’s Werke (wie Anm. 9), 7. Teil: Geist der Zeit II (1808), hg. von Wilhelm Steffens, S. 107.

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insistierte er: „Wir, die wir die Protestanten und Evangelischen genannt werden, sind auf das Wort hingewiesen […]“.12 Dieser grundlegende Wort-Bezug und Hinweise auf die Bedeutung des auszusprechenden und zuzusprechenden Wortes durchziehen zahlreiche Gedichte seines geistlichen Liederanhangs von 1819. Lieder, wie sein Gebet um das Gebet, Trost im Licht, Jesus mein Licht, Noch ein Gebet um das Gebet oder besonders konzentriert das sechsstrophige Gedicht Das Wort umkreisen immer wieder diesen Gedanken: Aller Glaube hängt am Wort.13 Der Autor bezog sich dabei bevorzugt auf das Johannes-Evangelium, Arndts Lieblingsevangelium. „Am Anfang war das Wort …“, heißt es dort im klassisch gewordenen Prolog, und um dessen Entfaltung geht es Arndt auch im ersten Teil seines hymnologischen Aufsatzes: „Gott hat die ganze Welt in das Wort gelegt“,14 „Jesus Christus ist als das ewige Wort in die Welt gekommen […], damit das Wort auf Erden verherrlicht würde“.15 „Also wer von dem Worte recht erfüllt ist, der […] ist von Gott erfüllt.“ 16 Und wo wäre d ­ ieses glaubensstiftende Wort intensiver kondensiert als in der Dichtkunst? „Uns Protestanten ist das geistliche Lied sehr wichtig. Nächst den heiligen Sakramenten sind uns die Predigt und der Gesang ein Haupt­ anliegen des Gottesdienstes. Vor allem aber ist der Gesang […] getrieben vom heiligen Geist.“ 17 Allerdings – und hier setzt Arndts Kritik an – ­seien die Jahrzehnte ­zwischen 1760 und 1800 geistlich „matt“ und vielfach unfruchtbar gewesen. Die Theologen dieser Jahrzehnte hätten „das Volle und Gesunde“ durch allerlei „Leeres und Jämmerliches“ ersetzt. Das „ächte Luthertum, den wahren Protestantismus“ finde man zwar noch immer in den „Hütten der Niedrigen“ bei manchem „Köhler und Bauer oder Schumacher und Weber“,18 aber die übergescheiten Gesangbücher der letzten 50 Jahre böten ein trauriges Bild: Selbst Lieder­texte Luthers und Paul Gerhardts waren von den Liederbuchherausgebern angetastet, rationalistisch umgeschrieben und dadurch – in Arndts Augen – unwirksam gemacht worden.19 Für ihn spiegelte sich darin eine unsäglich fade gewordene Epoche: „[S]ie meinten es wahrlich so schlimm nicht, sie waren nur schwach[,] bethört und verblendet wie das ganze Zeitalter“. „Darum sind die alten einfältigen und treuen Katechismen aus den Schulen verschwunden und kümmerliche und geistlose Lieder werden in den K ­ irchen gesungen.“ Er forderte für die Zukunft, dass „das Meiste, was in den letzten fünfzig Jahren gemacht und 12 Arndt, Wort (wie Anm. 2), S. 3. 13 Eine auswahlweise Durchsicht bietet Volker Gummelt, Ernst Moritz Arndts geistliche Dichtung. Eine Einführung, in: Hefte der E.-M.-Arndt-Gesellschaft 5 (1997), S. 80 – 101 + 4 Abb. 14 Arndt, Wort (wie Anm. 2), S. 4. 15 Ebd., S. 11 f. 16 Ebd., S. 9. 17 Ebd., S. 26. Bekanntlich ließ Arndt die Frage „Wo ist des Deutschen Vaterland?“ (1812) in der 6. Strophe in die Aussage münden: „So weit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im H ­ immel Lieder singt.“ 18 Ebd., S. 43 f. 19 In Luther und Paul Gerhardt sah er zeitlose Vorbilder: „[D]arum wette ich, solange teutsch gesprochen wird, werden Luthers und Gerhard[t]s meiste Lieder leben und in christlichen ­Kirchen gesungen werden, nicht weil der Luther oder Gerhard[t] sie gedichtet hat, sondern der Geist Gottes.“ Ebd. S. 46 f.

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eingeführt“ wurde, aus den Gesangbüchern „wieder abgeschafft und ausgekehrt werden müsse, weil es eitel Spreu und Dunst“ sei.20 Jetzt gelte es, die geistliche „Hungersnoth“ 21 geistlich und poetisch zu bekämpfen. Arndts Kritik traf ganz offenbar einen Nerv der Zeit. Ludwig Gotthard Kosegarten (1758 – 1818), sein früherer Vikarsvater und seinerzeit selbst Verfasser eines rationalistischen Katechismus, kämpfte bereits seit 1802 gegen das modernisierte Gesangbuch für Schwedisch-Pommern.22 Das alte Gesangbuch, argumentierte Kosegarten, sei doch immer das „Liederbuch des Volkes“ gewesen, jetzt aber werde es den treuen Christen verleidet, weil wirklicher Trost und echte Seelsorge daraus wegmontiert worden s­ eien. Wie Arndt vertrat auch Kosegarten schon länger die Wiederherstellung originaler Texte und ließ trotz Verwarnung der pommerschen Kirchenbehörde für seine Greifswalder Jakobikirchengemeinde auf eigene Rechnung einen entsprechenden Nachtragsanhang drucken.23 Das Gesangbuch, das Arndt nun 1818/1819 in Bonn vorschwebte, sollte als überkonfessionelles, gesamtdeutsches konzipiert sein. Von wenigen stilsicheren Kennern zusammengestellt, müsse es die geistlich bewährten Lieder aus allen christlichen Traditionen – „Katholiken Lutheraner Zwinglianer Kalvinisten Methodisten Böhmianer und Zinzendorfianer und wie die […] Namen weiter lauten mögen“ – im originalgetreuen Wortlaut versammeln.24 „Der Zweck eines solchen Liederbuches wäre […], allen verschiedenen ­Stimmungen und Gefühlen zu genügen. Es sollte ein ganzes vollständiges Liederbuch werden in dem Geiste, wie die Bibel für jeden Christen ein ganzes vollständiges Buch ist.“ 25 Sicher würden dabei „zum wenigsten 1500“ gute Lieder zusammenkommen aus der Zeit von 1520 bis 1750. Dichtungen aus jüngster Zeit aber s­ eien sehr kritisch zu prüfen, obschon „leicht“ noch einmal weitere 1000 brauchbare Lieder sich für das überkonfessionelle Gesangbuch ergeben könnten. Arndt dachte 1819 also an einen umfassenden und möglichst vielseitigen Thesaurus. Er begründete seine denkbar liberale Auswahlidee mit dem gesperrt gedruckten Satz: „Denn das Wesen unseres Bekenntnisses oder unserer ­Kirche […] ist Freiheit und Ungebundenheit.“ 26 Für ihn hätte d ­ ieses überkonfessionelle Gesangbuch deutscher Zunge zugleich die erstrebte Einheit aller Deutschen symbolisiert.

20 Ebd., S. 45 f. 21 Ebd., S. 47 f. 22 Vgl. Johannes Schilling, „Kraft- und Kerngesänge“ für Geist und Herz. Ludwig Gotthard Kosegartens Ausgabe der „Lieder Luthers“ aus dem Jahr 1818 und die Aktualität seiner Idee guter evangelischer Lieder, in: Hier ist gut seyn (Altenkirchener Hefte, 5), Putbus 2019, S. 152 – 169. 23 Die darum geführte Kontroverse ist ausführlich dokumentiert durch Carl Dalmer, Einige Nachrichten über den kirchlichen Gesang in Pommern, vornehmlich Neu-Vorpommern und Rügen, nach der Reformation, besonders aber über die in Neu-Vorpommern im Gebrauch gewesenen, resp. noch gebräuchlichen Gesangbücher, Stralsund 1867, S. 73 – 103. 24 Arndt, Wort (wie Anm. 2), S. 51. 25 Ebd., S. 53 f. 26 Ebd., S. 40.

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Arndts Beitrag zur Gesangbuchreform wurde intensiv wahrgenommen.27 Er sicherte ihm u. a. den dauerhaften Eingang in die theologischen Fachlexika bis heute.28 Seine Mahnung zur Texttreue wie zum Bewährten fand Beachtung von mehreren Seiten. Bereits Franz ­Ludwig Zahn anerkannte 1844: „Arndt war wohl einer der E ­ rsten mit, der […] 1819 auf die Hungersnoth und den dünnen wässrigen Jammer hinwies, den die magern und dürftigen Katechismen und Gesangbücher gebracht [hatten], und [der] mit warmer Begeisterung von einem ,christlich deutschen Gesangbuch‘ sprach. Seit der Zeit hat der volksmäßige, heilige Gesang nach und nach wieder allgemeinere Geltung erhalten, und wir können jetzt wohl wieder von beginnender Gesangbuchsfreude reden, wenigstens insoweit, daß jetzt schwerlich die Jämmerlichkeiten wieder werden zum Vorschein kommen“.29 Ein Musikhistoriker des ausgehenden 20. Jahrhunderts maß Arndt sogar ausschlaggebende Bedeutung für die Geschichte der modernen Gesangbuchreform zu: Mit Arndts Programmschriftschrift habe „eine Epoche der Besinnung auf den Wert der alten Kirchenlieder und der Erneuerung des Gesangbuches“ begonnen.30 Allerdings ist Arndts kühnster Vorschlag, ein überkonfessionelles deutsches Gesangbuch zu schaffen, bis heute unausgeführt geblieben. Immerhin aber deckt das Evangelische Gesangbuch von 1994 den gesamten deutschen Sprachraum einschließlich Österreichs und der Schweiz ab.

2. Arndts Konfessionen „Ich preise mich selig, daß ich ein Christ bin“. Dieses Bekenntnis platzierte Arndt 1814 in die Mitte seiner Schrift Über künftige ständische Verfassungen in Teutschland.31 In erster Linie diskutierte er darin verfassungspolitische Ideen.32 Aber diese standen für Arndt in unlöslichem Zusammenhang zur eigenen Konfession. Diese war ihm seit seinem zweiten, fast dreijährigen Aufenthalt in Schweden (November 1806 bis September 1809) ganz besonders 27 Heinz Hoffmann, Tradition und Aktualität im Kirchenlied. Gestaltungskräfte der Gesangbuchreform in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1967; für den regionalen Kontext vgl. Dirk Schneider, Gesangbuchreform ­zwischen Tradition und Moderne 1815 – 1834. Die Entstehungsgeschichte des „Evangelischen Gesang-Buchs“ für die Synodalbereiche JülichKleve-Berg und Grafschaft Mark 1834, Bielefeld 1988. 28 Vgl. nur die Arndt-Artikel in den vier Auflagen des ev. Standardlexikons Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) und in den drei Auflagen des kath. Pendants Lexikon für Theologie und ­Kirche. Sachthematisch hervorragend Stefan Frevel, Arndt, Ernst Moritz, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der K ­ irchen, hg. v. Bernd Moeller und Bruno Jahn, 2 Bde. München 2005, hier Bd. 1, S. 52 f. 29 Franz Ludwig Zahn, Vom deutschen Kirchenlied, wie’s unsre Väter dichteten und sangen und vom musikalischen Theil des protestantischen Cultus überhaupt, Meurs 1844, S. XVI. 30 Konrad Ameln, Einführung, in: Arndt, Wort (wie Anm. 2), S. XIV. 31 Ernst Moritz Arndt, Ueber künftige ständische Verfassungen in Teutschland, o. O. 1814, S. 45 [auch als Digitalisat]; Wiederabdruck in: Arndt’s Werke (wie Anm. 9), hier 11. Teil: Kleine Schriften II, hg. v. Wilhelm Steffens, S. 83 – 130, hier S. 104. 32 Vgl. den Beitrag von Hans Georg Knothe in ­diesem Band.

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im Austausch mit Elisa von Munck (1773 – 1840) und Charlotte von Kathen (1776 – 1850) neu bewusst geworden.33 Seit seiner berühmten Streitschrift Geist der Zeit (I. Teil 1806) meinte er hinter den weltgeschichtlichen Entwicklungen der letzten 1700 Jahre die Dialektik eines politisch wirksamen Christentums zu erkennen. Und diese Voraussetzung hält auch sein verfassungspolitischer Schlüsseltext von 1814 aufrecht. Wenn Arndt sich hier also als Christ bekannte, beanspruchte er damit Teil der Mannschaft des geschichtlichen Fortschritts zu sein. Das allerdings war unter den Gebildeten seiner Zeit nicht unbedingt selbstverständlich. Für viele schien immer noch zu gelten, was „seit einem Jahrhundert […] der große Ton geworden“ sei, nämlich „daß keiner ein großer Christ genannt werden konnte, welcher nicht der Geistlichkeit und der Einrichtungen und Taten der Geistlichen spottete“. Doch für die historisch Einsichtigen, meinte Arndt, sei diese Phase ironischer Überheblichkeit gegenüber dem Christentum zu Ende gegangen, seitdem Johannes Müller und Edmund Burke ein zutreffenderes Verständnis für das christliche Mittelalter herausgearbeitet hätten.34 Eines allerdings müsse diesen Mittelalter-Enthusiasten noch klar werden bzw. klar gemacht werden: „Ich sage es geradezu: Die alte christliche Zeit der K ­ irche ist vergangen und auf ewig vergangen und kein Gott wird sie wieder ins Leben zurückrufen. […] eine neue christliche ­Kirche wird sich bilden, das unvergängliche Christentum wird sich eine dünnere und ätherischere [!] Gestalt umkleiden und so die künftigen Geschlechter leiten und beglücken.“ 35 Diese künftige ­Kirche werde kein „politischer Teil und Stand“ mehr sein können und dürfen, wie die frühere es notwendigerweise gewesen sei, sondern gewissermaßen eine Republik des freien Geistes jenseits politischer Macht und Interesseleitung. Diese künftige K ­ irche des Geistes – eingeleitet worden war sie für Arndt durch die Französische Revolution 36 – werde den modernen Menschen mit einer hoffentlich lebensdienlichen Konfession ausstatten. In d ­ iesem Sinne konnte und wollte er bekennen: „Ich preise mich selig, daß ich ein Christ bin, daß ich von der ewigen Angst vor der Sünde erlöset bin; aber“ – und dies anzufügen war dem Zeitkritiker gerade auch wieder 1814 ein Bedürfnis: 33 Zur religiösen Entwicklung Arndts grundlegend Günter Ott, Ernst Moritz Arndt. Religion, Christentum und ­Kirche in der Entwicklung des deutschen Publizisten und Patrioten (Schriften des Vereins für Rheinländische Kirchengeschichte 22 / Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 2), Bonn 1966. 34 Arndt, Verfassungen (wie Anm. 31), S. 32 f; erneut in Ernst Moritz Arndt’s Schriften für und an seine lieben Deutschen. Zum ersten Mal gesammelt und um Neues vermehrt, 3 Teile, Leipzig 1845, hier Teil 2, S. 67 – 138, hier S. 90 f.; Arndt’s Werke (wie Anm. 31), S. 100. 35 Arndt, Verfassungen (wie Anm. 31), S. 36 f; Arndt’s Werke (wie Anm. 31), S. 102 f. 36 So schon 1808: „Die Französische Revolution wird die dritte große Epoche des Christentums machen. […] Diese Revolution bedeutet nicht ewigen Frieden, Verbrüderung von ganz Europa, Einheit des Staats und der Religion, wie dieser blutige Despot uns einbilden will […]. Nein, ihre ganze Bedeutung ist zunächst geistig, im dritten Grade nur erst politisch. Diese Revolution soll die Verfassungen, die ­Sitten und Wissenschaften auf einfachere Gesetze, das Menschengeschlecht zu einem freieren und kühneren Leben zurückführen; und das wird sie endlich tun, aber ohne Universalmonarchien und Universalreligionen, deren Abscheulichkeit und Unsinn jeder freie Mann verfluchet.“ Geist der Zeit II (wie Anm. 11), S. 130 u. 128 f.

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„[A]ber wann ich das arme Volk ansehe, die gute und gläubige Menge, so mögte ich in tiefster Seele weinen, wann ich gewahre, wie so viele verlassen und trostlos fast wie in die Irre wandeln, ohne eine sichere äußerlich gezeigte Gewißheit und ohne eine feste ­Kirche. Doch hoffe ich, daß unsere Kinder und Enkel eine K ­ irche haben werden, die für die neuen Zeiten eine wahrhaft christliche ­Kirche genannt werden kann.“ 37 An diesen Sätzen des 45-Jährigen wird dreierlei deutlich: Erstens: Arndt gehörte damals und auch s­päter nicht zu denjenigen, die das Lob der Vergangenheit anstimmten. Ihn bewegte – und dies unerschüttert bis ins höchste Greisenalter – die Erwartung, dass sich in allem Wandel etwas Gutes ergeben werde. In zahllosen Varianten plädierte er stets dafür, Veränderungen furchtlos anzunehmen. Für ihn bargen sie die Chance zu (mehr) „Wahrhaftigkeit“. Insbesondere galt ihm das in Bezug auf die christliche K ­ irche, deren ökumenische Einheit er als letztes Fernziel prognostizierte. Ihre Erneuerung sah er kommen, auch wenn viele Zeitgenossen mehr Verluste als Gewinne zu konstatieren glaubten. Drastisch konnte er formulieren: „Auch die Teufel müssen Gottes Dienst tun, in Blindheit, nicht wissend, was sie tun, noch wohin ihr Werk treibt.“ 38 Zweitens: Bei allem Zutrauen zu einer positiven Entwicklung der Zukunft 39 fühlte er sich trotzdem genötigt und berechtigt, lautstark Kritik an aktuellen Zuständen zu üben. Seine Analyse vertrug dabei selten Rücksichtnahmen oder Kompromisse, schon gar nicht gegenüber Wortführern – s­ eien es nun die professionellen Sachwalter der Religion oder die der Politik. Korrigieren ließ er sich nur von Menschen, deren Charakter und Urteil er schätzte. Drittens: Das Bekenntnis seines Christseins coram publico zu statuieren, war dem älter gewordenen Zeitkritiker Arndt zunehmend zum Bedürfnis geworden. In seinen jüngeren Lebensjahren hatte es Phasen gegeben, in denen er sich eher als „Heide“ denn als „Christ“ bezeichnet und entsprechend zurückhaltend sich geäußert hatte.40 Seine konfessionell reservierte Haltung verlor sich aber in den Vorbereitungsjahren der „nationalen Erhebung“. Nach und nach hatte er sich davon überzeugt, dass „kräftige“ Bekenntnisse zu wagen angemessener sei als vermeintlich vornehm zu schweigen. Dabei nahm er im Sinne Martin Luthers die Rechtfertigung des Sünders für sich in Anspruch: „Ich preise mich selig, […] daß ich von der ewigen Angst vor der Sünde erlöset bin“.

37 Arndt, Verfassungen (wie Anm. 31), S. 40; bzw. Arndt’s Werke (wie Anm. 31), S. 104. 38 Geist der Zeit II (wie Anm. 11), S. 129. Der dortige Zusammenhang: „Die Französische Revolution wird die dritte große Epoche des Christentums machen. Ich erkläre damit Marat, Danton, Robespierre und Bonaparte für keine Jünger Christi. Auch die Teufel müssen Gottes Dienst tun, in Blindheit, nicht wissend, was sie tun, noch wohin ihr Werk treibt.“ 39 „Gott und die Zeit bringen immer das Beste, sie bringen oft anderes als die Besten und Weisesten meinen und raten“. Arndt’s Werke (wie Anm. 9), 8. Teil: Geist der Zeit III (1813), hg. v. Wilhelm Steffens, S. 178. 40 Differenziert herausgearbeitet bereits von Heinrich Laag, Die religiöse Entwicklung Ernst Moritz Arndts, Halle 1926.

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3. Arndts religiöse Herkunft Arndts deutliche Wort-Fixierung und wachsende Zustimmung zum protestantisch-theologischen Kernthema des Rechtfertigungsgeschehens gibt Anlass, auf seine biographischen Wurzeln zu schauen. Arndt wurde 1769 auf der Insel Rügen in eine evangelisch-lutherische Gutspächterfamilie hineingeboren. Das hatte für ihn zweifellos lebensbestimmende Bedeutung. Der regelmäßige Besuch des Sonntagsgottesdienstes, das Hineinwachsen in den christlichen Festkreislauf, sein Lesenlernen anhand der Bibel, aktives Aufnehmen der lutherischen Liedtradition gehörten zu seinen frühen, persönlichkeitsprägenden Bildungsfaktoren. Von Kindesbeinen an war Arndt von einer intensiv gepflegten christlich-protestantischen Kultur umgeben. Im 1812 entstandenen Lebensrückblickgedicht bekannte der 43-Jährige bereits dankbar: Einfalt wohnte mit mir und stille, freundliche Sitte, Frömmigkeit lullte mich ein, Frömmigkeit weckte mich auf, […] Als die Bibel mein Buch, mein einziges Buch, und mein Licht war.41

Die Erfahrung eines christlich rhythmisierten Alltags und seine bis in die Kindertage zurückreichenden Begegnungen mit der Bibelübersetzung Martin Luthers prägten Arndt sprachlich, geistig und geistlich. Es gehört zu den starken Faktoren seiner Biographie, dass der Umgang mit Texten des Alten und Neuen Testaments ihn – mit Unterbrechungen in den jungen Erwachsenenjahren – lebenslang begleitete. Schon aus seinen Kinderjahren in Grabitz erinnerte er sich an Bibellektüren, die er in familiären Notlagen intensivierte: „Ich griff fleißig zu meinem einzigen Trostgewehr, das ich hatte, las mir fromme Lieder aus dem Gesangbuche und das laufende Sonntagsevangelium mit lauter Stimme vor und wiederholte das mehrmals, und betete und wünschte recht fromm.“ 42 Auf den Anfangsseiten von Geist der Zeit erinnerte er sich 1805: „Glückliche Zeit, als die fromme M ­ utter mich lesen lehrte und ich die fünf Bücher Moses und die lustigeren der Könige las!“ 43 Die Vielzahl von biblischen Motiven, Begriffen und auch Bildern in Arndts späterer Publizistik sind offensichtlich Sedimente eines familiär

41 Arndts Dedikationsgedicht zu seinem Entwurf der Erziehung und Unterweisung eines Fürsten (1812); Wiederabdruck in: Deutsche Blätter, 1 (1813), S. 524 – 527 (dort fälschlich der russischen Zarin Elisabeth Alexiewna zugesprochen, tatsächlich ist d ­ ieses Gedicht der Herzogin von Württemberg Antonia Amalia gewidmet). Zuletzt abgedruckt in Ernst Moritz Arndt, Gedichte. Vollständige Sammlung, Berlin 1860, S. 205. 42 Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen, Gesichte, Geschichten, in: Arndt’s Schriften (wie Anm. 34), 3. Theil, Leipzig 1845, S. 471 – 548, Zitat S. 492. Arndts Wortschöpfung „Trost­gewehr“ als Sammelbegriff für einen seelsorglichen Gebrauch von Bibel und Gesangbuch ging von hier ins Grimmsche Wörterbuch ein. 43 Arndt’s Werke (wie Anm. 9), Geist der Zeit I, S. 24.

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vermittelten, konfessionell durchtränkten, textorientierten Bildungsprozesses. Dieser war – kurz gesagt – in seinen Anfängen lutherisch-bibelfromm geprägt. In seinen Erinnerungen aus dem äußeren Leben hielt der 70-Jährige fest, dass dieser Einfluss in erster Linie von seiner ­Mutter ausgegangen sei. Friederike Wilhelmine Schumacher sei „eine fromme Frau und eine gewaltige Bibelleserin“ gewesen.44 Arndt meinte sich zu erinnern, er „habe die Bibel wohl drei, vier Mal mit ihr durchgelesen. Das Gesangbuch mußte auch fleißig zur Hand genommen werden, und den Samstag Nachmittag mußten die Jungen unerläßlich entweder ein aufgegebenes Lied oder das Sonntagsevangelium auswendig lernen.“ 45 Ein solches Pensum dürfte heutzutage manchen Theologiestudenten überfordern! Damals waren es für den heranwachsenden schwedisch-pommerschen Gutspächtersohn und einige seiner Mitgenossen wesentliche Bildungsgüter im Prozess der individuellen Reifung. Der greise Arndt sah darin immer noch ein unschätzbares Vermögen, das ihm in Kindertagen schon erschlossen worden sei. Sein frühzeitiger Umgang mit der Bibel habe ihm genutzt, nicht zuletzt weil er leicht und mit Freude vermittelt worden sei: Seine erste und wichtigste Lehrerin sei „eine sanfte und liebenswürdige Schulmeisterin“ gewesen, rühmte er seiner ­Mutter nach.46 Neben der privaten Bibellehre durchlief der junge Arndt die damals übliche Schulung im kirchlichen Katechismusunterricht. Dieser setzte etwa im Alter von neun Jahren ein und bildete die entscheidende Stufe auf dem Weg zur Konfirmation. Der Akt der Einsegnung fand individuell verschieden ­zwischen dem 12. bis 15. Lebensjahr statt.47 Dazu war der Besuch der Sonntagsschule im zugehörigen Pfarrsprengel verpflichtend. Er erstreckte sich für die einzelnen Teilnehmer auf zwei bis drei Jahre. Gestaltet wurde die christliche Unterweisung vom zuständigen Pfarrer oder seinen (zeitweiligen) Vikaren. Am Ende sollten die Unterrichteten den Katechismus sowie zentrale biblische Texte (die sogenannte dicta probantia) auswendig beherrschen. Natürlich durften die Dumsevitzer Gutspächterkinder „bei keiner Katechismusprüfung in der Nachmittagskirche fehlen“. Arndt und seine Brüder hatten nach absolviertem Vormittagsgottesdienst nachmittags „zum zweiten über[s] Feld laufen“ müssen, um nun auch die Katechismusstunde wahrzunehmen. „Wann der Vater dann nicht mitging, so gab er uns seinen alten Großknecht zum Führer, einen christlichen, biblischen Mann, Jakob Nimmo 44 Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben, Leipzig 31842, S. 10. Weiteres zu Arndts vielseitig belesener ­Mutter vgl. ebd., S. 5 f. 45 Ebd. 46 Ernst Moritz Arndts Sämmtliche Werke, 1. Bd: Ernst Moritz Arndts Erinnerungen aus dem äußeren Leben, hg. von Hugo Rösch, Leipzig 1892, S. 12. 47 Die Konfirmandenprüfung als Abschluss des kirchlichen Unterrichtes war im 18. Jahrhundert von der Konfirmation zeitlich noch stark getrennt. Sie rückten erst im 19. Jahrhundert zusammen. In Arndts Jugend erfolgte die Konfirmation drei bis vier Jahre nach der Konfirmandenprüfung. Vgl. hierzu Gerhard Becker, Notizen zur Wandlung der Konfirmationspraxis anhand der Pfarrakten von Dersekow, in: Amtsblatt des Evangelischen Konsistoriums in Greifswald, 1958, Heft 12, S. 59 – 65.

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mit Namen“. Dieser sei auf seinen Zögling Ernst Moritz besonders stolz gewesen, denn der Knabe stach bald durch sein weitläufiges Bibelspruch-Gedächtnis heraus: „Weil ich kleiner zehnjähriger Junge mich […] damals eines sehr guten Gedächtnisses erfreute […] und viel Belesenheit in der Heiligen Schrift hatte, so prangte ich durch die Stelle, die mir der Herr Magister [Lorenz Stenzler in Garz] eingab, bei der Kinderprüfung in der K ­ irche an der obersten Stelle“.48 Bibeltexte, die ältere Jugendliche mitunter weniger sicher wiederzugeben wussten, hätten aus dem kecken Ernst Moritz so zuverlässig herausgeklungen „wie aus einer Trompete“.49 Mit einem so vorbereiteten Grundstock an biblisch-lutherischen Text- und Überlieferungskenntnissen erreichte Arndt das Erwachsenenalter.

4. Kirchenkritik des jungen Arndt Freilich sind die eben zitierten Passagen Selbstbekenntnisse aus Arndts reifen Jahren. Wie reflektiert das Memorieren von Bibelversen und der lutherischen Katechismusteile in seiner Jugend tatsächlich vonstattenging, wie innerlich beteiligt der Konfirmand bei diesen Übungen war, ist fraglich angesichts der Distanzierungen, die Arndt als junger Erwachsener gegenüber ­Kirche und Glauben einnahm und signalisierte. Zunächst hatte er sich 1791 von den Eltern noch zum Theologiestudium bewegen lassen. Arndts Studienmitschriften belegen allerdings keine allzu eingehende Beschäftigung mit biblischer Exegese, reformatorischer Theologie oder evangelischer Dogmatik.50 Seine Lieblingsfächer waren schon in Greifswald Geschichte, Philosophie und Sprachen. In Jena wirkte der Philosoph Fichte deutlich stärker und nachhaltiger auf ihn als der berühmte Theologe Griesbach. Die gesellschaftlichen Umwälzungen in Frankreich, die Folgen der Koalitionskriege, die geistigen Transformationsprozesse in einer Zeit der Unsicherheit zogen ihn wie viele seiner Generation stark in den Bann. Schon im November 1796 entschied der 27-jährige Arndt im Altenkirchener Pfarrhaus, dass er kein Pfarrer werden würde. Gut anderthalb Jahre blieb der examinierte Theologie zwar noch als Hofmeister Ludwig Gotthard Kosegartens tätig. Aber seine Entscheidung gegen eine Berufung zum Geistlichen stand fest, obwohl er schon „mit Schall und Beifall“ zu predigen begonnen hatte.51 „Ich werde nun und nimmer, wie die Sachen stehen, kein Prediger“, offenbarte er 1798 abschließend und 48 Arndt, Erinnerungen (wie Anm. 44), S. 13 f. 49 Ebd., S. 14. 50 Zu Arndts theologischen Studieninhalten vgl. Ott (wie Anm. 33), S. 70 – 82 und das Exzerpt aus Arndts Jenaer Mitschriften aus den besuchten Vorlesungen Johann Jakob Griesbachs: ebd., Anlage 1, S. 313 – 317. 51 Trotz der acht Rügener Pastorenvorbilder, die ihn nachhaltig beeindruckten: Magister Lorenz Stenzler in Garz, dessen Nachfolger Propst Samuel Theodor Pritzbuer, Johann Eberhard ­Krüger in Swantow, Hermann Andreas Pistorius in Poseritz, Johann Gottlieb Picht in Gingst, ­Theodor Schwarz in Wiek, Karl Ludwig Droysen in Bergen und Kosegarten in Altenkirchen; zu ihren theologischen Profilen vgl. Ott (wie Anm. 33), S. 47 – 52.

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rigoros dem Vater.52 Hinter seiner Ablehnung standen nicht nur seine Verlobung mit Charlotte Quistorp, sondern mehr noch Zweifel und Kritik am geistigen und geistlichen Zustand seiner ­Kirche. Eine erste öffentliche Distanzierung dokumentiert Arndts Beschreibung seiner großen Bildungsreise nach Süddeutschland, Österreich, Ungarn, Italien und Frankreich 1798/1799.53 Wo er in katholischen Messen und evangelischen Gottesdiensten „Religion“ gesucht hatte, habe er statt „Anleitung zu Tugend und Glückseligkeit“ 54 nur krassen Aberglauben oder geistige Öde gefunden. Nur die in Regensburg und Wien gut gepflegte Kirchenmusik habe ihn in „tiefste Rührung“ versetzt und „wahrlich fromme Stunden“ bereitet.55 Inhaltlich erschien dem 30-Jährigen die verfasste ­Kirche von lebendiger Religion meilenweit entfernt. Allein in der Natur hatte für ihn „Religion“ einen unzerstörbaren Rückzugsort behalten. Der entlaufene Kandidat der Theologie verordnete sich Abstinenz zur ­Kirche. Beobachtungen zur christlichen Religionskultur kommen darum in den späteren Teilen seiner sechsbändigen Reisebeschreibung so gut wie gar nicht mehr vor.56 Mehrere Jahre lang erschien dann dem Greifswalder Geschichts- und Philosophiedozenten der antike Götterglaube attraktiver als das Christentum.57 Die Götterwelt der alten Griechen habe noch wirkliche Frische, Lebendigkeit und menschenerhebende Kraft besessen. Besonders dem Heroenkult widmete er reichlich Lob und manchen poetischen Versuch. Die Schwundstufen des Christentums dagegen kritisierte er heftig. Im 1805 verfassten Geist der Zeit (I) meinte er: Die neuzeitliche Welt sei „zu klug, zu gebildet, zu geistig, sie kann nicht mehr sinnlich fromm sein“.58 Selbst die Theologen und Pastoren, die sich sämtlich „den staubigen Philosophenmantel“ übergezogen hätten, „glauben nicht mehr, lehren aber doch den Glauben“. In ihren Predigten und Traktaten verflüchtige sich alles Lebendige. „Mag das Wissen herrlich sein, das Leben ist herrlicher, und wer dies verloren hat, der kann zu keinem Menschen wiedergeboren werden. Mit allen seinen Sprachen der Weisheit […] und Tonnenlasten der Kenntnisse wird er entweder wie ein Behexter oder wie ein Hexenmeister aussehen.“ 59 Die Kanzelredner der Gegenwart hätten „alles

52 Brief an den Vater vom 16. 05. 1798, in: Ernst Moritz Arndt, Briefe, hg. v. Albrecht Dühr, Bd. 1, Darmstadt 1972, 17. Ein handfester Grund war die bereits vollzogene Verlobung mit Charlotte Quistorp. 53 Ernst Moritz Arndt, Reisen durch einen Theil Teutschlands, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799, 6 Theile, Leipzig 1801 – 1803. 54 Diese Erwartungen des jungen Arndt zeigen, wie stark er damals noch dem Denken der theolo­ gischen Spätaufklärung verhaftet war. Arndt, Reisen (wie Anm. 53), Teil 1: Bruchstücke aus einer Reise von Baireuth bis Wien im Sommer 1798, Leipzig 1801, S. 121. 55 Ebd., S. 122. 56 Vgl. zusammenfassend Ott (wie Anm. 33), S. 93 f. 57 Vgl. ebd., S. 106 – 123. Besonders auffällig in den 1805 publizierten Fragmenten über Menschenbildung. 58 Arndt’s Werke (wie Anm. 9), Geist der Zeit I, S. 36. 59 Ebd.

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entweiht“, „seitdem sie selbst ungläubig und atheistisch 60 sind“. Über die Theologie des Rationalismus brach Arndt in Bausch und Bogen den Stab: Ihre Vertreter könnten „keine Tempel wieder füllen und keine beklommenen Busen trösten, solange sie die Lüge und Wahrheit noch zusammenschmelzen wollen“.61 Die gegenwärtige Theologie gebärde sich unsinnigerweise rational und mystisch zugleich, wodurch sie in beide Richtungen alle Glaubwürdigkeit verliere. Freiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, Arndts späterer Mentor, Gesprächspartner und Anreger, der diese kritische Kirchenanalyse teilte, empfahl in seinem Politischen Testament 1808 ausdrücklich eine Reform der Geistlichkeit, die auch eine Entlassung „unwürdiger“ Pastoren einschließen sollte.62 Angefangen hatte für Arndt der rasante Auflösungsprozess der tradierten christlichen Glaubenskultur um „1770“, also just zum Beginn seines eigenen Lebens. Seitdem habe sich „alles [,] was vornehm und gelehrt scheinen wollte“, angewöhnt, „den Glauben der Väter veraltet“ zu finden.63 Diese Fehlentwicklung des Christentums habe die Prägejahrzehnte seines Lebens begleitet, und bei dieser Einschätzung blieb auch der späte Arndt. Als Friedrich Schleiermacher seine berühmten Reden über die Religion veröffentlichte, zielte er mit dieser Programmschrift bekanntlich auf „die Gebildeten unter ihren Verächtern“.64 Zu diesen gehörte damals auch Ernst Moritz Arndt. Er brauchte noch Jahre und viele Gespräche, bis sich seine jugendliche Kritik in eine gereifte Positionsbestimmung des eigenen Glaubens verwandelte. Seine früh erworbene Bibelkenntnis hatte ihn nicht vor einem Unsicherwerden im tradierten Glauben gefeit. „Alles steht im Nichts“, hatte er seine erfolgreiche Kampfschrift von 1806 enden lassen, „und alles strebt und arbeitet zum Nichts hin. Es fällt und stürzt und bricht alles Alte, und die Zeit hat die Einreißer, Zerstörer, Probemacher, Verwirrer, Gaukler und Despoten die Menge gesandt, die Vernichtung zu beschleunigen. […] Aus ­diesem vollen Nichts, was jetzt ist, kann nichts werden, wer darin stillsteht, kommt um, wer darin leben kann, ist ein Sünder oder Tor.“ Arndt setzte darum seine Hoffnung auf eine gründliche Zerstörung alles Verdorbenen. Doch „nach dem Elend“ werde „Freiheit und Gerechtigkeit“ geboren und „der unendliche Geist“ wieder „vom Himmel herab“ den Menschen „in ganzer Glorie“ zeigen. Doch die Gegenwart lebe im Wahn.65 60 Arndts Terminologie hat oft – so auch hier – einen Eigensinn; theologische Sprachkonventionen, die „lebendigen“ Glauben in dogmatisch abgestandene Formeln zu bannen suchten, zieh er des „Atheismus des Begriffs“. 61 Arndt’s Werke (wie Anm. 9), Geist der Zeit I, S. 47 f. 62 Heinz Duchhardt, Stein. Eine Biographie, Münster 22010, S. 233. Das Konzept des „Politischen Testaments“ entwarf Theodor von Schön. 63 Albrecht Dühr und Erich Gülzow (Hg.), Gerettete Arndt-Schriften, Arolsen 1953, S. 137. 64 Die Erstfassung erschien 1799, zuletzt als Studienausgabe: Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 21806, 31821, hg. von Niklaus Peter, Frank Bestebreurtje und Anna Büsching, Zürich 2012; vgl. außerdem die Merksatz-Kurzfassung: Katechismus der wahren Religion für die Verächter der (positiven) Religion von Friedrich Schleiermacher aus dessen Reden über die Religion entworfen von Christian Timotheus, Hamburg 1818. 65 Arndt’s Werke (wie Anm. 9), Geist der Zeit I, S. 204 f.

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Arndts Prägejahre fielen in eine Epoche der Übergänge. Statt zu einem Prediger der ­ irche entwickelte sich der Zeitgeistkritiker zum „Prediger des Nationalgefühls“. In dieser K Rolle wurde er öffentlich wahrgenommen, geschätzt und schließlich zur erinnerungspolitischen Ikone des „Befreiungskampfes“, der Entwicklungsgeschichte des Nationalbewusstseins und der Genese des deutschen Nationalstaats.66 Arndts Erfolgswerk von 1806 wurde zum „Evangelium vieler Patrioten“.67 Form und Pathos entlehnte er der Kanzelrhetorik. Theologische Figuren füllte er in eigenwilliger Richtung. So stempelte er Napoleon zum „Virtuosen des Bösen“, der seine teuflische Rolle ebenso perfekt wie perfide spiele. Biblische Begriffe wie „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“, „Versöhnung“ kommen ihm immer wieder in die Feder, bleiben aber merkwürdig unterbestimmt und haben keinen Bezug zur theologisch-biblischen Tradition. Die prinzipielle Verbindung seiner Predigtinhalte mit dem Inhalt des biblischen Christentums sah Arndt zeitlebens ihm Begriff der „Freiheit“ gegeben, eine Denkfigur, die viele Protestanten teilten:68 Der christlich-biblische Freiheits-Begriff sei durch die Reformation zum zentralen Begriff der Geschichtsentwicklung geworden. In der postrevolutionären Gegenwart barg d ­ ieses geistig-geistliche Erbe des Protestantismus die notwendige Fortentwicklung zur politischen Freiheit. Dieses Credo grundiert Arndts Beiträge. So formulierte er erneut 1831: Das „Christenthum in seinen Folgen und Früchten genießen auch diejenigen unter den Europäern, w ­ elche eigentlich nicht von seiner feinen und freien innerlichen Zucht, sondern nur von seinem äußeren Rahmen umfaßt und gehalten werden.“ Die Chancen einer umfassenden Freiheitspartizipation stünden aber in jenen Gesellschaften günstiger, die sich bewusst als christliche verstünden und konstituierten. „Das kann man aber sagen, ohne Prophet zu seyn, daß dasjenige Volk, in welchem der zugleich milde und gehorsame und doch so starke und tapfre Geist des Christenhtums der lebendigste ist, auch die sicherste Freiheit erlangen und am längsten besitzen wird.“ 69 Deutschland hatte für ihn darum bessere Aussichten als Frankreich.70 Der Protest der Göttinger Sieben 1837 gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover war für ihn ein notwendiger Akt „ächter Protestanten“.71 66 Vgl. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München/Berlin 51919, bes. S. 93 – 97. 67 Wilhelm Steffens, Einleitung des Herausgebers, in: Arndt’s Werke (wie Anm. 9), S. 8 u. 11. 68 Vgl. Christian Senkel, Patriotismus und Protestantismus. Konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs ­zwischen 1749 und 1813 (Beiträge zur historischen Theologie 172), Tübingen 2015. 69 Ernst Moritz Arndt, Ueber Demokratie und Centralisation, in: ders., Mehrere Ueberschriften nebst einer Zugabe zum Wendtschen Musenalmanach für 1832, Leipzig 1831, S. 6 – 53, Zitat S. 37. 70 Dass die inneren Verhältnisse Russlands seiner These (Konnex von Christentum und Freiheit) widersprachen, kam ihm 1831 nicht in den Sinn; in den Erinnerungen entfaltete Arndt trotz seiner Bewunderung des russischen Freiheitskampfes am Maßstab mangelnder innenpolitischer Freiheit deutliche Russlandkritik. 71 Brief an Karoline Hegewisch v. 05. 01. 1838, in: Dühr (wie Anm. 52), Bd. 2, S. 539; vgl. Ott (wie Anm. 33), S. 274 f.

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Abschließend diskutierte Arndt 1845 in der fast 300-seitigen Zugabe zu seiner Übersetzung von Morellys Gesetzbuch der Natur noch einmal den religionskulturellen Einfluss des Christentums auf die Weltgeschichte. Arndt erklärte sich mit der Entwicklung der letzten 50 Jahre zufrieden: „[E]s kann das Geschlecht frischer, freier und kühner in den neuen Zustand, ja in die neue Zeit hineinschreiten. Denn eine neue Zeit ist es, und ich sage eine bessere Zeit und ich sage eine christlichere Zeit“.72 Die Französische Revolution habe die Wiedergeburt des Christentums befördert und die Besinnung darauf, was es im Kern bedeute: „Das Christenthum, das behaupte ich, ist die Lehre der würdigen Freiheit und Gleichheit auch auf der Erde, nicht nur im Himmel und vor dem Altar […]“.73 Die gemeinsame Religionskultur hatte schon dem schwedischen Untertan als bestimmender Faktor der europäischen Entwicklung gegolten. „Freilassung der Geister“ und „Freiheit der Völker“ waren für ihn christliche Fernwirkungen. Der Protestantismus habe an dieser Entwicklung entscheidende Aktien. Aus der politischen Unfreiheit der napoleonischen Besatzung heraus sollte nun auch ein neuer Protestantismus entstehen. 1810 lernte Arndt im Berliner Patriotenkreis überwiegend protestantische Freiheitsaktivisten kennen. 1812 entschied sich sein persönlicher Anschluss an die Geschicke des preußischprotestantischen Staates.74

5. Der selbsternannte Prophet Arndts Kampfansagen gegen unbelehrbare Kosmopoliten, die „ohne Vaterland, Religion und Zorn“ 75 die politische Freiheit verspielten, beschäftigten ihn ein reichliches Jahrzehnt – und zwar aus seiner Sicht stellvertretend für die, die eigentlich im prophetischen Amt stehen sollten: die Schriftsteller, die Philosophen, die Geistlichen. Doch unter jenen Fachmenschen habe er fast nur Kritikaster, Schmeichler, Heuchler oder Feiglinge gefunden. Arndt beanspruchte nach Jena und Auerstedt sukzessive für sich selbst die Rolle des Propheten. Schon der II. Teil seines Geist der Zeit atmet diesen Gestus. Im Mai 1807 informierte der Autor den befreundeten Propst Frederik Bogislaw von Schwerin (1764 – 1834) über 72 Nachgedanken und Nachbetrachtungen aus der Zeit, in: Diderot’s Grundgesetz der Natur, übersetzt nebst einer Zugabe von Ernst Moritz Arndt, Leipzig 1846, S. 318 – 403, hier S. 326. Den zugrunde liegenden Code de la nature, ou le véritable esprit de ses loix, de tout tems négligé ou méconnu, Paris 1755 verfasste nicht Diderot, sondern Étienne-Gabriel Morelly (1717 – 1778); Arndts Übersetzung wurde mit ausführlicher Einleitung neu ediert von Karl Krauss, Leipzig 1964 – jedoch ohne Arndts dreiteilige Zugabe. 73 Ebd., S. 321 f. 74 Arndts Biographie aus der Perspektive des schwedischen Staatsbürgers, der Arndt noch bis 1815 war, beleuchtet Johannes Paul: Ernst Moritz Arndt, „Das ganze Teutschland soll es sein!“ (Persönlichkeit und Geschichte, 63/64), Göttingen 1971, gestützt auf die Arbeit von Uno Willers, Ernst Moritz Arndt och hans svenska förbindelser. Studier i svensk-pommersk historiografi och svensk opinionsbildning, Stockholm 1945. 75 Arndt’s Werke (wie Anm. 11), Geist der Zeit II, S. 30.

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die Entstehung des Textes: „Ich habe etwas über die letzten Zeiten geschrieben, was vielleicht einmal das Licht sieht“. Es sei ein „Ozean von Ideen“ und „Hoffnungen“ geworden, angestoßen von der Frage: „Sollten wir denn endlich alle sündliche Kopfhänger und Despotenknechte werden und nichts Edleres haben, als vergebliche Arbeit und tierischen Genuß?“ Arndt antwortete: „Nein! Nein! Protestanten protestieren.“ 76 Anderthalb Jahre ­später erschien dieser II. Teil des Geist der Zeit. In der Zusammenfassung seines zweiten Pamphletes zu ­diesem Band ließ Arndt – inzwischen aktiver Sympathisant der Vorbereitung eines antinapoleonischen Befreiungskampfes – die geistige Entwicklung der Gegenwart auf ein neues Religionsstadium zulaufen: „Ein Volk zu sein, ein Gefühl zu haben für eine Sache, mit dem blutigen Schwert der Rache zusammenzulaufen, das ist die Religion unserer Zeit: durch diesen Glauben müßt ihr einträchtig und stark sein, durch diesen den Teufel und die Hölle überwinden. Laßt alle die kleinen Religionen und tut die große Pflicht der einzig höchsten, und hoch über dem Papst und Luther vereinigt euch in ihr zu einem Glauben. Das ist die höchste Religion, zu siegen oder zu sterben für Gerechtigkeit und Wahrheit, zu siegen oder zu sterben für die heilige Sache der Menschheit, die durch alle Tyrannei in Lastern und Schanden untergeht; das ist die höchste Religion, das Vaterland lieber zu haben als Herren und Fürsten, als Väter und Mütter, als Weiber und ­Kinder; das ist die höchste Religion, seinen Enkeln einen ehrlichen Namen, ein freies Land, einen stolzen Sinn zu hinterlassen; das ist die höchste Religion, mit dem teuersten Blute zu bewahren, was durch das teuerste, freieste Blut der Väter erworben ward. Dieses heilige Kreuz der Welterlösung, diese ewige Religion der Gemeinschaft und Herrlichkeit, die auch Christus gepredigt hat, macht zu eurem Banner und nach der Rache und Befreiung bringt unter grünen Eichen auf dem Altar des Vaterlandes dem schützenden Gotte die fröhlichen Opfer.“ 77 Arndt unterließ es, seine steile Behauptung, auch Christus habe einen Freiheitskampf gepredigt, zu belegen oder kritisch zu prüfen. Er hätte keinen Beleg beibringen können. Aber Arndt glaubte damals und ­später, seine beschworene „Religion“ der gemeinschaftlichen Selbstermächtigung im Namen der Freiheit stehe in genetischer Beziehung zum Evangelium Christi. Ähnlich freihändig erscheinen in diesen Jahren der Kriegsvorbereitung 78 auch Arndts Bezüge auf Martin Luther. Eine inhaltlich prüfende Beschäftigung mit Luthertexten deutet sich bei Arndt frühestens in seiner hymnologischen Schrift von 1819 an, ausgiebige Luther­studien erst ab den späten 1820er Jahren.79 Wesentlicher war ihm die geschickte 76 Dühr (wie Anm. 52), Bd. 1, S. 150. 77 Arndt’s Werke (wie Anm. 11), Geist der Zeit II, Blick vorwärts (Jan. 1807), S. 85. Hervorhebungen im Original. 78 Vgl. hierzu grundlegend Rudolf Ibbeken, Preußen 1807 – 1813. Staat und Volk als Idee und Wirklichkeit. Darstellung und Dokumentation (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz 5), Köln/Berlin 1970. 79 Kleinere Luther-Exzerpte sind in Arndts Nachlass schon aus den Jahren 1804 und 1810 überliefert, jedoch thematisch mit anderen Autoren vermengt. Vgl. Paul Hermann Ruth, Arndt und die Geschichte (Beiheft der Historischen Zeitschrift, 18), München/Berlin 1930, S. XXIV.

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­ achahmung der Lutherbibelsprache 80 in einigen seiner gut 40 Flugschriften und PamphN lete während der Kriegsjahre 1812 – 1815.81 Er setzte den Reformator seit seinen Frühschriften gerne als Ikone der Verehrung ein. Mehrfach diente Luther schlichtweg als Epochenmarke eines revolutionären Dreischritts: Mit Christus sei die erste Geistesrevolution gekommen, mit Luther die zweite, die „Französische Revolution wird die dritte große Epoche des Christentums machen“.82 Die Folge der Französischen Revolution sei nun die Entwicklung einer „Zeit der Religion des Lichts“, „das erhöhte und vergeistigte Christentum“.83 Aufpassen müsse man nur, dass die „Lügenpropheten“ des „bonapartistischen Evangeliums“ nicht Oberwasser erhielten.84 Das durch Napoleons Universalmachtansprüche eingetretene Unglück, glaubte Arndt, „wird die Menschen stark, tapfer und gläubig machen; Glaube ist ewig bei dem Starken, der Schwächling ist Atheist“.85 Äußerungen zum Thema Glauben und Christentum mehrten sich in Arndts privaten und öffentlichen Mitteilungen seit 1806 zunehmend. Was man in seinen Beiträgen vor 1809 jedoch nirgends findet, sind direkte biblische Zitate. Spätestens seit 1809 aber waren die alttestamentlichen Prophetenbücher und Psalmen wieder seine Begleiter geworden. Anfang 1810 dedizierte er Charlotte von Kathen eine „Lied-Predigt“, ein Gedicht, das erstmals einen biblischen Vers umkreist, bezeichnenderweise ein prophetisches Kriegswort aus dem Hesekiel-Buch: „Ich will das Schwert lassen klingen, die Herzen sollen verzagen“ (Ez 21,15).86 Diese Liedpredigt gilt als „das erste der deutschen Vaterlandslieder Arndts“. In ihm ist der biblische Gott bereits zum deutschen Nationalgott geworden und die nationale Erhebung erscheint in religiöser Verklärung.87 Besonders intensiv widmete sich Arndt dem Alten Testament während seines Breslauer Aufenthaltes im Frühjahr 1812, so dass er bald ein neues Exemplar seiner Handbibel 80 Zu den Details vgl. Gerhard Graf, Zur Nachahmung des Lutherdeutsch bei Ernst Moritz Arndt, in: Herbergen der Christenheit, 13 (1981/82), S. 119 – 131; Walther Schacht, Die Sprache der bedeutenderen Flugschriften Ernst Moritz Arndts, Bromberg 1911. 81 Den Höhepunkt bildete das Jahr 1813 mit 22 selbstständigen Schriften Arndts. Detaillierte Übersicht bieten Karl Heinz Schäfer und Josef Schawe, Ernst Moritz Arndt. Ein bibliographisches Handbuch 1769 – 1969 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 8), Bonn 1971. 82 Arndt’s Werke (wie Anm. 11), Geist der Zeit II, S. 130. Die grundsätzlich akzeptierte Bedeutung schloss Kritik ein: „die atheistischen und metaphysischen Greuel der ersten fünf Jahre der Französischen Revolution“ könne man nur „mit Abscheu“ erinnern, Arndt’s Werke (wie Anm. 9), Geist der Zeit I, S. 181. 83 Arndt’s Werke (wie Anm. 11), Geist der Zeit II, S. 139. 84 Ebd., S. 153. 85 Ebd., S. 137. 86 Die Fortsetzung lautet: „und viele sollen fallen an allen Toren. Ach, wie glänzet es und hauet daher zur Schlacht! Und sprechen: haue darein, beides, zur Rechten und Linken, was vor dir ist. Da will ich dann mit meinen Händen darob frohlocken, und meinen Zorn gehen lassen. Ich, der HERR, habe es gesagt“ (Ez. 21,15b–17). 87 Ausführlich besprochen durch Ott (wie Anm. 33), S. 171 – 175. Zu den geistesgeschichtlichkonfessionellen Hintergründen vgl. Senkel (wie Anm. 68).

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benötigte. Am 1. Mai bat er seine Schwester, der Großtante Sophie auszurichten, sie möge ihm „eine neue Bibel ­schicken biblisch eingebunden, daß er fleißig darin lese“. Zusammen mit Ernst von Skorck, dem späteren Generaladjutanten der Russisch-Deutschen Legion,88 diskutierte und konzipierte er den Einsatz prophetischer Sprache zu Zwecken der Massen­beeinflussung. Die zum größeren Teil von Arndt selbst in diesen Monaten verfassten F ­ antasien für ein künftiges Teutschland sind eines der beiden greifbaren publizistischen Ergebnisse dieser Diskussion.89 Die inhaltliche und rhetorische Problematik möchte ich an dieser wenig bekannten Schrift zeigen. Das prominentere und oft besprochene Parallelbeispiel stellt Arndts Katechismus für den teutschen Kriegs- und Wehrmann, worin gelehrt wird, wie ein christlicher Wehrmann seyn und mit Gott in den Streit gehen soll dar.90 Dieser im Sommer 1813 verfasste und danach vielfach aufgelegte Kriegskatechismus 91 entstand im Auftrag des Deutschen Komitees zum Zwecke der Truppenmobilisierung und Freiwilligenwerbung. Beide Schriften prägt die Attitüde prophetischer Rede. Die Fantasien für ein künftiges Teutschland wurden allerdings erst Anfang 1815 gedruckt. Dennoch markiert diese Schrift Arndts Einstieg in eine massenpsychologisch motivierte Schreibtechnik. In den Fantasien propagierte Arndt „in ganz einfacher Sprache“ 92 und damit massentauglich Vorstellungen vom künftigen Deutschland und die dazu nötigen kriege­rischen Schritte.93 Der Zusammenhang mit ­später entstandenen Arndt-Schriften ist evident. Die inhaltliche Gesamtkomposition der Fantasien soll jetzt jedoch nicht besprochen werden. In Perspektive auf den Verfasser ist hier auf das laientheologische Mobilisierungskonzept einzugehen. Die Rhetorik prophetischer Visionen setzte Arndt konsequent in den ersten zwölf Kapiteln ein. Erkennbar dienten ihm hierbei die biblischen Bücher Hesekiel, Sacharja bzw. 88 Zu Skorck vgl. Gabriele Venzky, Die russisch-deutsche Legion in den Jahren 1811 – 1815 (Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München 30), Wiesbaden 1966. 89 E. v. S. [= Ernst von Skorck], Fantasien für ein künftiges Teutschland, hg. von E. M. Arndt, Frankfurt 1815 [greifbar als Digitalisat]. Zur Entstehungs- und Druckgeschichte vgl. Schäfer und Schawe (wie Anm. 81), Nr. 561. Die Arbeit an dieser Schrift wurde mehrfach unterbrochen. Das endgültige Vorwort datiert vom 08. 02. 1814. 90 Er erschien 1813 – 1815 in 15 Auflagen in einer Gesamtstückzahl von schätzungsweise 80.000 Exemplaren. Die 15. Auflage 1815 ist die erweiterte endgültige Fassung, die vielfach nachgedruckt wurde, allerdings regelmäßig ohne die kompositionell durchdachten Liedanhänge; den besten Abdruck des Prosatextes mit Synopse der Vorform des Kurzen Katechismus (= Soldatenkatechismus) von 1812 bietet Geerds: Ernst Moritz Arndts ausgewählte Werke in 16 Bänden, hg. von Heinrich Meisner und Robert Geerds, Leipzig o. J. [1908], Bd. 13: Kleine Schriften I, hg. u. mit Anmerkungen versehen v. Robert Geerds, S.  19 – 76. 91 Zum Aufbau und Charakter zuletzt Christoph Jürgensen, Federkrieger. Autorschaft im ­Zeichen der Befreiungskriege, Stuttgart 2018, S. 198 – 203. Ungeklärt ist, inwiefern Arndts Buchtitel bewusst auf den Catéchisme impérial reagierte, den Napoleon für sein französischdeutsches Imperium 1806 erlassen hatte. 92 So Arndt brieflich an Georg Andreas Reimer, Mitte April 1813, in: Dühr (wie Anm. 52), Bd. 1, S. 253. 93 Zu Arndts Autorschaft der 50 Kapitel vgl. Ernst Müsebeck, Ernst Moritz Arndt. Ein Lebensbild, 1. Buch: Der junge Arndt 1769 – 1815, Gotha 1914, S. 311 f.

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die Johannes-Offenbarung als Vorlage. Eine seiner Zentralthesen deckt sich mit dem rheto­ risch ähnlich gestalteten Katechismus von 1813: „Blutvergießen ist immer ein Gräuel, aber nicht das Blut, das für Freiheit und Tugend fließt.“ 94 Das deutsche Volk erscheint bereits hier als erwähltes Volk, das zurück zu seiner Bestimmung finden müsse. Der Deute-Engel wird beauftragt: „Sage auch d ­ iesem faulen Volke: ich bin nicht der Gott ihres ewigen Friedens; ich bin der Gott, der Rächer, der Furchtbare, der Zermalmende, den nach Kampf und Krieg gelüstet. Sonst wäre alle Geschichte, die meine Geschichte ist, eine Lüge; denn ihr Anfang ist Krieg und ihr Ende wird Krieg seyn. […] Ihr Friede heißt Tod und Fäulniß, mein Krieg heißt Leben und Bewegung. […] Darum, so spricht der Herr, zaget nicht; ich werde euch nie verlassen, solange ihr euch selbst nicht verlasset.“ 95 Einige Abschnitte formulierte Arndt in fast ungenießbar anmaßender Form. Im neunten Kapitel „Vom Kampfe für das Vaterland“ begründet er die Notwendigkeit des Krieges mit seiner Spezialthese: „Denn ohne Haß vergeht alles, wie ohne Liebe alles vergehet. Dies ist die Waffe des irdischen Menschen, woran er täglich seine Tugend prüfen muß.“ 96 Die unmittelbar anschließende Argumentationskette kleidet er in eine direkte Rede Gottes: „Ich habe euch nicht umsonst das Elend und die Schmach der letzten Jahre geschickt. Ihr solltet fühlen lernen, wie unglücklich und nichtig ein Volk wird, das der brüderlichen Liebe mangelt und die Bande der Eintracht zerreißt.“ 97 Arndts „Gottes“-Rede mündet äußerst provokant: „Ich aber, der Gott des Friedens, predige euch Krieg, einen heiligen Krieg, den Krieg für eure Freiheit, eure Sprache, eure Gesetze, euer Vaterland, ja den Krieg für eure Weiber und Kinder, eure Brüder und Schwestern, eure Verlobten und Bräute, den Krieg für das gegenwärtige und zukünftige Geschlecht.“ 98 Wie in seinen späteren Kriegerertüchtigungsschriften schränkte der Verfasser immerhin ein, dass damit weder eine Lizenz zur Grausamkeit noch eine zur Eroberung gegeben sei. Es gehe „nur“ darum: „Den Feind schlagen, einige große Schurken strafen, den kleinen Sündern verzeihen […] und euer Land für einen schöneren und tüchtigeren Zustand einrichten – das werdet ihr, das müsset ihr thun.“ Schon das Scheitern von Napoleons Russlandfeldzug war Arndt ­Zeichen des Gottes­ gerichts gewesen. Der „deutsche Gott“ habe sich zur Sache der Freiheit bekannt: „Gott hat Gericht gehalten, Gott hat die Bahn geöffnet, Gott will, wollet auch!“ 99 Sogleich nach der Leipziger Völkerschlacht jubelte der Federkrieger: „Gott gab uns die Kraft, Gott gab uns das Glück, Gott wollte, wir haben wollen müssen.“ 100 Arndt sah das biblisch-­theologische 94 95 96 97 98 99

Fantasien (wie Anm. 89), S. 15. Ebd., S. 14 und S. 18. Ebd., S. 45. Zum Thema Hass vgl. den Beitrag von Dirk Alvermann in d ­ iesem Band. Ebd., S. 45. Ebd., S. 49. Dort auch das Folgende. Ernst Moritz Arndt, An die Preußen (1813), in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 90), S. 77 – 83, hier S. 83. Die letzte Aussage in Anspielung an die Kreuzzugsrede Urbans II. auf der Synode von Clermont (1095). 100 Ernst Moritz Arndt, Das preußische Volk und Heer im Jahre 1813, in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 90), S. 137.

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Schema von Verheißung und Erfüllung in der eigenen Gegenwart sich wiederholen. Mit vielen anderen propagierte er die Vorstellung: Wer sich am Befreiungskampf beteilige, werde Helfer von Gottes gerechtem Handeln; dieser Krieg sei ein heiliger.101 Der geistig-moralische Spagat, den Arndts Kriegsertüchtigungspublikationen prägen, ein Spagat ­zwischen tatenversessener Wehrhaftmachung bei gleichzeitiger Sicherung eines ethisch korrekten Handelns „christlicher“ Soldaten, ließe sich thematisch breit entfalten und problematisieren.102 Theologische Anstößigkeiten nahm Arndt nicht nur in Kauf, sondern inszenierte sie. Zeitunmittelbar wurde dies allerdings kaum thematisiert.103 Arndt sah in Gott den alliierten Lenker des antinapoleonischen Befreiungskrieges. Offenbar teilten Zeitgenossen weithin seinen politisch-moralischen Ansatzpunkt: das antiimperiale Freiheitspostulat, das sich Arndt damals und ­später nicht ausreden ließ und deren Wirkung von langer Dauer war.104 Noch im 20. Jahrhundert bezogen sich intellektuelle Protestanten positiv auf jene Arndttexte, deren manipulative Technik, bellizistischer Gestus und religiöse Verbrämung heute zum Problem geworden sind. Der tiefgläubige Kulturjournalist Tim Klein beispielsweise bezog sich mit seinem Arndt-Urteil mit Nachdruck auf den populären Kriegskatechismus: „Wenn es eine Aufgabe des Propheten ist, sein Volk in den Krisen seiner Geschichte zu strafen, dann ist Arndt ein Prophet.“ 105 Arndt selbst waren seine zahlreichen rhetorischen Grenzüberschreitungen bewusst. Aber er sah angesichts der Freiheitsbedrohungen offenbar keine Alternative zu dem propagierten Hass, den er aus Prophetenbüchern des Alten Testaments legitim zu kondensieren glaubte und im antinapoleonischen Befreiungskampf motivisch auf Dauer gestellt wissen wollte. Noch vor Abschluss des Wiener Kongresses antizipierte er die nachträgliche Kritik: „Ich bin ein Barbar, ein Heide, ein Unchrist, werden sie sagen und verklagen, solchen Haß und ­solche Erbitterung predige ich. Ich antworte ihnen: Keiner werfe den ersten Stein auf seinen Nächsten; aber ich glaube ein ebenso guter Christ zu sein als sie. Gott hat Freiheit gewollt 101 Vgl. Gerhard Graf, Die Devise „Mit Gott für König und Vaterland!“ Eine Orientierung auch für die Disziplin Kirchengeschichte, in: Praktische Theologie 74 (1985), S.478 – 497; auch ­Ibbeken (wie Anm. 213), S. 25 f. (J. Görres). 102 Grundlegend dazu Karl Heinz Schäfer, Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zur Publizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewußtsein im frühen 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 13), Bonn 1974. 103 Arndts Kollisionen mit der Zensur dokumentieren Paul Czygan, Zur Geschichte der Tagesliteratur während der Freiheitskriege, Bd. 1: Einleitung und Einführung, Leipzig 1911; Bd. 2/1: Aktenstücke, Leipzig 1909; Bd. 2/2: Aktenstücke, Leipzig 1910 sowie Schäfer (wie Anm. 102), Exkurs V, S.  264 – 269. 104 In dialektischer Form von Arndt schon während seines Parisaufenthaltes 1799 kritisch im Blick auf kriegsfördernde Demokratien und die französische Außenpolitik formuliert: „und man plündert nach einem neuen System des Völkerrechts Nationen, um sie frei zu machen, und machte sie frei, um sie zu plündern“. Arndt, Reisen (wie Anm. 53), III. Theil, Leipzig 21804, S. 203. 105 Tim Klein, Ernst Moritz Arndt, in: ders., Lebendige Zeugen. Deutsche Gestalten im Gefolge Christi, Berlin 1937, S. 131 – 151, hier S. 138.

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und geboten, Tyrannei und Sklaverei ist nicht von Gott, noch ist das kleine und sklavische Gemüt von Gott, daß sich in gutmütiger Schlaffheit jede Erniedrigung gefallen läßt […]. Ich will Haß gegen die Franzosen, damit Deutschland künftig sicher sei, ich will die Franzosen in Deutschland vertilgt wissen, weil sie mein Vaterland unterjochen wollen. Soweit soll gehaßt und gekriegt werden, und recht mit voller Seele. Wo [aber] die größere Liebe und Menschlichkeit, wo die Christlichkeit und Göttlichkeit meines Geschlechts, kurz, wo der große Bund der Völker und die allgemeine Menschheit beginnt, das weiß ich so gut als sie, und vielleicht besser als sie. Ich erlaube dagegen den Franzosen, mich ebenso zu hassen und totzuschlagen in ihrem Lande, wenn ich dahin als ein Eroberer kommen will. Freiheit der Völker einander gegenüber, edler Wetteifer, stolzes Gleichgewicht der Kräfte, das gefällt Gott, das hat Gott geschaffen, das ist Gottes Welt.“ 106 Das theologisch-religionskulturell rückgebundene Freiheitspostulat rechtfertigte in Arndts Augen seinen Einsatz für den Freiheitskampf. Seine Mitarbeit an der psychologischen Kriegsführung als „unermüdlicher Schreiber“ war eine der Konsequenzen. Dass in seinen „prophetischen“ Texten die Vermengung biblischer Zitate mit eigenen Ideen und die manipulative Rhetorik anmaßenden Charakter tragen, scheint sich Arndt ­später selbst eingestanden zu haben. So räumte der alte Arndt Verstiegenheiten in seiner Kriegspublizistik ein. Sein Berufsverbot deutete er 1840 „als ein Verhängniß des ausgleichenden und gerechten Gottes, der mich für manche trotzige und kühne Worte hat bezahlen lassen wollen“.107 Allerdings glaubte sich Arndt dennoch mit seinem religiös verklärten Nationalstolz zeitlebens auf biblisch-alttestamentlicher Grundlage legitimiert: In die Rolle des erwählten Gottesvolkes, das in der Antike das biblische Israel war, war für ihn das deutsche Volk gerückt. Und auch der Stolz auf seinen Beitrag zur Soldatenertüchtigung wirkte bis ins Alter fort. Zur Wirkungsgeschichte seines Katechismus von 1813 notierte er in den Erinnerungen nur scheinbar bescheiden: „Ich weiß nicht, ob er [= der Katechismus] irgend ein Herz zum Kampfe begeistert hat – dazu hatten die Franzosen mit rother Dinte den rechten Katechismus geschrieben – aber daß er manchem verwundeten Krieger in Lazarethen ein Trost gewesen ist, das weiß ich, und das ist auch mir ein Trost gewesen.“ 108 Die Transformation biblisch-prophetischer Zeit- und Religionskritik in einen religiös aufgeladenen Bestätigungsnationalismus betrieb Arndt in seinen Kriegspropagandaschriften weitgehend unkritisch. Er tat das nicht allein.109 Aber mit seinen patriotischen Pamphleten und Liedern war er besonders bildprägend und punktuell wirksam, denn „Arndt war der einzige von allen Flugschriftenpublizisten der Freiheitskriege, der ein ebenso breites Publikum wie die großen Zeitungen erreichen konnte. Er war wohl überhaupt der letzte 106 107 108 109

Arndt’s Werke (wie Anm. 39), 8. Teil: Geist der Zeit III, S. 178. Hervorhebungen im Original. Arndt, Erinnerungen (wie Anm. 44), S. 338. Ebd., S. 209. Vgl. Gerhard Graf, Gottesbild und Politik. Eine Studie zur Frömmigkeit in Preußen während der Befreiungskriege 1813 – 1815 (FKDG 52), Göttingen 1993.

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deutsche Publizist, dessen Flugschriften den Zeitungen die publizistische Führung streitig machen konnten.“ 110 Seine während des Krieges wiederholt vorgetragene Idee, die bisherigen ­konfessionellen Gemeinschaften sollten in der kämpferisch-nationalen Volksgemeinschaft aufgehen, setzte sich nicht durch. Ein kritischer Beobachter urteilte darüber ein Jahrhundert ­später: „Die Befolgung von Arndts Vorschlag hätte die Religion zu dem gemacht, was sie für den damaligen Arndt tatsächlich nur war, zu einer bloßen Verklärung der Vaterlandsliebe.“ 111 Allerdings entwickelte sich aus den nationalreligiösen Ansätzen der „deutschen Erhebung“ nach und nach doch so etwas wie eine säkulare Ersatzreligion, die im ausgehenden 19. Jahrhundert anfing, auch die kirchliche Verkündigung mitzubestimmen. Arndt steuerte seinen Beitrag zu dieser problematischen Genese bei.

6. Das christliche Gemeindeglied Der agitierende Kriegsschriftsteller Arndt hatte das Alte Testament gelesen und benutzt. Der älter werdende Arndt beschäftigte sich verstärkt mit dem Johannes-Evangelium, den paulinischen und apostolischen Briefen. Zum Reformationsjubiläum 1817 weilte der frisch vermählte Schwager Schleiermachers bereits in Bonn. Dem dortigen Geschichtsprofessor 112 rückte die protestantische Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre nahe. Schon 1819 ist das in einigen seiner geistlichen Lieder zu erkennen. In seinem Abendmahlslied heißt es: Kommt her, verzagte Sünder Und werft die Aengste weg! Kommt her, versöhnte Kinder, Hier ist der Lebensweg […]113

Über den Wert seiner geistlichen Lieder äußerte sich Arndt rückblickend auffallend bescheiden und damit konform zu seiner neugewonnenen Haltung: „Dies sage ich Ihnen [=Anna Schlatter] nur, damit Sie den alten Arndt sich denken, wie wir meist sind, als einen nicht ganzen, sondern als einen unvollkommenen und durch das Gefühl seiner Sündhaftigkeit 110 Schäfer (wie Anm. 102), S. 179. Zur Auflagenhöhe von Arndts Kriegspublikationen ebd., Exkurs IV, S. 256 f. Skeptisch über den Einfluss der Mobilisierungsschriften Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag, Wahrnehmung, Deutung 1792 – 1841, Paderborn 2007, S. 482 – 491. 111 Karl Holl, Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. III: Der Westen, Berlin 1928, S. 302 – 384, hier S. 363. 112 Dazu zuletzt Christian Berger, Die Gründung und Einrichtung der Universität Bonn und die Berufungspolitik des Kultusministers Altenstein, Bonn 1982, S. 87 – 103. 113 Arndt (wie Anm. 2), S. 109. (EG 213, 2, wo jedoch „Lebensweg“ zu „Liebesweg“ geworden ist).

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und Gebrechlichkeit nur zu oft auch gelähmten und klanglosen Menschen. Was er vielleicht Gutes hat, das gab ihm der liebe Gott umsonst, besonders die Gnade, daß ihm Zuversicht immer frischer wächst, wie die Noth drängt, und daß er glauben kann, auch wo das Herz diese Seligkeit und Liebe des Glaubens nimmer verdient.“ 114 Eine gewisse Demut scheint bei ihm durch das 1820 verhängte Berufsverbot verstärkt worden zu sein; jedenfalls erlebten in den Jahren der beruflichen Hinderung mehrere seiner Briefpartner – insbesondere seine Freundinnen – einen geistlich ansprechbaren „alten“ Arndt.115 Laientheologisch hielt er sich – abgesehen von seiner hymnologischen Schrift – weitgehend zurück. Kirchenpolitisches diskutierte er eher mündlich. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die 1844 verfasste Schrift Über den gegenwärtigen Stand des Protestantismus, deren Titel allerdings mehr verspricht, als sie inhaltlich einlöst.116 In kirchenhistorischer Hinsicht legte er 1828 eine scharfe Polemik gegen das konfessionell durchfärbte Mittelalterbild und eine entsprechend negative Reformationsdeutung Friedrich von Schlegels (1772 – 1829) vor. Seine 1816 publizierten Ansichten vom fortschrittsfördernden Protestantismus brachte er hier gegen den berühmten Schlegel erneut in Stellung. Der 1808 Konvertierte machte die protestantischen ­Kirchen u. a. für den Atheismus der Neuzeit verantwortlich.117 Arndt war sich dagegen sicher, dass der Protestantismus sowohl den religiösen wie politischen Fortschritt zur Wirkung bringe. Die Anfang 1816 im Wächter publizierten Auslassungen wiederholte er in Variationen immer wieder: „Auch der Geist des Protestantismus ist ein demokratischer im Gegensatze des reinmonarchischen Katholicismus. Dieser Geist will und muß in alle Verfassungen das Seinige hineinthun, und darum wird der Protestantismus noch herrschen, bis das monarchische Prinzip in Europa von dem demokratischen so durchdrungen und gesättigt ist, daß die beiden Kräfte, deren gehörige Mischung allein einen vollkommenen Staat bilden kann, in ein friedliches und einträchtiges Gleichgewicht gekommen sind.“ 118 Gegenüber der innerprotestantischen Erweckungsbewegung allerdings, die seit 1815 aufkam, blieb Arndt dauerhaft skeptisch. Er subsumierte diese Strömung unter den abwertenden Begriff „kränklicher Mystizismus“. Bei grundsätzlich ökumenisch offener Haltung kritisierte er heftig die von sich reden machende Schar jüngerer Protestanten, die 114 An Anna Schlatter in St. Gallen 12. 07. 1820, in: Dühr (wie Anm. 52), 2. Bd., S. 89. 115 Neuerdings rudimentär gesichtet von Gerhard Graf, Wandlungen Ernst Moritz Arndts im Zeitalter der Befreiungskriege, in: Jahrbuch für mecklenburgische Kirchengeschichte 5 (2013), S.  101 – 107. 116 Abgedruckt in: Arndt’s ausgewählte Werke (wie Anm. 90), Bd. 16: Kleine Schriften IV, hg. von Robert Geerds, S. 5 – 33. Arndt wiederholt hier z. T. seine schon 1816 vorgetragene „Geographie des Protestantismus“. 117 Ernst Moritz Arndt, Einige Anmerkungen zur Länderkunde des Protestantismus und zu Friedrich Schlegels Geschichte der alten und neuen Literatur, in: ders., Christliches und Türkisches, Stuttgart 1828, S. 208 – 285; erneut in Arndt, Schriften (wie Anm. 34), Bd. III, S. 1 – 66. Eine religiös-ästhetische Komponente hatte auch Arndts Intimfeindschaft zu dessen Bruder August Wilhelm von Schlegel (1767 – 1845), der 1819 Arndts Bonner Fakultätskollege geworden war. 118 Zum neuen Jahre, in: Der Wächter, 3. Bd. 1816, S. 161 f.

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den Literaten Stolberg, Schlegel, Werner und Brentano folgend zur katholischen ­Kirche wechselte.119 Die Bonner Universität erlebte in den 1820er Jahren mindestens zwei solcher Fälle.120 Mit Schärfe kommentierte Arndt die konfessionell starrer werdende Haltung der katholischen K ­ irche, etwa im Mischehenstreit, aber auch in universitätspolitischen Zusammenhängen. Arndts Papstkritik nahm im hohen Alter deutlich zu. In nationalpolitischer Hinsicht sah er in der katholischen K ­ irche eine widerstrebende Größe. Vehemente Ablehnung äußerte er über den 1814 wiederbegründeten Jesuitenorden, dem er pauschal Machtversessenheit vorwarf. Scharfe Kritik übte er an dem rheinländischen Wallfahrtswesen – für ihn eine Form genasführten Aberglaubens. Seine konfessionellen Ausfälle in den Erinnerungen zogen heftige Polemik auf katholischer Seite nach sich.121 Nicht zu übersehen ist in seinen vier Bonner Jahrzehnten die praktische Kirchenarbeit. Ihr widmete sich Arndt in großer Treue. Von 1818 bis zu seinem Tod 1860 gehörte er mehrfach dem engeren, dauerhaft dem weiteren Kirchengemeinderat der evangelischen Gemeinde Bonn an.122 Diese Gemeinde hatte sich seit 1802 entwickelt, nachdem die von Napoleon dekretierte Kirchensäkularisation den Erwerb von Stiftsland und Kirchengebäuden aufgelöster Orden ermöglichte. Protestantische Industrielle aus Westfalen und dem Bergischen gehörten zu deren Profiteuren. Zusammen mit ihren Angestellten sowie den Soldaten der neuen preußischen Garnison wanderte daraufhin evangelisches Christentum stetig in die ehemals kurkölnische Residenzstadt Bonn ein. Innerhalb eines Jahrzehnts stieg die Zahl der Evangelischen auf über 600 Personen. Das Bedürfnis einer eigenen Kirchengemeinde mit den notwendigen Einrichtungen für Gottesdienste, Unterricht und Sozialpflege führte 1816 zur Gründung der Evangelischen Gemeinde Bonn. Arndt fügte sich hier 1818 als Mitglied des Kirchengemeinderates ein 123 und wurde zum ausgleichenden Pol des Presbyteriums. 119 Zum Phänomen vgl. Figuren der Konversion. Friedrich Schlegels Übertritt zum Katholizismus im Kontext, hg. v. Winfried Eckel und Nikolaus Wegmann, Paderborn/München/Wien/ Zürich 2014. 120 Vgl. Friedrich von Bezold, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität von der Gründung bis zum Jahe 1870, Bonn 1920, bes. Kap. 2 und 3. 121 Vgl. die anonyme Rezension eines „Kölners“, die Anfang 1841 als Flugschrift und Postwurfsendung im Rheinland kursierte. Vollständiger Abdruck bei Ott (wie Anm. 33), Anlage 6, S. 333 – 341; Teilwiedergabe bei Edith Ennen, Ernst Moritz Arndt 1769 – 1860, in: Bonner Gelehrte, Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Geschichtswissenschaften (150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818 – 1968), Bonn 1968, S. 9 – 35, hier S.  29 – 31. 122 Ausführlich hierzu Eugen Strauss, Bilder aus der Geschichte unserer Gemeinde in den Jahren 1819 – 1853/54, 2. Teil: Ernst Moritz Arndt als Kirchenältester, in: Kirchlicher Anzeiger für die evangelische Gemeinde Bonn, 61 (1918), Nr. 14 – 16 (14.4. – 28.4.), S. 82 f., 88 f., 95. 123 Vgl. Arndts Zusagebrief vom 22. 02. 1818, in: Ernst Moritz Arndt. Unveröffentlichte Briefe aus den Stadtarchiven Bonn und Stralsund, bearb. u. hg. v. Hans-Joachim Hacker und Dietrich Höroldt (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 54 / Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund 11), Bonn 1995, S. 49.

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Bei ihrer offiziellen Gründung setzte sich die neue evangelische Gemeinde Bonn paritätisch aus lutherischen und reformierten Protestanten zusammen.124 Noch vor der preußischen Union (1817) konstituierte sich das Bonner Gemeindeleben gewissermaßen gesamtevangelisch. Die Vision einer gesamtchristlichen Kirchenvereinigung hatte Arndt nach seinen ersten rheinländischen Gottesdiensterfahrungen schon 1813/1814 öffentlich geäußert: „Könnte nicht ein Tempel geweihet werden oder zwei in jedem christlichen Lande, ­welche die Tempel des christlichen Gottes heißen, und nicht des katholischen oder lutherischen oder reformierten Gottes? […] wo alles, was von Musik und Bildern […] Lieblichstes seit achtzehenhundert Jahren aus den Menschen hervorgegangen ist, versammelt wäre?“ 125 Allerdings war Arndt klar, dass eine ­solche Ökumene noch in unabsehbar weiter Ferne läge. In seinem Aufsatz Zum neuen Jahr 1816 bestimmte er als notwendige Basis für die ökumenische Zukunft der ­Kirchen die Anerkennung dieser theologischen Grunderkenntnis: „daß kein Heil seyn kann als in dem Glauben und kein Trost als in der Zurechnung der Gnade und Versöhnung ohne alles menschliche Verdienst und alle menschlichen Werke“.126 Einstweilen sei festzuhalten, dass der Protestantismus eine historische Aufgabe gehabt habe: „die Aufschreckung des Alten“, um dadurch den religionskulturellen Fortschritt in Gang zu setzen. Die Kirchenspaltung bestehe eben deswegen noch fort, weil „sie nicht von Menschen, sondern von Gott“ herrühre, „damit die weitere Entwickelung und Durchbildung des Menschengeschlechtes durch das Christenthum geschehen könnte“.127 Gegenüber dem Freiherrn vom Stein bekannte er stolz, dass er sich glücklich preise, „in einem protestantischem Land geboren“ worden zu sein, was bedeute, dass „wir […] mehr sittliche Menschen als die Katholiken“ hätten, die durch „geistige Freiheit und heitere Wissenschaft […] ganz andere innere Kraft und Schwungfedern“ empfangen würden.128 Andererseits hatte er einmal gegenüber Theodor von Schön gemeint, er könne auf einem rheinländischen Katheder sich gut als Brückenbauer bewähren, „weil ich glaube, daß ich habe, wodurch das Protestantische dem Katholischen versöhnlich und verträglich werden kann“.129 In der nachbarschaftlich-interkonfessionellen Begegnung war Arndt in der Tat ein weitgehend verträglicher Zeitgenosse sowohl im Kollegenkreis der Universität als auch gegenüber den Prälaten und Repräsentanten der Stadt und Region. Mit dem katholischen Werner von Haxthausen (1780 – 1842) verband ihn über dessen Amtszeit als Kölner 124 Die Details dokumentiert Eugen Strauss, Gründung und Anfänge der evangelischen Gemeinde Bonn, Bonn 1916 sowie Eduard Rosenkranz, Der Aufbau der evangelischen Gemeinde Bonn von 1802 – 1830, Bonn 1937 (zu Arndt, S. 65 – 72). 125 Ernst Moritz Arndt, Ueber alte und neue Zeit, in: ders., Blick aus der Zeit auf die Zeit (Schriften von Arndt), Germanien [= Frankfurt] 1814, S. 111 – 146, hier S. 115. 126 Der Aufsatz erschien ursprünglich im 3. Bd. von Der Wächter (1815/16); Arndt übernahm diese Passagen in seine Auseinandersetzung mit Friedrich Schlegel, wonach ich zitiere: Arndt’s Schriften (wie Anm. 34), Bd. III, S. 4. 127 Ebd., S. 7. 128 Brief an Freiherrn vom Stein vom 13. 4. 1828, in: Dühr (wie Anm. 52), Bd. 2, S. 359. 129 Brief an Theodor von Schön vom 10. 04. 1814, in: Dühr (wie Anm. 52), Bd. 1, S. 362.

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Regierungsrat hinaus eine enge Freundschaft. Dass ihm 1859 die katholische Bürgerschaft Kölns die Ehrenbürgerschaft der Rheinmetropole antrug,130 imponierte Arndt. Es war gleichzeitig ein öffentliches ­Zeichen, denn im April 1817 hatte Arndt mit konfessionellen Argumenten gegen die erwartete Hochschulgründung in Köln votiert und, da seine Stellungnahme publik geworden war, die katholische Metropole schwer brüskiert.131 Mit seinem kirchengemeindlichen Laienengagement kann Arndt als Ausnahmefall unter den Nationalschriftstellern des 19. Jahrhunderts gelten. Zahlreiche Spuren d ­ ieses Engagements finden sich in den Akten der evangelischen Schlosskirchengemeinde Bonn.132 Nicht zuletzt trug er zur Beilegung interner Konflikte um Abendmahl, Agende und Katechismusunterricht bei.133 Arndt versäumte auch kaum eine Sonntagsfeier. „Noch am letzten Sonntag des vergangenen Kirchenjahres“, erinnerte sich der befreundete Pfarrer Wolters nach Arndts Tod, „stand er der Aelteste und darum der Erste am Tisch des Herrn. ,Wer Gott sucht‘ – so hat er vor Jahren schon geschrieben, ,der wird ihn finden. Wer das Licht sucht, dem wird es leuchten. Wer in dem Lichte oder Geiste oder Blute des Herrn mit sehnsüchtigem Sinne Trost und Versöhnung sucht, dem werden sie nie gebrechen‘.“ 134 Auch sozialdiakonisch war Arndt interessiert. So begrüßte er die Entstehung des Gustav-­ Adolf-Vereins und nahm an der Einweihung der Bonner „Herberge zur Heimat“ teil.135 Stärker wahrgenommen wurde seine Ehrenrolle 1841 bei der Gründung des Bonner ­Wingolf, einer der einflussreichen evangelischen Burschenschaften.136 Die Mitarbeit im Presbyterium brachte ihm Freundschaften und Kontakte zu den Bonner Theologieprofessoren Karl Heinrich Sack, Immanuel Nitzsch, Karl Gieseler, Friedrich Lücke und Friedrich Bleek ein. Neben diesen traf er ab 1829 auch seinen kirchlich engagierten Kollegen der Juristischen Fakultät Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795 – 1877) im Gemeindekirchenrat, der ­später Bonner Kurator, Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages und preußischer Kultusminister wurde. Nach Schleiermachers Tod trat zuletzt noch der vielseitige Diplomat und Laientheologe Christian Karl Josias von Bunsen 130 Beate-Carola Padberg, Rheinischer Liberalismus in Köln während der politischen Reaktion in Preußen nach 1848/49, Köln 1985, S. 151 – 156. 131 Ernst Moritz Arndt, Cöln und Bonn als preußische Universitäten betrachtet (1817), Teilabdruck durch Heinrich von Sybel, Kleine historische Schriften, Bd. 2, München 1869, S. 445 – 453; ausführlich diskutiert und historisch gerahmt bei Bezold (wie Anm. 120), S. 55 – 71. 132 Ott (wie Anm. 33), S. 240 ff. 133 Zu den Details vgl. ebd., S. 246 f. 134 Albrecht Wolters, Ernst Moritz Arndt, ein Zeuge für den evangelischen Glauben, Elberfeld 1860; Wiederabdruck des Erstdrucks mit Synopse der Separatfassung in: Ernst Moritz Arndt. Anstöße und Wirkungen, hg. v. Dirk Alvermann und Irmfried Garbe, Köln/Weimar 2016, S. 222 – 243, Zitat S. 237 f. 135 Zu den Aktivitäten der Gemeinde vgl. Wolfgang Eichner, Evangelische Sozialarbeit im Aufbruch. Aus der Geschichte der Kirchengemeinde Bonn, Bonn 1986. 136 Vgl. Johann F. G. Goeters, Ernst Moritz Arndt. Patriot, Professor, Christ, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, 41 (1992), S. 81 – 97, hier S. 81 – 85; erneut in: HEMAG 5 (1997), S. 62 – 79, hier S. 62 – 66.

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Abb. 1: Ernst Moritz Arndt an seinem 90. Geburtstag, gezeichnet und lithographiert von Ernst von Bresler. Auf seinem letzten Bild erscheint Arndt im schwarzen Gehrock dekoriert mit seinen preußischen Orden. Die Lithographische Druckanstalt v. Penning, Bonn, setzte den Hinweis auf sein populärstes Lied darüber und montierte sein handschriftliches Motto darunter. Quelle: Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn

(1791 – 1860) in einen regen Austausch mit Arndt.137 Nicht zuletzt war es wohl Bunsen, der dafür sorgte, dass 1840 einer der ersten Regierungsakte Friedrich Wilhelms IV. Arndts Rehabilitierung wurde. Die Briefe an Freunde über die Gewissensfreiheit und das Recht der christlichen Gemeinde widmete er dem befreundeten Bonner Gemeindesenior.138 Auf einigen Altersporträts ist Arndts Lebensmotto der reifen Jahre tradiert: Audentes/Audaces fortuna juvat – Gott ist im Schwachen mächtig Der eigenhändig aufgezeichnete Spruch stellt eine Kombination aus Terenz und Paulus dar. Das Terenz-Sprichwort lautet im Original: „Fortes fortuna adiuvat“ – „Den Mutigen hilft 137 Vgl. Ott (wie Anm. 5), S. 302 f. 138 Christian Carl Josias Bunsen, Die Z ­ eichen der Zeit. Briefe an Freunde über die Gewissensfreiheit und das Recht der christlichen Gemeinde, 2 Bde. Leipzig 1856. Beide Bände tragen die Widmung: „Briefe an Ernst Moritz Arndt über den christlichen Vereinsgeist und die kirchliche Richtung der Gegenwart“.

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das Glück“. Arndt machte „die Wagemutigen“ daraus, sah aber in dem Paulus-Zitat 139 die richtige Deutung des lateinischen Sprichworts, da Mut für ihn stets eine „Gabe Gottes“ war. Als Arndt am 29. Januar 1860 kurz nach seinem 90. Geburtstag starb, war er als Nationalschriftsteller kanonisiert.140 Verehrungswürdig erschienen jedoch weniger seine Texte als seine Haltung. Allgemeingut des deutschen kulturellen Gedächtnisses wurden für drei Generationen einige seiner Lieder. Darüber hinaus galt „Vater Arndt“ als nationales Symbol. Man ehrte in ihm den Senior der Befreiungskriege, den Kritiker des Zeitgeists, den politischen Lyriker, den charakterstarken politischen Publizisten, den freisinnigen Liberalen, das „deutsche Gewissen“. Um die Erinnerung an den Christen aber musste gerungen werden.

7. Der erinnerte Christ Zornig attackierte Albrecht Wolters (1822 – 1878) Arndts erste Nekrologverfasser,141 die einen – wie der spätere Bonner Superintendent meinte – zurechtgestutzten, bloß noch freisinnig-nationalliberalen Arndt ohne Kirchenbezug präsentieren würden. Der einstige Mitgründer des Bonner Wingolf gab seinem Arndt-Nachruf darum den Zusatz: „ein Zeuge für den evangelischen Glauben“.142 Damit hatte Wolters das Ringen um die Erinnerung an den Protestanten Arndt eröffnet. Mehrere kirchlich engagierte Autoren sekundierten ihm noch in Arndts Sterbe­ jahr. D ­ arunter fand sich auch der hochkonservative Herausgeber der Evangelischen Kirchen­zeitung, Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802 – 1869) ein. Als sehr junger Mann war Hengstenberg Hörer von Arndts Bonner ersten Vorlesungen gewesen. Dessen kirchlicher Liberalismus stand dem reifen Hengstenberg denkbar fern. Jetzt aber würdigte der Berliner Alttestamentler als einer der ­Ersten Arndts geistliche Dichtung.143 Und obwohl er Arndts Lieder „nicht zum eigentlich gottesdienstlichen Gebrauch“ empfehlen mochte, sah er darunter trotzdem etliche, die die „Evangelische ­Kirche Deutschlands“ sich zueignen sollte. „Durch den Ton dieser christlichen Lieder hat sich Arndt 139 Buchstäblich lautet 2Kor 12,9: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ 140 Vgl. Irmfried Garbe, „Arndt ist tot“. Sein Bild in den Nachrufen von 1860, in: Alvermann und Garbe (wie Anm. 134), S. 143 – 161. Über die sofort propagierte Denkmalstiftung vgl. Nobert Schlossmacher, Ernst Moritz Arndt. Ein Denkmal setzen – die Wacht am Rhein, in: Über Bonn hinaus. Die ehemalige Bundeshauptstadt und ihre Rolle in der deutschen Geschichte, hg. von Tilman Mayer und Dagmar Schulze Heuling, Baden-Baden 2017, S.  35 – 58. 141 32 Arndt-Nekrologe und einige Epicedien liegen jetzt gesammelt vor: Nachrufe auf Arndts Tod 1860, in: Alvermann und Garbe (wie Anm. 134), S. 165 – 370. 142 Wolters (wie Anm. 134). 143 Ernst Wilhelm Hengstenberg, Ernst Moritz Arndt, in: Evangelische Kirchenzeitung, 66 (1860), Nr. 33 und Nr. 34, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Alvermann und Garbe (wie Anm, 134), S. 274 – 284.

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ein Denkmal gesetzt aere perennius, und wir freuen uns dessen um so gewisser, je bestimmter wir befürchten, daß diese Lieder es nicht sind, die unser Volk jetzt spornen, dem Sänger ein ehernes Denkmal zu errichten.“ 144 Hengstenbergs journalistischer Kontrapode, der Unionstheologe und Herausgeber der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung Hermann Meßner (1824 – 1886), der Sohn eines Trägers des Eisernen Kreuzes von 1813, begann seinen Arndt-Nachruf mit den Worten: „Eine deutsche Kirchenzeitung darf über einen Mann wie Arndt bei seinem Heimgang so wenig schweigen, als eine deutsche Kirchengeschichte über die Zeit der Freiheitskriege hingehen dürfte, ohne ihre erneuernde Bedeutung für die deutsche K ­ irche zu würdigen. Zumal den Bewunderern des alten Arndt gegenüber, die keine Ahnung haben von dem heiligen Grund seines Lebens, ist es die Aufgabe kirchlicher Zeitschriften, nachzuweisen, mit wie lebendigem Glauben der Heimgegangene in unserer evangelischen ­Kirche gestanden [hat].“ 145 In ­diesem Falle fiel also das Urteil des Herausgebers der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung mit dem der Evangelischen Kirchenzeitung überein. Überhaupt war in den vier Jahrzehnten bis zur Jahrhundertwende die Verehrung Arndts lagerübergreifend auf allen Seiten anzutreffen.146 Vor dem evangelischen Forum koinzidierten hinsichtlich Arndts der streng konfessionelle Hengstenberg mit den mittelparteilichen Unionsanhängern Meßner, Wolters, Wiesmann und anderen. Doch beanspruchten Vertreter des kulturprotestantischen Flügels Arndts Gestalt sicher mit noch größerem Recht für ihre Grundhaltung und kirchenpolitischen Kernanliegen. „Arndt liebte den Protestantismus, weil er die Freiheit liebte“, brachte der erste Präsident des Protestantenvereins Arndts religiöse Haltung auf die Formel.147 Aber obwohl Daniel Schenkel (1813 – 1885) den vierten Teil seiner Arndt-Biographie mit dem theologischen spannenden Terminus „Die Sühne“ überschrieb, explizierte er darin den protestantischen Christen – abgesehen von oberflächlichen Seitenblicken, die Arndt hauptsächlich als Antidogmatiker charakterisieren sollen – fast gar nicht. Für ihn war Arndts Christentum schlichtweg politisch bestimmt: „Die Religion fällt bei Arndt überhaupt zusammen mit der Liebe zum Idealen, zur Freiheit und zum Vaterlande.“ 148 Diesem Verfasser stand der politische Arndt markanter vor Augen als der protestantische Christ: „Der bevorstehende hundertjährige Geburtstag E. M. Arndts erinnert uns abermals an unsere Pflicht, nicht zu weichen und nicht zu wanken bis das Ziel – die nationale Einigung Deutschlands – wirklich 144 Ebd., S. 281 f. Hervorhebungen im Original. 145 Hermann Messner, Ernst Moritz Arndt, in: Neue Evangelische Kirchenzeitung, 2 (1860), Nr. 11 v. 17.03., Wiederabdruck in: Alvermann und Garbe (wie Anm. 134), S. 245 – 259, Zitat S. 245. Hervorhebung im Original. 146 Für den säkularen Sektor vgl. jetzt Norbert Schlossmacher, Wider „Franzosentrabanten“ und „Rückschreitern“, aber fürs Vaterland. Zur politischen Verortung bzw. Vereinnahmung von Ernst Moritz Arndt. Gedanken anlässlich seines 250. Geburtstags, in: Jahrbuch für Libera­ lismusforschung, 31 (2019), S. 391 – 411. 147 Daniel Schenkel, Ernst Moritz Arndt, ein politischer und religiöser deutscher Charakter, Elberfeld 1866, S. 129. 148 Ebd., S. 33.

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erreicht ist. Arndts Wort und Beispiel lehrt uns auch, die Einheit auf dem rechten Wege suchen, auf dem Wege gesunder politischer und religiöser Freiheit.“ 149 Einer von ­Schenkels Rezensenten pflichtete der Tendenz seines Arndt-Bildes bei: „Wenn von irgend einem, so kann von Arndt gesagt werden, daß er ein Prophet des deutschen Volkes war.“ 150 Doch erlebte Schenkels Arndt-Buch trotz freundlicher Besprechungen nur zwei Auflagen. Zum verlegerischen Erfolg wurde die populäre, stark idealisierende Arndt-Biographie von Wilhelm Baur (1826 – 1897). Der spätere Oberhofprediger und Generalsuperintendent des Rheinlandes hatte sie noch als hessischer Gemeindepfarrer verfasst. Die erste Auflage von 1861 betreute der Zwickauer Verein zur Verbreitung guter und wohlfeiler Volksschriften. Seit der 2. Auflage führte die Agentur des Rauhen Hauses in Hamburg die schriftstellerisch geschickt aufbereitete Biographie in der Schriftenreihe Lebensbilder aus der Geschichte der Inneren Mission.151 Baur wollte ein christliches Hausbuch schaffen. Er nahm sich vor, Arndt „protestantisch hell und evangelisch warm“ zu skizzieren.152 Ganz offensichtlich traf er damit den Geschmack der Zeit, denn sein Buch erlebte bis 1903 sieben Auflagen und eine entsprechend weite Verbreitung. Einer von Baurs Idealisierungsvorsätzen lautete, „den Vater Arndt“ als „Urbild des deutschen Mannes“ und „gesunden Christen“ zu zeichnen, der fromm im „Sinne des Evangeliums“ gelebt und gehandelt habe.153 Kirchenpolitisch aktuell war seine Absicht, Arndt als antikatholischen Verteidiger des Protestantismus zu profilieren: „Auch Arndt hat das Seine an dem Werk getan, das noch immer nicht liegen bleiben darf, nachzuweisen, daß in den Ländern der Despotismus immer neue Revolutionen hervorruft, wo der römische Katholizismus in Blüte ist, und daß in den protestantischen Staaten der stetigste, ruhigste Fortschritt im Staatsleben sich findet.“ 154 In seinem knapp 40-seitigen Anhang popularisierte Baur neben acht „Vaterlandsliedern“ auch neun geist­ liche Lieder Arndts, von denen die meisten in evangelische Gesangbücher eingingen. Baur zog das vielsagende Fazit: „Es ist im ganzen Volke kein Stand, kein Alter, kein Geschlecht, das vornehm auf den Namen Arndt herabblicken und sprechen dürfte: ich bedarf deiner nicht.“ 155 Seine Darstellung widmete er „Der deutschen Jugend“, „damit sie am alten Arndt 149 Schenkel (wie Anm. 147), Vorwort zur 2. Auflage vom 22. 07. 1869, S. III; ähnlich ders., Zur Erinnerung an Ernst Moritz Arndt, in: Jahrbuch des deutschen Protestanten-Vereins, 1 (1869), S.  100 – 123. 150 Theodor Hossbach, Rezension D. Schenkels Arndt-Biographie (1866), in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland, 1866, Nr. 21, Sp. 457 – 460, hier Sp. 457. Hervorhebung im Original. 151 Wilhelm Baur, Ernst Moritz Arndts Leben, Thaten und Meinungen. Nebst einigen seiner geistlichen und vaterländischen Lieder. Ein Buch für das deutsche Volk (Lebensbilder aus der Geschichte der inneren Mission, 14), erw. 2. Aufl. 1863 bis 7. Aufl. Verlag des Rauhen Hauses Hamburg 1903. 152 Ebd., S. 195. 153 So ebd., S. 191 u. 196 im 16. Kapitel unter der Überschrift „Je größer Kreuz, je größer Glaube“. 154 Ebd., S. 193. 155 Ebd., S. 262. Eine Kurzfassung seines Arndt-Bildes legte Baur in seinem seit 1865 mehrfach aufgelegten Werk: Wilhelm Baur, Geschichts- und Lebensbilder aus der Erneuerung des

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sich jung halte“.156 Denn für die Jungen habe Arndts Herz zeitlebens geschlagen und für die Jugend sein „langjähriges Martertum bestanden, indem er der Verführung derselben angeklagt und außer Amt und Tätigkeit gesetzt ward. Aber – ,als die Verführer und doch wahrhaftig‘ – dies Wort des Apostels“ habe kaum einer so wie Arndt „auf sich deuten“ können.157 Mehrere protestantische Autoren nutzten Baurs Darstellung für kurz gefasste, naiv-anspruchslose Arndt-Porträts, die auf den pädagogischen Einsatz in Volksschule und Religionsunterricht abzielten.158 Ging es dem Volksschriftsteller Baur um ein erbauliches Hausbuch, erarbeitete Ernst Müsebeck (1870 – 1939) mit seiner 1905 noch als „Archivassistent“ vorgelegten Untersuchung über Arndt und das kirchlich-religiöse Leben seiner Zeit die erste wissenschaftliche Tiefenlotung zum Thema.159 Seine Spezialstudie war zugleich Vorbereitung auf die opulente Arndt-Biographie, deren ersten – und einzigen – Teil Müsebeck 1914 vorlegte.160 Auf der Basis intimer Werkkenntnis entfaltete der Archivar eine Übersicht zu Arndts religiöser Biographie. Deren Entwicklung belegte er aus Arndts Poesie, Publizistik und Briefschaft seit 1803. Arndts frühe Jahre blieben dagegen weitgehend unterbelichtet. Angesichts einer Fülle von säkularen Arndt-Erinnerungen, die ein national festgelegtes Arndt-Bild der Kampfjahre bedienten, kam es Müsebeck auf eine historische Einordnung des Intellektuellen in langer Linie an, insgeheim aber auch auf eine Wiederentdeckung des liberalen Protestanten, der „edlere und weitere Formen“ des Christentums als bleibende Aufgabe gegenüber konfessionellen Verhärtungen der Gegenwart wachhalten werde. Müsebeck wollte zwar „keine Parteischrift“ produzieren, idealisierte aber den weitgehend schon vergessenen Autor in diskurspolitischer Absicht. Ihm stand deutlich vor Augen, wie fern Arndt der kaiserzeitlichen Generation stand und wie gering die Kenntnisse über ihn ­seien. „Ernst Moritz Arndt lebt im Volksbewußtsein nur noch in der Erinnerung an vergangene Zeiten, nicht mehr in dem geistigen Leben der Gegenwart. Gar manche hochgebildete Deutsche betrachten mit stolzer Selbstzufriedenheit und mitleidigem Lächeln diesen altfränkischen Patrioten und seinen altväterlichen Hausrat. Vater Arndt und wir? – Das sind zwei Kulturwelten, die dem modernen Bildungsphilister wie schwarze Nacht und heller religiösen Lebens in den deutschen Befreiungskriegen, 2 Bde. Hamburg 1865, vor. Arndt findet sich in Bd. 1, 5. Aufl Hamburg 1893, S. 188 – 209. Eine engl. Ausgabe erschien in London 1870. 156 Ebd., Widmungsvorwort, S. VII, hier zitiert nach der 7. Aufl. Hamburg 1903. 157 Ebd., S. 263. Vgl. 2Kor 6,8: „in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig“. (Hervorhebung von I. Garbe). 158 Als Beispiele nenne ich Produkte von zwei Pfarrern der Diakonie: Paul Fleischmann, Ernst Moritz Arndt. Ein Büchlein für deutsche Christenkinder, Berlin 1899 (weitere Auflagen: 1910, 1926); Julius Disselhoff, Die Geschichte vom Vater Arndt, dem guten alten deutschen Gewissen, Kaiserswerth 21907. 159 Ernst Müsebeck, Ernst Moritz Arndt und die kirchlich-religiöse Leben seiner Zeit, Tübingen 1905. 160 Müsebeck (wie Anm. 93). Seine Biographiearbeit blieb unvollendet; Müsebeck übernahm Ende 1920 die Leitung des neugegründeten Reichsarchivs als dessen Organisator.

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Tag einander gegenüberstehen.“ 161 Müsebecks ausgebreitete Quellenkenntnis schützte den Forscher allerdings nicht vor der Idealisierung seines Helden. Seine reichhaltige Zitatensammlung wurde vielfach weiter genutzt.162 Arndt unkritisch, vereinfachend und idealisierend zu zeichnen, war und blieb auch der charakteristische Zug der Gedenkliteratur zu den damaligen Arndt-Jubiläen.163 Eine erste deutliche Kritik an Arndts laientheologischer Kriegspropaganda ging nicht von seinem besten Kenner, sondern vom Marburger praktischen Theologen und Schleiermacher-Forscher Johannes Bauer (1860 – 1933) aus, der u. a. die politische Theologie von Arndts Schwager untersuchte.164 Vor dieser differenzierten Folie entdeckte Bauer in Arndt einen problematischen Publizisten, der „keineswegs nach allen Richtungen hin segensreich auf die politische Bildung und das nationale Gefühl eingewirkt haben kann, so aufrichtig gemeint und so edel ihre Absicht“ auch gewesen sei.165 Er brachte in Bezug auf Arndts religiös aufgeladene Kriegspublizistik zahlreiche Bedenken an und beklagte nachdrücklich dessen nationale Verklärungstendenz, „leidenschaftlichen Übertreibungen“, problematischen Sprachspiele und unzuverlässigen Geschichtskenntnisse. Die Arndt-Forschung der Folgejahrzehnte nahm Bauers Kritik indessen kaum zur Kenntnis; für das Arndt-Bild im Kulturbetrieb des Deutschen Kaiserreichs war sie ohnehin an zu versteckter Stelle platziert. Der 1913 abgeschlossene erste Teil von Ernst Müsebecks umfänglicher Arndt-Biographie setzte nahezu unbeeindruckt von Bauers Kritik die Idealisierung Arndts mit wissenschaftlichen Mitteln fort: „Sein Charakter und sein Schicksal stellen das deutsche Volk in seiner idealen Erscheinung dar“, heißt es im Vorwort über den „starken Hoffer“ in „schweren Zeiten“, der „nach unten und nach oben ein Aufrechter“ geblieben sei.166 Obwohl ihn die schrill-martialischen Töne in Arndts Mobilmachungslyrik abstießen, verstand er sich auch diesen gegenüber als Apologet.167 „Irre ich nicht, so bahnen sich im deutschen Geistesleben Wege an, ­welche den sittlichen Idealismus Arndts zu neuer Geltung verhelfen. Groß war 161 Müsebeck (wie Anm. 159), S. 4 f. 162 So etwa von Paul Kirmss, E. M. Arndt als religiöser Charakter, in: Protestantische Monatshefte, 18 (1914), S. 41 – 50. 163 Als Beispiel für mehrere weitere verweise ich auf den Artikel des badener Pfarrers Karl K ­ ühner, Ernst Moritz Arndt, ein Verdeutscher des Christentums. Zum Gedächtnis an seinen 50. Todestag, in: Deutsches Christentum. NF 4 (1909/10), S. 133 – 146. 164 Johannes Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger. Ein Beitrag zur Geschichte der nationalen Erhebung vor hundert Jahren. Mit einem Anhang von bisher ungedruckten Predigtentwürfen (Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus 4), Gießen 1908. 165 Ebd., S. 160 f. 166 Müsebeck (wie Anm. 93), Vowort S. IV. Die Kurzfassung seines Arndt-Bildes: ders., Ernst Moritz Arndt, in: Pommersche Lebensbilder, Bd. 1: Pommern des 19. und 20. Jahrhunderts, im Auftrag der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle hg. v. Adolf Hofmeister, Erinch Randt, Martin Wehrmann, Stettin 1934, S. 1 – 24. 167 „Diese Lieder Arndts mit ihrem anfeuernden Glaubensmute und ihrer abschreckenden Grausamkeit offenbaren die Not, in w ­ elche jene harte Zeit die Seelen auch der Besten getrieben hatte.“ Müsebeck (wie Anm. 93), S. 337.

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der Einfluß seiner Schriften, größer ist die Gesinnung, w ­ elche sie geschaffen hat.“ 168 Als ein Jahr ­später „die Welt von gestern“ in der Katastrophe des Weltkriegs versank, avancierte der patriotische Arndt zum Propagandamittel der Kriegs- und der Heimatfront. Was hatte Müsebeck gemeint, als er von Arndts anschlussfähigem „sittlichem Idealismus“ sprach? Nach dem Weltkrieg bestimmte die öffentliche Wahrnehmung ein Arndt-Bild, das hochgerüstet deutsch-national aufgeladen war und eine Rolle im parteienübergreifenden Anti-Versailles-Komplex spielte. Im Brennpunkt der periodischen Arndt-Erinnerungen 169 wie der akademischen Arndt-Forschungen stand der politische Publizist.170 Erstaunlicherweise erhielt aber dennoch die Erinnerung an den Protestanten eine Chance. Auf Anregung der Greifswalder Kirchenhistoriker Friedrich Wiegand und Victor Schultze erarbeitete Heinrich Laag (1892 – 1972) z­ wischen 1919 und 1921 seine Lizentiatenarbeit Die religiöse Entwicklung Ernst Moritz Arndts. Gedruckt werden konnte diese erfreulich differenzierte und quellenkundige Untersuchung erst 1926.171 Gegenüber von Müsebecks Vorgängerarbeit stellte der junge Kirchenhistoriker Arndts religiöse Entwicklung markanter als individuelle Entwicklung heraus, die er insbesondere für die frühen und die späten Lebensjahre differenzierter entfaltete. An Müsebecks Zäsursetzungen sowie einigen ideengeschichtlichen Einordnungen und genetischen Annahmen übte Laag begründete Kritik. Den „Höhepunkt“ im religiösen Empfinden Arndts glaubte Laag im mehrjährigen Trauerprozess nach dem tragischen Badeunfalltod von Arndts Sohn Willibald (26. Juni 1834) feststellen zu können. Sein Entwurf einer „pantheistischen“ Phase stieß eine dann bald schon ideologisch ausschlagende Diskussion an, deren Teilnehmer Arndt überhaupt zum deutschgläubigen Neuheiden stempelten, um ihn als Ahnherrn völkischer Glaubensbewegungen in Beschlag nehmen zu können.172 Biographisch bedeutsamer war Laags Freilegung der intensiven Gespräche mit Frauen, die Arndts Rückwendung zur Beschäftigung mit der christlichen Bibel und zu zentralen religiösen ­Themen beförderten. Mehr konstruiert als belegt erscheint dagegen seine Überbetonung von Arndts vermeintlich gewachsenem Interesse am Luthertum, fragwürdig hergeleitet aus dessen letzter Rügenreise 1816/1817. 168 Ebd., Vowort, S. VI. Müsebeck datierte sein Vorwort 1913: „am Jahrestage der Schlacht an der Katzbach“ (= 25. 08. 1813). 169 Eine auf ausgewählte Stichwörter zugeschnittene, mehr bibliographische als inhaltlich-analy­ tische Übersicht bietet Thomas Vordermayer, Die Rezeption Ernst Moritz Arndts in Deutschland 1909/10 – 1919/20 – 1934/35, in: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte, 58 (2010), S. 483 – 508. 170 Die erste feststellbare Dissertation, die Arndt direkt gewidmet war, erschien 1905; bis 1916 waren es insgesamt 8 Arndt-Dissertationen, ­zwischen 1919 – 1932 folgten 14, 1933 – 1945 sogar 17, 1946 – 1989 immerhin 13 (davon 3 in der DDR), 1992 – 2019 nur noch 3. Dem Thema des Christentums bei Arndt widmen sich von diesen 55 Dissertationen in konzentrierter Form lediglich 3, die von Ott (wie Anm. 33) aber erschöpfend. 171 Laag (wie Anm. 40). 172 Den Schlusspunkt dieser Diskussion bildet die schwache Dissertation von Eitel Stapelfeld, Die Kultur- und Religionsphilosophie Ernst Moritz Arndts, Hamburg 1939, der einen durchgängig lebensphilosophisch-pantheistischen Arndt konstruiert, hauptsächlich unter Verwendung von Beobachtungen Leeses und Laags.

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Theologisch wichtig sind Laags Beobachtungen zum Begriff „Sünde“ im Denken Arndts sowie die sicher zutreffende Feststellung, Arndt habe „in keiner Weise eine positive Stellung zur Buße und Reue des Menschen gefunden“.173 Für die insgesamt schwer systematisierbare Gedankenwelt Arndts wählte Laag das Bild eines Faltengebirges: „In den einzelnen Epochen seiner religiösen Entwicklung werden wir häufiger feststellen können, daß manchmal verschiedenes Gestein übereinanderlagert, wenn auch eins natürlich jedesmal besonders in die Erscheinung tritt.“ 174 Damit unterstrich Laag, dass sich Arndts religiöses Denken ebenso wenig wie sein politisches widerspruchfrei gestaltet hat und zahlreichen Schwankungen unterworfen gewesen ist. Zentrale Denkhorizonte Arndts deutete Laag religionskulturell: „Freiheit der Person, Freiheit der Rede und Schrift fordert Arndt demnach als Christ.“ 175 In einer Flut von neueren Arndt-Darstellungen, die durchweg einen weitgehend säkularisierten Arndt zeichneten, war Laags Neubestimmung des Christen Arndt eine Ausnahme. Seiner differenzierten Studie war in der damaligen Gärungszeit säkularreligiöser Weltanschauungen und ideologischer Bewegungen keine öffentlich breite Wirkung ­beschieden. Sie bildete aber doch eine der Voraussetzungen für die Einrichtung eines konfessionellen Erinnerungsortes, der bald nach 1933 entstand: die Ernst-Moritz-Arndt-Kirche und Kirchengemeinde in Berlin-Zehlendorf. Diese evangelische Gründung reagierte auf Inanspruchnahmen Arndts durch deutschgläubige Publizisten, die seit den späten 1920er Jahren eine Ahnengalerie des Neuheidentums und der „Deutschen Glaubensbewegung“ aufbauten.176 Um den Christen Arndt entbrannte ein Weltanschauungskampf ­zwischen Protestanten und antichristlich-neuheidnischen oder völkischen Bewegungen, die sozial in Neubauvierteln der Großstädte Fuß gefasst hatten und infolge der nationalsozialistischen Staatsumbildung und Kirchenpolitik auf dem Vormarsch schienen.

8. Der umkämpfte Christ Das Neubaugebiet Zehlendorf-Nord entstand in sieben Bauabschnitten unter der Leitung von Bruno Taut 1926 bis 1932. Ab 1930 bildete sich ein Kirchenbezirk heraus. 1931 wurde der Bau eines zentral liegenden Kirchengebäudes konzipiert, 1934 sein Grundstein gelegt und 1935 der Bau fertiggestellt und geweiht. Dieses Gebäude erhielt den – in Deutschland einmaligen – Namen „Ernst-Moritz-Arndt-Kirche“. Schon im Folgejahr wurde eine zweite Pfarrstelle eingerichtet und 1949 die „Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde“ auch rechtlich eigenständig.

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Ebd., S. 70. Zum Thema Sünde vgl. ebd., S. 29, S. 43, S. 50 und S. 68. Ebd., S. 15. Ebd., S. 45. Beginnend mit Hermann Schwarz, Ernst Moritz Arndts Pantheismus, in: Blätter für deutsche Philosophie, 1. Jg. (1927/28), S. 87 – 104; Hans Kern, Ernst Moritz Arndt. Der ewige Deutsche (Deutsche Volkheit, 72), Jena 1930; ders., Ernst Moritz Arndt, der Seher der Deutschen, in: Deutscher Glaube, 1. Jg. (1934), Heft 3.

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Seit 1931 betreute Ernst Geß (1895 – 1960) den neuentstandenen Gemeindebereich. Der bekenntnistreue Pfarrer schloss sich der jungreformatorischen Bewegung an und trat im Frühsommer 1933 dem Pfarrernotbund bei, der Anfang 1934 in die Bekennende K ­ irche überging. Mit der neuentstehenden Bekennenden ­Kirche sympathisierten zunächst vier, ­später alle fünf Zehlendorfer Pfarramtskollegen. Die Gemeindekirchenratswahl im Juli 1933 ergab in Zehlendorf unter den Laien allerdings eine klare deutsch-christliche Zweidrittelmehrheit. Die Gruppe der Deutschen Christen (DC) verlor jedoch schon im Herbst 1933 ihre Führungskraft, spaltete sich und wurde rasch bedeutungslos. 1936 verließ der letzte DC -Älteste den Leitungskreis der Kirchengemeinde.177 Es hätte nahegelegen, für die neue ­Kirche eine biblische oder eine etablierte kirchenhistorische Gestalt auszuwählen, wie das in vielen parallelen Fällen zeitgleich praktiziert wurde. Die Verantwortlichen der Zehlendorfer Neubaugemeinde entschieden sich anders. „Dass als Namenspatron eine Person der jüngeren Geschichte gewählt wurde, die zu Lebzeiten und danach stets polarisiert hatte, ist zu verstehen als der bewusste Versuch, durch die Namensgebung eine Botschaft auszusenden und Position zu beziehen.“ 178 Denn in Zehlendorf stand damals die Auseinandersetzung mit dem Neuheidentum, speziell mit der „Deutschen Glaubensbewegung“ Friedrich Wilhelm Hauers und seinen Gesinnungsgenossen im Vordergrund. Diese Strömungen hatten sich von einem biblisch-christlichen Glaubensverständnis geschieden und waren dabei, eine ­mythologisch-rituelle Ersatzreligion zu etablieren.179 Dem wollte man den Protestanten Ernst Moritz Arndt entgegensetzen. Arndt als Namenspatron zu wählen, war im Sommer 1934 entschieden worden. Die Einweihung der K ­ irche im Juni 1935 wurde durch einen Festvortrag des Rostocker Lehrstuhl­ inhabers für Praktische Theologie, Professor D. Dr. Helmuth Schreiner (1893 – 1962), begleitet. Die Bitte an ihn lautete herauszustellen, dass „an solchen Männern wie Ernst Moritz Arndt ganz deutlich wird, dass Deutschtum und Christentum nicht unvereinbare Gegensätze sind, dass vielmehr das Deutschtum erst im Christentum seine Erfüllung findet“.180 Schreiner, ein prominenter öffentlicher Kritiker des Nationalsozialismus und seiner neuheidnischen Ideologen,181 hatte kurz zuvor eine monographische Studie publiziert, 177 Die Gemeindeentwicklung skizziert Michael Häusler, Die Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde und ihre ­Kirche in den ersten Jahrzehnten, in: ders. (Hg.), Dornenkrone und Preußenadler. 75 Jahre Ernst-Moritz-Arndt-Kirche 1935 – 2010. Im Auftrag des Gemeindekirchenrates der Evangelischen Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde, Berlin 2010, S. 9 – 54. 178 Ebd., S. 30. 179 Vgl. Šāʾûl Bauman, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881 – 1962) (Religionswissenschaftliche Reihe 22), Marburg 2005; Margarete Dierks, Jakob Wilhelm Hauer 1881 – 1962. Leben, Werk, Wirkung. Mit einer Personalbibliographie, Heidelberg 1986. 180 Einladungsschreiben von Pfr. Geß an Prof. Schreiner, zitiert bei Häusler (wie Anm. 177), S. 35. 181 Seit 1931 setzte sich Schreiner als Mitarbeiter der Kirchlich-Sozialen Schule sowie als Leiter des Spandauer Johannesstifts publizistisch mit dem Nationalsozialismus und seinen geistigen

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die Arndt als „Erwecker der Nation“, als „das gute deutsche Gewissen“ und als „Zeugen Jesu Christi“ beleuchtete.182 In seinem Festvortrag konnte er darauf zurückgreifen.183 Schreiner verfolgte das Ziel, Arndts Anliegen von seinem Glaubensweg her zu verstehen. Dabei war ihm deutlich: „Er gehört nicht zu den Menschen, die immer gleich aussehen, einerlei von welcher Seite man sie betrachtet. Arndts Charakter und Lebenstat erschließt sich nur dem, der einen Sinn hat für die Umspannung und Verarbeitung von Gegensätzen.“ 184 Es könne „keinem Zweifel unterliegen, dass Arndts Erkenntnis der Wirklichkeit eine Entwicklung durchgemacht“ habe.185 Aber gerade der Patriot und Kämpfer habe zu einem festen Glaubensstandpunkt gefunden. Sein ab 1808 entwickelter Vorsehungs-, Schöpfungs- und Christusglauben sei so etwas wie das „Eisen im Blute“ des Freiheitskämpfers gewesen.186 In seiner Sichtung von Arndts Stellungnahmen konzentrierte sich Schreiner in seiner Publikation auf dessen Soldatenkatechismus (1813), auf die Programmschrift Vom dem Wort und dem Kirchenliede (1819) und auf Arndts geistliche Lieder (1819/1855). Diese werden auch den Hintergrund des Vortrages gebildet haben. Schreiner betonte, dass vorausgeschickt werden müsse: „Von sogenanntem ,Deutschglauben‘, wie er sich heute in der ‚Deutschen Glaubensbewegung‘ aufmacht, ist da nichts zu finden.“ 187 Stattdessen sei in Arndts Werken eine gesunde Verbindung von Glauben und Leben zu entdecken. Man müsse sich klarmachen, dass „bei Arndt Schöpferglaube und Sündenerkenntnis untrennbar aufeinander bezogen“ ­seien.188 Mit kritischem Bezug auf aktuelle Weltanschauungsfronten konnte der Festredner herausstellen: „[I]m Gegensatz zu vielen Halbchristen wurde sein Schöpferglaube desto ausgeprägter, je lebendiger sich sein Verhältnis zur Offenbarung in Christus gestaltete. Sollten wir nicht auch hier an Arndt etwas Neues zu entdecken haben? Vielleicht den Arndt des Glaubens, den Arndt, der den Abgrund menschlicher Sünde kennt und sich von Gottes versöhnender Liebe in Christus ergriffen weiß?“ 189 Nebenströmungen auseinander. Aus seinem Rostocker Ordinariat wurde Schreiner 1937 amtsenthoben, nachdem er seinen publizistischen Kampf gegen den NS-Ideologen Alfred ­Rosenberg fortgesetzt hatte. 182 Helmuth Schreiner, Ernst Moritz Arndt. Ein deutsches Gewissen, Berlin 1935. 183 Schreiners Festreferat ist nicht überliefert; seine Arndt-Broschüre, die ich im Folgenden zitiere, bildete die Grundlage der Ausführungen. 184 Schreiner (wie Anm. 182), S. 18. 185 Ebd., S. 24. 186 Vgl. ebd., S. 25. Schreiner bezieht hier einen weiteren Personenkreis ein: „Man darf ohne Übertreibung sagen, daß der Vorsehungsglaube das Eisen im Blute der Freiheitskämpfer gewesen ist.“ 187 Ebd., S. 8. Schreiner setzt fort: „Die Parole ,ein Deutscher kann kein Christ sein‘ hätte Arndt als widersinnig gefunden.“ Der attackierte Satz wurde von NS-Größen wie Rosenberg vertreten. Laut Aufzeichnungen Hermann Rauschnings vertrat Adolf Hitler schon Anfang 1933: „Man ist entweder Christ oder Deutscher. Beides kann man nicht sein.“ 188 Ebd., S. 24. 189 Ebd., S. 14.

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Mit seiner Werbung für den „Arndt des Glaubens“ wies Schreiner der Zehlendorfer Gemeinde zugleich eine Aufgabe im Weltanschauungskampf dieser Jahre zu angesichts zunehmender Versuche, Arndt ideologisch als einen Vorläufer eines neuheidnischen germanisch-deutschen „Glaubens“ zu vereinnahmen.190 Diese Konstruktionen waren für Schreiner durch Arndts Bibelbezug zu entkräften, der spätestens seit 1808 belegt sei. 1819 habe Arndt ausdrücklich betont, dass sich die freie Rede der Verkündigung allein ans biblische Wort gebunden wisse. Vor dem Hintergrund aktueller Behinderungen der christlichen ­Kirchen 191 nutzte Schreiner diese Erinnerung zu folgendem Schluss: „Kann es noch eine Frage sein, ­welche Folgerungen Arndt aus seinem Verständnis des Wortes Gottes für seine Stellung zur ­Kirche zieht? Die Verkündigung des Wortes Gottes verträgt keine Ketten und Bande. Das Wort Gottes in Schutzhaft – das wäre ein Widerspruch in sich. Kein Vatikan, wo immer er auch stehe,192 hat ein Recht, dies Wort gefangen zu halten. ,Das Wesen unseres Bekenntnisses und unserer ­Kirche ist Freiheit und Ungebundenheit.‘ ,Wir dürfen keinen verdammen, der in Jesus Christus sein Heil sucht. Aber das können wir verlangen, daß diejenigen der unsrigen von uns scheiden, ­welche nicht etwa Mißbräuche unseres Bekenntnisses, sondern das Wesen unseres Bekenntnisses schelten.‘ So steht es da, in klarer Entschiedenheit. Der Erwecker der Nation, das gute deutsche Gewissen, der Zeuge Jesu Christi bekennt sich zur ­Kirche der Reformation. ,Wir haben nichts als die Bibel, als das Wort. Wir haben nur einen Priester, nur einen Meister, einen Versöhner und Mittler, ein Licht, ein Bild und einen Weg, den Herrn Jesum Christum‘.“ 193 Der Festredner dürfte mit seinen Ausführungen den Erwartungen der Gemeinde­ verantwortlichen entsprochen und Zustimmung erfahren haben. Der betonte Christus­ bezug, den Schreiner schon in seiner Publikation unterstrich, war den Zuhörern ­übrigens auch optisch vor Augen gestellt: Der württembergische Künstler Walter Kohler (1903 – 1945) hatte in der Ernst-Moritz-Arndt-Kirche ein dreiteiliges Deckengemälde geschaffen, das das Versöhnungshandeln Christi zum Inhalt hat. Über den Pfeilern der Seitenemporen aber wurde die siebte Strophe aus Arndts 1813 entstandenem Gruß an die Freunde angebracht:

190 Einschlägig u. a. Paul Knauer, Ernst Moritz Arndt. Der große Erzieher der Deutschen (Gestalten und Urkunden des Deutschen Glaubens, 2), Stuttgart 1935; ders., Wie steht es mit Arndts Heidentum?, in: Deutscher Glaube, 2 (1935), S. 399 – 404 u. S. 456 – 464. 191 Dazu detailliert: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches 1933 – 1945, hg. von C ­ arsten Nicolaisen und Gertraud Grünzinger, 5 Bde. München 1971 – 2008. 192 Schreiner spielt damit auf die deutsch-christlich beherrschte Landeskirchenleitung an wie auch auf Repressionen der Bekennenden ­Kirche durch den NS-Staat („Schutzhaft“). 193 Schreiner (wie Anm. 182), S. 33. Direkte Arndt-Zitate kursivierte Schreiner. Angesichts der Zehlendorfer Herausforderungen liegt die Annahme nahe, dass Schreiner diese – schon veröffentlichten – Formulierungen in seinen Vortrag übernahm.

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Die Treue steht zuerst, zuletzt im Himmel und auf Erden. Wer ganz die Seele dreingesetzt, dem soll die Krone werden. Drum mutig drein und nimmer bleich; denn Gott ist allenthalben, die Freiheit und das Himmelreich gewinnen keine Halben.194

Superintendent Max Diestel (1872 – 1949) erläuterte in seiner Weiherede, woran die Aussage ­dieses Verses erinnern sollte: „Diese Inschrift […] kennzeichnet Arndt als einen widerstandsfähigen und unbeirrbaren evangelischen Christen. Solche Männer und Frauen sollen auch diese ­Kirche füllen.“ 195 Pfarrer Geß führte schließlich in der Predigt des Festgottesdienstes aus, dass die Gemeinde mit dem Namenspatron sich einen tapferen Christuszeugen erwählt habe. „Das geschieht nicht, um einen Menschen zu vergöttern oder einen protestantischen Heiligen auszurufen, sondern Arndt soll uns ein Rufer zu Christus sein.“ 196 Mit Arndt sollte also ein konfessionelles Signal gesetzt werden. Dass diese Signal eindeutig gewesen sei, kann jedoch nicht behauptet werden. Denn Arndt zählte keineswegs nur für überzeugte Protestanten zu den „großen Deutschen“, die Orientierung boten.197 Damals galt der Nationalschriftsteller Arndt noch als „das gute alte Gewissen“ der Staatsnation. Er war lagerübergreifend kanonisiert und selbst im katholischen Rheinland anerkannt. Auf ihn bezogen sich ganz unterschiedliche Wertsysteme und keineswegs harmonierende politische Ideologien. Liberale, Freisinnige und Sozialdemokraten hatten ihr – positives – Arndt-Bild ebenso wie Deutschnationale, Nationalkonservative und neuerdings Nationalsozialisten, bei denen er allerdings erst ab 1937 zu höheren Weihen geführt wurde. Sogar Kommunisten konnten sich auf Arndt berufen,198 was nach dem Zweiten Weltkrieg noch zu eigener Geltung kommen sollte.199 194 Der Abstimmungsprozess, der dazu führte, gerade diesen Vers aus den Gedichten Arndts auszuwählen, scheint in den Gemeindeakten nicht dokumentiert zu sein. Verse aus Arndts Christusliedern, wie z. B. „Kommt her, ihr seid geladen“, hätten theologisch besser zum Bildprogramm gepasst. 195 Häusler (wie Anm. 177), S. 33. 196 Ebd., S. 33 f. Der ausführliche Abdruck der Ansprachen von Diestel und Geß findet sich jetzt bei Michael Häusler (Red.), Ernst Moritz Arndt. Eine Auswahl seiner Texte, im Auftrag der Evangelischen Ernst-Moritz-Arndt-Kirchengemeinde herausgegeben, Berlin 2018, S. 61 – 63 (Wiedergabe nach dem Zehlendorfer Anzeiger vom 17. 06. 1935). 197 Sein Darsteller im mehrbändigen Pantheon der Nationalgrößen nutzte die Gelegenheit auch hier, Arndt neuheidnisch zu deuten: Hans Kern, Ernst Moritz Arndt, in: Die großen Deutschen. Neue deutsche Biographie, hg. von Willy Andreas und Wilhelm von Scholz, 4 Bde. Berlin 1934 – 1943, hier Bd. II, Berlin 1935, S. 503 – 523. 198 Friedrich Engels’ erste größere publizistische Arbeit war die Rezension von Arndts Erinnerungen im Telegraph für Deutschland (1841): Friedrich Engels, Ernst Moritz Arndt, in: Marx-Engels Gesamtausgabe, Bd. I/2, S. 96 – 108. Der aus der Wuppertaler Erweckungsbewegung stammende Engels verortete Arndts Christentum allerdings falsch als „kirchliche Orthodoxie“. 199 Vgl. Reinhart Staats, Ernst Moritz Arndt – Seine Wirkungen in der deutschen Geschichte, in: ­Kirche in Preußen. Gestalten und Geschichte, hg. v. Manfred Richter, Stuttgart 1983, S.  65 – 91.

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Die völkisch-neuheidnische Arndt-Deutung, von der man sich in der Zehlendorfer Kirchen­gemeinde herausgefordert sah, hatte sich in den 1920er Jahren vorbereitet.200 Aber erst im nationalsozialistischen Weltanschauungsstaat wurde der neuheidnisch gelesene Arndt zum umkämpften Bezugspunkt. Nicht die Star-Ideologen des „Dritten Reiches“ nahmen ihn in Beschlag – weder im Werk Alfred Rosenbergs noch in den Reden Adolf Hitlers bildete Arndt eine relevante Figur –, sondern die völkischen Mitläufer mit ihren diffusen, betont antichristlichen Ersatzkulten. Recht bald kristallisierte sich dabei als zentrale Frage heraus, ob Arndt überhaupt als Christ gelten dürfe. Das provozierte verständlicherweise Bemühungen von evangelischer Seite, diese Gestalt protestantisch zu sichern. Die Arbeit an dieser Front begann 1933 im Moment wachsender weltanschaulicher Auseinandersetzungen. Der Hamburger Religionsphilosoph Kurt Leese (1887 – 1965), der Arndt allerdings als einen Katalysator für die neuzeitliche Krisis und Wende des christlichen Geistes 201 deutete, machte den Anfang.202 Er versuchte ­zwischen den strittig gewordenen, damals noch im gepflegten Gespräch stehenden Arndt-Deutungen zu vermitteln, widersprach aber der rein völkischen Lesart. Arndts Christentum wurde dadurch kaum evidenter. Währenddessen sorgten die Klärungsprozesse des innerprotestantischen Kirchenkampfes dafür, dass sich auch die evangelischen Arndt-Bilder ausdifferenzierten. Darstellungen von Deutschen Christen 203 taten sich schwerer, klare Abgrenzungen gegen völkische Deutungen zu markieren.204 Vertreter völkischer Arndt-Deutungen wähnten sich im Aufwind des ideologischen Bildungsumbaus bald als Sieger in d ­ iesem Deutungskampf. Der „deutschgläubige“ Hans Kern (1902 – 1945) verkündete 1937: „Uns Heutigen hat der Christ Arndt 200 Darauf verweist Reinhart Staats, Ernst Moritz Arndt – ein neuprotestantischer Heiliger? Anhang: Helmut Golltwitzer und Arndts „Gott, der Eisen wachsen ließ“, in: ders., Protes­tanten in der deutschen Geschichte. Geschichtstheologische Rücksichten, Leipzig 2004, S. 98 – 130, hier S. 107 f. An der Berliner „Arndt-Hochschule“ wurde 1921 der freireligiöse „Bund für deutsche ­Kirche“ gegründet. 201 Kurt Leese, Die Krisis und Wende des christlichen Geistes. Studien zur anthropologischen und theologischen Problem der Lebensphilosophie, Berlin 1932. Aufgrund seiner hier vorgelegten Sicht gab dieser enge Freund Paul Tillichs und Mitbegründer der Neuen Blätter für Sozialismus seinen Hamburger Lehrstuhl aus Gewissensgründen 1932 frei. Leese blieb aber Dozent für Religionslehrer und wurde erst 1940 als „politisch unzuverlässig“ suspendiert. 202 Kurt Leese, Der unbekannte Ernst Moritz Arndt. Ein Vorwort zur Auseinandersetzung ­zwischen „Völkischer Religion“ und „Christentum“, in: Christliche Welt, 47 (1933), S. 770 – 778 und S.  824 – 831. 203 Hello Plath, Ernst Moritz Arndt. Deutscher und Christ, in: K ­ irche und Volkstum in Nieder­ sachsen, 3 (1935), S. 86 – 88; Max Heinz Poppe, Ernst Moritz Arndt. Ein Vorkämpfer für deutsches Christentum, in: Christenkreuz und Hakenkreuz, 4/1 (1935), S. 7 – 9. 204 Mit rassistischer Schlagseite z. B. der Pasewalker Lyzeumsrektor Hermann Knust, Ernst Moritz Arndts deutsche Frömmigkeit, in: Deutsche Evangelische Erziehung, 48 (1937), S. 68 – 76; vgl. auch die Beiträge in der Wochenzeitung der Nationalkirchlichen Bewegung Deutsche Christen Mecklenburgs: Heinz Sting, E. M.Arndt und die nationalkirchliche Sehnsucht, in: Deutsches Christentum, 3 (1938), Nr. 21, S. 2; S. Rahn, Ernst Moritz Arndt: der deutsche Christ, in: Deutsches Christentum, 5 (1940), Nr. 4, S. 3.

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nichts mehr, der deutsche Heide aber Gewaltiges zu sagen.“ 205 Zwei junge Promovenden, die sich von Kerns frühen Arndtbüchern inspirieren ließen, hatten ähnliche Ansichten in ihren Dissertationen zuvor auf wissenschaftlich abschreckendem Niveau geäußert.206 Die evangelischen ­Kirchen waren unterdessen immer stärker in die Defensive geraten. Mit der Abwertung bzw. Bestreitung von Arndts Christentum drohte eine wichtige Beweisfigur wegzubrechen, die bisher stets die nationale Bedeutung des Protestantismus belegt hatte. Eine ganze Phalanx evangelischer Theologen und Publizisten machte sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre daran, Arndt für die protestantische Selbstbehauptung im nationalsozialistischen Deutschen Reich zu retten. Die theologisch geschulten Autoren verorteten sich kirchenpolitisch überwiegend nicht in der Bekennenden K ­ irche und auch nicht bei den Deutschen Christen, sondern in der sogenannten Mitte. Dazu gehörte der frühere Sprecher der Rostocker Theologiestudenten Eugen Gerstenmaier (1906 – 1986), der Mitarbeiter der Apologetischen Zentrale Otto Mann, der Stettiner Oberkonsistorialrat und pommersche Bischofsvertreter Heinrich Laag, der sächsische Pfarrer und Neutestamentler Gerhard Delling (1905 – 1986), der nach Greifswald zwangsversetzte Professor für praktische Theologie Walter Bülck (1891 – 1952), der schriftstellernde Pfarrer und Volkspäda­goge Georg Koch (1872 – 1957), der Münsteraner Alttestamentler Johannes Herrmann (1880 – 1960),207 der Leiter des Kirchlichen Außenamtes Theodor Heckel (1894 – 1967)208 und der Stuttgarter 205 Ernst Moritz Arndt, hg. v. Hans Kern (Deutsche Bekenntnisse, 1), Berlin 1937, S. 24; vgl. ders, Die Ewigkeit des Volkes (Deutsche Reihe, 20), Jena 1934 (Nachdrucke bis 1941) und vorlaufend bereits ders., Vom unbekannten Arndt. Studienhilfe zur Philosophie der Geschichte und Menschenbildung, Stettin 1929. Kern gehörte zum Jüngerkreis Ludwig Klages und dozierte an den Volkshochschulen in Berlin und Stettin. 206 Meinert Hansen, Ernst Moritz Arndt. Ein Beitrag zur Erforschung seiner Persönlichkeit und Gedankenwelt, Hamburg 1936 [phil. Diss. Hamburg]; Hans Polag: E. M. Arndts Weg zum Deutschen. Studien zur Entwicklung des frühen Arndt 1769 – 1812, Leipzig 1936 [phil Diss. Frankfurt/M]; NS-Ideologie verbreitete auch die Göttinger Dissertation von Hermann Blome, Der Rassegedanke in der deutschen Romantik und seine Grundlagen im 18. Jahrhundert (Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland, 46), München/Berlin 1943 (zu Arndt: S. 292 – 318). 207 Eugen Gerstenmaier, Arndt – Ahnherr des Deutschglaubens? Prinzipien neuheidnischer Geschichtsschreibung, in: Zeitwende 12/II (1935), S. 145 – 158; Otto Mann, Ernst Moritz Arndt und das Christentum, in: Wort und Tat, 11 (1935), S. 198 – 204; Heinrich Laag, Ernst Moritz Arndt – ein Christ? (Schriftenreihe des Deutschen Evangelischen Männerwerks 8), Berlin 1937; Walter Bülck, Glaube, ­Kirche und Volk bei Ernst Moritz Arndt, in: Die Dorfkirche 30 (1937), S. 177 – 185; Johannes Hermann, Ernst Moritz Arndts religiöse Umkehr, in: Theologische Blätter 18 (1939), Sp. 193 – 196; Georg Koch, Geschichte einer Heimkehr, in: Eckart 13/3 (1937), S. 115 – 126; ders., Arndts Wendung zu Gott und dem Volke, in: Leben und Weltanschauung 16 (1941), S. 11 – 13 u. S. 21 – 23. 208 Theodor Heckel, Ernst Moritz Arndt. Ein Mannesleben für Glaube und Volkstum (Der Heliand 63), Berlin 1939, 21941. Ursprünglich als Vortrag in Sofia und Istanbul gehalten; Heckels Anbiederung an ideologische Versatzstücke der NS-Propaganda bildet den Tiefpunkt der evangelischen Arndt-Literatur. Er feiert ihn als „Herold des großdeutschen Reichs“ und Verfechter einer deutschen Nationalkirche.

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Predigerseminardirektor und Oberkirchenrat Martin Haug (1895 – 1983).209 Zwei Darstellungen erschienen als Bücher: 1937 das des hochbetagten pensionierten rheinländischen Generalsuperintendenten und Bonner Honorarprofessors Karl Klingemann (1859 – 1946). Er wählte für seine biedere Darstellung einen Schwerpunkt in Arndts Dichtung. Interessanterweise bewertete er dessen Jugendgedichte höher als die geistlichen,210 womit er sich von der hymnologischen Studie Johannes Kulps (1869 – 1955) abgrenzte, die ebenfalls in den Zusammenhang des Arndt-Weltanschauungskampfes gehört.211 Noch kurz vor dem Weltkrieg publizierte Georg Koch aus dem Eckart-Kreis seine literarisch hochsensible Arndt-Darstellung, die sich zu erheblichen Teilen auf eigene Quellensichtungen stützte, aber auch die Arbeiten von Laag, Müsebeck, Paul Hermann Ruth (1900 – 1945)212 und Ibo Ibbeken (1909 – 1941)213 verarbeitete.214 Koch legte das Gewicht auf die Nachzeichnung von Arndts innerer Entwicklung, seine Denkwelten und begrifflichen Themenkreise. Gegenüber Darstellern, die nur den trotzigen Kämpfer wahrgenommen hatten, betonte er Arndts „weiche Klänge“.215 Kochs Buch beeindruckt durch seine kunstvoll eingewobene, reichhaltige Arndt-Blütenlese. Zu ­diesem Chor von Theologenstimmen gesellten sich noch zwei protestantische Literaten mit ebenfalls geistvollen Arndt-Miniaturen: der seit 1933 mit Berufsverbot belegte Tim Klein (1870 – 1944)216 und der Literaturhistoriker Friedrich Seebaß, der seinen Aufsatz ­später zu einer Monographie ausbaute.217 209 Martin Haug, Ernst Moritz Arndt. Der Rufer der deutschen Nation. 1769 – 1860, in: ders., Die einen guten Kampf gekämpft. Vom Ringen und Reifen christlicher Deutscher, Stuttgart 1939, S.  7 – 27; 31953, 61960. Haug wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Bischof der württembergischen Landeskirche. 210 Karl Klingemann, Ernst Moritz Arndt. Ein Kämpfer für Glaube und Freiheit (Menschen, die den Ruf vernommen 17), Gießen–Basel 1937. 211 Kulp (wie Anm. 5). 212 Ruth (wie Anm. 79) – eine echte Forschungsarbeit, auch mit Beobachtungen zu Arndts Glauben. 213 Ibo Ibbeken, Ernst Moritz Arndt und die christlich germanische Bewegung seiner Zeit (Pommernforschung Reihe 3, Beiträge zur Literatur- und allgemeinen Geistesgeschichte Pommerns 4), Greifswald 1937. Ibbekens Arbeit stellt eine der wenigen unideologischen Dissertationen dieser Periode dar, untersucht wird Arndts politische Religion und ihr Fortwirken in der Urburschenschaft, der gewählte Titel ist missraten. 214 Georg Koch, Die Heimkehr des Ernst Moritz Arndt (Der Eckart-Kreis 48), Berlin-Steglitz 1939. 215 Ebd., S. 10 f: „Wir verstehen diese große Seele doch nur dann in ihrem ganzen Reichtum und ihrer ganzen Tiefe, wenn wir aus ihr neben den Tönen frischen Mutes und mannhaften Trotzes auch die ganz zarten, ja weichen Klänge vernehmen.“ 216 Tim Klein, Ernst Moritz Arndt, in: ders., Lebendige Zeugen. Deutsche Gestalten im Gefolge Christi, Berlin 1937 [= 1936], S. 131 – 151 [weitere Aufl. 1938, 1940, 1949]. Klein war bis 1932 Herausgeber der bedeutenden Kulturzeitschrift Zeitwende. 217 Friedrich Seebass, Ernst Moritz Arndts innere Wandlungen, in: Deutsche Rundschau 263 (1940), S. 51 – 58; erneut in: ders., Christentum und deutscher Geist. Zehn Aufsätze zu

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Aus diesen vielstimmigen Wortmeldungen und Entwürfen, die eine gemeinsame Front bilden, kann die Studie von Gerhard Delling herausgehoben werden, weil sie auch theolo­ gisch ertragreich ist. Delling reagierte auf die Bestreiter des christlichen Arndt mit einer Fülle von Gegenbelegen, die er – durch Laag und Müsebeck werkbiographisch breit belehrt – einer „Heimkehr zum Christusglauben“ zuordnete. Wichtig waren ihm u. a. begriffliche Klarstellungen von häufig gebrauchten Vokabeln, deren spezielle Sinnfüllung von vielen Arndt-Darstellern gar nicht wahrgenommen und bedacht wurde.218 Gegen Leute, die „das Christentum kritisch erledigen zu können glaubten“, habe Arndt sich immer abgegrenzt. Seine zeitweilige Entfernung vom biblischen Glauben sei „nicht durch völkische Einsichten bedingt“ gewesen. Festzuhalten sei, „daß für Arndt das biblische Christentum ­keine Ruhestellung war“, in die man sich vermeintlich flüchten könne, sondern die ihn in ­aktuellen Herausforderungen zu neuer Stellungnahme befähigt habe. Eindeutig sei, dass der keinem der „üblichen Schubfächer“ zuzuordnende Arndt „auch vor der Rückkehr“ zum evangelischen Christentum „allezeit Christ sein wollte“, und zwar in einem Volk, das „nicht wieder hinter Christus zurück kann“. „So wird uns Arndt ein Rufer zum Glauben an den lebendigen Christus, der Befreiung ist von aller Selbstsucht, Auftrag zu ganzer Hingabe, Kraft zu reiner Liebe, zu ganzer Treue, zu vollem Dienst“.219 In einem Anhang „Zur Literatur“ charakterisierte Delling die Studien von Laag und Müsebeck als wichtige Referenzgrößen mit gelegentlichen Mängeln, lobte die „geistreichen Durchblicke“ Schreiners, auch wenn Arndts „innere Entwicklung“ dort ignoriert sei, grenzte sich ausführlich gegen die vorurteilstriefenden Beiträge von Knauer und Kern ab und diskutierte die anspruchsvolle Arbeit des seit 1936 beurlaubten Heidelberger Literaturprofessors Rudolf Fahrner (1903 – 1988), der das Revolutionäre an Arndt anerkenne, aber sein Christentum als bloße „Hilfsmacht“ verkenne.220 Eines allerdings charakterisiert alle diese protestantischen Verteidigungsversuche im Arndt-Weltanschauungskampf: der fehlbare Christ Arndt wurde durchweg positiv, wenn nicht geradezu glorios und unkritisch nationalprotestantisch postamentiert. Theologisch gebotene Kritik an der von ihm vorgenommenen Nationalisierung des Christentums wie an seiner mindestens zeitweilig vertretenen Einschränkung der christlich-biblischen Versöhnungsbotschaft leistete diese Generation von Arndt-Lesern nicht; sehr wahrscheinlich ­ eueren Literaturgeschichte, München 1947, S. 38 – 48. Zu seinem Arndt-Buch siehe unten n im 9. Abschnitt. 218 Gerhard Delling, Ernst Moritz Arndt. Heimkehr zum Christusglauben, Berlin 1937, S. 8 – 11 Klärung der Begriffe Heidentum, Atheismus, Religion und Gott bei Arndt. Dellings Studie war zuvor schon als Aufsatz im Vereinsblatt des Ev. Bundes erschienen: Wartburg, 36 (1937), S.  272 – 288. 219 Ebd., S. 22 f. Hervorhebung im Original. 220 Ebd., S. 23 f. Rudolf Fahrner, Arndt. Geistiges und politisches Verhalten, Stuttgart 1937. Fahrner gehörte zur engen Freundschaft der Gebrüder Staufenberg, überlebte aber wie der 1944 verurteilte Gerstenmaier die Verfolgung der Attentäter des 20. Juli auf seiner Athener Direktorenstelle des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts.

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weil sie es vor dem Hintergrund ihrer speziellen geistgeschichtlichen Prägungen und unter den weltanschaulichen Herausforderungen der völkisch-neuheidnischen Ideologien nicht leisten konnten. Ausgerechnet Delling, ein angehender Kenner der jüdischen Geistes­geschichte und ihrer antiken Quellen,221 hielt es 1937 für zweckmäßig, mit Aplomb ­darauf zu pochen, dass Arndt weder durch sein Christsein noch durch die Schätzung des Alten Testaments daran gehindert gewesen sei, „die Dringlichkeit der Judenfrage immer deutlicher zu erkennen und eine klare Judengegnerschaft zu entwickeln“.222 Damit blies ­Delling ins antisemitische Horn, das die meisten anderen protestantischen Arndt-Verteidiger aufzunehmen vermieden hatten.

9. Der verketzerte und halbvergessene Christ Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Arndt keine Aufnahme mehr in das fünfbändige Werk Die Großen Deutschen, das ab 1955 unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Theodor Heuss konzipiert und völlig neu erstellt wurde.223 Das hatte zum Teil mit seinem „deutschgläubigen“ Darsteller aus der Vorgängerauflage zu tun,224 viel stärker aber noch mit dem ausufernden Propagandagebrauch, den ein ideologisch zurechtgelegter und zugestutzter Arndt seit 1937 und ganz besonders während des Zweiten Weltkrieges erfahren hatte. Zitate „des ewigen Deutschen“ waren in hochdosierter Emotionalität in Zeitschriften, Reden und Propagandamedien aller Art verbreitet worden, Schriften wie sein Katechismus für den deutschen Wehrmann (1813) in tausenden von Exemplaren neuaufgelegt und an Wehrmachtsangehörige verteilt, die „volkstümlichen“ seiner patriotischen Lieder als Durchhalteaufputschmittel zum Dauereinsatz gekommen. Letztlich war auch von protestantischer Seite trotz nuancenreicher Distanzierung gegenüber völkisch-neuheidnischen Arndt-Interpretationen eine weithin unkritische Anpassung an die Ideologie der Zeit mit vollzogen und verbreitert worden. Dass Arndt Mitgliedern des deutschen Widerstandes sowie dem Nationalkomitee Freies Deutschland eine wichtige Referenzgröße geworden war, konnte seinen Dauereinsatz in der NS- und Wehrmachtspropaganda nicht aufheben. Der berühmte Wilhelm Nestle (1865 – 1959) machte in seinem 1947 erschienenen zeitgeistkri­ tischen Buch Die Krisis des Christentums kurzweg Arndt dafür verantwortlich, die christliche Ethik grundlegend verfälscht und wirkmächtig wie wenige andere in eine nationalistische Pathologie und politische Religion hineinentwickelt zu haben.225 Mit d ­ iesem Verdikt des 221 Vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, Der Neutestamentler Gerhard Delling (1905 – 1986) als Erforscher des Frühjudentums, in: Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, hg. v. Udo Schnelle, Berlin/New York 1994, S. 73 – 86. 222 Delling (wie Anm. 218), S. 20, Anm. 1. Delling leitete dies aus zwei Briefstellen Arndts her. 223 Die großen Deutschen. Deutsche Biographie, hg. v. von Hermann Heimpel, Theodor Heuss, Benno Reifenberg, 5 Bde. Berlin 1956 – 1958. 224 Kern (wie Anm. 197). 225 Wilhelm Nestle, Die Krisis des Christentums. Ihre Ursachen, ihr Werden und ihre Bedeutung, Stuttgart 1947, ND Aalen 1969, S. 162 f.

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großen Altphilologen, der Luther gegen Arndt absetzte,226 begann die Dekanonisierung des Nationalschriftstellers und Christen Arndt. Sein während des nationalsozialistischen Jahrzehnts ideologisch hochgerüstetes Bild fiel nun auf Arndt selbst zurück. Es dauerte etwa vier Jahrzehnte, bis sein Name einer allgemeinen damnatio memoriae verfiel. Bereits in den 1950er Jahren löste sich seine tradierte Reverenz auf. Das Gedenken an ihn schränkte sich in der jungen Bundesrepublik schon bald auf Vertriebenengruppen, Landsmannschaften und nationalkonservative Kreise ein. Darauf reagierte die Darstellung des politisch unverdächtigen Tutzinger freien Schriftstellers und Hölderlin-Forschers Friedrich Seebaß (1887 – 1963).227 Er publizierte sein beachtenswertes Arndt-Buch 1958 im Brunnen-Verlag in der Reihe Zeugen des gegenwärtigen Gottes. „Obwohl Arndt gewiß zu den ,großen Deutschen‘ zählt, wird er zu Unrecht heute nur wenig mehr genannt.“ 228 ­Seebaß beklagte den „nationalsozialistischen Mißbrauch“, nachdem Arndt schon länger zu einem „lauten, biedermännischen, altdeutschen Patrioten“ für „festliche Gelegenheiten“ mutiert gewesen sei. Der feinsinnige Literaturkundler erinnerte an Friedrich Gundolfs (1880 – 1931) kluge Arndt-Rede von 1920,229 die er sich für seinen biographischen Abriss zum Vorbild nahm, und warb für eine Wiederentdeckung des ganzen Arndt einschließlich seiner „sittlich-­religiösen Persönlichkeit“. Arndt sei nicht müde geworden, „die christlichen Grundsätze seinem Volk immer aufs neue einzuschärfen“. Der untergegangene NS-Staat war für Seebaß nicht zuletzt durch sein Antichristentum gekennzeichnet. Der Verfasser rechnete damit, dass Deutungen, die Arndt „zum Vertreter modern-deutschen Heidentums“ verfälscht hatten, im Lesepublikum der Bundesrepublik noch immer wirksam waren. Besonders wichtig war ihm, Arndt original und in ausführlichen Zitat-Passagen zu Wort kommen zu lassen.230 Er ordnete sein Bild den Darstellungen von Müsebeck, Laag, Ruth, Delling und Koch zu. Was Seebaß gegenüber seinen Vorgängern stärker heraushob, war 226 Das richtete sich gegen die von Edmond Vermeil 1940 aufgebrachte, dann während des Zweiten Weltkriegs von William Montgomery McGovern und Peter F. Wiener zugespitzte und von Karl Barth und Wolfram von Hanstein popularisierte Behauptung eines geistesgeschichtlichen Zusammenhangs von Luther zu Hitler über Friedrich II. und Bismarck. Vgl. Barbro E ­ beran, Luther? Friedrich „der Große“? Wagner? Nietzsche? …? …?: Wer war an Hitler schuld? Die Debatte um die Schuldfrage 1945 – 1949, München/Stockholm 1983; Gunther Mai, Von Luther zu Hitler? Luther-Rezeptionen 1883 – 1945, in: Luther und die Deutschen. Begleitband zur Nationalen Sonderausstellung auf der Wartburg, hg. v. Wartburg-Stiftung Eisenach, Petersberg 2017, S. 62 – 67; Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen/ Bristol 2012. 227 Friedrich Seebass, Ernst Moritz Arndt. Deutscher und Christ (Zeugen des gegenwärtigen Gottes 134/135), Gießen/Basel 1958. 228 Ebd., S. 4. 229 Neben den kenntnisreichen Arndt-Überblicken von Rudolf Haym (1860), Gustav Freytag (ADB, Bd. 1, 1875, S. 541 – 548) und Ernst Müsebeck (RE3, Bd. 23 (1913), 117 – 123) war die Rede des George-Jüngers eine der differenziertesten: Friedrich Gundolf, Hutten, Klopstock, Arndt. Drei Reden, Heidelberg 1924, hier S. 46 – 70. 230 Ebd., S. 3 f. Zitate machen knapp die Hälfte seiner 80-seitigen Darstellung aus.

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die Entdeckung eines lernfähigen Arndt, der sich öffentlich revidieren konnte. Allerdings überzog Seebaß, wo er ­dieses gelegentliche Phänomen zum generellen Habitus erklärte: „Arndt blieb sich also auch darin treu, daß er sich nicht scheute, seine widersprüchliche Haltung und seine grundsätzlich veränderten Urteile offen darzulegen.“ 231 Nach schmerzlicher Erfahrung zweier Weltkriege waren für Seebaß die Grenzen des Gefeierten sichtbarer geworden, wenn auch weiterhin gebremst von einer Haltung der Verehrung: „Kaum können wir heute noch die maßlose Glut des Hasses ertragen, die Arndt aus der Leidenschaft der verletzten Gerechtigkeit gegen die Franzosen schleudert.“ 232 Wie groß der Absatz von Seebaß’ klugem Buch war, lässt sich nicht mehr feststellen. Ein Rezensent des Evangelischen Kirchenboten für die Pfalz pries diese Buchreihe aber generell 233 und urteilte, sie eigne „sich in ganz hervorragender Weise zur Verwendung im Religionsunterricht, für Konfirmanden. und Jugendstunden, für Männer- und Frauenabende, für die Zurüstung der Helfer und Helferinnen im Gemeindedienst sowie als feine Geburtstagsund Weihnachtsgabe an verdiente Gemeindeglieder und an unsere Jugend“.234 In dieser katechetischen Ausrichtung war Seebaß’ Arndt-Buch das letzte seiner Art. Eine Nachauflage erlebte es nicht, stieß aber die Erstellung einer gemeindepädagogischen Handreichung an.235 Ein „protestantischer Heiliger“ war Arndt trotz des häufig gebrauchten Vergleichs mit Luther nie geworden.236 Seine nach dem Zweiten Weltkrieg stillschweigend vollzogene Streichung aus dem (westdeutschen) Kanon der „großen Deutschen“ war unumkehrbar. Sie dokumentiert die eingetretene Distanzierung. Das Gedächtnis an den christlichen Dichter behielt dagegen noch einen gewissen Bestandsschutz, nicht zuletzt durch die Verankerung seiner Lieder in den meisten evangelischen Gesangbüchern. Auch im öffentlichen Raum blieb durch die fortgesetzte Vergabe seines Namens an Schulen, Straßen, Plätze, kirch­liche Gemeindehäuser und Seniorenheime der Diakonie für die nächsten vier Jahrzehnte eine die längste Zeit unangefragte Restpräsenz erhalten. Die Masse dieser Benennungen im öffentlichen Raum war ­zwischen 1928 und 1936 erfolgt. Aber auch in der Bundes­republik entstanden noch neue Arndt-Straßen und kirchliche Gemeindehäuser – zum Teil auf Veranlassung der Vertriebenenverbände, zum Teil im Zusammenhang mit den Arndt-Gedenkjubiläen der 1960er Jahre.237 Arndt-Texte waren zu d ­ iesem Zeitpunkt – anders als in der DDR – in westdeutschen Schullesebüchern schon nicht mehr zu finden. 231 Ebd., S. 78 – hier in Bezug auf Arndts Preußen-Bild. 232 Ebd., S. 30. 233 Seebaß legte für diese Reihe ­zwischen 1950 und 1957 auch Darstellungen über Martin Luther, Johann Arndt, Paul Gerhardt, Johann Sebastian Bach, Friedrich Christoph Oetinger, Matthias Claudius, Freiherr Karl vom Stein, Carl Hilty und Mathilda Wrede vor. Drei dieser Bände erlebten Nachauflagen, sein Arndt-Buch nicht. 234 Zitat auf der Coverrückseite des Arndt-Bandes unter der Auswahlliste der Gesamtreihe. 235 Friedrich Laubscher, Ernst Moritz Arndt (Gotteszeugen. Eine Schriftenreihe für Jugend und Gemeinde 58), Stuttgart 1959. 236 Staats (wie Anm. 200). 237 Z. B. 1963 die Ernst Moritz Arndt-Straße in Bergisch-Gladbach.

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Gegenläufig zur kollektiv einsetzenden Arndt-Amnesie entstand die sorgfältigste Darstellung der religiösen Biographie Arndts in den frühen 1960er Jahren. Der in Halle ausgebildete Theologe und spätere Anklamer Superintendent Günther Ott (1930 – 1999) war von seinem Schwiegervater, dem Hallenser Kirchenhistoriker Ernst Barnikol (1892 – 1968), Ende der 1950er Jahre zu Arndt-Studien ermuntert worden. Ott konnte die Quellen noch in den Archiven beider deutschen Staaten erschließen. Am 21. Juli 1961 verteidigte er seine bienenfleißige Dissertation vor der Theologischen Fakultät Halle.238 Sie zählt zu den besten akademischen Arndt-Dissertationen überhaupt. Ott hatte sein Spezialthema über weite Strecken zu einer kritischen Arndt-Biographie erweitert. Edith Ennen (1907 – 1999), die als frühere Direktorin des Bonner Stadtarchivs das Entstehen der Arbeit begleitet und gefördert hatte, und Gustav Erdmann (1930 – 1994), damals Mitarbeiter des Kulturhistorischen Museums Stralsund, bauten ihre wissenschaftlichen Arndt-Darstellungen zu nicht geringen Teilen auf Otts souverän vorgetragenen neuen Erkenntnissen auf.239 Die unzensierte Publi­kation dieser herausragenden Untersuchung war nur in der Bundesrepublik möglich. Das offizielle Arndt-Bild der DDR schrieb verbindlich vor, die „progressiven“ Seiten des Publizisten zu betonen,240 wozu aus sozialistischer Perspektive dessen Christentum per se nicht gehören konnte.241 Ott unternahm es, Arndts widersprüchlichen Denkwege und Positionen jenseits der nationalprotestantisch ausgetretenen Ordnungssysteme und Erzähltraditionen kritisch neu zu sichten, biographisch zu vertiefen und in den Rahmen seiner Zeit zu stellen. Als „Dilemma“ diagnostizierte er an der älteren Arndt-Forschung, dass diese „die Grenzen“ von Arndts „politischen und religiösen Vorstellungen“ ignoriert habe. „Sie hat […] nicht gesehen, daß Arndt als ein getreues Abbild seiner Zeit neben einer außerordentlichen Anpassungsfähigkeit und einem großen Wandlungsreichtum auch eine dem Geiste seiner Zeit entsprechende Labilität des inneren Wesens zeigte, die die oft mangelnde Einsicht in die religiöse wie politische Weltlage ebenso wie die schwankende geistige Leistungsfähigkeit 238 Günther Ott, Ernst Moritz Arndt. Religion, Christentum und ­Kirche in der Entwicklung des deutschen Publizisten und Patrioten, 2 Bde. Typoskript Diss. theol. Halle 1961. 239 Ennen (wie Anm. 121), erneut in: dies., Gesammelte Abhandlungen zum europäischen Städtewesen und zur rheinischen Geschichte, hg. v. Gerhard Droege, Bd. 1, Bonn 1977, S. 530 – 556; Gustav Erdmann, Einleitung, in: Ernst Moritz Arndt. Ausgewählte Gedichte und Schriften, Berlin 1969, S. 11 – 39; ders., Arndt-Legende und Arndt-Bild der Gegenwart, in: Glaube und Gewissen 15 (1969), S. 212 – 214; ders., Chronik aus Arndts Leben, in: Ernst Moritz Arndt. Freiheitssänger und Patriot. Zum 100. Todestag am 29. Januar 1960 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund 3), Stralsund 1960, S. 7 – 74. 240 Vgl. die 14 Aufsätze in der universitären Arndt-Festschrift: 1769 – 1969 Ernst Moritz Arndt. Festschrift zum 200. Geburtstag, hg. v. d. Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald unter Redaktion v. Johannes Schildhauer, Walter Stark, Hildegard Schacht, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Sprachwiss. Reihe 18 (1969), Nr. 1 – 2. 241 Immerhin aber konnte Günther Ott zeitlich verzögert eine Studie über Arndts Theologiestudium in der SED-gelenkten Universitätszeitschrift zu publizieren: Günther Ott, Gottlieb Schlegel, der Greifswalder Lehrer Ernst Moritz Arndts und die Aufklärungstheologie seiner Zeit, in: Wissen­ schaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 24 (1975), 4, 219 – 229.

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Arndts erklären kann.“ 242 Ott historiographierte einen Mann, der – bei allem Respekt vor seinen Leistungen und Entscheidungen – als fehlbarer Christ und beschränkter Charakter erscheint. Zugleich brachte der Verfasser eine Fülle neuer biographischer Details bei, die er kundig in ihrem historischen Kontext entfaltete. Sein Rezensent Karl Kupisch (1903 – 1982) – Verfasser einer bemerkenswerten Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts – urteilte in der Theologischen Literaturzeitung höchst anerkennend: „Er legt nicht das Ergebnis einer Aufarbeitung der zahlreichen Bücher, Schriften und Aufsätze zu d ­ iesem Thema vor, sondern geht in einer überaus besonnenen, kritischen Weise der Frage nach Entwicklung und Charakter des Glaubens bei Arndt nach und kommt zu Urteilen, wie sie bisher in der Arndt-Literatur nicht zu finden waren.“ 243 Otts Zugang und Ergebnis überzeugte den West-Berliner Kirchenhistoriker auf ganzer Linie, der es zu einem Glücksfall erklärte, dass der junge Verfasser seine Studien in der Ruhe einer relativen „Diskussionspause“ um Arndt absolvieren konnte. Schließlich habe Arndt „auf der Schaukel der urteilenden Nachwelt so ziemlich alle Schwungphasen erfahren“. Kupisch endete mit dem Hinweis, dass den Band höchst wertvolle Quellenbeigaben abrunden. Otts Quellenkenntnis ist wohl bis heute unerreicht, obwohl der Hallenser Promovend noch nicht auf die große Arndt-Briefedition Albrecht Dührs (1882 – 1977) zurückgreifen konnte. Die kurz nach der Publikation von Otts gewichtiger Studie wieder lauter werdende westdeutsche Verketzerung Arndts und auch die medial bald eintretende merkwürdige Arndt-Amnesie konnte diese wissenschaftlich anerkannte Studie nicht aufhalten, zumal der Autor als DDR -Pfarrer nahezu keinen Zugang zu westdeutschen Medien hatte. Als Otts Buch 1966 erschien, liefen die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag Arndts an. Diese Arndt-Feiern von 1969 waren die letzten, die mediale Aufmerksamkeit in beiden deutschen Staaten erhielten. Auch wenn die Arndt-Gedenkfeiern von 1960 und 1969 noch gewisse publizistische Schnittmengen und gegenseitige Kenntnisnahmen ergaben,244 hatte sich die Arndt-Memoria schon vor dem Mauerbau in Ostund Westdeutschland stark unterschiedlich entwickelt. Die Erinnerung an den Christen Arndt war davon mitbetroffen.

9.1 Arndt in der BRD Das Arndt-Gedenken Westdeutschlands hatte schon in den 1950er Jahren seine einstmals große Trägerschaft verloren. Trotz der Hoffnung auf die Wiedervereinigung bildete er in der Bundesrepublik spätestens seit 1968 auch keine verbindliche Referenzgröße 242 Ott (wie Anm. 33), S. 8. 243 Karl Kupisch, Rezension Günther Ott, E. M.Arndt. Religion, Christentum und ­Kirche (1966), in: Theologische Literaturzeitung 93 (1968), Sp. 688 f., hier Sp. 688. 244 Übersicht bieten Schäfer und Schawe (wie Anm. 81) sowie Gerhard Loh, Arndt Bibliographie. Verzeichnis der Schriften von und über Ernst Moritz Arndt. Festgabe zum 200. Geburtstag, [Ost-]Berlin 1969. Eine Gesamtbibliographie zur Arndt-Rezeption nach 1970 fehlt.

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mehr. Tradierte Arndt-Bilder des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wirkten zwar noch nach und lassen sich insbesondere in den Medien der Vertriebenenverbände und ­einiger Landsmannschaften finden,245 aber der „skeptischen Generation“ waren die Gestalt und ihr Denken literarisch und inhaltlich abhanden gekommen. Als 1960 der Direktor des Bonner Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums, Dr. Günter Schuster (1918 – 2011), zum Gedenken an den 100. Todestag Arndt als „Vorbild der Jugend“ feierte, machte schon sein Titelzusatz „heute noch“ auf die mittlerweile eingetretene Distanz aufmerksam.246 Die Mehrheit der Jugend in den frühen 1960er Jahren dürfte Arndt und seinem Gebrauch ferngestanden haben. Medial dokumentiert ist das im Kontext der Bonner Arndt-Feierlichkeiten 1969:247 Gymnasiasten der Bundeshauptstadt protestierten gegen die Arndt-Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost. In den Medien sprach man vom „Gymnasiastenunmut“. Die veränderte Stimmung gegenüber den Feierlichkeiten neun Jahre zuvor, die noch unter der Überschrift Bonns Bekenntnis zu Arndt stattgefunden hatten, zeigt ein Blick auf die Berichterstattung. Der Bonner Generalanzeiger befragte die Feierlichkeiten 1969: „Wird Arndts Bedeutung überschätzt?“, und der akademische Festredner Professor Max Brauchbach (1899 – 1975) reflektierte über Schattenseiten in Arndts leuchtendem Porträt.248 Die vielleicht bemerkenswerteste bundesrepublikanische Arndt-Darstellung des ausgehenden Jubiläumsjahres 1969 war ein publizistisches Nischenprodukt: Hellmut Diwalds (1924 – 1993) sachkundig-kritischer Nymphenburger Vortrag von Ende Januar 1970 erschien als Sonderpublikation der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung.249 Zwar entstanden danach noch von Johannes Paul (1891 – 1990) und Gustav Sichelschmidt (1913 – 1996) zwei populärwissenschaftliche Arndt-Biographien, die 1971 bzw. 1981 erschienen und auch kurze Kapitel zur religiösen Kontur Arndts enthalten. Aber als Produkte einer abtretenden Generation nationalkonservativer Prägung blieben diese mehr oder weniger apologetischen Entwürfe auf kleine Kreise der Kenntnisnahme beschränkt.250 Seit den 1970er Jahren war Arndt in der westdeutschen Gesellschaft ein nahezu Unbekannter und Vergessener, der höchstens Kritik, aber kein Interesse erwarten konnte. Arndt 245 Beispielsweise in dem aus dem Pommern Kalender hervorgegangenen Haus- und Jahrbuch Pommern, deren Hefte der 1950er und 1960er Jahre zahlreiche Texte Arndts und einige Aufsätze zu Arndt präsentieren. 246 Vgl. Schlossmacher (wie Anm. 146), S. 409. Schusters Vortrag Ernst Moritz Arndt – heute noch Vorbild der Jugend wurde durch den Bonner General-Anzeiger v.  30. 01. 1960 besprochen. 247 Vgl. Schlossmacher (wie Anm. 140), S. 55 f. 248 Details referiert Norbert Schlossmacher, Zur Arndt-Rezeption – nicht nur – in Bonn. Gedanken zum 150. Todestag von Ernst Moritz Arndt, in: Bonner Geschichtsblätter (2009), S. 169 – 194, hier S. 189 f. Bemerkenswert ist die Differenz zu Braubachs Bonner Arndt-Rede von 1933. 249 Hellmut Diwald, Ernst Moritz Arndt – das Entstehen des deutschen Nationalbewußtseins. Vortrag am Mentorenabend der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, München 1970. 250 Wohl auch weil der Autor Sichelschmidt dem rechtskonservativen Lager der BRD angehörte. Diwald schloss sich ­später den Republikanern an.

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verfiel ohne Federlesens dem Verdikt, in die üble Ahnenreihe des Nationalsozialismus und seiner Ideologie zu gehören. Dieses eintönig negative Arndt-Bild der Bundesrepublik setzte sich auch in den evangelischen Landeskirchen Westdeutschlands nach und nach durch.251 Nur das gemeindepädagogische Gedenkbuch von Hans Mayr (*1936), damals Mitarbeiter, ­später Leiter des Berneuchener Hauses Kloster Kirchberg, hielt noch einen Arndt-Artikel bereit. Er reservierte Arndt die Kantate-Woche in Erinnerung an den Hymnologen.252 Einer der wenigen westdeutschen Theologen, die publizistisch noch an einen vielseitigen Arndt erinnerten, war der Heidelberger, ­später Kieler Kirchenhistoriker Reinhart Staats (*1937). Seine Auseinandersetzung mit Arndt mündete in eine Antikritik des westdeutschen Arndt-Verdiktes, wie es sich kollektiv in den 1980er Jahren endgültig durchgesetzt hatte: „Das immer neu geforderte Hören auf die Stimme des Evangeliums wird gewiss nicht dazu führen, dass Arndt aus der Reihe großer evangelischer Christen, ja aus der evangelischen K ­ irche sozusagen postum exkommuniziert werden müsste, entsprechend einer Damnatio memoriae, wie sie die politische Geschichtsschreibung nach 1945 im westlichen Deutschland vollzogen hat […]. Aber vom Evangelium her können wir doch an Arndts inzwischen sehr alt gewordenen Antworten neue Fragen stellen und können hier und da vielleicht sogar bei ihm eine neu einleuchtende Antwort finden. […] Arndt war im Grunde ein bescheidener und immer lernfähiger Mann, kein Doktrinär und Ideologe wie viele, die sich hernach auf ihn beriefen. Darum ist ein ausführliches kritisches Gespräch mit ihm ganz in seinem Sinne.“ 253

9.2 Arndt in der DDR In Ostdeutschland zählte Arndt zu den „progressiven“ Gestalten, dessen Erinnerung und Werküberlieferung zumindest ausschnittsweise bis zum Ende der DDR mit staatlicher Förderung fortgesetzt wurde. Für die SED -gesteuerte Geschichtspolitik bezeichnete Arndt einen echten Erinnerungsort. Hier war er in den 1950er Jahren Symbolgestalt für die deutsche Wiedervereinigung (unter kommunistischem Vorzeichen) und blieb bis zum Ende der DDR positiv besetzt als Kämpfer gegen die Leibeigenschaft, als Demokrat, Patriot, Opfer der Reaktionäre, Vorbild der Nationalen Volksarmee und der deutsch-sowjetischen Freundschaft.254 Zwei Institutionen trugen seinen Namen: die Ernst-Moritz-Universität 251 Reinhart Staats, Theologie ohne Memoria oder der vergessene Arndt, in: Deutsches Pfarrerblatt 79 (1979), S. 106 – 108. 252 Glaubenszeugen der Einen ­Kirche. Siebenundfünfzig Lebensbilder für die Wochen des Kirchen­ jahres, hg. v. Hans Mayr (Kirche ­zwischen Planen und Hoffen N. F. 30), Kassel 1984, S. 68 f. Mayr schloss an die 427 Lebensbilder von Jörg Erb in dessen vierbändigem Werk Die Wolke der Zeugen. Lesebuch zum evangelischen Namenkalender (1952 – 1963) an. 253 Staats (wie Anm. 200), S. 127 u. 129. 254 Vgl. Reinhart Staats, Der Wert des christlichen Politikers Ernst Moritz Arndt für nichtchristliche politische Systeme, in: The Church in a Changing Society. CIHEC-Conference in

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Greifswald und das Ernst-Moritz-Arndt-Museum in Garz auf Rügen. Es gab mehrere Arndt-Schulen, zwei Arndt-Schiffe, eine Arndt-Kaserne und zahlreiche Arndt-Straßen. Der Nationalrat der Nationalen Front der DDR stiftete 1955 die Ernst-Moritz-ArndtMedaille für „Kulturschaffende“, die bis 1975 etwa 10.000 Mal verliehen worden sein soll. Erst 1970 fiel auf der Medaillenbeischrift das Arndt-Zitat „Das ganze Deutschland / soll es sein“ klammheimlich weg. 1985 erschien eine 20-Mark-Münze mit Arndts Porträt zum 125. Todestag. Auch wurden ausgewählte Teile aus Arndts Publizistik bis 1989 mehrfach nachgedruckt. Im „Arbeiter- und Bauernstaat“ zählte Arndt zur Ahnenreihe des Fortschritts. „Arndt als Christ“ spielte in dieser offiziellen „Erbepflege“ natürlich keine Rolle. Die Erinnerung daran blieb einzelnen Kirchenhistorikern und der evangelischen ­Kirche vorbehalten. So veranstaltete die Evangelische Landeskirche Greifswald zu Arndts 200. Geburtstag einen gesonderten Festakt im Rahmen ihrer im November 1969 tagenden Landessynode, zu der auch Vertreter des Staates geladen waren. Der damalige Katzower Pfarrer Günther Ott zog am Ende seines sorgfältig abgewogenen, kritisch-fairen ArndtVortrages Bilanz: „Wir, die Menschheit, die auf das immer noch von Jesus Christus her gezählte Jahr 2000 zugeht, könnten inzwischen begriffen haben, daß und wie sich die Menschheit selbst um die Freiheit zu bringen vermag. Bei all seinen verhängnisvollen Irrtümern sollten wir deshalb Ernst Moritz Arndt […] wenigstens diese eine Erkenntnis abnehmen, die als Erkenntnis der modernen Theologie gewiß nichts Neues, aber auch nichts Selbstverständliches ist, daß nämlich Freiheit nur möglich ist als Gebundenheit. Diese Gebundenheit besteht für ihn im Glauben und in der Treue“.255 Mit der siebten Strophe aus Arndts Gruß an die Freunde, die sich schon die Zehlendorfer Protestanten in die ­Kirche geschrieben hatten, schloss der Redner in Züssow. Vermutlich wurde sie von der Versammlung mitgesungen, denn das Lied stand – auf die zwei letzten Strophen gekürzt – im damaligen Evangelischen Gesangbuch der Evangelischen ­Kirche der Union von 1953 bzw. 1965 unter der Nr. 472 unterlegt mit Luthers Melodie zu „Ein neues Lied wir heben an“. Wie weit die Erinnerung an den Christen Arndt über den Horizont der pommerschen ­Kirche hinausging, ist schwer einzuschätzen. Doch wurde ihm Präsenz im mehrfach aufgelegten Protestanten-Gedenkbuch der DDR -Landeskirchen eingeräumt. Das weitverbreitete und seit 1981 nur leicht umgestaltete, repräsentative Buch gedachte zuletzt 130 evangelischen Frauen und Männern, darunter in allen acht Auflagen Arndt.256 Auch an Uppsala 1977 (Publications of the Swedish Society of Church History, New Series 30), ­Uppsala 1978, S.  250 – 256. 255 Der Festvortrag wurde zeitgleich dokumentiert: Günther Ott, Glaube, K ­ irche und Vaterland in Ernst Moritz Arndts Auseinandersetzung mit dem Säkularismus, in: Amtsblatt des Ev. Konsistoriums Greifswald, 1969, Nr. 11 (28.11.), S. 97 – 104. Ott erinnerte noch einmal 1975 in einer westdeutschen Zeitschrift an den Christen Arndt: ders., Ernst Moritz Arndt als Christ, in: Pommern. Zeitschrift für Kultur u. Geschichte, 14 (1976), 3, S. 48 – 49. 256 Das Bildnis des evangelischen Menschen von Martin Luther bis zur Gegenwart. Bischof D. Otto Dibelius zum 75. Geburtstag, hg. v. Friedrich Bartsch in Verb. mit Renate Trautmann

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einer weiteren Stelle blieb eine Arndt-Erinnerung DDR -weit erhalten: Der von sehr vielen Pfarrern genutzte Kirchliche Amtskalender notierte während der gesamten DDR Zeit unter dem 29. Januar Arndts Todestag zusammen mit den Sterbetagen von Johann Fabricius (†1729), Johann Gottlieb Fichte (†1814) und Joseph Görres (†1848).257 1998 wurden diese Personeneinträge auf die jeweiligen Geburtstage gerückt, Arndts Eintrag entsprechend auf den 26. Dezember. Erst 2009 entfielen plötzlich alle Personeneinträge der zweiten Reihe – es blieb nur die gesamtdeutsch tradierte Haupterinnerung stehen. Eine Erklärung der Herausgeber wurde nicht gegeben. Die Produktion des Kirchlichen Amtskalenders endete 2011 zugunsten des westdeutschen Pfarramtskalenders, der nie einen Arndt-Eintrag enthalten hatte.258 Übrig geblieben sind heute nur noch die evangelischen „Tagesheiligen“ im Haupteintrag.

10. Der exkommunizierte Christ Dass nach der deutschen Wiedervereinigung überwiegend ein pejoratives Arndt-Bild fortund festgeschrieben wurde, gehört zu den Zeitgeist-Symptomen der letzten Jahre. Zunächst schien sich mit der 1992 gesamtdeutsch gegründeten Ernst-Moritz-Arndt-Gesellschaft eine kritisch-verständnisbemühte Arndt-Beschäftigung zu etablieren. Die Publikationsreihen dieser Gesellschaft dokumentieren jedenfalls fast durchweg kritisch reflektierte Studien, darunter mehrere sachkundige Beiträge über Arndt in religiöser Hinsicht 259 und seine auffällige Schwachstelle: das Teilen antijüdischer Vorurteile.260 Auch Jürgen Israel (*1944) platzierte 2006 noch ein Arndt-Kapitel in seine Bearbeitung des früheren DDR-Projektes über „prominente Protestanten“.261 Aber mit dem ab 2008 forcierten Namensstreit an der Greifswalder Universität wurde ein erinnerungspolitischer Kulminationspunkt erreicht, der die vorher punktuelle Arndt-Verketzerung auf Dauer gestellt hat. Die erst im zweiten und Helmuth Burgert, Berlin 1955, S. 132 f. u. 258; zuletzt 81984, S. 130 f u. 277. Mit der 6. Aufl. 1981 wurde der Titel geändert: Bildnisse evangelischer Menschen … 257 Festgestellt anhand des Kirchlichen Amtskalenders 1987. In den frühen 1990er Jahren kamen zu diesen vier noch zwei Hinweise auf Geburtstage hinzu: Rudolf Mauersberger (*1889) und Katharina von Bora (*1499). Die Haupterinnerung am 29. Januar ist bis heute gesamtdeutsch Theophil Wurm (†1953) gewidmet, obwohl dieser schon am 28. Januar verstarb. 258 Über die zufälligen Hintergründe vgl. Staats (wie Anm. 249), S. 107. Das Personengedenken des westdeutschen Pfarramtskalenders am 29. Januar galt Fichte (†1814) und Görres (†1848), ab den 1980er Jahren auch Paul Rabaut (*1718) und Katharina von Bora (*1499), ab 1993 zusätzlich Wladimir Solowjew (*1853), der wenige Jahre ­später wieder wegfiel. 2008 endeten auch im Pfarramtskalender diese Einträge der zweiten Reihe. 259 Vgl. Goeters (wie Anm. 2); ders., (wie Anm. 136); Gummelt (wie Anm. 13). 260 Jens Rybak, Ernst Moritz Arndts Judenbilder. Ein unbekanntes Kapitel, in: Über Ernst Moritz Arndts Leben und Wirken (HEMAG 5), Putbus 1997, S. 102 – 151. 261 Jürgen Israel, Prominente Protestanten. Von Martin Luther bis heute, Leipzig 2006, S. 74 f. Inhaltlich identisch mit der DDR-Vorgängerpublikation von Bartsch (wie Anm. 256) bei leichter Textkürzung.

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Anlauf 2018 erreichte Namenseliminierung an der Greifswalder Universität 262 setzt sich nun fort in einer weitflächigen Exkommunikation Arndts aus dem öffentlichen Raum. Das betrifft aktuell nicht mehr nur Straßen und Schulen, sondern inzwischen auch seine kirchlichen Erinnerungsorte. Die Zehlendorfer Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde in West-Berlin bewegte die Frage, ob und inwiefern Ernst Moritz Arndt als christliche Gestalt zu erinnern bleibt, schon seit den 1980er Jahren mehrfach.263 Ihr Wiederaufruf 2018 erfolgte nach der Senatsentscheidung der Greifswalder Ernst-Moritz-Arndt-Universität. Mehrere regionale und überregionale Blätter hatten im Zusammenhang mit der Meldung und Kommentierung der Greifswalder Entscheidung auch auf die Existenz der Ernst-Moritz-Arndt-Kirche und -Gemeinde in Berlin-Zehlendorf hingewiesen. Nach intensiver Beschäftigung mit den Wertungen und Argumenten, die für oder gegen Arndt und seine Wahl vor 84 Jahren zum Namenspatron einer ­Kirche sprechen, beschloss der Zehlendorfer Gemeindekirchenrat Anfang Mai 2019, den Namen und seine Abkürzungen für die Zehlendorfer ­Kirche und Gemeinde abzulegen.264 Diese Entscheidung des Gemeindekirchenrates wurde breit wahrgenommen und vielfach positiv kommentiert.265 Die Entscheidung war aber mit sechs zu vier Stimmen knapp ausgefallen. Der Gemeindekirchenrat hatte sich große Mühe gegeben, das Entscheidungsverfahren fair und durchsichtig zu gestalten. Es lag ihm daran, einen breiten Beteiligungsprozess möglichst vieler Gemeinde­ glieder zu erreichen. Dazu wurde erstens eine eigene Arndt-Broschüre mit Auswahltexten auf 70 eng bedruckten Seiten veröffentlicht und ausgegeben,266 zweitens vier gut besuchte Diskussions- und Vortragsabende organisiert 267 und drittens Anfang April 2019 eine große Gemeindeversammlung einberufen. Diese letzte Diskussionsversammlung ergab allerdings, 262 Der ursprüngliche Beschluss der Namensablegung erfolgte durch den Senat im Januar 2017, ein zweiter im Oktober 2017, wegen erheblicher Widerstände und rechtlicher Einsprüche schließlich im Januar 2018 ein Kompromissbeschluss, der seit Juni 2018 vollzogen ist. Zum Prozesshergang vgl. die knappe Darstellung auf der Universitätswebseite: https://www.unigreifswald.de/universitaet/geschichte/zum-universitaetsnamen/, letzter Zugriff: 02. 06. 2020). 263 Sie setzt sich aktuell in Bochum-Wiemelshausen fort, wo die Gemeindepfarrerin das 1930 entstandene „Ernst-Moritz-Arndt-Gemeindehaus“ öffentlich seit Februar 2020 in Frage stellt. 264 Den Wortlaut des Beschlusses gibt die gemeinsame Presserklärung der Ev. Ernst-Moritz-ArndtGemeinde und der Ev. ­Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 7. Mai 2019 wieder; abgelegt auf der Webseite der Kirchengemeinde: https://ema-gemeinde.de. 265 Kritik kam u. a. von der Berliner Zeitung, 29. 03. 2019, Kolumne von Gunnar Schuppelius, https://www.bz-berlin.de/berlin/kolumne/die-ernst-moritz-arndt-gemeinde-haette-ihren-namenbehalten-sollen, letzter Zugriff: 02. 06. 2020). 266 Häusler (wie Anm. 196). Wiedergegeben werden längere Passagen aus Arndt-Texten, einige Gedichte und Gemeindedokumente, auszugsweise auch der sonst nur im Erstdruck auffindbare Aufsatz Noch etwas über die Juden (1814). 267 Zu diesen finden sich Berichte und Vorfeldnachrichten im Nachrichtenblatt der Kirchen­ gemeinde: vgl. TH|EMA. Gemeindebrief der Evangelischen Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde, ab Folge 5/2018 bis Folge 4/2020. Alle Folgen sind zu finden als PDF auf der Webseite https:// ema-gemeinde.de.

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Abb. 2: Das – bisherige – Eingangsschild zum Gebäudekomplex der Ernst-Moritz-Arndt-Kirche in Berlin-Zehlendorf, aufgenommen im September 2020, Foto: E. Zemmrich

dass „die meisten Anwesenden für eine Beibehaltung des Gemeindenamens“ plädierten.268 Die einfache Mehrheit des Gemeindekirchenrates entschied jedoch anders. In der Presseerklärung nach der Entscheidung erklärten die Verantwortlichen: „Dem Gemeinde­kirchenrat ist bewusst, dass viele langjährig aktive Gemeindeglieder für die Beibehaltung des Namens votierten; zugleich wünschten viele andere Gemeindeglieder die Umbenennung. Die unterschiedlichen Standpunkte sind auch im Gemeindekirchenrat vertreten und kommen in dem Abstimmungsergebnis (6 : 4) zum Ausdruck. Umso mehr ist es allen Mitgliedern des Gemeindekirchenrates ein großes Anliegen, dass die getroffene Entscheidung von der Gemeinde mit Toleranz und dem gemeinsamen Bewusstsein aufgenommen wird, dass die Identität einer christlichen Gemeinde nicht in ihrem Namen, sondern in dem Auftrag Jesu Christi begründet ist, die Botschaft der Versöhnung in die Welt zu tragen.“ 269 Der damalige Berlin-Brandenburgische Bischof Markus Dröge erklärte namens der Kirchen­leitung, dass man die Entscheidung begrüße. Die Kirchengemeinde habe „in vorbildlicher Weise einen offenen und fairen Diskussionsprozess durchgeführt“, der „angesichts der Vielschichtigkeit der Fragestellung nicht einfach“ gewesen sei. Der Bischof, der persönlich schon länger für die Ablegung des Namens plädiert hatte, beendete seine Erklärung mit dem Lob: Die Kirchengemeinde habe „damit Verantwortungsbewusstsein gezeigt und ein gutes Beispiel für eine angemessene kirchliche Entscheidungskultur gegeben“.270 In der Presseerklärung wurde darüber hinaus mitgeteilt, dass mit dem Beschluss der Namensablegung 268 Webseitenunterseite: „Die Umbenennung unserer Kirchengemeinde“ (https://ema-gemeinde.de). 269 Presseerklärung (wie Anm. 264). 270 Die Bischofserklärung wurde in die Presseerklärung (wie Anm. 264) übernommen.

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auch die Suche nach einem neuen Namen eröffnet sei. „Die Namensfindung für die neu zu benennende ­Kirche und die Kirchengemeinde soll unter größtmöglicher Beteiligung der Gemeindeglieder zügig erfolgen.“ 271 Die Webseite der Ernst-Moritz-Arndt-Kirchengemeinde erhielt daraufhin eine neue Seite: „Die Umbenennung unserer Kirchengemeinde“. Auf ihr wird der bisherige Vorgang erläutert und die Presseerklärung hinterlegt, die von zahlreichen Zeitungen übernommen bzw. benutzt wurde. Im Schlussabsatz dieser neuen Seite erklärt die Gemeindeleitung: „Rechtskräftig umgesetzt wird der Beschluss erst, wenn ein neuer Name für die Gemeinde und die ­Kirche gefunden worden ist.“ 272 Dieser Hinweis erklärt, weshalb der Gemeindebrief, das Gemeindelogo und die Webseite auch aktuell noch den Namen Ernst Moritz Arndt bzw. die Abkürzungen EMA/ema im Titel führen. Im September 2019 wurde eine stark besuchte Gemeindeversammlung der neuen Namensfindung gewidmet. Sie ergab aber kein konstruktives Ergebnis. „Einige ­Teilnehmer äußerten Vorbehalte gegen den Beschluss“, andere „machten Vorschläge für einen neuen Namen“, heißt es im Bericht. Die stellvertretende Superintendentin „appellierte an die Gemeindeglieder, trotz der unterschiedlichen Meinungen zu dem Beschluss, die Gemeinde nicht als gespalten zu bezeichnen“, und Gemeindepfarrerin Ute Hagmayer „sprach die Hoffnung aus, dass die Gemeinde im Namen Jesu Christi zusammenhalte“.273 Unmittelbar anschließend beauftragte der Gemeindekirchenrat eine Arbeitsgruppe, „ein Verfahren für die Namensfindung vorzubereiten“.274 Jedoch blieb die Kritik an der Entscheidung innerhalb der Kirchengemeinde weiterhin virulent und hörbar. „Die Namensdebatte ist für viele Gemeindeglieder noch nicht abgeschlossen“, erfuhr der Leser der Gemeindenachrichten im Dezember 2019.275 In der ersten Nummer von 2020 wurden kritische Wortmeldungen zur Namensablegung aufgenommen. Aus dem Offenen Brief einer gemeindeaktiven Frau wurde paraphrasiert zur Kenntnis gebracht: „Der Beschluss, den Namen abzulegen, habe zu einer erheblichen Unruhe geführt. Der Öffentlichkeit werde aber der Eindruck vermittelt, die meisten Gemeindeglieder begrüßen eine Namensänderung.“ Richtig hätte festgehalten werden müssen, dass die Gemeindeversammlung mehrheitlich für die Beibehaltung des Namens votierte. Verlaufskritisch sei zu bedenken: „Im Vordergrund der Diskussion um den Namen haben nicht der Kampf Arndts gegen Leibeigenschaft, Pressezensur, für eine unabhängige Rechtsprechung, für die allgemeine Schulbildung oder aber seine Überzeugung als Christ gestanden, sondern die furchtbaren Hetzschriften von Arndt gegen Juden und Franzosen.“ Namensablegungen begünstigen „grundsätzlich das Vergessen“. Bedacht 271 Presseerklärung (wie Anm. 264). 272 Vgl. https://ema-gemeinde.de/ueber-uns/umbenennung-ernst-moritz-arndt.html, letzter Zugriff: 02. 06. 2020. 273 TH|EMA, 5/2019 Okt./Nov, S. 2. 274 Ebd. 275 TH|EMA, 6/2019 Dez/Jan, S. 9.

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werden solle: Als die Kirchengemeinde 1935 ihren Namen erhalten habe, „sei Arndt ,als ein Rufer zu Christus‘ und Kämpfer gegen politische Tyrannenherrschaft gemeint gewesen“. Eine neue Namensfindung setze mindestens ein „basisdemokratisches Verfahren“ voraus, „etwa eine Urabstimmung“.276 Die Redaktion der Gemeindenachrichten bemühte sich erkennbar um einen transparenten Umgang mit Kritik. Ob die Anfechter der Namensentscheidung damit zufriedengestellt worden sind, entzieht sich der Wahrnehmung von außen. Ein Ende der Geschichte ist aktuell noch nicht abzusehen. Nachdem die Aktivitäten der Zehlendorfer Gemeinde wie überall seit März 2020 pandemiebedingt stark eingeschränkt werden mussten, wurde im Mai-Gemeindebrief bekannt gegeben: Ein im Februar angedachtes Namensfindungsverfahren werde nunmehr „etwas gerafft“ durchgeführt. Der Gemeindekirchenrat habe beschlossen, „das gemeinsame Nachdenken darüber, was wir meinen und was uns wichtig ist, wenn wir Gemeinde sagen, mit der Diskussion von Vorschlägen für einen neuen Gemeindenamen zu verbinden“. Namensvorschläge s­eien bis zum 21. Juni 2020 einzubringen. Diese würden dann im Herbst „in einer Reihe von Veranstaltungen kleinerer und größerer Art zur Diskussion gestellt“, bevor der Entschluss zum neuen Namen gefasst werde.277 Im jüngsten Gemeindebrief wurde mitgeteilt, dass insgesamt 52 Namensvorschläge eingereicht wurden. Der Gemeindekirchenrat habe nun beschlossen, „mit einer Vorauswahl von 6 Namensvorschlägen in die weitere Diskussion zu gehen“. Das gesetzte Ziel sei, „die Kommunikation dieser Vorauswahl in der Gemeinde […] gründlich vorzubereiten“. Die Vorstellung der sechs Vorschläge sei im Gemeindebrief für Oktober/November 2020 und auf der Webseite zu erwarten.278 Man darf also gespannt sein, wohin die noch ausstehende Diskussion die ehemalige Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde führen wird. Deutlich ist aber schon bis hierher: Die Entscheidung vom Mai 2019 hat in Zehlendorf tiefe Gräben gerissen – trotz aller Offenheit und Fairness des Verfahrens. Die Kollision verschiedener Arndt-Bilder ist erkennbar und unverwunden. Der etablierte Name bot offensichtlich vielen Gemeindegliedern eine stärkere Identifikation, als es sich die Initiatoren der Namensdebatte vorstellen mochten. Am Ende nützte es wenig, dass die Gemeindeverantwortlichen in ihrer Presseerklärung einräumten und begründeten: Der Beschluss geschehe „unter ausdrücklicher Anerkennung der Motive der an der Namensgebung der K ­ irche 1935 beteiligten Personen, die in einer Atmosphäre des vordringenden Neuheidentums in Ernst Moritz Arndt die Personifizierung einer notwendigen Verbindung von Christentum und Patriotismus sahen. Mochte die Namenswahl damals aus kritischer Distanz zum Nationalsozialismus sinnvoll gewesen 276 Unter Aufnahme der redaktionellen Paraphrase des Offenen Briefes von Susanne Geister an den früheren und an den inzwischen neugewählten Gemeindekirchenrat, abgedruckt in: TH|EMA, 1/2020 Feb/März, S. 9. 277 Wie kommt die Gemeinde zu einem neuen Namen?, in: TH|EMA, 3/2020 Jun/Jul, S. 12. 278 Aus der Gemeinde, in: TH|EMA, 4/2020 Aug/Sep, S. 9. Auf S. 12 dementiert Pfarrerin Ute Hagmayer das „hartnäckige Gerücht“, mit der Namensablegungsentscheidung sei auch geplant, das Kirchengebäude einzuebnen.

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sein, so ist die Benennung einer ­Kirche und Kirchengemeinde nach Arndt heute kaum noch vertretbar. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Gemeindekirchenrats ist die Tatsache, dass Arndt bei allen sonstigen Verdiensten wegen seiner militant-nationalis­ tischen und judenfeindlichen Äußerungen als Vorbild und Namenspatron einer christlichen Gemeinde ungeeignet ist.“ 279 Damit ist das christliche Arndt-Bild innerhalb eines reichlichen Jahrhunderts ins diametrale Gegenteil konvertiert: War Arndt vor 100 Jahren jeder Altersgruppe als Vorbild empfohlen worden (Baur), hat er in der Perspektive der Verantwortungsträgermehrheit der evangelischen Zehlendorfer Kirchengemeinde keinerlei Vorbildkraft.

11. Schluss Welche Vorbildlichkeit muss ein Name erfüllen, damit er als Kirchenname geeignet ist? Einer der häufig vergebenen Namen ist der des Petrus.280 Das Petrus-Patrozinium erinnert einerseits an den „Felsen der K ­ irche“ und die „Säule der Gemeinde“, andererseits daran, wie schnell jemand zum Verleumder Jesu werden kann.281 Patrozinien können, sofern sie sich auf Menschen beziehen, nach evangelischem Verständnis keine Makellosigkeit beanspruchen. Auch der frömmste Mensch bedarf der Vergebung. Arndt, der kein Heiliger im Sinne moderner Heiligkeitsforderungen war, war sich mit wachsendem Alter dessen immer bewusster. Gott habe ihn „gnädig geführt“ trotz all seiner „Sünden und Gebrechen“ und darüber hinaus noch Unverdientes geschenkt, bekannte er in der Mitte des Lebens. „Auch das gehört zu dem, wofür ich dem Himmel nicht genug danken kann, daß mir die Liebe und Freundschaft so vieler wackeren und treuen Menschen ganz ohne mein Verdienst und Würdigkeit wenigstens in dem Maße geworden ist, wie ich sie nicht verdiene; auch das hat mir Gott, wenn ich so sagen soll, umsonst gegeben.“ 282 Es scheint, dass im 21. Jahrhundert immer weniger Menschen zu solch einer Freundschaft begabt und willens sind.

279 Presseerklärung (wie Anm. 264). 280 Das Petrus-Patrozinium findet sich seit dem 4. Jahrhundert, verstärkt in und seit der spätrömisch-fränkischen ­Kirche. 281 In der biblischen Passionsgeschichte verleugnet Petrus dreimal hintereinander seine Zugehörigkeit zu Jesus. „Und alsbald krähte der Hahn […] und er ging hinaus und weinte bitterlich“ (Mt 26,74 f, vgl. Mk 14,72, Lk 24, 60/62, Joh 18,27). 282 An Charlotte von Kathen, 06. 01. 1817, in: Dühr (wie Anm. 52), Bd. 1, S. 542.

Die Autoren ­dieses Bandes Dr. Dirk Alvermann, Jg. 1965, Leiter des Universitätsarchivs Greifswald, arbeitet zu ­Themen der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Prof. Dr. Felix Biermann, Jg. 1969, Archäologe, Professor für Frühmittelalterarchäologie an der Universität Stettin (Szczecin), zahlreiche Forschungen zur Archäologie und Geschichte Pommerns, lebt in Falkenwalde (Uckermark). Prof. Dr. Dr. h. c. Heinz Duchhardt, Jg. 1943, Historiker, lehrte an den Universitäten Bayreuth, Münster und Mainz, leitete 1994 – 2011 das Institut für Europäische Geschichte Mainz und präsidierte 2009 – 2015 die Max Weber Stiftung. Zahlreiche Publikationen zur Neueren und Neuesten Geschichte Deutschlands und der internationalen Beziehungen sowie zur Wissenschaftsgeschichte, lebt in Mainz. Dr. Indravati Félicité, Jg. 1976, maîtresse de conférences an der Université de Paris, bearbeitete ­Themen und veröffentlichte zur Diplomatiegeschichte des Alten Reichs und Europas während des 17. und 18. Jahrhunderts, derzeit tätig am Habilitationsprojekt „Das Alte Reich im Spiegel seiner Außenbeziehungen (16. – 18. Jh.)“, lebt in Paris. Dr. Irmfried Garbe, Jg. 1969, Pfarrer und Kirchenhistoriker, bearbeitete ­Themen zur Geschichte des 19. Jahrhundert, der Zeitgeschichte und der Reformation, lebt in Wackerow bei Greifswald. Dr. Nils Jörn, Jg. 1964, Stadtarchivar von Wismar, publiziert zur Stadt-, Hanse- und Rechtsgeschichte des Ostseeraumes und des Alten Reiches, lebt in Wismar. Prof. Dr. Hans-Georg Knothe, Jg. 1943, Universitätsprofessor i. R. an der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, seit 2009 im Ruhestand, Mitarbeit an Kommentar zu BGB und GBO, Veröffentlichungen zum römischen Recht der Antike, zur neueren Privatrechtsgeschichte, besonders des Ostseeraums, zur Geschichte der Greifswalder Juristenfakultät sowie zur juristischen Zeitgeschichte und zum geltenden Zivilrecht (Familienrecht), lebt in Greifswald. Gunnar Möller, Jg. 1961, Diplom-Prähistoriker, seit 1991 bei der städtischen Denkmalpflege der Hansestadt Stralsund als Bau- und Bodendenkmalpfleger tätig, wohnt in Greifswald. Prof. Dr. phil. habil. Gunnar Müller-Waldeck, Jg. 1942, Literaturwissenschaftler und Germanist an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, 2007 emeritiert, zahlreiche Publi­ kationen zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (u. a. zu Brecht, Fallada,

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Die Autoren ­dieses Bandes

Koeppen), zu deutsch-skandinavischen Literaturbeziehungen, Forschungen zur Geschichte der dt. Trivialliteratur, lebt in Gristow bei Greifswald. Dr. phil. habil. Fritz Petrick, Jg. 1937, Historiker, lehrte am Historischen Institut der ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald, bearbeitete Th ­ emen zur Neueren und Neuesten Geschichte Norwegens und Rügens, lebt auf Rügen. Prof. Dr. Haik Thomas Porada, Jg. 1972, Historiker und Geograph, wiss. Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, lehrt Historische Geographie an der OttoFriedrich-Universität Bamberg, seit 2017 Vorsitzender der Historischen Kommission für Pommern. Anke Seeger, geb. Wiebensohn, Jg. 1988, Historikerin und Lehrerin, arbeitete zu Th ­ emen der vergleichenden Landesgeschichte (Mecklenburg, Pommern, Brandenburg) im 18. und 19. Jahrhundert, laufende Promotion an der Universität Potsdam, lebt in Wismar. Dr. Uwe Schröder, Jg. 1953, Historiker, Gründungsdirektor des Pommerschen ­Landesmuseums Greifswald seit 2000, lebt in Greifswald. Prof. Dr. Ralph Tuchtenhagen, Jg. 1961, Historiker und Skandinavist, lehrt an der HumboldtUniversität Berlin, arbeitet und publiziert zu ­Themen der Geschichte Ostmitteleuropas und Nordeuropas, lebt in Berlin.

Namensregister A Adolf Friedrich von Schweden  19 Afinger, Bernhard  7 Ahlwardt, Peter  67 Alexander I. von Russland  47, 51, 54, 59, 130, 132, 137 Altendorf, Karl  125 Arendt, Hanna  169 Armfelt, Graf Gustav Moritz  138 Arndt, Charlotte geb. Quistorp  114, 206 Arndt, Friederike Wilhelmine geb. Schuhmacher  22, 204 Arndt, Karl Christian  22, 26 Arndt, Ludwig Nikolaus  22 f. Arndt, Willibald  227 B Bagevitz, Fam. von  23 Barnekow, Eleonora Tugendreich von  24 Barnekow, Fam. von  23 f. Barnikol, Ernst  240 Bauer, Johannes  226 Baur, Wilhelm  224 f., 250 Behr, Felix Dietrich von  69 Bernadotte, Jean-Baptiste (Karl Johann, Karl XIV. Johann)  30 – 34, 55, 72, 138 Bethmann-Hollweg, Moritz August von  220 Bismarck, Otto von  61, 183, 192, 238 Bleek, Friedrich  220 Blücher, Leberecht von  7, 13, 85, 110, 120, 132, 191 Bodin, Jean  146 Bohlen, Fam. von  23 Brahe, Fam. von  23 f. Brandis, Christian August  165 Braubach, Max  242 Brecht, Bertolt  182 Brentano, Clemens  218 Brune, Guillaume-Marie-Anne  104, 113 Bülck, Walter  234 Bunsen, Christian Karl Josias von  127, 220 f. Burke, Edmund  201

C Cabre, Auguste Sabatier de  37, 40 f. Cardell, Carl von  97 Cardell, Friedrich Philipp von  97 Charisius/Charisien von, Christian Ehrenfried  26 Charisius, Johann Ehrenfried  26 Christian VII. von Dänemark  50 Cysarz, Herbert  126 D Dähnert, Johann Carl  24 d’Alquier, Charles-Jean-Marie  37 f., 41 Danton, Georges Jacques  202 Davout, Louis-Nicolas  16 de Friant, Louis  116 de la Motte Fouqué, Friedrich  191 Delbrück, Ferdinand  174 f. Delling, Gerhard  234, 236 – 238 Diderot, Denis  209 Diek, Johann  24 Diestel, Max  232 Diwald, Hellmut  242 Dröge, Markus  247 Droysen, Karl Ludwig  205 Dühr, Albrecht  241 Dycke, Moritz von  24 E Eckermann, Johann Peter  187 f. Elisabeth I. von Rußland  59 Engels, Friedrich  232 Engeström, Lars von  37 – 39 Ennen, Edith  240 Erdmann, Gustav  240 Erk, Friedrich  184 Ernst August Herzog von Cumberland  119 Eyller, Joachim Heinrich  82, 84, 86 – 88 Eyller, Johann Friedrich  84 F Fabricius (Frau)  87 f. Fabricius, Johann  245 Fabricius (Kaufmann)  87 Fahrner, Rudolf  236

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Die Autoren ­dieses Bandes

Fichte, Johann Gottlieb  9, 16, 130, 171, 205, 245 Fischer, Samuel Fredrik  24 Francke, Otto  89 Franz II., Kaiser (I. von Österreich)  132, 147 f. Frederik VI. von Dänemark  59 Friedrich, Caspar David  13 Friedrich II. von Preußen  147, 157, 238 Friedrich Wilhelm III. von Preußen  49, 51, 85, 100, 132, 135, 182, 191 – 193 Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg  94 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen  85, 135, 165, 191 f., 221 Friedrich Wilhelm von Braunschweig  119 G Gadebusch, Thomas Heinrich  22, 24 Gagern, Fam. von  23 f. Geerds, Robert  125 Gerhardt, Paul  138, 198, 239 Gerstenmaier, Eugen  234, 236 Geß, Ernst  229, 232 Geyer, Conrad  189 Giech, Henriette Gräfin geb. vom Stein  131 Gieseler, Karl  220 Gneisenau, August Wilhelm von  7, 13, 16, 85, 104 f., 107 f., 120, 193 Goethe, Johann Wolfgang von  131 f., 154, 187 f. Goltermann, Sophie Dorothea  84 Görres, Joseph  245 Griesbach, Johann Jakob  205 Gülzow, Erich  126 Gundolf, Friedrich  238 Gustav III. von Schweden  28, 31, 75 Gustav IV. Adolf von Schweden  31, 36, 48 f., 54, 71 f., 76, 96 f., 111 f., 116 H Hagmayer, Ute  248 f. Haller, Karl Ludwig von  145 Hardenberg, Fürst Karl August von  135, 148, 156 Harder, Fam. von  23 Hauer, Friedrich Wilhelm  229 Haug, Martin  235 Haxthausen, Werner von  219 Heckel, Theodor  234 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  145, 147 Hegewisch, Karoline  208 Hengstenberg, Ernst Wilhelm  222 f. Herder, Johann Gottfried von  9, 171, 178

Herrmann, Johannes  234 Hertz, Friedrich  169 Hirschfeld, Eugen von  100 Hitler, Adolf  230, 233, 238 Ho[ch]wächter, Fam. von  23 Huch, Ricarda  126 Hufeland, Christoph Wilhelm  134 Humboldt, Alexander von  193 I Ibbeken, Ibo  235 Israel, Jürgen  245 J Jahn, Friedrich Ludwig  13, 16 K Kahlden, Fam. von  24 Kamptz, Karl Albert von  135 Karl Johann / Karl XIV. Johann von Schweden (Bernadotte)  30, 32, 34 – 38, 55 f., 72, 118 f. Karl X. Gustav  48 Karl XIII. von Schweden  31, 34, 56, 72, 116 Katharina II. von Russland  44, 60 Kathen, Charlotte von  24, 201, 211, 250 Kathen, Fam. von  23 Kern, Hans  233 f., 236 Kircheisen, Friedrich Leopold von  73 Klages, Ludwig  234 Klein, Tim  214, 235 Kleist, Heinrich von  191 Klingemann, Karl  235 Klumpp, Theodor  125 Koch, Ehrenreich Christoph  84 Koch, Eleonore Dorothea  84 Koch, Georg  234 f., 238 Koenig, Robert  182, 190 Kohler, Walter  231 Körner, Gottfried  181 Körner, Theodor  181 – 183, 187, 190 – 192 Kosegarten, Ludwig Gotthard  199, 205 Kotzebue, August von  37, 39, 41, 137 Krassow, Fam. von  23 f. Kriebel, Johann August  26 Krüger, Johann Eberhard  205 Kühl, David Lukas  114 Kulp, Johannes  235 Kupisch, Karl  241 Kurz, Heinrich  185 – 187, 190

Die Autoren ­dieses Bandes L Laag, Heinrich  227 f., 234 – 236, 238 Lagerbielke, Gustaf  35 f. Lancken, Fam. von der  23 Lancken, Julius Christoph von der  26 Langen, Fam. von  23 Leese, Kurt  227, 233 Leffson, August  126 Liewen, Hans Henrik Graf von (der Jüngere)  19, 27 f. Loison, Louis Henri  85, 87, 104 Louis XVIII. von Frankreich  56 Löwen, Axel Graf von  19, 24 Lucadou, Ludwig Moritz von  100, 104, 108 Lücke, Friedrich  220 Luise von Preußen  135, 191 f. M Mahélin, Auguste-Jean  34 f. Maltzahn, Helmuth Freiherr von  9 Mann, Otto  234 Marat, Jean Paul  202 Mayr, Hans  243 Meßner, Hermann  223 Methfessel, Albert  184 f., 190 Metternich, Fürst Klemens Wenzel Lothar von  150 Mevius, David  79 Montalembert, Marquis Marc René de  94 f. Morand, Joseph  51, 118 Moreau, Jean-Victor  119 Morelly, Étienne-Gabriel  209 Mörner, Graf Gustav  116 Mortier, Adolphe Eduard  110 Motz, Friedrich von  193 Mühlenfels, Fam. von  23 Müller, Johannes  160, 201 Munck, Freiin Elisa von  201 Müsebeck, Ernst  225 – 227, 235 f., 238 N Napoleon Bonaparte  9, 15 f., 29 – 39, 46 – 53, 55 f., 60, 71 f., 82, 91, 97, 99 f., 104, 108, 111, 114, 119 f., 127, 130 f., 133, 135 f., 138, 147 – 149, 202, 208, 211 – 213, 218 Nelson, Horatio  47 Nestle, Wilhelm  237 Nestler, Carl Gottfried  103 Nettelbeck, Joachim  13, 101, 104, 108

Neugebauer, Wolfgang  126 Niebuhr, Barthold Georg  193 Nitzsch, Immanuel  220 Normann, Fam. von  23 f. O Oehe/Öhe, Fam. von der  23 f. Orlow, Anna Iwanowna Gräfin geb. Prinzessin Soltikow  136 Ott, Günther  205, 240 f., 244 P Panin, Nikita  44 Parker, Hyde  47 Paul I. von Russland  47, 137 Paul, Johannes  242 Pertz, Georg Heinrich  127, 130, 138 Petersson (Soldat)  120 Peyron, Ludvig  116 Picht, Johann Gottlieb  27 f., 205 Pistorius, Hermann Andreas  205 Platen, Fam. von  23 f. Platen, Heinrich Detloff von  25 Pritzbuer, Samuel Theodor  205 Pufendorf, Samuel  146 f. Putbus, Ernst August Heinrich zu  23 Putbus, Fürst Malte Friedrich zu  19, 23, 119 Putbus, Gottlieb Ludwig Ferdinand zu  23 Putbus, Moritz Ulrich zu  23 Q Quistorp, Charlotte  Siehe Arndt, Charlotte Quistorp, Johann Gottfried  114 R Rauschning, Hermann  230 Rehtwisch, Theodor  125 Reichenbach, Johann David von  66 f., 69 Reimer, Georg Andreas  212 Richter, Ludwig  189 Robespierre, Maximilien de  202 Rosenberg, Alfred  230, 233 Rousseau, Jean-Jacques  9, 151, 170, 172 Rückert, Friedrich  183, 187, 192 Rumanzoff, Graf Nikolai  137 Runge, Philipp Otto  13 Ruth, Paul Hermann  235, 238

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Die Autoren ­dieses Bandes S Sack, Karl Heinrich  220 Savigny, Friedrich Carl von  143 Sayn-Wittgenstein, Fürst Wilhelm zu  135 Schauenburg, Moritz  184 Scheffel (Tribunalregistrator)  87 Schenkel, Daniel  223 f. Schenkendorf, Max von  183, 190 – 192 Schildener, Karl  17 f. Schill, Ferdinand von  13, 50 f., 83, 87 – 89, 100, 107, 110, 114 f., 120, 186, 191 Schiller, Friedrich von  154, 181 Schlatter, Anna  216 f. Schlegel, August Wilhelm von  9, 29 f., 40 f., 191, 217 Schlegel, Friedrich von  9, 217 – 219 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  16, 207, 216, 220, 226 Schmiterlöw, Fam. von  23 Schön, Theodor von  17, 207, 219 Schoultz von Ascheraden, Carl Dietrich  114 Schoultz von Ascheraden, Freiherren von  23 Schreiner, Helmuth  229 – 231, 236 Schübel, Georg  126 Schuckmann, Friedrich von  73 Schuster, Günter  242 Schwarz, Theodor  205 Schwerin, Frederik Bogislaw von  209 Scurla, Herbert  126 Seebaß, Friedrich  235, 238 f. Sichelschmidt, Ernst  242 Sielaff, Erich  126 Silcher, Friedrich  184, 190 Sinclair, Frederik Carl Graf von  28 Skorck, Ernst von  212 Soltau, Johann Anton Friedrich  84 Staats, Reinhart  243 Stacke, Ludwig  190 Staël, Germaine de  30, 132 Stael-Holstein, Erik Magnus von  30 Steffens, Wilhelm  126 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum  16 f., 125, 127 f., 130 – 133, 135 – 138, 148, 156, 207, 219 Stenzler, Laurentius  26 Stenzler, Lorenz  26, 205 Stewart, Lord Charles William  119

Stolberg, Friedrich Leopold zu  218 Stourdza, Alexander Skarlatowitsch von  134 Stourdza, Wilhelmine geb. Hufeland  134 T Tacitus  172, 176 f. Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice de  38 Taut, Bruno  228 Teulié, Pietro  100, 107 Tillich, Paul  233 Toll, Johan Christopher  113 Tschernyschow, Alexander Iwanowitsch  38 U Uhland, Ludwig  183, 192 Usedom, Fam. von  23 V Vauban, Sébastien le Prestre de  106 Vick, Brian  169 f. Virgin, Johann Bernhard  93 Volney, Constantin-François Chasseboeuf de La Giraudais Graf  39 Voß, Otto Carl Friedrich von  135 W Wachenhusen (Kaufmann)  84 Waldenfels, Karl Wilhelm Ernst von  107 Wallmoden-Gimborn, Ludwig von  119, 131 Walther (Stadtsekretär)  87 Werner, Zacharias  218 Wiesmann, Johann Heinrich  223 Wilhelm I., Kaiser  192 Wilhelm II., Kaiser  61 Wolffradt, Carl Gustav von  24 Wolffradt, Fam. von  23 Wolters, Albrecht  220, 222 f. Wrede, Fürst Karl Philipp von  135 Y Yorck von Wartenberg, Ludwig  17, 135 Z Zahn, Franz Ludwig  200 Zelter, Carl Friedrich  190 Zink, Wendelin  96, 121 Zöllner, Carl Friedrich  190