Recht trifft Wirtschaft: Festschrift zur Ringvorlesung anlässlich der Wiedereröffnung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald vor 25 Jahren [1 ed.] 9783428553709, 9783428153701

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald im Februar 1946 wiedereröffnet wurde, ließe

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Recht trifft Wirtschaft: Festschrift zur Ringvorlesung anlässlich der Wiedereröffnung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald vor 25 Jahren [1 ed.]
 9783428553709, 9783428153701

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Recht trifft Wirtschaft Festschrift zur Ringvorlesung anlässlich der Wiedereröffnung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald vor 25 Jahren

Herausgegeben von Jan Körnert, Joachim Lege und Klemens Grube

Duncker & Humblot · Berlin

Jan Körnert, Joachim Lege und Klemens Grube (Hrsg.)

Recht trifft Wirtschaft

Recht trifft Wirtschaft Festschrift zur Ringvorlesung anlässlich der Wiedereröffnung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald vor 25 Jahren

Herausgegeben von

Jan Körnert, Joachim Lege und Klemens Grube

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-428-15370-1 (Print) ISBN 978-3-428-55370-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-85370-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber Die Greifswalder Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät feierte jüngst und in rascher Folge zwei Jubiläen, nämlich in den Jahren 2014 und 2017. Mit Erlass vom 25. Juli 1914 bestimmte der damalige preußische Minister der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten die Zusammenlegung der juristischen und der wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühle der Universität Greifswald. Dabei wurden die wirtschaftswissenschaftlichen Ordinarien aus der Philosophischen Fakultät ausgegliedert und der Juristischen Fakultät zugeteilt. Mit Beginn des Wintersemesters 1914 / 15 trug die bereits seit Gründung der Universität Greifswald bestehende Juristische Fakultät den neuen Namen Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät. Wir blickten als Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät im Jahr 2014 also auf eine gemeinsame Geschichte von 100 Jahren zurück.1 Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifs­ wald am 15. Februar 1946 wiedereröffnet wurde, ließen die sowjetischen Besatzungsbehörden die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät geschlossen. Seither war unsere Universität keine Volluniversität mehr. Sie war „amputiert“ worden, wie es Rektor Hans-Jürgen Zobel am 25. Februar 1991 in seiner Begrüßungsansprache zur feierlichen Immatrikulation in die Studiengänge Rechtswissenschaft, Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre formulierte. Mit dieser Immatrikulation und der am 26. Oktober 1992 erfolgten förmlichen Neukonstituierung der Fakultät stieg unsere Universität wieder zu einer Volluniversität auf. Seither sind 25 Jahre vergangen. Im Sommer 2013 begannen wir mit den Vorbereitungen zu den beiden Jubiläen. Rasch reifte dabei der Entschluss, das Jubiläum 2014 in Form einer Festveranstaltung zu organisieren, die sich vor allem auf die historischen Entwicklungsphasen unserer Fakultät konzentrieren sollte. Das Jubiläum des Jahres 2017 wollten wir dagegen in Form einer Ringvorlesung begehen, in der die inhaltlichen Aspekte aus Forschungsarbeiten der beiden Fakultäts­ fächer Rechts- und Wirtschaftswissenschaften im Vordergrund stehen.

1  Jan Körnert / Klemens Grube (Hrsg.) (2014): 100 Jahre Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät an der Universität Greifswald. Festgabe zum Jubiläum. Greifswald.

6

Vorwort der Herausgeber

Das Jubiläum der Wiedererrichtung unserer Fakultät vor 25 Jahren nahmen zahlreiche Fakultätsmitglieder wie geplant zum Anlass, neuere Forschungs­ arbeiten vorzustellen, die an den Schnittstellen von Rechts- und Wirtschaftswissenschaften angesiedelt sind und / oder innerhalb dieser Wissenschaften die „Lehrbänke“ übergreifen. Zu dieser Ringvorlesung lud die Fakultät unter dem Titel „Recht trifft Wirtschaft“ im Sommersemester 2017 in den Konferenzsaal der Universität ein. An sechs Terminen trugen zwölf Professoren – acht Juristen und vier Ökonomen – aus ihren aktuellen Forschungsarbeiten vor und stellten sich anschließend den Fragen des geschätzten Auditoriums.2 Wir freuen uns, die überarbeiteten und verschriftlichten Versionen von elf Vorträgen im vorliegenden Band abdrucken und einer breiten Öffentlichkeit präsentieren zu dürfen. Als Organisatoren waren wir von der großen und positiven Resonanz der Ringvorlesung sehr erfreut, zugleich aber auch überrascht, denn allzu oft schrecken die scheinbar „trockenen“ Themen der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften selbst interessiertes Publikum ab. Für die lebhaften Vorträge mit anschließender ebenso lebhafter Diskussion danken wir allen Beteiligten. Besonderen Dank richten wir an unsere Rektorin Johanna Eleonore Weber für ihr Grußwort. Die Ringvorlesung organisierten wir nicht allein. Sie fand in enger Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität e. V. statt, dessen Mitgliedern wir danken. Stellvertretend für das organisatorische und finanzielle Engagement unserer Fakultät danken wir herzlich Dietlind Behnke und Julia Trense aus dem Dekanatsbüro. Überdies erhielten wir wertvolle Unterstützung durch Jörn von Elsenau, dem wir nicht minder herzlich danken.

Greifswald, im Oktober 2018

Jan Körnert, Joachim Lege und Klemens Grube

2  Vgl. zu den detaillierten Vortragsthemen und zur organisatorischen Struktur der Vorträge das Kapitel „Ringvorlesung des Sommersemesters 2017 im Überblick“ am Ende des Buches (S. 269 f.).

Inhaltsverzeichnis Joachim Lege 25 Jahre Fakultätsjubiläum – Grußwort des Dekans zur Auftaktveranstaltung der Ringvorlesung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Steffen Fleßa und Heinrich Lang Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit: das Dilemma des Gesundheits­ wesens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Michael Rodi Der Homo Oeconomicus im Recht  – Nutzenstifter oder Störenfried?  . . . . . . 47 Walter Ried Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende aus ökonomischer Perspek­ tive  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Joachim Lege Markt oder Staat? Über eine schiefe, ideologische Alternative  . . . . . . . . . . . . 99 Jan Körnert Auslandsbanken in den Bankensystemen des Baltikums – Nationalstaat­ liche Marktanteile, europäische Machtpotenziale und Außenwirtschaftsrecht  . 113 Boris Schinkels Das Normative der Ökonomik – Autobiographisch geprägte Bemerkungen eines Zivilisten zur ökonomischen Analyse des Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Hans-Georg Knothe Von „Autokran“ zu „Trihotel“ – Entwicklung eines die gesetzliche Bindung erweiternden Schutzes des GmbH-Vermögens durch den Bundesgerichtshof  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Stefan Harrendorf und Bernd Geng Der rational kalkulierende Verbrecher? Zu Entwicklung, Stand und Zukunftsperspektiven ökonomischer Kriminalitätstheorien  . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Stefan Habermeier Absprachen zur Regelung des Produktvertriebs über das Internet im Rahmen des Europäischen Kartellrechts – Rechtliche Vorgaben und wettbewerbstheoretische Grundlagen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

8 Inhaltsverzeichnis Jürgen Kohler Wertersatz als Haftungsinhalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Ringvorlesung des Sommersemesters 2017 im Überblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Autorenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

25 Jahre Fakultätsjubiläum – Grußwort des Dekans zur Auftaktveranstaltung der Ringvorlesung Von Joachim Lege1 Magnifizenz, Conspectabiles, sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen aus allen Statusgruppen, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe heute die große Freude und die ganz unverdiente Ehre, Sie zum 25-jährigen Jubiläum der Wiedereröffnung unserer Fakultät zu begrüßen. Ganz unverdiente Ehre, weil all die Arbeit, die damit zusammenhängt, zudem die Initiative, überhaupt ein solches Jubiläum zu begehen, nicht auf mein Konto geht, sondern auf das Konto (1) des lieben und hochgeschätzten Kollegen Jan Körnert, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Internationales Finanzmanagement / Internationale Kapitalmärkte, und (2) seines Mitarbeiters Diplom-Kaufmann Klemens Grube. Es sind diese beiden Kollegen, die das auf die Beine gestellt haben, was ich heute eröffnen darf: eine Ringvorlesung zum Oberthema „Recht trifft Wirtschaft“, getragen von zwölf Kollegen, die sozusagen als Apostel der Rechtsund Staatswissenschaften auf Sie losgelassen werden. Herr Grube, Herr Körnert: vielen herzlichen Dank! Ich habe weiterhin die Freude, die Rektorin unserer Universität bei uns zu begrüßen. Wir alle wissen, dass die Universität ein vielfältiges Gebilde ist, das trotz aller Verschiedenheit ihrer Mitglieder eine Gesamtheit – lateinisch universitas – darstellt: die Gesamtheit der Wissenschaften. Zwar unterscheiden sich die, wie man heute sagt, Fächerkulturen teils ganz erheblich. Letztlich geht es uns aber allen um Wahrheit, um Erkenntnis, sei es nun in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, in der Mathematik und Physik oder in der Psychologie, aus der Sie, liebe Frau Kollegin Weber, Magnifizenz, stammen. Ihr spezielles Fach ist dabei – ich erwähne das immer sehr gern – die Persönlichkeitspsychologie, also die Erforschung dessen, welchen Mix an Eigenschaften man bei den einzelnen Individuen mehr oder weniger messge1  Vgl. hierzu auch den ausführlicheren Beitrag von Joachim Lege (2017): Fakultätsjubiläum: 25 Jahre Wiedereröffnung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. „GreifRecht“, Heft 24, S. 156 ff.

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Joachim Lege

nau feststellen kann. Wahrscheinlich ließe sich dann auch feststellen, dass bei Juristen und bei Ökonomen ganz signifikant sehr unterschiedliche Typen vorherrschen und dass dies gelegentlich Ärger gibt – hier läge, das kann ich als Dekan sagen, ein weites Feld empirischer Forschung. Für heute will ich aber betonen, dass wir Juristen und Ökonomen auch viel gemeinsam haben, nämlich die Frage, wie man das Zusammenleben der Menschen durch gescheite Regeln verbessern kann. Dass wir es dabei mit sehr verschiedenen Menschen zu tun haben, müssen wir vielleicht immer wieder von der Psychologie lernen. Das Thema dieser Ringvorlesung lautet „Recht trifft Wirtschaft“, und wir begehen damit das 25jährige Jubiläum der Wiedereröffnung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät im Jahr 1992. Wie Sie dem Einladungstext entnommen haben, hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die sowjetische Besatzungsbehörde zwar die Universität Greifswald am 15. Februar 1946 wiedereröffnet – nicht aber die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, die es hier in Greifswald seit 1914 gegeben hatte. Über den Grund kann ich nur mutmaßen – meine bescheidenen Kenntnisse des MarxismusLeninismus lassen mich vermuten, dass in seinen Augen eine eigenständige Rechts- oder Wirtschaftswissenschaft, neben dem Marxismus-Leninismus, eher suspekt wenn nicht überflüssig war – und solche Fakultäten also reine Ressourcenverschwendung. Wie auch immer: Dass man im Jahr 1992 die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät wiedereröffnet hat, war sicherlich ein deutliches Zeichen dafür, dass eine Universität, wenn sie denn die Gesamtheit der Wissenschaften darstellen soll, nicht darauf verzichten kann, zwei ganz wesentliche Bereiche des menschlichen Zusammenlebens – sagen wir kurz: zwei wesent­ liche Bereiche der Gesellschaft – zum Gegenstand freier Forschung und Lehre zu machen: das Recht und die Wirtschaft. Und dass man diese beiden Disziplinen damals unter einem Dach zusammengefasst hat, sollte wohl dazu beitragen, die Verheißungen der post-marxistischen Zukunft in einer Art win-win-Kooperation gemeinsam zu verwirklichen. 25 Jahre später haben einige dieser Verheißungen einer gewissen Ernüchterung Platz machen müssen. Der entfesselte Kapitalismus hat nicht dazu geführt, dass an die Stelle von Recht und Staat die bloße Verwaltung von Wohlstand getreten ist, ganz im Gegenteil: Wir haben weiterhin – und damit bin ich beim Thema des heutigen Tages – mit zwei ganz üblen Begriffen zu kämpfen: Gerechtigkeit und Knappheit. Es ist zwar Zufall, dass sie heute den Beginn der Vorlesungsreihe markieren, denn in der Hauptsache geht es um das Gesundheitswesen. Aber es könnte passender nicht sein: Gerechtigkeit und Knappheit. Das sind nämlich, wie Luhmann formuliert hat, die beiden großen „Kontingenzformeln“ in den von ihm so bezeichneten „Funktionssys-



25 Jahre Fakultätsjubiläum – Grußwort des Dekans

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temen“ Recht und Wirtschaft. „Kontingenz“: Das ist alles, was weder zufällig noch notwendig ist, mit anderen Worten: geschichtlich geworden. Ergo: Was gerecht ist, was knapp ist – das hängt doch sehr von der Gesellschaft ab, in der man lebt. Und ganz ebenso wohl auch, was man unter Gesundheit versteht. Aber ich will nicht vorgreifen, sondern die beiden Hauptakteure der heutigen Auftaktveranstaltung kurz vorstellen. Beide haben, das ist sehr bemerkenswert, keine blasse Hochschulkarriere hinter sich, sondern so einiges von der Welt gesehen, bevor sie Professor wurden. Geographisch ausgreifender war dies beim Kollegen Steffen Fleßa, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement. Herr Fleßa hat praktische Erfahrungen im Bereich der Krankenversorgung viele Jahre lang in Tansania gesammelt. Ich erinnere mich noch gut an seine Antrittsvorlesung, in der er uns vorgerechnet hat, wie man die Krankenhausplanung optimiert, wenn als Vorgabe für die Verbindung der Schnittstellen ein Tagesritt auf dem Esel zu veranschlagen ist. Im Übrigen beneide ich Sie, lieber Herr Fleßa, glühend dafür, dass Sie immer freien Zutritt zum Serengeti-Nationalpark hatten. Ja, und heute beneide ich Sie natürlich auch um Ihren und Herrn Rieds schönen Masterstudiengang „Health Care Management“. Der Kollege Heinrich Lang hat auch so einiges von der Welt gesehen, und zwar etwas, das vielen von uns wohl noch fremder ist als die Serengeti. Heinrich Lang hat nämlich, bevor er sich zur Jurisprudenz bekehrte, Sozialpädagogik studiert und dann als Sozialpädagoge Milieus kennengelernt, die, nun ja, ihre eigenen Regeln und Gesetze haben. Vielleicht hast Du, lieber Heinrich, ja auch deshalb die Rechtswissenschaft noch draufgesattelt – jedenfalls haben Dich aber wohl die Erfahrungen aus dem ersten Beruf für den zweiten Beruf mit einer gewissen Bodenhaftung versehen. Ich weiß zumindest, dass schon der erste Text, den ich von Dir gelesen habe – über Gerechtigkeit im Transplantationswesen – mich geradezu begeistert hat. Und deshalb bin ich sehr glücklich, dass Du nun an unserer Fakultät bist und hier den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht innehast. Nebenbei und apropos Bodenhaftung: Die hat auch Herr Körnert, er hat nämlich zunächst Bankkaufmann gelernt. Meine Damen und Herren: Damit aber nun zur Sache, zum Thema „Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit – das Dilemma des Gesundheits­ wesens“. Lieber Herr Fleßa, lieber Heinrich Lang, wir freuen uns auf die Vorträge.

Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit: das Dilemma des Gesundheitswesens Von Steffen Fleßa und Heinrich Lang

I. Einführung Die Gestaltung eines gerechten Gesundheitssystems bei gegebener Ressourcenknappheit fordert Juristen und Ökonomen existentiell heraus, da es im Gesundheitswesen immer buchstäblich um Leben und Tod geht.1 Knappe Gesundheitsressourcen müssen effizient verwendet werden, damit sie möglichst viele Menschenleben retten oder Lebensqualität erhalten, sie müssen aber auch gerecht verteilt werden, um den Grundwerten der Gesellschaft und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu entsprechen. Juristen und Ökonomen stehen folglich gleichermaßen in einem Spannungsfeld aus Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit, das sich erst in der Zusammenschau und Reibung der Fachwissenschaften vollständig entfaltet. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass die Fachperspektiven in keiner Weise konträr sind, sondern vielmehr einen Realitätsraum aufspannen, aufeinander bezogen sind und unterschiedliche Facetten derselben Existenz betrachten. Hierzu soll zuerst das Dilemma der Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit einführend beschrieben werden. Anschließend folgen drei Fallstudien, die exemplarisch für zahlreiche Spannungsräume stehen. Der Beitrag schließt mit einem Fazit, das eher einer Einladung zum wissenschaftlichen Diskurs entspricht. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass Ressourcen des Gesundheitswesens knapp sind. Die Knappheit ergibt sich entweder aus einer natürlichen Begrenzung (zum Beispiel Transplantate) oder durch die Kosten der Inwertsetzung (zum Beispiel Knappheit an Gesundheitseinrichtungen durch Investitions- und Betriebskosten). Als Konsequenz der Knappheit folgt ein Verteilungsproblem, das heißt, die knappen Güter müssen möglichst so verwendet werden, dass eine dem gesellschaftlichen Zielsystem entsprechende Verteilung entsteht.2 Das Gerechtigkeitsproblem im Gesundheitswesen entsteht folglich nur dadurch, dass Ressourcenknappheit existiert. Die

1  Fuchs

(2011).

2  Fleßa / Greiner

(2013), S. 11–30.

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Steffen Fleßa und Heinrich Lang

Gesundheitspolitik hat unter anderem die Aufgabe, eine gerechte Lösung bei gegebener Knappheit zu erstreben. Die Gesundheitspolitik im engeren Sinne umfasst alle Maßnahmen der Politik zur Planung, Organisation, Steuerung und Finanzierung des Gesundheitssystems, so dass dieses seine Funktion wahrnehmen kann. Hierzu zählt insbesondere die Schaffung einer Rahmenordnung für die Aktionen der Krankenkassen, der Krankenhausträger, der Ärzte, der Apotheker, der Pharmaindustrie und weiterer Leistungsträger durch entsprechende Gesetze und Verordnungen. Die Gesundheitspolitik im weiteren Sinne geht darüber hinaus und umfasst zusätzlich die Beeinflussung anderer gesundheitsrelevanter Politik- und Lebensbereiche wie Bildung, Arbeit, Wohnen, Ernährung, Verkehr, Umwelt, Familie, Freizeit, soweit diese Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung haben können. Das oberste Prinzip der Gesundheitspolitik ist die Wahrung der Menschenwürde. Diese Forderung leitet sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN-Resolution 217 A (III), 10.12.1948), dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1 Abs. 1) sowie dem historischen Pfad unserer Gesellschaft ab. Die Operationalisierung über verbindliche Werte (Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität) zu operationalen Zielen der Gesundheitspolitik ist jedoch ein stetiger Prozess der Reflektion und Adaption. Wie Abbildung 1 zeigt, erfordert die Wahrung der Würde des Menschen im

Abbildung 1: Werte- und Zielsystem des Gesundheitswesens3

3  Fleßa

(2012), S. 28.



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

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Kampf für Gesundheit wirksame, das heißt qualitativ angemessene Gesundheitsdienstleistungen. Gerechtigkeit und Solidarität verlangen räumlich und finanziell zugängliche Leistungen, sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft (Nachhaltigkeit). Die Freiheit impliziert in der Gesundheitspolitik die Partizipation des Betroffenen (Patient, Angehöriger) an allen ihn betreffenden Prozessen, zum Beispiel in Form der Freiheit der Arztwahl oder der partizipativen Entscheidungsfindung in der Medizin. Die gesundheitspolitischen Ziele Partizipation, Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit und Wirksamkeit stehen dabei in einem teilweisen Konkurrenzverhältnis um dieselben Ressourcen, das heißt, es besteht partiell ein Zielkonflikt. Bei gegebenen, knappen Ressourcen bedeutet eine Investition in die Erreichung eines Zieles automatisch, dass diese Ressource nicht mehr für ein anderes Ziel ausgegeben werden kann. Der Erfolg in der Erreichung des Zieles A impliziert folglich eine Reduktion der Erreichung des Zieles B (Opportunitätskosten). So kann beispielsweise ein Gesundheitssystem nur dann nachhaltig sein, wenn hohe Ausgaben für Forschung, Personalentwicklung, Wartung und Ersatzinvestitionen getätigt werden. Diese Ausgaben implizieren eine nachhaltige Versorgung zukünftiger Patientengenerationen, stehen dann jedoch – bei konstantem Gesamtbudget – für die Versorgung der heutigen Generation nicht mehr zur Verfügung (Qualität) oder führen zu höheren Nutzergebühren (finanzielle Zugänglichkeit) beziehungsweise geringerer Standortdichte (räumliche Zugänglichkeit). Abbildung 2 illustriert diesen Konflikt anhand des Beispiels kommunizierender Röhren. Wirksamkeit, Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit und Partizipa-

Abbildung 2: Zielkonflikt4 4  Fleßa

(2012), S. 37.

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Steffen Fleßa und Heinrich Lang

tion sind mit einem gasgefüllten Ballon verbunden. Wird Druck auf einen der Parameter ausgeübt, so hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die anderen Parameter. Wird beispielsweise versucht, die Wirksamkeit zu erhöhen, wird dies ceteris paribus die Zugänglichkeit, die Teilhabe und die Nachhaltigkeit verschlechtern. Die Abbildung zeigt auf, dass eine gleichzeitige Verbesserung der Ziel­ erreichung aller Ziele nur möglich ist, wenn auf alle vier Röhren gleichzeitig Druck ausgeübt wird, so dass die Dichte des Gases steigt. Dies ist ein Bild für die Effizienz. Sie beschreibt allgemein das Verhältnis von Ergebnis und Ressourceneinsatz.5 Effizient ist ein System oder ein Prozess, wenn ein gegebenes Ergebnis mit minimalem Ressourceneinsatz oder ein maximales Ergebnis mit gegebenem Ressourceneinsatz erreicht wird. Effizienz ist das Erkenntnisobjekt der Ökonomik, das heißt, die Gesundheitsökonomik möchte die Effizienz des Gesundheitssystems verbessern, um die gesundheitspolitischen Ziele Wirksamkeit, Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit und Partizipation besser erreichen zu können. Effizienz ist folglich die Voraussetzung der Erreichung der Ziele Wirksamkeit, Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit und Partizipation, die wiederum als Maßnahmen verstanden werden können, um die gesellschaftlichen Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu erstreben. Folglich ist Effizienz auch eine Bedingung für diese Grundwerte. Jede Ressource, die verschwendet wurde, steht nicht mehr zur Verteidigung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zur Verfügung. Das Verhältnis von Effizienz und Gerechtigkeit bedarf hierbei einer weiteren Klärung. Einige ökonomische Ansätze erstreben Effizienz durch die Maximierung der Summe einer Variablen über alle Individuen, wobei je nach Anwendung das Sozialprodukt, der Konsum, der Nutzen, der Gesundheitszustand oder ähnliche Variablen verwendet werden. Wie Zielfunktion (1) zeigt, entspricht die Maximierung der Summe der Maximierung des Durchschnitts, wenn die Zahl der Individuen eine Konstante ist. (1)

n

Z = ∑ xi → Max ! ⇔ Z ′ = i =1

n

∑ 1n ⋅ x i =1

1

→ Max !

Die Zielfunktion (1) entspricht damit einer Verteilung, bei der es dem Durchschnitt bestmöglich geht. Sie garantiert jedoch nicht, dass eine Verteilung erreicht wird, die als gerecht angesehen wird. Zielfunktion (2) hingegen richtet sich am schwächsten Mitglied der Gesellschaft aus und versucht, dessen Wohlfahrt zu maximieren. Zielfunktion (3) fokussiert ebenfalls die

5  Eichhorn / Merk

(2016).



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

17

Gerechtigkeit, indem sie eine möglichst geringe Abweichung vom Durchschnitt erstrebt. (2)

Z ′′ = Min ( xi ) → Max !

(3)

Z ′′′ = ∑ | xi − x | → Min !

i = 1.. n

n

i =1

Nur im Falle der Gleichverteilung der Einkommen führen die Zielfunktionen von (1), (2) und (3) zu derselben Lösung. In der Regel dürfte eine Situation, die als gerecht empfunden wird, eine geringere Produktivität aufweisen als eine Situation, die sich ausschließlich an der Summe orientiert. Dem Durchschnitt der Bevölkerung geht es deshalb bei reiner Effizienzbetrachtung besser als bei einer primären Gerechtigkeitsbetrachtung, den Schwächsten hingegen unter Umständen schlechter. Hierbei zeigt sich jedoch das Problem, dass es verschiedene Konzeptionen der Gerechtigkeit gibt, die nicht vollständig versöhnbar erscheinen.6 Gerechtigkeit kann als Egalität verstanden werden, das heißt, jeder sollte das gleiche erhalten. Im Gesundheitswesen erscheint „die gleiche Gesundheit“ aus biologischen Gründen unmöglich, da beispielsweise Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen den Zustand der Egalität zwar erträumen, aber nie erreichen werden. Die aus der Egalität ableitbare Formel „Jeder erhält die gleichen Gesundheitsressourcen“ erscheint hingegen als grob ungerecht, da Menschen mit Beeinträchtigungen beziehungsweise Behinderungen oder mit chronischen Erkrankungen stark unterversorgt wären, während Menschen mit genetisch bedingter robuster Gesundheit die Ressourcen gar nicht benötigen. Als Alternative würde sich eine distributive Gerechtigkeit anbieten, bei der jeder so viele Ressourcen erhält, wie er benötigt. Die Umsetzung scheitert zum einen an der Ressourcenknappheit, da die Summe der benötigten Ressourcen sich schnell als unrealistisch erweist. Darüber hinaus verlangt diese Konzeption die Existenz eines allwissenden Analysten, der genau ermitteln kann, wie viel jeder braucht – eine Annahme, die in der Realität sehr schwer anzutreffen ist. Ökonomen tendieren eher zu einer Leistungsgerechtigkeit, bei der jeder so viel erhält, wie er zur Gesamtleistung beiträgt („Grenzproduktivität des Faktors Arbeit“). Wer viel arbeitet und verdient, kann auch eine Krankenver­ 6  Lachmann

(2004), S 174–186.

18

Steffen Fleßa und Heinrich Lang

sicherung abschließen, die mehr Leistungen finanziert. Es erscheint gerecht, dass besonders leistungsstarke und -willige Personen auch höherwertige Gesundheitsdienstleistungen erhalten, führt in der Praxis jedoch auch dazu, dass für die Leistungsschwachen keine ausreichende, von der Mehrheit der Bevölkerung als angemessen empfundene Versorgung erfolgen kann. Auch wenn diese Ausführungen stark verkürzt sind, zeigt es sich, dass keine Gerechtigkeitskonzeption vollständig befriedigend ist. Das Gerechtigkeitsproblem tritt hierbei überhaupt erst durch die Ressourcenknappheit zu Tage, das heißt, die Ökonomie als die Wissenschaft der Beschreibung, Erklärung und Überwindung der Knappheit hat eine originär ethische Dimension. Allerdings muss sie ihre Grenzen kennen. Abbildung 3 illustriert dies am Beispiel einer Produktionsmöglichkeitskurve. In der Abbildung wird der Gesundheitsnutzen von zwei Individuen (a, b) dargestellt. Die Produktionsmöglichkeitskurve ist der geometrische Ort aller Gesundheitsnutzen für a und b, die bei gegebener Produktionstechnologie und gegebenen Ressourcen des Gesundheitswesens erreichbar sind. Beispielsweise sind die Punkte 1 bis 5 möglich, während der Punkt 6 mit gegebenen Ressourcen nicht verwirklicht werden kann. Er mag als egalitär wünschenswert erscheinen, ist jedoch unmöglich.

Abbildung 3: Produktionsmöglichkeitskurve7

7  Lachmann

(2003), S. 18.



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

19

Interessant ist Punkt (6), der eine grundsätzlich mögliche, jedoch ineffi­ ziente Situation symbolisiert. Es zeigt sich, dass bei gegebener Technologie und gegebenem Ressourceneinsatz die Gesundheit von (b) verbessert werden kann, ohne dass (a) schlechter gestellt werden würde (4), indem die Verschwendung vermieden und auf der Produktionsmöglichkeitskurve produziert wird. Gleichzeitig wäre (a) besser zu stellen, ohne dass (b) schlechter gestellt werden kann (2). Alle Punkte auf der Produktionsmöglichkeitskurve zwischen (2) und (4) sind folglich effizient und eindeutig gegenüber (6) vorzuziehen. Alle Punkte links von (2) beziehungsweise rechts von (4) sind hingegen aus (6) nur erreichbar, wenn (b) beziehungsweise (a) einen Rückgang ihres eigenen Gesundheitsnutzens hinnehmen. Ökonomen sind Effizienzwissenschaftler und können definitiv fordern, die verschwenderische Lösung (7) zu Gunsten eines Punktes auf der Produk­ tionsmöglichkeitskurve zwischen (2) und (4) aufzugeben. Welcher Punkt in diesem Bereich zu erstreben ist, liegt im Normalfall jenseits der ökonomischen Betrachtungsweise. Beispielsweise kann der Ökonom nicht bewerten, ob die Gleichverteilung (3) wirklich besser ist als eine Begünstigung von a (2) oder b (4). Weiterhin können Ökonomen in der Regel keine Aussagen über Punkte links von (2) und rechts von (4) treffen. Zusammenfassend können wir festhalten, dass das Gerechtigkeitsproblem primär auftritt, wenn Ressourcen knapp sind. Dies ist zweifelsohne im Gesundheitswesen in unterschiedlichen Erscheinungsfeldern gegeben, die im Folgenden exemplarisch dargestellt werden. Es bleibt zu zeigen, wie die Effizienz des Gesundheitssystems erhöht werden kann, so dass Verschwendung vermieden wird und gleichzeitig Lösungen entstehen, die von der Bevölkerung als gerecht empfunden werden. Im Folgenden werden drei Beispiele erörtert. Das erste steht für den Fall, dass die Ressourcen innerhalb des Gesundheitssystems begrenzt sind, da eine sektorale Budgetentscheidung gefallen ist. Grundsätzlich wären in Deutschland natürlich höhere Mittel verfügbar, um mehr Krankenhäuser an weiteren Standorten zu errichten und zu betreiben, sie wurden jedoch im politischen Prozess limitiert. Die Ressourcen sind folglich nicht natürlich knapp, sondern politisch. Der zweite Anwendungsfall befasst sich mit einer Situation, wo die Ressourcen (Transplantate) natürlich knapp sind und durch politische Entscheidungen nicht vermehrt werden können. Das dritte Beispiel betrachtet die Extremform der Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen der Entwicklungsländer. Hier entsteht die Ressourcenknappheit durch mehrere Faktoren (absolute Knappheit durch geringe volkswirtschaftliche Produktivität, nationale und internationale Verteilung). Die illustrativen Beispiele sollen den Beitrag von Jura und Ökonomie zu einer sach- und menschengerechten Gesundheitsversorgung aufzeigen.

20

Steffen Fleßa und Heinrich Lang

II. Anwendung I: Krankenhausversorgung im ländlichen Raum Die Krankenhausversorgung im ländlichen Raum stellt ein Beispiel für den Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit dar. Ökonomisch betrachtet handelt sich es zuerst um ein Problem der Standortplanung, das heißt, es ist grundlegend zu klären, welche Krankenhäuser an welchen Standorten aufgebaut beziehungsweise erhalten werden sollen. Eng verbunden ist die Festlegung des Leistungsportfolios, das heißt, es muss bestimmt werden, welche Leistungen (Fachabteilungen, Diagnosis Related Groups (DRG)) an welchen Krankenhäusern erstellt werden sollen. In der Regel wird hierbei die Aufrechterhaltung des Versorgungsauftrages bei gleichzeiti-

Abbildung 4: Pkw-Erreichbarkeit im Jahr 20148 8  Fleßa / van

den Berg / Hoffmann (2016).



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

21

ger Konzentration (Leistungsprogrammplanung) eine enge Kooperation zwischen Krankenhäusern und anderen Leistungsanbietern erfordern, die auf verschiedenen Mechanismen (Marktkoordination über Preise, Netzwerke auf Vertrauensbasis, Fusion) beruhen kann. Letztlich geht es um die Frage, ob ganze Krankenhäuser oder Abteilungen an bestimmten Standorten geschlossen werden sollen und welche Konsequenzen dies für die Versorgungsgerechtigkeit hat. Ein aktuelles Beispiel stellt die Diskussion um die Geburtshilfe und Pä­ diatrie an den Krankenhäusern Wolgast, Anklam und Greifswald im Kreis Vorpommern-Greifswald dar. Fleßa, van den Berg & Hoffmann haben hierfür ein Modell entwickelt, dessen Ergebnisse im Folgenden kurz skizziert werden sollen.9 Abbildung 4 zeigt die Pkw-Erreichbarkeit der drei Krankenhausstandorte als Ausgangslage 2014. In der Situation mit drei Kranken­ hausstandorten mit jeweils beiden Fachabteilungen müssen lediglich 14,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren und 13,8 Prozent der Frauen im Alter von 15 bis 50 Jahren eine PKW-Fahrzeit zum nächstgele­ genen Krankenhaus von über 20 Minuten einplanen. Wie Tabelle 1 zeigt, steht dieser Situation ein Verlust (genauer: negativer Deckungsbeitrag) von 3,6 Mio. Euro gegenüber, um die vollständige Serviceabdeckung zu gewährleisten. Weder die Träger (Land, Kreis) noch die Krankenkassen wollen auf Dauer diesen Verlust tragen, so dass die Schließung von Standorten sinnvoll erscheint. Tabelle 1 Ausgangslage 201410 Pädiatrie

  Betten

Fälle

Geburtshilfe

DB IV [€]

Betten

Fälle

Summe [€]

DB IV [€]

Wolgast

9

1.057

–356.810

5

357 –1.048.214

–1.405.024

Anklam

5

496

–998.182

5

280 –1.270.780

–2.268.962

Greifswald

16

1.820

171.927

11

Summe

30

3.373 –1.186.065

21

9  Fleßa / van

den Berg / Hoffmann (2016). den Berg / Hoffmann (2016).

10  Fleßa / van

800

–115.809

56.118

1.437 –2.434.803

–3.617.868

22

Steffen Fleßa und Heinrich Lang Tabelle 2 Ergebnis der Konzentration11

 

Pädiatrie

Geburtshilfe

Summe [€]

Betten

Fälle

DB IV [€]

Betten

Fälle

DB IV [€]

Wolgast

0

0

0

0

0

0

0

Anklam

0

0

0

0

0

0

0

Greifswald

29

3.373

1.281.188

20

1.437

806.408

2.087.597

Summe

29

3.373

1.281.188

20

1.437

806.408

2.087.597

Tabelle 2 zeigt die Konsequenz einer vollständigen Konzentration auf Greifswald: Aus einem Verlust von 3,6 Mio. Euro wird ein Gewinn von 2,1 Mio. Euro, wobei Qualitätsvorteile durch Übungseffekte noch nicht einmal eingerechnet wurden. Der ökonomischen Vorteilhaftigkeit stehen jedoch eindeutige Nachteile der Erreichbarkeit gegenüber. Abbildung 5 zeigt die Situation, wenn die Geburtshilfe und Pädiatrie in Wolgast geschlossen wird (Status-Quo), Abbildung 6 nach Schließung von Anklam und Abbildung 7, wenn nur noch Greifswald die beiden Fachabteilungen betreibt. Für das dritte Szenario haben insbesondere Einwohner der Insel Usedom zum Teil Fahrzeiten über 40 Minuten. Bei den Kindern und Jugendlichen betrifft dies etwa 2.060 Personen (etwa 8 Prozent der Einwohner unter 18 Jahren in der Untersuchungsregion), bei den Frauen zwischen 15 und 50 Jahren sind etwa 2.800 Personen betroffen (etwa 8 Prozent). Der Abbau des Defizits erscheint auf den ersten Blick eindeutig sinnvoll: Die Krankenhäuser werden nachhaltiger, die Ressourcen werden effizient verwendet und die Qualität der Leistung steigt aufgrund von Übungseffekten durch die Konzentration. Aber diesen klaren Vorteilen steht ein Gerechtigkeitsproblem gegenüber: ein Teil der Bevölkerung hat deutlich längere Zugangszeiten. Der Konflikt zwischen den Zielen Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit und Qualität, der sich als Konflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit manifestiert, ist immanent, kann aber nicht rein ökonomisch gelöst werden. Die Aufgabe der Ökonomik ist es, Transparenz für den politischen Entscheidungsprozess zu schaffen. Letztlich benötigen wir einen gesellschaftlichen Diskurs über zumutbare Distanzen sowie klare politische beziehungsweise rechtliche Vorgaben, welches Maß an Ungleichheit der Zugänglichkeit ge11  Fleßa / van

den Berg / Hoffmann (2016).



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

23

Abbildung 5: Pkw-Fahrzeiten Greifswald und Anklam12

sellschaftlich akzeptabel ist. Hier zeigt es sich, dass Jura und Ökonomik aufeinander bezogen sind: Einerseits setzt das Recht die Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Wirtschaftseinheiten agieren, andererseits ermöglicht die Ökonomik eine Transparenz der Entscheidung, die für die juristische Abwägung unabdingbar ist. Nur gemeinsam entfaltet sich das Entscheidungsfeld von Effizienz und Gerechtigkeit vollständig.

III. Anwendung II: Transplantationsrecht 1. Pars pro toto: Das Transplantationsrecht Das Transplantationsgesetz (TPG) eignet sich unter zwei Blickwinkeln in besonderer Weise die zuvor skizzierten, im Spannungsverhältnis von Ressourcenknappheit einerseits und gerechter Verteilung andererseits auftretenden, Spannungslagen aufzuzeigen. Zum einen verdichten sich hier wie in 12  Fleßa / van

den Berg / Hoffmann (2016).

24

Steffen Fleßa und Heinrich Lang

Abbildung 6: Pkw-Fahrzeiten Greifswald und Wolgast13

einem Brennglas Knappheitsprobleme, weil der Organmangel aus verschiedenen, zum Teil noch zu diskutierenden Gründen vorgegeben ist. Zum anderen hat der Gesetzgeber hier insoweit Neuland betreten, als das TPG es zum ersten Mal zulässt, Menschen von einer lebenserhaltenden beziehungsweise lebensverlängernden Behandlung normativ auszuschließen.14 Mit Fug und Recht wird deshalb das uns beschäftigende Dilemma des Gesundheitswesens, dieses Oszillieren zwischen Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit im Referenzbereich der Transplantationsmedizin, als existentiell beschrieben. Es geht in der Tat auch hier um die „Zuteilung von Lebenschancen“15.

13  Fleßa / van

den Berg / Hoffmann (2016). (2015), S. 10. 15  Zu dieser inzwischen vielfach verwendeten Charakterisierung siehe schon Höfling (1996), S. 7. 14  Lang



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

25

Abbildung 7: Pkw-Fahrzeiten Greifswald16

2. Bestandsaufnahme a) Rechtstatsachen Der Blick auf das Transplantationssystem kann immer zwei Bezugspunkte ins Visier nehmen. Er kann einerseits das Organverteilungssystem und anderseits den Organmangel betrachten. Das etablierte Organverteilungssystem wirft – was nicht verwundern dürfte – sub specie Verteilungsgerechtigkeit die typischen Fragen und Probleme eines Mängelverteilungssystems auf. Es ist aber darüber hinaus aber aus grundrechtlicher und rechtsstaatlich Perspektive unbefriedigend und legitimatorisch hoch defizitär. Die bestehenden Defizite sind viel diskutiert17, um sie soll es nachfolgend nicht (mehr) gehen. Die nachfolgenden Überlegungen widmen sich der Frage, ob rechtlich gang16  Fleßa / van

den Berg / Hoffmann (2016). Höfling (2013a), § 16 Rn. 8 ff.; Höfling (2001), S. 260 ff.; Schmidt-Aßmann (2001), passim; Lang (2002), S. 21 ff.; Lang, (2005), S. 269 ff.; Lang, (2015) S. 2 ff. m. w. N. 17  Etwa

26

Steffen Fleßa und Heinrich Lang

bare Anreize zur Beseitigung des Organmangels gesetzt werden können. Zuvor erfolgt – gleichsam als Diskussionsgrundlage – ein kurzer Überblick über die Rechtstatsachen und normativen Regelungen des Referenzgebiets. Bestimmte Organe können im Grundsatz nur aus einer Totenspende stammen – zum Beispiel das Herz. Andere Organe sind paarig vorhanden beziehungsweise regenerierungsfähig – zum Beispiel Niere oder Split-Leber. Diesen Unterschied greift das Gesetz auf und unterwirft Lebendspende und postmortale Spende unterschiedlichen Regelungen. Postmortal transplantable Organe sind: Herz, Lunge, Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse und Darm. Dies sind die nach § 1a Nr. 2 TPG sogenannten vermittlungspflichtigen Organe. Daneben können Organe auch im Wege einer Lebendspende übertragen werden. Dafür kommen paarig oder segmenthaft angelegte Organe oder Organe mit hoher Regenerationsfähigkeit in Betracht zum Beispiel Niere oder Leber, in Ausnahmefällen aber etwa auch das Herz (sogenannte Dominospende).18 Bei der Dominospende wird das Herz des Empfängers, welcher ein neues aus einer postmortalen Spende empfängt, an einen weiteren Patienten gegeben. Für diesen stellt die Spende dann eine Lebendspende des Herzens dar. Der „neuste Schrei“ in der Transplantationsmedizin ist die Transplantation komplexer Gewebe (sogenannte composite tissues).19 Dazu gehören etwa Arme, Hände, Gesichter, aber auch Uteri oder Penisse. All diese komplexen Gewebe wurde in den letzten Jahren mehr oder minder erfolgreich transplantiert. b) Normativer Rahmen der Transplantationsmedizin Den normativen Rahmen des Transplantationswesens bilden zum einen das Grundgesetz (GG), das TPG, aber auch die Richtlinien der Bundesärztekammer nach § 16 Abs. 1 TPG und Verträge zur Beauftragung der Koordinierungs- und der Vermittlungsstelle. Daneben stehen seit der Reform des Jahres 2012 auch die Verfahrensanweisungen nach § 11 Abs. 1a S. 2 TPG. Durch diese Vorschrift wird die als privatrechtliche Stiftung verfasste Koordinierungsstelle (Deutsche Stiftung Organtransplantation – DSO) ermächtigt, die Entnahmekrankenhäuser mit bindender Wirkung (§ 9a Abs. 2 Nr. 4 TPG) zur Einhaltung der von der DSO erlassenen Verfahrensanweisungen etwa zur Meldung des Hirntodes zu verpflichten.20 Domino-Spende siehe Norba (2009), S.  67 f., 241 ff. dazu Gott (2014), passim. 20  Hintergrund ist, dass in der Vergangenheit aus unterschiedlichen Gründen nicht alle Krankenhäuser hirntote Patienten gemeldet hatten. Zu den grundsätzlichen Bedenken gegenüber dieser Art der Delegation von Normsetzungsbefugnissen an Private Lang (2013b), § 11 Rn. 25. 18  Zur

19  Siehe



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

27

Das TPG gliedert sich formal in acht Abschnitte und enthält vor allem Regelungen über die Entnahme von Organen bei toten Spendern (§§ 3–7), über die Entnahme von Organen bei lebenden Spendern (§ 8), eine Regelung hinsichtlich der Anforderungen, die an die Zustimmung des Organspenders zu stellen sind (§ 2), Regelungen über die Vermittlung und Übertragung bestimmter Organe (§§ 9–12), aber auch über die an diesen Entscheidungen beteiligten Institutionen, also die Transplantationszentren (§ 10), die DSO als Koordinierungsstelle (§ 11), Eurotransplant als Vermittlungsstelle (§ 12) und die Bundesärztekammer (§ 16). Dem Eurotransplantverbund gehören neben Deutschland auch Belgien, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Ungarn und Slowenien an. Den „Tod auf der Warteliste“ hat der Gesetzgeber trotz der Zielsetzung des im Jahre 1997 geschaffenen TPG (Schaffung von Transparenz und Vertrauen) nicht verhindern können. Jeden Tag versterben in Deutschland drei Patienten auf der Warteliste.21 Das Gesetz hat aber nicht nur das Spendeaufkommen nicht erhöhen können, es hat im Gegenteil eine Vielzahl verfassungsrechtlicher Probleme heraufbeschworen und Manipula­ tionsmöglichkeiten eröffnet. Die damit ermöglichten Organspendeskandale der letzten Jahre dürften ganz wesentlich zu dem deutlichen Rückgang der Spendebereitschaft in der Bevölkerung beigetragen haben. c) Problemfelder der Transplantationsmedizin Die fundamentalen Defizite des transplantationsrechtlichen Systems waren, soweit auf das System der Organallokation geblickt wird, schon angesprochen worden. Im Vordergrund der Diskussion stehen: das sogenannte Hirntodkonzept,22 die (fehlende) demokratische Legitimation wichtiger Entscheidungsträger, namentlich der Bundesärztekammer23 und von Eurotrans­ plant,24 der nur in Richtlinien der Bundesärztekammer geregelte Ausschluss von Patienten aufgrund fehlender Compliance (zum Beispiel Sprachkompetenz / Abstinenzregel bei Alkoholikern)25 oder die Entwicklung des beschleunigten Verfahrens von der Ausnahme zur (beinahe) Regel26. Zudem sind in jüngster Vergangenheit die schon erwähnten „Organspendeskandale“ publik geworden. Dabei haben Mediziner allokationsrelevante Daten potentieller Organempfänger dahingehend verändert oder manipuliert, dass diese eine 21  Sie sterben aber nicht an der Weigerung vieler Menschen, Organ zu spenden, sondern an den jeweiligen Grunderkrankungen. 22  Dazu Lang, (2015), S. 2, 6 ff.; Höfling / Rixen (2013), § 3 Rn. 7 ff. 23  Lang, (2005), S. 269, 271 ff.; Höfling (2013c), § 16 Rn. 17 ff. 24  Engels (2011), S. 347 ff.; Krüger (2011), S. 261 ff. 25  Lang (2013a), § 10 Rn. 37 ff. 26  Lang (2015), S. 2, 8 f.; Bader (2010), S. 164 f.

28

Steffen Fleßa und Heinrich Lang

höhere Chance auf die Zuteilung eines Organs hatten.27 Etwas ist all den hier nur kurz angesprochenen Problemen gemeinsam: Sie resultieren aus einer organallokationszentrierten Perspektive, nehmen Phänomene in den Blick, die die rechtsstaatliche Verwaltung eines existenziellen Mangels aufwerfen. 3. Von der Mangelverwaltung zur Erhöhung des Organaufkommens Nun wird Skeptikern des gegenwärtigen transplantationsmedizinischen Verteilungssystems gerne und bisweilen mit eindeutig pejorativen Wendungen vorgeworfen, ihre „gebetsmühlenartige“ Kritik erfolge ohne eigenes Konzept für eine bessere Lösung.28 Ob diese Kritik-Kritik berechtigt ist, mag hier dahinstehen.29 Die nachfolgenden Überlegungen lassen die fundamentalen Mängel des gegenwärtigen transplantationsmedizinischen (Verteilungs-) Systems bewusst außer Betracht. Sie fragen in einer – gleichsam dem Geist einer staatswissenschaftlichen Fakultät verpflichteten und darum – auch ökonomischen Betrachtung nach (legalen) Steuerungsanreizen zur Steigerung des Organaufkommens. Dabei werden gleichsam systemimmanente Ansätze von mehr oder minder radikalen Systemänderungen unterschieden. Diese Skizze mag dann eine Grundlage unserer anschließenden Diskussion des titel­gebenden Spannungsverhältnisses von Ressourcenknappheit und Gerechtigkeit sein. 4. Systemimmanente Verbesserungen Grundgedanke der systemimmanenten Verbesserungen ist ein Ansetzen am Spenderaufkommen. Wie kann die Zahl der Spender erhöht werden? Ein limitierender Faktor bei der Organspende ist das Erfordernis des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls. Denn nur etwa ein Prozent der versterbenden Menschen erleiden einen irreversiblen Hirnfunktionsausfall. Aus diesem Grunde ist übrigens auch von der Einführung der Widerspruchslösung keine substantielle Entlastung der Warteliste zu erwarten.

27  Zur strafrechtlichen Aufarbeitung Schroth (2013), S. 437 ff.; Schroth / Hofmann (2014), S. 486 ff.; siehe dazu das jüngst ergangene Urteil des BGH: BGH, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2017, 701 ff. 28  Mit dieser Formulierung etwa Rissing-van Saan (2014), S. 233, 236. 29  Man wird wohl konstatieren dürfen, dass anders als die Leiterin der Vertrauensstelle Transplantationsmedizin aus der Binnensicht anzunehmen scheint, strukturelle Defizite des transplantationsmedizinischen Verteilungssystems eben nicht durch schlichten Zeitablauf oder dadurch verschwinden, dass sie möglichst nicht mehr thematisiert werden.



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

29

a) Non-Heart-Beating-Donors (NHBD) Nicht zuletzt um den damit verbundenen Restriktionen zu entgehen, wird in nicht wenigen – auch europäischen Ländern – auch auf sogenannte NHBD zurückgegriffen.30 Mit diesem Konzept werden Spender erfasst, bei denen auf die Diagnose des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls verzichtet wird.31 Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass der sogenannte Hirntod dem irreversiblen Herzkreislaufstillstand nach einer bestimmten, in der Dauer umstrittenen Zeit regelmäßig nachfolgt.32 Einigkeit besteht darüber, dass es eine Wartezeit geben muss, bevor mit der Organentnahme begonnen werden darf. Unklar ist hingegen, wie lang diese sogenannte „No-Touch-Phase“ sein muss. Es besteht hier ein Zielkonflikt. Die Zeitspanne muss lang genug sein, damit der irreversible Hirnfunktionsausfall als gesichert eingetreten gelten kann, aber sie muss auch kurz genug sein, damit Organe durch die fehlende Durchblutung nicht geschädigt oder gar zerstört werden. Das sogenannte Maastricht-Protokoll sieht eine Zeitspanne von 10 Minuten vor33; allerdings wird in europäischen Ländern34 und den USA35 mit anderen Zeitspannen gearbeitet. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Für die Beantwortung der zunächst interessierenden Frage, ob die Zulassung von NHBD zu einer signifikanten Erhöhung des Spendeaufkommens beitragen kann, ist von Bedeutung, wer überhaupt als NHBD in Betracht kommt. Nach dem schon erwähnten Maastricht-Protokoll lassen sich dabei vier Kategorien von Spendern unterscheiden: I. Dead on arrival (Herzstillstand schon bei Ankunft in der Klinik), II. Unsuccesful resuscitation (erfolglose Reanimation), III. Awaiting cardiac arrest (hier wird der Herzstillstand nach Unterbrechung lebenserhaltender Maßnahmen erwartet), IV. Cardiac arrest in brain dead donor (hier geht es um Spender, die die definierten Hirntodkriterien erfüllen). Bezogen auf diese Kategorien verteilten sich die Spender im Jahr 2016 wie folgt. 30  Ins Deutsche übersetzt etwa: Spender, deren Herz nicht mehr schlägt. Statt NHBD wird auch der Ausdruck Donation after cardiac death verwandt. 31  Norba (2009), S. 44 ff. 32  Norba (2009), S. 46. 33  Das Protokoll wurde im Jahre 1995 vom First International Workshop on nonheart-beating donors verabschiedet, vgl. Kootstra / Daemen / Oomen (1995), 2893. 34  Vgl. Norba (2009), S. 49 f. 35  In den USA wird eine No-Touch-Phase von sogar 2 Minuten in manchen Kliniken als ausreichend angesehen; dazu siehe Norba (2009), S. 49 Fn. 114.

30

Steffen Fleßa und Heinrich Lang Tabelle 3 Anzahl der NHBD-Spender nach Spendergruppen im Eurotransplant-Raum (2016)

Gruppe

Kategorie

Anzahl Anteilig

I.

Herzstillstand schon bei Ankunft in der Klinik

0

    0 %

II.

erfolglose Reanimation

5

  2,3 %

III.

erwarteter Herz-Kreislauf-Stillstand

212

97,2 %

IV.

Herz-Kreislauf-Stillstand bei Patienten mit „Hirntod“Diagnose

1

  0,5 %

218

100 %

Gesamt

Wie die Tabelle zeigt, sind Spender der Gruppen I und II (Herzstillstand schon bei Ankunft in der Klinik beziehungsweise nach nicht erfolgreicher Reanimation) nur selten als Spender geeignet. Denn meist ist zu viel Zeit seit dem Herzstillstand verstrichen. Bei Gruppe IV (Herz-Kreislauf-Stillstand bei Patienten mit „Hirntod“-Diagnose) wiederum steht das Herz trotz künstlicher Beatmung und Kreislaufunterstützung still, so dass rasch gehandelt werden muss. Anders liegen die Dinge bei Personen der Gruppe III (erwarteter HerzKreislauf-Stillstand). Sie liegen in der Regel auf Intensivstationen und ihr Tod ist absehbar. Im Vergleich zu den anderen Gruppen ist der Zeitdruck hier noch am geringsten und eine mögliche Spende sowie die damit verbundenen Entscheidungsprozesse können vergleichsweise gut geplant werden. Betrachtet man die potentiellen Spender der Gruppe III näher, werden in der medizinischen Literatur Menschen im Koma, Menschen nach Schlaganfall oder Herzinfarkt, Querschnittsgelähmte und Unfallopfer angeführt. Auch Schwerkranke, deren Tod zwar nicht unmittelbar bevorsteht, die ihre Lebensqualität aber nicht mehr akzeptabel finden, werden als NHBD in Betracht gezogen. Voraussetzung für die planmäßige Organspende sei ein vorher erklärter Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen. Sei dies der Fall, könne der Herzstillstand provoziert werden.36 Unabhängig von noch anzusprechenden ethischen Bedenken, die daraus resultieren, dass der Umgang mit kranken Patienten gezielt auf den Akt der Organentnahme ausgerichtet wird, ist vorab die Frage zu beantworten, wie sich die Zulassung von NHBD auf den Organmangel auswirken könnte. Nach Schätzungen ließe sich durch NHBD die Zahl der Transplantationen um 25 bis 42 Prozent erhöhen. Für den Eurotransplant-Raum lassen sich insoweit folgende Zahlen anführen. Wie die Tabelle 3 belegt, wurden im Jahr 2016 im 36  Zylka-Menhorn / Siegmund-Schultze

(2008), S. A 832 f.



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

31

ET-Verbund von insgesamt 218 herztoten Spendern Organtransplantationen realisiert.37 Da einzelne Spender auch mehrere Organe spenden können, belief sich die Gesamtsumme der transplantierten Organe an sich auf 4.751.38 Für die weitere Betrachtung werden die Herztransplantationen nicht berücksichtigt, weil Herzen nach dem Herztod nicht mehr transplantiert werden können. Von Interesse ist in diesem Kontext auch die Anzahl von NHBD und deren Verhältnis zur Gesamtzahl der Organspenden in den Ländern des ET-Verbundes, die NHBD-Spenden zulassen. Das sind Österreich, Belgien und die Nie­ derlande.39 Tabelle 4 Organspenden herztoter Patienten im Verhältnis zu den Gesamtspenden (2016) Organ

Total

NHBD

Anteilig

Niere

1736

331

19,1 %

Leber

1567

115

  7,3 %

Lunge

 648

 65

   10 %

Pankreas

 213

 14

  6,5 %

Gesamt

4164

525

12,6 %

Tabelle 5 Anteil der NHBD-Spenden an der Gesamtzahl der Spenden in Ländern mit NHBD-Programmen (2016) Land

Gesamtspenderzahl

NHBD

Anteilig

Österreich

208

 5

  2,4 %

Belgien

321

95

29,6 %

Niederlande

235

118

50,2 %

Summe

764

218

28,5 %

37  Eurotransplant (2016), S. 50: Table 4.4c(i) Non-heart beating (NHB) donors used for a transplant, from 2012 to 2016. 38  Für Organtransplantationen verwandt wurden 1736 Nieren, 587 Herzen, 648 Lungen, 1567 Lebern, 213 mal wurde eine Pankreas transplantiert, vgl. Eurotransplant (2016), S. 48 Table 4.3b(i). Daraus ergibt sich die Gesamtzahl 4751 übertragener Organe. 39  Nachweise zu den einzelnen Zahlen bei Eurotransplant (2016), S. 50.

32

Steffen Fleßa und Heinrich Lang

Die Tabellen 4 und 5 zeigen, dass die Anteile der NHBD an der Gesamtheit der realisierten Spenden im ET-Verbund bei 12,6 Prozent liegen, sie schwanken aber innerhalb der Länder, die NHBD zulassen sehr stark (Österreich 2,4 und Niederlande 50,2 Prozent). Eine Erhöhung der Anzahl der Transplantationen in der oben prognostizierten Höhe erscheint vor diesem Zahlenhintergrund belastbar. Ist damit also ein „Königsweg“ zur Bekämpfung des Organmangels gefunden? In der Tat haben unter Berufung auf den chronischen Mangel an Spenderorganen zahlreiche Länder NHBD-Programme. Sie gibt es außer in den USA auch im Eurotransplant-Verbund (wie erwähnt in Österreich, Belgien und den Niederlanden), in Europa außerdem in Spanien, Italien, der Schweiz und Frankreich. NHBD sind allerdings sowohl in medizinischer als auch juristischer Per­ spektive umstritten. Mediziner führen gegen NHBD ins Feld, dass dabei die Todesfeststellung nicht evidenzbasiert erfolge.40 Ärzte und Pflegekräfte weisen zudem auf den enormen Zeitdruck bei NHBD41 sowie den – allerdings wohl nicht unumstrittenen – Umstand hin, dass die Organe von herztoten Spendern durch die zeitnotbedingte mangelnde Versorgung von schlechterer Qualität und damit denen von Spendern nach Hirntod generell unterlegen seien.42 Im Zentrum der juristischen Auseinandersetzung steht die Frage, ob an der sogenannten dead donor rule festzuhalten ist. Kritiker der NHBD weisen auf das Erfordernis des Hirntodes für die Organentnahme hin. Das Leben stehe moralisch und rechtlich unter dem besonderen Schutz des Tötungsverbots, dieser gelte für die gesamte Dauer des Lebens, also ohne Abstufungen bis an sein Ende, unabhängig von der voraussichtlichen Dauer des individuellen menschlichen Lebens. Dem Spendewilligen stehe auch nicht etwa ein Recht darauf zu, in eine lebensbeendende Organentnahme einzuwilligen.43

40  Hintergrund ist der schon erwähnte Umstand, dass der als notwendig angesehen zeitliche Abstand zwischen Herzstillstand und Bestätigung des Todes in der Praxis sehr unterschiedlich festgelegt wird, vgl. dazu BT-Drs. 16 / 13740, S. 45. 41  Dieser beruht auf der Notwendigkeit die Explantation der Organe nach dem Herz-Kreislauf-Stillstand sehr schnell einzuleiten. Dadurch können sich nicht nur die Angehörigen unter Druck fühlen, einen vorzeitigen Therapieabbruch zuzustimmen; auch für die Pflegekräfte und das Transplantationsteam sind diese Spenden mit einer besonderen Belastung verbunden. 42  Darauf stellte im Jahre 2009 noch die Bundesregierung in ihrem Bericht zur Situation der Transplantationsmedizin in Deutschland zehn Jahre nach Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes ab, vgl. BT-Drs. 16 / 13740, S. 45. 43  Di Fabio (2017), Art. 2 Rn. 22: „Die sicher zum Tod führende Entnahme von Organen eines (noch) Lebenden ist nicht einwilligungsfähig“.



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

33

In der Schweiz werden seit 2011 wieder NHBD praktiziert, obschon Art. 9 Abs. 1 des Schweizerischen Transplantationsgesetzes bestimmt: „Der Mensch ist tot, wenn die Funktionen seines Hirns einschließlich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind.“ Vor diesem Hintergrund werden in der Schweiz NHBD so durchgeführt, dass nach dem Herzstillstand 10 Minuten gewartet wird („No-Touch-Phase“). Obschon nach Ablauf dieser Zeit das Gehirn als zerstört angesehen wird, müssen zusätzlich zwei Fachärzte unabhängig voneinander den Hirntod feststellen. Unmittelbar danach (in der Regel dauert eine solche Diagnose nur wenige Minuten) beginnt die Explantation. Damit wird das schweizerische Verfahren auch dem Erfordernis des Hirntodes gerecht. Die Krux dieses „kombinierten Verfahrens“ liegt allerdings darin, dass bereits zu Lebzeiten über die NHBD entschieden wird. Gleichwohl wird das Verfahren auch von einer Minderheit des Deutschen Ethikrats als zulässig angesehen. Es handele sich zwar verfahrenstechnisch um eine NHBD, dia­ gnostisch werde es aber flankiert respektive finalisiert von einer Hirntoddiagnostik.44 Es wird darauf ankommen, wie sehr die Autonomie des Patienten in den Vordergrund gestellt wird. Denn mit der Entnahme lebenswichtiger Organe wird bei zuvor erklärter Einwilligung ein für den potentiellen Spender hochrangiger Zweck verfolgt, zu dessen Verwirklichung greift der Arzt zwar in die allerletzte Sterbephase des Betroffenen ein, er tut dies aber – worauf die Stellungnahme der Minderheit des Deutschen Ethikrats hingewiesen hat – auf der Grundlage einer entsprechenden Willensäußerung des Betroffenen.45 Es ist hier nicht der Raum, endgültig über die Zulässigkeit von NHBD in Deutschland zu entscheiden. Zu unterschiedlich sind die verschiedenen Modelle und Ausgestaltungen und zu komplex die verfassungsrechtlichen46 wie einfachrechtlichen47 Fragestellungen. Eines ist aber zu betonen: Die Entscheidung über die eigene leiblich-seelische Integrität und den eigenen Tod gehört zu dem durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Selbstbestimmungsrecht.48 De lege lata sind NHBD in Deutschland unzulässig. § 3 Abs. 2 TPG steht Organentnahmen ohne explizite Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls entgegen. Zudem schließt § 5 Abs. 1 S. 2 TPG NHBD schon faktisch aus49, auch wollte der Gesetzgeber mit dieser Norm explizit gegen NHBD 44  Deutscher

Ethikrat (2015), S. 116. Ethikrat (2015), S. 162. 46  Namentlich Inhalt und Reichweite des Schutzes der Menschenwürde und des Lebensgrundrechts. 47  Etwa einer teleologischen Reduktion von § 217 StGB. 48  Höfling (2015), S. 196, 201; Lang (2017), Art. 2 Rn. 63c. 49  § 5 Abs. 1 S. 2 TPG lautet: Abweichend von Satz 1 genügt zur Feststellung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 die Untersuchung und Feststellung durch einen Arzt, wenn der 45  Deutscher

34

Steffen Fleßa und Heinrich Lang

Stellung beziehen.50 NHBD stellen damit derzeit keine Möglichkeit dar, dem Organmangel entgegenzuwirken. b) Wegfall des ordre-public-Vorbehaltes in § 12 Abs. 1 S. 4 TPG Als eine weitere Möglichkeit das Spenderaufkommen zu erhöhen, käme die Abschaffung des § 12 Abs. 1 S. 4 TPG in Betracht. Darin ist der sogenannte ordre-public-Vorbehalt geregelt. Danach dürfen nur Organe vermittelt werden, die im Einklang mit den am Ort der Entnahme geltenden Rechtsvorschriften entnommen worden sind, soweit deren Anwendung nicht zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere mit den Grundrechten, offensichtlich unvereinbar ist. Ein Wegfall dieser Vorschrift würde die künftige Verwendung von Organen aus Hinrichtungen oder von NHBDs ermöglichen.51 Entschärft würde damit auch die Streitfrage, ob der ordre-public-Vorbehalt auch solche Organe erfasst, die im Rahmen einer Widerspruchslösung entnommen wurden.52 c) Zulassung gezielter Totenspenden Daneben könnte man überlegen, ob gezielte postmortale Spenden zugelassen werden. Eine gezielte oder auch gerichtete postmortale Spende ist eine solche, bei der ein Organ, nach dem Ableben des Spenders, einem vom Spender oder dessen Angehörigen bestimmten Empfänger transplantiert wird. Ein Beispiel für eine solche Konstellation findet sich im sogenannten „Berliner Fall“53. Es ging um einen potentiellen Organspender, dessen Organe nur dann zur Vermittlung freigeben werden sollten, wenn die Ehefrau eine der gespendeten Nieren bekommt. Dies ist nach derzeitigem Rechtsstand nicht möglich, da alle vermittlungspflichtigen Organe, zu denen auch Nieren gehören (§ 1a Nr. 2 TPG), zwingend durch die Vermittlungsstelle alloziert werden müssen (§ 9 Abs. 2 S. 3 TPG). Obwohl diese gerichtete Organspende eine Ordnungswidrigkeit nach § 20 Abs. 1 Nr. 4 TPG darstellt, wurde sie dennoch durchgeführt. Zur Begründung wurde § 34 StGB als Rechtfertigungsgrund endgültige, nicht behebbare Stillstand von Herz und Kreislauf eingetreten ist und seitdem mehr als drei Stunden vergangen sind. 50  Rixen (2013), § 5 Rn. 4. 51  Solche sind wegen § 12 Abs. 1 S. 4 TPG nicht vermittlungsfähig. Es war gerade Ziel des ordre-public-Vorbehalts die Vermittlung von Organen Hingerichteter auszuschließen, siehe BT-Drs. 13 / 8017, S. 42 f.; Höfling (2013b), § 12 Rn. 22. 52  Dazu Bader (2010), S. 129 f. 53  Vgl. Pressemitteilung der Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) vom 8.2.2006.



Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit

35

angeführt.54 Die Zulassung der gezielten postmortalen Spende dürfte aber keine signifikanten Auswirkungen in Bezug auf die Warteliste haben. d) Zulassung altruistischer Lebendspenden Zudem könnte man auch über Abschaffung der Beschränkung des Spenderkreises im Rahmen der Lebendspende nach § 8 Abs. 1 S. 2 TPG55 und der Subsidiaritätsklausel des § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 TPG56 nachdenken. Derzeit können Empfänger einer Lebendspende nur Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, eingetragene Lebenspartner, Verlobte oder andere Personen sein, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen. Daneben ist eine Lebendorganspende nur zulässig, wenn im Falle der Organentnahme kein geeignetes Organ aus einer postmortalen Spende zur Verfügung steht. Eine Streichung dieser Klauseln würde altruistische Lebendspenden grundsätzlich leichter ermöglichen. Auch in diesem Fall dürften keine signifikanten Auswirkungen in Bezug auf die Warteliste gegeben sein. 5. Organhandel Die Transplantationsmedizin ist bekanntermaßen von einem ganz erheb­ lichen Mangel gekennzeichnet. Es ließe sich daher vertreten, dass die Knappheit ein Marktproblem darstellt, welches durch Angebot und Nachfrage und im Weiteren durch den Preis reguliert wird. Aufgerufen ist damit das „böse“ Wort vom Organhandel. a) Direkter Organhandel Der Begriff Organhandel stört unser intuitives Gerechtigkeitsgefühl. Es besteht auch weitgehend Konsens, dass direkter Organhandel unethisch ist. Es gilt ein praktisch weltweites Organhandelsverbot – so auch in Deutschland, vgl. § 17, 18 TPG. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang der Iran. Dort ist ein staatlich gelenkter Organhandel legal.57 Organisiert wird eine Rechtfertigung durch § 34 StGB etwa Lang (2013b), § 11 Rn. 62. Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1999, 3399 ff. 56  Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken an dieser Norm Augsberg (2013), § 8 Rn.  41 ff. 57  Dazu siehe Spiegel online, 31.8.2015, Ein Jahresgehalt für eine Niere, abrufbar unter: www.spiegel.de / gesundheit / diagnose / organspende-in-iran-ein-jahresgehaltfuer-eine-niere-a-1049898.html. 54  Gegen 55  Zur

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Steffen Fleßa und Heinrich Lang

dieser durch eine gemeinnützige Stiftung. Den Preis handeln Spender und Empfänger direkt miteinander aus. Bei einer Niere liegt dieser zwischen 2.000 und 5.000 Euro. Das durchschnittliche Monatsgehalt liegt hingegen bei etwa 350 Euro. b) Indirekter Organhandel Eine andere Konstellation stellt der indirekte Organhandel dar. Dabei geht es um Entschädigungs- beziehungsweise Ausgleichszahlungen als Gegenleistung für die Spendebereitschaft im Falle einer Transplantation. Den Ausgangspunkt bildet eine ökonomische Betrachtung. Die Kosten für eine Dialyse liegen bei 40.000 Euro pro Jahr; eine Transplantation kostet hingegen „nur“ knapp 18.000 Euro, ist also deutlich günstiger. An dieser Stelle setzen Fragen danach an, ob etwa der Differenzbetrag oder jedenfalls ein Teil davon an den Spender ausgekehrt werden sollte. Auch hier entsteht ein – vielleicht schon etwas gemildertes – „Gerechtigkeitsstörgefühl“. Möglicherweise ist die Herstellung eines intuitiven Konsenses aber in den nachfolgend dargestellten Konstellationen indirekten Organhandels noch schwerer herzustellen. Als Anstoßfall soll hier das Geschehen um Johannes Ideus dienen.58 Er spendete in den 1980er Jahren seiner Schwester eine Niere. Elf Jahre später erkrankte Ideus an einem Nierentumor, indessen Folge er selbst eine Organspende benötigte. Jedoch musste er zu lange auf eine Spende warten, sodass er 1997 verstarb. An diesen Sachverhalt knüpfen die sogenannte Reziprozitätsmodelle an. Deren Grundgedanke bezieht sich darauf, den Zugang zur Organverteilung aus gesundheitspolitischen und Gerechtigkeitserwägungen von der eigenen Spendebereitschaft abhängig zu machen.59 Diese Reziprozitätsmodelle können in unterschiedlichsten Erscheinungsformen auftreten. Sie reichen von der Gründung von echten privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Klubs (sogenannte Klubmodelle) über Solidarmodelle bis hin zur Diskussion eines absoluten oder relativen Vorrangs für ehemalige Spender.60 Ihre Vor- und Nachteile sind Gegenstand der juristischen, aber wohl auch gesellschaftlichen Debatte. Im Folgenden wird das Thema „Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen“ um die wichtige internationale Dimension erweitert.

Lang (2005), S. 269, 279. (2010), S. 468. 60  Zu den unterschiedlichen Modellen und deren Bewertung Bader (2010), S.  469 ff. 58  Vgl.

59  Bader



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IV. Anwendung III: Internationales Gesundheitswesen Die Ressourcen des Gesundheitswesens in den ärmeren Ländern sind primär durch das niedrige Sozialprodukt beschränkt. Wie Abbildung 8 zeigt, schwankt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zwischen unter 500 und über 64.000 US-Dollar, so dass auch die Gesundheitsausgaben stark divergieren. Im Jahr 2014 standen in Madagaskar 13,67 US-Dollar (nominell) pro Kopf und Jahr zur Verfügung, in der Schweiz 9.673,52 US-Dollar.61 In Deutschland waren es nach derselben Statistik 5.410,63 US-Dollar, während weltweit 64 Länder mit weniger als 100 US-Dollar pro Kopf und Jahr für die Gesundheitsversorgung auskommen mussten – ohne Berücksichtigung der 20 Länder, für die keine Angaben vorliegen. Noch immer gibt es Gesundheitsdis­ trikte, die mit weniger als 15 US-Dollar pro Einwohner und Jahr eine Basisgesundheitsversorgung leisten müssen, obwohl viele Kosten – zum Beispiel Medikamente – weltweit gleich hoch sind. Die große Ressourcenknappheit zeigt sich in dem limitierten Leistungsspektrum der Gesundheitsdienstleistungen, der schlechten Personalausstattung, der fehlenden Verfügbarkeit notwendiger Materialien (inklusive Medikamente) und Geräte sowie in der dünnen Versorgungsdichte.62 Die Demokratische Republik Kongo, Südsudan, Guinea, Haiti, Eritrea, Tschad, Guinea-

Abbildung 8: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (2015, US-Dollar nominell)63

World Bank (2017). Healthcare Access and Quality Collaborators (2017). 63  Quelle: https: /  / commons.wikimedia.org / wiki / File:GDP_per_capita_(nominal)_ 2015.png. 61  Vgl. 62  Vgl.

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Abbildung 9: Lebenserwartung (2017)64

Bissau, Somalia, Afghanistan sowie die Zentralafrikanische Republik gelten als die Länder mit der schlechtesten Gesundheitsversorgung weltweit. Ressourcenausstattung, Qualität und Zugänglichkeit führen zu divergierenden Outcome-Parametern. Sterblichkeiten – insbesondere Säuglingssterblichkeit, Kindersterblichkeit, Müttersterblichkeit – sind deutlich höher, die Lebenserwartung (Abbildung 9) deutlich geringer als in den industriali­ sierten Ländern. Die geringste Lebenserwartung hatten 2015 die Länder Swasiland (49 Jahre), Lesotho (50 Jahre), Zentralafrikanische Republik (51 Jahre), Sier­ra Leone (51 Jahre) und der Tschad (52 Jahre), die höchsten Japan (84 Jahre), Hongkong, Schweiz, Schweden und Spanien (jeweils 83 Jahre).65 In keinem anderen Sektor tritt die Ressourcenknappheit so existentiell in Erscheinung wie im Gesundheitswesen der ärmeren Länder. Die niedrigen Sozialprodukte, die geringen Anteile der Gesundheitsausgaben an den Gesamtausgaben sowie die geringe internationale Solidarität schaffen eine Situation existentieller Knappheit, die erhebliche Anfragen an die Gerechtigkeit stellt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) setzt sich seit langem für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung in ressourcenarmen Ländern ein und fordert einen „universellen Zugang“ zu Gesundheitsdienstleistungen, stellt jedoch fest, dass ein großer Teil der Weltbevölkerung in Ländern ohne

64  Daten 65  Vgl.

entnommen aus dem CIA World Factbook 2017. World Bank (2017).



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diese „universal health coverage“ (UHC) leben muss.66 Wie Abbildung 10 zeigt, umfasst dieser Begriff die Dimensionen Bevölkerung (wer ist im Krankheitsfall abgesichert?), Dienstleistungen (welche Leistungen werden im Krankheitsfall abgedeckt?) und Kostendeckung (welcher Anteil der Kosten wird im Krankheitsfall abgesichert?). UHC ist ein zentrales Ziel der Welt­gesundheitsorganisation und eines der Sustainable Development Goals.67 Es wird dabei allgemein anerkannt, dass eine universelle Gesundheitsab­ deckung nur erreicht werden kann, wenn die nationalen Regierungen Verantwortung für die soziale Sicherung ihrer Bevölkerung übernehmen und beispielsweise Sozialversicherungen mit starker Subventionierung für die Armutsgruppen aufbauen.68 Beispiele für nationale Solidarität in der sozialen Sicherung der Entwicklungsländer im Kampf für UHC sind der National Hospital Insurance Fund (NHIF) in Kenia, der Health Equity Fund (HEF) in Kambodscha oder die Vietnam Social Security (VSS). Der NHIF wurde bereits kurz nach der Unabhängigkeit Kenias gegründet, spielte jedoch für die Versorgung der Bevölkerung eine sehr limitierte Rolle.69 Ausschließlich Staatsbedienstete und andere Angestellte des formellen Sektors konnten im NHIF eine Krankenhaus-

Abbildung 10: Universal Health Coverage70 WHO (2010), Evans / Hsu / Boerma (2013). WHO (2014). 68  Vgl. Cattaneo et al. (2015). 69  Vgl. Lagomarsino et al. (2012). 70  Quelle: Boerma et al. (2014). 66  Vgl. 67  Vgl.

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versicherung abschließen, wobei für den formellen Sektor eine Versicherungspflicht bestand. Der größte Teil der Bevölkerung Kenias lebte und lebt zum Teil noch heute von der Subsistenzlandwirtschaft oder arbeitet im informellen Sektor als Kleinsthändler, Minitransporteure oder in persönlichen Dienstleistungen. Seit 2011 wurde jedoch der Versicherungsschutz schrittweise ausgeweitet. Zuerst erhielten alle Kenianer das Recht, Mitglied des NHIF zu werden, wobei die Prämien hierfür vom Staat subventioniert werden. Gleichzeitig wurde das Leistungsprogramm auf den ambulanten Sektor ausgeweitet. Nachdem insbesondere die Ärmsten der Armen sich den Beitritt zum NHIF nicht leisten konnten, wurde mit Geldern internationaler Entwicklungshilfe ein Fonds für besonders Bedürftige eingerichtet, zum Beispiel Waisenkinder, arme Ältere und Menschen mit chronischen Erkrankungen. Kenia stellt folglich ein Beispiel für eine internationale Unterstützung der sozialen Absicherung durch Steuergelder reicherer Länder dar, wobei der größte Teil der Bevölkerung noch immer weit von einer UHC entfernt lebt. Der HEF in Kambodscha bezahlt die Nutzergebühren in staatlichen Gesundheitseinrichtungen für die Bevölkerung, die offiziell unter der nationalen Armutsgrenze lebt.71 Die Einrichtung des HEF wurde nötig, nachdem Nutzergebühren eingeführt wurden, was zu einem Ausschluss der Ärmsten von der Gesundheitsversorgung führte. Die internationale Solidarität übernahm diese Gebühren, wobei der Staat Kambodscha schrittweise die Finanzierung trägt. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung sind somit auf niedrigem Niveau sozial abgesichert.72 Der HEF ist folglich ebenfalls ein Beispiel internationaler Solidarität (mit der Einschränkung der fehlenden Gegenseitigkeit) auf Basis von mono- und bilateraler, steuerfinanzierter Entwicklungszusammenarbeit und unter Ausschluss des größten Teils der Bevölkerung. VSS ist bereits deutlich weiter73 und deckt etwa 85 Prozent der Bevölkerung ab. Im Gegensatz zu Kenia und Kambodscha kommt es bereits zu einer Solidarität zwischen Einkommensgruppen in Vietnam, während die interna­ tionale Solidarität praktisch keine Rolle mehr spielt. Ziel ist die UHC im Jahr 2020. Die drei Beispiele veranschaulichen, dass solidarische Systeme der sozialen Sicherheit weltweit im Aufbau sind. Sie sind Ausdruck des Strebens nach einer nationalen Solidarität und Gerechtigkeit. Für die meisten dieser Systeme ist jedoch bezeichnend, dass zwischen der sozialen Sicherung des formellen Sektors und der extrem Armen eine große Gruppe von Menschen ungeschützt bleibt, die zwar dem informellen Sektor angehören, jedoch nicht Jacobs / Price / Sam (2007). Jacobs / de Groot / Antunes (2016). 73  Vgl. Reich, et al. (2016). 71  Vgl. 72  Vgl.



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extrem arm sind. Sie sind häufig gerade der Armut entwachsen, riskieren jedoch im Krankheitsfall, ohne soziale Absicherung wieder zurückzufallen. Häufig sind diese „Near-Poor“ statistisch kaum von den „Extremely-Poor“ zu unterscheiden, werden aber in vielen Ländern vernachlässigt.74 Sie könnten einen eigenen kleinen Beitrag zu ihrer sozialen Sicherung leisten, würden jedoch Subventionen benötigen. Abbildung 11 zeigt das Problem der „Near-Poor“ am Beispiel von Kam­ bodscha. Zwar ist ein großer Teil der Bevölkerung in den letzten Jahren der absoluten Armut entkommen, jedoch sind sie weiterhin höchst verletzlich. Aus den „Extremely-Poor“ wurden „Near-Poor“ mit hoher Vulnerabilität. Eine Krankheitsepisode genügt, und die Familie fällt zurück unter die Grenze absoluter Armut. Abbildung 12 symbolisiert, dass Armut dynamisch ist. Jeder „health shock“ stellt ein hohes Armutsrisiko dar, so dass der Lebenslauf häufig einem stetigen Kampf gleicht, aus der Armut herauszukommen, und einem immer wieder krankheitsbedingten Rückfall in die Armut. Ohne soziale Sicherung bleibt die Familie stets verletzlich, und zwar auch dann, wenn sie mehr als die Hälfte der Zeit knapp oberhalb der Armutsgrenze lebt. Folglich genügt es nicht, die zu einem bestimmten Zeitpunkt extrem Armen zu schützen, sondern der Schutz muss mindestens auf das zweite und dritte Quintil der Bevölkerung ausgeweitet werden.

Abbildung 11: Einkommensverteilung Kambodscha75 74  World 75  World

Bank (2014). Bank (2014).

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Die „Near-Poor“ fordern die internationale Solidarität über das Maß der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit hinaus. Deutschland – wie viele andere Länder – konzentriert sich auf die Ärmsten der Armen, während die Regierungen der Partnerländer häufig mit dem Aufbau der Krankenversicherung für den formellen Sektor gefordert sind. Es wäre folglich nötig, jenseits der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit Formen globaler Solidarität und Gerechtigkeit zu finden, um die „Near-Poor“ abzusichern. Eine Möglichkeit wäre es, wenn jede deutsche gesetzliche Krankenversicherung eine nationale Krankenversicherung in armen Ländern subventionieren würde, das heißt eine globale Solidarität praktizieren würde. In Kenia würde dies beispielsweise Kosten von 20 Mio. Euro pro Jahr implizieren, das heißt weniger als einen Euro pro deutschen GKV-Versicherten pro Jahr! Bislang ist es jedoch deutschen Unternehmen der Gesetzlichen Krankenversicherung verboten, weltweite Solidarität zu praktizieren. Langfristig könnte ein Netz globaler Solidarität zwischen den Krankenversicherungen weltweit entstehen, die fachlich und finanziell füreinander einstehen. Dabei dürfte sich die Solidarität nicht mehr als Einbahnstraße zeigen. Die sozialen Sicherungssysteme der jungen, dynamischen Volkswirtschaften Asiens werden in absehbarer Zeit selbstgenügsam sein, das heißt, ohne finanzielle Unterstützung aus dem Ausland auskommen. Die junge und vergleichsweise gesunde Bevölkerung kontrastiert mit der stetig alternden Population Europas und eröffnet durchaus das Potential einer echten Solidarität mit gegenseitigem Tragen von Risiken. Die Welt des 21. Jahrhunderts ist zu global, um die Risiken kleinräumig abzusichern. Die Ausführungen zum Internationalen Gesundheitswesen zeigen, dass Solidarität und Gerechtigkeit umso wichtiger werden, je existentiell knapper

Abbildung 12: Armut als dynamischer Prozess



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die Ressourcen sind. Gleichzeitig wird die Effizienz als Vermeidung von Verschwendung in diesen Situationen besonders wichtig. Der Aufbau tragfähiger Solidaritätssysteme fordert Politiker und Wissenschaftler heraus und verlangt juristische und ökonomische Expertise. Die Frage, ob es ein allgemeines Menschenrecht auf Gesundheit, angemessene Gesundheitsversorgung oder den Zugang zur Gesundheitsversorgung gibt, wird hierbei in der internationalen Gesundheitspolitik lebhaft diskutiert, wobei wiederum die Ökonomik erheblich zur Transparenz der rechtlichen Fragestellung beitragen kann.

V. Fazit Zusammenfassend können wir festhalten, dass Knappheit ein globales und universelles Problem darstellt, für dessen Überwindung weder Ökonomen noch Juristen Patentrezepte anbieten können. Das Dilemma zwischen Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit bleibt bestehen. Das Streben nach Effizienz schafft häufig erst die Freiräume für die Gerechtigkeit, generiert aber manchmal auch – je nach Gerechtigkeitskonzeption – neue Ungerechtigkeit. Deshalb kann der Weg zur Lösung des Dilemmas nur im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs erfolgen, gerade auch zwischen Ökonomik und Jura. Es bleibt deshalb die Aufgabe des wissenschaftlichen Diskurses zu prüfen, was Ökonomen und Juristen gemeinsam beitragen können, um die nationalen und internationalen Gesundheitssysteme so zu gestalten, wie es unseren gesellschaftlichen und globalen Werten entspricht. Zielkonflikte müssen benannt und überwunden, komplexe Entscheidungssituationen transparent dargestellt und Maximalwerte – zum Beispiel Distanzen – politisch fixiert werden. Dieser Diskurs darf keine vorschnellen Tabus kennen. Nationale und internationale Mechanismen der Umverteilung müssen ebenso bewertet wie Gerechtigkeitskriterien diskutiert werden. Jura und Ökonomie, die als eigenständige Wissenschaftszweige letztlich beide der Moralphilosophie entspringen, können hierzu maßgebliche Beiträge leisten. Literatur Augsberg, Steffen (2013): § 8 Entnahme von Organen und Geweben, in: Wolfram Höfling (Hrsg.), Transplantationsgesetz – Kommentar, Berlin, S. 333–390. Bader, Mathis (2010): Organmangel und Organverteilung, Tübingen. Boerma, Ties et al. (2014): Monitoring Progress towards universal health coverage at country and global levels. „Public Library of Science Medicine“ (PLOS Med.). doi: 10.1371 / journal.pmed.1001731

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Der Homo Oeconomicus im Recht – Nutzenstifter oder Störenfried? Von Michael Rodi

I. Ausgangspunkt: Der Homo Oeconomicus zwischen Vergötterung und Verteufelung Das Konzept des Homo Oeconomicus bildet seit mehr als 100 Jahren eine tragende Säule ökonomischer Theorie; seine Wurzeln reichen aber weit zurück bis zu den ökonomischen Klassikern wie Adam Smith oder John Stewart Mill.1 Grob gesagt ist der Homo Oeconomicus ein rationaler Mensch, der kühl die Vor- und Nachteile seiner Entscheidungen kalkuliert, um seinen Eigennutzen zu maximieren. Dabei ist er gut informiert – seine Bedürfnisse gelten als unbegrenzt. So oder ähnlich liegt er mikroökonomischen Marktgleichgewichtsmodellen zugrunde. In den letzten 20 Jahren sah sich das Konzept des Homo Oeconomicus zunehmend heftiger Kritik aus verschiedenen Richtungen ausgesetzt. Teilweise trachtet man ihm gar nach dem Leben. Paul Krugman, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 2008,2 klingt da noch harmlos: „Moderne Wirtschaftswissenschaft muss auf einer realistischen Beschreibung mensch­ lichen Verhaltens basieren – nicht wie bislang auf der Annahme, dass wir alle rational agieren“.3 In einem gemeinsamen Beitrag eines Mathematikers der Universität Wien (Karl Sigmund), eines Wirtschaftswissenschaftlers der Universität Zürich (Ernst Fehr) sowie eines Biologen an den Universitäten ­Havard und Princeton (Martin A. Nowak) ist zu lesen: „Lange Zeit haben Wirtschaftstheoretiker ein Retortenwesen namens homo oeconomicus zur Grundlage ihrer Überlegungen gemacht … Diese Kreatur hat sich mittlerweile als unhaltbare Fiktion erwiesen“.4 Namhafte Ökonomen fordern sogar, dass der Homo Oeconomicus ganz aus der ökonomischen Theorie und damit 1  Zu den einzelnen Klassikern vgl. im Überblick Suchanek / Kerscher (2007), S.  259 ff. 2  Er erhielt 2008 den Nobelpreis für „seine Analysen von Handelsstrukturen und Standorten ökonomischer Aktivität“. 3  Krugman, Interview mit dem Handelsblatt vom 11.1.2010. 4  Sigmund / Fehr / Nowak (2002), S. 56.

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auch aus den wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesungen vertrieben werden muss.5 Paradigmatisch lautet der Titel eines 2015 erschienenen Buchs „Am Anfang war der Mensch. Die Entmenschlichung der ökonomischen Theorie und ihre dramatischen Folgen“; unter der Überschrift „Warum falsche Modelle zu echten Krisen führen“ macht der Autor den Modellmenschen Homo Oeconomicus unter anderem für Weltwirtschaftskrisen verantwortlich.6 Er spricht von einer „schleichenden Vertreibung des Menschen aus der Ökonomik“ beziehungsweise von einem Ausbürgerungsprozess gegen den Menschen von Seiten der ökonomischen Wissenschaft.7 In Bezug auf Rechtsökonomik meint der Freiburger Zivilrechtler Fritz Rittner: „Ein Konstrukt wie das des homo oeconomicus […] brauchen wir nicht; es stört nur“.8 Das also ist der Störenfried, der sich im Titel dieses Beitrags wiederfindet. Es fehlt auch nicht an Gegenvorschlägen, wie der Mensch zum Zwecke geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Forschung konzipiert werden sollte: Sie reichen vom homo oecologicus9 oder sociologicus10 bis hin zum homo cooperativus und vielen mehr.11 Damit soll der Modellmensch realistischer, vor allem aber wohl auch sympathischer werden. Es mag auch sein, dass damit jeweils spezifische Aspekte der menschlichen Existenz modell­ theoretisch passend eingefangen werden. Im Folgenden soll dargelegt werden, dass dies die zentrale Bedeutung des Homo Oeconomicus als Analyseperspektive nicht ersetzen kann.

II. Einsatzfelder des Homo Oeconomicus: Von der Ökonomie zur Ökonomik Dieser Beitrag ist nicht der geeignete und angemessene Ort Aussagen zu Theorie und Modellen der Wirtschaftswissenschaften zu machen. Das sollte man Berufeneren überlassen, insbesondere den dazu berufenen Kollegen innerhalb der gemeinsamen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Greifswald, der dieser Band gewidmet ist. Deshalb soll das Vorhaben der Verteidigung des Homo Oeconomicus auf die Anwendung dieses Modells auf Erscheinungen außerhalb der Wirtschaft, wie insbesondere die etwa Hühn (2015). (2015), S. 134 ff. 7  Güntzel (2015), S. 113 ff. 8  Rittner (2005), S. 669. 9  Meinberg (1995). 10  Dahrendorf (1977). 11  Vgl. Rogall (2013 / 14), S. 250 f.; Rogall / Gapp (2015) plädieren schließlich für einen homo heterogenus. 5  So

6  Güntzel



Der Homo Oeconomicus im Recht

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Politik oder die Rechtsökonomik als ökonomische Analyse des Rechts bezogen werden.12 Die Übertragung der ökonomischen Theorie auf Phänomene außerhalb der Wirtschaft geht wesentlich zurück auf Gary Becker, der 1992 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft verliehen bekam, und zwar für die „Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf weitere Bereiche menschlichen Verhaltens und menschlicher Zusammenarbeit“. Erstmals wurde, noch der traditionellen Wohlfahrtsökonomie verhaftet, die Begriffsbildung Ökonomik in dem hier zugrunde gelegten Sinne in den 1930er Jahren von Lionel Robbins so gefasst: „Ökonomik ist die Wissenschaft, die menschliches Verhalten untersucht als eine Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln, die unterschiedliche Verwendung finden können“.13 Heute wird die Bedeutung der knappen Ressourcen zunehmend relativiert;14 in den Mittelpunkt treten stattdessen die individuelle Vor- und Nachteilskalkulation sowie darauf basierend der Gesichtspunkt einer Kooperation zum gegenseitigen Vorteil. Mit dem Sozialphilosophen John Rawls wird die Gesellschaft als ein „Unternehmen zum gegenseitigen Vorteil“15 gesehen. Die Ökonomik befasst sich unter den Bedingungen von Knappheit und Wettbewerb mit den Möglichkeiten und Problemen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil.16 Sie zielt auf die Erklärung und Gestaltung der Bedingungen und Folgen von Interaktionen auf der Basis von individuellen Vor- und Nachteilskalkulationen.17 Der Homo Oeconomicus wird so zur handlungstheoretischen Grundlage der Ökonomik als eines neuen Zweigs der Sozialwissenschaften.18 Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie die einzelnen Handlungen von Akteuren so koordiniert werden (können), dass das Ergebnis der Handlungen zugleich kollektiv rationale beziehungsweise gesellschaftlich erwünschte Ergebnisse im Sinne des Gemeinwohls hervorbringt.19 Das macht die Theorie so attraktiv für die Politikwissenschaft und gerade auch das öffentliche Recht. Wie schon bei Thomas Hobbes oder Adam Smith (sowie anderen Klassikern wie Ricardo oder John Stewart Mill) sind es in erster Linie die (regelmäßig nicht intendierten) erwünschten oder unerwünschten Folgen intentionaler Handlungen (und weniger die Verhaltensweisen an sich), die im Fokus des Forschungsinteresses stehen. So konzentrierte sich Hobbes auf die dazu etwa Rodi (2014). (1932), S. 16. 14  Vgl. etwa Suchanek / Kerscher (2007), S. 254. 15  Rawls (1972), S. 105. 16  In diesem Sinne etwa Homann / Suchanek (2005), I.1.4. 17  Homann / Suchanek (2005), S. 347. 18  Suchanek / Kerscher (2007), S. 254, 256 ff.; vgl. dazu grdl. Frey (1990). 19  Suchanek / Kerscher (2007), S. 254. 12  Vgl.

13  Robbins

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unerwünschten Folgen eines bellum omnium contra omnes, Smith auf die positiven Folgen der „invisible hand“ des Marktes auf der Grundlage rationaler eigennütziger Entscheidungen.20

III. Der Homo Oeconomicus auf Abwegen: Nutzenmaximierung im Sinne einer normativen Analyse des Rechts Nun teilt sich die Rechtsökonomik in zwei methodisch sehr unterschied­ liche Richtungen, die beide auf der Modellannahme des Homo Oeconomicus fußen: die positive und die normative Analyse des Rechts. 1. Die positive Analyse des Rechts Der vorliegende Versuch einer Verteidigung des Homo Oeconomicus soll sich allein auf die positive Rechtsökonomik beziehen, die gerade in der Rechtspolitik wichtige Beiträge leistet. Auf ihrer Grundlage werden Aussagen über Elemente des bestehenden Rechts getroffen, etwa seine Entstehungsgründe, Struktur oder Wirkungsweisen.21 Auf diese Weise kann man auch das Zustandekommen von Recht erklären und fragen, warum Gesetze so bestehen, wie sie bestehen. Dazu kann man dann Theorien über den Gesetzgeber, die Bürokratie oder aber Interessengruppen entwickeln.22 Auf dieser Grundlage kann die Rechtsökonomik wichtige Beiträge zu einer rationaleren Rechtspolitik leisten;23 dies gilt insbesondere für die zentrale Frage, mit welchen Mitteln das gesetzgeberische Ziel optimal – bei möglichst geringen Nebenwirkungen – erreicht werden kann.24 Im Mittelpunkt steht dabei das Verhalten des Normadressaten; hier liefert die Ökonomik empirisch überprüfbare Aussagen auf der Grundlage einer verhaltens- und handlungsbezogenen Theorie menschlicher Wahlakte. Insgesamt trägt die Rechtsökonomik so zu einer Disziplinen übergreifenden Gesetzgebungslehre bei.

20  Kerscher

(2013), S. 36 ff. (zu Hobbes) und S. 41 ff. (zu Adam Smith). eine Übersicht vgl. Rodi (2014), S. 16 f. 22  Vgl. dazu Rodi (2014), S. 141 ff. 23  Vgl. dazu grdl. Engel (2005), S. 581 ff. 24  Towfigh / Petersen (2010), S. 15; grdl. van Aaken (2003), S. 156 ff. 21  Für



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2. Die normative Analyse des Rechts Die normative Rechtsökonomik wird dagegen – zumindest in Kontinentaleuropa – zu Recht deutlich kritischer gesehen. Die vorliegend versuchte Verteidigung bezieht sich daher ausdrücklich nicht auf die auch dort verwendete Modellfigur des Homo Oeconomicus. Mit Hilfe der normativen Analyse25 werden staatliche Maßnahmen und so auch das Recht bewertet und einer (wertenden) ökonomischen Kritik unterzogen. Die normative ökonomische Theorie zielt darauf ab, „gutes“ beziehungsweise „richtiges“ Recht zu begründen. Als zentraler Beurteilungsmaßstab dient dabei das Kriterium der Effizienz; es bezeichnet den aggregierten Gesamtnutzen einer Situation oder Maßnahme im Verhältnis zu den gesamten Kosten.26 Die normative ökonomische Bewertung gesellschaftlicher Zustände und des Rechts hat ihre Wurzeln in der klassischen Wohlfahrtsökonomik. Vor dem Hintergrund grundsätzlich knapper Ressourcen bewertet sie deren Allokation auf der Grundlage eines größtmöglichen gesellschaftlichen Nutzens; zentraler Bewertungsmaßstab ist damit die gesellschaftliche Wohlfahrt. Die Allokationseffizienz wird im Wesentlichen durch zwei wirkkräftige Konzepte operationalisiert, dem Pareto-Kriterium und dem Kaldor-Hicks-Kriterium.27 Auf der Basis des nach Vilfredo Pareto (1896) benannten Pareto-Kriteriums haben die Ökonomen Nicholas Kaldor und John Hicks (1939) ein Prinzip entwickelt, wonach alle Maßnahmen gerechtfertigt sind, wenn diejenigen, die dadurch eine Nachteil erleiden, zumindest theoretisch von denjenigen, die Vorteile aus dieser Maßnahme haben, kompensiert werden können. Der Saldo aus positiven und negativen Wirkungen der Maßnahme muss also insgesamt positiv sein.28 Der auf die Arbeiten von Jeremy Bentham29 zurückgehende Utilitarismus hat sich insbesondere im angelsächsischen Raum und vor allem in den USA wirkkräftig entfaltet.30 Der Utilitarismus bewertet die Handlungen oder Regeln als „gut“ (moralisch), die den Nutzen des Einzelnen oder den Gesamtnutzen der Gesellschaft maximieren. Gesamtgesellschaftlich verdienen damit diejenigen Regeln den Vorzug, die den Gesamt- oder Durchschnittsnutzen der Gesellschaft erhöhen. Bei der Frage, ob es gesamtgesellschaftlich sinngrdl. van Aaken (2003), S. 181 ff. (2011), S. 7. 27  Vgl. dazu etwa van Aaken (2003), S. 212 ff. 28  Vgl. dazu Towfigh / Petersen (2010), § 2 II.; Mathis (2009), § 3. 29  Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London 1780; zu der Utilitarismuskonzeption von Bentham vgl. grdl. Mathis (2009), § 6. 30  Vgl. dazu zutreffend Grechenig / Gelter (2008), S. 513 ff. 25  Dazu

26  Polinsky

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voll ist, vom sozialen Zustand x zum Zustand y überzugehen, braucht man nur vom Nutzenzuwachs der Begünstigten den Nutzenentgang der Benachteiligten abziehen. Hans-Bernd Schäfer und Claus Ott verwenden für die Erklärung des Kerngedankens des Utilitarismus anschaulich das Bild eines „Wohlstandsthermometers“: „Man stelle sich vor, alle Gesellschaftsmitglieder trügen ein Thermometer in der Tasche, das ihr Wohl auf einer Skala anzeigt. Die Summe der Werte aller Thermometer gibt das Gesamtwohl an. Ein Gesetz oder eine sonstige staatliche Entscheidung ist dann utilitaristisch gerechtfertigt, wenn sie den so ermittelten Thermometerstand des Gesamtwohls erhöht.“31 In einer utilitaristischen Welt der normativen ökonomischen Analyse des Rechts wird Gemeinwohl mit gesellschaftlichem Gesamtnutzen und Gerechtigkeit in Eins gesetzt; das auf diese Weise definierte Gemeinwohl wird erreicht, indem jeder Einzelne als Homo Oeconomicus seinen eigenen Nutzen maximiert.32 Der Utilitarismus ist heute insbesondere in Kontinentaleuropa zunehmend heftiger Kritik ausgesetzt. Diese zielt insbesondere auf die damit notwendig verbundenen Voraussetzungen einer kardinalen Nutzeneinschätzung sowie die Möglichkeit eines interpersonellen Nutzenvergleichs.33 Wie will man etwa Nutzenveränderungen angemessen erfassen, die mit Stolz und Schamgefühlen oder dem Empfinden von gerechter beziehungsweise ungerechter Behandlung einhergehen?34 Bedeutender sind im vorliegenden Zusammenhang die Einwände, die einer direkten Übertragung auf die Bewertung von Recht entgegenstehen: Hier sind neben einer gerechten Güterverteilung andere wesentliche normative Grundprinzipien, allen voran die Menschenrechte und das Demokratieprinzip, zu beachten.35 So darf der demokratisch legitimierte Gesetzgeber bei der Bestimmung dessen, was im Einzelfall als gerecht anzusehen ist, nicht übergangen werden. Zudem lässt eine auf den Menschenrechten und insbesondere der Würde des Menschen beruhende Verfassungstradition einen kardinalen, interpersonalen Nutzenvergleich nicht zu. In diesem Sinne kann mit Peter Häberle36 gesagt werden, dass die Grenzen für eine Ökonomisierung von Rechtsverhältnissen in den Wertsetzungen der Verfassung liegen. Diese grundlegende Ablehnung einer normativen Analyse des Rechts bezieht sich also auf die utilitaristische Fundierung. Völlig anders stellt sich die Lage deshalb dar, wenn und soweit normative Herangehensweisen einen mit 31  Schäfer / Ott

(2012), Kap. 2.7. (2016), S. 19 f. 33  Von Mathis (2009), § 3 III. 2, als „Messproblem“ dargestellt. 34  Vgl. dazu spezifisch McAdams / Rasmusen (2007), S. 1593 f. m. Nachw. 35  Vgl. dazu etwa Lindner (2008), S. 962 f. 36  Häberle (1984), S. 45. 32  Dieckmann / Sorge



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(kontinentaleuropäischen) Verfassungswerten kompatiblen Ansatz haben. So erweisen sich etwa in der Verfassungsökonomik normative Sozialvertragstheorien als gewinnbringend.37 Beispielsweise basiert die Rawlʼsche Konstruktion des „Schleiers des Nichtwissens“ gerade auch auf einem methodischen Individualismus und eben nicht auf utilitaristischen Annahmen. Der vorliegende Versuch einer Verteidigung erfasst daher auch den in der Verfassungsökonomik auftretenden aufgeklärten Homo Oeconomicus.

IV. Der Homo Oeconomicus ist kein Menschenbild, sondern eine Erklärungsfigur In der positiven Rechtsökonomik geht es im Kern darum, Verhalten vorherzusagen; die Ökonomik in diesem Sinne ist eine Verhaltenstheorie und damit eine Sozialwissenschaft.38 Alle gesellschaftlichen Interaktionen werden auf die Entscheidungen von Individuen zurückgeführt. Es geht dabei nicht um ein „Menschenbild der Ökonomie“39, sondern um ein ökonomisches Modell des Menschen; das hat so auch schon etwa John Stewart Mill gesehen.40 Die erste methodische Grundlegung jeder ökonomischen Analyse liegt darin, dass alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interaktionen konsequent auf die Entscheidungen von Individuen zurückgeführt werden. In Anlehnung an Joseph Schumpeter wird diese Vorgehensweise als methodischer Individualismus bezeichnet.41 Zutreffend wird hierin das Fundament nicht nur der Wohlfahrtsökonomie, sondern gerade auch der modernen Ökonomik gesehen.42 Gesellschaftliche Makrophänomene wie Kooperation, Solidarität oder Vertrauen werden auf der Basis individuellen Verhaltens, Organisationen und Gesellschaften durch die Gesamtheit der in ihnen handelnden Personen erklärt. Das bedeutet nicht, dass Organisationen nicht als eigenständige Akteure begriffen werden können; ihr Handeln wird dann aber seinerseits auf das Verhalten der in ihrem Rahmen tätigen Individuen zurückgeführt.43

37  Kirchgässner

(2008), 7.1; Rodi (2014), 2.2.1. Frey (1990). 39  Kerscher (2013), S. 17. 40  Schattschneider (2013), S. 26. 41  Schumpeter (1908), S. 88 ff. Mit diesem Begriff zielte Schumpeter darauf, die werturteilsfreie Analyse wirtschaftlicher Vorgänge durch ihre Rückführung auf individuelle Entscheidungen von einem politischen Individualismus abzugrenzen, der mehr Freiheit für die Bürger fordert (a. a. O., S. 90). Ideengeschichtlich lässt sich dieser Ansatz auf Hobbes zurückführen, vgl. Homann / Suchanek (2005), S. 367. 42  Kirchner (1997), S. 18 ff. 43  Vgl. dazu näher Rodi (2014), 3.1. 38  Programmatisch

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Im Kern der ökonomischen Methodik steht das Verhaltens- oder Handlungsmodell des Homo Oeconomicus. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass Individuen (Akteure) ihre Handlungen so ausrichten, dass sie rational und eigeninteressiert ihren Nutzen maximieren. Bei diesem Verhaltensmodell handelt es sich um eine Annahme und nicht etwa um eine Hypothese.44 Es geht also nicht um eine empirisch überprüfbare Behauptung, sondern um eine präempirische Erklärungsfigur.45 Sie stellt ein heuristisches Mittel zur Erklärung von Verhalten dar und dient insoweit als „Interpretationsschablone“. Als solche ist sie empirisch nicht widerlegbar.46 Als Modell ist die Verhaltensannahme des Homo Oeconomicus ein theoretisches Konstrukt – es geht um eine heuristische Anweisung an den Forscher, der individuelles Handeln als rational rekonstruiert.47 Ein bestimmtes Menschenbild liegt dem gerade nicht zugrunde.48 Es handelt sich um methodischen, nicht um normativen Individualismus! Selbstverständlich kann und will die ökonomische Theorie – anders etwa als die (Sozial-)Psychologie – nicht für sich beanspruchen, dass sie das Verhalten konkreter Individuen beurteilen oder voraussagen könnte. Sie gründet vielmehr auf im Aggregat identifizierbare Verhaltensmuster; dabei wird auf durchschnittliches Verhalten einer größeren Zahl von Akteuren abgestellt, die sich in der gleichen Entscheidungssituation befinden, also auf einen „vertypten Normmenschen“.49 Es handelt sich somit um das dominante oder repräsentative Verhalten, um Erklärungen „im Prinzip“, nicht im Einzelfall.50 Dabei geht es der Ökonomik gar nicht nur um die aggregierten Verhaltensannahmen selbst, wie etwa im Rahmen der Frage, ob ein neues Gesetz wohl befolgt werden wird. Wie schon bei den Klassikern angelegt,51 tritt heute die Analyse nicht-intendierter Gesamtwirkungen individuellen Rationalverhaltens zunehmend in den Vordergrund.52 Das Modell des Homo Oeconomicus dient zur Analyse jener Bedingungen, unter denen (keine) Anreizkompatibilität für eine gemeinwohlverträgliche Koordination individuellen Handelns in Hinblick auf gesellschaftlich erwünschte Handlungsfolgen besteht.53 Mit den positiven Gesamtwirkungen individuellen Verhaltens hat sich 44  Dylla

(2008), 3.3.2 m. w. Nachw. dazu auch Engel / Morlok (1998), und Lepsius (1999). 46  Suchanek / Kerscher (2007), S. 268. 47  Suchanek / Kerscher (2007), S. 265. 48  Homann / Suchanek (2005), S. 371, 374 f.; Towfigh / Petersen (2010), S.166 f. 49  Kirchner (1997), S. 19 m. Nachw.; Towfigh / Petersen (2010), S. 24. 50  Leschke (2012), S. 23 ff. 51  Siehe bereits oben II. 52  Suchanek / Kerscher (2007). 53  Suchanek / Kerscher (2007), S. 254. 45  Vgl.



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schon Hegel beschäftigt.54 Adam Smith hat das wirkkräftig mit dem Bild der „invisible hand“55 fortentwickelt und so die Gemeinwohlfunktion von Marktwirtschaft begründet. Noch größere Bedeutung für die moderne Ökonomik als Regulierungswissenschaft erlangt heute der zweite Aspekt, der die Frage nach nicht-intendierten Folgen individuellen Rationalverhaltens für das Gemeinwohl behandelt; diese Konstellation liegt den großen Herausforderungen für die Politik, wie etwa den globalen Finanzkrisen oder dem Klimawandel, zugrunde. Die Kritik am Menschenbild des Homo Oeconomicus56 unterscheidet nicht ausreichend zwischen (normativen) Menschenbildern und (empirischen) Verhaltensmodellen.57 Deshalb geht etwa auch der Vorwurf, dieses Verhaltensmodell sei mit dem Menschenbild des Rechts, etwa des Grundgesetzes, unvereinbar,58 von vornherein ins Leere. Die (positive) Ökonomik setzt lediglich einige sehr schwache Grundcharakteristika des Menschseins voraus, die sich im Wesentlichen auf seine Fähigkeit zu strategischem Handeln beziehen: Menschen können sich die möglichen Folgen unterschiedlicher Verhaltensweisen in Interaktionen vorstellen und ihr Handeln, mit Bezug auf ihre jeweiligen Intentionen, an diesen Vorstellungen orientieren.59 Die Tat­ sache, dass sie sich dabei am eigenen Nutzen orientieren, verbindet sie im Grunde mit allen Lebewesen und ist fast schon eine biologische Grundannahme. Schließlich ist es eine Binsenweisheit, dass der Mensch als „zoon politikon“ gemeinschaftsbezogen ist; er entfaltet seine Grundanlagen erst im sozialen Bezug und ist damit interaktionstheoretisch zu konzipieren. Der Homo Sociologicus ist so weniger Gegenstück60 als vielmehr Ergänzung des Homo Oeconomicus. Ein weiteres Missverständnis gilt es an dieser Stelle zu beseitigen: Das methodische Konzept des Homo Oeconomicus ist eine Theorie, die oft durch andere Theorien ergänzt werden muss. Wesen und Funktion wissenschaftlicher Theorien und die Bedeutung eines Methodenpluralismus hat Guy Kirsch mit einem anderen anschaulichen Bild umschrieben, als er sie mit Fangnetzen verglich: „So wie das, was man aus dem Meer an Land zieht, nicht nur davon abhängt, was im Wasser schwimmt, sondern auch von der Beschaffenheit des Netzes, so hängt das Wissen über die Wirklichkeit auch von der Art 54  Dieckmann / Sorge

(2016), S. 8. (2013), S. 28. 56  Vgl. etwa Niemann (2011), der die Ökonomik aus ethisch-moralischer Perspektive zu kritisieren versucht. 57  Zu dieser Unterscheidung vgl. etwa Führ / Bizer / Feindt (2007), insbes. S. 13 ff. 58  Vgl. insbes. Fezer (1986), S. 817–821. 59  Homann / Suchanek (2005), 6.3.4.3. 60  So aber Dehling / Schubert (2011), S. 30 ff. 55  Schattschneider

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der Theorie ab, die man angewandt hat. Wer ein grobmaschiges Netz benutzt, wird keine kleinen Fische fangen, und es wäre unklug zu behaupten, es gäbe nur große. Wer eine bestimmte Theorie benutzt, wird nur bestimmte Aspekte der Realität erfassen; er kann nicht sagen, andere Aspekte existierten nicht. Wer möglichst umfassend über die im Meer lebenden Tiere informiert sein will, muss vielfältige Netze auswerfen.“61 Das Bild des Fischernetzes veranschaulicht zudem, dass es nicht eine „richtige“ Theorie geben kann. Wissenschaftliche Theorien müssen letztendlich problemadäquat sein.62 Dies kann auch die Anwendung mehrerer theoretischer Ansätze nebeneinander im Sinne eines Methodenpluralismus erfordern.63 Da das methodische Konzept des Homo Oeconomicus – wie gesehen – im methodischen Individualismus wurzelt, kann daneben gerade auch die Anwendung von Theorien des methodischen Kollektivismus hilfreich sein.64 Nach Viktor Vanberg65 müsse man anerkennen, dass es auch „Kollektiveigenschaften gibt, die sich nicht als Konstrukte aus den Eigenschaften der Individuen interpretieren lassen, Kollektiveigenschaften also, die nicht unter Bezugnahme auf die Eigenschaften dieser Individuen definierbar sind“. Gerade im Jubiläumsjahr von Karl Marx mag etwa die Bemerkung erlaubt sein, dass nach wie vor die Produktionsverhältnisse menschliches Denken und Handeln entscheidend beeinflussen können.

V. Von der Offenheit von Präferenzstrukturen – Nutzenmaximierung als strategisches Handeln Viele Kontroversen zum theoretischen Konstrukt des Homo Oeconomicus entzünden sich an einer weiteren Grundannahme des Rationalverhaltensmodells: der Vorstellung (oder Unterstellung?) der Nutzenmaximierung auf der Grundlage von Eigeninteresse. Aber auch dieser Einwand hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Der Begriff des Nutzens wird in der modernen Ökonomik völlig offen und keineswegs nur monetär verstanden.66 Der Nutzen hängt von den persön­ lichen Präferenzen ab; auch hier ist die ökonomische Analyse neutral und akzeptiert Präferenzen aller Art: So kann ein Manager den Umsatz seines Unternehmens im Auge haben, ein Politiker seine Wiederwahl betreiben, ein 61  Kirsch

(2004), S. 2. Friedman (1953), S. 36: „Everything depends on the problem“. 63  Vgl. zum Methodenpluralismus, insbes. zur Kombination von Ökonomik und Systemtheorie: Kirsch (2004), S. 49 ff. 64  Vgl. dazu etwa Schattschneider (2013), S. 126 ff. 65  Vanberg (1975), S. 253. 66  Kerscher (2013), S. 51: „offenes Nutzenkonzept“. 62  Zutreffend



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Dritter sieht seinen Nutzen „altruistisch“ im Wohlbefinden anderer (Konzept der persönlichen Nutzenfunktionen – „personal utility functions“); Eigennützigkeit ist also von Egoismus zu unterscheiden.67 Das Eigeninteresse dient als eine formale und wertungsmäßig weitgehend neutrale Beobachtungskategorie.68 Die Verhaltensannahme der Nutzenmaximierung bedeutet, dass ein Entscheidungsträger diejenige Möglichkeit wählt, die (aus seiner Sicht) den größten Nutzen stiftet. Der Gegeneinwand, dass die Theorie durch ein weites Verständnis von individuellem Nutzen beliebig zu werden drohe,69 ist unzutreffend; denn auch so bleibt es bei der zentralen Einsicht, dass rationales Verhalten im Kern strategisches Verhalten ist. Der Homo Oeconomicus präsentiert sich hier letztlich als „Homo Logicus“.70 In diesem Lichte kann man George Bernard Shaws Aussage verstehen: „Ökonomie ist die Kunst, das Beste aus dem Leben zu machen“.71 Damit trägt die Fähigkeit zu strategischem Entscheiden auch viel zum Glück von Menschen bei. An dieser Stelle etabliert sich gegenwärtig ein neuer Forschungszweig auf der Nahtstelle von Ökonomie und Psychologie: die Glücksforschung.72 Diese blendet natürlich nicht aus, dass gerade der Weg zum Glück von sehr unterschiedlichen Präferenzen geprägt ist, wenn man etwa an buddhistische Traditionen denkt. An dieser Stelle wird man daran erinnert, dass für den Begriff des Nutzens die Präferenzen oder das Präferenzsystem entscheidend sind und bleiben. Bedeutsam ist, dass die moderne Ökonomik realitätsgerecht die Präferenzen nicht mehr als stabil ansieht.73 Ansonsten ließe sich auch etwa die Bedeutung des Marketing nicht erklären.74 Präferenzen werden zudem erheblich durch das soziale Umfeld bedingt und beeinflusst; diesem sozialen Umfeld kommt damit eine doppelte Rolle zu, nämlich als Restriktionen und Umfeld für die Herausbildung von Präferenzen. Die zumindest mittel- oder langfristige Veränderbarkeit von Präferenzen hat auch Bedeutung für den Gesetzgeber: In seinem Bemühen um Verhaltenssteuerung kann der Staat und sollte sogar versuchen auf die Präferenzstruktur einzuwirken, etwa umweltpolitisch erwünschtes Handeln neben Verboten und Anreizen auch durch Bildung und Information zu gestalten. Gleichwohl bleibt es für die Entscheidungstheorie oft eine sinnvolle Annahme, die Präferenzen als gegeben anzunehmen.

67  Schäfer / Ott

(2012), Kap. 4.1.4. (2007), S. 268. 69  Rogall (2013 / 14), S. 250 m. Nachw. 70  Blum (1991), S. 111. 71  So zitiert von Becker (1993), S 1. 72  Crespo (2017), S. 98–115. 73  Rodi (2014), S. 28 f. 74  Schattschneider (2013), S. 87. 68  Suchanek / Kerscher

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VI. Der Homo Oeconomicus wird immer menschlicher – Behavioral (Law and) Economics Zur Verteidigung des Homo Oeconomicus kann weiter vorgebracht werden, dass an den Kritikern wohl mehrere Jahrzehnte ökonomischer Forschung vorbeigegangen zu sein scheinen. Deren Homo Oeconomicus wirkt gelegentlich wie ein „Paleo-Homo Oeconomicus“75 aus einer anderen Zeit. Früher galt der Homo Oeconomicus in der Regel als umfänglich informiert. Das ist natürlich nicht realitätsgerecht und die Annahme voller Informiertheit wird deshalb zu Recht zunehmend relativiert.76 Angesichts hoher Informationskosten wäre dies für das Individuum geradezu irrational; in der Regel wird man einen für die Entscheidung angemessenen Informa­tionsstand anstreben. Auch gewohnheitsmäßiges und habituelles Verhalten kann in diesem Sinne als rational angesehen werden, denn es entlastet von einem permanenten Entscheidungsdruck.77 Echte Relativierungen der Rationalverhaltensannahme und damit ein differenzierteres Bild des Modellmenschen Homo Oeconomicus werden durch Rückkopplung mit der Psychologie (Verhaltensökonomik) und den Neurowissenschaften (Neuroökonomik) begründet. Als „Urvater“ derart realitätsgerechter Behavioral Economics gilt Daniel Kahneman; er hat 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhalten, und zwar für das „Einführen der psychologischen Forschung in die Wirtschaftswissenschaft, besonders bezüglich Beurteilungen von Entscheidungen bei Unsicherheit“. Im Mittelpunkt der Behavioral Economics steht die Einsicht in die beschränkte Rationalität der Individuen.78 Die Vorstellung einer „Bounded Rationality“ geht auf Herbert A. Simon zurück, der 1978 als Politikwissenschaftler und erster Nichtökonom den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft verliehen bekam. Während man beschränkte Informiertheit und habituelles Verhalten aus den genannten Gründen nur bedingt als eingeschränkte Rationalität bezeichnen kann, erkennt die moderne Ökonomik in der Folge auch an, dass sich Menschen irrational verhalten können und das auch oft tun.79 Das ist insofern unproblematisch, als es in der Ökonomik ohnehin „nur“ um prinzipielle oder Tendenzaussagen geht,80 die von einzelnen Fällen der Ab75  Schattschneider

(2013), S. 17, Fn. 21 m. Nachw. (2014), S. 22 f. m. Nachw.; Schattschneider (2013), S. 37 ff. 77  Rodi (2014), S. 23 m. Nachw. 78  Vgl. dazu Rodi (2014), S. 22 ff. 79  Zu typischen Formen der Nichtrationalität vgl. im Überblick Congdon /  Kling / Mullainathan (2011), S. 32 f.; Fritsch (2014), 12.2. 80  Schäfer / Ott (2012), Kap. 4.1.6 – Erklärungen „im Prinzip“; Medema (2007), S. 246 ff. unter Verweis auf Alfred Marshall: „tendency statements“. 76  Rodi



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weichung nicht widerlegt werden. Zudem lassen sich Erkenntnisse über regelhaft irrationales Verhalten81 wiederum mit anspruchsvollen Theorien rückkoppeln.82 Es geht dabei um „berechenbare Irrationalität“83, die ihrerseits auch als „Quasi-Rationalität“ beschrieben werden könnte.84 So lassen sich „Irrationalitäten“ identifizieren, die aggregiert eine solche Bedeutung haben, dass sie beim Design politischer Steuerungsinstrumente Berücksichtigung finden sollten. „Berechenbare Irrationalität“ steht damit im Gegensatz zu wirklich irrationalem Verhalten, das – etwas plakativ gesprochen – eher ein Fall für Psychologen und Psychiater ist. Dieses ist, wie etwa Gary Becker festgestellt hat, auch deshalb für Ökonomen uninteressant, als es sich in seiner verhaltensbeeinflussenden Gesamtwirkung regelmäßig unter dem Strich aufhebt.85 Gleichsam ein Urtypus beschränkter Rationalität ist die kognitive Dissonanz.86 Menschen vermeiden danach Situationen, in denen sie unterschied­ lichen, nicht zu vereinbarenden Kognitionen unterliegen. Sie werten Informationen unbewusst selektiv aus und passen so – ebenfalls unbewusst – ihre Entscheidungen an, um kognitive Dissonanzen zu vermeiden. Kahneman und Tversky entwickelten 1979 eine „Prospect Theory“;87 das Modell berücksichtigt etwa, dass Menschen eine sichere Alternative höher bewerten als eine nur wahrscheinliche, auch wenn diese einen höheren Erwartungsnutzen aufweist (Sicherheitseffekt), oder, dass sie ihre Entscheidungen nicht anhand eines erwarteten Nutzenniveaus treffen, sondern anhand der konkret erwarteten Gewinne und Verluste, wobei sie jedoch Verluste stärker gewichten als Gewinne (Verlust-Aversion). In der Folge wurden viele weitere typische Biases (Verzerrungen oder Fehler) menschlichen Denkens entdeckt und beschrieben: Menschen orientieren sich bei quantitativen Einschätzungen häufig an beliebigen Werten, die zum Teil aus ganz anderen Kontexten dem Entscheider im Moment der Entscheidung präsent sind (Anker-Effekt); sie neigen dazu, ihr eigenes Können, Wissen und ihren Einfluss auf die Zukunft zu überschätzen (Vermessenheitseffekt); sie haben die Tendenz, an der augenblicklich gegebenen Situation festzuhalten (Status-Quo-Bias); systematisch überbewerten sie gegenwärtigen Nutzen gegenüber künftigen Nachteilen und umgekehrt (Diskontierungs-Bias).88 dazu grdl. Ariely (2010). etwa Congdon / Kling / Mullainathan (2011), Kap. 2 zu systematischen Abweichungen vom Rationalverhalten. 83  Ariely (2010). 84  Thaler (1991). 85  Schattschneider (2013), S. 46. 86  Schattschneider (2013), S. 42 f. 87  Kahneman / Tversky (1979). 88  Vgl. dazu etwa im Überblick Rodi (2014), S. 23 ff. 81  Vgl. 82  Vgl.

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Es ist nur konsequent, dass heute in diesem Zusammenhang zunehmend auch die Erkenntnisse der Neurobiologie herangezogen werden (Neuro­ ökonomik).89 Nachdem Sigmund Freud für mehr oder weniger tot erklärt worden war, wird heute wieder die Bedeutung des Unbewussten für Entscheidungen entdeckt, nicht zuletzt auch die Bedeutung von Emotionen.90 Schließlich bringt die Verhaltensökonomik weitere Erkenntnisse zum Vorschein, die sich nicht ohne Weiteres mit dem traditionellen Konzept der Nutzenmaximierung vereinbaren lassen: So erlangt etwa in der experimentellen Spieltheorie das sogenannte Diktatorspiel neue Bedeutung;91 unter anderem wird so der Aspekt von Fairness bei Entscheidungen neu bewertet. Auch hier scheint der Mensch als Homo Sociologicus auf! Die Neuroökonomik bringt insgesamt die Bedeutung des sozialen Kontextes für Entscheidungen in ein neues Licht.

VII. Institutionen Der moderne Homo Oeconomicus ist damit nicht mehr – wie viele Kritiker vortragen – ein wenig realistischer Gegensatz zum Homo Sociologicus. Insbesondere wird anerkannt, dass sich der Mensch als „zoon politikon“ Regeln und Institutionen schafft. Gleichsam als anthropologische Konstante92 wird dieser Aspekt durch die Neue Institutionenökonomik in das Konzept der Homo Oeconomicus integriert. Nicht zuletzt dadurch erhält dieses ein realistisches und zeitgemäßes Aussehen.93 Wie bereits erwähnt, stellt die moderne Ökonomik den Aspekt der Kooperationen in den Fokus, mit deren Hilfe Individuen ihren Nutzen zu steigern versuchen. Dazu müssen sie Transaktionskosten reduzieren und Institutionen schaffen (Sitten, Verträge, Recht). Institutionen in diesem Sinne stellen Regelsysteme dar, die die wichtigsten, häufig wiederkehrenden Interaktionsprobleme dadurch lösen, dass sie individuelle Handlungen beeinflussen.94 Sie fungieren damit als standardisierte Lösungen von Interaktionsproblemen.95 Ihre Steuerungswirkung erlangen Institutionen dadurch, dass Regelbrüche Sanktionen und damit Kosten nach sich ziehen.

dazu etwa den von Reuter / Montag (2016) herausgegebenen Sammelband. (2013), S. 53 ff. 91  Schattschneider (2013), S. 71 ff. 92  Schattschneider (2013), S. 196 f. 93  Schattschneider (2013), S.112 ff. 94  Vgl. dazu grdl. Engel (2001). 95  Homann / Suchanek (2005), 1.4.4.1. 89  Vgl.

90  Schattschneider



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VIII. Conclusio Der Homo Oeconomicus lebt und erfreut sich bester Gesundheit! Nie war er so wertvoll wie heute, in seinem verfeinerten und realistischeren Outfit! Richtig ist, dass das Konzept des Homo Oeconomicus auch Wertungen enthält, wenn es das Verhalten hauptsächlich in der Kategorie rationalen Entscheidens konzeptualisiert. Das stärkt nutzenmaximierendes Denken, wie es sich erst in der Neuzeit herausgebildet hat. Früher sah man wenig individuelle Entscheidungsmöglichkeiten – das Verhalten der Individuen wurde wesentlich gesellschaftlich determiniert, etwa durch Stände oder Religion. Die Modernisierung des Konzeptes vom Homo Oeconomicus ist aber noch lange nicht zu Ende. Die Verhaltensökonomik war ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Eine nicht geringere Herausforderung liegt heute darin, die zunehmenden Erkenntnisse der Neurowissenschaft im Sinne von „Neuroeconomics“ zu integrieren. Mit verfeinerten interdisziplinären Erkenntnissen wird die Bedeutung des Homo Oeconomicus weiter zunehmen; ein Störenfried war er – zumindest im Rahmen einer positiven Ökonomik – noch nie. Literatur Aaken, Anne van (2003): „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft – Zum Stellenwert der ökonomischen Theorie im Recht, Baden-Baden. Ariely, Dan (2010): Predictibly Irrational – the hidden forces that shape our decisions, New York. Becker, Gary Stanley (1993): Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen. Blum, Reinhard (1991): Die Zukunft des Homo oeconomicus, in: Bernd Biervert / Martin Held (Hrsg.), Das Menschenbild der ökonomischen Theorie – Zur Natur des Menschen, Frankfurt a. M. / New York , S. 111–131. Congdon, William J. / Kling, Jeffrey R. / Mullainathan, Sendhil (2011): Policy and Choice – Public finance through the lens of Behavioral Economics, Washington D.C. Crespo, Ricardo F. (2017): Economics and other Disciplines – Assessing New Economic Currents, London / New York. Dahrendorf, Ralf (1977): Homo sociologicus – Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Opladen. Dehling, Jochen / Schubert, Klaus (2011): Ökonomische Theorien der Politik, Wiesbaden. Dieckmann, Andreas / Sorge, Christoph (2016): Der homo oeconomicus. Ein Modellmensch für das Recht par excellence?, in: dies. (Hrsg.), Der homo oeconomicus in der Rechtsanwendung, Tübingen, S. 1–38.

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Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende aus ökonomischer Perspektive Von Walter Ried

I. Einführung Im März 2018 äußerte der zu diesem Zeitpunkt designierte Bundesminister für Gesundheit, Jens Spahn, in einem Interview1 die Ansicht, die gemeinhin mit „Hartz IV“ bezeichneten Leistungen würden zum Leben ausreichen. Insofern sei es nicht notwendig, ergänzende Leistungen etwa von sogenannten Tafeln in Anspruch zu nehmen, die Nahrungsmittel unentgeltlich oder gegen einen symbolischen Kostenbeitrag an Bedürftige ausgeben. Weiterhin behauptete Spahn, dass der Bezug von Leistungen nach „Hartz IV“ nicht Armut bedeute. Diese Aussagen lösten einmal mehr eine Debatte über die Grundsicherung für Arbeitsuchende aus, die einen wichtigen Zweig des Systems der Grundsicherung in Deutschland bildet. Im Zentrum stand dabei die Frage, inwiefern die betreffenden Leistungen, im Wesentlichen das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld, tatsächlich zur Finanzierung des Lebensunterhalts und einer angemessenen Teilhabe am Leben ausreichen. Dabei zeigte sich auch, dass weitere Aspekte wie etwa das Konzept des „Förderns und Forderns“ oder die Ausgestaltung von Sanktionen ganz unterschiedlich eingeschätzt werden. Tatsächlich ist die Grundsicherung für Arbeitsuchende, die einen wesent­ lichen Bestandteil der Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Schröder bildete, seit ihrer Einführung im Jahr 2005 umstritten gewesen. Zu den scharfen Kritikern zählt zum Beispiel Butterwegge, der „Hartz IV“ als „bedingungslose Kapitulation vor dem Neoliberalismus“2 und als eine „Demontage des […] Wohlfahrtsstaates“3 einstuft. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), hat vor kurzem gar die Abschaffung

1  Vgl. „Jens Spahn: Auch ohne die Tafel müsste niemand hungern“, www.waz. de / politik / spahn-auch-ohne-die-tafel-muesste-niemand-hungern-id213677259.html. 2  Butterwegge (2015), S. 139. 3  Butterwegge (2015), S. 139.

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von „Hartz IV“ zu Gunsten eines solidarischen Grundeinkommens gefordert.4 Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin, zentrale Elemente der Grundsicherung für Arbeitsuchende darzustellen und aus einer ökonomischen Perspektive zu analysieren. Im nächsten Kapitel wird dieser Zweig der Grundsicherung erläutert, indem die Sicherung des Lebensunterhalts und die Eingliederung in Arbeit als wesentliche Anwendungsbereiche näher vorgestellt werden. Das dritte Kapitel informiert über ökonomische Grundlagen der Armutsbekämpfung. Im vierten Kapitel werden ausgewählte Aspekte dieses Zweigs der Grundsicherung aus ökonomischer Perspektive analysiert. Abschließend erfolgt ein kurzes Fazit.

II. Grundsicherung für Arbeitsuchende Die Grundsicherung für Arbeitsuchende, für deren Durchführung die Jobcenter zuständig sind, ist im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) geregelt. Die ursprüngliche Fassung, die zum 1. Januar 2005 in Kraft trat, ist in der Zwischenzeit mehrfach modifiziert worden, ohne jedoch die Kernbestandteile zu ändern. Zu dieser Entwicklung hat auch die Rechtsprechung beigetragen, die im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung einzelner Regelungen entstanden ist. Im Folgenden werden die Grundzüge der Grundsicherung für Arbeitsuchende dargestellt, wobei diejenigen Aspekte hervorgehoben werden, die später Gegenstand der ökonomischen Analyse sind. 1. Zentrale Merkmale Die Grundsicherung für Arbeitsuchende verwendet einen haushaltsbezogenen Ansatz, da sie sich auf erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB) und diejenigen Personen bezieht, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dabei werden zwei Ziele verfolgt, die nicht unabhängig voneinander sind:5 Einerseits sollen erwerbsfähige Leistungsberechtigte bei ihren Bemühungen unterstützt werden, durch eine Erwerbstätigkeit nicht nur ihren eigenen, sondern auch den Lebensunterhalt der übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu sichern. Insoweit derartige Bemühungen nicht oder nur teilweise erfolgreich sind und die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ihren Lebensunterhalt auch nicht durch andere Mittel sichern können, soll die Grundsicherung für Arbeitsuchende andererseits diese Aufgabe übernehmen. 4  Vgl. „Müller: Das Geld ist da“, www.faz.net / aktuell / politik / inland / michael-muel ler-fuer-solidarisches-grundeinkommen-15522735.html. 5  Vgl. § 1 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) – Grundsicherung für Arbeitsuchende, Stand: 17.7.2017.



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Obwohl es noch weitere Gruppen von Leistungsberechtigten gibt, bilden ELB einen wichtigen Anknüpfungspunkt der Grundsicherung für Arbeit­ suchende.6 Nach § 7 Abs. 1 SGB II erfüllen diese Personen vier Kriterien: Erstens sind sie mindestens 15 Jahre alt und haben die für sie geltende Altersgrenze noch nicht erreicht.7 Zweitens sind sie erwerbsfähig und drittens auch hilfebedürftig. Viertens liegt ihr gewöhnlicher Aufenthaltsort in der Bundesrepublik. Als erwerbsfähig gilt eine Person, die nicht durch Krankheit oder Behinderung längerfristig daran gehindert wird, mindestens drei Stunden pro Tag erwerbstätig zu sein.8 Hilfebedürftig ist eine Person, wenn ihr Lebensunterhalt nicht vollständig aus eigenen Mitteln oder anderweitig gesichert werden kann, wobei die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft sowie die Leistungen anderer Sozialleistungsträger zu berücksichtigen sind.9 Der Begriff der Bedarfsgemeinschaft ist zentral für das Verständnis der Bemessung der Leistungen, welche die Grundsicherung für Arbeitsuchende zur Sicherung des Lebensunterhalts gewährt. Zu einer Bedarfsgemeinschaft gehört in jedem Fall ein ELB. Weitere Personen kommen hinzu, sofern sie mit diesem Leistungsberechtigten in einem Haushalt leben und zu einer der in § 7 Abs. 3 Nr. 2–4 SGB II abschließend aufgeführten Gruppen gehören. Wenn der ELB unverheiratet und unter 25 Jahren ist, können dies seine Eltern oder ein Elternteil sowie der zugehörige Partner sein. Ansonsten können der Ehegatte oder die Ehegattin des ELB zu berücksichtigen sein sowie schließlich die Kinder des ELB oder der weiteren Personen, wenn diese Kinder unter 25 Jahren sind und ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln sichern können. Im Ergebnis kann eine Bedarfsgemeinschaft somit nicht nur mehrere ELB, sondern auch nicht erwerbsfähige Personen umfassen.10 6  Im Dezember 2017 gab es knapp 5,98 Millionen Leistungsberechtigte, darunter knapp 4,25 Millionen ELB, was einem Anteil von etwa 71,1 % entspricht. Vgl. Bundesagentur für Arbeit (2018b), Tabelle 4.1. 7  Für die Geburtsjahrgänge ab 1964 gilt eine Altersgrenze von 67 Jahren. Für die Geburtsjahrgänge von 1947 bis 1963 steigt die Altersgrenze schrittweise von 65 auf 67 Jahre, wobei die Schritte zunächst jeweils einen Monat und für die Jahrgänge ab 1959 jeweils zwei Monate umfassen. 8  Vgl. dazu näher Bundesagentur für Arbeit (2016a), S. 1–3. 9  Vgl. dazu näher Bundesagentur für Arbeit (2014). Zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft vgl. Abschnitt II.2. 10  Von der Bedarfsgemeinschaft ist die konzeptionell weiter gefasste Haushalts­ gemeinschaft zu unterscheiden, zu der alle in einem Haushalt lebenden Personen rechnen. Die Abgrenzung der beiden Arten von Gemeinschaft ist wichtig für die gegenseitige Unterstützung, die die Mitglieder gegebenenfalls zur Sicherung des ­ Lebens­unterhalts zu leisten haben. Konkret sind die Regelungen zur Anrechnung von Einkommen für Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft deutlich restriktiver. Vgl. dazu Bundesagentur für Arbeit (2014), S. 8–12.

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Da die Grundsicherung für Arbeitsuchende über Steuern finanziert wird, hat die Gesellschaft ein Interesse daran, die zugehörigen Leistungen nicht unnötig hoch ausfallen zu lassen. Daraus erwächst die Pflicht des ELB sowie der übrigen Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft, im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Hilfebedürftigkeit zu beenden oder zu verringern sowie zur Sicherung des Lebensunterhalts beizutragen.11 Konkret sind Einkommen und Vermögen offenzulegen, um den Einsatz dieser Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu ermöglichen. Wenn dieser Pflicht nicht oder nicht vollständig nachgekommen wird, sind bereits erhaltene Zahlungen in entsprechendem Umfang zurückzuzahlen.12 Weiterhin sind die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nachrangig, das heißt andere Sozialleistungen, die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft beanspruchen können, sind zunächst einzusetzen.13 Für ELB wird der Grundsatz des Forderns ergänzt durch den Grundsatz des Förderns, dem zufolge das zuständige Jobcenter Leistungen zu erbringen hat, mit denen insbesondere die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gefördert oder erreicht werden kann. Andererseits haben ELB aktiv mitzuwirken bei Bemühungen, ihre Eingliederung in Arbeit zu erreichen. Dazu gehört auch die Pflicht, eine Tätigkeit aufzunehmen, sofern diese als zumutbar anzusehen ist. Insofern gilt der Grundsatz des Förderns und Forderns, der für die Beteiligten wechselseitige Rechte und Pflichten begründet. Wenn ELB ihren Pflichten nicht nachkommen, können Sanktionen angewendet werden, die sich im Wesentlichen auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen.14 Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Bezeichnung „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ nicht ganz passend erscheint, da nicht jedes Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft arbeitsuchend sein muss. Tatsächlich gibt es Bedarfsgemeinschaften, in denen gar kein Mitglied arbeitsuchend ist. Zunächst kommt es durchaus vor, dass ELB bereits erwerbstätig sind. Ferner 11  Vgl.

§ 2 SGB II. kurzem hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ein Ehepaar, das ein nennenswertes Vermögen verschwiegen hatte, zur Rückzahlung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Umfang von 175.000 Euro verurteilt, vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (2018). 13  Ein Beispiel stellt die Altersrente dar, die bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze zu beantragen ist, wenn eine vorzeitige Inanspruchnahme nicht als unbillig anzusehen ist. Für die Feststellung der Unbilligkeit, die auch bei Altersrenten ohne Abschlag vorliegen kann, gibt es feste Kriterien. Weitere vorrangige Sozialleistungen sind zum Beispiel das Wohngeld oder der Kinderzuschlag, soweit dadurch eine Hilfebedürftigkeit vermieden wird. Vgl. dazu näher Bundesagentur für Arbeit (2017b), S. 3–14. 14  Vgl. Abschnitt II.3. 12  Vor



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gibt es Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft, die gar nicht erwerbsfähig sind. Beide Konstellationen treten empirisch in nennenswertem Umfang auf, wie beispielsweise aktuelle Daten zur Grundsicherung für Arbeitsuchende belegen.15 2. Zahlungsansprüche der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft Das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld sind die zentralen Geldleistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zur Sicherung des Lebensunterhalts einer Bedarfsgemeinschaft.16 Im Folgenden wird die Ermittlung der zugehörigen Zahlungsansprüche in schematischer Form erläutert. Dabei geht es auch um die Frage, in welcher Weise Einkommen und Vermögen sowie ausgewählte Sozialleistungen zu berücksichtigen sind, um der erwähnten Pflicht zu genügen, derartige Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts einzusetzen. Die Leistungen sind von einem ELB zu beantragen. Im Regelfall werden sie für ein Jahr bewilligt und jeweils zu Beginn eines Monats an den Antragsteller ausgezahlt.17 Den Ausgangspunkt der Berechnung bilden die monatlichen Bedarfe zur Sicherung des Lebensunterhalts, die für die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft individuell ermittelt werden. Dabei sind mit dem Regelbedarf, den sogenannten Mehrbedarfen und den Bedarfen für Unterkunft und Heizung grundsätzlich drei Komponenten zu berücksichtigen.18 Im Folgenden werden diese Bedarfe kurz beschrieben. In Abschnitt IV.1. erfolgt eine nähere Untersuchung der Bemessung und Ermittlung der Regelbedarfe.19 Regelbedarfe erfassen auf der Grundlage empirischer Verbrauchsdaten in pauschalierter Form die Ausgaben, die zur Sicherung des physischen Existenzminimums sowie einer gewissen Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben als erforderlich angesehen werden.20 Dabei unterscheidet man sechs z. B. Bundesagentur für Arbeit (2018c), S. 10–12. werden Zuschüsse zu Kranken- und Pflegeversicherung geleistet, soweit diese nicht durch ELB im Rahmen einer Erwerbstätigkeit getragen werden. Vgl. § 26 SGB II sowie Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017), S. 49. 17  Da die Leistungen für die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft individuell ermittelt werden, kann die Zahlung der betreffenden Leistungen auf Antrag auch an Teilmengen von Mitgliedern erfolgen. 18  Daneben gibt es noch separat zu beantragende Einmalbedarfe, etwa im Zusammenhang mit der Erstausstattung einer Wohnung. 19  Weiterhin kann ein Bedarf an Bildung und Teilhabe zu berücksichtigen sein, der Kinder und Jugendlichen eine angemessene Teilhabe am Leben ermöglichen soll. Dabei kann es sich beispielsweise um Aufwendungen für Lernmittel oder Lernförderung handeln, vgl. § 28 SGB II. 20  Vgl. § 20 SGB II. 15  Vgl.

16  Weiterhin

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Stufen, jeweils drei für erwachsene Personen und für minderjährige Kinder.21 Diese berücksichtigen den Haushaltskontext oder das Alter der betreffenden Personen. Im Jahr 2018 beträgt der Regelsatz Stufe 1, der für Alleinstehende oder Alleinerziehende gilt, 416 Euro, wohingegen für Partner jeweils der Regelsatz Stufe 2 anzusetzen ist, der mit 374 Euro geringer ausfällt. Während dieser Unterschied Vorteile aus dem gemeinsamen Wirtschaften abbilden soll, sollen die unterschiedlichen Regelsätze für Kinder altersbedingte Bedarfsunterschiede erfassen: Im Jahr 2018 beträgt der Regelsatz Stufe 4, der für Kinder im Alter von 14 bis 17 Jahren gilt, 316 Euro, während der Regelsatz Stufe 6 (Kinder im Alter von 0 bis 5 Jahren) mit 240 Euro geringer ausfällt. Bei einzelnen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft können Bedarfe vorliegen, die nicht durch die Regelbedarfe abgedeckt sind und dennoch regelmäßig auftreten. Wenn jeweils die entsprechende Voraussetzung gemäß § 21 SGB II erfüllt ist, kann ein Mehrbedarf anerkannt werden.22 Dabei ist die Höhe häufig als Anteil am Regelsatz des betreffenden Mitglieds festgelegt, wobei die Summe der Mehrbedarfe den Regelsatz nicht übersteigen darf. Bei Alleinerziehenden wird ein Mehrbedarf anerkannt, dessen Höhe unter anderem von der Anzahl der Kinder abhängt und maximal 60 Prozent des Regelbedarfs Stufe 1 beträgt. Zu den weiteren Voraussetzungen, die einen Mehrbedarf begründen können, gehört beispielsweise eine kostenaufwändige Ernährung, wenn diese bei einer Person aus medizinischen Gründen notwendig ist. In diesem Fall besteht lediglich die Vorgabe, den Mehrbedarf angemessen festzusetzen. Der Bedarf an Unterkunft und Heizung wird regional festgelegt in Höhe der tatsächlichen Kosten, soweit diese als angemessen anzusehen sind.23 Die Angemessenheit wird, wenn die Bedarfsgemeinschaft zur Miete wohnt, im Wesentlichen anhand der Wohnfläche und der Miethöhe beurteilt. Während für die Prüfung der Wohnfläche bundesweit gültige Vorgaben existieren, ist zur Einschätzung der Miete der regionale Vergleich, etwa anhand des Mietspiegels, relevant. Falls ein Leistungsberechtigter Eigentümer einer Immobilie ist, die er selbst bewohnt, wird die Angemessenheit primär anhand der Wohnfläche beurteilt. Als Bedarf werden die tatsächlichen Aufwendungen für Belastungen berücksichtigt, soweit diese angemessen sind und insbesondere den Bedarf eines vergleichbaren Mieters nicht übersteigen.

21  Vgl. § 8 Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz – RBEG), Ausfertigungsdatum: 22.12.2016. 22  Vgl. § 21 Absätze 2–7 SGB II. 23  Vgl. § 22 SGB II.



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Die Summe der genannten Bedarfe liefert für jedes Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft den Gesamtregelleistungsbedarf.24 Um die zugehörigen Zahlungsansprüche zu erhalten, sind zunächst eigene Mittel der Mitglieder sowie Zuflüsse aus anderen Sozialleistungen zu berücksichtigen. Wie Abbildung 1 veranschaulicht, werden in diesem Zusammenhang mehrere Arten von Einkommen unterschieden. zu berücksichtigendes Einkommen verfügbares Einkommen anrechenbares Einkommen

privilegiertes Einkommen

Steuer / Sozial­ versicherung

Absetzung /  Freibetrag

Abbildung 1: Anrechnung von Einkommen im SGB II25

Das SGB II verwendet einen weiten Einkommensbegriff, der grundsätzlich alle Einnahmen einer Bedarfsgemeinschaft umfasst. Während es sich dabei ganz überwiegend um monetäre Einnahmen handelt, sind Zuflüsse in anderer Form, etwa im Rahmen einer Erwerbstätigkeit, in Geldeswert grundsätzlich ebenfalls zu berücksichtigen. Allerdings gibt es Ausnahmen: Neben den Leistungen nach dem SGB II sind auch einige andere Zuflüsse nicht zu berücksichtigen. Dies gilt beispielsweise für Einnahmen eines Kindes unter 15 Jahren, soweit diese 100 Euro monatlich nicht überschreiten, oder generell für Einnahmen, die nicht höher als 10 Euro pro Monat ausfallen, oder auch für Einnahmen aus Kapitalerträgen, wenn sie nicht mehr als 100 Euro pro Jahr betragen.26 Das verfügbare ergibt sich aus dem zu berücksichtigenden Einkommen, indem geleistete Steuern und Sozialbeiträge herausgerechnet werden. Dies betrifft im Wesentlichen ELB, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen und daraus ein Einkommen erzielen, das der Besteuerung und der Verbeitragung in der Sozialversicherung unterliegt. Die betreffenden Absetzbeträge sind zwar im Bruttoeinkommen des Mitglieds enthalten, gehören jedoch nicht zu seinem verfügbaren Einkommen. Schließlich ergibt sich das anrechenbare Einkommen eines Mitglieds, indem man weitere Absetzbeträge berücksichtigt. Dazu gehören Beiträge zu Versicherungen, die gesetzlich vorgeschrieben oder als angemessen anzusehen sind. Ein weiteres Beispiel sind Beiträge zu einer Riester-Rente, soweit Bundesagentur für Arbeit (2014), z. B. S. 17. Bundesagentur für Arbeit (2018e). 26  Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017), S. 43–44. 24  Vgl. 25  Vgl.

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der zur Erlangung der vollen staatlichen Förderung notwendige Mindest­ eigenbeitrag nicht überschritten wird. Für erwerbstätige ELB gelten besondere Regelungen: Für die genannten Beiträge können sie einen Grundabsetzungsbetrag von 100 Euro pro Monat ansetzen, der pauschal die Beiträge zu den Versicherungen sowie bestimmte weitere Aufwendungen abdeckt.27 Falls das monatliche Einkommen aus Erwerbstätigkeit über 400 Euro liegt, können alternativ die tatsächlichen Aufwendungen geltend gemacht werden. Ferner gibt es einen weiteren Absetzbetrag für Einkommen zwischen 100 und 1.000 Euro, der jeweils 20 Prozent des 100 Euro übersteigenden Teils beträgt. Der zusätzliche Absetzbetrag beträgt 10 Prozent für Einkommen zwischen 1.000 und 1.200 Euro.28 Die Summe der anrechenbaren Einkommen wird auf die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft nach der Bedarfsanteilsmethode und damit horizontal verteilt, um die angerechneten Einkommen zu erhalten.29 Einkommen, die den eigenen Bedarf übersteigen, werden somit zur Deckung der Bedarfe anderer Mitglieder eingesetzt. Eine Ausnahme gilt für Kinder, bei denen aufgrund einer vertikalen Anrechnung Einkommen grundsätzlich nur auf den eigenen Bedarf anzurechnen sind.30 Bei einer Bedarfsgemeinschaft mit Kindern kann somit die Summe der anrechenbaren Einkommen höher ausfallen als die Summe der angerechneten Einkommen. Falls keine Kinder vorhanden sind, müssen allerdings beide Summen übereinstimmen. Die Leistungsansprüche der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft ergeben sich jeweils als Saldo aus dem Gesamtregelleistungsbedarf und dem angerechneten Einkommen.31 Der Zahlungsanspruch eines Mitglieds entspricht seinem Leistungsanspruch abzüglich eventueller Sanktionen. Eine Sanktion wirkt sich also nur auf den Zahlungsanspruch des betreffenden Mitglieds aus. Ohne Sanktion fallen Leistungs- und Zahlungsanspruch identisch aus. In Bezug auf die Gesamtregelleistung bezeichnet man den Zahlungsanspruch eines ELB als Arbeitslosengeld II, den Zahlungsanspruch eines nicht erwerbsfähigen Mitglieds einer Bedarfsgemeinschaft hingegen als Sozialgeld. Angerechnetes Einkommen ist zunächst zur Deckung des Regelbedarfs und eventueller Mehrbedarfe einzusetzen und erst dann zur Deckung des Bundesagentur für Arbeit (2016b), S. 46. ELB mit mindestens einem minderjährigen Kind erhöht sich diese Grenze auf 1.500 Euro, vgl. § 11b Absatz 3 SGB II. 29  Das bei einem Mitglied angerechnete Einkommen ergibt sich, indem man seinen Anteil an der Summe der Gesamtregelleistungsbedarfe der Bedarfsgemeinschaft auf die insgesamt anrechenbaren Einkommen anwendet. 30  Überschüssiges Kindergeld ist allerdings zur Deckung der Bedarfe anderer Mitglieder einzusetzen. 31  Der Leistungsanspruch beträgt Null, wenn das angerechnete Einkommen den Gesamtbedarf übersteigt. 27  Vgl. 28  Für



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Bedarfs für Unterkunft und Heizung. Diese Rangfolge der Bedarfsarten bewirkt, dass ein positiver Zahlungsanspruch zumindest eine Leistung für ­Unterkunft und Heizung impliziert. Wenn der Zahlungsanspruch den zugehörigen Bedarf übersteigt, fällt weiterhin eine Leistung für Regel- und Mehrbedarfe an. Während die Kosten für Unterkunft und Heizung von den Kommunen zu tragen sind, ist die Bundesagentur für Arbeit und mit ihr der Bund zuständig für die Kosten für Regel- und Mehrbedarfe. Das Haushaltsbudget einer Bedarfsgemeinschaft, also die dieser Gemeinschaft insgesamt zur Verfügung stehenden Mittel, ergibt sich als Summe der verfügbaren Einkommen ihrer Mitglieder und deren Zahlungsansprüchen in Bezug auf die Gesamtregelleistungsbedarfe.32 Sofern keine Sanktionen wirksam sind, entspricht das Haushaltsbudget zugleich der Summe aus den Gesamtregelleistungsbedarfen der Bedarfsgemeinschaft und den Absetzungen oder Freibeträgen, die ihre Mitglieder in Anspruch genommen haben. Die Anrechnung von Einkommen bewirkt somit, dass die verfügbaren Einkommen der Mitglieder das Haushaltsbudget einer Bedarfsgemeinschaft nur im Umfang der Absetzungen oder Freibeträge erhöhen.33 Nach den Prinzipien der Grundsicherung für Arbeitsuchende haben die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich auch eigenes Vermögen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts einzusetzen. Allerdings gibt es Ausnahmen, die dazu führen, dass bestimmte Teile des Vermögens nicht herangezogen werden.34 Grundsätzlich sind nur Vermögensgegenstände zu berücksichtigen, die verwertbar sind, also für die Sicherung des Lebensunterhalts entweder direkt oder mit ihrem Geldwert genutzt werden können. Trotz Verwertbarkeit nicht zu berücksichtigen sind beispielsweise ein angemessener Hausrat und ein angemessenes Kraftfahrzeug für einen ELB. Das gilt auch für eine selbst genutzte Immobilie, insoweit die Wohnfläche als angemessen einzustufen ist.35 Ferner sind Vermögensgegenstände, deren Verwertung unwirtschaftlich wäre oder eine besondere Härte für den Eigentümer bedeuten würde, ebenfalls nicht zu berücksichtigen.36 Bundesagentur für Arbeit (2018d), S.  18 f. folgt aus Abbildung 1, dass das tatsächliche Haushaltsbudget noch um die privilegierten Einkommen höher ausfällt. Diese berücksichtigt die Statistik jedoch nicht, so dass sich die empirischen Daten zu den verfügbaren Einkommen von Bedarfsgemeinschaften auf die im Text definierten Haushaltsbudgets beziehen. 34  Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017), S. 47–49. 35  Tatsächlich kann die Angemessenheit auch dann noch vorliegen, wenn die Wohnfläche der Immobilie die maximal zulässige Fläche um nicht mehr als 10 % übersteigt, vgl. Bundessozialgericht, Urteil v. 24.05.2017, B 14 AS 16 / 16R, Nr. 24 ff. 36  Zur Auswertung dieser Gründe am Beispiel einer selbst genutzten Immobilie vgl. Bundessozialgericht, Urteil v. 24.5.2017, B  14  AS  16 / 16R, Nr. 21–22 sowie Nr. 30–31. 32  Vgl.

33  Genauer

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Für das zu berücksichtigende Vermögen gelten Freibeträge. Zunächst gibt es einen Grundfreibetrag, der bei volljährigen Mitgliedern einer Bedarfs­ gemeinschaft mindestens 3.100 Euro beträgt und mit dem Alter bis zu einem Höchstbetrag von 9.750 Euro steigt, während bei minderjährigen Mitgliedern jeweils 3.100 Euro anzusetzen sind. Daneben bestehen weitere Freibeträge, die sich auf die Altersvorsorge beziehen und in der Höhe begrenzt sind. Schließlich ist noch ein Freibetrag für notwendige Anschaffungen zu berücksichtigen, der 750 Euro für jedes leistungsberechtigte Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft beträgt. Im Ergebnis gilt damit für jedes Mitglied eine Obergrenze für dasjenige Vermögen, das grundsätzlich nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts einzusetzen ist und deshalb auch als Schonvermögen bezeichnet wird.37 3. Eingliederung in Arbeit Ein wesentliches Ziel der Grundsicherung für Arbeit bildet die Verringerung oder Beendigung der Hilfebedürftigkeit von Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft. Maßnahmen zur Umsetzung dieses Ziels setzen beinahe ausschließlich bei ELB an, die in ihren Bemühungen unterstützt werden sollen, zumindest mittelfristig überhaupt ein Einkommen oder ein höheres Einkommen aus Erwerbstätigkeit zu erzielen. Die Eingliederung in Arbeit umfasst ein Bündel von Leistungen, die nicht nur auf die unmittelbare Aufnahme einer Tätigkeit, sondern auch auf die Aufnahme einer Ausbildung oder den Wechsel in eine höher entlohnte Tätigkeit gerichtet sind. Aus diesen Leistungen und der damit verbundenen Beratung, die Ausdruck des Grundsatzes des Förderns sind, erwachsen verschiedene Pflichten für die Leistungsempfänger, die wiederum den Grundsatz des Forderns verdeutlichen. Wenn ELB ihren Pflichten nicht nachkommen, können Sanktionen angewendet werden, die sich auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit sind nach der Beantragung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende sofort zu erbringen.38 Die Grundlage für das weitere Vorgehen bildet eine von der Agentur für Arbeit zu erstellende Potenzialanalyse,39 mit der die für eine Eingliederung des ELB wesentlichen Informationen, beispielsweise zu seinen beruflichen Fähigkeiten, erhoben werden. Bei der Auswahl von Maßnahmen sind bestimmte Kriterien, etwa die Eignung des ELB oder auch die Dauerhaftigkeit der Ein37  Im Falle von Sanktionen können insbesondere ELB gezwungen sein, auch Teile ihres Schonvermögens einzusetzen, vgl. Bundesagentur für Arbeit (2017a), S. 18. 38  Vgl. § 3 Absatz 2 SGB II. 39  Vgl. § 15 Absatz 1 SGB II.



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gliederung, zu berücksichtigen.40 Mit dieser am individuellen Fall orientierten Vorgehensweise soll erreicht werden, dass die Hilfebedürftigkeit unmittelbar verringert oder zumindest die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht wird. Eine zentrale Aufgabe der Jobcenter bildet die Vermittlung von Arbeitsstellen und Ausbildungsstellen, wobei darunter alle Tätigkeiten fallen, die dazu dienen können, ein Arbeits- oder ein Ausbildungsverhältnis zu begründen. Die entsprechenden Leistungen können sich auf die Anbahnung oder die Aufnahme derartiger Verhältnisse beziehen. Neben diesen Pflichtleistungen umfasst die Eingliederung in Arbeit weitere Leistungen, bei denen die Anwendung und der Umfang in das Ermessen der Behörde gestellt sind. ELB haben somit keinen Anspruch auf die zugehörigen Leistungen, wohl aber auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens.41 Insgesamt orientieren sich die Leistungen an den entsprechenden Leistungen des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB III), auf das in § 16 SGB II mehrfach verwiesen wird.42 Die Chancen für eine Eingliederung in Arbeit hängen maßgeblich davon ab, ob die Leistungen individuell auf den ELB zugeschnitten sind und dieser geeignete Bemühungen entfaltet, um seine Vermittlung in Arbeit oder Ausbildung zu unterstützen. Als Ergebnis der individuellen Betreuung und Beratung sollen deshalb Jobcenter und ELB grundsätzlich eine Eingliederungsvereinbarung abschließen. Diese stellt einen öffentlich-rechtlichen Vertrag dar und enthält konkret vereinbarte wechselseitige Leistungen und Pflichten. Die vorgesehenen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit sind aus einer Integrationsstrategie abzuleiten, die wiederum auf der oben erwähnten Potenzialanalyse beruht.43 In Bezug auf den ELB enthält die Vereinbarung Angaben zum Umfang eigener Bemühungen, die er zur Unterstützung seiner Eingliederung zu unternehmen hat: In der Regel werden eine Untergrenze für deren ­Häufigkeit sowie eine Pflicht zum Nachweis vorgegeben. Sofern dem ELB Kosten aufgrund seiner Bemühungen entstehen, ist eine darauf abstellende Kostenerstattungsregelung in die Vereinbarung aufzunehmen.44

40  Vgl.

§ 3 Absatz 1 SGB II. Bundesagentur für Arbeit (2018a), S. 5. 42  Die Leistungsumfänge sind jedoch nicht identisch, da die Leistungen des SGB II zur Eingliederung in Arbeit einerseits enger gefasst sind, andererseits aber auch weitere Leistungen vorsehen, wie beispielsweise für die Anbahnung und Aufnahme einer schulischen Ausbildung nach § 16 Absatz 3 SGB II. 43  Die Leistungen des Jobcenters sind auf den Einzelfall bezogen zu formulieren und müssen eine angemessene Gegenleistung der Bemühungen des ELB darstellen, vgl. Bundessozialgericht, Urteil v. 23.6.2016, B 14 AS 30 / 15R, Nr. 18–21. 44  Vgl. dazu z. B. Bundessozialgericht, Urteil v. 23.6.2016, B  14  AS  30 / 15R, Nr. 23. 41  Vgl.

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Die Eingliederung in Arbeit stellt einen Prozess dar, in dessen Verlauf Änderungen eintreten oder neue Erkenntnisse gewonnen werden können, die sich auf die Erfolgsaussichten der vereinbarten Leistungen und Pflichten beziehen. Deshalb soll spätestens nach sechs Monaten geprüft werden, ob eine Anpassung erforderlich ist, die dann bei der Fortschreibung dieser Vereinbarung zu berücksichtigen wäre. Falls eine Eingliederungsvereinbarung oder die Fortschreibung einer solchen Vereinbarung nicht zustande kommt, soll mit dem ersetzenden Verwaltungsakt ein Instrument eingesetzt werden, das im Wesentlichen dieselben Inhalte vorsieht. Insbesondere sind die Leistungen und Pflichten gleichfalls individuell auf den ELB abzustimmen und konkret zu benennen.45 ELB haben Pflichten zu erfüllen, die sich auf ihren Beitrag zu den Zielen der Grundsicherung für Arbeit beziehen. Um deren Einhaltung zu gewährleisten, sind für den Fall von Pflichtverletzungen Sanktionen vorgesehen. Eine Pflichtverletzung liegt insbesondere dann vor, wenn ein ELB durch sein Verhalten ohne wichtigen Grund und in Kenntnis der Rechtsfolgen die Eingliederung in Arbeit behindert oder sogar verhindert. Dies ist etwa der Fall, wenn in der Eingliederungsvereinbarung festgelegte eigene Bemühungen nicht in ausreichendem Umfang unternommen oder nachgewiesen werden. Ein weiteres Beispiel stellt die Weigerung dar, eine zumutbare Arbeit oder Ausbildung aufzunehmen oder fortzuführen.46 Schließlich liegt eine Pflichtverletzung vor, wenn ein ELB eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antritt oder fortführt. Wenn ein ELB eine Pflicht verletzt, werden Sanktionen angewendet, die eine Kürzung oder sogar den Wegfall des Arbeitslosengeldes II vorsehen. Bei ELB, die das 25. Lebensjahr vollendet haben, führt eine Pflichtverletzung zunächst zu einer Kürzung des für diese Person maßgeblichen Regelbedarfs um 30 Prozent, das heißt der individuelle Zahlungsanspruch verringert sich 45  Vgl.

Bundessozialgericht, Urteil v. 23.6.2016, B 14 AS 42 / 15R, Nr. 21–22. SGB II verwendet einen weit gefassten Zumutbarkeitsbegriff, um die Eingliederung in Arbeit zu erleichtern. Grundsätzlich gilt jede Arbeit als zumutbar, falls nicht wichtige Gründe vorliegen, die der Zumutbarkeit entgegenstehen. Ein derartiger Grund kann dauerhaft bestehen – etwa, wenn ein ELB eine Arbeit körperlich, geistig oder seelisch nicht ausüben kann – oder vorübergehend – etwa, wenn die Erziehung eines Kindes unter drei Jahren ansonsten nicht sichergestellt ist und die Ausübung der betreffenden Arbeit verhindert. Die Tatsache, dass eine Arbeit nicht der früher ausgeübten Tätigkeit entspricht oder mit Blick auf die Ausbildung des ELB als geringerwertig einzustufen ist, verhindert allein die Zumutbarkeit nicht. Dieser Zumutbarkeitsbegriff gilt auch für andere Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit. In Bezug auf Ausbildungen, die ein ELB aufzunehmen hat, wird die Zumutbarkeit allerdings enger gefasst, da die Interessen des ELB und das Grundrecht auf freie Berufswahl zu berücksichtigen sind, vgl. Bundesagentur für Arbeit (2017a), S. 2. 46  Das



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um diesen Betrag.47 Der Minderungszeitraum beträgt grundsätzlich drei Monate und beginnt mit dem Monat, der auf den Zugang des Sanktionsbescheids beim ELB folgt.48 Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt vor, wenn diese im Zeitraum erfolgt nach dem Zugang des Sanktionsbescheids für die vorangegangene Verletzung und vor Ablauf eines Jahres seit Beginn des zugehörigen Minderungszeitraums. Bei einer ersten wiederholten Pflichtverletzung wird das Arbeitslosengeld II um 60 Prozent des maßgeblichen Regelsatzes gekürzt, während jede weitere Verletzung zum vollständigen Wegfall dieser Geldleistung führt.49 Im Falle einer besonders harten Sanktion besteht die Möglichkeit, deren Wirkung zu begrenzen, wobei diese Entscheidung in das Ermessen des zuständigen Trägers gestellt ist. Wenn ein ELB sich nach einer erneuten wiederholten Pflichtverletzung nachträglich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen, kann der vollständige Wegfall des Arbeitslosengelds II in eine Kürzung in Höhe von 60 Prozent des maßgeblichen Regelsatzes umgewandelt werden. Ebenso können im Falle einer Kürzung des Arbeitslosengelds II, die mehr als 30 Prozent des maßgeblichen Regelsatzes beträgt, ergänzende Sachleistungen in angemessenem Umfang erbracht werden.50 Sofern im Haushalt des ELB minderjährige Kinder leben, gilt strenger, dass derartige Leistungen durch den Träger zu erbringen sind. Für ELB unter 25 Jahren gelten spezifische Regelungen für den Umfang der Minderung und den Minderungszeitraum. Zunächst führt eine erste Pflichtverletzung dazu, dass die Zahlungen für Regel- und Mehrbedarfe entfallen und das Arbeitslosengeld II somit nur noch den Leistungsanspruch für Unterkunft und Heizung umfasst.51 Ferner bewirkt eine wiederholte Pflichtverletzung den vollständigen Wegfall des Arbeitslosengelds II. Wenn der 47  Wenn bei einem ELB Einkommen angerechnet wird, kann die Kürzung dazu führen, dass der Zahlungsanspruch für den Regelbedarf ganz wegfällt und ggf. auch den Zahlungsanspruch für Unterkunft und Heizung verringern. 48  In dem Sanktionsbescheid ist auf die Folgen einer erneuten Pflichtverletzung hinzuweisen, vgl. Bundesagentur für Arbeit (2017a), S. 4. 49  Zu beachten ist, dass für die Feststellung einer erneuten wiederholten Pflichtverletzung nur der für die vorangegangene Verletzung gültige Zeitraum relevant ist. Wenn also bei einem ELB eine Pflichtverletzung festgestellt wird innerhalb eines Jahres seit Beginn des Zeitraums für eine Minderung seines Arbeitslosengelds II in Höhe von 60 % seines Regelsatzes, ist diese mit dem völligen Wegfall dieser Geldleistung für drei Monate zu sanktionieren – unabhängig davon, wann die erste Pflichtverletzung stattgefunden hat. 50  Vgl. dazu Bundesagentur für Arbeit (2017a), S. 14–19. 51  Diese Regelung erscheint schärfer als die entsprechende Regelung für ELB, die das 25. Lebensjahr bereits vollendet haben. Allerdings kann aufgrund der vertikalen Einkommensanrechnung die Zahlung für diese Bedarfe Null betragen, so dass die Sanktion zu keiner finanziellen Einbuße führt. Der zugehörige Sanktionsbescheid ist

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ELB nachträglich erklärt, seinen Pflichten wieder nachkommen zu wollen, können die Leistungen für Unterkunft und Heizung ab diesem Zeitpunkt wieder gewährt werden. Schließlich beträgt der Minderungszeitraum grundsätzlich drei Monate, kann aber auf sechs Wochen verkürzt werden. Beide Entscheidungen sind in das Ermessen des für die Leistungen zuständigen Trägers gestellt, der dabei alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen hat. Eine letzte Form von Sanktionen betrifft sogenannte Meldeversäumnisse. Ein Meldeversäumnis liegt beispielsweise vor, wenn ein ELB ohne wichtigen Grund der Aufforderung zur persönlichen Meldung bei der Agentur für Arbeit nicht nachkommt.52 Eine solche Aufforderung kann etwa im Rahmen der Vermittlung in Arbeit oder Ausbildung erfolgen. Da persönliche Gespräche einen wichtigen Bestandteil des Prozesses zur Eingliederung in Arbeit darstellen, wird ein Meldeversäumnis mit einer Sanktion belegt: Das Arbeits­ losengeld II ist um 10 Prozent des maßgeblichen Regelsatzes zu kürzen, wobei der Minderungszeitraum grundsätzlich drei Monate beträgt. Minderungen aufgrund von Meldeversäumnissen treten zu Minderungen aufgrund von Pflichtverletzungen hinzu: Beispielsweise erfolgt eine Kürzung um 40 Prozent des maßgeblichen Regelsatzes, wenn bei einem ELB ein Meldeversäumnis und eine erste Verletzung seiner Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung gleichzeitig vorliegen. Für ELB unter 25 Jahren gilt die besondere Regelung, dass der Minderungszeitraum aufgrund eines Meldeversäumnisses auf sechs Wochen verkürzt werden kann.

III. Ökonomische Grundlagen 1. Relevante Einkommensbegriffe Zur Erfassung der Mittel, die eine Person regelmäßig zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts verwenden kann, könnte man ihr verfügbares Einkommen heranziehen. Aus dem verfügbaren Einkommen oder Nettoeinkommen ist grundsätzlich der Konsum oder gegebenenfalls die Bildung von Ersparnissen zu finanzieren. Allerdings werden damit die Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht korrekt beschrieben, wenn eine Person mit anderen Personen in einem Haushalt gemeinsam wirtschaftet, also beispielsweise eine Küche oder auch sanitäre Einrichtungen gemeinschaftlich genutzt werden. dennoch zuzustellen, da weitere Sanktionen ohne den Hinweis auf die Folgen einer erneuten Pflichtverletzung nicht greifen können. 52  Vgl. § 59 SGB II sowie § 309 Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch (III) – Arbeitsförderung, Stand: 17.7.2017.



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Das gemeinsame Wirtschaften bewirkt Vorteile, die mit dem Nettoäquivalenzeinkommen erfasst werden können. Dazu werden den Mitgliedern eines Haushalts Äquivalenzzahlen zugeordnet, wobei eine allein lebende Person die Zahl 1,0 erhält. In Mehrpersonenhaushalten wird genau einer erwachsenen Person die Zahl 1,0 zugeordnet, während weitere Mitglieder des Haushalts positive Zahlen erhalten, die kleiner als 1,0 sind. Das Nettoäquivalenzeinkommen eines jeden Mitglieds ergibt sich, indem das Nettoeinkommen des Haushalts durch die zugehörige Haushaltsäquivalenzzahl, das heißt die Summe aller Äquivalenzzahlen für dessen Mitglieder dividiert wird. In Mehrpersonenhaushalten fällt das Nettoäquivalenzeinkommen größer aus als das Nettoeinkommen pro Kopf. Zur Ermittlung des Nettoäquivalenzeinkommens gibt es verschiedene Haushaltsäquivalenzskalen. Die häufig verwendete modifizierte OECDSkala ordnet jedem weiteren Mitglied eines Haushalts, das mindestens 14 Jahre alt ist, die Äquivalenzzahl 0,5 zu, während Personen unter 14 Jahren die Äquivalenzzahl 0,3 erhalten. Somit berücksichtigt diese Skala nicht nur Vorteile aus dem gemeinsamen Wirtschaften, sondern auch altersbedingte Bedarfs­unterschiede. Die Unterschiede zwischen dem Nettoeinkommen pro Kopf und dem Nettoäquivalenzeinkommen können erheblich sein, wie das Beispiel einer Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren zeigt, die über ein jährliches Nettoeinkommen von 42.000 Euro verfügt: Das Nettoeinkommen pro Kopf beträgt 10.500 Euro, während das Nettoäquivalenzeinkommen mit 20.000 Euro deutlich größer ausfällt. Die Berechtigung des Nettoäquivalenzeinkommens beruht auf der Einsicht, dass Einsparungen von Ausgaben, die in Mehrpersonenhaushalten bei der Finanzierung des Lebensunterhalts auftreten, als Einkommensbestandteile anzusehen sind. Das Finaleinkommen berücksichtigt zusätzlich noch eingesparte Ausgaben, die darauf zurückzuführen sind, dass Leistungen unentgeltlich oder zu wirtschaftlich nicht signifikanten Preisen in Anspruch genommen werden.53 Diese Leistungen werden entweder durch den Staat oder durch private Anbieter bereitgestellt. Das Finaleinkommen eines Individuums ergibt sich als Summe aus seinem Nettoäquivalenzeinkommen und den zusätzlich eingesparten Ausgaben. Dabei sind zwei Gruppen von Leistungen zu berücksichtigen, bei denen derartige Einsparungen auftreten können. Eine erste Gruppe bilden soziale Sachleistungen, die in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in aggregierter Form, das heißt für die privaten Haushalte insgesamt, ausgewiesen werden.54 Dabei handelt es sich um 53  Ein wirtschaftlich nicht signifikanter Preis liegt vor, wenn der Preis deutlich, d. h. um mindestens 50 %, unter den Herstellungskosten liegt. 54  Vgl. z. B. Schwahn / Schwarz (2015), S. 28–30.

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Leistungen, die jeweils dem Konsum einer Person dienen, ohne dass andere Individuen dadurch einen erheblichen Nutzen erzielen.55 In Deutschland werden soziale Sachleistungen vor allem im Bildungs- und im Gesundheitswesen bereitgestellt. Da die Zahlung für die Krankenversicherung das Nettoeinkommen und damit auch das Nettoäquivalenzeinkommen verringert, wäre es zur vollständigen Erfassung sinnvoll, auch die zugehörigen Leistungen zu berücksichtigen. Dazu könnte man den durchschnittlichen Aufwand der Krankenversicherung, beispielsweise in Abhängigkeit vom Alter, heranziehen. Die empirische Umsetzung auf der Ebene einzelner Individuen stößt derzeit allerdings noch auf Probleme, die unter anderem auf fehlenden Daten beruhen.56 Eine zweite Gruppe wird durch Leistungen gebildet, die grundsätzlich zu Marktpreisen, für bestimmte Bevölkerungsteile jedoch unentgeltlich oder zu stark verringerten Preisen angeboten werden. Wie die ökonomische Analyse in Abschnitt IV.2. zeigen wird, ist diese Möglichkeit zur Einsparung von Konsumausgaben in Deutschland für Empfänger von Leistungen der Grundsicherung von einiger Bedeutung. Als Beispiel mögen an dieser Stelle die eingangs erwähnten Tafeln genügen. Die Einsparungen aufgrund der Inanspruchnahme derartiger Leistungen ergeben sich als Saldo aus den Ausgaben, die bei regulären Preisen angefallen wären, und den tatsächlichen Ausgaben. In konzeptioneller Hinsicht ist die Berücksichtigung weiterer eingesparter Ausgaben gegenüber dem Nettoäquivalenzeinkommen und mit ihr die Relevanz des Finaleinkommens unstrittig. Allerdings kann die Höhe der betreffenden Wohlfahrtseffekte empirisch nicht eindeutig bestimmt werden. Das liegt daran, dass der tatsächliche Wohlfahrtseffekt in aller Regel geringer ausfällt als die Einsparungen von Ausgaben.57 2. Armut Armut wird heute als mehrdimensionales Konzept verstanden, das neben einer materiellen Komponente noch weitere Aspekte umfasst, die sich auf die Schwahn / Schwarz (2015), S. 29. Schwahn / Schwarz (2015), S. 32–34. Allerdings zeigt eine neuere USamerikanische Arbeit, dass die Berücksichtigung der unentgeltlichen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bei den individuellen Einkommen erhebliche Auswirkungen auf die Verteilung hat, da sich die Ungleichheit dadurch deutlich verringert, vgl. Kaestner / Lubotsky (2016), S. 61–66. 57  Das Individuum erzielt die Einsparungen nur, indem es vergünstigt angebotene Güter und Dienstleistungen in Anspruch nimmt. Im Gegensatz dazu könnte ein entsprechender Einkommensbetrag frei verwendet werden, was in der Regel höher bewertet wird. 55  Vgl. 56  Vgl.



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Teilhabe eines Individuums am Leben in der Gesellschaft beziehen. In ihren Armuts- und Reichtumsberichten verwendet die Bundesregierung eine Definition, der zufolge Armut vorliegt, wenn ein Individuum in materieller, kultureller und sozialer Hinsicht über so geringe Mittel verfügt, dass es von einer Lebensweise ausgeschlossen ist, die in der Gesellschaft als gerade noch akzeptabel angesehen wird.58 Neben der Sicherung des physischen Existenzminimums wird damit zusätzlich ein Mindestmaß an Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben berücksichtigt.59 Ein Individuum ist als arm einzustufen, wenn es aufgrund eines Mangels an Mitteln eine minimal akzeptable Lebensweise nicht führen kann.60 Damit wird der Einfluss der individuellen Präferenzen ausgeschaltet: Insoweit eine dem Mindeststandard nicht entsprechende Lebensweise gewählt wird, obwohl die verfügbaren Mittel grundsätzlich dazu ausreichen würden, liegt keine Armut vor. Dies betrifft beispielsweise Individuen, die sich aus freien Stücken für eine Lebensweise entschieden haben, die mit materiellen Entbehrungen verbunden ist und in ihrer Gesellschaft insoweit unüblich ist. Bei der empirischen Messung von Armut in einer Bevölkerung steht die Erfassung eines Mangels an finanziellen Mitteln im Vordergrund, wobei in der Regel Bezug auf das Einkommen genommen wird. Genauer wird ein Individuum als armutsgefährdet eingestuft, wenn sein Nettoäquivalenzeinkommen kleiner ausfällt als ein bestimmter Anteil am mittleren Nettoäquivalenzeinkommen, wobei letzteres durch den Median gemessen wird. In Deutschland zieht man üblicherweise die modifizierte OECD-Skala zur Ermittlung des Nettoäquivalenzeinkommens heran und verwendet 60 Prozent des Medians als Bezugsgröße. Daneben gibt es weitere Ansätze, die noch nicht berücksichtigte Aspekte erfassen. Ein erstes Beispiel stellen Befragungen zur materiellen Deprivation dar, die erheben, ob ein Haushalt aus finanziellen Gründen bestimmte Gebrauchsgüter nicht hat oder bestimmte Ausgaben nicht tätigen kann, die jeweils als Bestandteil eines Mindeststandards an Lebensweise anzusehen sind.61 In der Berichterstattung der Bundesregierung über Armut in Deutschland werden insgesamt elf Indikatoren berücksichtigt, die darüber hinaus mit den Anteilen früher Schulabgänger sowie den Personen ohne Berufsausbildung, jeweils nach Geschlecht, noch Indikatoren des Bildungssystems berücksichtigen.62 Einen umfassenden Ansatz, der ebenfalls einen Mangel an Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017), S. 98. Individuum kann demnach in diesem Sinne arm sein, obwohl es über ausreichend Mittel verfügt, um sein physisches Überleben zu finanzieren. 60  Vgl. z. B. Röhl / Schröder (2017), S. 6. 61  Vgl. Kott / Kuchler (2016), S. 172–175. 62  Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017), S. 549–576. 58  Vgl. 59  Ein

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sozialer Teilhabe erfassen kann, stellen die sogenannten Laeken-Indikatoren dar, die zusätzlich Indikatoren der Gesundheit erheben.63 In konzeptioneller Hinsicht kann der vorgestellte Armutsbegriff die wesentlichen Aspekte von Armut abdecken. Die Vielfalt der Ansätze zur em­ pirischen Erfassung belegt jedoch, dass es nicht möglich ist, alle als arm einzustufenden Individuen zweifelsfrei zu identifizieren. Die Ansätze zur Messung der Armutsgefährdung weisen jeweils Unschärfen auf, die eine vorsichtige Interpretation der Ergebnisse nahelegen.64 Die zusätzliche Berücksichtigung von Indikatoren materieller Deprivation und sozialer Exklusion erweitert einerseits die Perspektive. Andererseits gelingt es auch diesen Ansätzen nicht, Armut in jedem einzelnen Fall korrekt zu ermitteln, da erstens die konzeptionelle Festlegung von Armut nicht unumstritten ist und zweitens die empirische Umsetzung aufwändig sein kann. Zwar wird die konsistente Anwendung eines Ansatzes den als arm einzustufenden Teil der betrachteten Bevölkerung eindeutig festlegen. Es ist jedoch nicht möglich nachzuweisen, dass damit Armut im Sinne der vorgestellten weiten Definition fehlerfrei erfasst worden ist. Diese Bemerkungen bedeuten nicht, dass das Vorliegen oder auch die Abwesenheit von Armut in keinem einzigen Fall zweifelsfrei identifiziert werden kann. Individuen, bei denen erhebliche materielle Deprivation vorliegt oder ein Nettoäquivalenzeinkommen, das 40 Prozent des Medians nicht erreicht, werden in aller Regel nicht in der Lage sein, eine Lebensweise zu führen, die von der Gesellschaft noch als akzeptabel angesehen wird. Weiterhin ist zu erwarten, dass die konsequente Anwendung eines Ansatzes zur Armutsmessung über mehrere Jahre oder auch beim regionalen Vergleich brauchbare Ergebnisse liefert: Bei einem Vergleich der gemessenen Armut beziehungsweise Armutsgefährdung im Zeitverlauf oder auch im Querschnitt verlieren die angesprochenen Unschärfen jeweils an Bedeutung, so dass die Veränderung in der Zeit oder Unterschiede zwischen Regionen beziehungsweise Ländern besser erfasst werden können. 3. Armutsbekämpfung Es gibt zahlreiche Maßnahmen, die zur Verringerung der Armut in einer Bevölkerung und damit zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden können. Als Ansatzpunkte kommen grundsätzlich alle Komponenten der Armut in Betracht: Beispielsweise kann eine Verringerung von Schulabbruchquoten Dennis / Guio (2004), S. 7–10. Vorsicht spiegelt schon der Begriff „Armutsgefährdung“ wider, der gegenüber dem Begriff „Einkommensarmut“ vorzuziehen ist. 63  Vgl.

64  Diese



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oder von gesundheitlicher Ungleichheit einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten. Die ökonomische Modellanalyse konzentriert sich allerdings auf Maßnahmen zur Sicherung eines Lebensstandards, der von der Gesellschaft als noch akzeptabel angesehen wird. Wie der engere Begriff des Lebensstandards anzeigt, werden anstelle der im Armutsbegriff enthaltenen Lebensweise vornehmlich die Konsummöglichkeiten eines Individuums untersucht. Somit werden zumindest einzelne Aspekte der kulturellen oder sozialen Teilhabe ausgeblendet. Ökonomische Modelle betrachten vorrangig die Sicherung eines MindestLebensstandards für die Individuen einer Bevölkerung. Ein weiteres Kriterium zur Beurteilung einzelner Maßnahmen bilden die damit verbundenen Kosten. Da die Finanzierung der Armutsbekämpfung typischerweise durch Steuern erfolgt, die in der Gesellschaft Wohlfahrtsverluste verursachen, sollen diese Kosten möglichst niedrig ausfallen. Eine Maßnahme, die das Ziel der Sicherung des Lebensstandards für alle Individuen erreicht, schneidet deshalb umso besser ab, je weniger Mittel zu ihrer Finanzierung benötigt werden. Um zentrale Aussagen zur Wirksamkeit von Maßnahmen zur Armutsbekämpfung erläutern zu können, wird eine Bevölkerung mit erwerbsfähigen Individuen betrachtet, die sich in ihren Fähigkeiten unterscheiden, aber identische Präferenzen für Freizeit und Konsum besitzen. Jedem Individuum steht ein festes Zeitbudget zur Verfügung, das für Arbeit und Freizeit verwendet werden kann, wobei Arbeit auf einem Wettbewerbsmarkt mit einem Lohnsatz entgolten wird, der umso höher ausfällt, je fähiger ein Individuum ist. Der Staat kann weder die Präferenzen noch die Fähigkeiten der Individuen direkt beobachten, sondern lediglich das erzielte Erwerbseinkommen. Ohne Maßnahmen zur Armutsbekämpfung erzielen einige Individuen ein Einkommen aus Arbeit, das zur Finanzierung des gesellschaftlich anerkannten Mindest-Lebensstandards nicht ausreicht. Nun wird eine „Sozialhilfe“ mit voller Anrechenbarkeit von Erwerbseinkommen betrachtet.65 Die „Sozialhilfe“ stellt eine Zahlung Y0 dar, die zur Finanzierung des Mindest-Lebensstandards ausreicht. Insoweit ein Individuum ein Erwerbseinkommen Y erzielt, das nicht größer als Y0 ausfällt, verringert sich die Zahlung an „Sozialhilfe“ um genau diesen Betrag. Erwerbseinkommen werden also implizit besteuert, wobei der zugehörige Steuersatz Eins beträgt. Deshalb hängt das verfügbare Einkommen eines Leistungsempfängers nicht von seinem Einkommen aus Erwerbstätigkeit ab. Ein 65  Der Begriff „Sozialhilfe“ wird in Anführungszeichen gesetzt, um keine Verwechslung mit der Sozialhilfe im Sinne des deutschen Systems der Grundsicherung hervorzurufen, auf die erwerbsfähige Individuen grundsätzlich keinen Anspruch haben.

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verfügbares Einkommen oberhalb der „Sozialhilfe“ erreichen nur Individuen, die diese Leistung gar nicht beziehen. Die Einführung einer derartigen „Sozialhilfe“ bewirkt, dass das verfügbare Einkommen eines Individuums mindestens Y0 beträgt. Interessanter sind die Auswirkungen auf das Arbeitsangebot der Individuen und die Zahl der Leistungsempfänger. Zunächst werden alle Individuen, die ohne die Maßnahme ein Erwerbseinkommen beziehen würden, das nicht höher als Y0 ausfällt, keine Arbeit mehr anbieten und stattdessen die „Sozialhilfe“ in Anspruch nehmen. Dieselben Aussagen gelten auch für einige Individuen, die zwar ein höheres Einkommen aus Arbeit erzielen würden, das aber einen Schwellenwert Y1 (mit Y1 > Y0) nicht übersteigt, der in der Literatur als Anspruchslohn bezeichnet wird.66 Alle übrigen Individuen verfügen über ein höheres Erwerbseinkommen als Y1 und nehmen die „Sozialhilfe“ nicht in Anspruch. Die betrachtete „Sozialhilfe“ führt dazu, dass Leistungsempfänger keine Arbeit anbieten und stattdessen die Leistung in voller Höhe beziehen. Dieser Zustand wird als „Sozialhilfe-Falle“67 oder, etwas weniger treffend, als „Armutsfalle“68 bezeichnet. Die wesentliche Ursache ist die volle Anrechenbarkeit der Erwerbseinkommen, die keinerlei finanziellen Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit stiftet. Individuen mit einem Erwerbseinkommen, das Y0 nicht übersteigen würde, gewinnen durch die Inanspruchnahme der vollen „Sozialhilfe“ Freizeit hinzu, ohne einen Nachteil zu erleiden. Leistungsempfänger, deren Erwerbseinkommen höher als Y0 ausfallen würde, erlangen gleichfalls zusätzliche Freizeit, erleiden aber aufgrund des niedrigeren Konsums auch einen Nachteil. So lange ihr Erwerbseinkommen kleiner als Y1 wäre, wiegt dieser Nachteil allerdings zu gering, um den erwähnten Vorteil zu kompensieren. Die Finanzierung der betrachteten „Sozialhilfe“ erfordert erhebliche Mittel. Die negative Einkommensteuer stellt eine Alternative dar, bei der Individuen ohne Erwerbseinkommen ebenfalls eine Zahlung in Höhe von Y0 erhalten. Im Unterschied zur „Sozialhilfe“ werden Erwerbseinkommen nun lediglich mit einem Satz t angerechnet, für den 0  statistics).

Estlands Banken: www.eestipank.ee (> credit institutions statistics, > savings and loan associations statistics); www.fi.ee (> market data, > aggregated data, > credit institution’s balance sheet).

a = Nationale Herkunft der Eigentümer, die die Mehrheit an der Bank stellen. b = Bilanzsumme in Mio. Euro. c = Marktanteil in Prozent der Bilanzsummen. d = Kreditbanken, die in keinem der drei Länder einen individuellen Marktanteil von 4 % erreichen. e = Daten beider genossenschaftlicher Zentralbanken hilfsweise aus Q1 / 2018. f = Daten dreier Auslandsfilialen liegen nicht vor.

Summe

[5]

Kleine Kreditbankend [Anzahl]

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Das Normative der Ökonomik – Autobiographisch geprägte Bemerkungen eines Zivilisten zur ökonomischen Analyse des Rechts Von Boris Schinkels

I. Einführung Als Zivilrechtswissenschaftler ist man es heute gewohnt, dass um die Frage nach dem „richtigen“ Recht, insbesondere nach der richtigen Ausgestaltung und Auslegung von Rechtsnormen, auch mit ökonomischen Argumenten gerungen wird. Allerdings bedienen sich Juristen auch aus anderen wissenschaftlichen Subsystemen und fügen noch ihre eigenen, spezifischen Rationalitäten hinzu. Unser Erkenntnisinteresse1 soll dem Erfahrungshorizont eines Juristen in einer Welt juristischer Streitigkeiten gelten, die zwar mit ökonomischen Argumenten, aber nur unter anderen geführt werden. Dabei möchte ich meine Anschauungen aus der Schilderung einiger meiner persönlichen Erfahrungen mit ökonomischer Argumentation im Zivilrecht entwickeln, die ich in gut 20 Jahren gemacht habe. Vielleicht kann das auch zur Verständigung von Juristen und Ökonomen beitragen.

II. Der Reiz des ökonomischen Arguments für den angehenden Doktor der Rechte 1. Frühe Faszination … Meine erste Berührung mit mikroökonomischen Argumenten ergab sich im Jahre 1996 aus Anlass meiner Doktorarbeit, in der es um die Verteilung des Risikos des Drittmissbrauchs von Zahlungsmedien, namentlich Scheckvordrucken und Zahlungskarten, zwischen dem berechtigten Karteninhaber und dem Kartenemittenten geht2 – heute würde man von Zahlungsdienstnutzer und Zahlungsdienstleister sprechen. Während eine Schadenszuweisung bei von einer Seite verschuldetem Drittmissbrauch relativ unproblematisch ist, liegt die „Musik“ des Themas bei der Zuordnung des Zufallsrisikos. Hier traf dazu Habermas (1973). Schinkels (2001).

1  Eingehend 2  Vgl.

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Boris Schinkels

ich auf einen Standpunkt, der eine Zuweisung des Risikos des nicht verschuldeten Drittmissbrauchs etwa von abhandengekommenen Scheckvor­ drucken an den Zahlungsdienstnutzer damit begründete, dass dieses Ergebnis aus ökonomischer Sicht das effizientere sei.3 Gemeint war damit der Gedanke der Maximierung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands. Und so habe ich mich mit wachsender Faszination in das seinerzeit geläufige Begriffsarsenal der „Law and Economics“-Strömung, vom Modell-Athleten des rationalegoistischen Nutzenmaximierers mit stabilen Präferenzen4 über die Idee vom cheapest cost avoider5 bis hin zum Problem externer Effekte,6 eingelesen. Warum ich die ökonomische Gedankenwelt so vielversprechend fand, erschließt sich wohl am besten mit Blick auf das Problem der Normativität. Einfach gesagt, empfand ich bereits beim Übergang von der Schule, in der ich auch Mathematik gern betrieben habe, hin zum Studium der Rechtswissenschaft, dass Letztere doch im Vergleich in puncto Wertungsarmut, formaler Folgerichtigkeit und Eindeutigkeit mitunter etwas hinterherhinke. Von ökonomischen Betrachtungsweisen erhoffte ich mir gerade in diesem Punkt eine Verbesserung. Das muss ich für die Nicht-Juristen wohl etwas breiter erläutern. 2. … vor dem Hintergrund des Problems der Normativität … Nach dem Lehrbuch zur Volkswirtschaftslehre von Woll, mit dem an unserer Fakultät gearbeitet wird, handelt es sich bei dieser um eine Bezeichnung bestimmter Aspekte der Wirtschaftswissenschaft, deren Erkenntnisobjekt Erscheinungen des Wirtschaftslebens sind.7 Verallgemeinernd darf man wohl feststellen, dass sich Wirtschaftswissenschaften mit dem Sein befassen. Ihr Ausgangspunkt ist deskriptiv beziehungsweise empirisch. Wirtschaftswissenschaftliche Theorien dienen dem Verständnis realer Vorgänge durch Benennung von Ursachen und Wirkungen.8 Wirtschaftswissenschaftliche Modelle dienen entsprechend der Vorhersage, was unter bestimmten Bedingungen eintreten wird.9 Die Wissenschaftlichkeit der Disziplin wird bei Woll durch die Feststellung verteidigt, dass Wertungen keine wissenschaftlichen Aussagen seien.10 etwa Becker (1983), S. 255; Koller (1981), S.  2435 ff. hierzu etwa Towfigh (2017) § 2, Rn. 65 f. 5  Grundlegend Calabresi (1970). 6  Vgl. hierzu etwa Schäfer / Ott (2012), S. 81. 7  Woll (2011), S. 1. 8  Woll (2011), S. 12. 9  Woll (2011), S. 17. 10  Woll (2011), S. 8. 3  Vgl. 4  Vgl.



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Als Mitglied einer nicht nur staats-, sondern auch rechtswissenschaftlichen Fakultät wird man hierdurch unwillkürlich an die existenzielle Frage erinnert, ob es überhaupt eine wissenschaftliche Disziplin der Jurisprudenz geben könne.11 Denn die Rechtswissenschaft befasst sich mit Recht und Gesetz, das heißt mit Normen. Normen haben die semantische Struktur von Sollens­ sätzen,12 beschreiben also einen gesollten gesellschaftlichen Zustand. Nun wissen wir aber spätestens seit David Hume13, dass man aus einem Sein nicht auf ein Sollen schließen kann. Nicht zuletzt dieser Umstand hat Anfang des 20. Jahrhunderts die sogenannten Positivisten auf den Plan gerufen, die eine empirische, werturteilsfreie Rechtswissenschaft forderten.14 Das hat immerhin insoweit Plausibilität, als Normen autoritative Wert­ urteile darstellen, die man empirisch zur Kenntnis nehmen und analysieren kann. Allerdings sind sprachliche Befehle selten von letzter Eindeutigkeit15 und so kann schon die Frage, wie eine Norm für einen, vom Gesetzgeber vielleicht gar nicht bedachten, Fall auszulegen sei, oftmals nicht mit dem Wahrheitsanspruch der empirischen Wissenschaften beantwortet werden: Namentlich die übereinstimmende Beobachtung im Kreis der Wissenschaftler bleibt regelmäßig frommer Wunsch. Häufig gibt es lediglich eine herrschende Meinung, die ihren Wertungscharakter schon im Namen trägt, während mehr an Intersubjektivität als eine im Diskurs allgemein geteilte Ansicht schlechterdings nicht zu erreichen ist. Der Grund für normative Wissenschaft ist nach alledem ein schwankender. Gleichwohl wird er, wie schon angeklungen ist, auch mit ökonomischen Argumenten betreten. Berührungspunkte zwischen Rechts- und Wirtschaftswissenschaft ergeben sich, wo die Vorhersage wirtschaftlicher Effekte rechtlicher Sozialgestaltung zum Maßstab eines richtigen Gesolltseins, also entweder der Rechtssetzung oder der Auslegung bereits bestehender Normen, erhoben wird. 11  Man denke etwa an v. Kirchmanns 1848 vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrag: „Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit wird freilich ungebrochen erhoben, vgl. nur Schröder (2012), der die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Rechtsfindung wohl in einer auf einer Rechtsquellenlehre aufbauenden, juristischen Methodenlehre sieht (S.  1 ff.). 12  Das wusste schon Engisch (1935), S. 4; näher hierzu etwa Schinkels (2007), S. 64. 13  Vgl. Hume (1740), Part I, Section I. 14  Ikonisch steht hierfür Kelsen (1960). 15  Vgl. nur Wittgenstein (1921), S. 218, Bemerkung: 4.121: „Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken.“

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3. … als Hoffnung auf gesteigerte Wissenschaftlichkeit Im Lichte dieser Probleme lag für mich in ökonomischen Erwägungen damals zunächst eine Verheißung von gesteigerter Wissenschaftlichkeit. Zum einen ist ein Ziel effizienter Ressourcenverteilung zum Zwecke einer gesteigerten gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt zumindest als ein Wertungsgesichtspunkt unter gegebenenfalls mehreren vernünftig. Darin liegt eine nur „schwache“ Wertung. Insoweit mag man nur daran denken, dass zum Beispiel dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz letztlich auch ein – wenn auch nicht ökonomisch gedachtes – Effizienzkonzept sogar von Verfassungsrang zu Grunde liegt. Zum anderen schien mir am Beginn meiner Doktorarbeit, dass zumindest eine präzisere Betrachtung der wirtschaftlichen Folgen verschiedener rechtlicher Gestaltung die damit keinesfalls zu vermeidende – wertende – Interessenabwägung zumindest rationaler werden lassen könne. 4. Fazit: Mehr Gewinn an phänomenologischer Präzision als Erkenntnis über Allokationseffizienz Allerdings erschien mir die in der Diskussion für den jeweiligen Standpunkt beanspruchte ökonomische Effizienz bald mehr behauptet als begründet. So ist schon die Frage, ob nun der Kreditkartennutzer oder das Kartenunternehmen hinsichtlich des Abhandenkommens einer Kreditkarte cheapest cost avoider sei, nicht trivial. Einerseits mag der Kartennutzer am ehesten in der Lage sein, seinen Besitz beisammen zu halten. Andererseits sind es die Zahlungsdienstanbieter, welche die Merkmale und Sicherheitsmechanismen des jeweiligen Zahlungsdienstes beherrschen und dadurch grundsätzlich die Reichweite des Systemrisikos eines Drittmissbrauchs ausgestalten. Auch für die neuralgische Frage, wann genau denn nun eher die Risikozuweisung an den cheapest cost avoider oder an den cheapest risk insurer mehr Effizienz verheiße, wenn beide auseinanderfallen, vermochte ich seinerzeit keine Leitlinien in der Diskussion zu entdecken, denen ich mathematische Präzision zugesprochen hätte. Bei mir blieb daher letztlich Skepsis gegenüber Effi­ zienzargumenten als Grundlage richterlicher Auslegung von Generalklauseln beziehungsweise richterlicher Rechtsfortbildung. Bereits ungeachtet der dogmatischen Frage nach Maßgeblichkeit von Effizienz im geltenden Recht16 kann der Richter ökonomische Effizienz schon rein praktisch kaum beurteilen und im Gegensatz zum Gesetzgeber hat er auch nicht die Möglichkeit, vor einer Entscheidung ökonomische Feldforschung in Auftrag zu geben. Gleichwohl blieb die Auseinandersetzung mit Beschreibungen des Problems aus ökonomischer Perspektive nicht ohne Folgen für meine eigenen 16  Grundsätzlich

skeptisch Eidenmüller (2015), S. 489 f.



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Vorschläge. Ich habe seinerzeit den grundsätzlichen Standpunkt eingenommen, dass es zumindest nicht unangemessen sei, wenn die Zahlungsdienst­ anbieter das Systemrisiko des nicht verschuldeten Verlusts einer Zahlungskarte in dem Ausmaß auf den Zahlungsdienstnutzer verlagern, in dem diesem durch Systemteilnahme ein Bargeldverlustrisiko abgenommen wird.17 Die Idee dahinter ist, dass jemand sich nicht überzeugend beschweren kann, wenn seine Handlungsoptionen erweitert werden, ohne dass hierdurch seine Risiken steigen. Ohne die Auseinandersetzung mit ökonomischen Sichtweisen hätte ich das wohl nicht so klar formulieren können. Übrigens habe ich damals unter anderem angenommen, dass das Risiko des unverschuldeten Drittmissbrauchs einer elektronischen Geldbörse wie der Geldkarte wegen deren ausgeprägter Bargeldersatzfunktion schon dispositivrechtlich dem berechtigten Nutzer derselben zuzuordnen ist.18 Eine vergleichbare Wertung hat später, über die Umsetzung der Zahlungsdienste-RL19 von 2007 für sogenannte Kleinbetragsinstrumente und elektronisches Geld, Eingang in § 675i BGB gefunden. Ob der Richtliniengeber diese Lösung aufgrund ihrer angenommenen Effizienz gewählt hat, ist mir freilich nicht bekannt.

III. Entsprechend eklektischer Gebrauch beim Habilitanden: Negative Beschaffenheitsangaben beim Verbrauchsgüterkauf Ökonomische Betrachtungsweisen haben mich dann auch bei meinem ersten Aufsatz20 begleitet, den ich 2003 als Alleinautor veröffentlicht habe. Damals hatte der deutsche Gesetzgeber zur Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-RL21 mit § 475 BGB für Verbrauchsgüterkaufverträge – bei denen der Verkäufer als Unternehmer und der Käufer als Verbraucher handelt – Vereinbarungen zur Abbedingung der Sachmängelhaftung weitgehend ausgeschlossen. Der Sachmängelhaftung war damit für den Verkäufer, insbesondere für Gebrauchtwagenverkäufe, nicht mehr zu entkommen. Findige – um nicht zu sagen windige – Verkäufer nahmen das zum Ansatz für sogenannte negative Beschaffenheitsvereinbarungen. Bei diesen wird für das zu verkaufende 17  Schinkels,

(2001), S. 327 ff. (2001), S. 265 ff. 19  Richtlinie 2007 / 64 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97 / 7 / EG, 2002 / 65 / EG, 2005 / 60 / EG und 2006 / 48 / EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97 / 5 / EG. 20  Vgl. Schinkels (2003), S. 310. 21  Richtlinie 1999 / 44 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter. 18  Schinkels

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Boris Schinkels

Serien­produkt angegeben, dass es individuell nicht die Qualitäten aufweise, welche der Serie normalerweise zukommen. Solche Beschaffenheitsvereinbarungen sind grundsätzlich möglich und nicht zu beanstanden. Interessant wird es aber etwa dann, wenn ein Gebrauchtwagen als „nicht geprüft“ bezeichnet wird und daher pauschal als „defekt“ verkauft werden soll, wobei der aufgerufene Preis gleichwohl demjenigen für vergleichbare Fahrzeuge in fahrbereitem Zustand entspricht. Für die hier aufscheinende Abgrenzungsfrage, wie denn nun eine – zulässige – negative Beschaffenheitsvereinbarung von einem – unzulässigen – Gewährleistungsausschluss abzugrenzen sei, habe ich damals darüber nachgedacht, was aus Sicht einer ökonomischen Betrachtung das Wesen des Gewährleistungsausschlusses sei. Es geht um das Problem einer beiderseitigen Ungewissheit darüber, ob die zu liefernde Sache bei Gefahrübergang in einer bestimmten Hinsicht der vertraglichen Sollbeschaffenheit entsprechen wird. Gewissermaßen sind die Gewährleistungsansprüche gegen den Verkäufer eine Versicherung22 des Käufers hinsichtlich dieses Risikos, während der Gewährleistungssauschluss aus dem Geschäft eine Wette des Käufers macht. Das Wesen des Gewährleistungssauschlusses liegt also in der Verlagerung des Risikos eines Informationsdefizits auf den Käufer. Entscheidend musste demnach sein, ob der Verkäufer eine hinreichend bestimmte Beeinträchtigung der Kaufsache plausibel als tatsächlich vorliegend beschreibt oder ob seine Ausführungen vielmehr erkennen lassen, dass er gar nicht sicher weiß, ob die bezeichneten Beeinträchtigungen tatsächlich vorliegen. Denn im letzteren Falle kann der Käufer darauf spekulieren, dass diese Beeinträchtigungen doch nicht vorliegen. Dann wird er, wenn wir einmal vorläufig Rationalität unterstellen, bei der Kalkulation, was er zu zahlen bereit ist, gegebenenfalls nicht vom Nutzwert einer defekten Sache, sondern vom Wert einer funktionierenden ausgehen und lediglich einen seiner Risikoprognose entsprechenden Abschlag vornehmen.23 Er wird mit anderen Worten tendenziell mehr zu zahlen bereit sein. Diese Sicht, die wohl auch Eingang in einen aktuellen Richtlinienentwurf24 gefunden hat, ist nun ein schönes Beispiel für einen durchaus eklektischen Umgang mit ökonomischen Betrachtungsweisen. Sie konnten nämlich einerseits zur Präzisierung einer gesetzgeberischen Vorgabe fruchtbar gemacht werden, ohne andererseits auch nur die Frage aufzuwerfen, ob die Gesetzesvorgabe einer zwingenden Gewährleistung beim Verbrauchsgüterkauf ökono22  Grundlegend Priest (1981), S. 1297 ff.; eingehend ferner Schäfer / Ott (2012), S.  516 f. 23  Schinkels (2003), S. 313. 24  Vgl. Art. 4 Nr. 3 im Geänderten Vorschlag für eine Richtlinie über bestimmte Aspekte des Warenhandels, COM(2017) 637 final vom 31.10.2017.



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misch effizient sei. Deshalb möchte ich das Vorgehen von genuiner oder „klassischer“ ökonomischer Analyse abgrenzen. Ich schlage vor, insofern von (punktueller) Analyse der Steuerungseffizienz des Rechts zu sprechen. Im Übrigen mag für die ökonomische Effizienz zwingender Sachmängelgewährleistung durchaus das von Akerlof beschriebene Problem des „Market for Lemons“25 zumindest beim Handel mit Gebrauchtwagen streiten – abschließend für alle Anwendungsfälle beurteilen kann ich das freilich nicht. Sonderlich sympathisch ist sie mir aber auch unter der Prämisse ihrer Effi­ zienz nicht. Denn in der paternalistischen Zwangsbeglückung des Verbrauchers liegt letztlich eine partielle Entmündigung.

IV. Unbehagen am Kaldor-Hicks-Kriterium Während nun bei meinen frühen publizistischen Gehversuchen besonders die Skepsis überwog, ob denn nun Juristen Effizienz beurteilen können, erstreckt sich meine Skepsis heute insbesondere auf die Frage, wonach wir denn eigentlich streben sollten. Wie schon gesagt, kann man abstrakt kaum bestreiten, dass eine gesteigerte gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt erstrebenswert sei. Freilich ist die Idee des Pareto-Kriteriums,26 wonach von zwei sozialen Zuständen x und y der Zustand y vorzugswürdig ist, wenn mindestens ein Mitglied y bevorzugt und keines den Zustand x, einerseits bestechend. Andererseits erlaubt es nur selten Änderungen gegenüber dem Status quo. So gibt es bei zivilrechtlichen Verteilungsentscheidungen regelmäßig nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Entsprechend erfährt im Lehrbuch von Schäfer und Ott zur ökonomischen Analyse des Zivilrechts das Kaldor-Hicks-Kriterium Betrachtung.27 Danach ist ein Zustand y gegenüber dem Zustand x gegebenenfalls bereits vorzugswürdig, wenn diejenigen, die von einem Übergang von x zu y profitieren, an diejenigen, die die Beibehaltung von x bevorzugen, aus ihren Gewinnen beim Übergang zu y Entschädigungen in Geld zahlen könnten, so dass auch bei hypothetischer Kompensation aller Verlierer mindestens ein Akteur am Ende bei y besser dasteht. Hierbei – das ist gerade der Witz – wird eine tatsächliche Kompensation nicht verlangt. Nun werden allein im Lehrbuch von Schäfer und Ott zahlreiche Einwände gegen Kaldor-Hicks im Besonderen und das dahinter aufscheinende Konzept des Utilitarismus im Allgemeinen erörtert,28 die ich hier nicht sämtlich refehierzu Schäfer / Ott (2012), S. 370 ff. hierzu Towfigh (2017), § 2 Rn. 89 ff. 27  Schäfer / Ott (2012), S. 25. 28  Schäfer / Ott (2012), S. 25 ff. 25  Vgl.

26  Siehe

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rieren möchte. Als Suchenden nach Wertungsarmut stört mich in erster Linie die starke (rechts-)politische Wertung dahinter, die ich an einem sehr schlichten Beispiel verdeutlichen möchte: Nehmen wir an, in einer Gesellschaft mit zwei Mitgliedern, A und B, hat jeder 1.000 Euro – das wollen wir Zustand x nennen. Demgegenüber ist gegebenenfalls nach Kaldor-Hicks ein Wechsel zum Zustand y zu bevorzugen, bei dem A 1.900 Euro und B 200 Euro zur Verfügung stehen. Denn A könnte an B 800 Euro zahlen und behielte immer noch einen Gewinn von 100 Euro. Bleibt die Kompensation aber nur eine hypothetische, so ist der Übergang von x zu y nicht notwendig eine Verbesserung, sondern gegebenenfalls eine Verschlechterung. Das folgt aus dem Gedanken des abnehmenden Grenznutzens, wonach der Nutzen einer zusätzlichen Einheit eines beliebigen Gutes umso geringer wird, je mehr von diesem Gut bereits vorhanden ist.29 Gegebenenfalls wiegt daher der Verlust des B schwerer als der Gewinn des A. Mein Unbehagen speist sich also vor allem daraus, dass das Kaldor-HicksKriterium gegenüber möglichen Wohlfahrtsverlusten durch Vermögenskonzentration systematisch blind ist. Insofern beruhigt es mich auch nicht im Geringsten, wenn Schäfer und Ott das Kaldor-Hicks-Kriterium nur unter der Prämisse anwenden wollen, dass angenommen werden könne, dass durch die Summe vieler Kollektiventscheidungen eine Generalkompensation eintrete.30 Denn einen verifizierbaren Maßstab dafür, wann die Vermutung einer Generalkompensation mit welcher Wahrscheinlichkeit berechtigt sei, bieten sie ebenso wenig, wie der trickle down effect als bewiesen gelten kann.31 Die Erwartung systematischer Beurteilungsfehler32 kann man so nicht ausräumen.33

V. „Humans“, „Econs“ und die stabile Präferenz eines positiven Selbstbilds Mit dem Schlagwort vom systematischen Beurteilungsfehler – neudeutsch: bias – bin ich auch schon bei meinem letzten Punkt angekommen. Gestützt auf psychologische Erkenntnisse wird seit einigen Jahren die Rationalitätshypothese ökonomischer Betrachtungsweisen angegriffen und dem „homo oeconomicus“ ein Konzept des „realen Menschen“ entgegengesetzt, was etwa dazu grundlegend Bernoulli (1896). (2012), S. 42. 31  So spricht etwa Stiglitz (2012), S. 31 f., für die USA der Trickle-down-Theorie ab, auch nur ein „Quäntchen Wahrheit“ zu enthalten: „Alle Früchte des Wirtschaftswachstums ernten die Reichen.“ 32  Von „normative bias“ sprechend etwa Crespi (1991), S. 237. 33  Vgl. auch das Fazit bei Calabresi (1991), S. 1223, 1227. 29  Vgl.

30  Schäfer / Ott



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besonders plakativ in der Gegenüberstellung von „humans“ und „econs“ bei Thaler und Sunstein34 zum Ausdruck kommt. Hierzu hat schon der geschätzte Kollege Rodi35 vertiefend vorgetragen, weshalb ich mich auf kurze Betrachtungen zu Rationalität und Präferenz sowie ein Beispiel beschränken möchte, wie neuere Betrachtungen die Sicht auf zivilrechtliche Probleme verändern. 1. Erwägungen zur (begrenzten) Rationalität Die Verhaltenspsychologie beschreibt eine Fülle von Beurteilungsfehlern,36 die durchaus dafür sprechen, dass Menschen nur begrenzt rational entscheiden. Gleichwohl irritiert mich an der Diskussion die Radikalität von Ansätzen, wonach bereits alle systematischen Beurteilungsfehler, die aus der Anwendung von Heuristiken resultieren, das Konzept vom homo oeconomicus grundstürzend in Frage stellen sollen. Erstens handelt es sich beim rational-egoistischen Akteur lediglich um einen Teil eines Modells, das zur Prognose von in aller Regel zu erwartenden Entscheidungen verwandt wird.37 Modelle dienen der Reduktion von Komplexität im Vergleich zur vollständigen Beschreibung der Wirklichkeit. Es ist daher nicht kategorisch illegitim sondern vielmehr wesensimmanent, dass sie zu diesem Zweck von vereinfachenden Annahmen ausgehen, die der Wirklichkeit nicht voll entsprechen.38 Dabei muss freilich stets aufs Neue abgewogen werden, inwieweit neu erkannte Prognoseungenauigkeiten für die Erhöhung der Komplexität eines Modells zumindest in bestimmten Anwendungsfällen sprechen. Zweitens halte ich es für irrig, wenn man jeglichen Beurteilungsfehler mit der Irrationalität der zugrundeliegenden Entscheidung gleichsetzt. Im Gegenteil sehe ich im Rückgriff auf Heuristiken im Sinne von Faust- oder Daumenregeln, die zwar nicht immer, aber durchaus häufig relativ akkurat sind, eine im Ansatz völlig rationale Reaktion auf ein Problem begrenzter Ressourcen, insbesondere der eigenen Aufmerksamkeit und des Vermögens zu ausdauernd-vertieftem Nachdenken. Wenn nun psychologische Erkenntnisse über systematische Beurteilungsfehler dabei helfen können, zu unterscheiden, inwieweit der Rückgriff auf Heuristiken günstig erscheint und wann man stattdessen vertieft nachdenken sollte, so kann auch das von rationalen Akteuren zur Verhaltensoptimierung aufgegriffen werden. 34  Thaler / Sunstein

(2008), Part I. Rodi, Der Homo Oeconomicus im Recht – Nutzenstifter oder Störenfried, im vorliegenden Band. 36  Vgl. etwa Kahnemann (2011), passim. 37  Siehe dazu Schäfer / Ott (2012), S. 95 ff. 38  Vgl. Schinkels (2006), S. 411. 35  Vgl.

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Allerdings führt die Verhaltenspsychologie so selbst zu neuen Wohlfahrtsproblemen, weil der Verbraucher nicht mit den Rationalitätsressourcen von Unternehmen mithalten kann, was nicht nur asymmetrische Informationsdefizite zeitigt: Es sind nicht zuletzt die Internetgiganten wie Facebook, Google und Amazon, die über verhaltenspsychologisch optimierte Anreize39 zu clicks und likes sowie zur Erstellung von Nutzer-Profilen und Kundenrezensionen unsere Bildschirmzeit und unseren user input maximieren, um durch data mining und targeted advertising unsere begrenzte Rationalität uneingeschränkt rational zu Geld zu machen.40 2. Selbstbildoptimierung Im Übrigen scheint mir wichtig, den Unterschied zwischen ratio und Vernunft zu betonen. Beispielsweise kennen Sie vielleicht den folgenden Aphorismus: „Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen.“41

Solches Verhalten mag vielleicht dem Maßstab der praktischen Vernunft nach Kant nicht genügen, der da lautet: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“42 Damit ist es aber noch nicht notwendig irrational. Um das beurteilen zu können, bedarf es allerdings eines erweiterten Blicks auf die Präferenzen, die hier wirkmächtig werden. Insbesondere beim Erwerb von Statussymbolen geht es nie nur um einen Gebrauchswert einer Sache. Es geht nicht zuletzt um die Dokumentation eigener wirtschaftlicher Kraft, gegebenenfalls auch um den Ausweis besonderer Stilsicherheit,43 jedenfalls aber um einen Anspruch auf gesellschaftliche Achtung und damit immer um das Bild, das sich andere von uns machen. Aber auch unser Selbstbild ergibt sich in Kommunikation mit anderen, also aus der Interaktion mit dem Fremdbild, auf das wir beispielsweise mit dem Erwerb teurer Autos oder dem Tragen von „angesagten“ Festival-Armbändern auch zur Förderung unseres Selbstbildes Einfluss nehmen. Mir scheint, die Förderung eines positiven Selbstbilds ist nicht nur eine sehr stabile, sondern eine der stärksten menschlichen Präferenzen, die in bestimmten Austauschsituationen die Präferenz für ein bestimmtes Gut beziehungsweise eine hierzu bereits Fogg (2003). hierzu etwa Wu (2016), S. 255 f. 41  Sogar zu cineastischen Ehren gelangt im Film Fight Club von 1999. 42  Vgl. Kant (2003), S. 41, § 7 Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft. 43  Zur Idee eines kulturellen Konsums eingehend Bourdien (1987). 39  Vgl.

40  Siehe



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bestimmte Dienstleistung signifikant überlagert. Wenn man das nicht berücksichtigt, läuft man Gefahr, die wahre ratio menschlichen Handelns zu verkennen. 3. Hinsendekosten beim Fernabsatz Lassen Sie mich dies mit meinem letzten Beispiel erläutern. Beim Fernabsatz von Waren hat der Verbraucher ein Widerrufsrecht. Übt er dies aus, muss er die Ware zurückschicken und erhält den Kaufpreis erstattet. In der – heute abgelösten – Fernabsatzrichtlinie von 199744 war zwar die Frage explizit geregelt, wem die Kosten für die Rücksendung der Ware auferlegt werden können.45 Keine explizite Vorgabe enthielt die Richtlinie hingegen für die Zuordnung der Kosten der ursprünglichen Hinsendung der Ware durch den Unternehmer an den Verbraucher. Die entsprechende Allokationsfrage kann unter dem allgemeinen Gesichtspunkt betrachtet werden, ob eine Zuordnung dieser Kosten an den Verbraucher ökonomisch effizienter ist, oder auch nur unter dem hiervon abzugrenzenden Aspekt der Effektivität des Widerrufsrechts. Eine eher ökonomische Argumentation zielte hier auf Entwarnung: Bei entsprechender Auslegung der Normen seien die Hinsendekosten ohnehin sunk costs.46 Solche, ohnehin verlorenen Aufwendungen können in die Entscheidung eines gedachten rationalen Verbrauchers mit stabiler Produktpräferenz darüber, ob er die Ware behalten oder den Widerruf erklären solle, gar nicht mehr einfließen. Andere weisen hierzu mit Blick auf die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie darauf hin, dass der Verbraucher im Rahmen einer sogenannten sunk cost fallacy durchaus dazu neigt, bereits getätigte Investitionen nicht nachträglich durch Widerruf zu „entwerten.“47 Hinzu treten der sogenannte status quo bias, also die Bevorzugung des Ist-Zustands, sowie der endowment effect, wonach jemand eine Sache, die er physisch in Besitz nimmt, allein deshalb höher bewertet48 – aus diesem Grunde werden beispielsweise Verkäufer geschult, Kaufinteressenten eine Sache in die Hand zu geben.

44  Richtlinie 97 / 7 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.  Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz. 45  Vgl. Art. 6 Abs. 2 Richtlinie 97 / 7 / EG. 46  So etwa die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu EuGH v. 1.10.2008 – C-511 / 08  – ECLI:EU:C:2010:189  – Heine, Rn. 37; kritisch hierzu Höhne, (2016), S. 120, der darauf hinweist, dass es sich eben nur bei Zuweisung des Risikos an den Käufer um sunk costs handelt und bei Zuweisung dieser Kosten an den Verkäufer der Widerruf eher rational sein kann. 47  Höhne (2016), S. 72. 48  Hierzu etwa Schäfer / Ott (2012), S. 107.

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Spannender finde ich freilich die Feststellung, dass der Fernabsatzkäufer, der beim Auspacken eine eher enttäuschende Kaufsache vorfindet, verschiedenen kognitiven Dissonanzen ausgesetzt ist.49 Das betrifft einerseits die ihn psychisch störende Minderqualität der tatsächlichen gegenüber der erhofften Produkteigenschaft. Andererseits stellt etwa die Selbsteinschätzung, schlechte Waren gekauft zu haben, bereits die selbst zugeschriebene Kompetenz des Käufers zur Beurteilung von Produkten in Frage. Das bedroht sein positives Selbstbild. Zur Reduktion dieser Dissonanzen kann der Käufer entweder die Ware zurücksenden oder sich die Kaufsache schönreden: „So schlecht ist das Produkt gar nicht; für meine Zwecke wird es schon reichen.“ Letzteres wird umso folgerichtiger, je stärker die Rückabwicklungsmöglichkeit eingeschränkt wird. Bliebe der Käufer auf Kosten wie denjenigen für die Hin­ sendung sitzen, müsste er sich doch nach Widerruf immer noch eingestehen, eine Vermögenseinbuße durch eine selbstschädigende Entscheidung herbeigeführt zu haben. Nun mag zwar ein Schönreden der Kaufsache bei signifikanten Rückabwicklungskosten schon wegen seiner Unbewusstheit als eher emotions- denn verstandesgesteuert erscheinen. Gleichwohl übersähe man etwas wichtiges, wenn man auch die Reduktion kognitiver Dissonanzen einfach in den großen Topf vermeinter Irrationalitäten namens Beurteilungsfehler werfen und so bedeutsame Unterschiede einebnen wollte. Immerhin verwirklicht der Verbraucher, der seine Dissonanzen durch Schönreden des Kaufgegenstands unterdrückt, unbewusst seine Präferenz für ein positives Selbstbild. Dabei ist nicht a priori auszuschließen, dass der Käufer, der sich die Sache schönredet, mit Blick auf seine Lebenszufriedenheit eine durchaus effiziente Entscheidung trifft, indem er die emotionalen Transaktionskosten des Widerrufs berücksichtigt. Und das müsste es doch gerade einer konsequentialistischen Betrachtung erschweren, hierin einen Fehler zu sehen. Nichtsdestotrotz zeigt sich hier, dass neoklassisches Modell und psychologische Betrachtungsweise gerade im Vergleich ihren Nutzen entfalten können: Soweit ein „realer“ Mensch Waren behält, die homo oeconomicus aufgrund ihrer Abweichung von seiner Produktpräferenz zurückschicken würde, verfehlt das gesetzliche Widerrufsrecht sein Ziel.

VI. Ausblick Wo stehen wir nun? Ich glaube, dass wir künftig deutlicher zwischen „klassischer“ ökonomischer Analyse des Rechts und dem, was ich hier Analyse der Steuerungseffizienz des Rechts genannt habe, unterscheiden sollten. 49  Eingehend

hierzu Höhne (2016), S. 61 ff.



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Erstere begründet ihre Ergebnisse mit dem umfassenden Richtigkeitsmaßstab ökonomischer Effizienz, muss also, um folgerichtig zu bleiben, bereits die ökonomische Effizienz von gesetzlichen Vorgaben einschließlich der Verfassung hinterfragen. Letztere bedient sich auch ökonomischer Deutungsansätze, ohne ihre Ergebnisse mit deren ökonomischen Effizienz begründen zu müssen, womit sie freilich auch nur einen relativen Richtigkeitsanspruch erheben kann. Meines Erachtens wird die „klassische“ ökonomische Analyse des Rechts künftig deutlich im Schatten von Untersuchungen stehen, die von ökonomischen Methoden nur eklektischen Gebrauch machen. Das hat zum einen mit den beschränkten Fähigkeiten von auch ökonomisch interessierten Juristen zu tun, ökonomische Effizienz wirklich zu beurteilen, geschweige denn, diese entsprechend den Wahrheitskriterien empirischer Wissenschaft auch nur sicher zu definieren. Zum anderen ist ökonomische Effizienz eben kein den partikularen Gestaltungzielen einzelner Gesetzesvorgaben kategorisch vorgeordnetes Prinzip der Rechtsordnung: Nehmen wir einmal an, es ließe sich dartun, dass Verbraucherwiderrufsrechte in Bausch und Bogen ökonomisch ineffizient seien. Angesichts ihrer gesetzlichen Anordnung folgte daraus für die Auslegung und Fortbildung des geltenden Rechts wenig. Es bliebe nur ein rechtspolitischer Ruf nach ihrer Abschaffung. Demgegenüber sehe ich für die Analyse der Steuerungseffizienz vor allem aus zwei Gründen erhebliches Potential im Rahmen der wissenschaftlichen Durchdringung des bereits geltenden Rechts. Erstens ist die Überprüfung, inwieweit gesetzliche Handlungsanreize beziehungsweise deren Auslegung im Detail effektiv eine gesetzgeberische Zielvorstellung gesollten Verhaltens verwirklichen, offen für Methodenpluralismus. Da sie nicht auf die Perspektive verengt ist, ob gesetzgeberische Vorgaben Handlungsalternativen aus ökonomischer Sicht „verbilligen oder verteuern“,50 kann sie neben allgemeinsozialwissenschaftlicher Theorie und Empirie auf neoklassische ökonomische Beschreibungsmodelle ebenso zurückgreifen wie sich unmittelbar der Erkenntnisse der Verhaltenspsychologie bedienen. Hier sehe ich ausdrücklich kein methodisches Ausschließlichkeitsverhältnis von Modellen rationalen Verhaltens und Beobachtungen menschlicher Beurteilungsfehler. Zweitens lässt sich eine Analyse, der es nicht um die Optimierung von ökonomischer Effizienz im Allgemeinen, sondern um die Optimierung des partikularen Regelungsplanes eines Gesetzes geht, völlig bruchlos in die überkommene juristische Dogmatik teleologischer Auslegung und Rechtsfortbildung integrieren.

50  Diesen Aspekt ökonomischer Ansätze heraushebend etwa Petersen / Towfigh (2017), § 1, Rn. 6.

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Von „Autokran“ zu „Trihotel“ – Entwicklung eines die gesetzliche Bindung erweiternden Schutzes des GmbH-Vermögens durch den Bundesgerichtshof Von Hans-Georg Knothe

I. Einleitung Das Generalthema unserer Ringvorlesung „Recht trifft Wirtschaft“ wird nicht zuletzt sichtbar an den zahlreichen Problemen, die sich für den Bereich des Gesellschaftsrechts und hier besonders für die Gesellschaften mit beschränkter Haftung ergeben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gesellschaftsformen, die sich seit dem Mittelalter zunächst im Wirtschaftsleben allmählich herausgebildet haben, bis sie schließlich im 19. / 20. Jahrhundert gesetzlich geregelt worden sind,1 ist die GmbH bekanntlich allein das Werk des (deutschen) Gesetzgebers, der 1892 mit dem GmbH-Gesetz diesen neuen Gesellschaftstyp geschaffen hat.2 Für ein diesbezügliches Bedürfnis spricht, dass die GmbH nicht nur in Deutschland seit ihrer Schaffung eine fast ständig gesteigerte Verbreitung gefunden hat,3 sondern als „einer unserer wichtigsten und erfolgreichsten Exportartikel im Recht“ auch von der Gesetzgebung zahlreicher ausländischer Staaten im Prinzip übernommen worden ist.4 Nach dem GmbH-Gesetz weist die GmbH folgende Begriffsmerkmale auf: Sie ist eine körperschaftlich strukturierte Handelsgesellschaft sowie eine Kapitalgesellschaft. Ihr kommt die Eigenschaft einer juristischen Person zu. Die GmbH kann jeden zulässigen Zweck verfolgen. Sie hat ein satzungsmäßig festgelegtes Stammkapital in Höhe des Gesamtbetrages der von ihren Gesellschaftern aufzubringenden Stammeinlagen. Für die Verbindlichkeiten der GmbH haftet deren Gläubigern lediglich die Gesellschaft.

Karsten Schmidt (2002), § 33 II 1. betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung v. 20.4.1892 (RGBl. S. 477). Zur Entstehungsgeschichte siehe Schubert (1992), S. 1 ff. 3  Hierzu das statistische Material bei Karsten Schmidt (2002), § 33 III 1. 4  Im Einzelnen siehe Lutter (1992), S. 49 ff. 1  Vgl.

2  Gesetz,

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Die GmbH hat damit eine ähnliche Struktur wie die Aktiengesellschaft. Anders als diese ist sie aber auf einen kleineren Gesellschafterkreis und auf die Trägerschaft von mittleren und kleineren Unternehmen zugeschnitten, jedoch steht auch dem gelegentlich vorkommenden Betrieb von Großunternehmen in der Rechtsform einer GmbH rechtlich nichts entgegen. Attraktiv ist die GmbH daher für mittelständische Gewerbetreibende, die sich in gesellschaftlicher Verbundenheit und nur mit beschränktem Kapitaleinsatz unternehmerisch betätigen, aber die mit der Bildung einer Personengesellschaft (OHG) verbundene persönliche Haftung vermeiden wollen. Die GmbH-Gesellschafter fungieren daher häufig selbst als Geschäftsführer der Gesellschaft, sodass in diesen Fällen faktisch eine Selbstorganschaft besteht, obwohl für die GmbH als Körperschaft rechtlich der Grundsatz der Fremd­ organschaft gilt. Die GmbH weist dann eine mehr oder weniger starke Ähnlichkeit mit einer Personenhandelsgesellschaft auf. Die hauptsächliche Attraktivität der GmbH liegt damit in dem Fehlen einer persönlichen Haftung der Gesellschafter mit ihrem nicht in der Gesellschaft steckenden Vermögen. Für die Verbindlichkeiten der GmbH haftet deren Gläubigern nach der grundlegenden Vorschrift des § 13 Abs. 2 GmbHG vielmehr nur das Gesellschaftsvermögen. Gegen eine Zahlungsunfähigkeit der GmbH mit der Folge eines Ausfalls sucht das Gesetz die Gesellschaftsgläubiger ähnlich wie bei der Aktiengesellschaft durch ein von den Gesellschaftern aufzubringendes Garantiekapital zu schützen, das dem Grundkapital bei der AG entsprechende Stammkapital. Die gesetzlich vorgeschriebene Mindesthöhe des Stammkapitals beläuft sich heute gemäß § 5 Abs. 1 GmbHG auf 25.000 Euro.5 Das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche GmbHVermögen darf gemäß § 30 Abs. 1 S. 1 GmbHG an die Gesellschafter nicht ausgezahlt werden (Grundsatz der Kapitalerhaltung). Diesem Verbot zuwider an Gesellschafter geleistete Zahlungen müssen nach § 31 Abs. 1 GmbHG der Gesellschaft erstattet werden. Die auf die Erhaltung allein des Stammkapitals beschränkte gesetzliche Regelung reicht jedoch, wie in der Rechtswirklichkeit seit einigen Jahrzehnten zu beobachten ist, für die Sicherung der Zahlungsfähigkeit der GmbH und damit für den Schutz der Gesellschaftsgläubiger in zahlreichen Fällen nicht aus. Vielmehr besteht eine entscheidende Schwäche der Rechtsform der GmbH in der notorischen Insolvenzanfälligkeit dieser Gesellschaftsform, weshalb das Kürzel „GmbH“ im Wirtschaftsleben häufig als „Gesellschaft mit beschränkter Hochachtung“ wiedergegeben wird. Diese beklagenswerte Entwicklung ist hauptsächlich auf folgende Gründe zurückzuführen:

5  Bei der AG muss sich die Mindesthöhe des Grundkapitals auf 50.000 Euro belaufen (§ 7 AktG).



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– Zunächst ist hier die häufig geringe Ausstattung der GmbHs mit Eigenkapital zu nennen. Ein erheblicher Teil der Gesellschaften wird nur mit dem Mindeststammkapital von 25.000 Euro gegründet. Dieser Betrag reicht oft zum Betrieb des von der GmbH getragenen Unternehmens nicht aus. Es liegt dann zwar keine formelle, wohl aber eine materielle Unterkapitalisierung vor, für die das Gesetz jedoch keine Sanktion vorsieht. Ein Mindeststammkapital von 25.000 Euro ist nach allgemeiner Ansicht unter den heutigen Verhältnissen viel zu gering, was schon aus einem Vergleich mit dem in der ursprünglichen Fassung des GmbHG von 1892 festgelegten Mindeststammkapital von 20.000 (Gold-)Mark deutlich wird, dem nach heutiger Kaufkraft ein Mehrfaches des Betrages von 25.000 Euro entspricht.6 – Hinzu kommt der fehlende gesetzliche Schutz des das Stammkapital übersteigenden Aktivvermögens der GmbH vor Entnahmen durch die Gesellschafter. Solange das Stammkapital unberührt bleibt, stehen den Gesellschaftern solche Entnahmen frei. Das GmbH-Vermögen genießt insofern einen geringeren Schutz als das Vermögen der Aktiengesellschaft, von dem nur der zur Ausschüttung bestimmte Bilanzgewinn an die Aktionäre verteilt werden darf (§ 57 Abs. 3 AktG). Der Grund für die großzügigere Entnahmemöglichkeit zugunsten der GmbH-Gesellschafter ist der dargelegte Zuschnitt der GmbH auf wenige sich häufig hauptberuflich der Geschäftsführung der Gesellschaft widmende Gesellschafter, die aus den Gewinnen der GmbH ihren Lebensunterhalt beziehen. Die Gesetzgebung hat bisher keine durchgreifenden Maßnahmen zur Bekämpfung der den GmbHs drohenden Insolvenzgefahren getroffen. Von einer zunächst angedachten Erhöhung des Mindestbetrags des Stammkapitals hat der Gesetzgeber nicht nur abgesehen, sondern, um die nach der EuGHRechtsprechung und damit auch in Deutschland zulässige7 Gründung von nur mit einem Kapital von 1 Pfund Sterling zu errichtenden Private Limited Companies nach englischem Recht („Flucht in die Limited“) zu bekämpfen, sogar mit dem durch das MoMiG von 20088 in das GmbHG eingefügten § 5a die sogenannte Unternehmergesellschaft – UG – (haftungsbeschränkt) und damit eine Sonderform der GmbH geschaffen, die mit einem Stammkapital von nur 1 Euro gegründet werden kann. Die Rechtsprechung vor allem des 6  Plastische Illustration bei Priester (1992), S. 161: „Für die 20.000 Goldmark des Jahres 1892 konnte man sich eine relativ noble Villa kaufen, für die 50.000 DM des Jahres 1980 dagegen allenfalls eine kleine Eigentumswohnung.“ Inzwischen (2018) dürfte wohl selbst eine kleine Eigentumswohnung für 25.000 Euro jedenfalls in Ballungsgebieten nicht mehr zu bekommen sein. 7  Vgl. Kindler (2008), S. 3249. 8  Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008 (BGBl. I S. 2026).

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für das Gesellschaftsrecht zuständigen II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs unternahm daher Versuche zur Schaffung eines über die gesetzliche Regelung hinausgehenden Gläubigerschutzes bei einer Insolvenz der GmbH. Angesichts der Abstinenz der Gesetzgebung stellte sich hierbei nicht zuletzt das Problem der Gesetzesbindung der Judikatur. Seit 1985 entwickelte der II. Zivilsenat drei unterschiedliche sich einander ablösende Konzeptionen einer unter bestimmten Voraussetzungen über § 31 GmbHG hinausgehenden Haftung der Gesellschafter. Diese Konzeptionen sollen im Folgenden behandelt werden.

II. Entwicklung der Rechtsprechung 1. Konzeption der Konzernhaftung In dieser von 1985 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts reichenden ersten Phase der Versuche, zu einer erweiterten Haftung der Gesellschafter zum Schutze der Gesellschaftsgläubiger bei Zahlungsunfähigkeit der GmbH zu gelangen, suchte der II. Zivilsenat des BGH eine solche Haftung aus Konzerngesichtspunkten herzuleiten. Am Ausgangspunkt dieser Judikatur steht das sogenannte Autokran-Urteil vom 16.9.19859, das die Grundzüge einer solchen konzernmäßigen Haftung formuliert hat. In dem dortigen Fall hatten sieben GmbHs von der Klägerin, einem Leasingunternehmen, insgesamt 39 Autokräne geleast. Wirtschaftlicher Inhaber und tatsächlich alleiniger Leiter aller sieben Gesellschaften war der Beklagte. Dieser führte die Gesellschaften faktisch wie bloße Betriebsabteilungen eines einzigen Unternehmens. Er dirigierte die Autokräne von Fall zu Fall je nach Bedarf zwischen den GmbHs hin und her, ohne die jeweiligen Leistungen zu verrechnen. Die GmbHs wurden schließlich vermögenslos. Die Klägerin verlangte daher vom Beklagten persönlich die Begleichung der noch ausstehenden Leasingraten von 500.000 DM. In dem Autokran-Urteil entwickelte der II. Zivilsenat richterrechtlich die Rechtsfigur des sogenannten qualifizierten faktischen GmbH-Konzerns. Einen solchen Konzern sah der Senat dann als gegeben an, wenn die abhängigen GmbHs unter der dauernden und umfassenden Leitung des herrschenden Gesellschafters stehen und dieser neben seiner Beteiligung an der GmbH noch anderweitige wirtschaftliche Interessen verfolgt, da es dann an dem bei Beteiligung an nur einer GmbH in der Regel gegebenen „Gleichlauf der Interessen“ zwischen Gesellschafter und Gesellschaft fehlt und deshalb von einer tatsächlichen Vermutung auszugehen ist, dass der herrschende Gesellschafter die Interessen der Gesellschaft zugunsten 9  Bundesgerichtshof in Zivilsachen (BGHZ) 95, 330  ff. = Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 1985, 1263 ff.



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seiner anderweitigen Engagements missachtet.10 Widerlegt werden konnte diese Vermutung nach dem Autokran-Urteil, indem das herrschende Unternehmen dartat, dass der pflichtgemäß handelnde Geschäftsführer einer selbstständigen GmbH deren Geschäfte unter den gegebenen Umständen nicht anders geführt hätte.11 In seiner späteren Rechtsprechung verlangte der BGH hingegen für die Widerlegung den Nachweis, dass die eingetretenen Verluste der GmbH auf Umständen beruhten, die mit der Ausübung der Leitungsmacht nichts zu tun hatten.12 Auf der Rechtsfolgenseite wandte der BGH bezüglich des Inhalts und des Umfangs der konzernmäßigen Haftung des herrschenden Unternehmens in Ermangelung eines gesetzlichen GmbH-Konzernrechts die den vertraglichen Aktienkonzern betreffenden Vorschriften der §§ 302 und 303 AktG entsprechend an. Bejaht wurde daher grundsätzlich eine Verpflichtung des herrschenden Unternehmens zum Ausgleich der bei der abhängigen GmbH in der Zeit der Abhängigkeit entstandenen Verluste entsprechend § 302 AktG.13 Bei einer abhängigen GmbH mit nur einem Gesellschafter hatte der Senat im Autokran-Urteil gegen eine analoge Anwendung des § 302 AktG noch Bedenken, da ein selbstständiges Eigeninteresse der GmbH gegenüber ihrem einzigen Gesellschafter als zweifelhaft angesehen wurde. Das Gericht wandte deshalb auf den Fall der Ein-Mann-GmbH stattdessen den § 303 AktG analog an mit der Maßgabe, dass der dort an sich nur gegebene Anspruch der GmbH auf Sicherheitsleistung seitens des herrschenden Gesellschafters sich bei schon eingetretener Vermögenslosigkeit der GmbH in einen entsprechenden Zahlungsanspruch verwandelte.14 Später bejahte der BGH auch bei der Ein-Personen-GmbH einen Anspruch auf Verlustausgleich analog § 302 AktG, da dieser Ausgleich der Kapitalerhaltung bei der abhängigen GmbH und damit dem Schutz von deren Gläubigern diene, wandte aber daneben noch § 303 AktG entsprechend an, weil „der auf einen bestimmten Stichtag bezogene Verlustausgleich vor oder nach seiner Leistung wieder verwirtschaftet sein (kann)“.15 In dem Autokran-Urteil erachtete der II. Zivilsenat die Voraussetzungen des Anspruchs der Klägerin entsprechend § 303 AktG als schlüssig dargetan. 10  In diesem Sinne BGHZ 95, 330, 334 f.; ihm insoweit folgend BGHZ 115, 187, 190 f.; BGHZ 122, 123, 126 f. 11  BGHZ 95, 330, 344. 12  So BGHZ 107, 7, 18 (Tiefbau); ferner BGHZ 115, 187, 194 (Video). 13  BGHZ 95, 330, 345; BGHZ 107, 7, 16. 14  BGHZ 95, 330, 346 f.; für entsprechende Anwendung von § 302 AktG auch auf diese Fälle hingegen Karsten Schmidt (1985), S. 2074, 2077, der ein selbstständiges Eigeninteresse auch der Ein-Mann-GmbH bejaht. 15  BGHZ 115, 187, 197 ff. (Video).

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Die Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, das die Klage abgewiesen hatte, erfolgte nur zwecks Vervollständigung des Sachvortrags unter dem von den Vorinstanzen naturgemäß noch nicht berücksichtigten rechtlichen Gesichtspunkt des § 303 AktG. Die Konstruktion des qualifizierten faktischen GmbH-Konzerns in dem Autokran-Urteil als Grundlage für eine Haftung des herrschenden Gesellschafters einer insolvent gewordenen GmbH wurde im Schrifttum zunächst ganz überwiegend und teilweise sogar enthusiastisch begrüßt. Führende Gesellschaftsrechtler nannten die Entscheidung etwa ein „für Jahre wegweisendes Grundlagenurteil und […] einen Meilenstein auf dem Weg zu einem konsolidierten GmbH-Konzernrecht“16, eine „mächtige und ungemein weitreichende Entscheidung“.17 In der Folgezeit weitete der II. Zivilsenat des BGH das Haftungsregime des qualifizierten faktischen GmbH-Konzerns zunächst noch aus. Den Höhepunkt erreichte diese erste Phase einer Rechtsfortbildung in Richtung einer erweiterten Haftung der GmbH-Gesellschafter mit dem sogenannten VideoUrteil vom 23.9.1991.18 Die Haftung des herrschenden Gesellschafters wird dort nicht auf schuldhaft nicht ordnungsgemäße Geschäftsführung zurückgeführt, sondern auf die „Pflicht zur Übernahme des Risikos, das sich aus der Einbindung der abhängigen Gesellschaft in die übergeordneten Konzerninteressen ergibt“.19 Nach dieser Formulierung war Haftungsgrundlage nicht ein Verschulden, sondern der rein objektive Tatbestand der Eingliederung der GmbH in den Konzern. Die Verantwortlichkeit der Konzernspitze sollte nur insoweit entfallen, als die eingetretenen Verluste der GmbH auf Umständen beruhten, die mit der Ausübung der Leitungsmacht nichts zu tun hatten. Diese Ausdehnung der konzernmäßigen Haftung wurde im Schrifttum überwiegend kritisiert als eine die Haftungsbeschränkung des § 13 Abs. 2 GmbHG ignorierende und angesichts der tatsächlichen Häufigkeit von faktisch konzernierten GmbHs diese Gesellschaftsform überhaupt gefährdende und daher mit dem Gesetz schwer zu vereinbarende Ausweitung des Richterrechts.20 Um den Verdacht einer grundsätzlich GmbH-feindlichen Haltung zu zerstreuen, ruderte der II. Zivilsenat in seinem als „Klarstellung“ der Ausführungen in „Tiefbau“ und vor allem in „Video“ bezeichneten TBB-Urteil vom 16  So Karsten Schmidt (1985), S. 2074, ferner: „Hier (wird) Gesellschaftsrechtsgeschichte geschrieben“. 17  Lutter (1985), S. 1425. 18  BGHZ 115, 187 ff. 19  So BGHZ 115, 187, 194. 20  Vgl. Röhricht (2000), S. 83, 85 f.; besonders scharfe Kritik bei Flume (1992b), S. 817 ff., der dem II. Zivilsenat ein „Selbstverständnis als Inhaber gesetzgeberischer Gewalt“ vorwarf; Flume (1992a), S. 25, 27: „evidenter Bruch des GmbH-Rechts“.



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29.3.199321 deutlich zurück. Als Haftungstatbestand wurde jetzt nicht (mehr) die dauernde und umfassende Leitung der abhängigen GmbH bezeichnet, sondern die Behandlung der abhängigen Gesellschaft in einer einen objek­ tiven Missbrauch der beherrschenden Gesellschafterstellung darstellenden Weise durch Ausübung der Konzernleitungsmacht ohne angemessene Rücksichtnahme auf die eigenen Belange der abhängigen GmbH, ohne dass sich dieser zugefügte Nachteil durch Einzelausgleichsmaßnahmen kompensieren ließe. Die bloße Eingliederung der geschädigten GmbH in den qualifizierten faktischen Konzern reichte hiernach als Haftungsgrundlage nicht aus, vielmehr war ein schuldhaftes Verhalten der Konzernspitze erforderlich. In prozessualer Hinsicht besonders wichtig ist, dass das TBB-Urteil nicht mehr von einer Vermutung einer die GmbH schädigenden Auswirkung der Leitungsmacht ausging, die vom beklagten Konzernherrn zu widerlegen wäre, sondern umgekehrt der Kläger, also der mit seiner Forderung gegen die GmbH ausgefallene Gläubiger, Umstände darlegen und beweisen musste, „die die Annahme zumindest nahelegen, dass bei der Unternehmensführung im Hinblick auf das Konzerninteresse die eigenen Belange der GmbH über bestimmte, konkret ausgleichsfähige Einzeleingriffe hinaus beeinträchtigt worden sind“.22 Einige Autoren sahen schon in der TBB-Entscheidung eine tatsächliche Aufgabe der Rechtsfigur des qualifizierten faktischen GmbHKonzerns.23 Ausdrücklich verabschiedet worden ist dann die Konzernhaftung in der nunmehr zu behandelnden zweiten Phase der Entwicklung. 2. Konzeption der Haftung wegen Existenzvernichtung In dieser von 2001 bis etwa 2006 dauernden zweiten Phase der Rechtsprechung gab der II. Zivilsenat des BGH die Rechtsfigur der Konzernhaftung, von der schon das TBB-Urteil in der Sache deutlich abgerückt war, in dem Bremer-Vulkan-Urteil vom 17.9.200124 endgültig auf und ersetzte sie durch die neue Konzeption der sogenannten Existenzvernichtungshaftung. Dem Bremer-Vulkan-Urteil lag ein Fall zugrunde, der wegen seiner beträchtlichen wirtschaftlichen und politischen Dimensionen seinerzeit erhebliches Aufsehen auch in der außerjuristischen deutschen Öffentlichkeit erregt hatte: Es ging um eine Wismarer Werft, die 1990 von einem VEB in die MTW-GmbH umgewandelt worden war und seit 1992 zu einem von der Bremer VulkanBVV-AG geleiteten Konzern gehörte. Die konzernierten Unternehmen und damit auch die MTW mussten ihre frei verfügbaren Mittel in den Liquiditäts21  BGHZ

122, 123, 130 f. BGHZ 122, 123, 131. 23  So Ulmer (2001), S. 2012 ff.; ähnlich Röhricht (2000), S. 83, 118 ff. 24  BGHZ 149, 10 ff. 22  So

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verbund der BVV einbringen. Die eingebrachten Mittel der MTW bestanden hauptsächlich aus ihr im Zuge des „Aufbaus Ost“ gewährten Beihilfen der öffentlichen Hand. Einen Großteil der Gelder wandte die BVV jedoch entgegen dieser Zweckbestimmung auch westdeutschen Konzerngesellschaften zu. Die BVV fiel 1996 in Konkurs, was zur Überschuldung auch der MTW führte. Die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben – BvS – (vorher Treuhandanstalt) verklagte daraufhin die früheren Vorstandsmitglieder der BVV wegen Betruges und Untreue auf Schadensersatz. Der BGH hob das klageabweisende Urteil des Berufungsgerichts auf und verwies zurück. Die Klage richtete sich hier also nicht gegen die Gesellschafter (Aktionäre) der BVV, sondern gegen deren Vorstandsmitglieder. Das Problem der Gesellschafterhaftung war daher an sich gar nicht entscheidungserheblich. Der II. Zivilsenat nahm den Fall gleichwohl zum Anlass, in einem obiter dictum die neue Grundlage der Gesellschafterhaftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs vorzustellen. Hierbei folgte der Senat der von seinem seit 1996 amtierenden Vorsitzenden Richter Röhricht entwickelten Konzep­ tion.25 Aus dem Bremer-Vulkan-Urteil und den auf diesem aufbauenden weiteren Entscheidungen ergab sich für die Haftung aus existenzvernichtendem Eingriff das folgende Bild: In dem Bremer-Vulkan-Urteil stellte der Senat zunächst ausdrücklich klar, dass „der Schutz einer abhängigen GmbH gegenüber Eingriffen ihres Alleingesellschafters […] nicht dem Haftungssystem des Konzernrechts des Aktiengesetzes (folgt)“26. Die Rechtsprechung zum qualifizierten faktischen GmbH-Konzern war damit jedenfalls für die eingliedrige GmbH verabschiedet.27 Geschützt gegenüber ihren Gesellschaftern wird die GmbH grundsätzlich nur durch das Verbot der Schmälerung ihres Stammkapitals gemäß §§ 30 und 31 GmbHG.28 Neben dieser Verpflichtung zur Erhaltung des Stammkapitals bejahte aber die Judikatur – und dies war der entscheidende Punkt des neuen Systems – eine Pflicht der Gesellschafter, auch des Alleingesellschafters, die Fähigkeit der GmbH zur Bedienung von deren Verbindlichkeiten gegenüber ihren Gläubigern zu respektieren. Diese Verpflichtung betrachtete der BGH trotz Fehlens einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung als notwendige Kehrseite der in § 13 Abs. 2 GmbHG normierten Haftungsbeschränkung. Über diese Fähigkeit der Gesellschaft zur Tilgung der gegenüber ihren Gläubigern 25  Röhricht

(2000), S. 83, 97 ff., 103 ff. 149, 10, 16. 27  So Altmeppen (2001), S. 1837, 1838 ff., 1846. 28  BGHZ 149, 10, 16. 26  BGHZ



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bestehenden Verpflichtungen könnten die Gesellschafter ebenso wenig disponieren wie nach den §§ 30 und 31 GmbHG über das Stammkapital.29 Dieser Verantwortlichkeit der Gesellschafter steht auch nicht entgegen, dass die GmbH als solche gegenüber ihren Gesellschaftern grundsätzlich keinen Bestandsschutz genießt, die Gesellschafter sie an sich jederzeit liquidieren können. Denn wegen der vorrangigen Verpflichtung zur Tilgung der Ansprüche der Gläubiger kann eine solche Liquidation nicht in einer ins Belieben der Gesellschafter gestellten Art und Weise erfolgen, sondern nur in einem gesetzlich geregelten Verfahren, das diesen Vorrang der Gläubiger vor den Gesellschaftern gewährleistet, also entweder in einem Insolvenzverfahren oder einer Liquidation nach den §§ 66 ff. GmbHG.30 Entzieht der Gesellschafter der GmbH Vermögenswerte, die zur Befriedigung ihrer Gläubiger erforderlich sind, ohne Kompensation, so liegt hierin ein Missbrauch der Rechtsform der GmbH, der die Haftungsbeschränkung des § 13 Abs. 2 GmbHG entfallen lässt. Die Gläubiger der GmbH können daher im Falle einer durch den Eingriff verursachten – auch masselosen – Insolvenz der Gesellschaft die ursprünglich von dieser geschuldeten Leistungen unmittelbar von den Gesellschaftern verlangen.31 In einem Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH kann die Ansprüche der Gläubiger gegen die Gesellschafter in entsprechender Anwendung des § 93 InsO nur der Insolvenzverwalter geltend machen.32 Bei der Existenzvernichtungshaftung handelte es sich also um eine Außenhaftung der Gesellschafter gegenüber den Gläubigern. Hierdurch unterschied sich diese Haftung von der gegenüber der GmbH selbst bestehenden Haftung nach den §§ 30 und 31 GmbHG. Der Anspruch der Gläubiger wegen Existenzvernichtung wurde im Verhältnis zu dem Anspruch der Gesellschaft aus den §§ 30 und 31 GmbHG als subsidiär angesehen; er griff also nicht ein, wenn die Forderungen der Gläubiger schon durch das wieder aufgefüllte Stammkapital gedeckt waren.33 Die Notwendigkeit einer besonderen Existenzvernichtungshaftung neben der Haftung auf Auffüllung des Stammkapitals aus §§ 30 und 31 GmbHG wurde deshalb für erforderlich gehalten, weil der letztgenannte Anspruch nur auf einen Ausgleich der zum betreffenden Stichtag bestehenden Unterbilanz 29  Vgl. zum Ganzen BGHZ 149, 10, 16; BGH ZIP 2005, 117, 118 m. Anm. Altmeppen; Röhricht (2000), S. 83, 97 ff., 103 ff.; Röhricht (2005), S. 505, 513 f. 30  BGH (2005), S. 117, 118 m. Anm. Altmeppen; Röhricht (2005), S. 505, 513 f.; ausführlich Röhricht (2000), S. 83, 97 ff.,103 ff. 31  BGHZ 151, 181, 187 = Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2002, 1578, 1579 f. sowie Angaben oben unter Anm. 30. 32  Vgl. Altmeppen (2002), S. 1553, 1560, 1563. 33  BGHZ 149, 10, 16; BGH Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2002, 1578.

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der GmbH gerichtet ist, nicht aber auch auf Ausgleich der durch die Unter­ bilanz gegebenenfalls herbeigeführten, durch die Kapitalauffüllung nicht mehr zu beseitigenden Folgeschäden („Kollateralschäden“) sowie auch nicht auf den Ersatz der durch den Entzug von nicht bilanzierungsfähigen Gütern (zum Beispiel Geschäftschancen) entstandenen Schäden.34 Die Existenzvernichtungshaftung wurde wegen des aus ihr folgenden weitgehenden völligen Verlustes der Haftungsbeschränkung im Schrifttum inkonsequent überwiegend als Verschuldenshaftung eingeordnet, da die mit dem Wegfall der Haftungsbeschränkung aus § 13 Abs. 2 GmbHG an sich eintretende unbeschränkte Gesellschafterhaftung als zu hart erschien.35 Der BGH ließ hingegen die unbeschränkte, ohne Verschulden eintretende persönliche Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs entfallen, wenn den Gesellschaftern der Nachweis gelang, dass der GmbH im Vergleich mit der Vermögenslage bei einem redlichen Verhalten nur ein begrenzter und dann nur in diesem Umfang auszugleichender Nachteil entstanden war,36 was aber ebenfalls nicht folgerichtig war. Das Konzept der Existenzvernichtungshaftung verdient jedenfalls gegenüber der früheren Konstruktion der Haftung aus qualifiziertem faktischem GmbH-Konzern den Vorzug, weil die Voraussetzungen dieser Konzernhaftung und die diesbezüglichen Entlastungsmöglichkeiten wenig klar waren. Die Grundthese der neuen Haftungsart, dass die Gesellschafter die Fähigkeit der Gesellschaft zur Tilgung ihrer Verbindlichkeiten erhalten müssten, ist zwar sachlich überzeugend, sie wurde aber ohne ausreichende gesetzliche Begründung in den Raum gestellt. Ein vielkritisierter Schwachpunkt bestand schließlich in der gegenüber dem Anspruch aus den §§ 30 und 31 GmbHG unterschiedlichen Aktivlegitimation hinsichtlich des Anspruchs aus Existenzvernichtung, die hier den GmbH-Gläubigern zugewiesen wurde, dort aber der GmbH selbst zusteht.37 3. Konzeption der Haftung aus § 826 BGB Das zunächst im Grundsatz überwiegend gebilligte System der Existenzvernichtungshaftung erfuhr etwa seit 2006 zunehmende Kritik wegen der mangelnden gesetzlichen Grundlage, der Härte der die Gesellschafter treffenden Durchgriffshaftung und vor allem wegen der Anspruchsberechtigung der 34  BGH ZIP 2005, 117, 118 m. Anm. Altmeppen; Röhricht (2005), 505, 514 f. mit Beispielen; Röhricht (2000), S. 83, 93 ff. 35  Dauner-Lieb (2006), 2034, 2039 f.; ganz entschieden Zöllner (2006), S. 999, 1020, da andernfalls eine Art „Gefährdungshaftung“ gegeben wäre. 36  So BGH ZIP 2005, 117, 118 m. Anm. Altmeppen; Röhricht (2005), 505, 515; nur im Ergebnis zustimmend Dauner-Lieb (2006), S. 2034, 2040. 37  Eingehend Dauner-Lieb (2006), 2034, 2039.



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Gesellschaftsgläubiger, im Gegensatz zu dem der GmbH zustehenden Anspruch aus § 31 GmbHG. Der II. Zivilsenat des BGH entwickelte daher nach einem erneuten Wechsel seines Vorsitzenden Richters (2005 von Volker Röhricht zu Wulf Goette) das neue System einer auf die deliktische Generalklausel des § 826 BGB gestützten Haftung der Gesellschafter in dem grundlegenden „Trihotel“-Urteil vom 16.7.2007.38 Diesen erneuten Rechtsprechungswandel bezeichnete der Senat als durch „richterrechtlichen Gestaltungsakt“ erfolgt.39 Der Beklagte des entschiedenen Falles war Gesellschafter einer GmbH, von der er auf einem ihm gehörenden, an die GmbH verpachteten Grundstück das Trihotel betreiben ließ. Er übereignete das Hotelinventar zur Sicherheit für einen ihm gewährten Kredit, beendete den Pachtvertrag mit der GmbH vorzeitig und verpachtete das Hotel an eine Schwestergesellschaft, wobei die GmbH aber das Hotel auf Grund eines Geschäfts- und Managementvertrages gegen Umsatzbeteiligung weiter betrieb. Die GmbH wurde dann insolvent, und der klagende Insolvenzverwalter verlangte vom Beklagten die Begleichung der gegen die GmbH gerichteten Insolvenzforderungen. Die Klage hatte vor dem LG und dem OLG Rostock Erfolg. Auf die Revision des Beklagten hob der BGH das angefochtene Urteil auf und verwies die Sache an einen anderen Senat des OLG zurück. Das neue Haftungssystem bedeutet keineswegs eine völlige Abkehr von dem Konzept der Existenzvernichtungshaftung. An dem bisherigen Begriff der Existenzvernichtung als eines missbräuchlichen kompensationslosen Eingriffs eines Gesellschafters in das der Zweckbindung zur vorrangigen Befriedigung der GmbH-Gläubiger dienende Gesellschaftsvermögen mit der Folge der Auslösung oder Vertiefung einer Insolvenz der Gesellschaft hält der BGH vielmehr fest. Die Existenzvernichtungshaftung ist aber keine eigenständige Haftungsfigur mehr, sondern sie bildet fortan eine besondere Fallgruppe der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB als der neuen Anspruchsgrundlage.40 Dogmatisch begründete der Senat diese Qualifizierung als deliktischen Tatbestand überzeugend mit der Erwägung, dass es sich bei einem existenzvernichtendem Eingriff eines Gesellschafters in das für die Befriedigung der Gläubiger der GmbH erforderliche Gesellschaftsvermögen nicht, wie bisher angenommen, um einen Missbrauch der Gesellschaftsform der GmbH als solcher handelt mit der Folge, dass sich der Gesellschafter 38  BGHZ 173, 246 ff. = Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2007, 1552 ff. mit Besprechung Weller (2007), S. 1681  ff. = Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (EWiR) 2007, 557 f. mit Besprechung Wilhelm (2007). 39  BGHZ 173, 246, 255 (Tz. 23). 40  BGHZ 173, 246, 252 (Tz. 16,17) und die weitere Rechtsprechung.: BGHZ 179, 344, 349 f. = Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2009, 802, 804 (Tz. 16), Urt. v. 9.2.2009 – Sanitory; BGHZ 193, 96, 99 f. = Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2012, 1071, 1072 (Tz. 13), Urt. v. 23.4.2012 – Wirtschaftsakademie.

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nicht mehr auf die für diese Gesellschaftsform charakteristische Haftungsbeschränkung des § 13 Abs. 2 GmbHG berufen könnte und ein Durchgriff der Gläubiger auf das Vermögen der Gesellschafter gegeben wäre; es liegt vielmehr „ein missbräuchlicher Eingriff in das Gesellschaftsvermögen unter Verstoß gegen die Verpflichtung zur Respektierung seiner Zweckbindung zur vorrangigen Gläubigerbefriedigung“ vor.41 Auf der Rechtsfolgenseite entfiel mit dem Ende der Bewertung des existenzvernichtenden Eingriffs als Missbrauch der GmbH auch der deshalb bisher angenommene Verlust der Haftungsbeschränkung des § 13 Abs. 2 GmbHG und die dadurch ausgelöste unbeschränkte Gesellschafterhaftung. Der stattdessen wegen des missbräuchlichen Eingriffs in das Gesellschaftsvermögen nunmehr gegebene Schadensersatzanspruch aus §  826 BGB steht – und hierin liegt der praktische Hauptunterschied zum bisherigen System – nicht mehr den Gesellschaftsgläubigern zu, sondern der GmbH selbst, denn diese ist wegen der durch den Eingriff herbeigeführten Beeinträchtigung ihrer Fähigkeit zur Tilgung ihrer Verbindlichkeiten als die primär Geschädigte anzusehen, während die Gläubiger mit ihrem Ausfall nur einen Reflexschaden erleiden. An die Stelle der vorherigen Außenhaftung der Gesellschafter gegenüber den Gesellschaftsgläubigern ist damit eine Innenhaftung der Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft getreten.42 Ein selbstständiges Vermögensinteresse der GmbH in dem zur Gläubigerbefriedigung erforderlichen Umfang ist nicht nur für die werbende, sondern erst recht für die Liquidationsgesellschaft anzuerkennen, wie sich positivrechtlich aus der Beschränkung des Beginns der Vermögensverteilung an die Gesellschafter in § 73 Abs. 1 und 2 GmbHG ergibt. Auch einer GmbH in Liquidation kann daher ein Anspruch „aus § 826 BGB gegen den Gesellschafter schon dann zustehen, wenn dieser unter Verstoß gegen § 73 Abs. 1 GmbHG in sittenwidriger Weise das im Interesse der Gesellschaft zweck­ gebundene Gesellschaftsvermögen schädigt, ohne dass zugleich die speziellen ‚Zusatzkriterien‘ einer Insolvenzverursachung oder -vertiefung erfüllt sind“.43 41  BGHZ 173, 246, 257 (Tz. 28); BGHZ 176, 204, 209 f. = Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2008, 1232, 1233 (Tz. 10) – Urt. v. 28.4.2008 – Gamma. Ebenso Osterloh-Konrad (2008), S. 274, 290; ferner schon vor „Trihotel“ Zöllner (2006), S.  999, 1008 ff. 42  BGHZ 173, 246, 252 ff.(Tz. 17, 41); BGHZ 176, 204, 209 f. (Tz. 10); zustimmend Vetter (2007), S. 1965, 1968; Altmeppen (2008), S. 1201, 1204 f.; OsterlohKonrad (2008), S. 274, 289 f.; Wackerbarth (2008), S. 1166; für Außenhaftung dagegen Rubner (2007), S. 635, 643 ff.; Schwab (2008), S. 341, 344 ff. 43  So BGHZ 179, 344, 355 f. = Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2009, 802, 806 (Tz. 37) – Sanitory; BGHZ 193, 96, 99 f. = ZIP 2012, 1071, 1072 (Tz. 13) – Wirtschaftsakademie.



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Da der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB, anders als der bisherige Durchgriffsanspruch, der GmbH zusteht, ist die Gesellschaft für diesen Anspruch nunmehr ebenso aktivlegitimiert wie für den Anspruch aus den §§ 30 und 31 GmbHG. Diese Vereinigung der Gläubigerstellung in einer Person bedeutet dogmatisch wie praktisch fraglos einen Fortschritt des neuen Haftungssystems im Vergleich zu dem bisherigen Nebeneinander des Durchgriffsanspruchs der Gläubiger und des Anspruchs der GmbH auf Wiederauffüllung ihres Stammkapitals gemäß den §§ 30 und 31 GmbHG, das der BGH im „Trihotel“ als geprägt von „Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten“ bezeichnet hat.44 Der Anspruch aus § 826 BGB ist daher, im Gegensatz zu dem früheren Durchgriffsrecht der Gesellschaftsgläubiger, im Verhältnis zu dem Anspruch gemäß §§ 30 und 31 GmbHG nicht subsidiär, sondern es besteht Anspruchsgrundlagenkonkurrenz.45 Als Anspruch der GmbH wird der Existenzvernichtungsanspruch aus § 826 BGB im Insolvenzverfahren über das Gesellschaftsvermögen vom Insolvenzverwalter geltend gemacht; zu dieser Zuständigkeit des Verwalters bedarf es nicht mehr einer analogen Anwendung des § 93 InsO.46 Eine Schwierigkeit besteht allerdings in den häufigen Fällen, in denen ein Insolvenzverfahren mangels Masse gar nicht eröffnet wird. Den GmbH-Gläubigern bleibt hier mangels eigenen Anspruchs nur die Möglichkeit, den Anspruch der GmbH gegen deren Gesellschafter zu pfänden und sich überweisen zu lassen.47 Wegen der Nachteile dieses Vorgehens wird das Fehlen eines eigenen Anspruchs der Gläubiger in Teilen des Schrifttums kritisiert.48 Das Problem verliert allerdings an Schärfe bei einer im Rahmen des Möglichen liegenden Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs der GmbH gegen ihre Gesellschafter, da dann die Gesellschaft doch nicht masselos wäre mit der Folge einer möglichen Verfahrenseröffnung.49 Passivlegitimiert sind für die Schadensersatzhaftung aus existenzvernichtendem Eingriff gemäß § 826 BGB die den Eingriff vornehmenden Gesellschafter der GmbH. Da es sich nunmehr um eine deliktische Haftung handelt, sind auch die §§ 830 und 840 BGB anwendbar, weshalb auch Nichtgesell44  Vgl.

BGHZ 173, 246, 260 (Tz. 32). 173, 246, 262 f. (Tz. 30–40). 46  BGHZ 173, 246, 261 (Tz. 34, 35). 47  BGHZ 173, 246, 261 f. (Tz. 36, 37). 48  So von Altmeppen (2007), S. 2657, 2659; Vetter (2007), S. 1965, 1968, 1970; Wiedemann (2008), S. 337, 339; Witt (2008), S. 219, 226 f.; Schwab (2008), S. 314, 347 f.; Kölbl (2009), S. 1194, 1201. 49  So Strohn (2008), S. 706, 709; ähnlich Rubner (2007), S. 635, 645: Insolvenzgrund der Überschuldung wäre durch den entstehenden Schadensersatzanspruch der GmbH gegen den Gesellschafter mit Verfahrenseröffnung nach einer juristischen Sekunde wieder beseitigt. 45  BGHZ

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schafter, etwa Geschäftsführer der Gesellschaft, als Teilnehmer gesamtschuldnerisch verantwortlich sein können.50 Umstritten ist die Frage einer Teilnehmerhaftung auch von Geschäftspartnern, Beratern, Banken und so weiter des Gesellschafters.51 Die Tathandlung des existenzvernichtenden Eingriffs erfordert grundsätzlich ein positives Tun in Form der Übertragung von GmbH-Vermögen auf den Gesellschafter. Eine solche „Selbstbedienung“ begründet auch den nach § 826 BGB erforderlichen Vorwurf der Sittenwidrigkeit. Kein Eingriff in diesem Sinne ist mithin das bloße Unterlassen einer zum Betrieb des Unternehmens hinreichenden Kapitalausstattung der GmbH. Das drängende Pro­ blem der häufigen materiellen Unterkapitalisierung der GmbHs wird also auch nicht mit dem Instrument der Verantwortlichkeit gemäß § 826 BGB wegen existenzvernichtenden Eingriffs mittelbar gelöst.52 Ebenso wenig lassen sich bloße Managementfehler mangels einer Vermögensverschiebung als Eingriff im Sinne des § 826 BGB qualifizieren.53 Anders als nach der früheren selbstständigen Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs, die nach der damaligen Rechtsprechung grundsätzlich verschuldensunabhängig war (siehe oben zu 2.), erfordert die jetzige deliktische Verantwortlichkeit ein schuldhaftes Handeln und zwar nach der einschlägigen Norm des § 826 BGB in Form des Vorsatzes, wobei ein bedingter Vorsatz ausreicht. Der Vorsatz muss sich außer auf den Schaden der GmbH auch auf die die Sittenwidrigkeit des Eingriffs begründenden Umstände beziehen, nicht erforderlich ist hingegen ein Schluss aus diesen Umständen auf die Sittenwidrigkeit als solche.54 Der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB umfasst (nur) den Betrag, der zur Wiederherstellung der Fähigkeit der GmbH, ihre Verbindlichkeiten zu bedienen, erforderlich ist, soweit diese Fähigkeit eingriffsbedingt geschmälert worden ist. Ersatzfähig in diesem Umfang sind hiernach auch die von dem Anspruch aus §§ 30 und 31 GmbHG nicht erfassten Schäden wie die sogenannten Kollateralschäden (vgl. hierzu oben zu 2.), die Verluste von nicht bilanzierungsfähigen Gütern (zum Beispiel immateriellen Wirtschaftsgütern) sowie der entgangene Gewinn der Gesellschaft.55 Erfasst sind 50  Vgl. BGHZ 173, 246, 265 (Tz. 46); Strohn (2008), S. 706, 709; auch Kindler (2008), S. 3249, 3255. 51  Bejahend Kölbl (2009), S. 1194, 1198; ablehnend Vetter (2007), S. 1965, 1969. 52  Vgl. BGHZ 176, 204, 211 f. (Tz. 13) – Gamma; Altmeppen (2008), S. 1201, 1205; Veil (2008), S. 3264, 3265 f.; Wackerbarth (2008), S. 1166, 1167 f. 53  Dauner-Lieb (2008), S. 34, 45; Strohn (2008), S. 706, 708; Veil (2008), S. 3264, 3265; Weller (2007), S. 1681, 1685. 54  BGHZ 173, 246, 258 f. (Tz. 30). 55  Vgl. Goette (2007), S. 1593; Weller (2007), S. 1681, 1686 f.; Rubner (2007), S.  635, 640 ff.; Witt (2008), S. 219, 223; Osterloh-Konrad (2008), 274, 275.



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schließlich auch die Kosten des durch den Eingriff verursachten (vorläufigen) Insolvenzverfahrens.56 Zu ersetzen ist aber von den Gesellschaftern hinsichtlich aller Schäden nur der Ausfall der GmbH-Gläubiger, nicht der gesamte eingriffsbedingte Schaden der Gesellschaft.57 Das seit „Trihotel“ praktizierte neue System einer über die Verpflichtung zur Erhaltung des Stammkapitals nach den §§ 30 und 31 GmbHG hinausgehenden Haftung der GmbH-Gesellschafter stützt der BGH ausschließlich auf die deliktische Norm des § 826 BGB. Auf den allgemeinen methodischen Grundsatz der vorrangigen Erörterung möglicher Ansprüche aus der Verletzung von Pflichten aus rechtlicher Sonderverbindung, hier also zwischen den Gesellschaftern und der GmbH aus dem Gesellschaftsverhältnis, vor der Verletzung einer Jedermannspflicht aus unerlaubter Handlung geht das Gericht nicht näher ein, obwohl das Bestehen einer solchen Sonderverbindung angesichts der gerade vom II. Zivilsenat bejahten Pflicht der Gesellschafter, die Fähigkeit der Gesellschaft zur Tilgung ihrer Verbindlichkeiten gegenüber ihren Gläubigern zu erhalten, nicht zweifelhaft sein kann.58 Der Grund für die unterbliebene Prüfung einer Haftung (auch) wegen Verletzung von Gesellschafterpflichten aus der Sonderverbindung Gesellschafter / Gesellschaft seitens der Judikatur ist sicher darin zu finden, dass bei Bejahung einer solchen Verantwortlichkeit der Gesellschafter auch eine bloß fahrlässige Pflichtverletzung zu vertreten hätte (§§ 280 Abs. 1 S. 2 und 276 BGB) und ihn außerdem die Beweislast für ein fehlendes Vertretenmüssen der Pflichtverletzung träfe. Diese strengere Verantwortlichkeit der Gesellschafter wollte das Gericht offenbar vermeiden, um die Attraktivität der Rechtsform GmbH zu erhalten.59

III. Beurteilung Mit der Entwicklung einer Innenhaftung der GmbH-Gesellschafter gegen die Gesellschaft aus § 826 BGB wegen existenzvernichtenden Eingriffs ist dem BGH nach zwei wenig befriedigenden tastenden Versuchen ein insgesamt tragfähiger Ausgleich der widerstreitenden Belange der Beteiligten gelungen. Den Gläubigern der GmbH wird mit dem Schadensersatzanspruch eine gewisse Sicherheit für den Fall einer Insolvenz der Gesellschaft gegeben, da die Kapitalerhaltungshaftung nach den §§ 30 und 31 GmbHG, wie 56  BGHZ

173, 246, 269 (Tz. 57). schon vor „Trihotel“ Zöllner (2006), S. 999, 1008. 58  Bejahend Osterloh-Konrad (2008), 274, 290 ff.; Dauner-Lieb (2008), S. 34, 43; Schwab (2008), S. 341, 343; eine Sonderverbindung ablehnend Rubner (2007), S. 635, 643. 59  Vgl. die Angaben oben Anm. 58 sowie Weller (2007), S. 1681, 1683 f. 57  So

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kaum bestritten wird, angesichts des viel zu niedrigen Mindestbetrages des Stammkapitals von 25.000 Euro, der in der Rechtswirklichkeit bei den meisten GmbHs vorherrscht, eine solche Sicherheit nicht entfernt zu gewähren vermag und eine Erhöhung dieses Betrages durch den Gesetzgeber in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Den berechtigten Interessen der Gesellschafter wird dadurch Rechnung getragen, dass die Beschränkung ihrer persön­ lichen Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs an das Verschuldenserfordernis des Vorsatzes nach § 826 BGB geknüpft und der anspruchsstellende Gläubiger für ein Verschulden des Gesellschafters beweisbelastet ist. Die durchaus unerwünschte Gefahr eines Verschwindens der Gesellschaftsform der GmbH in der Rechtswirklichkeit durch übermäßige Haftungsrisiken der Gesellschafter bei weitgehender Aushöhlung der Haftungsbeschränkung des § 13 Abs. 2 GmbHG wird dadurch ebenso vermieden wie eine Bedrohung der Kreditfähigkeit der Gesellschaft mangels ausreichenden Gläubigerschutzes. Das neue Haftungskonzept des BGH seit dem „Trihotel“-Urteil wird deshalb im Schrifttum zu Recht überwiegend begrüßt.60 Gewisse Schwächen des Systems in Einzelpunkten wie die sich aus der bloßen Innenhaftung der Gesellschafter bei Nichteröffnung eines Insolvenzverfahrens für die Gläubiger ergebende Schwierigkeit der Rechtsverfolgung nur durch Pfändung und Überweisung des Anspruchs der GmbH gegen die Gesellschafter vermögen die Brauchbarkeit des Gesamtkonzepts nicht grundsätzlich zu beeinträchtigen. Literatur Altmeppen, Holger (2001): Grundlegend Neues zum „qualifiziert faktischen“ Konzern und zum Gläubigerschutz in der Einmann-GmbH. „Zeitschrift für Wirtschaftsrecht“ (ZIP), S. 1837–1847. – (2002): Zur Entwicklung eines neuen Gläubigerschutzkonzeptes in der GmbH. „Zeitschrift für Wirtschaftsrecht“ (ZIP), S. 1553–1563. – (2007): Abschied vom „Durchgriff“ im Kapitalgesellschaftsrecht. „Neue Juristische Wochenschrift“ (NJW), S. 2657–2660. – (2008): Zur vorsätzlichen Gläubigerschädigung, Existenzvernichtung und mate­ riellen Unterkapitalisierung in der GmbH. „Zeitschrift für Wirtschaftsrecht“ (ZIP), S. 1201–1207. 60  Vgl. Weller (2007), S. 1681, 1683, 1689; Altmeppen (2007), S. 2657: „klassische Verschuldenshaftung mit präzisen tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen“; Dauner-Lieb (2008), S. 34, 41 sieht das Bedürfnis eines über die §§ 30 und 31 GmbHG hinausgehenden Schutzes des GmbH-Vermögens vor Eingriffen der Gesellschafter allein durch die gesetzlichen Vorschriften (scilicet des § 826 BGB) in dem neuen System erfüllt und verneint deshalb ein weiterhin bestehendes Bedürfnis der Schließung einer diesbezüglichen durch Richterrecht zu füllenden Lücke; ferner Theiselmann (2007), S. 904, 906.



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Dauner-Lieb, Barbara (2006): Die Existenzvernichtungshaftung – Schluss der Debatte? „Das deutsche Steuerrecht“ (DStR), S. 2034–2041. – (2008): Die Existenzvernichtungshaftung als deliktische Innenhaftung gemäß § 826 BGB. „Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht“ (ZGR), S. 34–47. Flume, Werner (1992a): Das Video-Urteil und das GmbH-Recht. „Der Betrieb“ (DB), S. 25–29. – (1992b): Das Video-Urteil als eine Entscheidung des II. Senats des BGH aus dessen Selbstverständnis der Innehabung gesetzgeberischer Gewalt. „Zeitschrift für Wirtschaftsrecht“ (ZIP), S. 817–820. Goette, Wulf (2007): Anmerkung zu dem Urteil des BGH v. 16.7.2007. „Das deutsche Steuerrecht“ (DStR), S. 1593–1594. Kindler, Peter (2008): Grundzüge des neuen Kapitalgesellschaftsrechts – Das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG). Neue Juristische Wochenschrift“ (NJW), S. 3249–3256. Kölbl, Angela (2009): Die Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs: gesicherte Erkenntnisse und Entwicklungen seit Trihotel. „Der Betriebs-Berater“ (BB), S. 1194–1201. Lutter, Marcus (1985): Die Haftung des herrschenden Unternehmens im GmbHKonzern. Überlegungen zur „Autokran“-Entscheidung des BGH v. 16.9.1985. „Zeitschrift für Wirtschaftsrecht“ (ZIP), S. 1425–1435. – (1992): Die Entwicklung der GmbH in Europa und in der Welt, in: ders. / Peter Ulmer / Wolfgang Zöllner (Hrsg.), Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, Köln, S. 49–83. Osterloh-Konrad, Christine (2008): Abkehr vom Durchgriff: Die Existenzvernichtungshaftung des GmbH-Gesellschafters nach „Trihotel“. „Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht“ (ZHR), S. 274–305. Priester, Hans-Joachim (1992): Kapitalaufbringung, in: Marcus Lutter / Peter Ulmer /  Wolfgang Zöllner (Hrsg.), Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, Köln, S. 159–187. Röhricht, Volker (2000): Die GmbH im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Dispositionsfreiheit ihrer Gesellschafter und Gläubigerschutz, in: Karlmann Geiß et al. (Hrsg.), Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, Köln / Berlin / Bonn / München, S. 83–122. – (2005): Insolvenzrechtliche Aspekte im Gesellschaftsrecht. „Zeitschrift für Wirtschaftsrecht“ (ZIP), S. 505–516. Rubner, Daniel (2007): Die Haftung wegen sittenwidriger vorsätzlicher Existenzvernichtung. „Der Konzern“, S. 635–647. Schmidt, Karsten (1985): Zum Haftungsdurchgriff wegen Sphärenvermischung und zur Haftungsverfassung im GmbH-Konzern. Bemerkungen zum Urteil des BGH v. 16.9.1985. „Der Betriebs-Berater“ (BB), S. 2074–2079. – (2002): Gesellschaftsrecht, Köln / Berlin / Bonn / München.

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Der rational kalkulierende Verbrecher? Zu Entwicklung, Stand und Zukunftsperspektiven ökonomischer Kriminalitätstheorien Von Stefan Harrendorf und Bernd Geng

I. Einleitung Die ökonomischen Kriminalitätstheorien führen uns zurück an den Ursprung der Kriminologie, zu ihren Klassikern, wie Bentham, Beccaria oder von Feuerbach. Sie beleben wieder, was einst Ausgangspunkt kriminalitätstheoretischen Bemühens war und kleiden es in das Gewand moderner Ökonomie. Der spätere Nobelpreisträger Gary S. Becker, der insbesondere mit einem wegweisenden Aufsatz aus dem Jahr 1968 Wegbereiter der ökonomischen Perspektive auf das Verbrechen war, hat dies in ebenjenem Aufsatz treffend so formuliert: „Lest the reader be repelled by the apparent novelty of an ‚economic‘ framework for illegal behavior, let him recall that two important contributors to criminology during the eighteenth and nineteenth centuries, Beccaria and Bentham, explicitly applied an economic calculus. Unfortunately, such an approach has lost favor during the last hundred years, and my efforts can be viewed as a resurrection, modernization, and thereby I hope improvement on these much earlier pioneering studies.“1

Im Folgenden werden wir den berechtigten Aspekten, aber auch den Pro­ blemen und Grenzen einer solchen ökonomischen Perspektive auf den Grund gehen. Zuvor ist noch zu klären, in welchem Verhältnis der hiesige Beitrag zu dem thematischen Gesamtrahmen des Bandes steht: „Recht trifft Wirtschaft“. Die ökonomische Kriminalitätstheorie ist eine zugleich ökonomische wie auch kriminologische Theorie, Kriminologie aber eine Sozialwissenschaft. Insofern geht es hier also nicht im engeren Sinne um Recht. Allerdings gibt es selbstverständlich wichtige Bezüge zum Strafrecht, und zwar nicht allein deshalb, weil sich auch das Strafrecht immer nur aus dem Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen lässt, sondern auch deshalb, weil gemeinhin dem Strafrecht eine präventive Funktion, nämlich der Rechtsgüter1  Becker

(1968), S. 209.

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schutz, zugeschrieben wird.2 Daneben dient das Strafrecht auch der Erhaltung von Normgeltung und Normvertrauen.3 Insofern ist Strafrecht notwendig jedenfalls auch folgenorientiert und damit (auch) über präventive Straftheorien konsequentialistisch zu rechtfertigen.4 Zwar werden im deutschen Strafrecht zunehmend auch wieder rein deontologische, retributive Straftheorien vertreten,5 ganz ohne Folgenorientierung ist aber (abgesehen von dann entstehenden verfassungsrechtlichen Bedenken mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz)6 auch gesellschaftlich kein Auskommen: „Wenn ich ernsthaft damit rechnen muß, in einer Parkanlage verletzt, beraubt und vielleicht sogar getötet zu werden, wird mich auch die Gewißheit, jedenfalls im Recht zu sein, nicht dazu bringen, mich ohne Not in diese Anlage zu begeben. Ohne hinreichende kognitive Sicherheit erodiert die Normgeltung und wird zum leeren Versprechen, leer, weil es keine wirklich lebbare gesellschaftliche Gestalt mehr anbietet […]. [D]as Vertrauen auf das, was nicht sein darf, verhilft eben nur dann zu einer Orientierung, mit der man sein Auskommen finden kann, wenn es vom Wissen, was sein wird, nicht allzu stark konterkariert wird.“7

Die ökonomische Kriminalitätstheorie hat dabei einen sehr spezifischen Bezug zur präventiven Rechtfertigung der Strafe, stützt doch das Konstrukt eines rational Kosten und Nutzen abwägenden Verbrechers prima facie den Ansatz der negativen (also abschreckenden) Generalprävention,8 der schon in der klassischen Schule der Kriminologie vertreten wurde.9 Ob allerdings allein mit Abschreckung für das Strafrecht ein Auskommen zu finden ist, darf bezweifelt werden, wie die nachfolgende Darstellung zeigen wird.

II. Der ökonomische Ansatz im Gefüge der Kriminalitätstheorien Das Bild vom rational kalkulierenden Verbrecher enthält eine Fokussierung auf ein spezifisches – nämlich strafrechtsverletzendes – individuelles Verhalten, das im Rahmen einer allgemeinen ökonomischen Theorie des menschlichen Verhaltens erklärt werden kann. Insofern zielt der Begriff nur Jescheck / Weigend (1996), S. 7. bspw. Jakobs (2004b), S. 29. 4  Siehe ausführlich Kaspar (2014); Greco (2009); zudem Harrendorf (2019). 5  Zum Beispiel Köhler (1997), S. 37 ff.; Pawlik (2004); Wolff (1985), 786 ff. 6  Zutreffend Kaspar (2014), S. 134 ff. 7  Jakobs (2004a), S. 91. 8  Vgl. nur Becker (1968); zu den Unterschieden zwischen von Feuerbachs Ansatz und der Rational-Choice-Theorie siehe Greco (2009), S. 87 ff. 9  von Feuerbach (1832), S.  15 f. 2  Siehe 3  Vgl.



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„ökonomische Kriminalitätstheorien“ auf den zu erklärenden Sachverhalt des rechtsverletzenden Verhaltens, aber nicht auf eine eigenständige ökonomische Theorie kriminellen Verhaltens, die etwa neben einer ökonomischen Theorie konformen Verhaltens stünde. Es geht also um eine ökonomische Theorie, die jedwedes Verhalten, genauer Handeln – ob konformes oder rechtsverletzendes – in einem allgemeinen theoretischen Bezugsrahmen beschreiben kann. Im Wesentlichen lassen sich zwei unterschiedliche ökonomische Perspektiven auf das Phänomen Kriminalität und die ökonomische Analyse von Kriminalität (economics of crime)10 unterscheiden:11 (1) Eine normative allokationstheoretische Analyse der Kriminalität, insbesondere der Verbrechensbekämpfung und -vollstreckung durch die damit befassten öffentlichen Instanzen und privaten Institutionen. (2) Eine positive Analyse des kriminellen Verhaltens selbst, die – im Sinne Max Webers – auf eine wertfreie Analyse delinquenten Verhaltens abzielt; ergänzend und analog hierzu auch eine positive Analyse der an der Vollstreckung beteiligten Akteure: Polizei, Staatsanwälte, Richter, Strafvollzugsbedienstete, Bewährungshelfer etc. Der Sache nach wird die erste Perspektive der Wohlfahrtsökonomie (1) und die zweite der positiven Ökonomik (2) zugerechnet. Beide Sichtweisen sind für das Verständnis von Kriminalität gleichermaßen bedeutsam und ergänzen einander;12 aus beiden ergeben sich Implikationen für kriminalpolitische Entscheidungen: In der normativ-wohlfahrtsökonomischen Analyse wird gefragt, wie viele Ressourcen zur Kriminalitätsbekämpfung aufgewendet und wie diese eingesetzt werden sollen. Daraus folgt kriminalpolitisch die Frage danach, welches Verhalten in welcher Form kriminalisiert und wie stark unterbunden werden soll.13 In der verhaltensökonomischen, positiven ökonomischen Analyse sind wiederum verschiedene Blickwinkel unterscheidbar. So kann nach den Anreizen für den (potentiellen) Straftäter gefragt werden und wie er darauf reagieren wird. Eine institutionelle Perspektive dagegen will in Erfahrung bringen, welche Anreize für die an der Vollstreckung beteiligten Akteure bestehen und wie deren Reaktionen ausfallen. Die kriminalpolitischen Folge10  Statt vieler vgl. Winter (2008); Benson / Zimmerman (2010); Entorf (2013). Nicht zu verwechseln mit dem Begriff „Economic Crime“, der Wirtschaftskriminalität als Deliktsbereich meint, der allerdings in der Kriminologie eine enge Beziehung mit ökonomischen Kriminalitätstheorien aufweist; siehe dazu Geng (2018). 11  Zum Folgenden ausführlicher Englerth (2010), S. 4 ff. 12  Kunz (1993), S. 182. 13  Englerth (2010), S. 4 f.

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rungen zielen dementsprechend einerseits darauf ab, die Rahmenbedingungen von Kriminalität und Prävention zu identifizieren, andererseits auf eine optimale Ausgestaltung der Vollstreckungsinstanzen beziehungsweise Vollstreckungsbehörden.14 In der Zusammenschau von positiver und normativer ökonomischer Analyse wird erkennbar, dass damit ein umfassendes kriminalpolitisches Konzept vorliegt. Korrespondenzen hierzu finden sich einerseits in der „ökonomischen Analyse des Rechts“ (positive Dimension = Rechtsfolgenabschätzung, wohlfahrtsökonomische Dimension = Effizienz als Rechtsprinzip)15 und andererseits in der sehr viel älteren Vorstellung einer „gesamten Strafrechtswissenschaft“, wie diese von Franz von Liszt im „Marburger Programm“16 beschrieben wurde. 1. Historischer Rückblick – Klassische Schule der Kriminologie und Positivismus Die ökonomische Sicht auf Kriminalität und die Vorstellung von einem rational kalkulierenden Verbrecher war, als Becker sie mit seinem wegweisenden Aufsatz (wieder) ins Licht der (Fach-)Öffentlichkeit rückte, nicht völlig neu, sondern konnte sich durchaus auf Vorbilder beziehungsweise Vorläufer berufen.17 Solche finden sich in den Vertretern der klassischen Schule der Kriminologie im 18. und 19. Jahrhundert, die – aus heutiger Sicht – überwiegend auf eine normative wohlfahrtsökonomische Begründung einer rationalen Gesetzgebung (Kriminalpolitik) abzielten, die ihrerseits auf der Vorstellung eines selbstinteressierten und daher gleichfalls rationalen Erwägungen zugänglichen Bürgers basierte, dessen Rationalität und Selbstinteresse allerdings noch naturalistisch naiv und eher intuitiv verstanden wurde. In diesem Verständnis wurde auch der Straftäter als eine rationale, vernünftige, eigenverantwortliche Person betrachtet. Entsprechend wurde die Strafandrohung als eine zweckorientierte Methode zur Abschreckung von Straf­ tätern betrachtet, die sich nach dem hedonistischen Lustkalkül (Lust vs. Unlust beziehungsweise Freude vs. Schmerz) orientieren und verhalten. Grundlegend hierzu waren vor allem die Arbeiten der Utilitaristen Beccaria und Bentham, die heute als Vorläufer der modernen Kriminalitätsökonomen gelten.18 Für Deutschland ist zudem an von Feuerbach zu denken.19 14  Englerth

(2010), S. 6 f. (2010), S. 9. 16  von Liszt (1883). 17  So explizit auch Becker (1968). 18  Vgl. Beccaria (1851); Bentham (1823a, 1823b). 19  Insbesondere von Feuerbach (1832). 15  Englerth



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Hinsichtlich der Beziehung zwischen Ökonomie und (Straf-)Recht beziehungsweise Kriminologie kommt dabei vor allem dem Utilitarismus eine herausragende Bedeutung zu. Dieser stellt bis heute in der angloamerikanischen Welt die wichtigste Strömung einer normativen empiristischen Ethik dar.20 Moralisch richtiges Handeln wird nach dem klassischen Utilitarismus als Resultat einer rationalen Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten anhand von vier Rationalitätskriterien rekonstruiert: (1) Folgenprinzip, (2) Nutzenprinzip, (3) Hedonismusprinzip und (4) Sozialprinzip. Die vier Kriterien lassen sich als utilitaristisches Prinzip zusammenfassen, nach dem eine Handlung beziehungsweise Handlungsregel dann moralisch richtig ist, wenn deren Folgen für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind.21 Bentham hat den Ausgangspunkt für seinen hedonistischen Utilitarismus wie folgt beschrieben: „Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do. On the one hand the standard of right and wrong, on the other the chain of causes and effects, are fastened to their throne.“22

Das Lustkalkül stellt nach Bentham die Grundlage einer Gesetzgebung dar, die einerseits Befriedigungen beziehungsweise Freuden („pleasures“) erhöhen und andererseits Leiden („pain“) verhindern soll. Um die Kongruenz von individuellem Selbstinteresse und allgemeinem Wohlergehen herzustellen, wird nach Bentham ein wirksames System von religiösen, sozialen, recht­ lichen und administrativen Sanktionen benötigt.23 Grundlage der Sanktionen bilden das hedonistische Lustkalkül und die hierfür von Bentham entwickelten Kriterien der Bestimmung von Freude und Leid, die zur Beurteilung der „guten“ oder „schlechten“ Tendenz von Handlungen aufaddiert und miteinander verrechnet werden.24 Das zentrale Instrument, um das größte Glück der größten Zahl sicherzustellen, stellt für Bentham eine entsprechend seinen rationalen Kriterien zu entwerfende, systematische (Straf-)Gesetzgebung dar, 20  Zum Utilitarismus vgl. ausführlich Birnbacher (1990); Wolf (1992); Höffe (2013).

21  Höffe (2013), S. 11. Im Unterschied zur deontologischen Ethik sollen Handlungen und Handlungsregeln (Normen) im Utilitarismus also nicht für sich selbst oder aus ihren Eigenschaften heraus als richtig oder falsch beurteilt werden, sondern die moralische Beurteilung von Handlungen erfolgt ausschließlich auf Grund der zu erwartenden Handlungsfolgen. Dazu, dass der Utilitarismus jedenfalls deontologischer Schranken bedarf, weil andernfalls z. B. auch die Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht zu gewährleisten wäre, ausführlich Greco (2009), Harrendorf (2019). 22  Bentham (1823a), S. 1. 23  Bentham (1823a), S. 41 ff. 24  Ausführlich Bentham (1823a), S. 49  ff., der insofern jeweils auf Intensität, Dauer, Wahrscheinlichkeit des Eintretens, zeitliche Nähe, Folgenträchtigkeit, Reinheit und Erstreckung von Freude und Leid abstellt.

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die den Bürgern ihre gesetzlichen Pflichten und die drohenden Sanktionen vor Augen führen soll. Gemäß dem hedonistischen Kalkül, das Freude und Schmerz als einzige Triebfeder menschlichen Handelns sieht, ist Benthams Straftheorie – ähnlich der Vorstellung Beccarias25 – als eine spezial- und generalpräventive Abschreckungstheorie26 konzipiert. Der Zweck der Strafgesetze wie auch der der Strafen selbst ist ihre Abschreckungswirkung (Deterrence). Es soll verdeutlicht werden, dass das mit der Strafe verbundene Leid den Nutzen einer Straftat übersteigt. „The profit of the crime is the force which urges a man to delinquency – the pain of the punishment is the force employed to restrain him from it. If the first of these forces be the greater, the crime will be committed;27 if the second, the crime will not be committed.“28

Für diese Denkrichtung in Deutschland bedeutsam war insbesondere von Feuerbach mit seiner Theorie des psychologischen Zwangs.29 Von Feuerbach vertritt – wie Bentham – ein Strafrecht, das sich am Abschreckungsprinzip orientiert und dadurch den Schutz wechselseitiger Freiheit gewährleistet: „Alle Uebertretungen haben ihren psychologischen Entstehungsgrund in der Sinnlichkeit, in wiefern das Begehrungsvermögen des Menschen durch die Lust an oder aus der Handlung zur Begehung derselben angetrieben wird. Dieser sinnliche Antrieb kann dadurch aufgehoben werden, daß jeder weiß, auf seine That werde unausbleiblich ein Uebel folgen, welches größer ist, als die Unlust, die aus dem nicht befriedigten Antrieb zur That entspringt.“30

Häufig werden – vereinfachend und unzulässig – diese älteren Ansätze mit der eigentlichen ökonomischen Kriminalitätstheorie in der Ausprägung einer Rational-Choice-Theorie auf der Basis des Modells eines Homo Oeconomicus gleichgesetzt. Demgegenüber konnte Greco nachweisen, dass von Feuerbach seinerzeit wohl assoziationspsychologischen Ansätzen nahestand, also eher Vorläufern der Lerntheorie.31 25  Beccaria

(1851). der Ebene der Strafandrohung sind Individual- und Generalabschreckung untrennbar miteinander verwoben, Generalabschreckung nur die Summe der jeweils individuellen Abschreckungseffekte – so auch Kaspar (2014), S. 388 f.: Jeder wird von eigenen Taten durch ihm selbst drohende Strafe abgeschreckt. 27  Interessanterweise bringt Bentham (1830), S. 33, an dieser Stelle im Original noch eine differenzierende Fußnote an: „That is to say, committed by those who are only restrained by the laws, and not by any other tutelary motives, such as benevolence, religion, or honour.“ Darauf wird hier noch einzugehen sein. 28  Bentham (1830), S. 33. 29  So bereits in von Feuerbach (1799). 30  von Feuerbach (1832), S. 15 f. 31  Vgl. Greco (2009) S. 87 ff. 26  Auf



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Unter dem Einfluss des aufkommenden Positivismus32 setzte sich im 19. Jahrhundert dann allerdings ein grundlegend neues Wissenschaftsverständnis in Europa und in den europäisch geprägten Ländern durch. Damit verband sich eine Haltung in den Geistes- und Naturwissenschaften, die allein das erfahrungsmäßig Gegebene, das heißt das Positive, als letzte Instanz wissenschaftlicher Erkenntnis ansah. In Deutschland wurde diese Richtung maßgeblich von von Liszt mitgeprägt.33 Im Unterschied zum Menschenbild der klassischen Schule, die das Individuum als ein freies, eigenverantwortliches und rational kalkulierendes Individuum begriff, können in positivistischer Sicht die Bestimmungsgründe menschlichen Verhaltens nicht allein aus der Entscheidungsfreiheit des Menschen abgeleitet werden, sondern die Ursachen – auch die für Devianz und Delinquenz – liegen demgegenüber überwiegend in Gründen und Verhältnissen, auf die das Individuum kaum Einfluss hat. Mit wachsender Dominanz der positivistischen Grundströmung in ihren verschiedenen Ausprägungen und Varianten im 19. Jahrhundert verblasste damit innerhalb der sich als junge Wissenschaft etablierenden Kriminologie nach und nach die ökonomische Perspektive auf Kriminalität und das Verbrechen. Ohne hier die Entwicklungslinien im Einzelnen nachzuzeichnen, kann festgestellt werden, dass die bislang dominierende Kriminalsoziologie angloamerikanischer Provenienz und die Wirtschaftswissenschaften sich hinsichtlich ihrer institutionellen Verankerung, ihrer Methoden und ihrem Erkenntnisgegenstand bis in die 1960er Jahre weit auseinanderentwickelt hatten und „sich eigentlich nicht mehr viel zu sagen wussten.“34 2. Wiederentdeckung der ökonomischen Perspektive durch Gary S. Becker Dieses Bild änderte sich schlagartig mit der bahnbrechenden Arbeit „Crime and Punishment: An Economic Approach“, die Gary S. Becker 1968 veröffentlichte.35 Becker war „einer der ersten, der gleichsam die Türen aufstieß und das Musterkind der Ökonomen [den Homo Oeconomicus], in die weite Welt der Sozialwissenschaften entließ.“36 Er war der Überzeugung, dass der ökonomische Ansatz einen wertvollen, einheitlichen Bezugsrahmen für das Verständnis allen menschlichen Verhaltens, demnach auch devianten und delinquenten Verhaltens, bietet.37 Comte (1844). (2010), S. 31; vgl. von Liszt (1883). 34  Englerth (2010), S. 32. 35  Becker (1968). 36  Englerth (2010), S. 33. 37  Becker (1993), S. 7. 32  Grundlegend 33  Englerth

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Als Homo Oeconomicus bezeichnet man das Modell eines eigeninteressierten, rational handelnden Akteurs, der auf Nutzenmaximierung orientiert ist, dessen Präferenzen fix sind, der auf Restriktionen reagiert und (vollständig) informiert ist.38 Es handelt sich dabei um ein vereinfachendes Modell eines rationalen Egoisten, das zwar auf beobachtbaren menschlichen Eigenschaften beruht, aber nicht den Anspruch hat, den Menschen in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit exakt nachzubilden. Sein Sinn und Nutzen liegt vielmehr darin, mittels einer heuristischen Fiktion Komplexität zu reduzieren:39 Modelle sind nicht Abbilder der Realität, sondern deren Abstraktionen. Friedman hat zwei Kriterien formuliert, an denen sich eine ökonomische Theorie messen lassen muss: (1) ihre Einfachheit, das heißt die Theorie muss mit weniger Information auskommen, aber mindestens so viel aussagen können wie eine konkurrierende Theorie, und (2) ihre Fruchtbarkeit, das heißt die Präzision und die Reichweite ihrer Aussagen sowie die Fähigkeit, Anstöße für neue Forschungen zu liefern, muss größer sein als die konkurrierender Theorien.40 Ganz in diesem Sinne formuliert Becker seinen Erklärungsansatz für Kriminalität allein auf der Basis egoistisch-rationaler Wahlhandlungen und verzichtet auf Aspekte, die sonst in der Kriminologie oft eine wichtige Rolle spielen, also zum Beispiel gesamtgesellschaftliche, psycho(patho)logische oder biologische Einflussfaktoren.41 Juristen, Kriminologen und Sozialwissenschaftler haben diesen besonderen Charakter der ökonomischen Theoriebildung und Modellierung nicht selten missverstanden. So ist etwa die Behauptung, Becker und seine Nachfolger wollten den „Prämissen der ökonomischen Kriminalitätslehre Geltung in der Realität zuschreiben“42 eine Fehldeutung der ökonomischen Analyse: „Ökonomen behaupten also nicht, Verbrecher (oder andere Menschen) verhielten sich tatsächlich in jedem Fall rational oder stellten im Kopf Kalkulationen an, die selbst manchen Fachkollegen überfordern würden. Sie glauben aber, dass es für Prognosezwecke sinnvoll sein kann, Verhalten so zu modellieren, als ob dies der Fall sei.“43

Bei Becker steht das ökonomische Verhaltensmodell nicht im Zentrum seiner Überlegungen, Ausgangspunkt ist vielmehr – ganz in der Tradition von Beccaria und Bentham – eine wohlfahrtsökonomische Frage: 38  Franz

(2004), S. 4. (2014), S. 64; siehe auch Popper (1992), S. 80: „Theorien sind unsere Erfindungen. Sie sind nie mehr als kühne Vermutungen, Hypothesen; von uns gemachte Netze, mit denen wir die wirkliche Welt einzufangen versuchen.“ 40  Friedman (1953), S. 3 ff. 41  Becker (1993), S. 40. 42  Wittig (1993), S. 107. 43  Englerth (2010), S. 46 f.; siehe auch Becker (1993), S. 6. 39  Watzenberg



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„The main purpose of this essay is to answer normative versions of these questions, namely, how many resources and how much punishment should be used to enforce different kinds of legislation? Put equivalently, although more strangely, how many offenses should be permitted and how many offenders should go unpunished?“44

Die von Becker als maßgeblich identifizierten Stellschrauben für staatliche Bemühungen zur Kriminalitätsbekämpfung sind dabei die Art und Schwere der drohenden Strafe und die Entdeckungs- und Sanktionierungswahrscheinlichkeit.45 Kriminalpolitik muss also etwas darüber wissen oder zumindest annehmen, wie ein potentieller Straftäter auf Veränderungen dieser staatlich steuerbaren Parameter reagieren wird. Erst in diesem Zusammenhang führt Becker sein ökonomisches Modell kriminellen Verhaltens ein. Dieses geht davon aus, dass Personen Kosten und Nutzen vor Begehung einer Straftat rational abwägen und eine Tat nur begehen, wenn der erwartete Nutzen die erwarteten Kosten übersteigt, zudem aber auch größer ist als der Nutzen legaler Verhaltensalternativen: „The approach taken here follows the economists’ usual analysis of choice and assumes that a person commits an offense if the expected utility to him exceeds the utility he could get by using his time and other resources at other activities.“46

Dabei besteht der Nutzen aus den finanziellen und sonstigen Vorteilen, die dem Täter aus der Tat erwachsen. Als Kosten berücksichtigt Becker vor allem die drohenden staatlichen Strafen, die nur für den Fall der Verurteilung, das heißt mit einer diesem Ausgang zuzuordnenden Wahrscheinlichkeit, eintreffen. Erfolgt eine Verurteilung, sind vom Nutzen der Tat die Kosten der Sanktion abzuziehen, während im umgekehrten Fall eines guten Ausgangs keine Kosten in Rechnung zu stellen sind. Danach hängt die Entscheidung für oder gegen die Straftat zentral von der Wahrscheinlichkeit der beiden Möglichkeiten Sanktionierung und Nicht-Sanktionierung sowie von der Strafhöhe ab.47 Die Entscheidung, ein Verbrechen zu begehen, wird also als Maximierungsproblem unter Risiko bei stabilen Präferenzen gesehen. Die Risikoeinstellung des Verbrechers ist demnach eine wichtige Variable. Dem neoklassischen Homo Oeconomicus wird aufgrund des abnehmenden Grenznutzens zählbarer Güter in der Regel eine Risikoaversion unterstellt.48 Diese Annahme ist im Bereich der Kriminalität fraglich, denn Kriminellen wird gemeinhin eher „Waghalsigkeit“ oder sogar „Leichtsinnigkeit“, also eher eine 44  Becker

(1968), S. 170. (1968), S. 180 ff. 46  Becker (1968), S. 176. 47  Vgl. Becker (1968), S. 176 ff. 48  Vgl. Englerth (2010), S. 97. 45  Becker

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gewisse Risikoaffinität unterstellt. Auch Becker ignoriert dieses Problem nicht und geht daher davon aus, dass es vor allem die Entdeckungs- und Sanktionierungswahrscheinlichkeit ist, die für die Abschreckung relevant ist.49 Diese Annahme steht auch im Einklang mit den Ergebnissen der empirischen Abschreckungsforschung: Verschiedene Metaanalysen haben das Ergebnis erbracht, dass Sanktionsverschärfungen keine signifikanten Abschreckungseffekte mit sich bringen, sondern es allein Modifikationen der Sank­ tionierungs- und Entdeckungswahrscheinlichkeit sind, die einen nachweisbaren Abschreckungseffekt haben.50

III. Zur Notwendigkeit einer kriminologischen Handlungstheorie Beckers ökonomischer Ansatz entfaltete eine große Wirkung auf die kriminologische Forschung und auch auf andere Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Unter dem Label Rational-Choice-Approach kam es zu einer Vielzahl von Folgebeiträgen, die sich mit Modellverfeinerungen oder -erweiterungen beschäftigt haben. Die Entdeckung des „vernünftig handelnden“ Täters teilt paradoxerweise mit der kritischen Kriminologie die Auffassung, dass kriminelles und normabweichendes Verhalten „normal“ und „ubiquitär“ und das illegales Verhalten für bestimmte Gruppen durchaus nützlich und lohnend, das heißt in diesem Verständnis „rational“ ist (Stichwort: WhiteCollar Crime, Kriminalität der Mächtigen). So erfolgte mit Beckers ökonomischer Handlungstheorie auch eine Entpathologisierung von Täter und Tat:51 „Some persons become ‚criminals‘, therefore, not because their basic motivation differs from that of other persons, but because their benefits and costs differ.“52

Beckers handlungstheoretische Perspektive auf Kriminalität ist auch strafrechtswissenschaftlich anschlussfähig, da Handlungen (im weiteren Sinne einschließlich der willensgetragenen Unterlassung bestimmter, möglicher Handlungen) im Zentrum des Strafrechts stehen: Eine Straftat ist eine strafbare menschliche Handlung und bildet damit als solche auch den gemeinsamen Kern des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses kriminologischer und strafrechtlicher Forschung, was wiederum eine handlungstheoretische Fundierung im Rahmen einer kriminologischen Handlungstheorie erforderlich 49  Becker

(1968), S. 178. hier nur Dölling et al. (2011); von Hirsch et al. (1999). 51  Vgl. ausführlich Karstedt / Greve (1996), S. 171 ff. Ähnlich bereits in der kriminalsoziologischen White-Collar Crime-Konzeption von Sutherland (1940). 52  Becker (1968), S. 176. 50  Siehe



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macht. In einer solchen muss es zunächst darum gehen, warum eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation die Entscheidung fällt, eine strafrechtlich relevante und / oder sozial abweichende Handlungsalternative zu wählen und auszuführen. Eine kriminologische beziehungsweise sozialwissenschaftliche Handlungstheorie ist auch ein mögliches Bindeglied zwischen erklärenden (nach objektiven Ursachen suchenden) und verstehenden (nach subjektiven Gründen forschenden) Ansätzen:53 „In der […] Notwendigkeit des Verstehens der ‚Logik‘ einer Situation wird die Besonderheit der Sozialwissenschaften systematisch anerkannt, dass in allen Erklärungen und theoretischen Modellen der Sozialwissenschaften die subjektiven Sichtweisen der Akteure – Intentionen und Deutungsmuster also – vorkommen müssen, und dass daher in jeder sozialwissenschaftlichen Analyse eine hermeneutische Komponente zu der nomologischen Erklärung zwingend dazu gehört.“54

Dabei ist eine solche kriminologische Handlungstheorie auch ein mögliches Bindeglied zur – ebenfalls eher in der (verstehenden) Erste-PersonPerspektive zu verortenden – Willensfreiheit55 im Sinne des „klassischen“ Schuldbegriffs, den auch das BVerfG56 weiterhin dem mit Verfassungsrang ausgestatteten Schuldprinzip zugrunde legt. Beckers Rational-Choice-Ansatz ist andererseits gerade vor der Folie des Strafrechts und im Lichte der Grundlagen des Schuldprinzips unbefriedigend, weil die Norm mit Blick auf die handelnde Person nur als Kostenfaktor vorkommt. Es wird also eine rein instrumentelle beziehungsweise strategische Orientierung am Recht unterstellt. Der Großteil der Menschen, der schon deshalb von Normverletzungen Abstand nimmt, weil die Norm innerlich anerkannt wird, kommt also in der Theorie nicht unmittelbar vor!57 Damit wird aber verkannt, dass Normen nicht allein zwingend, sondern auch sozialintegrativ wirken müssen.58 Genauer: Becker anerkennt, dass es neben der (erwarteten) Verurteilungswahrscheinlichkeit und der (erwarteten) Strafhöhe auch andere Einflüsse auf die Bereitschaft, Straftaten zu begehen, gibt, darunter auch „law-abidingness“, berücksichtigt diese aber nicht an zentraler Stelle in seinen Modell, 53  Näher zum Unterschied zwischen Erklären und Verstehen Kunz / Singelnstein, Kriminologie, § 2 Rn. 6 ff. 54  Esser (2010), S. 315; Hervorhebungen im Original. 55  Zu den verschiedenen Ansätzen zur Begründung und Rechtfertigung von Willensfreiheit und ihren Grenzen instruktiv Merkel (2014). 56  Zum Beispiel in BVerfGE 123, 267, 413; 90, 145, 173; 80, 367, 378; 57, 250, 275. 57  Vgl. zur empirischen Fundierung dieser Kritik Wikström / Tseloni / Karlis (2011). 58  Näher Habermas (1998), S. 41 ff.

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sondern nur als ein Einfluss unter vielen in einer Auffangvariable „represent­ ing all these other influences“.59 In ähnlicher Weise kommt auch schon bei Bentham die Bereitschaft, aus anderen Gründen als der Furcht vor Strafe Normen zu befolgen, nur – aber immerhin – am Rande vor.60 Ob diese Randstellung berechtigt ist oder ob nicht die sozialintegrative (positiv-generalpräventive) Kraft des Rechts auch in einer kriminologischen Handlungstheorie stärker berücksichtigt werden müsste, ist in den nächsten Abschnitten einer gründlicheren Analyse zu unterziehen.

IV. Relevante Einschränkungen des Rational-Choice-Ansatzes Es fragt sich – auch vor dem Hintergrund der soeben erhobenen Bedenken gegen eine zu einseitige Betonung der instrumentell-strategischen Ausrichtung menschlichen Handelns –, welche relevanten Einschränkungen des Rational-Choice-Ansatzes mittlerweile bekannt sind und welche Folgen diese gerade für eine ökonomische Kriminalitätstheorie haben. Modellanpassungen innerhalb des Rational-Choice-Approach wurden vor allem aufgrund verschiedener empirisch festgestellter Anomalien der tradi­ tionellen Erwartungsnutzentheorien notwendig. In der Realität unterliegen Kosten-Nutzen-Kalküle immer subjektiven Einschätzungen und Bewertungen, die die Rationalität von Entscheidungen beeinträchtigen können. So führen beispielsweise kleinste Modifikationen in der Art der Informationsvermittlung und minimale Variationen des Entscheidungskontextes zu oft deutlichen Veränderungen im Entscheidungsverhalten (Framing-Effekte),61 wie dies prominent von Kahneman und Tversky in ihrer verhaltensökonomischen Prospekt-Theorie auf Basis vieler Untersuchungen beschrieben wurde.62 Es handelt sich um eine Theorie, die sich auf die Entscheidungsfindung unter Risiko beziehungsweise Unsicherheit bezieht.63 Es geht ihr um eine Beschreibung und Erklärung tatsächlichen Entscheidungsverhaltens, mithin 59  Becker

(1968), S. 177. (1830), S. 33, dort in der Fußnote; siehe auch den hier in Fn. 27 wiedergegeben Wortlaut seiner Fußnote. 61  Stocké (2002), S. 10. 62  Siehe hier zunächst Kahnemann / Tversky (1979; 2000); Tversky / Kahnemann (1981; 1992). 63  Entscheidungen unter Risiko sind Entscheidungen in Situationen, in denen immerhin die Wahrscheinlichkeiten, mit denen bestimmte Konsequenzen eintreten, bekannt sind, während bei Entscheidungen unter Unsicherheit schon die Wahrscheinlichkeiten geschätzt werden müssen. Da Entscheidungen jedoch immer etwas Subjektives sind, d. h. auch objektiv feststehende Wahrscheinlichkeiten subjektiv repräsentiert werden müssen, sind die Unterschiede für die Prospekt-Theorie nicht relevant: Pfister / Jungermann / Fischer (2017), S. 171. 60  Bentham



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nicht um die Abbildung rationaler Wahlhandlungen wie bei Beckers Ansatz. Daher kann sie auch solches Handeln sich zum Gegenstand machen, das irrational erscheint.64 Die Theorie geht davon aus, dass Personen sich bei zu erwartenden positiven Konsequenzen ihrer Entscheidungen risikoavers verhalten, das heißt bei identischem Erwartungsnutzen einen geringeren sicheren Gewinn einem höheren, unsicheren Gewinn gegenüber bevorzugen. Umgekehrt verhalten sie sich risikoaffin, wenn negative Konsequenzen zu erwarten sind. Hier bevorzugen die Personen – wiederum bei identischem Erwartungsnutzen – einen unsicheren, hohen Verlust gegenüber einem sicheren, aber geringeren Verlust.65 Allerdings wird eine positive Konsequenz nicht durch eine äquivalente negative Konsequenz ausgeglichen, es besteht gleichzeitig eine Verlustaversion, das heißt, Verluste wiegen subjektiv schwerer als äquivalente Gewinne. Damit eng verknüpft ist der sogenannte Endowment-Effekt: Personen schreiben Dingen, die sich bereits in ihrem Besitz befinden, subjektiv einen deutlich höheren Wert zu als Dingen, die ihnen nicht gehören. Besitzer eines Gutes verlangen meist einen deutlich höheren Verkaufspreis als den Preis, den sie zu zahlen bereit wären, wenn sie das Gut nicht besäßen.66 Aus diesen Beobachtungen lässt sich eine subjektive Wertefunktion herleiten, die im positiven Bereich flacher konkav und im negativen Bereich steiler konvex verläuft.67 Hinsichtlich der individuellen Repräsentation der Entscheidungsfindung zwischen zwei unsicheren Optionen spielt dabei das jeweilige Framing eine entscheidende Rolle, da Menschen auf Basis einer Beschreibung eines Pro­ blems entscheiden beziehungsweise auf Basis der mentalen Repräsentation, die durch die Beschreibung erzeugt wird.68 So zeigt etwa das „Asian Disease Scenario“,69 dass gleichwertige Optionen durch die veränderte Salienz einiger Aspekte in der Darstellung desselben Problems unterschiedlich wahrgenommen und allein dadurch die Präferenzordnung einer Entscheidung beeinflusst wird, was dem Rationalitätskriterium der (deskriptiven) Invarianz widerspricht.70

64  Pfister / Jungermann / Fischer

(2017), S. 184. Holle (2018), S. 56 f. 66  Kahneman (2012), S. 356 ff.; Pfister / Jungermann / Fischer (2017), S. 55. 67  Pfister / Jungermann / Fischer (2017), S. 53. 68  Englerth (2010), S.  244  ff.; Kahneman (2012); zuerst Kahneman / Tversky (1979). 69  Vgl. Tversky / Kahneman (1981). 70  Vgl. Kahneman / Tversky (2000); Kahneman (2012); Stocké (2002); Englerth (2010); zu den Konsequenzen für das (Wirtschafts-)Strafrecht Kasiske (2015), S. 75 ff. 65  von

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Aufgrund dieser und weiterer Befunde wurden in der Folge mehrere Modellmodifikationen vorgenommen, die diese Beschränkungen berücksichtigen und als realistischere Modelle als das des klassischen Homo Oeconomicus gelten, etwa das Resourceful-Evaluative-Maximizing-Model (REMM) von Jensen / Meckling oder das Resourceful-Restricted-Evaluating-Expecting-Maximizing-Man-Modell (RREEMM-Modell) von Lindenberg.71 Jenseits der Einwände, die sich auf die begrenzte Rationalität des Menschen in Entscheidungssituationen beziehen, sind in kriminologischer Hinsicht vor allem Einwände relevant, die die sozialanthropologischen Voraussetzungen der conditio humana und ihre Eingebundenheit in soziale Ordnungen berücksichtigen. Wenn man so will, geht es um die Konfrontation des Homo Oeconomicus mit dem Homo Sociologicus,72 in deren Folge unter anderem auch von einem nur begrenzten Eigeninteresse ausgegangen werden muss.73 Die reichen Befunde empirischer Evaluationsstudien zur Abschreckungswirkung von Strafe ergeben, wie schon oben ausgeführt wurde, nur begrenzte Effekte; und zwar primär bezogen auf die Entdeckungs- und Sanktionswahrscheinlichkeit, weniger auf die Sanktionshöhe.74 Allerdings konnte oben gezeigt werden, dass gerade diese differente Wirkung primär über die Wahrscheinlichkeit von Entdeckung und Sanktionierung durchaus auch von Becker gesehen und einer theoriekonformen Erklärung zugeführt wurde (erhöhte Risikoaffinität von Straftätern).75 Gewichtiger ist daher der Kritikpunkt, dass nach den oben genannten Metaanalysen zwar durchaus insgesamt von einem Abschreckungseffekt auszugehen ist, dieser aber nicht allzu stark ist und daneben andere Aspekte, wie die persönliche Moral oder die subjektiv empfundene Legitimität beziehungsweise Fairness der Norm eine – teils größere – Rolle spielen.76 Dementsprechend sind soziale Motive, insbesondere 71  Vgl. Jensen / Meckling (1994); Lindenberg (1985); Esser (1993). Zur Entwicklung und Stand des Rational-Choice-Approach in den Sozialwissenschaften vgl. Diekmann / Voss (2004); Kroneberg / Kalter (2012); Opp (2018). Zur Anwendung der Ra­ tional-Choice-Theorie im kriminologischen Kontext vgl. Mehlkop (2011); McCarthy / Chaudhary (2014); Rauhut (2017). 72  Vgl. Dahrendorf (2010). 73  Zum Verhältnis von homo oeconomicus und homo sociologicus siehe auch Weise (1989), der sich für einen homo socio-oeconomicus ausspricht. Dieser liegt auch dem o. g. RREEMM-Modell zugrunde. 74  Siehe die Metaanalysen von Dölling et  al. (2011), S.  315 ff.; von Hirsch et  al. (1999). Siehe zudem das experimentelle „Inspection Game“ bei Rauhut (2009), bei dem in der Tat ebenfalls kein nennenswerter Abschreckungseffekt höherer Strafen nachgewiesen werden konnte. 75  Becker (1968), S. 178. 76  Vgl. etwa Schöch (1985); Dölling / Hermann (2003); Tyler (2006); Magen (2007); Diekmann / Voss (2008); Englerth (2010), S. 150 ff.; Wikström / Tseloni / Karlis (2011); Opp (1983).



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Fairness (oder Gerechtigkeit)77 und Reziprozität,78 zentrale Aspekte, denen in sozialen Beziehungen und daher auch im Kontext abweichenden beziehungsweise sozialkonformen Verhaltens eine besondere Bedeutung zukommt. Wir hatten am Ende des letzten Abschnitts bereits auf die große Lehrstelle der klassischen ökonomischen Kriminalitätstheorie im Bereich der Moral hingewiesen. Zur Bedeutung von Kooperativität und Fairness liegen eine Reihe verhaltensökonomischer Experimente vor, in denen wiederholt demonstriert wurde, dass sich Menschen an dem Prinzip der Fairness auch dann orientieren, wenn es der Person selbst nicht nur nicht nützt, sondern sogar auch schadet. Diesbezüglich besonders aussagekräftig sind zunächst das sogenannte Ultimatumund das Diktatorspiel. Beim Ultimatumspiel handelt es sich um eine experimentelle Spielsituation zur Untersuchung altruistischen Verhaltens. Es besitzt folgende Grund­ struktur:79 Zwei einander unbekannte Spieler sollen untereinander einen bestimmten Geldbetrag X aufteilen. Spieler 1 (Proposer) gibt ein Angebot für Spieler 2 (Responder) ab. Das Angebot ist ultimativ – kann also nicht mehr zurückgenommen werden. Der Responder hat nur zwei Möglichkeiten: Er kann das Angebot annehmen, dann wird entsprechend ausgezahlt, oder er lehnt das Angebot ab, dann gehen beide Spieler leer aus. Es gibt keine Spielwiederholung. In allen Experimenten zeigen sich robuste, von der Rational-Choice-Theorie abweichende Ergebnisse. In studentischen Populationen westlicher Länder betrug die durchschnittliche Angebotssumme 40 bis 45 Prozent der Gesamtsumme. Zudem erfolgte in der Regel eine Responder-Ablehnung bei Angeboten unter 20 Prozent.80 In einer groß angelegten interkulturellen Studie wurde das Ultimatumspiel in 15 ganz unterschiedlichen Gemeinschaften untersucht, die sich kulturell stark von westlichen unterschieden. Obwohl die Varianz sowohl im Verhalten des Responders als auch im Verhalten des Proposers sehr groß war, zeigte sich, dass die Angebote so gut wie immer deutlich über dem Minimum und häufig in der Nähe einer hälftigen Aufteilung lagen; Ablehnungen variierten 77  Es gibt vielfältige Kriterien, nach denen Gerechtigkeit beurteilt werden kann. Heute sind in sozialen Beziehungen vor allem drei Prinzipien der Gerechtigkeit ­verbreitet: (a) Gleichheitsprinzip (Equality): Gerecht ist, wenn alle das Gleiche bekommen, (b) Bedarfsprinzip (Need): wenn jeder nach seinem Bedarf bekommt und (c) Leistungsprinzip (Equity): wenn jeder nach Verdienst bekommt. Vgl. insb. Miller (2008); Rawls (2006); Höffe (2015). 78  Vgl. z. B. Diekmann / Voss (2008). 79  Grundlegend hierzu Güth / Schmittberger / Schwarze (1982). 80  Henrich et al. (2005), S. 798.

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stark, waren aber regelmäßig zu beobachten und manchmal wurden sogar Angebote über 50 Prozent abgelehnt. Nie wurde das „ökonomisch rationale“ Verhalten, nämlich das Minimum anzubieten und es zu akzeptieren, als das typische Verhalten beobachtet. Es scheint bei aller Variation in allen Kulturen gewisse allgemeingültige Fairness- oder Gerechtigkeitsnormen zu geben, die sich dann im Ultimatumspiel zeigen.81 Selbst in der reduzierten Variante des Ultimatumspiels, dem Diktatorspiel, bei dem der Responder das Angebot des Proposers nicht ablehnen kann, also annehmen muss, zeigen sich ähnliche Befunde. Man beobachtet hier typischerweise, dass die durchschnittliche Höhe des Angebots sinkt, allerdings auf einen deutlich über 0 Prozent liegenden Wert von ca. 20 bis 30 Prozent des erhaltenen Betrags in studentischen Populationen.82 Das zentrale Ergebnis aus beiden experimentellen Spielvarianten verdeutlicht, dass neben der individuellen Nutzenmaximierung insbesondere auch Aspekte der reziproken Fairness und der Verteilungsgerechtigkeit bedeutsam sind. Die meisten Versuchspersonen opferten also ihr Eigeninteresse zugunsten des Fairnessprinzips.83 Noch deutlicher spielen Fairness- und Reziprozitätserwartungen in kooperativen Spielen, insbesondere Gemeinwohlexperimenten, eine Rolle. Diesbezüglich wurde von Fehr und Gächter eines der bemerkenswertesten „Öffentliches-Gut“-Spiele konzipiert, das in vielen weiteren Kollektivgut-Spielvarianten untersucht wurde.84 Selbst das Design des Originalexperimentes ist sehr komplex aufgebaut, sodass wir aus Raumgründen nur auf eine der beiden Grundvarianten, die selbst wieder verschiedene Modifikationen enthalten, eingehen können.85 Im ursprünglichen Design des Experiments erhalten die Spieler zunächst einen Geldbetrag (Teilnahmevergütung und Geld für den Spieleinsatz). Jeder Spieler muss sich in jeder Runde entscheiden, ob er sein Geld (teilweise) in ein fiktives öffentliches Gut investiert oder es behalten will. Entscheidet er sich dafür, nicht zu investieren, erhält er sein Geld am Ende des Spiels. Entscheidet er sich aber zu investieren, also zu kooperieren, erhöht sich der Betrag seiner Investition um einen dem Kooperationsgewinn entsprechenden Faktor. Allerdings kann der Natur des öffentlichen Gutes entsprechend niemand vom gesamten Kooperationsgewinn ausgeschlossen werden. Ein Spieler muss also den Kooperationsgewinn und damit auch den dafür aufgewenHenrich et al. (2005). et al. (2005), S. 798. 83  Ergänzend Fehr / Fischbacher (2003). 84  Vgl. Fehr / Gächter (2000); Fehr / Gächter (2002); Fehr / Gintis (2007). 85  Vgl. ausführlich Fehr / Gächter (2000). 81  Vgl.

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deten Eigenbeitrag mit den anderen Spielern teilen. Wird insgesamt von zu wenigen beziehungsweise zu wenig investiert, macht der einzelne, der selbst (mehr) investiert hat, Verlust. Eine Investition rentiert sich also nur, wenn alle Spieler genügend investieren. Nach dem Eigennutzpostulat hätte jeder Spieler an sich einen Anreiz zum Trittbrettfahren, also zur Nicht-Investition, das heißt bei einer ausschließlich selbstinteressierten Motivation ist die Defektion die dominante Spielstrategie. Man behält, was man hat und wartet darauf, dass andere etwas beitragen, wovon man dann selbst profitiert. Demnach würde kein rationaler, nutzenmaximierender Spieler in das öffentliche Gut investieren. Die Experimente ergaben hingegen einen anderen Spielverlauf. Dieser widerspricht bereits zu Spielbeginn der klassischen (engen) Rational-ChoiceTheorie-Erwartung. In den ersten drei Runden lag die Kooperationsrate bei rund 50 Prozent, blieb bis zur siebten Runde mit ca. 40 Prozent relativ konstant, brach dann allerdings relativ schnell ein und erreichte in der zehnten Runde nur noch rund 15 Prozent, wobei auch die investierten Beträge immer kleiner wurden. Nach der zehnten Runde wurde den Probanden unerwartet die Möglichkeit gegeben, die nichtkooperativen Teilnehmer (Trittbrettfahrer) zu bestrafen. Nachdem jeder für die folgende Runde investiert hatte, wurden alle über die Beiträge der anderen informiert und die Teilnehmer konnten dann entscheiden, ob sie bestrafen wollen oder nicht. Wer bestrafte, musste etwas zahlen, wobei der Betrag mit der Höhe der Bestrafung stieg, was dann entsprechend den eigenen Gewinn schmälerte. Rationale „Egoisten“ hätten nicht bestraft. Die Experimente zeigen hingegen, dass sich mit der Bestrafungsoption das Kooperationsverhalten schlagartig ändert. Die Kooperationsrate stieg von den noch nach Runde 10 verbliebenen 15 Prozent auf 65 Prozent (!) in der elften Runde, nahm dann weiter rasch zu und konvergierte gegen nahezu 100 Prozent zum Spielende (= 20. Runde).86 Im Ergebnis zeigt sich auch hier, dass es anfänglich, entgegen der Ration­ al-Choice-Theorie-Prognose, zu substantiellen Investitionen kommt und dass darüber hinaus auch die meisten Versuchspersonen ihr Eigeninteresse zugunsten des Fairnessprinzips zurückstellen. Fairness basiert hierbei im Wesentlichen auf (negativer, also Trittbrettfahren sanktionierender) Reziprozität, also der Bestrafung von vorangegangener Unfairness. Der Nutzen der Bestrafung von Unfairness ergibt sich daraus, dass die Person sich dem moralischen Prinzip der Fairness verpflichtet fühlt. Die Mehrheit der Versuchspersonen folgt diesem Prinzip, auch wenn ihnen dadurch ein Gewinn entgeht, 86  Fehr / Gächter (2000) mit Schaubild auf S. 138; Fehr / Gintis (2007) mit Schaubild auf S. 48.

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insofern handeln sie nicht streng konsequentialistisch. Ferner versuchen die Versuchspersonen Fairness herzustellen, selbst wenn ihr eigener Nutzen dadurch nicht maximiert wird, und sogar auch dann, wenn sie selbst Opfer bringen müssen, um Fairness herzustellen. Fehr und Gächter87 nennen dies „altruistic punishment“ – eine Bestrafung anderer, die Kosten verursacht, aber in dem Sinne altruistisch ist, als sie faires Verhalten aufrechterhält: Wenn alle Mitglieder einer Gemeinschaft wissen, dass sie bei unfairem Verhalten bestraft werden, selbst dann, wenn die Bestrafenden dadurch Nachteile in Kauf nehmen, wird insgesamt faires Verhalten verstärkt und stabilisiert. Zum Teil werden diese Ergebnisse als Beleg für ein Vergeltungsbedürfnis des Menschen und damit als empirische Unterfütterung der Vergeltungstheorie gedeutet.88 Tatsächlich dürfte wohl eher so etwas wie positive Generalprävention – also die Stärkung des Vertrauens der Gemeinschaft in die Rechtsordnung – eine Rolle spielen, das heißt die Bestrafung der Trittbrettfahrer motiviert die an Fairness orientierte, bedingt kooperative Mehrheit zu fortgesetzter Kooperation. Daneben wirkt die Erwartung, dass die bedingt kooperative Mehrheit zu solchen Investitionen zur Aufrechterhaltung nega­tiver Reziprozität bereit ist, für potentielle Trittbrettfahrer abschreckend.89 So zeigen solche Experimente eindrucksvoll etwas, wovon schon früh Andenaes ausging, nämlich, dass positive und negative Generalprävention zwei Seiten einer Medaille und über Reziprozitätserwartungen verknüpft sind. So schreibt er: „Even though moral inhibitions today are adequate enough to prevent the bulk of the population from committing serious crimes, it is a debatable question whether this would continue for long if the hazards of punishment were removed or drastically minimized. It is conceivable that only a small number of people would fall victim to temptation when the penalties were first abolished or greatly reduced, but that with the passage of time, crime would attract the weaker souls who had become demoralized by seeing offenses committed with impunity. The effects might gradually spread through the population in a chain reaction.“90

Tyran und Feld91 stellten ergänzend in einem Experiment, dem ein Öffentliches-Gut-Spiel zugrunde lag, fest, dass auch nicht-abschreckende, rein symbolische Sanktionen92 einen normstabilisierenden Effekt, verglichen mit der Sanktionslosigkeit, haben. Der Effekt war aber nur dann signifikant, wenn die am Spiel Beteiligten die Sanktionsnorm in einer Gruppenabstimmung selbst beschlossen haben, statt sie schlicht von der Spielleitung vorge87  Fehr / Gächter

(2002). Beispiel Walter (2011), S. 638. 89  Siehe auch Diekmann / Voss (2008). 90  Andenaes (1966), S. 956. 91  Tyran / Feld (2006). 92  In der dem Experiment zugrundeliegenden Spielsituation: Sanktionen, deren Höhe deutlich niedriger war als der aus der Normverletzung folgende Gewinn. 88  Zum



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geben zu bekommen. Dann erhöhte sich durch die symbolische Sanktion auch die Normkonformität derjenigen, die ursprünglich gegen die Sanktion gestimmt hatten. Es zeigt sich also, dass nicht nur die an sich kooperationsbereiten Spieler stark von positiver und negativer Reziprozität geleitet werden, auch die Normakzeptanz derjenigen, die an sich Trittbrettfahrer wären, lässt sich in Abweichung von den Erwartungen der klassischen RationalChoice-Theorie bereits mit Sanktionen verbessern, die den finanziellen Nutzen des Trittbrettfahrens nicht aufzehren. Entscheidend ist hierbei aber, dass sich die Sanktionen selbst an fairen Prinzipien orientieren. So konnten Fehr und Rockenbach experimentell nachweisen, dass Sanktionen, die „egoistische“ oder „gierige“ Absichten offenbaren, altruistische Kooperationen nahezu vollständig zerstören, während als fair wahrgenommene Sanktionen den Altruismus intakt lassen. „These findings challenge proximate and ultimate theories of human cooperation that neglect the distinction between fair and unfair sanctions, and they are probably relevant in all domains in which voluntary compliance matters – in relations between spouses, in the education of children, in business relations and organizations as well as in markets.“93

V. Erweiterungen Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Rational-ChoiceTheorie und Rational-Choice basierte ökonomische Kriminalitätstheorien partiell unzulänglich sind, um konformes und abweichendes menschliches Verhalten hinreichend zu beschreiben. Teils in Auseinandersetzung mit dem Rational-Choice-Approach liegen mittlerweile elaboriertere Handlungstheorien vor, die die beschriebenen Unzulänglichkeiten berücksichtigen, gleichzeitig aber auch Elemente des orthodoxen Rational-Choice-Ansatzes integrieren. Diesbezüglich gelten gegenwärtig vor allem zwei Handlungstheorien als vielversprechende Erweiterungen: Zum einen die Situational Action Theory von Wikström,94 die sich explizit als kriminologische Handlungstheorie versteht und zum anderen die von Esser begründete und von seinem Schüler Kroneberg weiterentwickelte Frame-Selektionstheorie beziehungsweise das Modell der Frame-Selektion,95 als eine allgemeine soziologische Handlungstheorie, die damit auch abweichendes Verhalten zu erklären beansprucht. 93  Fehr / Rockenbach

(2003), S. 137; im Überblick auch Magen (2007). Wikström (2004); Wikström / Treiber (2007); Wikström (2014); Wikström /  Schepers (2018). 95  Vgl. Esser (1993); Esser (1999); Esser (2000a); Esser (2000b); Esser (2010); Esser (2011); Kroneberg (2005); Kroneberg (2011); Kroneberg / Heintze / Mehlkop (2010); Kroneberg / Kalter (2012); ferner Schulz-Schaeffer (2008). 94  Vgl.

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1. Der Ansatz der Frame-Selektion als allgemeine soziologische Handlungstheorie Das Modell der Frame-Selektion (MFS) integriert im Unterschied zum Rational-Choice-Ansatz96 zwei zusätzliche Konzepte der Entscheidungsfindung: Die „Definition der Situation“ und die „variable Rationalität“. Vereinfacht meint das Konzept der Definition der Situation, dass Akteure in Entscheidungssituationen nicht auf der Grundlage der „objektiven“ Entscheidungssituation handeln, sondern auf der Grundlage ihrer „subjektiven“ Wahrnehmung der Entscheidungssituation. Das Konzept der variablen Rationalität bedeutet, dass Akteure – wie oben ausgeführt – nicht in jeder Entscheidungssituation rational handeln, sondern dass sie in vielen Fällen routiniert, spontan, emotional handeln und soziale Normen befolgen. Der gemeinsame Gesichtspunkt besteht hierbei darin, dass – bei unterschiedlichsten alternativen Handlungsmöglichkeiten – die Handlungen in vielen Fällen weniger rationale Überlegung erfordern, sondern häufig auch automatisch beziehungsweise spontan einsetzen können. Die zentrale Idee des MFS besteht in der Verknüpfung dieser beiden Konzepte: Danach handeln Akteure dann rational, wenn in ihrer subjektiven Wahrnehmung der Situation keine ausreichende Übereinstimmung mit generalisierten Entscheidungssituationen vorhanden ist, für die spezifische Skripte des Handelns (zum Beispiel habitualisierte Handlungen, traditionales Handeln oder auch soziale Normen) vorliegen.97 In der aktuellen Version des MFS umfasst die Handlungswahl sechs Stufen (Abbildung 1): Auf die Selektion eines Frames (Definition der Situation) folgt die Selektion eines Skripts (Aktivierung eines Handlungsschemas) und sodann die Selektion einer konkreten Handlung (das heißt letztlich: deren Ausführung). Jede dieser Selektionen kann in einem der beiden Modi, reflektiert-kalkulierend (rc-Modus) oder automatisch-spontan (as-Modus), erfolgen, sodass der jeweiligen Selektion noch eine Modus-Selektion vorgeschaltet ist.98 Mithilfe des Modus wird die variable Rationalität modelliert. Der 96  Zum detaillierten Verglich des MFS und der RCT vgl. Esser (2018), S. 13 ff., Kroneberg (2011), S. 42 ff.; Tutić (2015), S. 90 ff. 97  Vgl. Kroneberg (2011), S. 89 ff.; bereits grundlegend Max Weber, der zwischen „zweckrationalem“, „wertrationalem“, „affektuellem“ und „traditionalem“ Handeln unterschieden hat, Weber (1985), S. 11 ff. 98  Entsprechende duale Prozess-Modelle (duale Architekturen) sind in der Psychologie seit längerem Gegenstand der Forschung. Viele kognitive und affektive Prozesse laufen auf einem Kontinuum von automatisch-unbewusst bis kontrolliert-bewusst ab. Das in der Entscheidungspsychologie bedeutsamste „Dual-Processing-Model“ stammt in Anlehnung an Stanovich / West (2000) von Kahneman (2003). Es wurde von ihm schlicht als „System 1 und System 2 Modell“ bezeichnet und hat sich als nützlich zur Einordnung und Erklärung einer Vielzahl bislang unverbundener Phänomene erwie-



Der rational kalkulierende Verbrecher?

as-Modus

(automatischspontan)

Motivator

Versuchung/ Provokation

Modus Selektion

as-Modus Zugänglichkeit/ Passung

FrameSelektion

(Definition der Situation)

(automatischspontan)

rc-Modus

Rationale Wahl

as-Modus Zugänglichkeit/ Passung

(automatischspontan)

SkriptSelektion

Modus Selektion

(Aktivierung eines Handlungsschemas)

Modus Selektion

Legales Handeln/ Kriminelles Handeln

Gelegenheit

(reflektiertkalkulierend)

201

rc-Modus

(reflektiertkalkulierend)

Rationale Wahl

Zugänglichkeit/ Passung

HandlungsSelektion (Ausführung einer Handlung)

z.B. kriminelles Handeln rc-Modus

Rationale Wahl

(reflektiertkalkulierend)

Abbildung 1: Handlungstheoretische Prozesse im Frame-Selektion Modell99

rc-Modus steht für rationales und reflektiertes Handeln. Dieser rc-Modus selbst kann je nach Situation und Konsequenzen (mismatch und stärkere Beachtung von Konsequenzen) eine mehr oder weniger begrenzte rationale Wahl bedeuten: „von gewissen Heuristiken und Daumenregeln bis hin zum Extremfall des homo oeconomicus der orthodoxen Rational-Choice-Theo­ rie.“100 Insofern ist die Rational-Choice-Theorie ein Spezialfall der variablen Rationalität des MFS und, wie in der Rational-Choice-Theorie, sind dann auch Präferenzen und Erwartungen relevant. Der as-Modus bildet dagegen die unterschiedlichen Formen irrationalen und spontanen Handelns ab. Dementsprechend werden Frames, Skripte und Handlungen im rc-Modus über die Maximierung einer Nutzenfunktion selegiert. Im as-Modus tritt an die Stelle einer Nutzenfunktion ein sogenannter Match, der angibt, inwiefern die perzipierte Entscheidungssituation mental sen, vgl. Kahneman (2003); Kahneman (2012). System 1 umfasst alle automatischen, unbewussten und schnellen kognitiven Prozesse. Es ist kontinuierlich aktiv und liefert dem bewussten System 1 Eindrücke, Interpretationen und Bewertungen. Es ist die Basis von Intuition und von Heuristiken. System 2 umfasst dagegen alle kontrollierten, bewussten und langsamen kognitiven Prozesse. Es erfordert kognitive Anstrengung, die normalerweise vermieden wird. Es kann die von System 1 gelieferten Eindrücke und Bewertungen akzeptieren (das ist der Normalfall) oder intervenieren und korrigieren (was den Ausnahmefall darstellt). Es ist die Basis von analytischem und rationalem Denken und Entscheiden, vgl. mit vielen Beispielen Kahneman (2012), S. 33 ff. Insofern besteht eine große Parallelität mit dem MFS. 99  Nach Kroneberg (2005), S. 248 und Kroneberg (2011), S. 128 f. 100  Esser (2018), S. 14.

202

Stefan Harrendorf und Bernd Geng

verankerten Mustern von Entscheidungssituationen entspricht, für die eine automatisch-spontane Entscheidung „definiert“ ist. Für jede Selektion wird, unabhängig von den anderen Selektionen, der Modus der Selektion vorab bestimmt.101 In der Auswahl des Modus einer Selektion spiegelt sich die zentrale Idee des MFS wider. Anhand der Wahl des as-Modus für die Selektion des Frames stellt Kroneberg den maßgebenden Mechanismus vor, der den Kern des MFS-Modells bildet und in der empirischen Forschung eine zentrale Stellung einnimmt.102 Die Wahrscheinlichkeit für die Ausführung einer Handlung im as-Modus ist umso größer: – je größer die Kosten der Reflexion, – je geringer die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Reflexion, – je geringer die Opportunitätskosten einer falschen Selektion – und je größer der Match sind. Das MFS hat sich bereits bei verschiedenen sozialwissenschaftlich relevanten Themen und auch bei kriminologischen Fragestellungen als fruchtbar erwiesen. So ist etwa an die Studie von Eifler103 über Alltagskriminalität zu denken, in der sie der Frage nachging, warum Akteure angesichts von all­ ­ täglichen Gelegenheiten (Fundunterschlagung und Wechselgeldirrtum), delinquent handeln; ferner an die Untersuchung von Kroneberg / Heintze /  Mehlkop,104 die in einem Theorievergleich von Rational-Choice-Theorie, SAT und MFS das Zusammenspiel von moralischen Normen und instrumentellen Anreizen bei Ladendiebstahl und Steuerhinterziehung untersucht haben, sowie an die Analysen von Beier105 zu den Einflüssen der Peergruppe auf delinquentes und kriminelles Handeln Jugendlicher. Bemerkenswert ist auch die Studie von Mehlkop,106 in der er ein Theorie-Hybrid aus RationalChoice-Theorie und MFS entwickelt und anhand der Delikte Versicherungsbetrug, Unfallflucht, Ladendiebstahl, Schwarzfahren und Einkommensteuerbetrug empirisch überprüft hat.

Kroneberg (2011), S. 129 ff. (2011), S. 144 ff. 103  Eifler (2008; 2009). 104  Kroneberg / Heintze / Mehlkop (2010). 105  Beier (2016). 106  Mehlkop (2011). 101  Vgl.

102  Kroneberg



Der rational kalkulierende Verbrecher?

203

2. Die Situational Action Theory als aktuelle kriminologische Handlungstheorie Demgegenüber handelt es sich bei der von Wikström entwickelten Situa­ tional Action Theory (SAT) um eine originär kriminologische Handlungs­ theorie. Nach Wikströms Ansatz greifen andere kriminologische Theorien zu kurz, wenn sie nur entweder die persönlichen Eigenschaften oder Lebensbedingungen des Einzelnen oder die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Blick nehmen. Die meisten Theorien identifizieren nur „causes of the causes“,107 wie etwa gesellschaftliche Ungleichheit, unzureichende Erziehung und ähnliches, nicht aber die unmittelbaren Ursachen von Kriminalität. Wikströms SAT stellt dagegen die dem Handeln vorausgehenden Entscheidungsprozesse in einer bestimmten Situation in den Mittelpunkt.108 Im Kern besagt die SAT, dass eine Interaktion von Akteurs- und Situa­ tionsmerkmalen – eine Wechselwirkung zwischen der persönlichen Neigung zur Kriminalität (Disposition) und der von der unmittelbaren Umgebung ausgehenden kriminellen Gefährdung (Exposition) – im Individuum einen Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozess („perception-choice process“) anstößt, der dann das subjektive Handeln steuert.109 Jedem Handeln geht eine Definition (beziehungsweise Rahmung) der Situation voraus. Die Situationsdefinition bestimmt mit, welche Handlungsalternativen überhaupt wahrgenommen werden. In diesem Modell (Abbildung 2) ist Motivation für die Erklärung delinquenter Handlungen ein notwendiger, aber nicht hinreichender, situativer Faktor. Welche Handlungsalternative eine Person überhaupt wahrnimmt, wird durch den moralischen Filter gesteuert: „Der moralische Filter ist die durch moralische Regeln induzierte, selektive Wahrnehmung realisierbarer Handlungsalternativen in Bezug auf einen bestimmten Motivator (Versuchung oder Provokation).“110

Haben Akteure bestimmte Normen stark internalisiert und weist die Situation eindeutig auf die Geltung dieser Normen hin, so wird ihnen in aller Regel spontan (automatisch, habituell) gefolgt, ohne andere Alternativen überhaupt in Erwägung zu ziehen. Ebenso kann automatisch-spontan die kriminelle Handlungsalternative gewählt werden, wenn diese als sowohl mit den persönlichen Moralvorstellungen als auch der Moral des Settings vereinbar erscheint. Eine Abwägung zwischen verschiedenen, teils kriminellen, 107  Wikström

(2014), S. 74. Wikström (2004); Wikström / Treiber (2007); Wikström (2014); Wikström /  Schepers (2018). 109  Wikström (2014), S. 77 ff. 110  Wikström / Schepers (2018), S. 64. 108  Vgl.

204

Stefan Harrendorf und Bernd Geng Kriminalität keine Handlungsalternative

Gewohnheit

automatische Handlungswahl

moralischer Filter

Motivator

Versuchung/ Provokation

Gewohnheit automatische Handlungswahl

Kriminalität als Handlungsalternative

legales Handeln

kriminelles Handeln legales Handeln

Abschreckungspotential des Settings

rationale Überlegung

Gering

kriminelles Handeln

Selbstkontrolle

Hoch

legales Handeln

Interne und externe Kontrollen

Motivation, zielgerichtete Aufmerksamkeit

Wahrnehmung von Handlungsalternativen

Handlungswahl

Handlung

Abbildung 2: Zentrale Phasen im Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozess der Situational Action Theory111

teils nicht-kriminellen Handlungsalternativen findet daher primär dann statt, wenn sich die Akteure in einer unklaren Situation befinden oder widerstreitenden Normen gegenübersehen. Doch auch hier findet nach Wikström primär eine moralische Abwägung statt mit dem Ergebnis, die kriminelle Handlung zu unterlassen, wenn sie individuell als unmoralisch bewertet wird. Ist die kriminelle Handlungsalternative allerdings zugleich mit der Moral des Settings vereinbar, ist noch zu fragen, ob die Selbstkontrolle des Einzelnen ausreicht, der Versuchung zu widerstehen. Eine echte Rational-Choice-Entscheidung im Sinne einer eigennützigen Kosten-Nutzen-Abwägung findet nach der Theorie hingegen im umgekehrten Fall statt, wenn die persönliche Moral die rechtlich verbotene Handlung als legitim bewertet, diese aber konträr zu den moralischen Hinweisreizen des Settings wäre: Hier kommen dann auch Abschreckungseffekte zum Tragen.112 Im Gegensatz zu herkömmlichen Rational-Choice-Theorien geht die SAT also von einem Primat moralischer Wikström / Schepers (2018), S. 64. alldem Wikström (2014), S.  81 f.

111  Nach 112  Zu



Der rational kalkulierende Verbrecher?

205

Kräfte aus. Der Erklärungsanspruch erstreckt sich dabei auf alle Formen moralischen Handelns – also auf jede Art von regelgeleiteter Handlung.113 Die SAT ist mittlerweile wohl die einflussreichste kriminologische Handlungstheorie und hat auf internationaler und nationaler Ebene die kriminologische Forschung nachhaltig inspiriert. Dabei war die SAT von Beginn an ein genuin empirisches Projekt und wurde maßgeblich in Auseinandersetzung mit den Befunden der „Peterborough Youth Study“114 und der sich anschließenden „Peterborough Adolescent and Young Adult Development Study“ (PADS+) entwickelt. Die PADS+ ist eine der größten und bedeutendsten kriminologischen Panelstudien, die bereits seit mehr als zwölf Jahren Jugendliche und junge Erwachsene in Peterborough (England) untersucht.115 Die Ergebnisse der PADS+ bestätigen die generellen Annahmen der SAT: Sowohl Exposition als auch Disposition weisen eine Beziehung zu kriminellem Verhalten auf, für die Erklärung von Kriminalität spielt dabei insbesondere die Interaktion zwischen Disposition und Exposition eine herausragende Rolle.116 Insbesondere auch in Deutschland ist die Studienlandschaft zur SAT sehr weitgefächert und viele Studien sind mit der Überprüfung der Theorie und ihren postulierten Zusammenhängen zur Erklärung kriminellen Handelns befasst.117

VI. Fazit Hinsichtlich der mit dem Thema aufgeworfenen Fragen belegt die empirische Forschung unterschiedlichster Disziplinen eher einen bedingt rationalen Verbrecher, soweit es um eine an der Maximierung individuellen Nutzens orientierte Rationalität geht. Abgesehen von den Problemfällen weitgehend ohne rationale Abwägung begangener Delinquenz, zum Beispiel bei Affektdelikten, ist insbesondere die Einstellung des Menschen zu rechtlichen und sozialen Normen in der klassischen Rational-Choice-Theorie unzureichend ausgebildet: Menschen orientieren sich nicht nur strategisch, also instrumentell, an Normen, sondern folgen ihnen (häufiger!) habituell oder aus innerer Überzeugung. Dabei – auch dies ist aus empirischen Studien der Abschreckungsforschung ableitbar – findet sich eine differente Bedeutung beider Varianten der Normbefolgung.118 Zugespitzt: Während sehr viele Menschen 113  Wikström

(2014), S. 77. (2006). 115  Wikström / Schepers (2018), S. 68, hierzu ausführlich: www.pads.ac.uk. 116  Wikström / Schepers (2018), 69 f. 117  Zur empirischen Evidenz der SAT vgl. ferner die aktuelle Zusammenschau von Pauwels / Svensson / Hirtenlehner (2018). 118  Siehe z. B. Dölling (2011), S. 340, 349, 358. 114  Wikström / Butterworth

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allenfalls aus Furcht vor Sanktionierung Falschparken unterlassen, nehmen die allermeisten schon aus innerer Überzeugung von vorsätzlichen Tötungen Abstand. Auch wenn hinsichtlich der Grundprinzipien der analytischen Soziologie beziehungsweise Kriminologie eine „vollständige Erklärung des sozialen Phänomens der Kriminalität“ noch nicht vorliegt, kann aber in der Situational Action Theory eine tragfähige kriminologische Handlungstheorie gesehen werden, die einen wichtigen und innovativen Beitrag zur kriminologischen Forschung leistet, wenn auch das Potential hinsichtlich der Ausarbeitung der „situational mechanisms“ und der spezifischen Konnektivität mit den „action-formation-mechanisms“ bislang nicht ausgeschöpft wurde.119 Weiterführend erscheint zudem das Modell der Frame-Selektion als moderne, RationalChoice-Prozesse mit abbildende, auf sie aber nicht reduzierte Handlungs­ theorie. Beide Ansätze sind auch geeignet, die doppelte (abschreckende und zugleich sozial­integrative, das heißt sowohl negativ als auch positiv generalpräventive) Wirkung von (Straf-)Normen zu berücksichtigen. Insofern gilt, um es mit Habermas zu sagen: „[J]e nach der gewählten Perspektive bildet die Rechtsnorm eine andere Art von Situationsbestandteil: für den strategisch Handelnden liegt sie auf der Ebene von sozialen Tatsachen, die seinen Optionsspielraum extern einschränken, für den kommunikativ Handelnden liegt sie auf der Ebene von obligatorischen Verhaltenserwartungen, hinsichtlich deren ein rational motiviertes Einverständnis zwischen den Rechtsgenossen unterstellt wird. Der Aktor wird deshalb einer rechtsgültigen Vorschrift in jeweils anderer Hinsicht den Status einer Tatsache mit prognostizierbaren Folgen oder die deontologische Verbindlichkeit einer normativen Verhaltenserwartung zuschreiben. Die Rechtsgültigkeit einer Norm – und darin besteht ihr Witz – besagt nun, daß beides zugleich garantiert ist: sowohl die Legalität des Verhaltens im Sinne einer durchschnittlichen Normbefolgung, die erforderlichenfalls durch Sanktionen erzwungen wird, wie auch die Legitimität der Regel selbst, die eine Befolgung der Norm aus Achtung vor dem Gesetz jederzeit möglich macht.“120

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Absprachen zur Regelung des Produktvertriebs über das Internet im Rahmen des Europäischen Kartellrechts – Rechtliche Vorgaben und wettbewerbstheoretische Grundlagen Von Stefan Habermeier

I. Einleitung Dieser Beitrag befasst sich mit der kartellrechtlichen Problematik von Absprachen zwischen Produktherstellern und Absatzmittlern im Zusammenhang mit dem Online-Vertrieb auf dem europäischen Markt.1 Wegen der inzwischen auf ein beachtliches Niveau herangewachsenen Bedeutung des elektronisch vermittelten Produktabsatzes ist die Frage nicht mehr nur von gehobenem akademischen Interesse, sondern von nachgerade durchschlagender praktischer Relevanz.2 Die Thematik wird hier nicht ausschließlich unter normativ geprägten kartellrechtsdogmatischen Gesichtspunkten beleuchtet, sondern auch unter besonderer Berücksichtigung der konzeptionell-methodologischen und wettbewerbstheoretischen Prämissen, um kritische Anregungen für die Fortbildung der Materie zu liefern. Das Kartellrecht der Europäischen Union – kurz das EU-Kartellrecht – bildet für auf den Wettbewerb bezogene Vorgänge innerhalb der Union den entscheidenden Rechtsrahmen, der die in formaler Hinsicht noch fortbestehenden materiellen Kartellrechtsordnungen der einzelnen Mitgliedsstaaten in zentralen Fragen fast bis zur Bedeutungslosigkeit hin verdrängt hat.3 Selbst 1  Zivilrechtliche Fragen spielen dabei kaum eine Rolle, denn die kartellrechtlichen Grenzen dürften deutlich enger gezogen sein als aus privatrechtlichen Generalklauseln resultierende Schranken, vgl. allerdings unten Fn. 66. 2  Nach Angaben des Handelsverband Deutschland (2018), S. 6 hatten Online-Geschäfte im Jahr 2017 den stattlichen Anteil von 14 % des Gesamtumsatzes im NonFood-Bereich des Einzelhandels erreicht. Bei den derzeitigen jährlichen Wachstumsraten von 10 % im Online-Geschäft und tendenziell stagnierender oder gar rückläufiger Offline-Vermarktung könnte der Offline-Bereich seine dominante Rolle bis Ende des nächsten Jahrzehnts bereits verloren haben. 3  Ebenso statt vieler Kirchhoff (2015), Rn. 1724 ff. Zwar geht Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1 / 2003 des Rates vom 16.  Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln im

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in den Fällen, in denen das Kartellrecht der Mitgliedstaaten noch eigenständige Geltung beansprucht, weil die relevante Aktivität den „zwischenstaat­ lichen Handel“ nicht berührt, sind die Kartellrechtsordnungen von Mitgliedstaaten in den entscheidenden Themenfeldern inhaltlich an das EU-Kartellrecht angelehnt.4 So wird die Frage, inwieweit Unternehmen den Internetvertrieb ihrer Vertriebspartner im europäischen Binnenmarkt vertraglich regeln können, durch das Kartellrecht der Europäischen Union entscheidend geprägt.5 In rechtlicher Hinsicht bildet den Ausgangspunkt der Betrachtung Artikel 101 AEUV, in dessen Absatz 1 und Absatz 3, auf die Kernaussagen verkürzt, festgehalten ist: Artikel 101 Absatz 1: „Verboten sind alle Vereinbarungen […] zwischen Unternehmen, welche […] eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs […] bezwecken oder bewirken“. Absatz 3: „Die Bestimmungen des Absatzes 1 können für nicht anwendbar erklärt werden […] auf […] Vereinbarungen oder Gruppen von Vereinbarungen, die […] zur Förderung des […] wirtschaftlichen Fortschritts beitragen.“6

Mit Blick auf die wirtschaftsverfassungspolitisch herausgehobene Bedeutung einer funktionsfähigen Wettbewerbsordnung enthält die Regelung rechtstechnisch ein allgemeines Verbot wettbewerbsbeschränkender Absprachen, das von einem Erlaubnisvorbehalt flankiert ist;7 für vorliegende FrageGrundsatz von einer „parallelen“ Anwendung europäischen und nationalen Kartellrechts aus, doch schon lange vertritt der Europäische Gerichtshof (siehe EuGH – Costa / Enel, Urt. v. 15.6.1964, Rs. 6 / 64) einen Anwendungsvorrang des europäischen Rechts vor nationalen Rechtsakten (vgl. für den Vorrang europäischer Erlaubnistatbestände nun auch Artikel 3 Absatz 2 Verordnung (EG) Nr. 1 / 2003); zudem erlangt das EU-Kartellrecht durch eine extensive Auslegung der sogenannten „Zwischenstaatlichkeitsklausel“ im Rahmen des Artikel 101 Abs. 1 AEUV bzw. der Vorgängerregelungen des Art. 81 EG eine nahezu den gesamten europäischen Binnenmarkt umfassende Bedeutung (beginnend mit EuGH  – L’Oréal, Urt. v. 11.12.1980, Rs.  31 / 80); eingehend zum Problemkreis mit umfassenden Rechtsprechungsnachweisen bei Habermeier (2003), S. 774 f. 4  Vgl. als prominentes Beispiel das Kartellrecht der Bundesrepublik Deutschland (§ 2 Abs. 2 GWB). 5  Es gibt freilich Divergenzen in der Auslegung als Folge der Dezentralisierung der ausführenden Behörden, vgl. Artikel 5 und Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 1 /  2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln; Kirchhoff (2015), Rn. 1766 ff. und 1769 ff.; im Einzelnen Bauer (2015), Rn. 23–39. 6  Die Regelung hatte sicherlich den US-amerikanischen Sherman Antitrust Act (1890) zum Vorbild, auch die Freistellungstechniken sind mittlerweile nicht mehr ganz unähnlich, vgl. Fn. 7 und unten V. 7  Das in den Europäischen Verträgen etablierte System eines kartellrechtlichen Verbots mit Freistellungsvorbehalt ist infolge des Artikels 1 Absatz 2 der Verordnung



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stellung ist allerdings von größerem Interesse, dass innerhalb des Erlaubnistatbestands einer der wirklich seltenen Fälle anzutreffen ist, in denen eine Norm direkten Bezug nimmt auf eine ökonomische Einschätzung, die Juristen allein kraft ihrer fachspezifischen Ausbildung ohne Blick in die Nachbardisziplin kaum zu leisten imstande sind. Wenn man so formulieren will, trifft hier Recht auf Wirtschaft in einem sehr direkten Sinne, und zwar, mit Blick auf die kartell- und wettbewerbsrechtliche Problematik auf das ökonomische Spezialgebiet der Wettbewerbstheorie – auf die in englischem Sprachgebrauch sogenannte „Antitrust Analysis“. Die Geschichte dieser lange Zeit primär im Wissenschaftsbetrieb der Vereinigten Staaten verorteten Disziplin im Schnittbereich der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften ist geprägt von einem grundlegenden Schulenstreit, in dem sich, jedenfalls über viele Jahre zunächst recht unversöhnlich, zwei entgegengesetzte Positionen gegenüberstanden. Auf der einen Seite beanspruchte ab den 1960er Jahren große Aufmerksamkeit und Gefolgschaft die sogenannte „Harvard School of Antitrust Analysis“8. Sie ist geprägt von der Grundüberzeugung, unternehmerisches Verhalten sei im Allgemeinen darauf gerichtet, der Wirtschaftsordnung zuwiderlaufende Marktmacht zu akkumulieren („Marktmachtdoktrin“9). Nach dieser Auffassung sind kartellrechtliche Regulierungen in beträchtlichem Umfang angesagt, unternehmerische Absprachen mit wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen kaum mit „wirtschaftlichem Fortschritt“ identifizierbar.10 Als Gegenposition formierte sich ab den 1970er und 1980er Jahren die „Chicago School of Antitrust Analysis“11. Ausgehend von der Prämisse, Vereinbarungen zwischen Unternehmen seien im Allgemeinen vom Bestreben getragen, die Nützlichkeit und Effizienz unternehmerischer Aktivitäten zu erhöhen, werden in diesem Denkansatz nachteilige Auswirkungen wettbewerbsbeschränkender Absprachen zwar anerkannt, aber weitaus weniger stark gewichtet, umso mehr, als entsprechende Absprachen regelmäßig dazu (EG) Nr. 1 / 2003 des Rates vom 16.  Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln und dem darin etablierten „System der Legalausnahmen“ effektiv auf den Kopf gestellt worden: Rechtsanwender werden den in Art. 101 Absatz 3 genannten Freistellungskriterien unmittelbar eigenständige Freistellungswirkung beimessen, ohne dass es einer vorangehenden Freistellungsentscheidung der Kommission bedarf; vgl. statt vieler beispielsweise Kirchhoff (2015), Rn. 1710–1712. 8  Repräsentativ Kaysen / Turner (1959), ferner Scherer (1994), Shepherd (1984), u. a. m. 9  Treffend Kerber / Schwalbe (2015), Rn. 85. 10  Siehe dazu auch Kerber / Schwalbe (2015), Rn. 84, 88. 11  Repräsentativ Stigler (1968), Demsetz (1976), Bork (1978), Posner (1976), u. a. m.

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dienten, verschiedene Varianten eines Marktversagens zu adressieren, ohne dessen Berücksichtigung ein ökonomisch effizienter Produktvertrieb nicht möglich sei („Effizienzdoktrin“12). Infolgedessen sei davon auszugehen, dass auch unternehmerische Absprachen mit wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen vielfach zum „wirtschaftlichen Fortschritt“ beitrügen und folglich keinem wettbewerbsrechtlichen Verbotsverfahren unterworfen werden sollten.13 Weithin wird angenommen, die Organe der EU hätten in diesem Schulenstreit eine „vermittelnde“ Position eingenommen.14 Soweit es um die Einschätzung der Wirkungen solcher Absprachen geht, die zwischen Unternehmen verschiedener Wirtschaftsstufen – Lieferanten und Händler – vereinbart werden (sogenannte „vertikale Kartelle“), dürfte dies außer Zweifel stehen: So finden sich in den von der Europäischen Kommission publizierten und für die Normauslegung und Freistellungspraxis des EU-Kartellrechts in beachtlichem Maße relevanten Leitlinien für vertikale Beschränkungen15 neben einer umfangreichen Schilderung negativer Wirkungen solcher Absprachen16 auch eine eingehende Darlegung positiver Effekte17, die sich erkennbar auch an die Überlegungen und Argumentationen der „Chicago School of Antitrust Analysis“ anlehnen.18 Das Aufkommen des Internets und des einhergehenden elektronischen Kommerzes hat diese ausgewogene und differenzierte Sichtweise vollständig durcheinandergewirbelt. Die europäischen Wettbewerbsbehörden scheinen mehr Interesse an einem erfolgreichen und zugkräftigen Internet als einem funktionsfähigen Wettbewerb zu haben. Alles, was vor dem Internetzeitalter galt, gilt scheinbar nicht mehr. Unvermittelt und wahrscheinlich zum Nachteil der sozialen Wohlfahrt werden die wohlüberlegten und ausgeglichenen theoretischen Ansätze zwar noch formal aufrechterhalten, in der praktischen Anwendung jedoch Ergebnisse gefördert, die die ausgewogene Sichtweise im Kern aushebeln und einem nahezu ungebremsten Durchbruch der wettbewerbstheoretischen Grundüberzeugungen der „Harvard School“ Vorschub leisten. Dies aufzuzeigen und zugleich kritisch zu hinterfragen, ist Aufgabe dieses Beitrags. Die zur Debatte stehenden Fragen werden anhand von drei wettbewerbstheoretisch besonders prominenten und zugleich auch praktisch ausgeprononciert Bork (1978), S. 7. Kerber / Schwalbe (2015), Rn. 88 am Ende; kritisch Schmidt / Rittaler

12  Besonders

13  Siehe

(1986). 14  Siehe statt vieler Kerber / Schwalbe (2015), Rn. 93 am Ende. 15  Amtsblatt der Europäischen Union, 19.5.2010, C 130 / 1. 16  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 100–105. 17  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 106–109. 18  Einzelheiten in den nachfolgenden Abschnitten.



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sprochen relevanten Fallgestaltungen diskutiert unter Berücksichtigung der aktuellen rechtlichen Entwicklungen, und zwar im jeweiligen Kontext des Alleinvertriebs (Teil II.), des selektiven Vertriebs (Teil III.) und schließlich im Zusammenhang mit Preisbindungsabsprachen infolge sogenannter „Bestpreisklauseln“, die sich vor allem bei den mit der Vermittlung von Dienstleistungen befassten Internet-Plattformen großer Beliebtheit erfreuen (Teil IV.).19 Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit (Teil V.).

II. Alleinvertriebssysteme 1. Phänomen und wettbewerbstheoretische Bewertung Kennzeichnend für ein im sogenannten Alleinvertrieb organisiertes Vertriebssystem ist die exklusive Zuordnung einer Kundengruppe, besonders in Form einer territorialen Aufteilung des Markts. Jeder an einem solchen System partizipierende Händler erhält kraft entsprechender vertraglicher Regelung die alleinige Zuständigkeit, die ihm zugewiesenen Kunden zu bedienen. Als Instrumente zur Verwirklichung eines Alleinvertriebs im Vertikalbereich dienen vertragliche Absprachen zwischen einem Produktlieferanten und den Händlern, die es den übrigen Händlern – und ergänzend oft auch den Lieferanten – untersagen, mit der für einen bestimmten Händler „reservierten“ Kundengruppe in vertragliche Beziehung zu treten. Aufgrund der dadurch eintretenden Beschränkungen des Händlerwettbewerbs – Kunden haben als Vertragspartner nur einen einzigen Händler und sind folglich gehindert, auf andere auszuweichen – sind solche Absprachen aus wettbewerbstheoretischer Sicht problematisch und bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. Die in diesem Kontext von der „Chicago School of Antitrust Analysis“ entwickelten Denkansätze sind inzwischen allgemein anerkannt und auch nicht so einfach von der Hand zu weisen: Auf der einen Seite erlaubt ein durch das Alleinvertriebsrecht entstandenes Händlermonopol eine partielle Abschöpfung von Konsumentenrenten, das Einfahren höherer Preise für das Produkt, weil Kunden nicht ohne weiteres auf alternative Angebote ausweichen können, vor allem bei wenig ausgeprägtem Herstellerwettbewerb.20 Diese Benachteiligung der Marktgegenseite kennzeichnet sozusagen den ne19  Damit sind die relevanten Gestaltungen weitestgehend abgedeckt; naturgemäß ohne Belang im vorliegenden Zusammenhang sind die häufigen Konstellationen der mit Herstellern vereinbarten Erwerbsbeschränkungen (z. B. Alleinbezugsbindungen), weil solche Vorgaben keine Rückwirkungen auf das für den Vertrieb verwendete Medium haben. 20  Eingehend Rey / Stiglitz (1988), S. 2–3, mit hochgradig formalisierten Berechnungsmodellen ab S. 4 ff.

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gativen Aspekt der Absprache.21 Auf der anderen Seite gibt es Sachverhalte, in denen ohne diese Absprachen das Produkt gar nicht auf dem Markt käme, sodass die Alleinvertriebsvereinbarung, die dies ermöglicht, zuletzt doch gesamtwirtschaftliche Vorteile zeitigt. Ein Alleinvertrieb wird in solchen Situationen als legitimes Steuerungsmittel angesehen, in denen ein Händler befürchten muss, auf irrevisiblen Anfangsinvestitionen für die Vermarktung sitzen zu bleiben – gedacht ist an Aufwand für produktspezifische Werbung, besonders gearteten Lagerraum und ähnliches – und so in Ermangelung ausreichender Amortisationsperspektiven von entsprechenden Anfangsinvestitionen von vornherein Abstand nähme. Damit ist das sogenannte „Hold-upProblem“ angesprochen, das auf Seiten des Händlers immer dann auftritt, wenn er es übernimmt, einseitige oder jedenfalls asymmetrische vertragsspezifische Investitionen zu tätigen: Der Händler würde bei kurzfristigem Abbruch der Vertragsbeziehung der Quasirente aus seiner längerfristigen Investition beraubt; wird diese Gefahr antizipiert, schreckt der Händler von solchen transaktionsspezifischen Investitionen von vornherein zurück.22 Da eine kompensatorische längerfristige Vertragsbindung aus Gründen wirtschaft­ licher Flexibilität in der Regel sehr schwer erzielbar ist, kann es zur Produktvermarktung nur kommen, wenn der Händler durch ökonomische Anreize veranlasst wird, die entsprechende Investition zu tätigen, wozu ein ­Alleinvertriebsrecht ein probates Mittel darstellt.23

21  Bezogen auf territoriale Beschränkungen ausführlich Rey / Stiglitz (1995), S.  431 ff. 22  Zur daraus resultierenden Unterfinanzierungsproblematik ausführlich Williamson (1975); Williamson (1989), S. 135 ff.; ferner Klein / Crawford / Alchian (1978), S.  302 ff.; Joskow (1988), S. 95 ff. u. v. a. m.; die Bezeichnung selbst stammt in leicht anderem Zusammenhang mutmaßlich von Goldberg (1976), S. 439, siehe Klein / Craw­ ford / Alchian (1978), S. 302. Von entsprechenden Händlerbemühungen profitiert indirekt auch der Hersteller („vertikale Externalität“), siehe Rey / Caballero-Sanz (1996), S. 11; Kerber / Schwalbe (2015), Rn. 461. 23  Dies ist in der wettbewerbstheoretischen Diskussion heute allgemein anerkannt, vgl. statt vieler beispielsweise Kerber / Schwalbe (2015), Rn. 459 m. w. N. Jenseits der angesprochenen Amortisationsproblematik hat Posner (1977), S. 6 ff., als bedeutender Repräsentant der „Chicago School“ eine infolge Werbeanstrengungen verursachte dauerhafte Kostenerhöhung (Betrieb von Getränkeautomaten) zur Rechtfertigung von Alleinvertriebsvereinbarungen in den Raum gestellt, siehe Posner, a. a. O.: „The cost of distribution through thousands of scattered low-volume outlets is very high, […], and if Cokes sold at these locations were priced to cover the full cost of distribution, the price would be so high that Coca Cola’s promotional objective would be defeated. […] This system of pricing could not be sustained if there were competition among bottlers“. Da dieser Ansatz bei Abwägung auch der wettbewerblichen Nachteile angreifbar ist und bislang auch keine Gefolgschaft gefunden hat, soll er im Kommenden außer Betracht bleiben.



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Besonders bei der Einführung neuartiger Produkte kann sich das Problem verschärfen. Aufgrund ungenügender Informationen sind institutionelle Kreditgeber selten in der Lage, die Aussichten erfolgreicher Produktvermarktung ordentlich einzuschätzen und werden daher bei der Kreditvergabe Zurückhaltung üben (Versagen der Kapitalmärkte).24 Hersteller ohne ausreichende Eigenmittel sind dann vom Kreditmarkt abgeschnitten und auf Händlerinvestitionen angewiesen, die allerdings infolge des Hold-up-Problems ausbleiben. Dass ein Alleinvertriebssystem trotz seiner wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen in ökonomischer Hinsicht vorteilhaft sein kann, ist auch der Europäischen Kommission präsent. Deutlich wird dies im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Leitlinien für vertikale Beschränkungen, in denen die Kommission ihre Überlegungen zum Europäischen Kartellrecht der vertikalen Beschränkungen präsentiert.25 In dieser für die praktische Handhabung der Kartellrechtsnormen bedeutenden Publikation wird das in der Wettbewerbstheorie akzentuierte Problem der Amortisationsrisiken für Händler­ investitionen als relevant erkannt und der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass eine vom Händler getätigte Anfangsinvestition unter bestimmten Vo­ raussetzungen einen Alleinvertrieb rechtfertige.26 Dabei werden auch die Hintergründe der ökonomischen Verwerfungen benannt, so das Problem eines Versagens von Kapitalmärkten bei neuartigen Produkten27, ebenso auch das Hold-up-Problem28, und ausdrücklich geurteilt im Falle des Vorliegens von Investitionen, die langfristig, asymmetrisch und vertragsspezifisch sind: „Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so gibt es in der Regel einen triftigen Grund für eine vertikale Beschränkung während des Zeitraums, der nötig ist, um die Investition abzuschreiben. Die angemessene vertikale Beschränkung wird ein Wettbewerbsverbot oder eine Mengenvorgabe sein, wenn die Investition vom Anbieter vorgenommen wird, bzw. eine Alleinvertriebsvereinbarung, eine mit Ausschließlichkeitsrechten verbundene Zuweisung von Kundengruppen oder eine Alleinbelieferungsvereinbarung, wenn die Investition vom Abnehmer getätigt wird.“29

24  Kerber / Schwalbe (2015), Rn.  529 im Kontext konglomerater Zusammenschlüsse. 25  Siehe oben Fn. 15. Es handelt sich bei diesen Leitlinien zwar nicht um einen förmlichen Rechtsakt, wohl aber um eine offizielle Verlautbarung, die in jedem Fall die Kommission selbst bindet und an der sich die Rechtsprechung im Übrigen inhaltlich anlehnt, vgl. EuGH v. 13.10.2011, Rs.  C-439 / 09, Rn. 56 f.; BGH 4.11.2003, KZR 2 / 02 – Depotkosmetik im Internet, Rn. 20. 26  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 107b. 27  Leitlinien für vertikale Beschränkungen Rn. 107h. 28  Leitlinien für vertikale Beschränkungen Rn. 107d. 29  Leitlinien für vertikale Beschränkungen Rn. 107d, 2. Absatz.

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In diesen Ausführungen wird also eine Alleinvertriebsvereinbarung während des Abschreibungszeitraums als angemessenes Instrument zur Förderung der Investitionstätigkeit anerkannt. In der Sache leicht abweichend ist der Inhalt der auf Artikel 101 Absatz 3 AEUV gestützten Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen.30 Diese Verordnung allseits verbindlichen Charakters erlaubt den Produktlieferanten die Etablierung eines Alleinvertriebssystems durch Absprachen mit den Vertriebsagenten bei beidseitigen Marktanteilen bis zu 30 % eines relevanten Markts, sofern den Absatzmittlern der passive Verkauf in Gebiete der anderen Händler erlaubt bleibt.31 Untersagt werden darf den jeweiligen Händlern somit der aktive Verkauf, das heißt die aktive Ansprache oder Werbung von Kunden außerhalb des eigenen Kundenkreises / Territo­ riums, namentlich auch das dortige Errichten von Verkaufsstellen.32 Da nach den Regeln der Gruppenfreistellungsverordnung der passive Vertrieb nicht eingeschränkt werden darf, das heißt der Vertrieb an Kunden, externe Händler selbst aufzusuchen, möglich bleiben muss, kommt der Wettbewerb der Händler untereinander zwar nicht zum Erliegen, wird jedoch als Folge der den Kunden durch das Aufsuchen externer Händler entstehenden Transaktionskosten erschwert, sodass das Amortisationsproblem gerade mit Blick auf die fehlende Befristung dieser Beschränkung auch im Rahmen dieser Vorgaben zumindest entschärft wird.33

30  Verordnung (EU) Nr. 330 / 2010 der Kommission vom 20.4.2010, Amtsblatt der Europäischen Union L102 / 1 v. 23.4.2010. 31  Die Regelungstechnik ist kompliziert und wenig übersichtlich: Artikel 2 der Vertikal-GVO nimmt in einem ersten Schritt vertikale Vereinbarungen vom Kartellverbot nach Art. 101 AEUV aus, beschränkt diese Freistellung dann aber auf Fälle, in denen die Marktanteile des Händlers („Abnehmers“) sowie des Produktlieferanten („Anbieters“) die genannte 30 %-Schwelle nicht überschreiten (Artikel 3). In einem weiteren Schritt (Artikel 4) werden Freistellungen versagt im Falle von Gebiets- oder Kundenbeschränkungen, allerdings mit der hier relevanten Ausnahme „der Beschränkung des aktiven Verkaufs in Gebiete […], die der Anbieter […] einem anderen Abnehmer zugewiesen hat“ (vgl. Buchst. i). 32  Die Kommission erläutert den Begriff „aktiven Verkauf“ näher in den Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 51: „die aktive Ansprache einzelner Kunden, z. B. mittels Direktwerbung einschließlich Massen-E-Mails oder persönlichen Besuchs“. „Passiver Verkauf“ hingegen wird verstanden als „die Erledigung unaufgeforderter Bestellungen einzelner Kunden“, (a. a. O.). 33  Methodologische Kritik an der Unterscheidung zwischen „aktivem“ und „passivem“ Verkauf üben Schultze / Pautke / Wagener (2011), Rn.  572 ff., 578 ff. Vom Ausgangspunkt wäre es besser und mit den eigenen Vorstellungen auch passender gewesen, im Falle asymmetrischer, vertragsspezifischer Investitionen des Händlers einen uneingeschränkten Alleinvertrieb zu gestatten, allerdings beschränkt auf den zur Amortisation benötigten Zeitraum.



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2. Alleinvertrieb im Online-Handel Die Verbreitung des elektronischen Kommerzes veranlasste die Europäische Kommission im Jahr 2010 dazu, in den damals aktualisierten Leitlinien für vertikale Beschränkungen nähere Ausführungen zu diesem Problemkreis zu machen.34 Scheinbar fasziniert oder gar schon geblendet von den durchaus beachtlichen Vorzügen des damals noch in den Anfängen steckenden Mediums, auch zur Förderung des grenzüberschreitenden Handels in der Union,35 hat sie eine sehr einseitige Position bezogen. Sie verknüpfte den Online-Handel unmittelbar mit der in der Gruppenfreistellungsverordnung etablierten Regelungstechnik und koppelte ihn somit an eine vor dem Internetzeitalter als Kompromisslösung vielleicht noch vertretbare Unterscheidung zwischen (erlaubter) Beschränkung des „aktiven Vertriebs“ und (verbotener) Beschränkung des „passiven Vertriebs“. In diesem Situationszusammenhang wird der Betrieb einer Internetseite als Form des „passiven Vertriebs“ begriffen: „Eine eigene Website wird in der Regel als Form des passiven Verkaufs angesehen, da damit den Kunden ein angemessenes Mittel zur Verfügung gestellt wird, den Händler zu erreichen. Der Umstand, dass eine Website Wirkungen auch über das eigene Gebiet oder die eigene Kundengruppe des Händlers hinaus haben kann, ist eine Folge der technischen Entwicklung, d. h. des einfachen Internetzugangs von jedem beliebigen Ort aus. Das Aufrufen der Website eines Händlers und die Kontaktaufnahme mit diesem durch einen Kunden, aus der sich der Verkauf einschließlich Bereitstellung eines Produkts ergibt, gelten als passiver Verkauf“.36

Damit stand fest, dass die Kommission Vereinbarungen zur Beschränkung des Internetvertriebs grundsätzlich nicht tolerieren würde. Um dies klarzustellen, wurden vorsorglich auch zahlreiche „Umgehungsversuche“ als prinzipiell unvereinbar mit dem Europäischen Wettbewerbsrecht aufgeführt, so namentlich Vereinbarungen folgenden Inhalts: – Umleitung auf den zuständigen Händler,37 – Verbindungsabbruch bei Bestellungen seitens eines einem anderen Händler zugewiesenen Kunden,38

34  In den abgelösten älteren Leitlinien für vertikale Beschränkungen (ABl. EU C 291 / 1 v. 13.10.2000) war von einem Produktvertrieb über das Internet nur ganz am Rand die Rede, vgl. a. a. O. Rn. 51–53. 35  Vgl. Monti (2010), S. 45: „The EU should urgently address the remaining obstacles to create a pan European online retail market by 2012“. 36  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 52. 37  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 52a. 38  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 52b.

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– am Gesamtumsatz gemessene anteilsmäßige Beschränkung des OnlineVertriebs,39 – höhere Preise beim Online-Verkauf (das heißt Doppelpreissysteme).40 Da inzwischen ganz beachtliche Anteile des Produktvertriebs über das Internet abgewickelt werden,41 haben diese Festlegungen nicht mehr nur ergänzenden Charakter, sondern prägen die Rechtslage maßgeblich. Wie in einem solchen System die als legitim anerkannten Interessen von Händlern realisiert werden sollen, Aussicht auf Abschreibung ihrer längerfristigen Anfangsinvestitionen zu gewinnen, bleibt schlicht ungeklärt.42 Die Ausgangshypothese dieses Beitrags, dass der Europäischen Kommission die Förderung des Internets wichtiger ist als die Aufrechterhaltung eines funk­ tionsfähigen Wettbewerbs, wird hier augenfällig bestätigt.43 Insgesamt wirkt es sich schon im Ausgangspunkt ungünstig aus, dass die Kommission in der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung den Kompromiss zwischen den wettbewerbspolitischen Denkschulen in einer gegenständlichen Differenzierung – Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Verkauf – gesucht hat, statt in einer der Sache weitaus besser angemessenen zeitlichen Lösung ausreichender Dauer. Da der Online-Handel die Problematik nicht-amortisierbarer Anfangsinvestitionen eher verschärft als entspannt 39  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 52c. Nach Rn. 56 soll unbedenklich nur sein die Vereinbarung einer absoluten Mindestmenge an Offline-Geschäften mit dem Händler (und damit einhergehend auch die Vereinbarung der notwendigen Verfügbarkeit von physischen Verkaufspunkten oder Ausstellungsräumen), dazu Schultze / Pautke / Wagener (2011), Rn. 771; Dreyer / Lemberg (2012), S. 2007 ff.; Wiring (2010), S. 661. 40  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 52d. Nach Rn. 64 soll es davon Ausnahmen geben, sofern Onlineverkäufe für den Hersteller mit erheblich höheren Kosten verbunden sind. 41  Oben Fn. 2. 42  Die in Rn. 61 der Leitlinien für vertikale Beschränkung genannte Zweijahresfrist eines erlaubten Ausschlusses von aktiven und passiven Verkäufen zum Schutz von Anfangsinvestitionen eines Alleinvertriebshändlers bei neuartigen Produkten reichen bei weitem nicht aus. Überdies ist die Festlegung – worauf zu Recht Wiring (2010), S. 660, und Klauß / Seeliger (2010), S. 234 hinweisen – redaktionell misslungen, weil sie den Erstverkauf einer neuen Marke oder einer bereits bestehenden Marke auf einem neuen Markt zur Voraussetzung macht. 43  Das erklärte Kernziel der Kommission bestand darin, den Internetvertrieb als solchen zu fördern, vgl. den zweiten Satz der Pressemitteilung der Kommission (2010): „Die Verordnung und die dazugehörigen Leitlinien tragen der Bedeutung des Internets Rechnung, das sich in den letzten zehn Jahren für den Online-Verkauf und den grenzüberschreitenden Handel zu einem wichtigen Vertriebskanal entwickelt hat und dessen Entwicklung die Kommission im Interesse einer breiteren Produktauswahl für die Verbraucher und im Interesse des Preiswettbewerbs fördern möchte“.



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hat, sollte sich die Kommission ihrer in den Leitlinien in allgemeiner Form ausgebreiteten Einsichten zum Hold-up-Problem entsinnen und zumindest neuen Produktmärkten günstigere Ausgangsbedingungen geben, sich zu etablieren, auch wenn dies für einige Zeit mit einer Einschränkung des Internetvertriebs für diese neuen Märkte einhergeht. Die Unternehmen werden selbst wissen, ob sie bei fortschreitender Bedeutung des elektronischen Kommerzes für den Amortisationszeitraum auf diese Vertriebsform verzichten wollen.44

III. Systeme selektiven Vertriebs 1. Phänomen und wettbewerbstheoretische Bewertung Bei einem im selektiven Vertrieb organisierten Vertriebssystem erfolgt ein Absatz der Produkte über vom Produkthersteller oder Produktlieferanten ausgewählte Händler. Zur Verwirklichung dieses Vertriebsmodells dienen Absprachen, die es den im System zusammengefassten Absatzmittlern untersagen, Produkte an Händler zu verkaufen, die nicht vom Produkthersteller oder Produktlieferanten des jeweiligen Systemprodukts zum Vertrieb eingeteilt wurden. Damit sollen nur Händler, die mit den Eigenschaften und Eigenarten der Produkte in ausreichendem Maß vertraut sind, die Produkte an Endkunden verkaufen. Wegen der dadurch eintretenden Beschränkungen des Händlerwettbewerbs – Kunden können die entsprechenden Produkte nur bei den ausersehenen Fachhändlern erwerben – bedürfen auch solche Absprachen einer besonderen Rechtfertigung. Die wettbewerbstheoretische Diskussion ist sich darüber einig, dass bei beratungsintensiven Gütern ein Marktversagen in Form eines „Trittbrettfahrens“ besteht: Ohne die entsprechende Wettbewerbsbeschränkung könnten Kunden sich im Fachhandel beraten lassen, um das Produkt anschließend preiswerter in einem Geschäft zu erwerben, das diesen Beratungsaufwand nicht betreibt und das von der fachkundlichen Beratung kostenlos profitiert, was letztlich auch verhindert, dass die fachliche Produktberatung aufrecht­ erhalten werden kann.45 44  Mangels Reform bliebe den Unternehmen nur noch als Ausweg, das Problem durch vertikale Zusammenschlüsse oder andere Formen der Vorwärtsintegration zu regeln; vgl. zur oft vernachlässigten Bedeutung von Ausweichmanövern als Folge staatlicher Regulierung Schanze (1995), S. 165: „This paper […] suggests that, for better understanding of the ‚systemic effects of regulatory control‘ […], a view should be taken that is largely absent in the literature on regulation: to pay regard to the dynamism of the counterreaction to regulation“; vgl. a. a. O. S. 168 f. zur Funktion des als „symbiotischen Vertrag“ verstandenen Franchising im Umfeld prohibitiver Wettbewerbspolitik. 45  Im Detail gehen die Meinungen freilich auseinander, so beispielsweise darüber, ob nicht durch die Fachhandelsbindung Anreize für die Händler entstehen, mehr in

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Diese Überlegungen haben schon früh dafür gesorgt, dass die europäische Rechtsprechung den selektiven Vertrieb als wettbewerbsrechtlich unproblematisch angesehen hat, sofern folgende drei Kriterien erfüllt sind: 1. die Eigenschaften der Waren oder Dienstleistungen müssen ein solches System zur Wahrung der Qualität oder der Handhabbarkeit erfordern, 2. die Qualitätsanforderungen dürfen nicht über das erforderliche Maß hi­ nausgehen, 3. die Auswahl der Wiederverkäufer muss diskriminierungsfrei anhand objektiv qualitativer Kriterien erfolgen.46 Auch die Europäische Kommission ist sich bewusst, dass das Trittbrettfahrer-Problem unter Händlern vertikale Absprachen in Form eines selektiven Vertriebs rechtfertigen kann und hebt dies in den von ihr veröffentlichten Leitlinien für vertikale Beschränkungen nochmals ausdrücklich hervor.47 Auch die für vertikale Beschränkung maßgebliche Gruppenfreistellungsverordnung geht von einer grundsätzlichen Freistellung des selektiven Vertriebs vom Kartellverbot aus, macht dies aber von den weiteren Voraussetzungen abhängig, dass es innerhalb des Systems weder Querlieferungsbeschränkung (Artikel 4d) noch Alleinbezugsbindung (Artikel 5c) gibt und – für vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig – auch keine Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs der Systemhändler an Endverbraucher (Artikel 4c). 2. Selektiver Vertrieb im Online-Handel Da die Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen in Artikel 4c jedwede Beschränkung des Verkaufs an Endkunden seitens der Beratung zu investieren, um zusätzliche Nachfrage zu gewinnen, an der die Konsumenten, die das Produkt bereits kennen und es auch ohne diese Dienstleistung kaufen würden, nicht interessiert sind und daher unnötig zahlen („inframarginale Kunden“), dazu u. a. Kerber / Schwalbe (2015), Rn. 455. Gegen diese Überlegung wendet Motta (2004), S. 315, ein, diese Probleme entstünden nur bei Anbietern mit hohen Marktanteilen: „If infra-marginal consumers (those who do not value extra effort) have the possibility to buy from firms supplying a standard quality of the product (i. e., a product that does not incorporate extra services), vertical integration will not reduce welfare. […] one should worry about vertical restraints only when adopted by firms with large market power“. Zur Diskussion siehe auch Scherer / Ross (1990), S.  541 ff. 46  Vgl. EuGH, Urt. v. 25.10.1977 (Rs. 26 / 76) – Metro / Saba, Slg. 1977, 1875. 47  Rn. 107a, Rn. 107c, dort auch zu dem hier nicht weiter interessierenden Pro­ blem des „Gütesiegel-Trittbrettfahrers“; vgl. vertiefend zum Problem des Trittbrettfahrers bezüglich Qualitätszertifizierung Marvel / McCafferty (1984), S. 346 ff.



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Systemhändler untersagt,48 sind die Weichen für den Online-Handel im Ansatz erneut in einem problematischen Sinne gestellt. In den Leitlinien für vertikale Beschränkungen wird immerhin angenommen, dass der Produktlieferant gegenüber seinem Händler Qualitätsanforderungen an die Verwendung des Internets zum Weiterverkauf seiner Waren vorsehen darf und auch die Benutzung von Plattformen Dritter regeln darf – mit der etwas unklaren Maßgabe, dass dies im Einklang steht „mit den Normen und Voraussetzungen, die zwischen dem Anbieter und seinen Händlern für deren Nutzung des Internets vereinbart wurden“.49 Die Praxis bewegt sich in diesem eng gezurrten Rahmen, wie folgende bedeutende Entscheidungen dokumentieren: – Im Jahr 2010 hat die europäische Rechtsprechung das für die Beschränkung des Internetvertriebs relevante Argument der Bedeutung individueller Kundenberatung als irrelevant betrachtet.50 – Im Jahr 2011 hat die europäische Rechtsprechung eine einem Systemhändler auferlegte Verpflichtung, den Online-Vertrieb zum Schutz des Prestigecharakters eines Produkts nicht zu nutzen, als Verstoß gegen das Europäische Kartellrecht gewertet.51 – Im Jahr 2013 vertrat das deutsche Bundeskartellamt für seinen Jurisdik­ tionsbereich die Auffassung, ein Verbot der Nutzung von MarktplatzPlattformen und Preisvergleichsportale durch zugelassene Händler eines selektiven Vertriebssystems verstießen gegen Europäisches Kartellrecht.52 – Im Jahr 2015 stellte das Bundeskartellamt in einem Verfahren gegen den Laufschuhhersteller ASICS fest, dass das Unternehmen seinen Händlern die Nutzung von Marktplatz-Plattformen und Preisvergleichsportalen in rechtswidriger Weise untersagt habe.53 48  Bestätigt in Leitlinie für vertikale Beschränkungen, Rn. 56; dazu näher Lettl (2010), S.  819 f. 49  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 54. Als konkretes Beispiel einer zulässigen Beschränkung bezüglich der Benutzung einer Drittplattform wird genannt, dass der Anbieter verlangt, dass Kunden die Website des Händlers nicht über eine Website aufrufen, die den Namen oder das Logo dieser Plattform tragen. Vgl. ferner die Vorgaben in Rn. 56. 50  EuGH Urt. v. 2.12 2010, Rs.  C-108 / 09  – KER-Optica, Slg.  2010, I-0000, Rn. 76. In der Entscheidung ging es um das Verbot eines Verkaufs von Kontaktlinsen über das Internet. 51  EuGH Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-439 / 09 – Pierre Fabre, Rn. 46. In der Entscheidung ging es um ein den Vertriebshändlern auferlegtes Verbot eines Verkaufs von Kosmetika und Körperpflegeprodukten über das Internet. 52  Bundeskartellamt (2013), S. 24 ff. 53  BKartA, Entscheidung v. 26.8.2015, Az. B2-98 / 11; kürzlich bestätigt vom BGH, Beschluss vom 12.12.2017, Az.: KVZ41 / 17. In anderen Ländern ist man in

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– Im Jahr 2017 nahm die europäische Rechtsprechung immerhin an, dass ein für Luxuswaren eingerichtetes selektives Vertriebssystem es seinen gebundenen Händlern untersagen könne, die entsprechenden Luxusprodukte auf Drittplattformen (zum Beispiel Amazon, eBay usw.) zu vertreiben, weil dies das Luxusimage beeinträchtige.54 Alle diese Entscheidungen beruhen auf den derzeit etablierten engen rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen55 und variieren wegen Unklarheiten der Leitlinien nur relativ marginal bezüglich ihrer Inhalte. Das zentrale Problem wird aber durch den derzeitigen rechtlichen Rahmen nicht gelöst. Entscheidend ist, dass der Hersteller, der beratungsintensive Güter vermarkten möchte, ein in der Sache berechtigtes Interesse daran hat, dass sein Produkt eben nicht isoliert, sondern nur gemeinsam mit fachkundiger Beratung angeboten wird, um das Produktimage vor Beeinträchtigung, Kunden vor möglichem Fehlgebrauch, und gegebenenfalls seine Händler und sich vor möglicher Haftung zu schützen. Der Hersteller muss seinen Händlern daher bei beratungsintensiven Gütern auferlegen dürfen, diesen Beratungszusammenhang zu wahren, und zwar unabhängig von der jeweiligen Vertriebsform. Gewiss mag dieses Interesse im Online-Vertrieb mit der Verpflichtung der jeweiligen Absatzmittler vielfach abgedeckt sein, den Verkauf des beworbenen Produkts mit Produktbeschreibungen und gegebenenfalls auch individueller Beratung in Form der Einrichtung eines „Chat-Rooms“ oder eines telefonischen Kontaktservices zu gewährleisten. In bestimmten Situationen wird dies aber nicht genügen. Produktkomplexität, anspruchsvolle individuelle Handhabung und besondere technische Umstände können es erforderlich machen, dass allein der Besuch eines stationären Geschäftsraums die sachgemäße Beratung liefert. Dabei ist an Fälle zu denken, in denen zur Ermittlung des Bedarfs der Kundschaft Spezialgerät erforderlich ist, wie namentlich im Fall der Optikerbranche. Auch in anderen Bereichen, bei technischen Gütern ab einem bestimmten Komplexitätsniveau, kann für eine angemessene Beratung ein persönlicher Besuch im Fachhandel unverzichtbar diesem Zusammenhang weniger streng. So hat der Leiter der niederländischen Wettbewerbsbehörde Zurückhaltung gegenüber der Anwendung des Europäischen Kartellrechts auf derartige Beschränkungen angemahnt, dazu näher de Jong (2016), S. 1. Die Entscheidungen sind im Internet abrufbar. 54  EuGH, Urt. v. 6.12.2017, Rs. C-230 / 16, vgl. Rn. 40–58. 55  Vor Publikation der Leitlinien gab es deutlich weniger strenge Maßstäbe in der europäischen Judikatur; so hielten mehrere deutsche Gerichte innerhalb eines selektiven Vertriebssystems ein Absatzverbot über Internet-Auktionsplattformen für generell zulässig, vgl. OLG München, Multimedia und Recht (MMR) 2010, 35 ff.; OLG Karlsruhe, MMR 2010, 175 ff.; noch weitergehend hatte der BGH bei einem selektiven Vertriebssystem (für Markenparfum) eine prozentuale Begrenzung des durch Internetverkäufe erzielten Umsatzes für zulässig erachtet, BGH, MMR 2004, 536 ff. – Depotkosmetik im Internet.



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sein. In solchen Fällen wäre es unerträglich, wenn der aufgesuchte stationäre Händler einen zentralen Beitrag zum Absatz liefert und anschließend ein anderer Händler durch eine Online-Bestellung vom Folgegeschäft profitiert.56 In jedem Fall ist die Vorstellung, einem System selektiven Vertriebs drohten Verwerfungen ausschließlich von Seiten solcher Akteure, die außerhalb des Systems stehen, zu kurz gedacht. Bei einer Neugestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen sollte angesichts der dargestellten Problematik auch der Möglichkeit einer Erosion des sachlich gebotenen Beratungsniveaus durch einen von innerhalb des Systems betriebenen Online-Vertrieb Rechnung getragen werden.57 Zudem erscheint es dringend angezeigt, dem Produktimage noch stärkeres Gewicht einzuräumen. Das Internet und der auf diesem Medium gründende elektronische Kommerz sind zwar für den Kunden hilfreich und bequem, dürfen aber nicht zum Anlass genommen werden, berechtigte Interessen des Handels zu übergehen.

IV. Absatzsysteme mit Preisbindungen 1. Phänomen und wettbewerbstheoretische Bewertung Eine vertikale Preisbindung bezeichnet eine durch eine zwischen Unternehmen unterschiedlicher Wirtschaftsstufe getroffene Vereinbarung, das betroffene Produkt nur zu einem bestimmten Preis anzubieten beziehungsweise den festgesetzten Preis nicht zu unterschreiten.58 Sind mehrere Händler in ein solches System eingebunden, so findet ein Wettbewerb zwischen ihnen hinsichtlich der Preisgestaltung nicht statt, der Kunde findet überall den gleichen Preis vor. Die Wettbewerbstheorie ist hinsichtlich der Frage, wie diese Gestaltungen zu werten sind, hier besonders uneins. Vertreter der „Chicago School of Antitrust Analysis“ machen geltend, dass im Falle eines auf der Produktebene funktionsfähigen Wettbewerbs die Ausschaltung des Händlerwettbewerbs im Preis bedeutungslos sei, da die Herstellerkonkurrenz zu Wiring (2010), S. 662; kritisch auch Klauß / Seeliger (2010), S. 235. ist nicht gesagt, dass ein absolutes Internet-Verkaufsverbot die richtige Lösung bietet. Denkbar wäre in den genannten Fällen beispielsweise, den OnlineVertrieb von dem vorangehenden Besuch eines stationären Fachgeschäfts abhängig zu machen. Sollte es dem Fachhändler gelingen, für die Beratung eine besondere Vergütung zu verlangen, gibt es keinen sachlichen Grund, den Online-Vertrieb überhaupt irgendwie weiter einzuschränken. Sofern die Beratung allerdings einer besonderen Vergütung widersteht (Marktversagen), muss zur Abwendung eines durch anschließende Verlagerung des Produkterwerbs drohenden „Beratungsklaus“ eine Koppelung von Dienstleistung und Produktvertrieb erlaubt sein. 58  Höchstpreise dagegen beschränken den Wettbewerb selten in relevanter Weise und können daher unberücksichtigt bleiben. 56  Ebenso 57  Damit

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wettbewerblichen Endverkaufspreisen führen würde.59 Vor allem sei diese Gestaltung unverzichtbar, um andere Händler daran zu hindern, dass einzelne Händler die vorangehenden Bewerbungsbemühungen anderer Händler „ab­ räumen“.60 Das Trittbrettfahren von Händlern, die von den Bewerbungsanstrengungen ihrer Konkurrenten profitierten und die dadurch ersparten Aufwendungen in Preisunterbietung investierten, müsse unterbunden werden können.61 Die Gegenposition hält die Nachteile für die soziale Wohlfahrt für größer als die Vorteile und verweist darauf, dass durch Preisbindungen Anreize für den Handel, kostensenkende Rationalisierungen durchzuführen, stark reduziert würden, vor allem bei verbreiteter Verwendung.62 In der Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen ist die Preisbindung zweiter Hand als „Kernbeschränkung“ vorgesehen (Art. 4 Vertikal-GVO) und die Kommission hebt auch in den Leitlinien für vertikale Beschränkungen hervor, dass sie die negativen Wirkungen grundsätzlich als stärker ausgeprägt sieht als die positiven.63 2. „Bestpreisklauseln“ im Online-Handel Seit einigen Jahren sind im Internet diverse Vergleichsportale etabliert, deren Betreiber die Leistungen mehrerer Produktanbieter bewerben und für jede Buchung vom beworbenen Anbieter eine Provision verlangen. Gebräuchlich ist dieses Geschäftsmodell vor allem bei Hotelbuchungsportalen und Online-Reisebüros (OTAs – Online-Travel-Agencies). Zur Gewinnung von Kunden garantiert der Betreiber des Internet-Portals gegenüber den Kunden dabei, dass die angebotene Leistung nirgends sonst preiswerter zu haben Bork (1978), S. 280–298. repräsentativ Posner (1981), S. 12, der im Anschluss an (und bezug­ nehmend auf) eine grundlegende Untersuchung von Telser (1960), ausführt: „A dealer who forgoes promotional expenditures in order to finance tremendous discounts may be able to draw customers from a large territory by free riding on the promotional efforts of other dealers“. 61  Posner (1981), S. 12, spricht vom „chronic discounter“ und stellt ihn an die Seite des „ ‚bootlegging‘ dealer“, der kostenintensiv beworbene Systemprodukte an Händler außerhalb des Vertriebssystems verkauft und plädiert daher für eine „per se“Legalisierung vertikaler Beschränkungen einschließlich der Preisbindung. 62  Vgl. Steiner (1985), S. 154 f., ferner Scherer / Ross (1990), S. 553; siehe ferner speziell bei Preisgarantien, sich dabei auch auf empirische und experimentelle Evidenz berufend, Arnold / Baake / Schwalbe (2012), S. 15 f., die von einem (höheren) kollusiven Preis ausgehen, weil Preisgarantien Konsumenten dazu verführten, den Garanten fälschlicherweise als günstiger einzuschätzen als die Konkurrenz. 63  Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 223–226. 59  Vgl.

60  Vgl.



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sei als auf dem aufgerufenen Portal. Diese sogenannte Bestpreisgarantie beruht in aller Regel auf einer zu diesem Zweck mit den Dienstleistern verabredeten Bestpreisklausel, die deswegen brisant ist, weil sie die Dienstleister jeweils verpflichtet, ihre Leistung nicht zu Preisen anzubieten, die unterhalb derjenigen des Online-Portals liegen.64 In der Sache geht es um eine vertikale Preisbindung – wobei in diesem Fall der Anbieter der Leistung vom Vermittler der Leistung gebunden wird. Die Beurteilung dieser Gestaltungen im Zusammenhang mit dem EUKartellrecht ist in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten65 und variiert auch in der Praxis beträchtlich in Abhängigkeit von der zuständigen Behörde.66 Die deutsche Praxis orientiert sich dabei augenfällig streng an den restriktiven Vorgaben der Leitlinien. So hatte das Bundeskartellamt vor wenigen Jahren das Internetportal HRS dazu verpflichtet, Abstand zu nehmen von den von ihnen verwendeten Bestpreisklauseln, aufgrund derer die im Portal erfassten Hotels sich dazu verpflichteten, die günstigsten Zimmerpreise über dieses Portal zur Verfügung zu stellen. Die Appellation vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf scheiterte im Jahr 2015:67 Bestpreisklauseln beschränkten 64  Dabei sind unterschiedliche Gestaltungen gebräuchlich: Während einerseits eine „weite“ Bestpreisklausel dem Hotel vorschreibt, dass es auf der Portalseite keinen höheren Preis verlangen darf als in allen anderen Vertriebskanälen, also nicht nur im Direktvertrieb des Hotels, sondern auch auf anderen Portalen, beschränkt sich die „enge“ Bestpreisklausel auf eine Verpflichtung des Hotels, seine Leistung nicht auf den eigenen Vertriebskanälen günstiger anzubieten; hierzu und zu den zur Absicherung der Klauseln mitunter verwendeten Nebenklauseln sog. „Verfügbarkeitsparität“ Alfter / Hunold (2016), S.  525 ff.; Augenhofer / Schwarzkopf (2017), S. 447; zur weiteren Unterscheidung zwischen „echten“ Bestpreisklauseln (Besserstellungsverbot) und „unechten“ Bestpreisklauseln (Gleichstellungsgebot) Böni / Wassmer (2016), S. 241 ff. 65  Vgl. aus der umfangreichen Diskussion einerseits beispielsweise Galle / Nauck (2014), S. 587 ff., die bereits von einer Freistellung nach der Vertikal-GVO ausgehen; Freistellungsmöglichkeiten gänzlich ablehnend außerhalb von neu in den Markt vordringenden Vergleichsportalen Fiebig (2013), S. 824 ff.; nach der Art der Bestpreisklausel differenzierend Tamke (2015), S. 594 ff. 66  Während das deutsche Bundeskartellamt im Dezember 2013 dem Unternehmen HRS und im Dezember 2015 Booking.com die Verwendung von Bestpreisklauseln aller Art in den Verträgen mit Hotels in Deutschland untersagte (dazu gleich im Text), akzeptierten die Wettbewerbsbehörden in Frankreich, Italien und Schweden Verpflichtungszusagen von Booking.com, die Bestpreisklauseln zu verengen, siehe dazu Alfter / Hunold (2016), S. 525 ff.; siehe ferner Augenhofer / Schwarzkopf (2017), S. 448 mit auf Zuständigkeitserwägungen gegründete kritischer Bewertung des Umstands, dass einige Länder inzwischen dazu übergegangen sind, jedwede Art von Bestpreisklauseln lauterkeitsrechtlich (Österreich) bzw. schuldvertragsrechtlich (Frankreich) zu untersagen. 67  OLG Düsseldorf, Beschluss v. 9.1.2015  – VI Kart 1 / 14 (V), Leitsatz 5, siehe ferner Rn. 56 ff. – Der Beschluss ist rechtskräftig, weil das Hotelportal davon Abstand nahm, gegen die Entscheidung weitere Rechtsmittel einzulegen; vgl. http: /  / hrs.

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den Wettbewerb, und zwar in mehrfacher Hinsicht; die Klausel beeinträchtige die Handlungsfreiheit der gebunden Hotelunternehmen im Vertikalverhältnis zum Portalbetrieber in Bezug auf eine Preis-, Verfügbarkeits- und Konditionendifferenzierung, beschränke darüber hinaus den Wettbewerb der Hotelportalbetreiber untereinander und beeinträchtige schließlich markeninternen Wettbewerb auf dem Markt für Hotelzimmer, weil das gebundene Hotel im eigenen Vertriebsweg keine günstigeren Preise und Konditionen anbieten dürfe. Die Entscheidung ist vor allem deswegen wenig zufriedenstellend, weil sie sich mit dem entscheidenden Argument zur Rechtfertigung der wettbewerbsbeschränkenden Absprachen, den in der Diskussion hervorgehobenen Aspekt des „Trittbrettfahrens“, nicht fundiert auseinandersetzt, sondern den Betreiber des Portals auf andere Einnahmequellen verweist.68 Dass ein Unternehmen aus anderen Quellen leben könne, ist nun wirklich kein Grund, ihm die Früchte seiner Bemühungen vorzuenthalten. Streitentscheidend hätte sein müssen, dass das Portal eine Werbedienstleistung aufrechterhält, deren Wert, wenn der Hotelbetreiber diese Werbedienstleistung für sich ohne Vergütung in Anspruch nimmt, unbegründet abgeschöpft wird und den fortdauernden Bestand der Werbeleistung untergräbt. Daher ist es interessant, aus einem derzeit noch aktuellen Pressebericht zu erfahren,69 dass in dem noch offenen Streit im Verhältnis des Bundeskartellamts zum Hotelportal Booking.com über die gleiche Rechtsfrage das Oberlandesgerichts Düsseldorf im Rahmen einer mündlichen Verhandlung Zweifel an der Entscheidung der Wettbewerbshüter signalisiert habe, die Bestpreisklauseln in den Verträgen von Booking.com mit seinen Hotelpartnern als kartellrechtswidrig zu untersagen. So habe der Vorsitzende des zuständigen Kartellsenats erklärt, das Gericht prüfe, ob es sich bei der Bestpreisklausel nicht um eine notwendige Nebenabrede in den Vereinbarungen mit den ­Hotelpartnern handele, weil ohne eine solche Regelung Hotels die OnlinePlattform als Trittbrettfahrer nutzen könnten, um von den Zimmersuchenden de / presse / news / olg-beschluss-hrs-verzichtet-auf-weitere-rechtsmittel-kunden-profi tieren-dennoch-weiterhin-von-bestem-preis.html. 68  Das OLG Düsseldorf, Beschluss v. 9.1.2015  – VI Kart 1 / 14 (V), Rn. 126 hält den Vortrag, wonach kontinuierliche Investitionen in die Qualität der Plattform erfolgen müssten, für nicht hinreichend „substantiiert“, vgl. Rn. 126: „soweit die Beschwerde vorträgt, das Trittbrettfahrerproblem sei quantitativ von ‚erheblicher Bedeutung‘ […], ist dieses Vorbringen unzureichend“. Es bestünden „alternative Entgeltmodelle“, zum Beispiel „zusätzliche Provisionen für besondere Leistungen des Portals“, von denen das Portal problemlos leben könne. 69  Siehe z. B. Nachrichtenmagazin Der Spiegel, 8.2.2017, http: /  / www.spiegel. de / reise / aktuell / booking-com-gericht-zweifelt-am-verbot-der-bestpreisklauseln-a-113 3700.html; zu Meistbegünstigungsklauseln vertiefend Wiemer (2019).



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wahrgenommen zu werden und anschließend die Gäste zur Buchung mit günstigeren Preisen auf die eigene Website zu locken. Sollte aufgrund dieser Andeutungen die Bestpreisklauseln bei Booking.com tatsächlich aufrechterhalten werden, zumindest in ihrer verengten Variante, wäre ein bemerkenswerter Durchbruch in der Preisbindungsdiskussion erzielt. Ein bitterer Beigeschmack bliebe allerdings, dass in diesem Falle gerade der Marktführer der Branche die Vorteile zugestanden bekäme, die man nur kurz zuvor dem weniger bedeutenden Portal HRS versagte – inconstantia iudicandi iniuria iudicii.

V. Fazit und Ausblick Die vorliegende Untersuchung der Entwicklungen in drei zentralen Bereichen wettbewerbsbeschränkender Absprachen im Online-Bereich zeigt, dass die für Produktion und Realisation des EU-Kartellrechts zuständigen Organe sich schwer damit tun, die Folgen einer technischen Neuerung mit großer Breitenwirkung in der Dogmatik des Kartellrechts angemessen aufzufangen. Die Möglichkeit, Produkte im Internet zu erwerben, verschärft die Konkurrenz auf allen Ebenen enorm: Binnen kürzester Zeit kann der Kunde praktisch weltweit einkaufen, eine Vielzahl virtueller Geschäfte besuchen und Angebote mühelos vergleichen, ohne jemals einen reellen Geschäftsraum betreten zu haben. Durch Senkung der Transaktionskosten im Angebotsvergleich ist der elektronische Kommerz in punkto Geschwindigkeit und Bequemlichkeit dem klassischen Einkaufsbummel weit überlegen und wird diesen vermutlich weiter verdrängen, wo diese wichtigen Parameter im Vordergrund stehen. So sehr der Wettbewerb und die Konsumentenwohlfahrt von diesen Errungenschaften profitieren, so nachteilig sind sie in solchen Ausnahmesituationen, in denen gerade eine Beschränkung des Wettbewerbs der erfolgreichen Produktvermarktung dienlich ist, sei es zur Steigerung der Investitionsbereitschaft von Absatzmittlern vor allem bei der Vermarktung neuer Produkte (Alleinvertrieb), sei es zur Gewährleistung sachlich gebotener Beratungsdienstleistungen und zur Imagepflege (selektiver Vertrieb) oder sei es zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Vermittlungsmarkts (Preisbindung). Die europäischen Behörden würden gut daran tun, die wettbewerbstheoretische Grundlagendebatte und ihre zuvor erworbenen eigenen Einsichten in diesen Punkten wieder ernster zu nehmen und sich nicht in der Illusion zu wiegen, das ökonomische Optimum sei stets durch ein absolutes Höchstmaß uneingeschränkten Wettbewerbs infolge des Vordringens eines neuen Vertriebsmediums auf allen Ebenen zu gewährleisten. Dass eine moderne Wirtschaft ohne einen Grundbestand an monopolistischer Güterzuordnung gar

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nicht funktionsfähig ist, zeigt sehr deutlich die Theorie der Eigentumsrechte, deren Kernaussagen durch die Wettbewerbstheorie weiter ergänzt wurden. Dass es auch ganz anders geht, zeigt ein Blick über den Tellerrand beziehungsweise in diesem Fall über den Atlantik in das Herkunftsland des Internets. Hier gilt bei von vorn herein beachtlicher Offenheit gegenüber vertikalen Beschränkungen als Prinzip die Devise: „No Special Treatment for Online Sales“.70 Dies ist der Ansatz, den auch die europäischen Institutionen beherzigen sollten! Literatur Accardo, Gabriele (2012): Vertical Antitrust Enforcement: Transatlantic Perspectives on Restrictions of Online Distribution und EU and U.S. Competition Laws. „Transatlantic Technology Law Forum Working Paper“ (TTLF), No. 12. https: /  /  law.stanford.edu / publications / vertical-antitrust-enforcement-transatlantic-perspec tives-on-restrictions-of-online-distribution-under-eu-and-u-s-competition-laws / . Alfter, Mette / Hunold, Matthias (2016): Weit, eng oder gar nicht? Unterschiedliche Entscheidungen zu den Bestpreisklauseln von Hotelportalen. „Wirtschaft und Wettbewerb“ (WuW), S. 525–531. Arnold, Tone / Baake, Pio / Schwalbe, Ulrich (2012): Preisgarantien im Einzelhandel: Nicht verbraucherfreundlich, sondern ein Instrument zur Durchsetzung hoher Preise. „Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Wochenbericht“, (DIW Wochenbericht), Nr. 16, S. 12–16. Augenhofer, Susanne / Schwarzkopf, Benedikt (2017): Bestpreisklauseln im Spannungsfeld europäischen Kartellrechts und mitgliedstaatlicher Lösungen. „Neue Zeitschrift für Kartellrecht“ (NZKart), S. 446–452. Bauer, Michael (2015): Kommentierung zu Artikel 5 VO 1 / 2003, in: Joachim Bornkamm / Frank Montag / Franz Jürgen Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Kartellrecht, Missbrauchs- und Fu­ sionskontrolle, Bd. 1: Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 2027–2035. Böni, Franz / Wassmer, Alex (2016): Kartellrechtliche Beurteilung von Bestpreisklauseln. „Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht“ (EWS), S. 241–247. Bork, Robert H. (1978): The Antitrust Paradox – A Policy at War with Itself, New York.

70  Mit diesen Worten beschreibt Accardo (2012), S. 110, kurz und bündig die Ausgangssituation der US-amerikanischen Kartellrechtsdoktrin im Umgang mit dem schon länger gut etablierten neuen Vertriebsmedium, für dessen bevorzugte Sonderbehandlung im Sinne einer Förderung sich kaum jemand ausspricht; zu weiter vertieften Einsichten in den dortigen Umgang mit dem Internet im Kartellrecht, die den von prohibitiven kartellrechtlichen Regulierungen im Online-Bereich geplagten Europäer für einen kurzen Moment aufatmen lassen, siehe a. a. O., S. 114 ff.



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Wertersatz als Haftungsinhalt Von Jürgen Kohler

I. Das Thema: Bedarf, Rechtsgrundlagen, Grenzen und Fragestellung Wertersatz als Rechtsfolge eines Anspruchs findet in Studium und Lehre gewöhnlich weit weniger Aufmerksamkeit als Schadensersatz. Dafür gibt es mit dem Blick auf den Schadensersatz wohl mehrere Gründe. So hat der Schadensersatz als Rechtsfolge einen sehr weiten Anwendungsbereich, weil Schadensersatz die übliche Rechtsfolge der Deliktshaftung und – dank des § 280 Abs. 1 BGB – die praktisch wohl meistinteressierende Folge des Leistungsstörungsrechts ist. Ferner regeln die §§ 249 ff. BGB den Inhalt dessen, was Schadensersatz ist, des Näheren unmittelbar im Gesetz. Auch gibt es zum Schadensersatz fast unübersehbar viel Rechtsprechung und Literatur, die die dazu reichlich vorhandenen und höchst prüfungsrelevanten Probleme behandeln. Im Kontrast dazu könnte sich die eher geringere Aufmerksamkeit für das Recht des Wertersatzes zum einen schon damit erklären, dass es keine mit den §§ 249 ff. BGB funktional vergleichbare Spezialnormen gibt, die Wertersatz als Rechtsfolge inhaltlich konturieren. Hinzu kommt zum anderen, dass Wertersatz als Rechtsfolge im Kernbereich des Zivilrechts nur vergleichsweise selten vorkommt. Im Bürgerlichen Gesetzbuch gibt es Wertersatzansprüche nämlich im Wesentlichen seit alters nur in der bereicherungsrecht­ lichen Regelung des § 818 Abs. 2 BGB; ferner finden sie sich in der rücktrittsrechtlichen Regelung des § 346 Abs. 2 BGB, dies jedoch explizit1 erst seit 2002. Mit dem Zitat der §§ 346 Abs. 2 und 818 Abs. 2 BGB sind die Normgrundlagen benannt, auf die das hier zu Behandelnde Bezug nimmt. Im Raum steht die folgende Frage, mit einigen daraus folgenden Spezialfragen: Was ist, wie bestimmt sich Wertersatz?

1  Dessen ungeachtet war allerdings insbesondere durch die grundlegende Untersuchung von Glaß (1959) vertraut geworden, dass im Rücktrittsrecht zwischen Wertund Schadensersatz als Rechtsfolgen zu unterscheiden ist.

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Die Frage spielt auf ein Kernthema der Wirtschaftswissenschaften an, nämlich auf die Bestimmung dessen, was zunächst, das heißt annähernd und untechnisch-laienhaft verstanden, als „Objekt-Inhalt in Geld“ zu bezeichnen sein könnte.2 Daher könnte sich das Thema „Wertersatz als Haftungsinhalt“ dafür eignen, eine Brücke zwischen Wirtschafts- und Rechtswissenschaften zu schlagen; deshalb könnte das Thema hier auf Interesse stoßen. Die Erwartungen an einen solchen Brückenschlag zwischen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften müssen allerdings gleich gedämpft werden. Ökonomische Modelle, seien sie empirisch auf Grund von Marktforschung oder theoretisch-mathematisch oder mehr oder minder (pseudo-)philosophisch im Sinne der Suche nach dem „richtigen“ Wert in Gestalt eines „iustum pretium“ fundiert, werden hier nicht entwickelt. Stattdessen muss es bei einigen typisch juristischen Leitideen bleiben, die den Rechtsbegriff und Anspruchsinhalt dessen konturieren, was in § 346 Abs. 2 BGB und in § 818 Abs. 2 BGB der Wertersatz als Anspruchsinhalt ist. Die Frage lautet also: Welche Faktoren, unter juristischem Aspekt betrachtet, bestimmen als Maß-Gaben den in Geld auszudrückenden „Wert“ eines grundsätzlich beliebigen, aber im gegebenen Fall doch bestimmten Gegenstands körperlicher oder unkörperlicher Art in der Weise, dass der anzugebende Wert diesen Gegenstand „ersetzt“? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es der Klärung einige Orientierungsmarken.

II. Systemorientierung: Wertersatz versus Schadensersatz Zunächst: Wertersatz ist nicht Schadensersatz. Das wird jetzt am Kontrast zwischen der im neuen Rücktrittsrecht manifest gewordenen Anordnung einer Wertersatzpflicht in § 346 Abs. 2 BGB und einer Schadensersatzpflicht gemäß § 346 Abs. 4 BGB i. V. m. § 280 Abs. 1 BGB deutlich, welch beide bei Hinderung unbeeinträchtigter Naturalrestitution eines vor Rücktritt von einem Vertrag geleisteten Gegenstands entstehen können. Strukturell derselbe Kontrast zeigt sich auch im Bereicherungsrecht zwischen der Anordnung der Wertersatzpflicht in § 818 Abs. 2 BGB und der Schadensersatzpflicht auf Grund der §§ 818 Abs. 4, 819 f. BGB i. V. m. den §§ 292 Abs. 1, 989, 249 ff. BGB. Was aber sind die wesentlichen Unterschiede, wenn doch beides ‚Ersatz‘ für den als solchen, das heißt naturaliter, dem Gläubiger nicht unversehrt, das heißt nicht vollständig im tatsächlichen und rechtlichen Zustand der Leistungserbringung, herausgebbaren Leistungsgegenstand ist? 2  Der Begriff des ‚Objekts‘ ist hier nicht so zu verstehen, dass darunter nur ein körperlicher Gegenstand zu fassen sei; vielmehr soll der Begriff jedes Etwas bezeichnen, das ein Vertragspartner dem anderen leisten kann.



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1. Ersatzziele: Ersatz als Beseitigung von Ersatzbedarf (Naturalrestitution) – Ersatz als Reduktion auf Vermögensaktivierung (Geldeigenschaft) Zunächst: Schadensersatz und Wertersatz sind beides ‚Ersatz‘. Die Idee des Ersatzes ist aber bei diesen beiden ‚Ersatzen‘ essentiell verschieden. Der Schadensersatz ist ein Ersatz, der primär gar keiner sein soll. Schadensersatz ist nämlich vornehmlich, soweit möglich und genügend – § 251 Abs. 1 BGB – und gewollt – § 249 Abs. 2 BGB –, auf Herstellung desjenigen Naturalzustands gerichtet – § 249 Abs. 1 BGB –, für dessen Störung er als ‚Ersatz‘ gewährt wird. Dem Schadensersatz geht es mithin um Beseitigung des Bedarfs an einem Ersatz. Schadensersatz ist eben nicht notwendigerweise und nicht einmal der normativen Regel nach eine Geldschuld. Der Wertersatz als Anspruchsinhalt dagegen ist und bleibt als solcher Ersatz für das Objekt, aus dessen Verlust der Wertersatzanspruch entsteht. So gesehen, gilt: Wertersatz ist ein Ersatz, der – bezogen auf die Idee der Beseitigung des den Ersatzbedarf auslösenden Umstands – Ersatz sein und dem Ziel nach auch bleiben soll. Der Wertersatzanspruch betrachtet nämlich das Etwas, für das er Ersatz sein soll, nicht im Hinblick auf den Zweck, dieses Etwas tunlichst in Natur wiederherzustellen. Vielmehr betrachtet der Wertersatzanspruch dieses Etwas nur in Hinsicht auf die ihm immanente, zweite Daseinsform, die dieses Etwas ohnehin, das heißt schon unabhängig von dem Verlust dieses Etwas, hat: das ist seine neben der – physischen oder abstrakten – Gegenständlichkeit vorfindlichen, mit der Objekthaftigkeit verbundenen Rolle als Träger eines Vermögenswertes. Wertersatz ist daher vermögensbilanzbezogen. Wertersatz ist daher notwendigerweise stets eine Geldschuld. Das Wechselspiel zwischen Naturalersatz und Geldschuld, das die schadensersatzrechtlichen Regelungen in den §§ 249 ff. BGB vorführen, gibt es im Wertersatzrecht nicht, und es kann sie wesensgemäß gar nicht geben. Dass der Umfang der Geldschuld dazu genügt und es ermöglicht, das Objekt, dessen Wert als sein zweites Wesen der Wertersatzanspruch wiedergibt, in Natur wiederherzustellen, ist nicht inhaltsbestimmendes Ziel des Anspruchs als solchem. Dies ist allenfalls der ökonomische Reflex dessen, dass Geld auf funktionierenden Märkten, Wertkonstanz im Weiteren vorausgesetzt, vom Wertersatzgläubiger tatsächlich dazu verwendet werden kann, das betreffende Objekt, sofern es mit gleicher Identität tatsächlich und rechtlich verfügbar ist, mit dem aus der Erfüllung des Wertersatzanspruchs erlangten Geld durch Reparatur oder Neubeschaffung wiederherzustellen.

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2. Ersatzbezüge: Geschädigter (Gläubiger) – Empfänger (Schuldner) Schadens- und Wertersatz betrachten die Ersatz-Frage in Bezug auf andere Personen: Der Schadensersatzanspruch schaut auf den Geschädigten insofern, als er auf den ihn im Ergebnis begünstigenden Ausgleich für einen bei ihm, dem Gläubiger, eingetretenen Verlust, das heißt auf einen Nachteil, durch dessen Beseitigung zielt, und zwar primär in Natur und hilfsweise umgestellt auf die Aufwendungen für beziehungsweise auf die Effekte der Naturalherstellung. Der Wertersatzanspruch schaut auf den Empfänger insofern, als er auf den ihn im Ergebnis benachteiligenden Ausgleich für ein bei ihm, dem Schuldner, eingetretenes Erlangen, das heißt auf einen Vorteil, durch dessen Abschöpfung zielt, und zwar primär in Natur und hilfsweise reduziert auf den Wert des erlangten Vorteils.3 Dass des einen Nachteil des anderen Vorteil dem Grunde oder dem Betrage nach ist, kann der Fall sein, muss es aber nicht. Es gibt Schäden ohne Vermögenswert, und es gibt Wertzuwächse ohne Kosten für einen anderen; und wenn des einen Nachteil doch der Vorteil des anderen ist, so müssen ab- und zugeflossenen Vorteile weder in Natur noch im Wert kongruent sein. Soweit es um Schadensersatz wegen der Unmöglichkeit der unversehrten Herausgabe eines Erlangten geht, wie im Fall der Bereicherungshaftung oder einer rücktrittsrechtlichen Abwicklung die Regel, bedeutet dies für den Schadensersatz: Der ‚Ersatz‘ beim Schadensersatz betrachtet und bemisst das Potential, den der betreffende Gegenstand in der Gläubigersphäre hat beziehungsweise hätte, wenn er unbeeinträchtigt restituiert würde.4 Das folgt aus den Maßgaben der §§ 249 ff. BGB. Danach wird nämlich grundsätzlich nach dem ‚Interesse‘ in dem Sinne gefragt, wie der Gläubiger vermögensmäßig stünde, wenn die naturale Rückgewähr nicht gestört und daher – im Fall der rücktritts- oder bereicherungsrechtlich geschuldeten Rückgewährpflicht – vollzogen worden wäre.5 Eine handgreifliche Konsequenz dieser Sichtweise diesem Sinne zutreffend, statt Vieler, etwa Kaiser (2000), S. 67. verhält es sich grundsätzlich auch, wenn eine Norm als Rechtsfolge eines Anspruchs statt Schadensersatz ‚Entschädigung‘ anordnet, wie z. B. im Fall des Art. 14 GG oder – in diesem Sinne unter der Terminologie ‚angemessener Ausgleich in Geld‘ zu verstehend (statt Vieler Roth (2016), § 906 Rn. 262) – des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB. Auf den Unterschied zwischen Schadensersatz und Entschädigung wird in diesem Beitrag nicht eingegangen. 5  Diese Bemessung darf auch im bereicherungs- oder rücktrittsrechtlichen Zusammenhang nicht mit dem negativen Interesse in dem Sinne verwechselt werden, dass der Schadensersatz danach zu bestimmen sei, wie der Rückgewährgläubiger stünde, wenn er auf den dauerhaften Bestand des nun rückabzuwickelnden Leistungsaustauschs beziehungsweise des diesem zugrunde liegenden Vertrags nicht vertraut hätte. Dieser Ansatz könnte nämlich zum Ersatz von Verlusten führen, die durch das Nicht3  In

4  So



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besteht in der Ersatzfähigkeit von entgangenem Gewinn, wie § 252 BGB eigens für das Schadensersatzrecht als Inhaltsbestimmungsnorm besagt. Zur Orientierung des Schadensersatzes an der Gläubigersphäre tritt daher nicht nur eine auf die Zukunft gerichtete, insofern prognostische Dimension hinzu. Vielmehr ergibt sich daher auch die Möglichkeit und sogar Erforderlichkeit, nicht nur auf das Potential des betreffenden Gegenstands abzustellen, das diesem auf Grund seiner Natur selbst innewohnt, sondern auch den sonstigen Umstände in der Gläubigersphäre, die Gewinnfaktoren sind, eine den Schadensersatz bestimmende Bedeutung beizumessen.6 Dies hat übrigens dynamisiert zu geschehen, da die Schadensbemessung, wie § 252 BGB zeigt, Gewinne projizierend und, da der Idee der Naturalrestitution verpflichtet, zeitlich auf den letztmöglichen Berechnungszeitpunkt7 muss abstellen können.8 Fallpraktisch angewendet, heißt das etwa: Ist eine Steigerung des Preises einer gattungsmäßig bestimmten Sache auf dem Markt im Allgemeinen abzusehen, erhöht dies den Schadensersatz ebenso, wie wenn es dem Geschädigten nur wegen seiner besonderen Kundenbeziehung oder persönlichen Geschäftstüchtigkeit gelingen würde, einen über den üblichen Peis liegenden Erlös zu erzielen. Wertersatz als Anspruchsziel betrachtet und bemisst hingegen den vom Schuldner erlangten und herauszugebenden Gegenstand in seiner Eigenschaft als eines in Geld abzubildenden Vermögensguts. Der erlangte und herauszugebende Gegenstand als solcher wird gewissermaßen von seiner Zweidimensionalität auf Eindimensionalität reduziert. Das heißt: Das zur Herausgabe Haben des zurückzugewährenden Gegenstands während des Bestehens des Leistungsanspruchs, in dessen Erfüllung der Rückgewährschuldner den Gegenstand erlangt hatte, entstanden sind, z. B. in Gestalt eines in dieser Zeit entgangenen Gewinns oder Nutzungsmöglichkeit. Solche Schadenspositionen erfasst jedoch § 989 BGB wegen der dort genannten Schädigungsarten explizit nicht; für § 346 Abs. 4 i. V. m. § 280 Abs. 1 BGB, der den Schadensersatz wegen Nichterfüllung eines (Rück-)Leistungsanspruchs bezeichnet, gilt dasselbe. 6  Für den Fall des § 989 BGB, auf den die Regeln über die verschärfte Bereicherungshaftung – §§ 292 Abs. 1 i. V. m. 818 Abs. 4, 919 f. BGB – und früher auch das Rücktrittsrecht – § 347 BGB a. F. – verweisen, zeigt sich dies daran, dass auch der Schadensersatzanspruch, der dort an die Unmöglichkeit unversehrter Herausgabe der Sache aus dem Besitz des Schuldners anknüpft, grundsätzlich, sofern es sich nicht um einen Vorenthaltungsschaden handelt, auch die Haftung wegen entgangenen Gewinns des Gläubigers gemäß § 252 BGB umfasst; statt Vieler Gursky (2013), § 989 Rn. 24 m. w. N. 7  Dies ist bei prozessualer Auseinandersetzung der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung, sonst der außergerichtlichen Einigung über den Schadensersatz und hilfsweise der Zeitpunkt der als vollständig angenommenen Schadensersatzleistung. 8  Das gilt auch für Schadensersatzansprüche, die als Folge einer Rückgewährunmöglichkeit entstehen; vgl. zum Fall des § 989 BGB – dies gilt folglich auch für die vorgenannten Fälle der Verweisung auf diese Norm – Gursky (2013), § 989 Rn. 28.

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anstehende Erlangte, soweit es noch in natura als ‚Gegenstand‘ vorhanden ist, ist zum einen ein verfügbares Substrat – nämlich bei Sachen Substanz, bei nichtkörperlichen Gegenständen zumindest real handhabbares Nutzungspotential –, und zum anderen zwar nicht immer, aber doch ökonomisch in der Regel zugleich, ein mit dem Substrat ungetrennt verbunden und doch von ihm rechnerisch-bilanzmäßig abstrahierbar, in Geld ausdrückbares – in diesem Sinne also werthaftes – Vermögensgut. Diese Zweidimensionalität eines herauszugebenden Etwas hat zur Folge, dass mit der Herausgabe des vorhandenen, verfügbaren Substrats in Natur notwendigerweise auch die damit verbundene Eigenschaft als werthaftes Vermögensgut übertragen wird. Soweit aber das zur Herausgabe anstehende Erlangte nicht oder nicht mehr in Natur als ‚Gegenstand‘ und folglich als verfügbares Substrat vorhanden ist, bleibt nur noch – dies aber immerhin als Möglichkeit – die zunächst mit ihm verbundene Eigenschaft eines abstrakt in Geld zu veranschlagenden Vermögensguts als Residuum übrig. Vereinfacht ausgedrückt: Von dem, was zunächst gegenständlich konkret verfügbares Substrat und daran anknüpfend zugleich ein abstrakt in Geld anzugebender Wertträger war, verbleibt nach dem Fortfall des konkreten Substrats, also mit der Unmöglichkeit einer Naturalrestitution, noch die Möglichkeit eines Fortbestands der Funktion als Träger eines in Geld anzugebenden Wertes, dessen Herausgabe als eines solchen, da ein rechnerisches Abstraktum betreffend, nicht schon kraft ‚Natur der Sache‘ unmöglich ist. Sofern dieser in Geld auszudrückende Wert auf den Zeitpunkt der Umstellung vom Naturalherausgabe- auf den Wertersatzanspruch zu bestimmen ist – dass dies der Fall ist, ist später noch auszuführen9 –, ist der Wertersatzanspruch übrigens anders als der Schadensersatzanspruch grundsätzlich statisch. Ein dynamisches Element führt im Bereicherungsrecht erst der Gesichtspunkt des Wegfalls der Bereicherung gemäß § 818 Abs. 3 BGB beziehungsweise im Rücktrittsrecht die in § 346 Abs. 3 BGB enthaltene Regelung zum Wegfall oder zur Reduzierung der Wertersatzpflicht ein. Es haben jedoch weder § 818 Abs. 3 BGB noch § 346 Abs. 3 BGB dem Grunde nach etwas mit dem Entstehen der Wertersatzpflicht und ihrem Umfang zu tun. Beide Regelungen führen vielmehr einwendungsweise allenfalls zu einer Wertersatzminderung. Die Wertersatzpflicht ist also nur in einem reduktiven Sinne dynamisch. 3. Zusammenfassung Damit sind die prinzipielle Unterschiede klar: Schadensersatz ist gläubigerorientiert und zielt auf Beseitigung der den Gläubiger benachteiligenden Fol9  Näher

Abschnitt IV.3.



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gen eines beeinträchtigenden Ereignisses, und zwar tunlichst in Natur. Wertersatz ist schuldnerorientiert und zielt auf Abschöpfung eines Wertes, der in einem verfügbaren Substrat mittelbar enthalten war, wenn dieses Substrat als solches naturgemäß nicht oder aus anderem Grund nicht mehr individuellkonkret abschöpfbar ist. In diesem Sinne verstanden, hat beides Surrogatcharakter, aber in unterschiedlicher Weise: Der Schadensersatz als dynamisiertes Surrogat für einen Verlust und damit auch für die verlorenen Chancen des Gläubigers in Natura; der Wertersatz als statisch bestimmtes Surrogat für ein zuvor verfügbares Substrat in der Empfängersphäre in seiner zweiten Eigenschaft als eines bloß in Geld zu beschreibenden Vermögensguts.

III. Materiellrechtliche Wertbestimmung – Notwendigkeit oder prozessuale Überflüssigkeit Was also ist der zu ersetzende Wert? Oder stellt sich die Frage gar nicht, handelt es sich bloß um ein akademisches Scheinproblem? Denn möglicherweise muss die Wertersatzbemessung überhaupt nicht materiellrechtlich ergründet werden, weil das Prozessrecht sich in den streitigen Fällen doch schlicht mit einer Schätzung begnügt. Das kann sich aus § 287 ZPO ergeben. Vor allem dessen zweiter Absatz kann diesen Weg eröffnen, wonach eine Betragsschätzung bei Geldforderungen nach § 287 Abs. 1 S. 2 ZPO zulässig ist, wenn die vollständige Aufklärung aller relevanten Umstände mit Schwierigkeiten verbunden ist, die außer Verhältnis zur Bedeutung des streitigen Teils der Forderung stehen. In der Tat ist der zunächst nur die Schadensersatzpflicht betreffende § 287 ZPO auf die Bestimmung der Höhe eines Wertersatzanspruchs anwendbar.10 Nach dieser Vorschrift kann das Gericht die Höhe des zu leistenden Wertersatzes durch Schätzung bestimmen. Das erspart wertbemessungsrelevante Sachdarlegungen und Beweiserhebungen, und Ungenauigkeiten im Ergebnis werden als prozessual rechtmäßig akzeptiert. Damit scheint sich das Problem doch praktisch aufzulösen. Dem ist allerdings so nicht. Praktikabilität opfert zwar Exaktheit in einem gewissen Umfang, nicht aber Annäherung an das sachlich Richtige. Auch die 10  Bundesgerichtshof in Zivilsachen (BGHZ) 178, 355 Rn. 12 = NJW 2009, 1068, 1069 (‚Zweibrücker Wallach‘), dort bezogen auf die Wertersatzbestimmung anhand des § 346 Abs. 2 S. 2, 1. Hs. BGB für den Fall einer im Vertrag nicht in Geld bestimmten, der Menge nach offenen Gegenleistung (Zahl der Fahrunterrichtsstunden); Gaier (2016), § 346 Rn. 21; Kaiser (2012), § 346 Rn. 165. Die Entscheidung verweist undifferenziert auf die Anwendung des § 287 ZPO, doch ist dies wohl so zu verstehen, dass dies nur nach Maßgabe des § 287 Abs. 2 ZPO gilt, also nur hinsichtlich der Wertersatzhöhe.

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prozessuale Ermächtigung zur Schätzung ist keine Befreiung des Gerichts zur Willkür; die Schätzung ist pflichtgemäße Ausübung eines rational begründeten Beurteilungsspielraums.11 Die Schätzung muss sich daher nicht nur an den für die Wertersatzbemessung relevanten Tatsachen orientieren,12 sondern auch an den rechtlichen Eckpunkten, die das materielle Recht in Hinsicht auf dasjenige aufstellt, was es nach seinen Regeln für Wertersatz hält.13 Dazu gehören solche Bezugspunkte des Beurteilens wie namentlich: Wesensgemäße Funktion des Wert­ ersatzes – dies insbesondere in Abgrenzung zum Schadensersatz – und personale Orientierung auf das Erlangen des Schuldners;14 aber auch Fragen der Objektivierung, Subjektivierung oder etwaigen sonstigen Referenzierung der Wertbemessung anhand von realen Daten oder sonstigen konkreten Umständen;15 ferner die Bestimmung des als maßgeblich anzusehenden Zeitpunkts.16 Diese Fragen sind solche des materiellen Rechts, sie müssen aus diesem heraus entwickelt werden. Erst und nur auf diesem Boden erspart alsdann § 287 ZPO empirisch fundierte Detailermittlungen in Beweisverfahren, bei denen der zu erwartende Ertrag an Genauigkeit in keinem angemessenen Verhältnis zum Ermittlungsaufwand steht. Die Antwort auf die hier eingangs aufgeworfene Frage lautet also: § 287 ZPO erspart unverhältnismäßige Tatsachenfeststellungen und gibt insoweit, aber gegebenenfalls auch in Hinsicht auf Prognoseunsicherheiten, einige Freiheit des pflichtgemäß ermessensausübenden Entscheidens. Dies ist jedoch durch die Rationalität begrenzt, die das materielle Recht als Entscheidungsfaktoren setzt. Daher wird die Ermittlung dessen, was das materielle Recht unter Wertersatz verstanden wissen will, nicht durch die prozessuale Freiheit erübrigt, die § 287 ZPO verschafft.

Hartmann (2017), § 287 Rn. 2. Bezug auf diese enthält § 287 Abs. 1 S. 1 BGB eine Reduzierung des Beweismaßes auf überwiegende Wahrscheinlichkeit; vgl. Prütting (2016), § 287 ZPO Rn. 17. 13  Insoweit gilt sinngemäß das für die Schadensersatzhaftung Ausgeführte, in Bezug auf welches beispielsweise zu beachten ist, dass es eine von § 287 ZPO zu trennende Frage des materiellen Rechts ist, nach welcher Berechnungsmethode ein Schaden zu berechnen ist; so Prütting (2016), § 287 ZPO Rn. 16. 14  Dazu Abschnitt II. 15  Dazu Abschnitt IV.1., IV.2. 16  Dazu Abschnitt IV.3. 11  Vgl. 12  In



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IV. Wertbemessungsfaktoren – einige das Maß gebende Elemente 1. Das Grundproblem – Frage nach dem ‚objektiven‘ Wert Was aber ist der zu ersetzende Wert im materiellrechtlichen Verständnis, wie ist er zu bemessen: das ist eine schwierige Frage. Die Frage scheint das ganze Potential an Unmöglichkeit des Urteilens in sich zu tragen, das die rechtsphilosophische Frage nach dem ‚iustum pretium‘ – wenn denn der ‚gerechte Preis‘ mit dem ‚richtigen Wert‘ gleichgestellt werden darf – seit eh und je mit sich gebracht hat. Wenn der Wert eines Guts etwas mit seinem Preis auf einem Markt zu tun hat, was man übrigens schon bezweifeln kann und dennoch wohl bis auf weiteres als Grundlage für eine so genannte ‚objektive‘ Wertbemessung anzusetzen ist, so zeigt sich schon an dieser Bezugnahme das Dilemma. Denn eine funktionierende Marktwirtschaft hat im Zeitablauf fluktuierende Preise. Sie hat bei einem nicht monopolistischen Markt in den meisten Fällen auch im selben Zeitpunkt je nach Ort beziehungsweise Marktteilnehmer – insbesondere je nach Anbieter – verschiedene Preise. Und wenn das in Rede stehende Gut etwa ein Unikat ist – man denke an ein Kunstwerk –, gibt es oft überhaupt keinen dem Betrag nach erweisbaren Preis. Einen – allerdings praktisch doch recht großen – Teil der damit aufgeworfenen Probleme kann man andererseits wohl durchaus plausibel lösen, indem man in empirischmathematischen Verfahren Schwerpunktpreise für gattungsartige, qualitativ eindeutig bestimmbare und nicht monopolistisch gehandelte Güter zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten ermittelt. Bei Unikaten ist diese Methode aber wohl meist nicht durchführbar, und zumindest ist sie selten so unzweifelhaft, dass nicht plausibel unterschiedliche Resultate anzunehmen sein könnten. Bei gattungsartigen, qualitativ gleichartigen Gütern auf funktionierenden Märkten ist die Ermittlung zwar möglich, kann aber je nach Sachlage schwierige, zumindest zeit- und kostenaufwendige empirische Untersuchungen erfordern. In diesen beiden Sachlagen ist es hilfreich, den ‚objektiven‘ Wert auf der Grundlage des § 287 Abs. 2 ZPO schätzend-approximativ festlegen zu dürfen. Dies aber gilt nicht, wenn der ‚objektive Wert‘ überhaupt nicht der vom materiellen Recht als entscheidend anzusehende Wertersatzmaßstab sein sollte. Daher kommt es trotz des § 287 ZPO sehr wohl darauf an, ob nicht statt des ‚objektiven Wertes‘ andere Maßstäbe der Wertersatzbemessung zu verwenden sind.

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2. Alternativen der Wertbemessung: ‚Subjektiver‘ oder ‚vertraglich-relationaler‘ Wert Vielleicht ist also der Ansatz mit einem sogenannten ‚objektiven Wert‘ falsch und stattdessen ein ‚subjektiver Wert‘ oder ein ‚vertraglich-relationaler Wert‘ als Maßstab zu nehmen? ‚Subjektiver Wert‘ wird dabei verstanden als Orientierung der Wertbemessung an der konkreten Wertschöpfung in der Wirtschaftssphäre des Wertersatzschuldners; dagegen ist ‚vertraglich-relationaler Wert‘ als Maßgeblichkeit der vertraglichen – in der Regel im Preis niedergelegten – Wertvereinbarung zwischen den konkreten Parteien zu verstehen. Diese Alternativen zur Maßgeblichkeit des ‚objektiven Wertes‘ werden beide vertreten; Ersteres vornehmlich bei der bereicherungsrechtlichen und Letzteres bei der rücktrittsrechtlichen Wertersatzbemessung. Beim bereicherungsrechtlichen Wertersatz auf Grund des § 818 Abs. 2 BGB möchte man mit einer Subjektivierung des Wertersatzes arbeiten, um einerseits zu haftungssteigernden Zwecken zu einer Abschöpfung des vom Wertersatzschuldner aus dem Erlangten gezogenen Gewinns zu kommen, und um andererseits mit haftungsmilderndem Ziel das Problem der Aufdrängung einer ungewollten Bereicherung bereits außerhalb des Anwendungsbereichs des § 818 Abs. 3 BGB zu lösen.17 Beim rücktrittsrechtlichen Wertersatz hält die ganz herrschende Ansicht den im vorbeschriebenen Sinne ‚relationalen Wert‘ für richtig, weil § 346 Abs. 2 S. 2 BGB die Zugrundelegung des vereinbarten Preises als Wertersatzmaßgabe vorschreibe. Beides überzeugt aber nicht, oder jedenfalls hilft es nicht vollständig weiter. Ein einprägsamer Sachverhalt, der das Problem darlegt, indem er die Unterschiedlichkeit der Wertbemessung veranschaulicht, ist etwa der Folgende: Ein Sammler von historischem Meißner Geschirr erwirbt eine Teekanne, die ihrer Gattung nach gewöhnlich für 500 Euro gehandelt wird, für 600 Euro, weil er damit sein schon vorhandenes Teeservice komplettieren kann, weshalb der Gesamtwert des Teeservice als Ganzes so steigt, dass der auf die Teekanne entfallende Wertanteil – mag er auch als solcher nicht genau zu beziffern sein, so doch wegen der in der Ganzheit des Teegedecks liegenden Gesamtwertsteigerung – anteilig bei 700 Euro liegt. Was muss der Erwerber als Wertersatz zahlen, wenn die Teekanne vor rücktritts- oder bereicherungsrechtlich veranlasster Rückgewähr in Natur gestohlen wurde? a) Die vertraglich-relationale Wertbemessung Die vertraglich-relationale Wertbemessung hält der Gesetzgeber selbst trotz seiner in § 346 Abs. 2 S. 2, 1. Hs. BGB getroffenen Regelung schon für 17  Schwab

(2017), § 818 Rn. 75, 197, 202; Lorenz (2007), § 818 Rn. 26, 1. Absatz.



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das Rücktrittsrecht nicht durch. Schon der Gesetzgeber, der das neue Rücktrittsrecht schuf, bemerkte dies; so sagen die Gesetzesmaterialien zu § 346 Abs. 2 BGB, dass bei Fehlen einer im Vertrag bestimmten Gegenleistung „wie in § 818 Abs. 2 die objektiven Wertverhältnisse maßgeblich sein“ sollen.18 Auch sieht bereits der zweite Halbsatz des § 346 Abs. 2 S. 2 BGB eine Ausnahme von diesem Ansatz der Wertersatzbemessung für Darlehenszinsen vor. § 346 Abs. 2 S. 2 BGB insgesamt besagt also selbst, dass es auch im Rücktrittsrecht einen Wert-Begriff beziehungsweise einen Wert-Ansatz gibt, der nicht vertraglich-relationaler Art ist. Im Übrigen handelt es sich bei § 346 Abs. 2 S. 2, 1. Hs. BGB um eine rücktrittsrechtliche Sonderregelung, die für die sich im Bereicherungsrecht ebenso stellende Frage nach der Wertbemessung unmittelbar nichts regelt. Vielmehr dürfte die Norm, da rücktrittsrechtsspezifischer Natur, sogar einen Schluss im Sinne des argumentum e contrario provozieren. Das gilt schließlich nicht nur mit Recht, weil im Bereicherungsrecht eine solche Wertbemessung seit eh und je keine Anhängerschaft19 gefunden hat.20 Vielmehr ist die – falls überhaupt – allenfalls höchst begrenzte Tragfähigkeit dieser Regelung für die bereicherungsrechtliche Wertersatzhaftung auch deshalb evident, weil die bereicherungsrechtliche Haftung keineswegs nur der Rückabwicklung von synallagmatischen Verträgen dient und es daher oft überhaupt an einem Vertragspreis als Referenzierungsansatz fehlt. Man muss also die in § 346 Abs. 2 S. 2 BGB getroffene Regelung nicht schon überhaupt als dem Grunde nach verfehlt ansehen, soweit sie mehr als eine prozessual beachtliche Vermutungsregel21 sein soll – und für die grundsätzliche Verfehltheit, in § 346 Abs. 2 S. 2, 1. Hs. BGB eine materiellrechtliche Wertbestimmungsregel zu sehen, spricht viel22 –, um feststellen zu können, dass die vertraglich-relationale Wertbemessung, wenn überhaupt, zur Problemlösung zumindest nicht hinreichend weit führt.

18  BT-Drs.

14 / 6040, S. 196. dieser Auffassung finden sich nur vereinzelt, und dies wohl erst in jüngerer Zeit bezeichnenderweise unter dem Eindruck des § 346 Abs. 2 S. 2 BGB, z. B. Bockholdt (2006), S. 769, 782; dagegen zutreffend Lorenz (2007), § 818 Rn. 26. 20  Herkömmlich wurde und wird im Bereicherungsrecht nur die Entscheidung zwischen objektiver und subjektiver, das heißt auf die Empfängerverhältnisse bezogene Wertersatzbemessung thematisiert; vgl. statt Vieler Schwab (2017), § 818 Rn. 75 ff.; Lorenz (2007), § 818 Rn. 26. 21  Als solche kann der Vertragspreis, namentlich bei Leistungskondiktionen, übrigens auch bei der bereicherungsrechtlichen Wertbestimmung eine beweisrechtlich relevante Funktion als ‚Orientierungshilfe‘ haben; so Lorenz (2007), § 818 Abs. 2 Rn. 26. 22  Das ist hier nicht näher auszuführen; grundlegend dazu Kohler (2013), S.  46 ff. 19  Anhänger

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b) Die subjektivierte Wertbemessung Andererseits: Die Subjektivierung der bereicherungsrechtlichen Wertersatz­ bemessung im Rahmen des § 818 Abs. 2 BGB23 – Subjektivierung verstanden als Orientierung der Wertbemessung an der konkreten Werterschöpfung in der Wirtschaftssphäre des Wertersatzschuldners – überzeugt gerade wegen der mit ihr verfolgten Zwecke nicht. Das Problem der eventuell unbilligen Pflicht zum Wertersatz für eine aufgedrängte, nämlich ungewollte und als beschwerend angesehene Bereicherung mittels Subjektivierung der Wertbemessung schon im Rahmen des § 818 Abs. 2 BGB zu lösen, führt zu einer unvertretbaren Übersteuerung des Schuldnerschutzes, ohne dass dies notwendig ist, da ein Schutz des Bereicherungsschuldners im sachlich berechtigten Umfang mit Hilfe des § 814 BGB, des § 818 Abs. 3 BGB und einer Analogie zu den §§ 994 ff., 1000 ff. BGB möglich ist. § 818 Abs. 2 BGB bietet nämlich im Unterschied zu § 818 Abs. 3 BGB keine Handhabe zur Differenzierung zwischen der Haftung eines gutgläubig-unverklagten Bereicherungsschuldners und eines nach den §§ 818 Abs. 4, 819 f. BGB verschärft haftenden Bereicherungsschuldners. Die Bewältigung des bereicherungsrechtlichen Abrechnungsproblems schon mittels des § 818 Abs. 2 BGB würde deshalb auch im letztgenannten Fall zu einem subjektivierenden Schutz führen, der in der Sache beispielsweise dann nicht angebracht ist, wenn jemand eine objektiv zwar werthaltige, aber für ihn subjektiv nutz- und wertlose Verwendung geschehen lässt, obwohl er zur Zeit der Verwendung auf eine in seinem Eigentum und Besitz befindliche Sache24 im Sinne des § 819 Abs. 1 S. 1 BGB weiß,25 dass er bereicherungsrechtlich deren Wert unter den Voraussetzungen und nach den Maßgaben des § 818 Abs. 2 BGB ersetzen muss. Eine Gewinnhaftung mit Hilfe einer Subjektivierung des bereicherungsrechtlichen Wertansatzes zu erreichen, spricht auch gegen eine solche Interpretation des § 818 Abs. 2 BGB. Denn dieser Haftungseffekt widerspricht 23  Für den historischen Gesetzgeber war die Bezugnahme auf den ‚gemeinen Wert‘, das heißt die objektive Wertbemessung, als Maßgabe für § 818 Abs. 2 BGB wohl selbstverständlich; vgl. Mugdan (1899), S. 467 (Motive Schuldrecht, S. 837). 24  Schulbeispiel: Versehentliches Streichen eines Gartenzauns durch einen vom Nachbarn beauftragten Maler-Unternehmer infolge Verwechslung von Grundstücken. 25  Es kommt für § 819 Abs. 1 S. 1 BGB auf die Kenntnis zur Zeit der Verwendung an, wenn beziehungsweise weil im Fall der Aufwendungskondiktion der Bereicherungsanspruch in diesem Zeitpunkt entsteht; daher haftet der Bereicherungsschuldner in einem Verwendungsfall, in dem die Verwendung dem nachmaligen Bereicherungsschuldner durch äußere, von ihm nicht erkennbare und daher unabwendbare Vorgänge zukommt, nicht verschärft, mithin also ggf. noch mit Hilfe des § 818 Abs. 3 BGB beschränkbar; in diesem Sinne zutr. auch Schwab (2017), § 818 Rn. 203.



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der Funktion der Wertersatzhaftung, das im Sinne des § 812 Abs. 1 S. 1 BGB als konkreten Gegenstand Erlangte in seiner mit ihm verbundenen zweiten Funktion als eines Vermögenswertträgers abzuschöpfen.26 Die Gesamtvermögensbetrachtung ist dem gegenüber richtigerweise – hier ist die Vorzugswürdigkeit der primären Gegenstands- statt Bereicherungsorientierung des Bereicherungsrechts zu beachten27 – nur als Sekundärerwägung im Rahmen des § 818 Abs. 3 BGB und mithin erst als Möglichkeit einer Anspruchsminderung erheblich. Dagegen wäre es besonders begründungsbedürftig und bedürfte einer besonderen Regelung,28 wenn der Bereicherungsgläubiger sich auch solche Vorteile zuführen könnte, die dem herauszugebenden Gegenstand als solchem nicht immanent sind und die erst durch die Einordnung in die Sphäre des Herausgabeschuldners beziehungsweise durch dessen Geschäftsgewandtheit entstehen, welch beides dem Bereicherungsgläubiger nicht infolge ‚rechtsgrundlosen Erlangens‘ aus seinem Vermögen zugewiesen ist.29 3. Der maßgebliche Zeitpunkt der Wertbemessung Der Wertersatzanspruch, der dem Grunde nach infolge des Umstandes entsteht, dass der Herausgabeanspruch in Bezug auf das Erlangte mit der tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit unversehrter Herausgabe in Natur ipso jure auf den Anspruch auf das dem erlangten Gegenstand in seiner Dimension als Vermögen immanenten Wert umgestellt – genauer gesagt, reduziert – wird, ist hinsichtlich seines Betrags dem Grunde nach30 auf diesen Umstellungszeitpunkt31 bezogen zu bestimmen. 26  Vgl. Abschnitt II.2.; ferner speziell zur hier vorliegenden Frage Schwab (2017), § 818 Rn. 77 f. 27  Dazu näher Schwab (2017), § 818 Rn. 111 ff. 28  Ob § 816 Abs. 1 S. 1 BGB eine solche Regelung enthält, indem die Vorschrift zur Herausgabe des Erlöses verpflichtet, ist umstritten, möge hier jedoch dahinstehen. 29  Diese Begrenzung wird auch dadurch bestätigt, dass die herrschende Auffassung eine Pflicht zur Herausgabe eines commodum ex negotiatione im Rahmen des § 818 Abs. 1 BGB nicht anerkennt; dazu Schwab (2017), § 818 Rn. 42. Gleiches gilt für die Ausblendung von unternehmerischen Eigenleistungen bei der Nutzungswertbemessung gemäß § 818 Abs. 1 BGB im Fall der bereicherungsrechtlich geschuldeten He­ rausgabe eines Unternehmens; vgl. Schwab (2017), § 818 Rn. 35. 30  Vorbehalten bleibt die – je nach Sachlage unmittelbar oder nachmalig eintretende – Reduzierung der zunächst dem Grunde nach wie hier dargelegt entstehenden Wertersatzpflicht nach Maßgabe des § 818 Abs. 3 BGB beziehungsweise des § 346 Abs. 3 BGB. Zu dem Aspekt der wegen dieser Normen möglichen ‚reduktiven Dynamisierung‘ der Wertersatzpflicht Abschnitt II.2. 31  Je nach Fall des § 818 Abs. 2 BGB kann dieser Zeitpunkt bereits der Zeitpunkt des Erlangens – so bei einem wegen seiner Beschaffenheit nicht in Natur herausgebbaren Etwas – oder ein dem Erlangen nachfolgender Zeitpunkt – so in der Regel in den Fällen des § 818 Abs. 2, 2. Fall BGB – sein. Dies gilt rücktrittsrechtlich grund-

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Das gilt zunächst nach der herrschenden Auffassung grundsätzlich32 für die bereicherungsrechtliche Wertersatzhaftung.33 Beim Rücktrittsrecht erledigt sich die Frage nach dem für die Wertbemessung maßgeblichen Zeitpunkt für die herrschende Meinung in der Regel dadurch, dass sich die Bemessung des Wertersatzes wegen § 346 Abs. 2 S. 2 BGB grundsätzlich nach dem vertraglich vereinbarten Wert richtet. Wird dieser Auffassung – richtigerweise, wie hier nicht näher erläutert werden kann34 – nicht gefolgt, ist jedoch auch in diesem Fall der Zeitpunkt des Eintritts der Unmöglichkeit der Naturalherausgabe35 als maßgeblich anzusehen.36 Schon37 auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen – etwa auf den Zeitpunkt des Leistungsaustauschs38 beziehungsweise der Leistungserbringung39 –, oder aber erst auf einen späteren Zeitpunkt – etwa auf das Wirksamwerden der Rücktrittserklärung40 oder der letzten mündlichen Verhandlung41 –, geht hingegen nicht an. sätzlich ebenso, sofern dort nicht der Vertragspreis als Wertbemessungsmaßgabe angesehen wird, da sich der in § 818 Abs. 2 BGB getroffenen Unterscheidung Entsprechendes in der Differenzierung gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB einerseits und § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 BGB andererseits wiederfindet. 32  Ob eine Ausnahme für den Fall des § 951 BGB zu machen ist, kann hier nicht erörtert werden; vgl. zu dieser Problematik Schwab (2017), § 818 Rn. 105 f. 33  Zur Bereicherungshaftung BGHZ 5, 197, 201; BGHZ 168, 220, 237 f.; statt Vieler zutreffend Schwab (2017), § 818 Rn. 102 ff. 34  Des Näheren wird hier verwiesen auf Kohler (2013), S.  46 ff. 35  Dies gilt für alle Fälle des § 346 Abs. 2 S. 1 BGB gleichermaßen, also im Fall des § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB bezogen auf den Zeitpunkt der Leistungserbringung und sonst bezogen auf den – im Allgemeinen vom Zeitpunkt der Leistungserbringung verschiedenen – Zeitpunkt des Eintritts der rechtlichen oder tatsächlichen Unmöglichkeit unversehrter Herausgabe in Natur. 36  Zutreffend Kaiser (2012), § 346  Rn. 168  m. w. N.; im Erg. auch Gaier (2016), § 346 Rn. 21, 44 m. w. N. 37  Im Fall des § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB, also bei ihrem Wesen nach nicht in Natur herausgebbaren Leistungsgegenständen, deckt sich der Zeitpunkt der Leistungserbringung allerdings in der Regel mit dem hier als maßgeblich angesehenen Zeitpunkt der Umstellung des Anspruchs auf Herausgabe des Erlangten als solchem auf den Wertersatzanspruch; Unterschiede bestehen allerdings in den Fällen des § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 BGB. 38  Bartels (2015), S. 217; Schmidt (2016), § 346 Rn. 46; Grüneberg (2017), § 346 Rn. 10. 39  Vermutlich meint der mehrdeutige Begriff ‚Leistungsaustausch‘ die Erbringung der jeweiligen Leistung; denn der Zeitpunkt des Leistungsaustauschs, wird dieser Begriff im Wortsinne verstanden, ist oft nicht eindeutig bestimmbar, wenn die nach Rücktritt wechselseitig herauszugebenden Leistungen ehedem nicht Zug um Zug ausgetauscht wurden. 40  Faust (2017), § 346 Rn. 82 ff. 41  Lobinger (2010), § 346 Rn. 101.



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Exemplarisch lässt sich die Problematik des maßgeblichen Wertbemessungszeitpunkts wiederum an dem Beispiel der Teekanne aus einem historischen Meißener Porzellanservice darstellen. Eine solche Kanne möge auf dem Antiquitätenmarkt zur Zeit des Kaufs für 500 Euro zu haben sein, doch war der Käufer seinerzeit zur Zahlung von 600 Euro bereit. Bei Auslieferung der Teekanne einige Wochen später war ihr allgemeiner Marktwert auf 650 Euro gestiegen, zurzeit des wiederum einige Zeit später erklärten Rücktritts auf 700 Euro, und schließlich zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung auf 750 Euro. Welcher Betrag ist als Wertersatz in Anschlag zu bringen? a) Maßgeblichkeit der Zeit des Leistungsaustauschs? Das Vorziehen der Wertbemessung auf den Zeitpunkt des nachmals rücktrittsbedingt zurückzugewährenden Erwerbs ist verfehlt. Damit würde nämlich dem Rückgewährgläubiger zum einen der Wertzuwachs vorenthalten, der etwa bis zum Eintritt der Unmöglichkeit unversehrter Herausgabe des zunächst in Natur herausgebbaren Gegenstands stattfand, obwohl dieser Wertzuwachs dem Rückgewährgläubiger selbstverständlich akzidentiell, nämlich als immanentes vermögensmäßiges Element des in Natur zurückzugewährenden Gegenstands,42 zugutekäme und mithin diesem als Wertpotential zugeordnet war, wenn der erlangte Gegenstand noch unmittelbar vor dem die Unmöglichkeit der Naturalrestitution auslösenden Ereignis, wie rücktrittsrechtlich geschuldet, zurückgewährt worden wäre. Traten hingegen aus exogenen, das heißt nicht mit dem objektimmanenten Schicksal des Erlangten verbundene Wertverluste zwischen dem Erlangen des rücktrittsrechtlich zu restituierenden Gegenstands und dem Eintritt der Unmöglichkeit der Rückgewähr in Natur ein, wie namentlich allgemeine Marktpreisschwankungen, hätte der Rückgewährgläubiger zum anderen diese Verluste, soweit sie bis zum Zeitpunkt der noch möglichen Herausgabe des Erlangten entstanden waren, als Folge des den Wertersatzanspruch schon dem Grunde nach ausschließenden Vorrangs der Naturalherausgabe tragen müssen.43 An diesen beiden Effekten der Zuweisung des Wertänderungsrisikos kann die Umstellung des auf § 346 Abs. 1 BGB gründenden Anspruchs auf Naturalrestitution auf die Wertersatzpflicht gemäß § 346 Abs. 2 BGB rückwirkend nichts ändern. Im Übrigen zeigt die Existenz des § 346 Abs. 3 Satz 1 BGB, dass Wertverluste in den Fällen, in denen der Naturalherausgabeanspruch ganz oder teilweise auf den Wertersatzanspruch umgestellt wird, nur je nach An42  Dazu

näher Abschnitt II. kann sich allenfalls im Fall des Verzugs bei Erfüllung des Rückgewähranspruchs ergeben, soweit der Wertverlust bei Rückgewähr zur Zeit des Verzugseintritts vermieden worden wäre, etwa weil der Rückgewährgläubiger ihn in diesem Fall noch zu dem seinerzeit höheren Marktwert an einen Dritten veräußert hätte. 43  Anderes

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lass differenziert verteilt werden. Daher verbietet sich eine Einheitslösung der Wertverlustzuweisung, als welche sich die Fixierung der Wertersatzbemessung auf den Erwerbszeitpunkt darstellt, wenn dazu schon die Wertbemessung im Rahmen des § 346 Abs. 2 BGB führen könnte und dürfte. b) Maßgeblichkeit der Zeit der Rücktrittserklärung oder der letzten mündlichen Verhandlung? Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Rücktrittserklärung steuert das Ergebnis in Abhängigkeit von der Willkür des Rücktrittsberechtigten, sich zur Rücktrittserklärung zu entschließen. Schon diese aus Sicht des anderen Teils unbeherrschbare Zufälligkeit des Ergebnisses überzeugt kaum, zumal wenn der andere Teil den Rücktrittsgrund – wie bei Wegfall der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 3 BGB oder bei quasi-rücktrittsrechtlicher Erstattung einer Vorleistung im Fall einer beiderseits nicht zu vertretenden Erfüllungsunmöglichkeit nach § 326 Abs. 4 BGB – nicht zu vertreten hat. Wird die Wertbemessung auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bezogen, gilt dies in verstärktem Maße, da die Wertbestimmung in diesem Fall nicht nur von der Beliebigkeit der Rücktrittserklärung abhängt, sondern auch von der beliebigen Wahl des Zeitpunktes der Klagerhebung und überdies von den nur in Grenzen steuerbaren Verfahrensverläufen. Außerdem bewirkt die auf die Zeit der Rücktrittserklärung oder der letzten mündlichen Verhandlung orientierte Wertbemessung für den Fall, dass das Restitutionshindernis vor der Rücktrittserklärung eintrat, dass Wertsteigerungen, die dem – bereits untergegangenen – Gegenstand, gäbe es ihn noch, zugutegekommen wären, dem Betrage nach hinzuzurechnen wären. Diese Berechnung kann jedoch mangels Möglichkeit eines realen Markttests oft, vor allem bei Individualgütern, nicht fundiert durchgeführt werden; die Wertermittlung bleibt damit in einem so großen Maß spekulativ, dass auch für eine Schätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO kaum plausible Anknüpfungspunkte bestehen. Dass eine zeitlich fortschreibende Marktbewertung hingegen bei Gattungssachen wohl oft möglich ist, ist zwar tatsächlich – Fortbestand der Gattung als Regelfall unterstellt – richtig, aber restitutionsrechtlich nicht entscheidend. Denn auch in einem solchen Fall geht die Haftung im Rückabwicklungsfall, sei sie bereicherungsrechtlicher44 oder rücktrittsrechtlicher45 44  Statt Vieler, in Bezug auf die Bereicherungshaftung, Wilhelm (1983), S. 11; Schwab (2017), § 818 Rn. 297. 45  Für die rücktrittsrechtliche Haftung folgt dies zumindest mittelbar daraus, dass in Fällen der Unmöglichkeit der Herausgabe des konkret Erlangten auch dann, wenn dies eine auf dem Markt erhältliche Gattungssache war, kein Anspruch auf ersatzweise Beschaffung und Rückgewähr einer gleichartigen anderen Sache besteht.



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Natur, stets auf die Herausgabe des in casu konkret Erlangten, ist also eine stückschuldartige Haftung auf ‚certa res‘, so dass sie grundsätzlich, also auch wenn die Haftung eine Gattungssache betrifft, abgekoppelt von rechtlichen Aspekten der Gattungsschuld zu beurteilen ist. Andererseits müssten hingegen Wertverluste zwischen Eintritt der Restitutionsunmöglichkeit und Rücktritt, sofern diese Verluste überhaupt konkretgegenstandsbezogen substantiierbar sind, zur Reduzierung der Wertersatzpflicht führen. Dem steht allerdings entgegen, dass die in § 346 Abs. 3 S. 1 BGB enthaltene Regelung zur Einschränkung einer dem Grunde nach gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 BGB entstandenen Wertersatzpflicht keinen Hinweis darauf gibt, dass der Wertersatzanspruch, sofern er zunächst dem Grunde nach entstanden ist, wegen eines Anlasses gemindert werden kann, der – im Unterschied zu den in § 346 Abs. 3 S. 1 BGB genannten Fällen – nichts mit Umständen zu tun hat, die im Zusammenhang mit der Umstellung des primären, in § 346 Abs. 1 BGB stipulierten Anspruchs auf Herausgabe des Erlangten in Natur auf einen Wertersatzanspruch gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 BGB stehen. Was die Orientierung der Wertbemessung auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Besonderen angeht, überzeugt dies übrigens auch im Hinblick auf die Regelung der bereicherungsrechtlichen Wertersatzpflicht nicht. Diese wird nämlich in der Regel gemäß § 818 Abs. 4 BGB schon mit der Rechtshängigkeit der Bereicherungsklage dem Betrage nach fixiert, da alsdann der nach § 818 Abs. 2 BGB geltend gemachte Wertersatzanspruch, und zwar gleichgültig ob dieser Wertersatzanspruch vor oder nach der Rechtshängigkeit der Bereicherungsklage entstand, grundsätzlich nicht mehr dem Einwand des Bereicherungswegfalls gemäß § 818 Abs. 3 BGB ausgesetzt ist.46 Dass dies bei der rücktrittsrechtlichen Wertersatzpflicht anders sei, bedürfte daher zumindest eingehender Begründung, zumal § 346 Abs. 3 S. 2 BGB auch für die rücktrittsrechtliche Wertersatzpflicht auf die – zumindest – subsidiäre Geltung des bereicherungsrechtlichen Wertersatz­ regimes verweist. Als eine solche Begründung genügt nicht der auch auf § 818 Abs. 2 und 3 BGB rekurrierende Hinweis, dass die Wertersatzbemessung in Bezug auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der ‚Abschöpfungsfunktion 46  Schwab (2017), § 818 Rn. 288. Ob – wie richtigerweise anzunehmen ist, vgl. Lorenz (2007), § 818 Rn. 52 m. w. N. – eine Restgeltung des § 818 Abs. 3 BGB als Einschränkung der Wertersatzhaftung auf Grund von § 818 Abs. 2 BGB anzuerkennen ist, wenn der ersatzlose Verlust des Erlangten und seines Wertes auf einem vom Bereicherungsschuldner nicht zu vertretenden Umstand beruht, kann hier dahinstehen, da das hier vorgebrachte Argument zur Bestimmung des Zeitpunkts der Wertbemessung auch bei Richtigkeit dieser bereicherungsrechtlichen Auffassung zutrifft.

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des Wertersatzanspruchs aus § 346 Abs. 2 BGB‘ entspricht,47 wenn die so apostrophierte wertersatzbezogene Abschöpfungsfunktion aus der Annahme gefolgert wird, die verschuldensunabhängige Wertersatzpflicht unterstelle von Gesetzes wegen, ‚dass trotz Unmöglichkeit der Rückgewähr in Natur doch regelmäßig der Wert des Geleisteten in das Vermögen des Empfängers übergegangen ist und sich dort im Zeitpunkt des Herausgabeverlangens auch noch niederschlägt‘.48 Der übergegangene Wert, der als Folge des Übergangs durch den auf § 346 Abs. 2 BGB gestützten Anspruch abzuschöpfen ist, ist nämlich dasjenige Erlangte, das mit dem geleisteten Gegenstand, der rücktrittshalber grundsätzlich primär als solcher in Natur zurückzugewähren ist, als dessen ihm in der Regel immanente Eigenschaft, bei vermögensmäßiger Betrachtung zugleich Träger eines in Geld zu veranschlagenden Etwas – nämlich ein Vermögenwert – zu sein, notwendigerweise mitgeleistet wird.49 Dieser zu restituierende Wert ist daher nichts anderes als die Sekundäreigenschaft des naturaliter geleisteten Objekts, nämlich der in diesem – und zwar, auch wenn es sich um eine Gattungssache handelt, just in diesem – konkreten Leistungsobjekt verwurzelte Wert. Daher ist der Wert des Geleisteten nur als ein solch objektbezogener, damit auf die Existenz des werttragenden Gegenstands angewiesener und folglich auch dem Betrage nach auf die Existenz des werttragenden Gegenstands fixiert orientierter Wert herauszugeben.50 Wenn unter diesen Umständen der Wertersatzanspruch als sekundärer, hilfsweiser Bereicherungsanspruch trotz des Wegfalls des primären Leistungsgegenstands und folglicher Unmöglichkeit seiner Naturalrestitution nicht ohne Weiteres so wie der primäre Anspruch auf Rückgewähr des den Wert tragenden Gegenstands mit diesem entfällt, so beruht dies nur darauf, dass der Wert nicht notwendigerweise mit dem werttragenden Gegenstand selbst entfallen muss. Deshalb ist über die Einschränkung oder gar den Verlust des Wert­ ersatzanspruchs gesondert zu befinden; der Rechtsgedanke des § 275 Abs. 1 BGB ist auf konkrete Leistungsgegenstände anwendbar, nicht aber auf Werte als Abstrakta in einer Vermögensrechnung. Ebendies eigenständig zu bewerkstelligen, sollen einerseits § 818 Abs. 3 BGB für das Bereicherungsrecht Lobinger (2010), § 346 Rn. 101. Lobinger (2010), § 346 Rn. 64 mit Verweis auf eine solche Annahme des Gesetzgebers zum Bereicherungsrecht, dort zur Begründung des § 818 Abs. 2 BGB, bei Mugdan (1899), S. 467 (Motive Schuldrecht, S. 837). 49  Das vorgenannte Zitat der Gesetzesmaterialien macht die Doppelbezüglichkeit des Leistungsgegenstands deutlich, wenn dort zur legitimierenden Erklärung des § 818 Abs. 2 BGB nur die Rede davon ist, dass (vorbehaltlich der nachgeschalteten Beschränkung dieser Annahme nach Maßgabe des § 818 Abs. 3 BGB) unterstellt werde, „daß regelmäßig der Werth des Geleisteten [gemeint ist offenkundig: durch den Erwerb infolge der Leistung eines konkreten Etwas] in das Vermögen des Empfängers übergegangen ist“. 50  Vgl. zum Vorstehenden schon Abschnitt II.2. 47  So 48  So



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und andererseits § 346 Abs. 3 BGB für das Rücktrittsrecht leisten. Dies geschieht aber nur in Richtung auf eine Anspruchsbeschränkung;51 die hier für den Zeitpunkt der Wertbemessung interessierende Bezugnahme auf das Leistungsobjekt als Wertträger, das beziehungsweise der als solcher mit der ­Unmöglichkeit der Naturalrestitution entfällt, wird damit nicht in Frage gestellt, insbesondere nicht auf einen späteren Zeitpunkt hinausgezögert.52

V. Bloße Möglichkeiten als erlangtes Etwas und die Wertersatzpflicht Bei nichtgegenständlichen Leistungen, namentlich bei Vermietung und Verpachtung sowie bei Dienstleistungen im weiteren Sinne,53 bei denen eine Wertersatzpflicht unmittelbar wegen der Natur des Leistungsobjekts rücktritts- beziehungsweise bereicherungsrechtlich gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB beziehungsweise § 818 Abs. 2, 1. Fall BGB in Rede steht, ist der Wert­ ersatzpflicht notwendigerweise die Frage vorgeordnet, ob beziehungsweise unter welchen Umständen der potentielle Schuldner denn überhaupt ein Etwas im Sinne des § 346 Abs. 1 BGB oder des § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Fall BGB durch Leistung des sich als Gläubiger eines deshalb erhobenen Zahlungsanspruchs Gerierenden erlangt hat. 1. Problemlagen Das Problem wird anhand der folgenden, unterschiedlichen Sachlagen deutlich. Einem – im Fall der Leistungskondiktion vermeintlichen, im Rücktrittsfall wirklichen – Mieter stellt der Vermieter die Mietsache tatsächlich und mit Einverständnis des Mieters so zur Verfügung, dass der Mieter den geschuldeten Mietgebrauch ungehindert machen kann; so verhält es sich etwa, wenn der Mieter den Schlüssel zur Mietwohnung übernommen hat. Der Mieter 51  Dynamisierung, die die Möglichkeit der Anspruchserweiterung bis zur letzten mündlichen Verhandlung einschließt, ist – gerade anders als bei Wertersatzansprüchen aufgrund Rücktrittsrechts oder Bereicherungsrechts – bei Schadensersatzansprüchen möglich, da diese ihrem Zweck und ihrer gläubigerbezogenen Orientierung wegen tunlichst auf die Wiederherstellung des schadensfreien Vorzustands, mithin auf die Beseitigung eines bloß ersatzweisen Zustands pro futuro, ausgerichtet sind; vgl. dazu Abschnitt II.2. 52  In diesem Sinne war bereits Abschnitt II.2. von Statik des Wertersatzanspruchs die Rede, verbunden mit allenfalls reduktiver Dynamisierung. 53  Unter Dienstleistungen im weiteren Sinne sind Dienstleistungen im engeren Sinne des Dienstvertragsrechts und ferner des Arbeitsrechts, aber auch unkörperliche Werkleistungen zu verstehen.

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nutzt die Mietsache tatsächlich jedoch aus solchen Gründen nicht, die ausschließlich seiner eigenen Entscheidung beziehungsweise Sphäre zuzurechnen sind. Dies ist beispielsweise bei der Vermietung einer Ferienwohnung der Fall, die der Mieter schließlich tatsächlich doch nicht nutzt, weil er sich zu einer anderen Ferienreise entschlossen hat oder er wegen Erkrankung nicht anreisen kann. Ein – wiederum im Fall der Leistungskondiktion vermeintlicher, im Rücktrittsfall wirklicher – Arbeitnehmer54 stellt seine Arbeitskraft dem Arbeitgeber so zur Verfügung, dass dieser die Arbeitsleistung jederzeit tatsächlich für sich durch Ausübung seiner Weisungsbefugnis im Rahmen seiner gewerb­ lichen Tätigkeit verwenden kann. Diese ‚Andienung‘ der Arbeitsbereitschaft nach Weisung des Arbeitgebers akzeptiert der Arbeitgeber auch.55 Die tatsächliche Inanspruchnahme unterbleibt allerdings aus Gründen, die in der Entscheidungsgewalt oder in der Sphäre des Arbeitgebers liegen. Auf Sachlagen der vorbezeichneten Art soll im Weiteren eingegangen werden. Hier ausgespart bleiben müssen hingegen anders geartete Situation, in denen es an einer nachhaltigen Wertschöpfung trotz tatsächlicher Inanspruchnahme der vorbezeichneten ungegenständlichen Leistungen fehlt. So kann es sich beispielsweise im Fall des Arbeitnehmers ergeben, dass der Arbeitgeber zwar die Arbeitsleistung tatsächlich abruft, diese Arbeitsleistung jedoch aus Gründen, die mit der Qualität und Quantität der tatsächlich erbrachten Arbeit nichts zu tun haben, zu keinem wirtschaftlichen Nutzen führt. In Betracht kommt hier etwa die Produktion von Gütern ohne Markterfolg. Ähnliches kann bei gewerblichen Miet- oder Pachtverhältnissen eintreten, wenn der Mieter oder Pächter zwar das Miet- oder Pachtobjekt tatsächlich nutzt, sich aber mit dessen Hilfe der erwartete Ertrag – im Fall einer Geschäftsraummiete beispielsweise ein Umsatz im Einzelhandel – nicht hat erzielen lassen, weil es für ein unter Einsatz des Miet- oder Pachtobjekts erstelltes oder vertriebenes Gut keinen Markt gibt. 2. Akzeptierte Einsatzmöglichkeit als erlangtes Etwas – pro Schon die bloße Möglichkeit der Nutzung zur Verfügung gestellter Dienste und desgleichen der Nutzung von Gegenständen zum Gebrauch und gegebenenfalls zur Fruchtziehung ist das nach § 346 Abs. 1 BGB beziehungsweise 54  Typologisch betrachtet, betrifft das Beispiel die übergeordnete Fallgruppe der Dienstleistung, wobei im vorliegenden Zusammenhang gleichgültig ist, ob es sich um eine solche auf Grund eines Dienstvertrags im Allgemeinen oder eines (nicht als faktisches Verhältnis aufrechtzuerhaltenden) Arbeitsvertrags im Besonderen oder eines auf Erbringen einer unkörperlichen Leistung gerichteten Werkvertrags handelt. 55  Damit ist der Unterschied zum Fall des Annahmeverzugs markiert.



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§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB zurückzugewährende Etwas,56 sofern der Empfänger nicht bereits die Zurverfügungstellung einer derartigen Nutzungsmöglichkeit als solche zurückgewiesen hat.57 Dies folgt im Grundsatz daraus, dass die Akzeptanz der Möglichkeit der Nutzung der Dienste beziehungsweise des Miet- oder Pachtgegenstands die Erfüllung der Leistungspflicht im Sinne des § 362 Abs. 1 BGB aus dem Verpflichtungsgrund ist, der im Bereicherungsfall nicht oder nicht mehr besteht und in Bezug auf welchen solvendi causa rechtsgrundlos geleistet wurde und in Hinsicht auf welchen im Rücktrittsfall zurückgetreten wurde, und dass der als Erfüllung fungierende Leistungsgegenstand typischerweise das rücktritts- oder bereicherungsrechtlich relevante Etwas ist, das als das durch Leistung des anderen Teils Erlangte herauszugeben ist. Dieses ist dann, da wesensgemäß in Natur nicht herausgebbar, im Rücktrittsfall nach § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB beziehungsweise bereicherungsrechtlich gemäß § 818 Abs. 2 BGB in Geld zu erstatten. Die daher dem Grunde nach mögliche Wertersatzpflicht trotz tatsächlicher Nichtverwendung des Geleisteten steht allerdings bei bereicherungsrecht­ licher Haftung unter dem Vorbehalt, dass der Wertersatzanspruch des Weiteren nicht gemäß § 818 Abs. 3 BGB wegen Fehlens oder Fortfalls der Bereicherung entfällt.58 Bei rücktrittsrechtlicher Abrechnung steht die vorbezeichnete Wertersatzpflicht unter dem Vorbehalt, dass der gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB anzunehmende Wertersatzanspruch nicht aus einem besonderen weiteren Grund, wie dies im Bereicherungsrecht gemäß § 818 Abs. 3 BGB in Betracht kommt, eingeschränkt sein kann. Das rechtskonstruktiv stimmige Element zur Befürwortung des Ansatzes, das herauszugebende Etwas schon in der Nutzungs- beziehungsweise Einsatzmöglichkeit als solchem zu sehen, weil dies – bei Unterstellung der Wirksamkeit der von den Partnern des zur Leistungserbringung verpflichtenden Vertrags angenommenen Leistungsgrundes – der erfüllungstaugliche Leistungsgegenstand ist, ist schon wegen der rechtssystematischen Konsequenz ein sehr erhebliches Argument für diese Lösung. Die Herausgabepflicht kehrt schlicht die als solche im Sinne des § 362 Abs. 1 BGB taugliche 56  Vgl. in diesem Sinne zutreffend schon Reichsgericht in Zivilsachen (RGZ) 138, 28, 32. 57  In einem solchen Fall kann Annahmeverzug vorliegen, was ein rücktritts- oder bereicherungsrechtliches Erlangen ausschließt. Eine hier nicht zu klärende Frage ist es, wie eine zunächst wegen Annahmeverzugs entstandene Entgeltpflicht, etwa auf Grund von § 615 BGB, nach Rücktritt zu beurteilen ist. 58  Dies ist allerdings im Anwendungsbereich des § 818 Abs. 3 BGB, also bei einem nicht nach den §§ 818 Abs. 4, 819 f. BGB Haftenden, als grundsätzlich möglich anzusehen (bestritten); vgl. dazu Schwab (2017), § 818 Rn. 26 m. w. N. und zu Möglichkeit sowie Grenzen der Entlastung gemäß § 818 Abs. 3 BGB in Fällen der Wert­ ersatzhaftung gemäß § 818 Abs. 2, 1. Alt. BGB eingehend Kohler (1989), S. 303 ff.

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Erfüllung der Leistungspflicht um, wie es die regelmäßige Aufgabe der He­ rausgabepflicht ist.59 Dazu tritt noch, dass diese Lösung ohne weiteres begründen kann, wie ein verklagter oder bösgläubiger Leistungsempfänger bereicherungsrechtlich haftet. Denn seine Haftung dem Grunde nach ist ohne weiteres schon nach den §§ 812 Abs. 1 S. 1 und 818 Abs. 2 BGB gegeben, und sie kann dann schließlich wegen Nichtanwendbarkeit des § 818 Abs. 3 BGB auch unbeschränkbar sein. Wird dieser Haftungsansatz verworfen, fehlt es schon am erlangten Etwas, so dass es kaum plausibel werden kann, dieses Manko durch die Verweisung des § 818 Abs. 4 BGB auf die allgemeinen Vorschriften, dabei namentlich auf § 987 Abs. 2 BGB, zu kompensieren. Die sogenannte verschärfte Bereicherungshaftung setzt nämlich die Erfüllung eines bereicherungsrechtlichen Haftungstatbestands dem Grunde nach voraus, verschafft aber dessen Erfüllung dem Grunde nach nicht.60 Diese Lösung wird überdies von einem wertenden Argument unterstützt. Wer sich vertraglich zum entgeltlichen Erwerb eines Nutzungs- oder Einsatzpotentials entschließt, dieses aber nicht einsetzt, um aus einer Möglichkeit der Verwendung eine wirkliche Verwendung zu machen und so aus einer Ertragschance eine Ertragsrealität, der kann – und zwar gerade als gutgläubiger Leistungsempfänger, der an das Bestehen des Rechtsgrundes für das Erlangen des ihm zur Erfüllung Geleisteten glaubt – nicht undifferenziert in allen Fällen, wie dies zwingend61 bei Leugnung schon des Erlangens eines herauszugebenden Etwas die Konsequenz wäre, von einer Wertersatzpflicht freigestellt werden, wenn dieses Unterlassen die Folge seiner freien vermögensmäßigen Entscheidung ist und er deren Nachteil hätte tragen müssen, weil er bei der von ihm unterstellten Wirksamkeit des Leistungsvertrags die Zurverfügungstellung der bloßen Möglichkeit auch dann hätte vergüten müssen, wenn er diese tatsächlich nicht nutzt. Auch dieses Pro-Argument gilt für Rücktritts- und Bereicherungsrecht gleichermaßen.

59  Kaiser

(2000), S. 231. gehört zu den Quintessenzen, die aus dem sog. Flugreisefall BGHZ 55, 128 nach wohl ganz herrschender Ansicht zu ziehen sind. 61  Die hier vertretene Haftungsanknüpfung an die bloße Nutzungs- oder Einsatzmöglichkeit eröffnet zwar die Haftung dem Grunde nach, lässt aber – auch dies ist ihr Vorteil – Flexibilität der Lösung, also sachlagenspezifische Differenzierung, durchaus zu. Dies gilt für das Bereicherungsrecht erkennbar für die möglich bleibende Beschränkung der zunächst dem Grunde nach angenommenen Wertersatzhaftung durch die nachgeschaltet mögliche Anwendung des § 818 Abs. 3 BGB. 60  Dies



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3. Akzeptierte Einsatzmöglichkeit als erlangtes Etwas – contra Gegen die Annahme, die bloße Möglichkeit der Nutzung oder des Einsatzes werden allerdings Gegenvorstellungen erhoben. Die Einwände sind für Rücktritts- und Bereicherungsrecht getrennt zu untersuchen. a) Bereicherungsrecht Aus bereicherungsrechtlicher Sicht wird Verschiedenes dagegen eingewendet und statt dessen erst die Nutzung beziehungsweise die Dienstleistung selbst als erlangtes Etwas angesehen.62 In Bezug auf Nutzungen – also vor allem gescheiterte Miet- und Pachtverträge betreffend – wird insbesondere das Folgende kritisch vorgebracht: Der Mieter63 erlange beim nichtigen Mietvertrag nicht dasselbe wie beim wirksamen Mietvertrag. So fehle es an der typusprägenden Instandhaltungspflicht des Vermieters nach § 535 Abs. 1 S. 2 BGB. Überhaupt sei die Position des (Schein-)Mieters nicht mit der Rechtsposition eines wirklichen Mie­ters vergleichbar, weil ersteren Falls wegen des jederzeit möglichen Herausgabeverlangens keine vergleichbar gesicherte Position bestehe. Beides trifft naturgemäß beim nichtigen Mietvertrag zu, ist aber bereicherungsrechtlich ohne Bedeutung. Es gehört nämlich zur regelmäßigen Voraussetzung des Bereicherungsanspruchs und ist daher für die bereicherungsrechtliche Sachlage gerade typisch, dass dieser für ein erlangtes Etwas besteht, auf dessen Erwerb durch Leistung es keinen Anspruch gibt und deshalb die Rechtsposition des Erwerbers in Bezug auf das dennoch Erworbene im Unterschied zum Fall eines wirksamen Leistungsvertrags nicht gefestigt ist. Es macht insofern also bereicherungsrechtlich keinen Unterschied, ob der Gebrauchsüberlassungs- oder der Instandhaltungsanspruch nicht besteht oder beide nicht bestehen. Dass der Instandhaltungsanspruch nach Einräumung des mietweisen Besitzes nicht aktiviert wird, solange die Mietsache intakt ist, ist ebenfalls für die bereicherungsrechtlich entscheidende Betrachtung des erlangten Etwas64 belanglos. Es genügt, dass die Parteien davon ausgehen, dass der Anspruch – insofern latent – vorhanden ist und zur Leistung des Vermieters führen werde, wenn dafür tatsächlich Bedarf besteht. So verhält zum Folgenden statt Vieler im Einzelnen Schwab (2017), § 818 Rn. 26 ff. zur Miete im Folgenden Ausgeführte gilt entsprechend für die Pacht. 64  Eine davon zu trennende, sich nämlich erst sekundär im Rahmen des § 818 Abs. 2 BGB stellende Frage ist es, ob und gegebenenfalls wie dieses erlangte Etwas eigens in Geld zu bewerten ist. Dies dürfte in der Regel zu verneinen sein, da dieses Erlangte schon in den Wert der mietweisen Einräumung der Nutzungsgelegenheit eingepreist ist. 62  Vgl. 63  Das

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es sich ja auch hinsichtlich der bereicherungsrechtlichen Pflicht zur Vergütung einer in Verkennung der Nichtigkeit des Versicherungsvertrags ausgesprochenen Pflichtversicherungsdeckung, deren – vermeintliche – Gewährung, soweit sie dem Kunden und der Straßenverkehrsbehörde angezeigt wurde, als solche zur Wertersatzpflicht führt, und zwar auch für den Fall, dass der Versicherungsfall nie eintrat.65 Ferner wird eingewendet, dass es ein untragbarer Wertungswiderspruch sei, wenn ein rechtsgrundloser (Schein-)Käufer hinsichtlich der ihm übereigneten Sache nach § 818 Abs. 1 BGB nur die gezogenen Nutzungen herausgeben müsse, aber der (Schein-)Mieter schon das bloße Nutzungspotential entgelten müsse.66 Das prima facie verständliche Argument überzeugt aber letztlich doch nicht. Es macht einen Unterschied, ob jemand als Käufer sich mit dem Eigentum die Summe aller Verwendungsmöglichkeiten verschafft, oder aber, ob er sich als Mieter bloß auf die gebrauchsweise Nutzung konzentriert. Das erlangte Etwas, der damit erlangte Vorteil ist nämlich durchaus unter­schiedlich:67 Der kaufweise Erwerb ist zwar mehr oder minder häufig, aber eben durchaus nicht stets und vor allem nicht notwendigerweise nur eine Art des Nutzungserwerbs.68 Beim Kauf einer Sache – zum Beispiel eines Kunstwerks oder eines Oldtimers – bloß in der Erwartung ihrer Wertsteigerung und daher mit dem Ziel, später Gewinn durch Weiterverkauf der – gerade wegen Nichtnutzung makellos gebliebenen – Sache zu erzielen, wird dies deutlich. Das Anmieten eines Autos, um es dann nicht zu benutzen, hat hingegen keinen ökonomisch vernünftigen Sinn, wenn man die Sinnfrage in Bezug auf den spezifischen Inhalt des erkauften Rechtsanspruchs des Mieters beurteilt. Die Rechtsordnung hat daher durchaus Anlass, beide Fälle hinsichtlich der Ausschöpfung des Nutzungspotentials, beziehungsweise des diesbezüglichen Unterlassens, unterschiedlich zu behandeln. Außerdem sind die beiden Messgrößen, die für die Berechnung des nutzungsbezogenen Wertes anzusetzen sind, ohnehin überhaupt nicht kompatibel. Dies wird etwa bei der Landpacht deutlich: Das rechtsgrundlos geleistete Nutzungspotential ist dem Wert nach mit dem marktüblichen Landpachtzins69 anzusetzen, der – bei Annahme wirtschaftlich vernünftiger Verhältnisse – unter dem Wert der dann vom (Schein-)Pächter prognostisch in der Pachtperiode tatsächlich gezogenen Nutzungen, und zwar netto nach Abzug der nut65  Dazu näher Kohler (1988), S. 564 f.; dort auch zur Bereicherungshaftung bei unwirksamer Einräumung eines Patents oder einer Lizenz. 66  Canaris (1991), S. 48 ff.; Gursky (1998), S. 12. 67  Anders Schwab (2017), § 818 Rn. 27. 68  Reuter / Martinek (1983), § 15 I 2 c), S. 531; Kaiser (2000), S. 230 f. 69  Dieser Wert ist vermutungsweise in der Regel identisch mit dem vereinbarten Pachtpreis; dazu Abschnitt IV.2.a).



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zungsbezogenen Aufwendungen, liegt. Wird hingegen ein Landgut rechtsgrundlos erworben, verpflichtet § 818 Abs. 2 BGB zur Herausgabe der gezogenen Netto-Nutzung, die beziehungsweise deren Wert bei vernünftiger Wirtschaft über dem Pachtwert der Grundstücke liegen muss. Im Vergleich zum Wertersatz für die Nutzziehungsmöglichkeit nach Maßgabe der §§ 812 Abs. 1 S. 1, 818 Abs. 2 BGB zur Nutzungsersatzpflicht nach § 818 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 BGB erweisen sich also beide nutzungsbezogene Sichtweisen als essentiell verschieden. Das gilt erst recht, wenn zusätzlich in Betracht gezogen wird, dass der erstgenannte dieser Ansprüche, also der im Fall rechtsgrundloser Pacht geltende, stets ein Wertersatzanspruch ist, der zweitgenannte Anspruch hingegen im Rahmen des Möglichen primär auf Naturalherausgabe, also auf Übereignung der natürlichen Früchte,70 zielt.71 Das danach für die Bereicherungshaftung bei rechtsgrundloser Leistung von Nutzungspotentialen als solche Geltende72 ist auch auf die Haftung für rechtsgrundlose Dienstleistungen73 zu übertragen.74 Auch bei diesen ist die Zurverfügungstellung der persönlichen Bereitschaft und der tatsächlichen Möglichkeit, konkrete Dienste – gegebenenfalls nach Spezifizierung auf Grund von Weisungen – zu leisten, unter der Voraussetzung, dass der andere Teil diese Bereitschaft und Möglichkeit als solche für sich als Erfüllung einer entsprechenden, als bestehend angenommenen Vertragspflicht akzeptiert,75 70  Dabei ist zusätzlich in die Abrechnung einzubeziehen, dass Aufwendungen zur Realisierung der Nutzziehung nach § 818 Abs. 3 BGB als Bereicherungsminderung geltend zu machen sind. 71  Der weitere Einwand, man gelange mit dem Argument, dass der Mieter beziehungsweise Pächter an seiner eigenen vermögensmäßigen Entscheidung zum Erwerb der Nutzungsmöglichkeit festgehalten werde, in der Konsequenz zum Ausschluss des Entreicherungseinwands und damit zu einer unbedingten Übernahme des Verwendungsrisikos, trifft nur zu, wenn man den Topos der „eigenen vermögensmäßigen Entscheidung“ auf diese Konsequenz ausdehnt. Dies allerdings wird hier nicht vertreten. Ein Widerspruch zur obigen Verwendung des Topos liegt darin nicht. Denn dort wird der Topos nur unterstützend als drittrangige Begründung verwendet; vor allem aber ist wesentlich, dass dies nur mit dem Zweck geschieht, die dem Grunde nach überhaupt erst geöffnete Haftung hinsichtlich der regelmäßigen Möglichkeit der Haftung wertend zu untersetzen, unbeschadet der Möglichkeit nachgeschalteter Anwendung des § 818 Abs. 3 BGB. 72  Insoweit wie hier, beschränkt auf die Gebrauchsüberlassung, auch Kaiser (2000), S.  230 f. 73  Der Begriff ist hier und im Folgenden im weiten Sinne unter Einschluss von Arbeitsleistungen und dienstleistungsartigen Werkleistungen zu verstehen. 74  Bestritten; andere Auffassung etwa Kaiser (2000), 230 f. 75  Damit, nicht schon mit der tatsächlichen Andienung der Dienstleistung, ist die Erfüllung der dienstvertraglichen Pflicht gegeben; dies ergibt sich entgegen Kaiser (2000), S. 119, durchaus aus den von Kaiser a. a. O. zitierten Motiven zum Schuldrecht (S. 461). Fehlt es hingegen an der Annahme der Dienstleistungsbereitschaft

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die erfüllungstaugliche Leistung im Sinne des § 362 Abs. 1 BGB.76 Das erst erklärt auch, warum der angestellte Krankenhausarzt sowie das Feuerwehrund Rettungsdienstpersonal nicht nur wegen Annahmeverzugs, sondern wegen ordnungsgemäß erbrachter Dienstleistung zu entlohnen ist, wenn beziehungsweise obwohl während der Zeit des Bereitschaftsdienstes tatsächlich keinerlei Einsätze stattfanden. Als erfüllungstaugliche Leistung ist die einvernehmliche Bereitstellung der vorgenannten Dienstwilligkeit und der tatsächlichen Zugriffsmöglichkeit auf das Dienstpotential das im Sinne des § 818 Abs. 1 S. 1 BGB erlangte Etwas. Damit wird das Leistungsprogramm richtig umgekehrt, wie es in der Tat der Zweck der Rückabwicklungsschuldverhältnisse ist,77 wenn zunächst die Bereicherungshaftung auf die Herausgabe des Potentials als solchem gerichtet ist. Da jedoch nicht in Natur herausgebbar, ist dieses Etwas im Wertersatzwege nach § 818 Abs. 2 BGB in Geld bewertet herauszugeben. Ob der so dem Grunde und dem Inhalt nach begründete Anspruch schließlich in einer tertiären Erwägung wegen Nichterreichens oder Wegfalls einer Bereicherung gemäß § 818 Abs. 3 BGB einzuschränken ist, ist damit in keiner Hinsicht präjudiziert. Bei Dienstleistungen akzeptieren diese bereicherungsrechtliche Sicht übrigens teilweise auch diejenigen, die das erlangte Etwas und damit die Wertersatzfrage bei miet- und pachtweiser Nutzungsüberlassung anders als hier vertreten beurteilen.78 Die Andersbehandlung der rechtsgrundlosen Dienstleistung wird mit der Existenz zweier Unterschiede begründet: Zum einen könne bei Dienstleistungen, anders als bei Miete und Pacht, nicht an ein gegenständliches Leistungssubstrat – den Sachbesitz – als erlangtes Etwas angeknüpft werden, und so bleibe unter der – richtigen – Prämisse, dass das erlangte Etwas gegenständlich zu bestimmen sei, eben nichts weiter übrig als die Anknüpfung an die Dienstleistung ohne Rücksicht auf eine dienstleistungsbedingte Vorteilsziehung.79 Zum anderen bestehe der Unterschied darin, durch den Dienstberechtigten, liegt Annahmeverzug vor; wie in einem solchen Fall bereicherungsrechtlich zu entscheiden ist, möge hier unentschieden bleiben. 76  Insoweit nicht überzeugend Kaiser (2000), S. 117 f.; erst die Zurückweisung der tatsächlich angebotenen Bereitschaft zur Entgegennahme beziehungsweise Wahrnehmung der Möglichkeit der Inanspruchnahme von Diensten führt zum Annahmeverzug im Sinne des § 615 BGB. 77  Für Letzteres auch Kaiser (2000), S. 117 f. (zum Rücktritt) und S. 230 f. (zum Bereicherungsrecht). 78  So etwa Schwab (2017), § 818 Rn. 29. Gerade umgekehrt Kaiser (2000), S. 117 ff. und S. 230 f., in Bezug auf Dienstleistungen, bei denen – anders als bei Gebrauchsüberlassungen – die Möglichkeit der Inanspruchnahme nicht genügen soll; dagegen Abschnitt V.2. und soeben Abschnitt V.3.a). 79  In Bezug auf die hier in Rede stehenden Vorteile muss allerdings unterschieden werden zwischen dem Vorteil, der in der tatsächlichen Inanspruchnahme von Diens-



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dass dem Empfänger einer Dienstleistung etwas ohne sein Zutun zugewendet werde. Beides trifft aber nicht zu. Ersteres ist etwa im Fall der Pacht einer Lizenz oder eines Patents ersichtlich; denn auch dort hat die Leistung als solche kein gegenständliches Substrat. Letzteres trifft schon deshalb nicht zu, weil eine Dienstleistung als Schulderfüllung im Sinne des § 362 Abs. 1 BGB, damit auch bereicherungsrechtlich als das im Sinne des § 812 Abs. 1 S. 1 BGB relevante Etwas, erst dann durch Leistung erlangt wird, wenn und indem der – vermeintlich – Dienstberechtigte die ihm dargebotene Dienstbereitschaft als solche annimmt; fehlt es nämlich schon daran, liegt allenfalls Annahmeverzug vor, nicht aber ein aktueller Erwerb von Diensten durch Leistung. Da die behaupteten zwei Unterschiede also durchaus nicht wesensgemäß bestehen, lassen sich damit auch Unterschiede in der Sicht auf die bereicherungsrechtliche Haftung nicht belegen. b) Rücktrittsrecht Bei der rücktrittsrechtlichen Rückabwicklung von geleisteten Nutzungsmöglichkeiten auf Grund von Mietverträgen80 sowie von Dienstleistungen81 stellt sich die Rechtslage ebenso dar. Das neue Rücktrittsrecht gibt dazu schon textlich Anlass, weil es sich in diesem Punkt – ausnahmsweise zu seinem Vorteil – an die bereicherungsrechtliche Formulierung deutlicher anschließt als das frühere Rücktrittsrecht. Nach § 346 Abs. 1 BGB sind ‚die empfangenen Leistungen‘ zurückzugewähren, was – parallel dazu in den Kategorien der Leistungskondiktion gesagt – das durch Leistung erlangte Etwas ist. Statt der Rückgewähr der empfangenen Leistung ist nach § 346 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB Wertersatz zu leisten, soweit – was in den genannten Fallgruppen zutrifft – ‚die Rückgewähr oder die Herausgabe nach der Natur des Erlangten ausgeschlossen ist‘. Das entspricht praktisch der Fassung des § 818 Abs. 2, 1. Alt. BGB. Die Textparallelität spricht daher schon für die Gleichbehandlung beider Rückabwicklungssysteme in Hinsicht auf den wertersatzrechtlichen Anspruchsgrund als solchen. Dazu tritt als Argument, dass dies auch sachgerecht ist. Denn nicht anders wie im Rücktrittsrecht ist die empfangene Leistung als dasjenige anzusehen, das erfüllungstauglicher Inhalt beziehungsweise Erfolg des Leistungsvorten als solchem liegt, und den wirtschaftlichen Erträgen, die die erbrachte Dienstleistung zeitigt; vgl. zu dieser Unterscheidung V.1. Inwieweit dies hinreichend unterschieden wird, ist allerdings nicht zuverlässig festzustellen. 80  Pachtverträge stehen auch hier gleich. 81  Der Begriff der Dienstleistung ist auch hier im oben dargestellten Sinne weit zu verstehen.

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gangs ist. Dies ist die einvernehmlich vollzogene, bloße Zurverfügungstellung der Nutzungsmöglichkeit82 beziehungsweise die Akzeptanz der dargebotenen bloßen Gelegenheit zur tatsächlichen Inanspruchnahme einer Dienstleistung.83 Diese Lesart könnte allerdings im Hinblick auf den vormaligen § 346 S. 2 BGB a. F. zu korrigieren sein, wenn – was wohl zutrifft84 – die Schuldrechtsreform insoweit keine vom früheren Recht abweichende Regelung hat treffen wollen. § 346 S. 2 BGB a. F. lautete: „Für geleistete Dienste sowie für die Überlassung der Benutzung einer Sache ist der Wert zu vergüten.“85 Dieser Regelung wurde entnommen, dass es rücktrittsrechtlich für die Wertersatzpflicht auf die tatsächliche Erbringung von Diensten beziehungsweise eventuell auch auf die tatsächliche Benutzung ankomme. Letzteres, nämlich die Ersatzpflicht für Nutzungsmöglichkeiten betreffend, widersprach aber schon dem Wortlaut des § 346 S. 2 BGB a. F. Dort knüpfte nämlich die Wertersatzpflicht keineswegs an die ‚Benutzung‘ an; vielmehr war schon seinerzeit nur die ‚Überlassung zur Benutzung‘ gefordert. Wird ‚Überlassung‘ hier im vorbezeichneten Sinne der tatsächlichen, vom Begünstigten als solche akzeptierten Einräumung der Möglichkeit zur Nutzung verstanden – und dies ist in der Tat der Inhalt dessen, was zu Zwecken der Schuldbefreiung zu leisten ist –, so zeigt dies die vollständige Übereinstimmung bereits des früheren Rücktrittsrechts mit der hier befürworteten Weise, die ‚empfangene Leistung‘ im Sinne des § 346 Abs. 1 BGB zu verstehen. Sollte das neue Rücktrittsrecht insoweit das frühere Rücktrittsrecht nicht 82  Dem entspricht es im Ergebnis in der Regel, wenn Wertersatz im Hinblick auf die Fortgeltung beziehungsweise Maßgeblichkeit der Risikoverteilungsregel des § 537 BGB zugebilligt wird; so Hager (2016), § 346 Rn. 34. Diese Begründung ist aber zweifelhaft, weil dazu dargelegt werden müsste, ob beziehungsweise warum § 537 BGB trotz Rücktritts vom Vertrag in dieser Weise fortwirken kann. 83  Dem entspricht es im Ergebnis in der Regel, wenn Wertersatz im Hinblick auf die Fortgeltung beziehungsweise Maßgeblichkeit der Risikoverteilungsregel des § 615 BGB beziehungsweise der arbeitsrechtlichen Betriebsrisikolehre zugebilligt wird; so Hager (2016), § 346 Rn. 34. Diese Begründung ist aber zweifelhaft, weil dazu dargelegt werden müsste, ob beziehungsweise warum § 615 BGB trotz Rücktritts vom Vertrag in dieser Weise fortwirken kann. Im Übrigen kommt es in der hier behandelten Sachlage auf § 615 BGB nicht an, weil hier kein Annahmeverzug vorliegt, sondern Erfüllung der dienstvertraglichen Leistungspflicht eingetreten ist; dies ist nur dann nicht der Fall, wenn der Dienstberechtigte bereits das Angebot der Dienstleistungsbereitschaft nicht annimmt. 84  BT-Drs. 14 / 6040, S. 195 f. 85  Auf die mit der Wertbemessung befassten zweiten Satzhälfte, die offenkundig Vorbild des § 346 Abs. 2 S. 2 BGB n. F. war, ist hier nicht einzugehen; dieser Satzteil lautet: „[…] oder, falls in dem Vertrag eine Gegenleistung in Geld bestimmt ist, diese zu entrichten.“



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ändern, wie der Reformgesetzgeber meinte, so ist auch dies ein starkes Zeichen für die hier vertretene Haftungsanknüpfung. Bei Diensten war der Wortlaut des § 346 S. 2 BGB a. F. mehrdeutig. Dort ist von der Wertersatzpflicht für „geleistete Dienste“ die Rede. Daraus wurde geschlossen, dass deshalb die bloße Zurverfügungstellung von Diensten auch dann, wenn der Dienstberechtigte die Zurverfügungstellung als solche annimmt, aber die Diensttätigkeit als solche nicht abruft, das heißt sie de facto nicht aktiviert, für die Wertersatzpflicht nicht genüge.86 Das ist allerdings eine verfehlte Lesart. Als „geleistet“ sind Dienste schon dann anzusehen, wenn der Dienstverpflichtete die von ihm geschuldeten Dienste vertragsgerecht im Sinne der Erfüllungstauglichkeit anbietet und der Dienstberechtigte dieses Angebot zum Tätigwerden lege artis als solches annimmt. Dies bereits ist die befreiende Leistung im Sinne der Erfüllung des Dienstvertrags im Sinne des § 362 Abs. 1 BGB. Insofern steht die Annahme als Erfüllung im Sinne des § 363 BGB der werkvertraglichen Abnahme durchaus nahe und markiert den Unterschied zur Annahmeverweigerung, die – falls unberechtigt geschehen – den Vergütungsanspruch bloß und erst in Anwendung des § 615 BGB rechtfertigt. Dass es sich so verhalten muss, zeigt sich auch an praktischen Beispielen, auf die schon hinzuweisen war: Erst unter der hier vertretenen Prämisse ist zu erklären, warum der angestellte Krankenhausarzt im Bereitschaftsdienst, das Feuerwehr- und Rettungsdienstpersonal nicht nur wegen Annahmeverzugs, sondern wegen ordnungsgemäß erbrachter Dienstleistung entlohnt wird, wenn es während der Bereitschaftszeit zu keinerlei Einsätzen kam. Wird die Aufgabe auch der rücktrittsrechtlichen Rückabwicklung – zutreffend – in der Leistungsumkehr gesehen und daher auch ihr Rechtsinhalt dahin gehend bestimmt, dass die Rückgewährpflicht der Leistungspflicht unter umgekehrten Vorzeichen entspricht, so kommt es deshalb auf den Inhalt der vertraglichen Leistungspflicht an.87 Wenn sich aber Letzteres schließlich in dem manifestiert, was als Erfüllung der Leistungspflicht im Sinne des § 362 Abs. 1 BGB anzusehen ist, so ist in der Tat schon nach früherem Rücktrittsrecht nur das Folgende konsequent: Dienste sind schon dann als „geleistet“ anzusehen, wenn sie der Schuldner als erfüllungstauglich, nämlich tatsächlich und dienstleistungswillig, angeboten und – dieses Weitere muss allerdings in Abgrenzung zum Annahmeverzug hinzutreten – der Dienstberech86  Kaiser (2000), S. 117 ff. Wohl mit umgekehrter Folgerung für die Bereicherungshaftung – zwar kein Wertersatz für die Einräumung bereits der Gebrauchsmöglichkeit, wohl aber der Bereitstellung von Dienstleistungen – Schwab (2017), § 818 Rn. 29; jedoch bleibt unklar, ob dort nur der Fall der Ertraglosigkeit tatsächlich ausgeübter Dienstleistungen gemeint ist. 87  Für beides zutreffend Kaiser (2000), S. 118.

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tigte dieses so geartete Angebot auch zumindest in der Weise angenommen hat, dass er zur Aktivierung dieser Leistungsbereitschaft willens und poten­ tiell tatsächlich imstande sei. Wenn die Neufassung des § 346 Abs. 1 BGB mit der Formulierung, dass „die empfangenen Leistungen“ herauszugeben seien, die vormals mit der Fassung des § 346 S. 2 BGB a. F. etwa insinuierten Unterschiede in der Haftung für geleistete Potentiale in Gestalt von Nutzungs- und Dienstleistungen beseitigt, kann dies gerade als ein Vorzug der Neufassung des Rücktrittsrechts gelten. Im Übrigen gilt: Mit der Feststellung, dass für bereitgestellte und angenommene Dienstpotentiale auf Wertersatz gehaftet werde, ist im Weiteren noch nicht entschieden, ob die damit dem Grunde nach zunächst nach § 346 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB entstandene Wertersatzpflicht noch sekundär aus besonderen weiteren Rechtsgesichtspunkten einzuschränken sein könnte, wie dies in den bereicherungsrechtlichen Parallelfällen dank des § 818 Abs. 3 BGB grundsätzlich als Möglichkeit eröffnet sein kann.

VI. Ausblick Die hier unternommene Betrachtung von Fragen rund um den Topos ‚Wert­ersatz‘ hat also eine ganze Fülle spannender, schwieriger, kontroverser Probleme zutage gebracht. Sie betreffen die Orientierung der Wert-Frage am Objektiven, Subjektiven und Vertraglich-relativen, die Bestimmung des maßgeblichen Wertbemessungszeitpunkt, aber auch die schon zur richtigen Erfassung des erlangten Etwas selbst zurückführende Frage der Wertersatzhaftung für das Erlangen bloßer Möglichkeiten. Erkennbar wird, dass dies auch typische wirtschaftswissenschaftliche Fragen sind. Als Jurist fühlt man die Grenzen dessen, was man hier leisten kann; vielleicht haben die angestellten Überlegungen unter wirtschaftswissenschaftlichem Blickwinkel etwas von Dilettantismus, was interdisziplinäre Forschung doch nur umso mehr zum Postulat machen sollte. Jedenfalls aber zeigt sich: Juristen müssen nicht erst die ganz ‚großen‘ Fragen nach den ‚europäischen Werten‘ stellen; schon die ‚kleinen‘ Fragen nach dem ‚Wert‘ im Grenzbereich von Zivilrecht und Betriebswirtschaft haben ihren eigenen Sinn und Reiz. Literatur Bartels, Florian (2015): Wert- und Schadensersatzansprüche im Rücktrittsfolgenrecht. „Archiv für die civilistische Praxis“ (AcP), S. 203–244. Bockholdt, Frank (2006): Die Übertragbarkeit rücktrittsrechtlicher Wertungen auf die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung gegenseitiger Verträge. „Archiv für die civilistische Praxis“ (AcP), S. 769–804.



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Ringvorlesung des Sommersemesters 2017 im Überblick • 18. April 2017 (17.00 bis 18.30 Uhr, Konferenzraum) Gerechtigkeit und Ressourcenknappheit – das Dilemma des Gesundheitswesens Steffen Fleßa und Heinrich Lang • 25. April 2017 (17.00 bis 18.30 Uhr, Konferenzraum) Der ‚Homo Oeconomicus‘ im Recht – Nutzenstifter oder Störenfried? Michael Rodi Recht der Grundsicherung aus ökonomischer Sicht Walter Ried • 16. Mai 2017 (17.00 bis 18.30 Uhr, Konferenzraum) Markt oder Staat – über eine falsche, ideologische Alternative Joachim Lege Außenwirtschaftsrecht zur Regulierung des Auslandseinflusses in Bankensystemen – Basisüberlegungen am Beispiel des Baltikums Jan Körnert • 23. Mai 2017 (17.00 bis 18.30 Uhr, Konferenzraum) Das Normative der Ökonomik – Autobiographisch geprägte Bemerkungen eines Zivilisten Boris Schinkels Von ‚Autokran‘ zu ‚Trihotel‘ – Entwicklung eines die gesetzliche Bindung des Stammkapitals erweiternden Schutzes des GmbH-Vermögens durch den BGH Hans-Georg Knothe • 27. Juni 2017 (17.00 bis 18.30 Uhr, Konferenzraum) Steuerrecht in der Betriebswirtschaftslehre Torsten Mindermann Der rational kalkulierende Verbrecher? Zu Entwicklung, Stand und Zukunftsperspektiven ökonomischer Kriminalitätstheorien Stefan Harrendorf

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Ringvorlesung des Sommersemesters 2017 im Überblick

• 4. Juli 2017 (17.00 bis 18.30 Uhr, Konferenzraum) Absprachen zur Beschränkung des Produktvertriebs über das Internet in der Wettbewerbstheorie des europäischen Kartellrechts Stefan Habermeier Wertersatz als zivilrechtlicher Haftungsinhalt Jürgen Kohler

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Steffen Fleßa, Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement Geboren 1966 in Nürnberg. Abitur 1985. Studium der Betriebswirtschaftslehre, Dipl.-Kfm. 1990. Anschließend Dozent für Krankenhausmanagement in Tansania. Promotion 1996; anschließend Berater für Strategisches Management (Tansania). Professor für Pflegemanagement (Evang. FH Nürnberg) und Professor für Internationale Gesundheitsökonomik an der Universität Heidelberg. Habilitation 2004. Seit 2004 Lehrstuhlinhaber und seit 2016 Prorektor in Greifswald. Bernd Geng (M.A.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminologie, Strafrecht, Strafprozessrecht und vergleichende Strafrechtswissenschaften.

Geboren 1954 in Bad Säckingen. Hochschulreife über den zweiten Bildungsweg. 1977–1990 Studium der Soziologie, Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Psychologie an den Universitäten Konstanz und Freiburg (dazwischen 18 Monate Zivildienst in Freiburg). 1990–1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für internationales und ausländisches Strafrecht in Freiburg (Forschungsgruppe Kriminologie). Seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminologie (Prof. Dr. Frieder Dünkel) und am Lehrstuhl für Kriminologie, Strafrecht, Strafprozessrecht und vergleichende Strafrechtswissenschaften (Prof. Dr. Stefan Harrendorf) an der Universität Greifswald.

Dr. Klemens Grube, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Internationales Finanzmanagement/Internationale Kapitalmärkte Geboren 1985 in Demmin. 2005–2009 Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. 2009–2011 Mitarbeiter im Referat Controlling und Statistik an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am o.g. Lehrstuhl. Promotion 2018. Prof. Dr. Stefan Habermeier, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Gesellschaftsrecht

Geboren 1960 in Frankfurt a.M.; Abitur 1979 in Washington D. C.; Studium der Rechtswissenschaften an der Universität des Saarlandes, Erstes und Zweites Juristisches Staatsexamen 1984 und 1989, Promotion 1988 und Habilitation 1996; Lehrstuhlvertretungen in Bonn, Köln und Greifswald 1996–1998; seit 1998 Lehrstuhlinhaber in Greifswald; Lehrtätigkeit in Straßburg (Frankreich) und Bergen (Norwegen); Mitglied zahlreicher juristischer Vereinigungen und Teilnahme am Riezlern Seminar on the Law of International Business Transactions.

272 Autorenverzeichnis Prof. Dr. Stefan Harrendorf, Lehrstuhl für Kriminologie, Strafrecht, Strafprozessrecht und vergleichende Strafrechtswissenschaften Geboren 1976 in Hannover; Abitur 1995. Studium der Rechtswissenschaften 1995–2001 an der Universität Göttingen, wissenschaftlicher Mitarbeiter 2001– 2005 ebenda. Rechtsreferendariat in Berlin 2005–2007. Promotion 2007; Auszeichnung mit dem Fakultätspreis. Wissenschaftlicher Assistent in Göttingen 2007–2015, Habilitation 2015. Berater beim United Nations Office on Drugs and Crime 2009/10. Seit 2015 Lehrstuhlinhaber in Greifswald. Prof. Dr. Hans-Georg Knothe, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte

Geboren 1943 in Lodz. Übersiedlung aus der DDR nach Bonn 1956; dort Abitur 1964. Rechtsstudium in Bonn. Erste und Zweite juristische Staatsprüfung 1969 und 1973. Juristischer Vorbereitungsdienst 1970–1973. Richter 1974–1976. Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Köln 1976–1987. Promotion 1980 und Habilitation 1985. Lehrstuhlvertretung in Osnabrück 1985/86. Rechtsanwalt in Köln 1987–95. Lehrstuhlinhaber 1995–2008, dann Lehrstuhlvertreter in Greifswald bis 2009. Ruhestand seit 2009.

Prof. Dr. Jürgen Kohler, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht

Geboren 1953 in Langenfeld/Rhld., Abitur 1971, rechtswissenschaftliches Stu­ dium in Tübingen und Köln, Erstes und Zweites Juristisches Staatsexamen 1977 und 1979. Promotion 1983 und Habilitation 1988 in Köln. Lehrstuhlinhaber Universität Konstanz 1989–1991 und Universität Greifswald 1991–2018. Rektor der Universität Greifswald 1994–2000. Zahlreiche Funktionen in Wissenschaftspolitik und Qualitätssicherung; u.a. Vorsitz im Akkreditierungsrat, Mitglied im Hochschulausschuss des Europarats, Leiter von Audit-, Evaluations- und Akkreditierungskommissionen. Seit April 2018 im Ruhestand.

Prof. Dr. Jan Körnert, Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Internationales Finanzmanagement/Internationale Kapitalmärkte

Geboren 1964 in Leipzig; Übersiedlung aus der DDR nach Kassel 1982, Abitur 1985, Bankkaufmann 1987. Studium der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre an der Universität Göttingen und der University of Kent at Canterbury (England); Dipl.-Kfm. 1993. Verschiedene Tätigkeiten bei Banken in Frankfurt, Wien, New York und Hong Kong. Promotion 1998 und Habilitation 2003 an der TU Berg­ akademie Freiberg. Seit 2003 Lehrstuhlinhaber in Greifswald; Gastprofessuren in Istanbul, Joensuu, Moskau, Riga und Vilnius.

Prof. Dr. Heinrich Lang, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht

Geboren 1955 in Pirmasens; Zivildienst; Studium der Sozialpädagogik an der FH München, Diplomprüfung 1982. Praktische Tätigkeit in der Jugend- und Erwachsenenbildung. Jurastudium in Köln 1984–1990, Erste und Zweite Juristische Staatsprüfung 1990 und 1994. Promotion 1996; Habilitation an der Universität zu Köln 2003. Lehrstuhlinhaber in Rostock 2004–2010. Seit 2010 Lehrstuhlinhaber in Greifswald. Dekan 2012–2014; 2016–2018 Mitglied des Akademischen Senats; seit 2018 ordentliches Mitglied der Ethikkommission an der Universitätsmedizin Greifswald.

Autorenverzeichnis273 Prof. Dr. Joachim Lege, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte, Rechts- und Staatsphilosophie

Geboren 1957 in Lübeck; Abitur 1976. Grundwehrdienst. Studium der Rechtswissenschaft in Bielefeld und Freiburg. Staatsexamina 1982 und 1986. Rechtsanwalt in Freiburg, Assistent an der Universität Erlangen. Promotion 1994, Habilitation 1997. Lehrstuhlvertretungen in Freiburg und Bielefeld. Professor für Öffentliches Recht in Dresden 1998. Seit 2003 Lehrstuhlinhaber in Greifswald. Seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Juristen-Fakultätentags.

Prof. Dr. Walter Ried, Lehrstuhl für Allgemeine Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft Geboren 1959 in Mainz; Abitur 1978, Grundwehrdienst. Studien am University College at Buckingham, Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim 1980–1986. Promotion 1992; Habilitation ebenda 2002. Seit 2003 Lehrstuhlinhaber in Greifswald. Seit 2011 Mitglied im Editorial Board von „Public and Municipal Finance“. Von 2013 bis 2017 Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheitsökonomie beim Verein für Socialpolitik. Prof. Dr. Michael Rodi, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanzrecht, Umwelt- und Energierecht

Geboren 1958 in München; Studium der Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Konstanz, München und Paris. Promotion 1993; Habilitation in den Fächern Öffentliches Recht, Steuerrecht und Europarecht an der Universität München 1998. Seit 1999 Lehrstuhlinhaber an der Universität Greifswald. Seit 2009 Direktor des Instituts für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM) in Greifswald und Berlin.

Prof. Dr. Boris Schinkels, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales und Europäisches Privatrecht sowie Rechtsvergleichung

Geboren 1971 in Mönchengladbach; Abitur 1991, Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld; Erstes und Zweites Juristisches Staatsexamen 1996 und 2001. Promotion 2001; Master of Law (LL. M.) an der University of Cambridge (England) 2002; Habilitation an der Universität Heidelberg 2007. Lehrstuhlvertretungen in Heidelberg 2007 und Greifswald 2007/08; seit 2008 Lehrstuhlinhaber in Greifswald.