Heidegger in seiner Zeit. 3770533909, 9783770533909

351 47 57MB

German Pages [300] Year 1999

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Heidegger in seiner Zeit.
 3770533909, 9783770533909

Citation preview

Otto Pöggeler

Heidegger in seiner Zeit

Wilhelm Fink Verlag

6

Inhaltsverzeichnis II. Ethik im Zeitalter der Weltkriege

160

III. Ein deutscher Sonderweg?

165

2. Existenziale Anthropologie

174

3. Die Stimme des Volkes

187

D. Politik und Technik 1. Philosophie und Nationalsozialismus - am Beispiel Heideggers I. Auseinandersetzungen um Heidegger II. Der Weltbürgerkrieg III. Geist und Ungeist IV. Auschwitz

195 196 199 207 213

2. Heidegger und die politische Philosophie I. Aristoteles II. Nietzsche III. Geist und Intelligenz

217 219 224 227

3. Wächst das Rettende auch? Heideggers letzte Wege I. Zwei späte Texte IL Technik und Politik III. Die Kunst und das Rettende

233 236 239 244

E. Religion und Kunst 1. Martin Heidegger und die Religionsphänomenologie I. Phänomenologie als Hermeneutik II. Das Heilige

249 252 257

2. Philosophie und Theologie in „Sein und Zeit"

265

3. Der I. IL III. IV.

277 280 284 287 290

hermeneutische Zugang zum Bild Die Sixtinische Madonna Die Schuhe van Goghs Klees Wegweisung Zustand und Bild

Nachweise

295

Bibliographie

297

Personenregister

299

Einleitung Martin Heidegger hat immer wieder betont, jeder große Denker denke in seiner geschichtlichen Stunde immer nur einen einzigen Gedanken. In der Zeit des Angefochtenseins, 1947, formulierte er in seinem „Hüttenbüchlein" Aus der fahrung des Denkens: „Denken ist die Einschränkung auf einen Gedanken, der einst wie ein Stern am Himmel der Welt stehen bleibt." Für sich selbst beanspruchte Heidegger ein „dichtendes Denken" und bestimmte es als „Topologie des Seyns". Einige Jahre später stellte Heidegger das abendländische Denken in die Notwendigkeit des Gesprächs mit der ostasiatischen Tradition. Dabei hielt er in dem Gespräch von der Sprache mit einem Japaner fest, daß ihn die Frage nach dem Sein „datumsmäßig" schon in seiner Gymnasialzeit, im Sommer 1907, getroffen habe, nämlich bei der Lektüre der Dissertation Franz Brentanos über die mannigfache Bedeutung des Seienden nach Aristoteles. Er berief sich auf ein Wort aus Hölderlins Rhein-Hymne, das er in der alten Schreibweise wiedergab: „... Denn / Wie du anfiengst, wirst du bleiben". In seinem Dank an den Verleger Niemeyer Mein Weg in die Phänomenologie von 1963 sagte Heidegger noch einmal mit einem Psalmwort, die Dissertation Brentanos sei ihm „zum Stab und Stecken" seiner unbeholfenen Versuche geworden, in die Philosophie einzudringen.1 Blickt man auf Heideggers Weg im ganzen, dann wird nur zu sehr deutlich, daß dieser Hinweis auf die Dissertation Brentanos den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg geschuldet ist; so gibt Heidegger auch an, er habe das Buch von seinem väterlichen Förderer, dem späteren Freiburger Erzbischof Gröber bekommen. Damals ging es darum, in einer neuen heiligen Allianz von Theologie und Philosophie den Irrweg der Deutschen zum Abgrund hin aufzuarbeiten und rückgängig zu machen. Der junge Heidegger hat in Wirklichkeit neuscholastische Tendenzen mit dem Neukantianismus seines Lehrers Rickert verbunden. So konnte er in seiner Dissertation mithelfen wollen, die Logik aus dem Psychologismus zu befreien. Die Unterscheidung des Logischen und Psychischen führte zu der höchsten philosophischen Aufgabe, der metaphysischen Strukturierung der Ontologie und Logik: der Gliederung des „Gesamtbereichs" des Seins „in seine verschiedenen Wirldichkeitsweisen". Zur Logik kam das Verhältnis von Logik und Sprache. Zeitweilig wurde der junge Doktor als Kan-

Aus der Erfahrung des Denkens 76, 84; Unterwegs zur Sprache. 92 f.; Zur Sache des kens. 81 - Zum folgenden vgl. Die Lehre vom Urteil im Psychologismus Leipzig 1914. 108; Hugo Ott: Martin Heidegger. Unterwegs zu setner Biographie. Frankfurt (Main) 1988. 82.

8

Einleitung

didat für den Freiburger Konkordatslehrstuhl ins Auge gefaßt. Der theologische Freund Krebs verwies ihn deshalb auf Dietrich von Freiberg, doch setzte sich der universitätspolitisch wichtige Historiker Finke durch, der Duns Scotus bearbeitet sehen wollte. Heidegger mußte sein eigenes Ziel, gemäß seinen Studien in der Mathematik über die Logik des Zahlbegriffs zu arbeiten, aufgeben. Er mußte in kürzester Zeit eine Habilitationsschrift über einen Traktat von Duns Scotus oder in Wahrheit von einem Pseudo-Duns Scotus erarbeiten, der das Seiende und sein Erkanntsein, so Erkennen und Sprache verbindet (also den modus essendi mit dem modus intelligendi, diesen dann mit dem modus significandi). Die universitätspolitischen Bestrebungen gingen an Heidegger zu seinem Glück vorbei; so konnte er seiner Habilitationsschrift bei der Veröffentlichung noch einen Abschnitt mit einem Hinweis auf die neuesten philosophischen Tendenzen anfügen, welche Hegel ins Spiel gebracht hatten. Heideggers zeitweilige Ausbildung zum katholischen Theologen brachte es mit sich, daß der mittelalterliche Aristotelismus am Anfang seines Denkens stand. Doch waren die neukantischen und andere moderne Gedankengänge mit im Spiel. Niemals hat Heidegger in der Zeit nach seiner Dissertation und Habilitation noch zugestanden, daß Thomas von Aquin in seiner Seinslehre die Seinsfrage überhaupt gesehen habe. Es gab durchaus einen sachlichen Zwang dafür, daß Heidegger sich der Phänomenologie Husserls anschloß, die ohne traditionelle Vorgaben von dem ausging, was sich als Phänomen wirklich zeigt. Doch sah Heidegger anders als Husserl im Sein nicht den Weg zum Phänomen, sondern dieses selbst. Damit aber hatte das Sein eine neue Fraglichkeit erhalten. In dem Gespräch mit dem Japaner betonte Heidegger seine theologische Herkunft. Das Verhältnis zwischen Sprache und Sein habe ihn damals auch umgetrieben als Frage nach dem Verhältnis „zwischen dem Wort der Heiligen Schrift und dem theologisch-spekulativen Denken". Herkunft bleibe stets Zukunft. „Ohne diese theologische Herkunft", so sagte Heidegger, „wäre ich nie auf den Weg des Denkens gelangt."2 Heidegger folgte bald dem abtrünnigen Theologen Franz Overbeck, der auf die eschatologische Enderwartung im urchristlichen Glauben verwies und diesen von jedem Bezug auf Wissenschaft und von jeder Absicht auf „Theologie" löste. Heidegger hatte wenig Verständnis dafür, daß sein Gesprächsfreund Karl Jaspers diese radikale Infragestellung der abendländischen Überlieferung in sein existenzielles Philosophieren kaum einbezog. Der theologischen Herkunft war geschuldet, daß Heidegger nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Sommer 1923 als Assistent Husserls in Freiburg eine „hermeneutische" Phänomenologie vortrug. Er wollte diese Phänomenologie in einer Arbeit über Aristoteles vorstellen. Als der junge Privatdozent für Berufungen diskutiert wurde, sandte er an Georg Misch in Göttingen und an Paul Na-

Unterwegs zur Sprache. 96. - Zum folgenden vgl. Phänomenologische Interpretationen zui Aristoteles. In: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989). 235 ff.

Einleitung

9

torp in Marburg einen Arbeitsbericht. Dabei machte Heidegger mit aller Entschiedenheit deutlich, daß er Aristoteles von jenem Theologen her aufschließen wollte, der den Aristotelismus gehaßt hatte: vom jungen Luther her! Weder bei Husserl noch bei Misch und Natorp konnte Heidegger ein wirkliches Verständnis für diesen Ansatz erwarten; aber er hatte eine starke Rückendeckung in der neuen dialektischen Theologie, die mit Karl Barth und Friedrich Gogarten die „liberale" Theologie stürzte. Zweifellos ist dieser Heidegger es, der zum ersten Male junge Leute, die eigentlich zu Husserl kamen, auf neue Wege zog. So wurden diese Jahre in Freiburg nach dem Ersten Weltkrieg zur schönsten und erregendsten Phase der phänomenologischen Philosophie. Als 1946 in der Schweiz und in Deutschland Wilhelm Szilasis Piaton- und Aristoteles-Interpretationen Macht und Ohnmacht des Geistes erschienen, besagte es außerhalb Freiburgs wenig, daß man dem Buch den Vorwurf des Plagiats machte. Was zählte, war der Hinweis auf das Mit- und Gegeneinander von Husserl und Heidegger in Freiburg nach 1918. Husserls „kühle Sachlichkeit, die von intensiver Leidenschaft getragen war", habe die Philosophie von bloßer Spekulation oder Gelehrsamkeit getrennt und auf die Sachen verpflichtet. Heideggers „geniale Tiefgründigkeit" habe die „Dämonie der Philosophie" vorgeführt. „Er hat die Verantwortung für die ganze Geschichte der Philosophie übernommen. Darum konnte jede Frage seine Frage sein".' Heidegger hatte in diesen frühen Freiburger Jahren in Julius Ebbinghaus einen Gesprächspartner und Freund. (Ebbinghaus, die Idee seines Vaters - des Psychologen und Dilthey-Gegners - in ihrem Anderssein, war damals noch nicht der spätere strenge Kantianer.) Ihm berichtete Heidegger am 4. Januar 1924 nach Freiburg, daß der Neutestamentier Rudolf Bultmann in Marburg „der einzige" sei, von dem er noch lernen könne. „Im Sommer lese ich Augustinus vierstündig und im Winter will ich dann an die Hermeneutik der historischen Wissenschaften."4 Doch las Heidegger dann im Sommer 1924 über Aristoteles (wohl seine schönste Vorlesung), im Winter 1924/25 über Piatons Sophistes. Begonnen hatte er in Marburg mit der Auseinandersetzung mit Descartes und dem Beginn der neuzeitlichen Philosophie. Die Aristoteles-Vorlesung vom Winter 1925/26 ging in einem dramatischen Bruch über zu Kant. In dessen Lehre vom Schematismus der Vernunft fand Heidegger einen Anstoß für seine eigene Verflechtung von Vernunft und Zeit. Mit Husserl arbeitete Heidegger noch 1927 zusammen an dessen Phänomenologie-Artikel für die Encyclopaedia Britannica. War die Auseinandersetzung mit Piaton, Descartes und

'

4

Vgl. Wilhelm Szilasi: Macht und Ohnmacht des Geistes Bern (und Freiburg i. Br.) 1946. 7 ff. - Über Heidegger und Szilasi vgl. Hugo Ott Um die Nachfolge Martin Heideggers nach 1945 In: Philosophie und Poesie (Festschrift für O. Pöggeler). Hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert. Stuttgart 1988. Band 2. 37 ff., vor allem 50 ff. Leider sind diese Briefe noch nicht veröffentlicht worden. - Zum folgenden vgl. Piaton: Sophistes Frankfurt a. M. 1992; vgl. dazu O Pöggeler Hölderlin, Schelling und Hegel hei Heidegger. In: Hegel-Studien 28 (1993). 327 ff., vor allem 344 ff.

10

Einleitung

Kant aber nicht die endgültige Absetzung von Husserls transzendentaler Phänomenologie? Was von Piaton gestiftet, von Descartes aufgenommen wurde, sollte nach Heidegger bei Kant im Problem der Zeit seinen Abgrund offenlegen. Suchten die Griechen in der klassischen Grundlegung der Philosophie in allem Seienden das Sein, so wollte die Neuzeit das Sein als Gegebensein kritisch rechtfertigen. Doch die ungenügende Zeiterfahrung zeigte das Ungegründete der Geschichte des Denkens überhaupt. So kann Sein und Zeit die Notwendigkeit der Destruktion immer noch so angeben: Das Sein werde als ousia gedacht, damit als Anwesenheit; Anwesenheit aber sei als Gegenwart nur einseitig durch einen Zeitmodus bestimmt. Deshalb müsse neu nach Sein und Zeit gefragt werden (S. 25). Heidegger widmete Sein und Zeit Husserl und begründete eigens den Dank an den Lehrer (S. 38 u. ö.). Doch kann Heidegger auch lapidar festhalten, die Blickrichtung der Analyse des Daseins auf die Sorge hin sei ihm erwachsen „im Zusammenhang der Versuche einer Interpretation der augustinischen - das heißt griechisch-christlichen - Anthropologie mit Rücksicht auf die grundsätzlichen Fundamente, die in der Ontologie des Aristoteles erreicht wurden" (S. 199). Immer wieder werden die Anstöße vermerkt, die große Theologen wie Calvin und Zwingli, Pascal und Kierkegaard gaben. Von der Theologie wird verlangt, sie solle Luthers Einsicht in die Unzulänglichkeit ihres „Fundaments" nachvollziehen (S. 10). Entscheidend bleibt, daß Heidegger erst bei der Abfassung seines Buches dem dritten Abschnitt zum leitenden Thema eine neue Fassung der Schematismus-Problematik gab. Er setzte im Sommer 1927 neu zur Erarbeitung dieses Abschnittes an, brach schließlich seine Bemühungen aber ab und verbrannte dann selbst noch die Aufzeichnungen. Man kann Sein und Zeit nicht als ein vollständiges Werk fassen: nicht als eine Existenzphilosophie parallel zur Existenzphilosophie von Jaspers, aber auch nicht als eine Fundamentalontologie etwa in Analogie zum späten Schelling oder späten Fichte, die das Unvordenkliche in die Grundlegung des Denkens einbeziehen.' Zu Recht beschwert Heidegger sich in einem Zettel zu seinem Kant-Buch, daß man mit der Ausrichtung seines Fragens auf den entscheidenden dritten Abschnitt von Sein und Zeit nicht mitging und das Kant-Buch nicht als „Zuflucht" nahm in einem Unterwegs. Heidegger hatte mit Husserl Schelers Zeitnähe und das „gnostische" Theologisieren abgelehnt, doch dann eine neue Nähe gerade zu Schelers Spätphilosophie gewonnen. Muß nicht ein transzendentalphilosophischer Ansatz fragen, welche Stellung das transzendentale Ich in der Welt der Menschen und im Kosmos hat? Nach den Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs mußte man in Frankreich wie in Deutschland erörtern, wie der Mensch als Geist zum Leben in ihm und außer ihm sich verhalte. Pragmatistische Motive wurden aufgenommen,

Vgl. dazu Dietmar Köhler: Martin Heidegger Die Schematisierung des Seinssinnes Bonn 1993. - Zum folgenden vgl. Kant. XII.

Einleitung

11

wenn das Erkennen auf die Arbeit des Menschen (und damit auf die Technik) bezogen wurde. Noch in seiner letzten Marburger Vorlesung betonte Heidegger nach dem plötzlichen Tode Schelers seine Nähe zu dessen Bemühungen. Die Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 versuchte den neuen Ansatz kritisch zu fassen. Heideggers Gefährte im Studium bei Husserl, Oskar Becker, fragte aber bald, ob Heidegger nicht phänomenblind bleibe gegenüber den mathematischen Gebilden und der ästhetischen Sphäre, aber auch gegenüber dem Unbewußten, das sich nur indirekt fassen läßt.6 Ist die Ausrichtung auf das eine „Sein", diese Ontologisierung als neue Scholastik, nicht einseitig und verfehlt? Trotz aller Invektiven gegen die Universität ist Heidegger wohl zu dem größten philosophischen Lehrer nach Hegel geworden. In Marburg hatte er einen gemeinsamen Schülerkreis mit Rudolf Bultmann. Als Sein und Zeit erschienen war, kritisierte Heideggers ältester Schüler, Karl Löwith, das Werk als Säkularisierung von christlichen Motiven. (Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte Löwith nach seinen japanischen und amerikanischen Erfahrungen eine bleibende „Natur" gegen das geschichtliche Denken ausspielen.) Gerhard Krüger fand über Kants Postulatenlehre zurück zur metaphysischen Tradition (und konvertierte wie der Bultmann-Schüler Heinrich Schlier schließlich zum Katholizismus). Hans-Georg Gadamer nahm Heideggers Platon-Interpretation auf, um sie dann zu einem anderen Ziel zu führen. (Bei ihm führte die Verbindung der Hermeneutik-Vorlesungen vom Sommer 1923, die er hören konnte, mit dem späteren Vortrag über den Ursprung des Kunstwerks zu einer philosophischen Hermeneutik.) Hans Jonas arbeitete als Schüler von Bultmann und Heidegger am Beispiel der Gnosis aus, wie eine existenziale Interpretation geistesgeschichtliche Zusammenhänge auf leitende Motive der Existenz zurückführen kann. (Später sollte Jonas, in Sorge um das bedrohte Leben auf dieser Erde, Heidegger der weltflüchtigen Gnosis zeihen.) Hannah Arendt arbeitete bei Heidegger und Jaspers über Augustinus; sie wollte nach der Promotion das Schicksal jüdischer Frauen am Beispiel der Rahel Varnhagen aufzeigen. Die Ereignisse nach 1930 führten sie dazu, den politischen Bereich in seiner Eigenständigkeit zu entdekken. (Sie wollte später nicht mehr unter die Philosophen gezählt werden, da diese nach ihrer Auffassung seit Piaton blind sind für wirkliche Politik.) Konnte der Marburger Gesprächskreis Heidegger aber nicht auch von seinem eigenen Weg ablenken? Als man seinen Vortrag über Phänomenologie und Theologie zusammen mit einem parallelen Vortrag Bultmanns veröffentlichen wollte, lehnte Heidegger schroff ab: Er habe entsprechend der Marburger Situation nur zu zeigen versucht, was ein Theologe von der Phänomenologie lernen könne. Doch mit dieser Aufgabenstellung, so schrieb er am 8. August 1928 an Elisabeth Blochmann, komme er als Philosoph in ein schiefes Licht. Seine Vgl. O Pöggeler Hermeneutische und mantische Phänomenologie. In: Heidegger spektiven zur Deutung seines Werks Hrsg. von O. Pöggeler. 3. Aufl. Weinheim 1994. 321 ff.

12

Einleitung

Bemühungen erschienen als eine Apologie der christlichen Theologie, obwohl er als Philosoph es mit der Religion überhaupt und ihrem Unterschied zur Philosophie zu tun habe. Immer noch glaubte Heidegger (mit Overbeck), daß die Theologie überhaupt keine Wissenschaft sein könne (also eher in die Nähe des Mythos gehöre). „Zwar bin ich", so schrieb er, „persönlich überzeugt, daß Theologie keine Wissenschaft ist - aber ich bin heute noch nicht im Stande, das wirklich zu zeigen und zwar so, daß dabei die große geistesgeschichtliche Funktion der Theologie positiv begriffen ist." Er betonte, daß sein letztes Marburger Kolleg „ein neuer Weg" gewesen sei.7 Als Heidegger längst wieder in Freiburg lehrte, schrieb er am 24. Juli 1931 an Jaspers, er brauche (nach dem Weggang von Becker nach Bonn) einen neuen Assistenten. „Eigene .Schüler' habe ich nicht und wünsche eigentlich etwas anderes." Er nahm dann Werner Brock, weil dieser über Nietzsche gearbeitet hatte; doch mußte Brock 1933 als Jude nach England emigrieren. Statt mit Theologen gelehrt über exegetische Fragen zu diskutieren, ging Heidegger wieder für stille Wochen der Besinnung ins heimatliche Benediktinerkloster Beuron. Als er die liberale Protestantin Blochmann dorthin geführt hatte, verteidigte er sich am 12. September 1929: wenigstens „die mythische und metaphysische Urgewalt der Nacht" müsse sie in der Complet erfahren können. Wie sehr Heidegger in eine andere Welt eintrat, zeigt sich daran, daß er ihr am 25. Mai 1932 Texte von Bachofen empfahl, die Alfred Baeumler in einer Reihe Rothackers herausgegeben hatte. Am 22. Juli dieses Jahres wollte er Brüning und die Zentrumspartei nicht parteipolitisch sehen, sondern aus der Konstellation Rom-Moskau. Dem westlichen Liberalismus, den auch die katholische Partei nutzte, und dem östlichen Kommunismus werden dann die Griechen entgegengesetzt, denen allein die Deutschen gewachsen seien. Als Elisabeth Blochmann Aufnahmen aus Griechenland gesandt hatte, schrieb Heidegger am 19. Januar 1933 aus seinem Urlaubssemester: „Die Trümmer der griechischen Tempel und Götterbilder sind wie die Reste und Fetzen der alten Sprüche ihrer Philosophen." Gerade am Fragmentarischen der Überlieferung könne sich der Kampf um einen neuen Anfang entzünden und die „Heutigen" als ein „Gezwerge" (wie Heidegger mit Nietzsche sagt) hinwegfegen. Heideggers Aristoteles-Vorlesung vom Sommer 1931 beschwor im Motto mit Nietzsche das „schrittweise Wiedergewinnen des antiken Bodens". Brentanos Festlegung des Aristoteles auf die mittelalterlich-lateinische Rezeption war damit aufgegeben. Der Leitbegriff konnte nicht mehr eine ousia sein, die dann als Substanz gefaßt und durch die Analogie des Seins in die Hinordnung auf ein höchstes Seiendes gestellt wurde. Heidegger wies die Polemik Schelers zurück, er habe Piaton (den Staatsmann) und Aristoteles (den Sohn eines Mediziners) vom Handwerker her gesehen und so das Sein der Griechen als Hergestelltsein gefaßt.8 Er wollte überhaupt nicht mehr die Theorie durch die handwerkliche 7 8

Vgl. Heidegger-Blochmann. 24 f.; zum folgenden Heidegger-Jaspers. 140. Vgl. Aristoteles, Metaphysik Theta 1-3 Frankfurt a. M. 1981. 137.

Einleitung

13

Praxis brechen, den selbstvergessenen Umgang mit Zeug dann zur Annahme der Sterblichkeit im Gewissen führen. Mit dem Vortrag Vom Wesen der Wahrheit suchte er nicht mehr den Sinn, der entworfen wird, sondern die Wahrheit, die aufbricht und geschieht. Ihr Am-Werk-sein muß durch das Werk der geschichtlichen Gemeinschaft eines Volkes die Orientierung im Wohnen auf der Erde geben. Wenn Nietzsche zurückführen wollte zum tragischen Zeitalter der Griechen, so suchte Heidegger mit Hölderlin die Tragödien des Sophokles neu zu deuten. Sicherlich unterlag Heidegger kurze Zeit dem Irrtum, Hitler werde die Deutschen retten vor der andrängenden Technisierung und Nivellierung. Doch schon im Winter 1934/35 sollte Hölderlin zeigen, wie eine Revolution, die nicht nur politisch sein dürfe, überhaupt in Gang komme. Als Jaspers Heidegger Vorträge gesandt hatte, nahm dieser am 1. Juli 1935 die Korrespondenz wieder auf. Er habe sich, so schrieb er, sehr gefreut: „denn die Einsamkeit ist nahezu vollkommen". In der Vorlesung dieses Sommers hatte Heidegger versucht, sich das Schicksal des Wörtchens „ist" in den indogermanischen Sprachen zu vergegenwärtigen (ein Weg der Erörterung, der viele Jahre später sprachgeschichtlich und sprachanalytisch aufgenommen wurde). 9 So konnte Heidegger an Jaspers schreiben: „Bei mir ist es - um davon zu reden - ein mühsames Tasten; erst seit wenigen Monaten habe ich den Anschluß an die im Winter 32/3 (Urlaubssemester) abgerissene Arbeit wieder erreicht; aber es ist ein dünnes Gestammel..." Heidegger spielte dann auf die Rede des Apostels Paulus vom Pfahl im Fleisch an: „und sonst sind ja auch zwei Pfähle - die Auseinandersetzung mit dem Glauben der Herkunft und das Mißlingen des Rektorats - gerade genug an solchem, was wirklich überwunden sein möchte." Er sandte Jaspers seinen Versuch, wie seinerzeit Hölderlin das erste Standlied aus der Antigone des Sophokles zu übersetzen. Das „Samenkorn" Beuron schien ihm offensichtlich aufgegangen zu sein in solchen Hymnen, die vom Schicksal des Menschen auf dieser Erde sprechen. Am 20. Dezember 1935 sandte Heidegger seinen Vortrag über den Ursprung des Kunstwerks an die Emigrantin Elisabeth Blochmann nach Oxford. Er sagte von seinem Manuskript: „Zeitlich stammt es aus der glücklichen Arbeitszeit der Jahre 1931 und 32 - wohin ich jetzt den gereifteren Anschluß wieder voll erreicht habe." Der Ansatz zu diesem Vortrag war in den Jahren 1931/32 gewonnen worden; ausgearbeitet wurde der Vortrag und dann die Vortragsfolge in verschiedenen Fassungen für Zürich, Freiburg und Frankfurt im Anschluß an die Hölderlin-Vorlesung 1935 und 1936. Doch 1936 bis 1938 schrieb Heidegger das, was man sein zweites oder gar sein eigentliches Hauptwerk nennen muß: die Beiträge zur Philosophie. In ihnen kann der Kunstwerk-Vortrag nur als Ab-

Vgl. meinen Hinweis auf die unterschiedlichen Arbeiten von Charles H. Kahn und Ernst Tugendhat: Der Denkweg Martin Heideggers. 3. Aufl. 1990. 304 ff. - Zum folgenden vgl. O. Pöggeler: Übersetzung als Zwiesprache? Sophokles - Hölderlin - Heidegger. In: Zwiesprache (Festschrift für Bernhard Böschenstein). Hrsg. von Ulrich Stadler. Stuttgart, Weimar 1996. 77 ff.

14

Einleitung

handlung über eine Einzelfrage auftauchen. Gegenüber seinen Schülern hat Heidegger strikt von seinem Manuskript geschwiegen. Als ich 1963 aus dem Manuskript zitiert hatte, sprach Walter Broker deshalb von Heideggers „Geheimwaffe". Doch ließen Heideggers Anordnungen, das Manuskript erst lange nach seinem Tode zu edieren, es doch zu, daß es 1989 zu seinem hundertsten Geburtstag erschien. Längst hatte z. B. die Freiburger Schule des Politikwissenschaftlers Arnold Bergsträsser die Politik mit Aristoteles und Heidegger vom Werk der Institutionen her gedeutet. Nach Vorliegen der Beiträge mußte Alexander Schwan von seinen Voraussetzungen aus Heideggers Grundeinstellungen einer schroffen Kritik unterziehen. Offensichtlich verrechnete Heidegger das Christliche mit der Vergangenheit; eine „moralische" Einstellung schien er nicht zuzulassen.10 Dagegen hat Friedrich-Wilhelm von Herrmann anerkannt, daß die Beiträge Heideggers zweites Hauptwerk sind und die bleibende Grundlage für die späteren Denkwege legen. Werden die Beiträge aber nicht immer skizzenhafter, so daß gerade die entscheidende Erörterung des „Vorbeigangs des letzten Gottes" nur angedeutet wird? Von Hölderlin her wird in ihnen das versucht, was man später mit einem Titel, den Heidegger streng mied, eine „neue Mythologie" nannte. Hatte Heidegger seine früheren Ausarbeitungen verbrannt, so schrieb er seit den Beiträgen Jahr für Jahr umfangreiche Manuskripte und überantwortete sie dem Nachlaß. Die erste Weiterführung der Beiträge, die Besinnung, enthält als Anhang auch das Manuskript Ein Rückblick auf den Weg von 1937/38. Selbstverständlich wird Brentanos Dissertation über Aristoteles hier nicht genannt. Vielmehr sagt Heidegger, daß er in einer unklaren Vorliebe für Lotze in der Dissertation und Habilitationsschrift Geltung und Wahrheit und damit das Verhältnis der Grundkategorien zur Sprache erörtert habe. Die Auseinandersetzung mit Aristoteles und die Nähe zu Dilthey habe zur Geschichte geführt und die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls geprägt. Die Jahre 1920 bis 1923 hätten zu einer Ontologie des Daseins geführt; seit 1922 sei Sein und Zeit entstanden. Diese Rückbesinnung gehört in die Zeit einer Krise und Krankheit. Fortan beschränkte Heidegger sich darauf, mit den frühesten griechischen Philosophen und mit Hölderlins spätesten Hymnenfragmenten kleine Anfänge in der Zeit der technischen Weltbemächtigung und kriegerischen Erschütterung zu suchen." Das Manuskript Das Ereignis von 1941/42 10

Vgl. Alexander Schwan Heideggers „Beiträge zur Philosophie" und die Politik. In: Martin Heidegger Kunst - Politik - Technik. Hrsg. von Christoph Jamme und Karsten Har ries. München 1992. 175 ff. - Zum folgenden vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann Wege ins Ereignis Zu Heideggers „Beiträgen zur Philosophie". Frankfurt a. M. 1994. 1 ' Vgl. Besinnung. Frankfurt a. M. 1997. 409 ff. Vgl. ferner O Pöggeler Von Nietzsche zu Hitler? Heideggers polnische Optionen. In: Annäherungen an Martin Heidegger (Festschrift für Hugo Ott). Hrsg. von Hermann Schäfer. Frankfurt/New York 1996. 81 ff. Vgl. auch Marion Heinz, Theodore Kisiel Heideggers Beziehungen zum Nietzsche-Archiv im Dritten Reich Ebenda 103 ff. - Nach Derrida bleibt Heideggers Verwendung Nietzsches selber der Metaphysik und deren Identitätsdenken verhaftet; vgl. dazu Ernst Behler: Derrida - Nietzsche Nietzsche - Derrida München, Paderborn, Wien, Zürich 1988.

Einleitung

15

würde wohl niemand unmittelbar dem Verfasser der Beiträge zusprechen. Etymologisierend dröselt es über Dutzende von Seiten den Sprachschatz um das Wort „Ereignis" auf. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, machte Heidegger wenn schon nicht Nietzsche selbst, so doch den Nietzscheanismus verantwortlich für Hitlers Weg zum Krieg. Die Abhandlung Piatons Lehre von der Wahrheit charakterisierte 1942 Nietzsche von dem her, was dieser doch hatte abstoßen wollen. Diese Abhandlung erschien 1947 zusammen mit einem Brief über den Humanismus. Mit diesem Brief hatte Heidegger sich im Herbst 1946 gegenüber französischen Freunden vom Existenzialismus Sartres als einer bloßen Umkehrung metaphysischer Wertungen distanziert. Statt der Destruktion forderte Heidegger eine „Kehre", in der das Denken einkehrt in das, was in der metaphysischen Tradition vergessen wurde: im Geheimnis als dem Quell jedes Aufbrechens von Wahrheit. Zu Anfang des Jahres 1950 lag der Sammelband Holzwege vor. Er zeigte Heideggers neue Wege: die Vortragsreihe über den Ursprung des Kunstwerks, die Kritik Nietzsches und auch des Nietzscheanismus von Rilke, den Anfang des Denkens bei Anaximander. Heidegger konnte Ende 1949 in der Freien Hansestadt Bremen unter dem Titel Einblick in das, was ist seine Gedanken vortragen und 1953 in München in der Auseinandersetzung mit Werner Heisenberg die entscheidende Pointe im Vortrag Die Frage nach der Technik wiederholen. Die Vorträge Identität und Differenz sowie die Vorlesung Der Satz vom Grund wurden 1957 unmittelbar nach dem Vortrag publiziert. In den beiden folgenden Jahren rundete Heidegger seine Erörterung der Gedichte Georg Trakls und sein Gespräch mit einem japanischen Gast über die Sprache zu dem Sammelband Unterwegs zur Sprache von 1959. Heidegger trug so nacheinander vor, was er sich in einsamer Arbeit im Zusammenhang erworben hatte. Schon 1947 hatte er seine Vier Hefte begonnen. Als Motto des ersten Heftes wählte er einen Satz, den Körner am 25. August 1797 gegenüber Schiller äußerte: „Aber Klarheit entsteht nur im Momente des Siegs". Doch Heidegger fügte als Kommentar hinzu: „Wie oft jedoch wird der Sieger blind und verstockt?" Lag die Einseitigkeit aber nicht eher auf Heideggers Seite? Im zweiten der Vier Hefte gibt Heidegger z. B. seinen „Beitrag zur Theologie des Alten Testamentes": ein Gott, der als „einziger" keinen Gott neben sich duldet, bleibe außerhalb des Gotthaften und der Gottheit; er sei nur ein Tyrann, „das Vor-bild aller menschlichen Diktatoren". Hier mußte nicht nur Martin Buber protestieren, die Schüler von Rads beanspruchten dennoch zuerst neben Hegel auch Heideggers Seinsgeschichte für eine Heilsgeschichte, die im Alten Testament den Begriff von Geschichte als Grundlage fand.12 Wenn Heidegger die Kunst 12

Vgl. Offenbarung als Geschichte In Verbindung mit R. Rendtorff U. Wilkens, T. Rendtorff hrsg. von Wolfhart Pannenberg. Göttingen 1961. Vgl. auch O Pöggeler: Heidegger und Bultmann Philosophie und Theologie. In: Heidegger - neu gelesen Hrsg. von Markus Happel. Würzburg 1997. 41 ff.

16

Einleitung

der Technik entgegenstellt, bezieht er sich nicht von ungefähr auf Werner Heisenbergs Versuch, im Zeitalter der technischen Anwendung der Physik (und dann auch der Biologie) zu einer einheitlichen Physik zu kommen. Heute wissen wir, daß Heisenberg scheiterte. So dürfen wir auch die Technik nicht als einen einheitlichen Block nehmen. Inzwischen spricht man überhaupt nicht mehr von der „Kunst", sondern etwa von „Installationen". Hat damit die Technik nicht über die Kunst gesiegt? Doch diese Installationen zeigen immer noch das, was Heidegger 1953 der Kunst als Aufgabe zusprach: jene Störung der technischen Apparatur, die über das bloß Technische hinausweist und dieses zum Problem macht. Karl-Otto Apel erwartete von Heidegger den Nachweis, daß nicht mehr die Erkenntnistheorie oder die Metaphysik uns zur Philosophie führt, sondern das Problem der Sprache. Er mußte entsetzt sein, als Heidegger in Unterwegs zur Sprache das Sprachproblem mit ein paar Dichterworten lösen wollte. Als ich Heidegger auf seinen Wunsch hin Apels Aufsätze zuleitete, resignierte er schließlich gegenüber dem neuen „Chinesisch". Zur Auseinandersetzung kam es von keiner der beiden Seiten her mehr. Als ich Heidegger die einzelnen Abschnitte meines Buches über seinen Denkweg bei ihrem Entstehen zuleitete, gestand er, daß er seinen Weg sicherlich nicht als eine Geschichte sehen und darstellen könnte. Trotzdem hat er sich gelegentlich zu didaktischen Äußerungen verleiten lassen, die entscheidende Stationen seines Weges angaben. In einem Seminar mit französischen Freunden in Le Thor in der Provence 1969 unterschied Heidegger zwischen der Frage nach dem Sinn von Sein im Umkreis von Sein und Zeit, der Frage nach der Wahrheit des Seins als Seinsgeschichte in den dreißiger Jahren, der Topologie des Seins als der späten Frage nach der „Lichtung". Schon im Winter 1969/70 hatte er in einem Heraklit-Seminar mit Eugen Fink festgehalten, die Wahrheitsfrage habe sich zwischen den ersten und den dritten Ansatz geschoben. Schon mit dem Vortrag Zeit und Sein von 1962 hatte Heidegger wieder anzuknüpfen versucht an den ausgebliebenen dritten Abschnitt von Sem und Zeit. Von der Wahrheit des Seins selbst als einer Geschichte konnte Heidegger deshalb nicht reden, weil Geschichte nur ein bestimmter Bereich des Seienden ist (etwa neben der Natur und den Gebilden der Mathematik); darüber kann auch die Verwendung der Rede vom Geschick nicht hinwegführen." Statt solche Periodisierungen seines Weges auszubauen, setzte sich Heidegger neuen Erfahrungen aus: den Bildern Paul Klees, der Lyrik Paul Celans. Als er sich 1967 in Athen mit einem Vortrag Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens von der Öffentlichkeit verabschiedete, hatte er seine Analysen der Konstellation der Zeit noch einmal neu formuliert: der „Kybernetik" des Industriezeitalters wur-

" Zur Erörterung dieser Stellen vgl. O. Pöggeler Heidegger und die hermeneutische sophie. Freiburg/München 1983. 61 f. Zum folgenden vgl. Heideggers Athener Vortrag in: Distanz und Nähe (Festschrift für Walter Biemel) Hrsg. von Petra Jaeger und Rudolf Lüthe. Würzburg 1983. 11 ff.

Einleitung

17

de die Göttin Athene entgegengestellt, die mit dem Ölbaum als ihrem Geschenk ein Land bewohnbar werden läßt. Als Martin Heidegger schließlich doch noch selbst sich damit befaßte, eine Ausgabe seiner Arbeiten zu planen und zu beginnen, hat er durch ein Vorwort in diese vorläufige „Gesamtausgabe" einführen wollen. Wenige Tage vor seinem Tod hat er sich auf das Motto „Wege - nicht Werke" beschränkt. Bezeichnend ist, daß Heidegger hier den „Werken" nicht den Weg seines Denkens entgegenstellt, sondern Wege im Plural. Aufzeichnungen aus dem geplanten Vorwort (die im Prospekt zur Gesamtausgabe mitgeteilt wurden), betonen dennoch die Ausrichtung auf die Seinsfrage bzw. den Schritt zurück in das, was dem Seinsdenken vorenthalten war. Die Gesamtausgabe solle „auf verschiedene Weisen" ein „Unterwegs im Wegfeld des sich wandelnden Fragens der mehrdeutigen Seinsfrage" zeigen. Der Leser wird dennoch manches, was ihm am Herzen liegt, in dieser Gesamtausgabe vermissen. Er wird vor allem den eigenen Ort des Denkens in das Wegfeld Heideggers einbringen und dann Gewinn und Verlust der Wege abwägen. Hätte Heidegger bei seinen logischen Untersuchungen nicht stärker die Orientierung an Husserl durchhalten sollen? Hätte er nicht in der neugewonnenen Nähe zu Schelers metaphysischer Fragestellung bleiben können? Mußte wirklich der Ansatz der Betträge sofort wieder zurückgenommen werden auf die Frage nach unscheinbaren Anfängen? Wenn die folgenden Vorträge und Aufsätze Heidegger in seine Zeit zurückstellen, dann beziehen sie Heideggers Denken jeweils auf die Motive einer bestimmten Situation, mag diese von dem philosophischen Gespräch, von der Aufgabenstellung in der Politik oder von der Zuwendung zu Religion und Kunst geprägt sein. Damit ist mit der Zuwendung zu den Wegen Heideggers die Kritik an der Einseitigkeit dieser Wege oder gar an Irrwegen mitgegeben. Die Hoffnung bleibt, daß es in dieser Kritik wie bei Heidegger selbst um die Sache der Philosophie gehe. Das Erstaunen bleibt, in welcher einmaligen Weise Heidegger immer wieder die Gunst der Stunde gehabt hat (freilich sich auch durch die Stunde, die angeblich gekommen war, etwa auf den politischen Irrweg führen ließ). Das Exemplarische, das dem Denken Heideggers für unser Jahrhundert im Guten wie im Schlimmen zukommt, mag so seine Anerkennung finden. Die folgenden Vorträge und Aufsätze sind seit 1992 verfaßt und vorgetragen oder veröffentlicht worden (mit Ausnahme des Beitrags C 2 von 1966). Die Zusammenstellung mag einen Weg der Auseinandersetzung mit Heidegger zeigen; nicht sichtbar wird, daß die einzelnen Beiträge in bestimmte Diskussionszusammenhänge gehörten. So wurde das Referat Zeit und Sein bei Heidegger für Seminare geschrieben, die ich mit Emmanuel Levinas in Leuven halten konnte. Die Vorträge über Heideggers Begegnung mit Dilthey gehörten in den Versuch, die mißglückte Begegnung der Dilthey-Schule mit der Phänomenologie und vor allem mit Heidegger doch noch zustande zu bringen. Wenn der Beitrag Die me des Volkes ursprünglich in der Festschrift für einen polnischen Kollegen stand, mußte er auf ganz unterschiedliche geschichtliche Situationen reagieren: Unsere östlichen Nachbarn, mögen es etwa die Esten oder die Polen sein, wol-

18

Einleitung

len als Völker ihre Freiheit zurückgewinnen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geht von den Rechten und Pflichten des Bürgers aus und setzt nicht mehr von vornherein (wie die Weimarer Verfassung) die Deutschen als ein Volk aus Stämmen an. Der Begriff des Volkes wurde (auch durch Heidegger) bei uns gründlich diskreditiert; doch darf unser Weg hin zu Europa eine Flucht weg von Nation und Volk bleiben? Die vorliegende Sammlung mußte eine Auswahl bleiben. Am Text der Beiträge wurde nichts geändert (es sei denn, daß durch kleine stilistische Eingriffe eine überholte Zeitbestimmung oder eine Angabe wie „noch unpubliziert" korrigiert wurde) . Die Anmerkungen wurden dagegen ergänzt und auf den heutigen Stand gebracht, dazu aufeinander abgestimmt. Da die Beiträge jeweils von einer einzelnen Frage aus Heideggers Denken im ganzen in den Blick zu bringen suchen, muß es der Leser in Kauf nehmen, daß einiges doppelt oder mehrfach vorgetragen wird. Leider konnte das Echo auf die Beiträge und damit die kritische Diskussion nicht mitvermittelt werden. Dafür mag die Zusammenstellung als ganze eine umfassendere Sicht der Wege von Heideggers Denken geben.

Bochum-Querenburg, 31. März 1998

A. Logik und Zeit

1. Heideggers logische Untersuchungen Edmund Husserl hat durch seine Logischen Untersuchungen die phänomenologische Philosophie begründet. Als er mitten im Ersten Weltkrieg nach Freiburg kam, hatte er durch seine Ideen zu einer reinen Phänomenologie und nologischen Philosophie die Phänomenologie auf einen transzendental-philosophischen Ansatz verpflichten wollen, damit aber die Spaltung der Bewegung riskiert. In Freiburg konnte er einige begabte Schüler gewinnen, die seine neuen Wege nicht von vornherein abwiesen. Zehn Jahre lang war Martin Heidegger der führende Kopf unter diesen jüngeren Phänomenologen, dessen herausragende Rolle gerade von Husserl anerkannt wurde. Es ist bekannt, daß Heidegger immer die Logischen Untersuchungen seines neugewonnenen Lehrers auszeichnete, obgleich er den berühmten Logos-Aufsatz über „Philosophie als strenge Wissenschaft" und auch die Ideen durchaus als Versuch einer Disziplinierung der sich ausweitenden phänomenologischen Philosophie gelten ließ. Als Heidegger dann mit Sein und Zeit Husserl als die leitende Gestalt der phänomenologischen Philosophie ablöste, schien er gerade die Thematik der schen Untersuchungen in den Hintergrund zu drängen. Existenzphilosophische Motive beherrschten nun die philosophische Szene (Husserl mußte sie zusammen mit den Wirkungen Diltheys und Schelers als Anthropologismus verurteilen). Als Husserl in tiefer Einsamkeit, auch politisch verfemt, an seinen Überlegungen über die Krisis der europäischen Wissenschaft arbeitete, trat Heidegger noch einmal mit seinen Vorträgen über den Ursprung des Kunstwerks in das Licht der Öffentlichkeit. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem durch den Brief über den Humanismus, wurde wirklich deutlich, daß es Heidegger nun um die Geschichte des Seins ging, so aber um eine „Kehre", die allein dem katastrophalen Gang der europäischen Geschichte noch einmal eine Wendung geben könne. Verlor sich das Philosophieren dort, wo Heideggers Einfluß herrschte, nicht in metaphysik-geschichtliche Überlegungen, die am Schluß mit einem Dichterwort einen Ausblick ins Offene, wenn nicht Vage gaben? Überraschenderweise gibt es heute einen neuen, weltweiten Einfluß Heideggers, der oft unter dem Titel der Postmoderne verrechnet wird. Wer wollte in dem, was dieser Titel zusammenfaßt, noch logische Untersuchungen im Sinne Husserls sehen, nicht die Wendung gegen den „europäischen Logozentrismus"? Mit Heideggers eigenen Worten glaubt man nachweisen zu können, daß sein Ziel die Zerstörung der Logik gewesen sei.

20

Logik und Zeit

John N. Findlay hat Husserls Logische Untersuchungen in einer entsagungsvollen, langen Arbeit in die englische Sprache übersetzt. In launiger Weise berichtet er uns in seinen autobiographischen Aufzeichnungen My Life, daß er Husserl nicht mehr antraf, als er 1939 nach Freiburg kam, bei Heidegger, dem Nachfolger Husserls, eine merkwürdige Beschäftigung mit Nietzsches Opus postumum vorfand, aber keine Weiterführung von Husserls Bemühungen. Er konnte sich nur wundern über jene, die ihre Zeit vertaten, indem sie sich mit Heidegger beschäftigten. Im Gespräch fragte er auch, wo denn etwas bei Heidegger sich finde, das einem in sich abgeschlossenen Werk wie den Logischen Untersuchungen Husserls vergleichbar sei. Offenbar blieben bei Heidegger doch nur Expressionen zeitgebundener Impulse, die aus der Philosophie herausführten. Ich selbst überließ in diesen Gesprächen gern die Existenzphilosophie (oder doch deren Verballhornung) der Kritik, machte aber geltend, daß Heidegger durchaus Husserls Logische Untersuchungen fortgeführt und an eigenen logischen Untersuchungen gearbeitet habe. So habe er entscheidende Anstöße geben können: durch seine formal anzeigende Hermeneutik (auch aufgefaßt als existentiale Interpretation) habe er zwei Generationen von Theologen geprägt; zugleich habe er einen bedeutenden Ansatz zu einer Philosophie der Mathematik anregen können (nämlich die große Abhandlung zur Ontologie der Mathematik von Oskar Becker, die Husserl zugleich mit Sein und Zeit veröffentlichte). Das alles waren für Findlay aber böhmische Dörfer. Schwerlich konnte man ihn auch noch daraufhinweisen, daß weder die Mathematik noch die Theologie zu Heideggers eigenstem Anliegen geworden war, sondern eher die Nachbarschaft des Denkens zum Dichten und zur Kunst. Wenn Heidegger aber in Hölderlin den Dichter des Dichters sieht, von ihm her die Rolle des Dichtens in der künftigen Welt, dazu die Unterscheidung zwischen Dichten und Denken deutlich zu machen versucht, dann enthalten selbst Heideggers Erläuterungen zu Hölderlin logische Untersuchungen.14 Findlay gehört sicherlich zu denjenigen, die in der englischsprachigen Philosophie am meisten zu einer neuen Würdigung Hegels beigetragen haben. Doch auch innerhalb der Hegel-Rezeption nimmt Findlay bestimmte Tendenzen auf, während andere Tendenzen allergisch abgewiesen werden. In vielen Diskussionen artikulierte Findlay immer wieder seine Verwunderung, daß andere sich mit lebenslangen Bemühungen um so etwas Dunkles und Obskures wie die sogenannte „Idee der Hegeischen Phänomenologie des Geistes" bemühen. Nach seiner Auffassung vermag das Erbe Hegels unserem Philosophieren nur dadurch einen Halt zu geben, daß Hegel vom Wissensstand seiner Zeit her das bleibende Anliegen der Philosophie, das systematische Begreifen des Wirklichen, verwirklicht. Die Phänomenologie des Geistes bringe einige zusätzliche 14

Vgl. Studtes in the Philosophy ofj N. Findlay Hrsg. von R. S. Cohen, R. M. Martin und M. Westphal. Albany 1984. 30. - Zum folgenden vgl. Hegel Phenomenology of Spirtt. Oxford 1977. Zum Ansatz der Phänomenologie vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee einer nomenologie des Geistes Freiburg/München 1973 und 1993.

Heideggers logische Untersuchungen

21

Nuancen in diesen Arbeitszusammenhang, zeige aber keinen neuen oder gar anderen Weg. Findlay hat eine neue englische Übersetzung der Hegeischen nomenologie mit einem ausführlichen Vorwort eingeleitet und durch eine Analyse des Textes kommentiert. Die Übersetzung gibt jedoch kaum einen brauchbareren Text als die alte Übersetzung von Baillie (ohne Rückgriff auf den deutschen Text ist an vielen Stellen nicht zu verstehen, worum es Hegel geht); Findlays Kommentierung gibt keinen Hinweis auf die Weise, wie man in unserem Jahrhundert durch weitgestreute entwicklungsgeschichtliche Bemühungen die Hegeische Phänomenologie des Geistes zu entschlüsseln versuchte als die Geburtsstätte und das Geheimnis des Hegeischen Systems (wie schon der junge Marx formulierte). Hegel wollte mit seiner Phänomenologie des Geistes eine „Einleitung" in sein System, vor allem in die Logik oder spekulative Philosophie, geben. Will man sein Vorgehen mit heutigen Auffassungen formulieren, so kann man etwa sagen, die Phänomenologie versuche ein exemplarisches Lernen: es geht nicht darum, die Materie eines ganzen Gebietes (hier der spekulativen Philosophie) im ganzen zu lernen; vielmehr zeigen Exempel, wie das Lernen über Erfahrungen in immer neue und andere Horizonte des Wissens geführt wird. So zeigt gleich das erste Exempel, der Gebrauch von deiktischen Worten wie „dieses", daß wir immer schon über das Sein als bloßes Dieses-Sein oder Daß-Sein hinaus sind, da wenigstens das substantivierte Dieses sowohl dieses wie jenes Dieses meint und damit auf eine komplexe Allgemeinheit verweist. Was in dieser exemplarischen und einführenden Weise in der Phänomenologie gelernt wird, ist das ganze Reich jener Grundbegriffe, die von Hegel in der spekulativen Philosophie oder Logik behandelt werden. Das exemplarische Lernen hat nicht nur eine psychologische Bedeutung innerhalb des Inventionsprozesses; es gehört vielmehr in einen hermeneutischen Prozeß, der eine „logische" Bedeutung hat, da er die begriffliche Arbeit erst in die zugehörigen unterschiedlichen Horizonte einweist. Selbst die wissenschaftliche Arbeit unserer Zeit verweist auf diesen hermeneutischen Prozeß: die Geisteswissenschaften suchen ihre eigene Ausgestaltung geschichtlich zu verstehen, und selbst die Physik achtet darauf, unter welchen Bedingungen unseres Bezugs zum Gegebenen sie jeweils in unterschiedlichen Weisen möglich wird. Hegel trägt am Schluß seiner gie des Geistes jedoch eine These vor, die das Neue wieder dem Alten verbindet: der Begriff habe sein Dasein als Zeit und sei damit in seiner Entfaltung der Zerstreuung anheimgegeben; wenn der Geist sich aber in der Wissenschaft vollende und die Philosophie als Wissenschaft zur Vollendung bringe, überwinde der Begriff die Zeit. Diese These zeigt, daß es nicht Willkür war, wenn Heidegger das Problem von Begriff und Zeit oder auch von Sein und Zeit neu aufnahm. Hegel sagt im Vorwort zur Phänomenologie, es sei an der Zeit, die Philosophie als die bloße Liebe zum Wissen zur Wissenschaft und damit zum System zu erheben. Das bedeutet für Hegel auch, daß die spätplatonische Dialektik in jener Interpretation übernommen wird, die sie in der neuplatonischen Philoso-

22

Logik und Zeit

phie erhielt; Aristoteles, der die Arbeit des Begriffs zu geben suchte, erscheint gleichsam als der erste dieser Neuplatoniker. Auch Findlay hat in seinem großen Platon-Buch die geschriebenen und die ungeschriebenen Lehren Piatons zusammen mit der Tradition des Neuplatonismus dargestellt und als die überlegene Tradition der Philosophie aufgefaßt. Hans-Georg Gadamer mußte in seinen Studien zur Platonischen und Aristotelischen Philosophie dieses verwandte Werk Findlays würdigen. Dabei hielt er fest, daß Russell, Moore und Whitehead für Findlay „die modernen Nachfolger des urplatonischen Gedankens einer axiomatisch-mathematischen Konstruktion des Universums" sind (während Wittgenstein mehr eine kritische, negative Rolle zugeschrieben erhält). Demgegenüber komme die deutsche Platon-Forschung seit Schleiermacher nicht in Betracht, „da sie die neuplatonische Überlieferung nicht genug ernst nehme". Den philosophischen Ansatz Heideggers könne Findlay sich sowieso nur „als eine Reihe von Holzwegen ohne einheitliche systematische Intention" vorstellen. Dagegen erscheine der Deutsche Idealismus als Erneuerung des Platonismus, da er „den transzendentalen Subjektivismus Kants" überwunden habe und insbesondere bei Hegel die Platonische Selbstbewegung des Begriffs wiedererkennen lasse. - Scheitert diese Deutung der philosophischen Tradition nicht schon an dem Einspruch, den Aristoteles gegen Piatons Ideenlehre und vor allem gegen die Idee des Guten vortrug? Und wurde dieser Einspruch nicht von Heidegger gegenüber Husserl und der Tradition erneuert und verschärft? Gadamer führt die kritische Haltung des Aristoteles ausdrücklich an: „In den Augen des Aristoteles sind die Ideen eben wirklich eher die Ursachen für die Unveränderlichkeit als für die Veränderung (Kinesis). Sie sind von der Art der pythagoreischen Zahlenverhältnisse, auf Grund deren beim Musizieren immer dieselben Intervalle herstellbar werden. Aristoteles klagt ja, die Neueren hätten die Philosophie ganz zur Mathematik gemacht." Für Findlay ist der mathematische Beweis für die Existenz von fünf regulären Körpern (den sogenannten „platonischen Körpern") das „allgemeine modellbildende Vorbild von Rationalität überhaupt", von dem Piaton ja im Timaios Gebrauch machte. Gadamer selbst kann darin allenfalls eines der Vorbilder sehen. „Aber etwa das Beispiel des Systems der Buchstaben, das im Philebos neben dem der Tongeschlechter steht, zeigt doch auch, daß Piaton offenbar nicht überall dieselbe volle idealere Rationalität erwartet hat, die sich im Falle der platonischen Körper ergab. Mehr als partikulare .Theorienbildung' liegt in Wahrheit bei Piaton nirgends vor." So muß Gadamer Findlay fragen, ob er nicht der Philosophie eine zu kurz greifende Vollendbarkeit zutraue, „die nicht nur Piaton bewußt leugnete, sondern die auch wir in Zweifel ziehen müssen".15 Läßt sich die Tradition, aus der Findlay kommt, mit der philosophischen Hermeneutik Gadamers, die von Heidegger ausgeht, vereinbaren, wenn man 15

Vgl. Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke Band 6. Tübingen 1985. 308, 310, 312. - Zum folgenden vgl. Oskar Becker Dasein und Dawesen Pfullingen 1963. 157 ff., vor allem 190. S. auch Anm. 6.

Heideggers logische Untersuchungen

23

nur der Position Findlays ein wenig mehr an Offenheit abgewinnen kann? Gadamers philosophische Hermeneutik stellt nicht nur mit der Nikomachiscken Ethik des Aristoteles die Klugheit heraus, die in einer Situation auf das Tunliche hin orientiert; sie macht auch geltend, daß im Felde von Religion, Kunst und Geschichte die Vorurteile es sind, die erst sehend machen (und nicht nur blind). Ist das Verstehen dieser Hermeneutik so universal, daß es sich auch die Leistungen der Mathematik zu integrieren vermag? Oder muß die Philosophie dieser Panhermeneutik widerstehen und die Unterschiede festhalten? So zeigt Oskar Becker in einem späten Aufsatz „Platonische Idee und ontologische Differenz", daß das erklärende Deuten mittels „Ideen" und das situationsbezogene Verstehen auseinanderzuhalten sind. Wenn Piaton von den „Tugenden" spreche, scheine er im Blick zu haben, was Heidegger im Anschluß an Kierkegaard als formal anzeigende Existenzialien gefaßt habe; doch stehe die „Seele", die Piaton im Blick habe, antagonistisch zur faktisch-historischen Existenz. Das Sein, das sich mit seiner Differenz zum Seienden in dieser Existenz öffne, müsse vom Wesen oder der Idee im Sinne Piatons unterschieden werden. „Gedanklich sind Wesen und Sein, in ihrer Reinheit gesehen, nicht zu .versöhnen'; es gibt zwischen ihnen keine Vermittlung. In der .Realität' allerdings bestehen sie stets zusammen und verschlingen sich in vielfacher Weise, manchmal in gegensätzlicher Gespanntheit, oft aber auch still einander durchdringend." Soll man nun mit Findlay von der Tradition der Russell und Whitehead aus Heidegger und auch den Hegel der Phänomenologie des Geistes aus der maßgeblichen philosophischen Tradition herausdrängen? Oder darf man mit Gadamer im Anschluß an Hegel und Heidegger eine größere Offenheit der Philosophie lordern und so eine neue Harmonie der leitenden philosophischen Tendenzen anstreben? Eine philosophische Hermeneutik, die sich heute weltweit durchzusetzen scheint, könnte dann ihre neuen Fußnoten zu Piaton schreiben. Es ist kein Zweifel, daß Heidegger selbst nicht von einem „romantischen" Piatonbezug ausgeht: er kann dem philosophischen Eros, dessen Begehren sich am anderen bricht und sich zur Dialogik der Dialoge öffnet, offenbar nicht viel abgewinnen; er nimmt Piaton durchaus von der Ideenlehre und von deren Kritik durch Aristoteles her auf. Es geht ihm darum, hinter die Lehre von den Ideen zurückzugreifen und so der Ideenlehre nicht ihr Recht überhaupt abzusprechen, aber ihre mögliche Gültigkeit einzugrenzen. Sich mit Piaton auseinandersetzen, das heißt schon für ihn: die Transformation mitvollziehen, die der Philosophie in unserer Zeit abverlangt ist. Karl-Otto Apel hat in einer Rückschau auf seinen eigenen Weg seinen früheren Versuchen vorgehalten, daß in ihnen die Sinn-Eröffnung, die von Heidegger übernommen werde, noch - mit Heidegger - verwechselt oder vermengt werde mit der Wahrheitsfrage, in der sich diese Sinneröffnung einem Maß unterstelle. Bei dieser Kritik, die durchaus auch Selbstkritik ist, geht Apel mit Ernst Tugendhats Untersuchung über den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger davon aus, daß Heidegger den Wahrheitsbegriff habe „erweitern" wollen. (In der Tat fordern Heideggers frühe Vorlesungen ja, mit der theoretischen Wahrheit zugleich die praktische und

24

Logik und Zeit

die religiöse Wahrheit zu berücksichtigen.) Bei dem Versuch dieser Erweiterung habe Heidegger jedoch das Charakteristikum der Wahrheit verloren, daß in ihr etwas so entdeckt werde, wie es an ihm selbst gegeben sei. Apel sucht dieses Charakteristikum der Wahrheit und damit das Erbe der Tradition der „Vernunft" zurückzugewinnen. Bei diesem Versuch sieht er sich sogar durch Heideggers eigenen Weg bestätigt. Er zitiert aus Heideggers Vortrag Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens den Satz, die Frage nach der Unverborgenheit sei „noch nicht die Frage nach der Wahrheit". Apel meint, Heidegger schließe sich mit dieser Feststellung der Kritik Tugendhats an. Das aber kann schon deshalb nicht der Fall sein, weil Heideggers Vortrag 1964 erstmals vorgelegt wurde, Tugendhats Buch aber erst 1967 erschien. Überdies hatte Heidegger ganz anderes im Sinn. Schlägt man Apels Zitat nach, so kann man das entscheidende „noch" bei Heidegger nicht finden. Heidegger selbst sagt, die Frage nach der Unverborgenheit sei „nicht die Frage nach der Wahrheit"; er meint damit: als er in den dreißiger Jahren die Frage nach dem Sinn von Sein auf die Frage nach der Wahrheit des Seins als eines Geschehens und einer Geschichte festlegte, habe er die bestehende Aufgabe verfehlt. Schließlich ist Heidegger sogar zu der Überzeugung gekommen, selbst im frühen Denken der Griechen gebe es keine Spur zu dem, was er selbst zu denken versuche (die Lichtung für die Verbergung). Apels Interpretation verkehrt Heideggers wirklich vollzogene Denkschritte in ihr Gegenteil. So ist es auch abwegig, mit Apel zu sagen, Heideggers Gleichsetzung der Wahrheit mit der Sinn-Eröffnung oder Sinn-Lichtung mache die Wahrheit zur Sache eines „Geschicks". Wenn Heidegger in den dreißiger Jahren Schritte in diese Richtung getan hat, dann hat er in seinem eigentlichen Spätwerk doch das Geschick nicht mehr vom Schicksal her verstanden, sondern als das sich auf-„schichtende" Gefüge unterschiedlicher Weisen der Offenheit des Seins, die auch eine unterschiedliche Begrifflichkeit erfordern.16 In jedem Fall kann man aus diesem Wirrwarr der Einstellungen zu Heidegger und der Festlegung Heideggers auf Schlagworte wie Existenzphilosophie, Seinsgeschichte, Hermeneutik oder gar Postmoderne nur herauskommen, wenn man Heidegger selbst hört. Dabei muß man die existentiellen und geschichtlichen Einschlüsse, die sich selbstverständlich auch in Heideggers Denkschritten finden, zuerst einmal beiseite lassen, um den logischen Untersuchungen nachzugehen, wie Heidegger sie in den einzelnen Phasen seines Denkweges anstrebte. Im folgenden können diese logischen Untersuchungen jedoch nur angezeigt und pauschal bestimmten Titeln unterstellt, nicht eigentlich entfaltet werden.

16

Vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Frankfurt a. M. 1973. Band 1. 42 f. Zu einer hermeneutischen Philosophie, die Apels Bestehen auf dem Vernunftbegriff nicht aufgibt, aber seine spekulative Übersteigerung vermeidet, vgl. O Pöggeler Erklären - Verstehen - Erörtern. In: Transzendentalpragmatik Ein Symposion für KarlOtto Apel. Hrsg. von Andreas Dorschel u. a. Frankfurt a. M. 1993. 410 ff.

Heideggers logische Untersuchungen

25

I. Formal anzeigende Hermeneutik Es ist bekannt, daß Heideggers Dissertation einem Thema der formalen Logik galt und am Streit gegen den Psychologismus in der Logik teilnahm. Die Habilitationsschrift beschäftigte sich mit der Kategorien- und Bedeutungslehre eines Traktats, der damals noch dem Duns Scotus zugeschrieben wurde. Wiederum bewegte Heidegger sich auf dem Feld, auf dem Sein, Wahrheit, Logik und Sprache sich verflochten. Man darf freilich nicht übersehen, daß diese Habilitationsschrift in kürzester Zeit unter den schwierigen Bedingungen des Krieges fertiggestellt wurde. Heidegger hatte sich über das logische Wesen des Zahlbegriffs habilitieren wollen. Er sollte aber in Betracht gezogen werden für jenen philosophischen Lehrstuhl in Freiburg, der der katholisch-theologischen Fakultät zugeordnet war. So hatte er sich mit einem Thema auszuweisen, das der scholastischen Philosophie verbunden war. Den Vorschlag, über Dietrich von Freiberg zu arbeiten, lehnte er schließlich ab; doch war die Aufarbeitung der mystischen Tradition unter seinen Plänen: nur Scholastik und Mystik zusammen schienen die volle Weite des mittelalterlichen Geistes wiederzugeben. Neben Aristoteles und die Traditionen des Mittelalters war aber längst Kant getreten; so suchte der Habilitationsvortrag im Sinne des südwestdeutschen Kantianismus von der unterschiedlichen Berücksichtigung der Zeit her die wissenschaftliche Arbeit der Physik von der Arbeit der historischen Wissenschaft abzugrenzen. Die beiden anderen Themen, die Heidegger für den Probevortrag vorschlug („Das logische Problem der Frage", „Der Zahlbegriff"), waren ihm sicherlich ebenso wichtig wie das gewarnte Thema. Worum es letztlich ging, das war die Logik der Philosophie, die unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche auszugrenzen und der wissenschaftlichen Arbeit die nötigen Vorgaben zu machen vermag. Die Grundausrichtung dieser frühen Versuche machte es möglich, daß Husserls Logische Untersuchungen für Heidegger zur Gründungsurkunde einer neuen Philosophie wurden. Die phänomenologische Bewegung ist nie eine Schule gewesen, die auf die Lehre eines Meisters eingeschworen gewesen wäre; sie war vielmehr (wie Max Scheler betonte) die Kooperation von Philosophen, die schon ihren eigenen Weg gefunden hatten und nun ein gemeinsames Anliegen im freien Miteinander zur Sprache brachten. Auch Heidegger hatte seinen Weg gefunden, als er in einen näheren Kontakt mit Husserl kam. Der Privatdozent, der unmittelbar nach dem Kriege Husserls Assistent wurde, trat Husserl nicht mehr von der Position seiner Dissertation und Habilitationsschrift aus entgegen. Gerda Walther berichtete am 20. Juni 1919 an Pfänder, daß Heidegger in den üblichen Diskussionen am Samstag zusammen mit dem jungen Julius Ebbinghaus Husserl entgegenhielt, wenn er schon von einem transzendentalen Ich spreche, dann müsse dieses als historisches gefaßt werden; das reine Ich entstehe durch eine Unterdrückung der Historizität und sei nur das Subjekt der „sachlich-theoretischen Akte". Es ist kein Zweifel, daß Heidegger sich den Ansatz Diltheys aneignete, den dieser in seinem Streit mit Husserl kurz vor dem Tode Husserl entge-

26

Logik und Zeit

gengehalten hatte: das Leben ist letztlich faktisch und muß jeweils historisch übernommen werden; diese historische Faktizität öffnet sich zu dem, was wir als Wesen fassen. (Heideggers Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks vom Sommer 1920 stellte Natorp und Dilthey gegeneinander, um das zu gewinnen, was Heidegger im Untertitel der Vorlesung Theorie der sophischen Begriffsbildung nannte.) Eine entscheidende Verschärfung des lebensphilosophischen Ansatzes fand Heidegger in der Psychologie der schauungen von Karl Jaspers (wie eine große kritische Besprechung deutlich macht, die freilich erst ein halbes Jahrhundert später gedruckt wurde). Jaspers führte die Situation, in der der Mensch steht, weiter zu Grenzsituationen wie Tod und Schuld; die Grenze, die sich dort auftut, verweist auf den Augenblick. Jaspers referierte Kierkegaards Lehre, das „Plötzliche", in dem nach Piaton die letzten Bestimmungen ineinander umschlagen, müsse in seiner Zeitlichkeit genommen werden, so daß die Dialektik Piatons (oder Hegels) zu einer experimentierenden und existentiellen Dialektik werde. Heidegger brauchte aber viele Jahre, um für die logischen Fragen, die in Kierkegaards religiöser Position unentfaltet geblieben waren, den Ansatz einer kontrollierten Entfaltung zu finden. Heidegger betont in seiner Besprechung der Psychologie der gen von Jaspers, daß gerade der Methode Kierkegaards eine besondere Bedeutung zukomme. Gemeint ist die indirekte Mitteilung, in der zum Beispiel auch ein Nichtglaubender für alle verständlich vom Glauben oder doch von dessen Ansatz sprechen kann. In solcher indirekten Mitteilung wird das Denken aus dem Bann der reinen Theorie gelöst und auf eine Entscheidung ausgerichtet, die es aus sich heraus nicht fällen kann. Diese Relativierung der Theorie ist auch schon das Anliegen der Umweltanalyse: wir können vertraut mit den Dingen umgehen, ohne daß diese uns schon theoretisch durchsichtig wären. Vor allem ist es die Religion, die auf etwas Unverfügbares verweist, das theoretisch nicht vorwegzunehmen ist. Heidegger hatte seiner Habilitationsschrift einen Schluß angehängt, der auch auf die metaphysische Theologie verwies, die in Hegel noch einmal kulminierte. Kurze Zeit später, am 1. August 1917, hatte Heidegger sich jedoch in einer Rede in einem privaten Kreis auf Schleiermachers Reden über die Religion bezogen. Schleiermacher zeigt, daß wir nicht mit vorgefaßten Begriffen von Gott und Unsterblichkeit in die religiöse Dimension des Lebens eintreten dürfen, daß wir vielmehr allenfalls im vorsichtigen Eindringen in diese Dimension solche Begriffe bilden können. Heideggers Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion vom Wintersemester 1920/21 legt aber dar, daß gerade jener Theologe und Philosoph, der Schleiermachers Anliegen weiterführte und der religionsgeschichtlichen Schule nahestand, letztlich wieder in eine metaphysische Grundlegung der Religion einlenkte: Ernst Troeltsch. Solche Religionsphilosophie kann der wirklichen Religion nicht gerecht werden, wie sie sich etwa in der urchristlichen Eschatologie zeigt, die damals neu entdeckt worden war. Heidegger interpretiert deshalb die Briefe des Apostels Paulus, vor allem das älteste Dokument unter den neutestamentlichen Texten, den Ersten Brief an die Thessalonicher. Dieser Brief richtet das faktische Leben der

Heideggers logische Untersuchungen

27

Gemeinde historisch aus, indem er es bezieht auf den Kairos der Ankunft Christi, der „chronologisch" nicht berechnet werden kann. Die letzten Dinge geschehen in einem Augenblick, der dem Denken nicht verfügbar ist. Es geht Heidegger aber nicht um „Theologie"; vielmehr sieht er in der urchristlichen Religion - auch unabhängig von der spezifischen Theologie - entdeckt, was für alle Menschen gilt: daß das Leben faktisch ist und daß diese Faktizitat historisch aufgenommen, also auf den unverfügbaren Augenblick ausgerichtet werden muß. Kann die Phänomenologie den Ansätzen von Dilthey, Jaspers und Kierkegaard das Angebot einer philosophischen Logik machen, die den lebens- und existenzphilosophischen Tendenzen fehlt? Damit die Phänomenologie diese Aufgabe erfüllen kann, gestaltet Heidegger sie zur „hermeneutischen" um: das Leben in seiner Faktizitat, die historisch zu übernehmen ist, kann letztlich nur verstanden und ausgelegt werden. Heidegger konnte die Hermeneutik von Dilthey und Schleiermacher her aufnehmen; er hatte in der katholisch-theologischen Fakultät noch eine Vorlesung über Hermeneutik (bei Hoberg) hören können, als die Hermeneutik in der protestantischen Theologie längst durch andere Methoden ersetzt worden war. Die Phänomenologie war von Husserl als Korrelation der noematischen und noetischen Phänomenologie oder der Sachund Aktphänomenologie gefaßt worden. Heidegger sprach (so in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie vom Winter 1919/20) von Bezugssinn, Gehaltssinn und Vollzugssinn. Der Bezug von Gehalt und Vollzug ist in den verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit nicht derselbe. Selbstverständlich muß ich den Tisch, den ich im Alltag gebrauche, von dem bekannten Was her fassen; der Mensch aber ist nicht die bloße Realisierung eines bekannten Was, da sein Was sich erst in den wenigen großen Augenblicken des Lebens öffnet und auch immer wieder neu bestimmt werden muß. So kann die Religiosität, der es um die letzten Dinge geht, nicht auf einen bestimmten Gehalt festgelegt werden. Die christliche Religion ist nicht von einem bestimmten Gehalt her (der „Idee" des Christentums) zu fassen, da diese Religiosität die Erneuerung der Ursprünglichkeit des Lebens in unverfügbar neuen Situationen verlangt. Muß die Philosophie, die doch auf das verbindliche Allgemeine verpflichtet ist, vor solchen Phänomenen nicht kapitulieren? Oder bleibt es eine Aufgabe der Philosophie, an ihren Grenzen (im metaphysischen Bereich) selbst zur Bildung einer Weltanschauung zu schreiten? Wird der Zusammenhang zwischen Philosophie und Weltanschauung geleugnet, dann führt das „zur Katastrophe aller (bisherigen) Philosophie". Gerade diese Katastrophe aber wird von Heidegger gesucht, damit zum Beispiel Theologie und Philosophie erst in das angemessene Verhältnis finden können. Das Philosophieren und das gläubige Leben können nicht ohne jeden Bezug sein: wenn so etwas wie eine religiöse Dimension zum Leben gehört, muß die Philosophie auch in diese Dimension einweisen. So steht die „hermeneutische Intuition" am Schluß von Heideggers erster Nachkriegsvorlesung. Intuition drückt „Ereignischaraktere" aus. Sie hebt sich vom Leben ab, indem sie doch mit dem Leben mitgeht. Heidegger unterscheidet ver-

28

Logik und Zeit

schiedene Schritte in der theoretisierenden Formalisierung. Es gibt eine stufengebundene theoretisierende Entlebung des Lebens (zum Beispiel des Ästhetischen im Unterschied zum Umweltlichen oder gar zum nur noch physikalisch Gegebenen). Diesen Theoretisierungen gegenüber steht die Formalisierung, die auf das Erlebbare überhaupt geht. Das Etwas dieses Erlebbaren überhaupt „besagt nicht absolute Unterbrochenheit des Lebensbezuges, keine Entspannung des Entlebens, keine theoretische Fest- und Kaltgestelltheit eines Erlebbaren. Es ist vielmehr der Index für die höchste Potentialität des Lebens." Es handelt sich um ein „Noch-Nicht", das aber Richtung in das Leben ist, und zwar in seiner ungeschwächten „Lebensschwungkraft" (wie Heidegger in Anspielung auf Bergson sagt).17 Aus diesen Überlegungen heraus hat Heidegger die „formal anzeigende" Hermeneutik entfaltet. Nicht von ungefähr finden wir die ausführlichste Explikation der formalen Anzeige in den Nachschriften der (1995 gedruckten) Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion. Dabei kann Heidegger sich an Husserl anschließen, der im § 13 seiner Ideen die Generalisierung von der Formalisierung unterschied. Die Generalisierung steigt vom Rot dieses Kleides auf zur Farbe Rot, dann zu den Qualitäten überhaupt, usf. Dagegen geht die Formalisierung zurück zu den logischen und kategorialen Formen, die im Erkennen immer schon vorausgesetzt sind. Heideggers formale Anzeige macht dagegen darauf aufmerksam, daß dieses Zusammenspiel zwischen Generalisierung und Formalisierung in unterschiedlichen Dimensionen des Lebens in unterschiedlicher Weise geschieht. Wenn in formalisierter Weise zum Ursprung der Lebendigkeit zurückgegangen wird, entstehen jene formalen Anzeigen, die dann auch in die religiöse Dimension des Lebens einweisen, aber die religiöse Entscheidung nicht vorwegnehmen (wie das in der metaphysischen Theologie oder noch in der Religionsphilosophie eines Troeltsch geschieht). Heidegger hat sich immer wieder auf seine formal anzeigende Hermeneutik bezogen; da jedoch der dritte Abschnitt von Sein und Zeit nicht mehr publiziert wurde, blieb eine genaue Umgrenzung dieser Hermeneutik aus. Als Heidegger am Schluß der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik vom Krisenwinter 1929/30 sich der Logos-Auffassung der metaphysischen Tradition und damit der Problematik der Logik der Philosophie zuwandte, hat er noch einmal eigens an die formale Anzeige erinnert. Diese Vorlesung hält fest, daß für Kierkegaards Hinweis auf den Augenblick ein Begreifen nötig wird, „mit dem seit der Antike die Möglichkeit einer vollkommen neuen Epoche der Philosophie beginnt". Ebenfalls wird mit Kierkegaard abgelehnt, es könne ein „System des Daseins" geben (während doch das Dasein in sich geschichtlich ist und auf Verwandlung aus ist). Die formale Anzeige soll logisch dem gerecht werden, was bei Kierkegaard erbaulicher Hinweis blieb. An drei Beispielen sucht Heidegger deutlich

17

Zur Bestimmung der Philosophie 12, 115. - Zu Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen vgl. jetzt Band 56-63 der Gesamtausgabe.

Heideggers logische Untersuchungen

29

zu machen, was die formale Anzeige leistet. Er grenzt sie aber von der formalen Charakteristik ab, die nivelliert: die Aussage läßt Etwas als Etwas sehen, der Handwerker nimmt den Hammer als zuhandenden Hammer; dieses „Als" scheint eine Bestimmung zu sein, die durch eine spezifische Differenz von jener Art der Beziehung abgegrenzt werden muß, die auch für das „Und" gilt. Doch das Und in einer Rede wie „der Hammer und die Hand" verbindet zwei Seiende; das Als in der Rede (der Hammer als zuhandender Hammer) verbindet das Seiende mit seinem Sein (seinem Vorhandensein oder Zuhandensein). Die formale Charakteristik zeigt überhaupt nicht an, was das Als im Unterschied zum Und leistet. Dagegen sucht die formale Anzeige gerade in den Unterschied zwischen der Verbindung und Differenz von Seiendem und der Verbindung und Differenz von Seiendem und Sein einzuweisen. Heideggers zweites Beispiel ist das Sein zum Tode: es darf nicht aufgefaßt werden, als würde der Mensch als Vorhandener auf ein vorhandenes Nichts bezogen. In diesem Sinn hat der Nationalsozialismus Heideggers Philosophie aufgefaßt und entsprechend als „Nihilismus" verworfen. Doch eine Todessucht war bei Heidegger nicht gemeint; so hat Heidegger selbst denn auch den Vorwurf der Wehrkraftzersetzung nicht gescheut und in der Heraklit-Vorlesung vom Sommer 1943 seine Studenten gefragt, „ob sie über die Bereitschaft zum Tode hinaus stark genug" seien, das „Anfängliche" und damit neue geschichtliche Wege zu retten. Heideggers drittes Beispiel ist das Problem der menschlichen Freiheit, das nicht von einem Kausalbegriff her erörtert werden dürfe, der vom „Vorhandenen" her gewonnen werde (oder aber, wie nach Heideggers Vorlesung vom Sommer 1930, bei Kant im bloßen Gegenzug gegen diesen Kausalitätsbegriff). Auch hier muß erst die formale Anzeige in die unterschiedlichen Dimensionen der Wirklichkeit einweisen.18 In enger Zusammenarbeit mit dem Theologen Rudolf Bultmann hat Heidegger in seinen Marburger Jahren den Vortrag „Phänomenologie und Theologie" ausgearbeitet. (Manche Formulierungen kehren in Bultmanns Vorlesungen Theologische Enzyklopädie wieder, so daß man nicht weiß, ob sie ursprünglich von Bultmann oder von Heidegger stammen.) Heidegger sagt in seinem Vortrag abschließend, daß der Glaube als Existenzform der „Todfeind" der philosophischen Existenzform bleibe. Todfeinde können nicht gleichgültig aneinander vorbeigehen; der „Tod" in der Feindschaft ihrer Beziehung weist aber jede der Existenzformen in ihre Grenzen ein. Philosophie und Theologie können zur Universität als derselben Stätte wissenschaftlicher Arbeit gehören, weil sie verbunden bleiben durch die gleiche Methode oder Logik, nämlich durch die formal anzeigende Hermeneutik (die von Bultmann mit der Begrifflichkeit von Sein und Zeit als existenziale Interpretation gefaßt wird). Die Philosophie zeigt an, was jedem verständlich ist: daß das Dasein sich nicht selber ins Leben ge-

18

Die Grundhegriffe der Metaphysik 225, 432, 421 ff. Vgl. ferner Martin Heidegger: He raklit Frankfurt a. M. 1979. 181. Zum folgenden s. Anm. 12.

30

Logik und Zeit

bracht hat und so „verschuldet" bleibt, daß es angewiesen ist auf die Offenheit eines Sinns. In diese Struktur des vorgläubigen Daseins zeichnet die Theologie die existentiellen Entscheidungen des Glaubens ein: daß der Mensch der Sünde verfallen ist, aber eine Offenbarung Gottes sein Leben verwandelt. Die Philosophie weiß als Phänomenologie jedoch nichts von Gott (und wahrt so gerade die Unverfügbarkeit Gottes). Deshalb kann eine formal anzeigende Hermeneutik allenfalls „mitanleitendes Korrektiv" theologischer Arbeit sein. Die Theologie kann nur von jenen Glaubensentscheidungen wissenschaftlich sprechen, die dem Menschen „verständlich" sind, nämlich auf seine Fragen antworten. So gehört die „Entmythologisierung" zur Theologie, mag man auch diesen Titel und Bultmanns Ausführung des Programms als kurzschlüssig kritisieren. Nicht von ungefähr ist aber der Plan Heideggers und Bultmanns, den Vortrag Heideggers in einer Gemeinschaftspublikation herauszubringen, gescheitert. Der Anlaß des Scheiterns lag offenbar beim Philosophen, der in seinem Versuch, die Logik der Philosophie zu klären, neue und andere Schritte für nötig erachtete.

II. Schematisierung und Metontologie Heidegger sagt in Sein und Zeit, sein Ansatz (die Intentionalität als Sorge zu fassen) sei ihm erwachsen im Zusammenhang der Versuche, die augustinische oder griechisch-christliche Anthropologie zu interpretieren „mit Rücksicht auf die grundsätzlichen Fundamente, die in der Ontologie des Aristoteles erreicht wurden". Als Heidegger im Sommer 1921 über Augustinus und den Neuplatonismus las, wollte er zeigen, daß die neuplatonische Begrifflichkeit das eigentliche Anliegen des Augustinus verfälsche; so schloß er denn auch mit einem Hinweis auf Luthers Heidelberger Disputationsthesen, die der Theologie der Herrlichkeit oder der metaphysischen Theologie jene Theologie des Kreuzes entgegenstellen, welche aus dem faktisch-historischen Leben erwächst. Im folgenden Semester begann Heidegger seine Aristoteles-Vorlesungen, die er über fünf Jahre hinweg fortsetzte. Ein großes Werk über Aristoteles sollte seine Weise, Philosophie als Phänomenologie zu fassen, vorstellen. In den Ausarbeitungen, die mit der ersten Vorlesung und dem Buchplan im Zusammenhang standen, notierte Heidegger sich: „nicht Leben, nicht Welt, sondern Sein, Dasein". Damit suchte er den lebensphilosophischen, christlich und existenzphilosophisch verschärften Ansatz neu in der Auseinandersetzung mit der großen philosophischen Tradition zu entfalten, und so mußte er schließlich mit Aristoteles auch Kant neu berücksichtigen und die Auseinandersetzung mit Husserl auf neuen Ebenen führen. Die Vorlesung vom Winter 1925/26 sollte eine Aristoteles-Vorlesung sein; doch mitten im Semester brach Heidegger den geplanten Fortgang ab, um Kants Lehre vom Schematismus in die Mitte seiner Interessen zu rücken. Aristoteles und Kant sind aber in gänzlich neuer Weise aufgefaßt als einst in der Dissertation und Habilitationsschrift. So kann Sein und Zeit denn auch für den nie publizierten Abschnitt III doch wieder auf den Weltbegriff zurückgreifen

Heideggers logische Untersuchungen

31

und die Aufgabe stellen, jenes Überspringen des „Phänomens der Welt" wieder rückgängig zu machen, das seit Parmenides die Philosophie präge.19 Aristoteles wird nicht mehr primär von der mittelalterlichen Seinsanalogie her gesehen, sondern vom sechsten Buch der Nikomachischen Ethik her, das für die Orientierung in den Situationen hier unter dem wechselnden Mond einen eigenen Logos und einen eigenen Wahrheitsbezug fordert. Dieser Ansatz werde freilich dadurch verstellt, daß Aristoteles das Sein von der ständigen Anwesenheit her verstehe (so auch im abschließenden Abschnitt des neunten Buches der Metaphysik, das in Sein und Zeit neben das sechste Buch der Nikomachischen Ethik gestellt wird). Diese ontologische Option gestatte es Aristoteles nicht, die Zeit ursprünglich zu erfahren; deshalb sollte das Schlußkapitel von Sein und Zeit die Zeitabhandlung der Aristotelischen Physik als „Diskrimen" der ontologischen Tradition destruieren. Aristoteles weist jedoch auch einen Weg über sich hinaus, indem er die Fragen nach der philosophischen Logik oder Dialektik zurückbezieht auf eine umfassende Rhetorik und schon in seiner Hermeneutik die Aussage von anderen Weisen des Sprechens abhebt, die - wie die Frage - auch einen Wahrheitsbezug haben, aber nicht wie die Aussagen einfach der Alternative „wahr oder falsch" zu unterwerfen sind. Heidegger unterscheidet das apophantische Als, das in einer Aussage Etwas als Etwas sehen läßt, vom hermeneutischen Als, in dem uns auch im noch theorielosen Umgang zum Beispiel ein Hammer als Hammer zuhanden ist. Gibt es auch ein Als, in dem wir unsere Existenz als Existenz nehmen? Aristoteles wie Hegel haben von Präpositionen und Pronomen her Grundbegriffe gebildet (wie Ansich, Fürsich); Heidegger fragt in neuer Weise, wie die Sprache von diesen unscheinbaren Bestandteilen her aufgebaut ist. Wenn Heidegger im Winter 1925/26 in einem plötzlichen Bruch von Aristoteles zu Kant übergeht, dann hält er in Wahrheit sein Thema (die Lehre von den Schemata und ihrem Einweisen in die Dimensionen der Zeit) nur um so entschiedener fest. Man hat gegen Heideggers Kant-Interpretation eingewandt, sie gebe der Kantischen Lehre von der Einbildungskraft eine nichtkantische Funktion. Diese berechtigte Kritik bleibt aber blind für die Weise, wie Heidegger sich von Kant her seinem eigenen Ansatz nähert, mittels der Lehre von den Schemata eine „temporale Interpretation" auszubilden. Sucht man für alle Dimensionen der Zeit die entsprechenden Schemata, dann erhellt man ein Prinzipiengefüge, das es uns erlaubt, unterschiedliche Weisen von Sein und damit auch unterschiedliche Dimensionen von Welt zu unterscheiden. Das Schema der eigentlichen Zukunft (das „Umwillen") öffnet die Dimension des Gewissenhaben-wollens und damit auch die religiöse Dimension. Wird statt des Schemas der eigentlichen Zukunft das Schema der uneigentlichen Zukunft (das „Wozu") leitend, dann kann der Handwerker selbstvergessen in seiner Umwelt aus deren 19

Vgl. Sein und Zeit. 199, 100; ferner: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles Frankfurt a. M. 1985. 167. - Zum folgenden vgl. Sem und Zeit. 225; ferner: Logik Die Frage nach der Wahrheit Frankfurt a. M. 1976. 127 ff., 194 ff.

32

Logik und Zeit

Verweisungszusammenhängen heraus hantieren. Wird auch dieses „Wozu" noch abgeblendet und schlägt das hermeneutische Als in ein apophantisches Als um, dann emanzipiert sich die Theorie aus den weltlich-umweltlichen Zusammenhängen. Diese Lehre von der Schematisierung als einer temporalen Interpretation sollte den Kern einer neuen Fassung des Abschnittes III von Sein und Zeit bilden; der § 69 des publizierten Teils der Abhandlung gibt wenigstens einen Vorverweis auf sie. Heidegger hat im Rückblick von der Vorlesung des Winters 1925/26 gesagt, es sei ihm wie Schuppen von den Augen gefallen, als er Kants Lehre von der Schematisierung vor dem Hintergrund von Husserls Phänomenologie der Zeit gelesen habe. Als Heidegger jedoch 1928 Husserls erste Phänomenologie der Zeit edieren mußte, distanzierte er sich in dem kargen Vorwort wenigstens andeutend: Husserl folgt der Tradition, wenn er das Zeitbewußtsein den unteren intellektiven Akten zuordnet und von den eigentlichen und höheren Akten abgrenzt. Demgegenüber fand Heidegger eine neue Nähe zu Max Scheler, der den zeitbildenden Drang durchaus antagonistisch zum Geist und der Partizipation am Sosein des Seienden stellte. Auch die Wesenserkenntnis, die sich der Zeitlichkeit enthebt, muß nach Scheler „funktionalisiert", nämlich in Zeit und Geschichte eingebettet werden. Die Funktionalisierung ist Schematisierung: nach Schelers epochemachender Abhandlung Erkenntnis und Arbeit folgt zum Beispiel die Mechanisierung des Weltbildes seit Galilei einem Schema der Welteinstellung, das durchaus nicht das einzig mögliche ist. Dieses Schema ist ein Apriori für die mathematische Physik, in anderer Weise auch für die kapitalistische Ökonomie; doch dieses Apriori ist biologisch relativ, also relativ auf das Leben, das sich durch die Intelligenz zum Homo faber erhebt und so eine einseitige Sicht des Menschen zur leitenden macht. Nach der biologischen Verhaltensforschung ermöglichen Schemata das Funktionieren des Lebens (der Fleck an der Kehle des Altvogels signalisiert den jungen Vögeln im Nest das Futter und weckt das entsprechende Verhalten). In ähnlicher Weise sind auch unsere Wissens- und Verhaltensweisen durch Schemata in das Funktionieren des Lebens eingefügt, während der Geist sich mit seinen Wesenseinsichten über diesen Funktionskreis erhebt. In der Vorlesung vom Sommer 1928 hat Heidegger jenen Nachruf gesprochen, der den plötzlich gestorbenen Scheler mit Dilthey und Max Weber zusammenstellt. Heidegger weist darauf hin, daß er nach einem Kölner Vortrag mit Scheler die Fragen der Schematisierung erörtert habe, daß aber letztlich ein Einverständnis nicht erzielt wurde. Scheler hat denn auch in einem nachgelassenen Text „Geist und Zeit" den historistisch um sich kreisenden Homo curans von Sein und Zeit kritisiert. Er hat zugleich die Korrektur dieser Einseitigkeit abgelehnt, die von Oskar Becker in seiner Abhandlung zur Ontologie der Mathematik vorgetragen wurde. Schelers Kritik kann aber auch besagen, daß sein Begriff des Geistes illegitim ist (wie es denn auch die philosophische Anthropologie zu zeigen suchte). Die nachgelassene Abhandlung „Idealismus-Realismus" zeigt, daß Scheler ein metaphysisches Schema, nämlich die Unterschei-

Heideggers logische Untersuchungen

33

düng von Sosein und Dasein, zur Unterscheidung von Geist und Drang als Attributen des Weltgrundes benutzt. In dieser vorschnellen Metaphysik mußte Heidegger das Problem der Metaphysik verfehlt sehen, obgleich er aus dem letzten Gespräch mit Scheler die gemeinsame Überzeugung mitnahm, daß „gerade bei der Trostlosigkeit der öffentlichen philosophischen Lage" der „Überschritt in die eigentliche Metaphysik wieder zu wagen, d. h. sie von Grund aus zu entwickeln" sei. Es waren Anstöße aus Schelers Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos, durch die Heidegger dazu geführt wurde, seine Fundamentalontologie zurückzustellen in eine Metontologie oder metaphysische Ontik. Die Frage „Warum überhaupt?" wird verwurzelt in dem Seienden, das unter allen bekannten Seienden allein diese Frage stellt; dieses Seiende, die Existenz, wird zurückbezogen auf das Leben als auf sein Voraus. Auch wird mit und gegen Scheler die Frage nach dem Göttlichen neu geweckt, von dem her sich die Menschen verstanden haben.20 Mit dieser Ausweitung seiner Fragestellung kehrt Heidegger aber nur zu seinen Anfängen zurück; seine erste Nachkriegsvorlesung hatte ja die hermeneutische Intuition mit ihrer Formalisierung vom Leben abgehoben, um sie dann wieder zurückzustellen in die „Lebensschwungkraft".

III. Wink und Spur Blickt man auf Heideggers Denkweg im ganzen, dann ist die Vorlesung vom Winter 1929/30 über Grundbegriffe der Metaphysik eine Zusammenfassung der bisherigen Versuche und zugleich der Durchbruch auf neue Wege. Heidegger beruft sich auf eine Rede, die Scheler im November 1927 in der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin gehalten hatte (die Rede erschien 1929 nach dem Tode Schelers und wurde im gleichen Jahr auch in die Aufsatzsammlung Philosophische Weltanschauung aufgenommen). Scheler kann „Panromantikern" wie Spengler, Frobenius und Klages nicht zustimmen, wenn sie den Weg des Geistes als einen „Todesweg" sehen; die Rede „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs" fordert den Ausgleich zwischen Macht und Geist, zwischen Irrationalem und Rationalem, zwischen Ost und West, auch zwischen Mann und Frau. Scheler erinnert an Nietzsche, aber auch an die Nietzsche-Rezeption im mächtig vordringenden europäischen Faschismus: „Vor einiger Zeit sagte Mussolini einem Bekannten von mir: ,Wir machen hier in Italien ein Praktikum der Geburt der Tragödie' - d. h. des .dionysischen' Menschen!" Diesen Tendenzen mußte Scheler entschieden entgegentreten, zumal er keine Zweifel an seiner Überzeugung ließ, daß der Nationalismus und der auf ihm aufbauende Kolonialismus keine Zukunft mehr hatten. Trotz aller Kritik an Nietzsche konnte Sche20

Vgl. Metaphysische Anfangsgründe. 62 ff., 182, 165, 201, 211. Max Scheler: Gesammelte Werke. Band IX. Bern 1976. 301 ff., 183 ff. Zum folgenden vgl. O. Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie. Freiburg/München 1994. 142 ff.

34

Logik und Zeit

ler jedoch von Nietzsche her den Ausgleich zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen fordern. Heidegger nahm diese Formel auf; aber er mahnte dem Nietzscheanismus der Spengler, Klages, Scheler und Ziegler gegenüber den Rückgang zur vollen Geschichtsdiagnose Nietzsches an. So brachte er auch wieder ins Spiel, was Scheler ausgeschlossen hatte: Nietzsches Formel „Dionysos gegen den Gekreuzigten".21 Die erste Hölderlin-Vorlesung vom Winter 1934/35 suchte Nietzsches Widerstreit des Dionysischen und Apollinischen wieder zu befreien „von jenem Fatalsten, was die nachkommende und heutige NietzscheDeutung in all ihren Richtungen daraus gemacht hat". Heidegger kehrte zurück zu der reineren und einfacheren Fassung dieses Widerstreits, die Hölderlin in den Briefen an Böhlendorff gegeben hatte. Die erste Nietzsche-Vorlesung vom Winter 1936/37 ging wieder von der Überzeugung aus, „daß der verschieden benannte Widerstreit des Dionysischen und des Apollinischen, der heiligen Leidenschaft und der nüchternen Darstellung, ein verborgenes Stilgesetz der geschichtlichen Bestimmung der Deutschen ist und uns eines Tages bereit und vorbereitet finden muß zu seiner Gestaltung". Hölderlin und Nietzsche hätten ein Fragezeichen aufgerichtet, das es zu verstehen gelte. „Werden wir dieses Zeichen verstehen? Eines ist gewiß: die Geschichte wird sich an uns rächen, wenn wir es nicht verstehen." Läßt sich jedoch in dieser Beschäftigung mit Nietzsches Opus postumum und Hölderlin noch die Phänomenologie Husserls wiederfinden? Als Heidegger 1951/52 sein Fragen nach der Logik der Philosophie unter den Titel Was heißt Denken? stellte, verwies er auf den schwer zu durchschauenden Zustand von Nietzsches Nachlaß und riet seinen Studenten, doch vor Nietzsche zuerst einmal zehn oder fünfzehn Jahre Aristoteles zu studieren. Heidegger selbst hat sich nach den Jahren des Studiums von Aristoteles und Kant Nietzsche zugewandt, weil er in Nietzsches Denken ausgesprochen fand, was unsere Zeit bewegt (und das selbst dann, wenn man nicht auf Nietzsche hört). 22 Zweifellos ist Heidegger, als er Nietzsches Forderung nach dem Schaffen der großen Schaffenden folgte, in die schlimmsten Verirrungen geraten. So berichtet Max Müller, Heidegger habe im Jahre 1933 in einer Logik-Vorlesung in einem improvisierten Satz gesagt: „Die Logik ist natürlich das richtige Denken existierend-konkreter Menschen. Auch in die Logik kann man die Gestalt des Führers hineinbringen." Doch so etwas hätte Heidegger, so bemerkt Max Müller, schon 1934/35 nicht mehr gesagt. Bis ins Detail kann diese Erinnerung nicht stimmen, da Heidegger 1933 keine Logik-Vorlesung gehalten hat; doch im wesentlichen gibt die Erinnerung sicherlich richtig den Weg und die Fragwür-

21

22

Vgl. Scheler (s. Anm. 20). 145 ff., vor allem 155; Die Grundbegriffe der Metaphysik 103 ff. - Zum folgenden vgl. Hölderlins Hymnen „Germanien" und „Der Rhein" 294; sche Band 1. 124. Vgl. Was heißt Denken? 70. - Zum folgenden vgl. Max Müller in: Fretburger sitätsblätter Heft 92. Juni 1986. 27. Vgl. ferner Den Führer führen? In O. Pöggeler Neue Wege mit Heidegger Freiburg/München 1992. 203 ff.

Heideggers logische Untersuchungen

35

digkeit von Heideggers „Denken" wieder. Heidegger fand die „großen Schaffenden" bald nicht mehr unter jenen, die sich selbst dazu ernannt hatten, sondern in den Scheiternden: Antigone, Hölderlin, Nietzsche, Vincent van Gogh. Wie sehr die Einsamkeit Nietzsches auch Heideggers Schicksal wurde, zeigt sich daran, daß er auch zu seinen engsten Schülern nicht von seinem eigentlichen Hauptwerk, den Beiträgen zur Philosophie von 1936-1938 gesprochen hat (erst zum hundertsten Geburtstag erschienen diese Beiträge aus dem Nachlaß). Der eigentliche, aber verschwiegene Titel dieser Beiträge lautet: Vom Ereignis. Legt man neben diese Beiträge jedoch die Schrift Das Ereignis von 1941/42, dann ist nicht unmittelbar klar, daß beide Arbeiten vom selben Autor stammen. Gerade weil Heidegger in Nietzsches Aufzeichnungen die Wirklichkeit unserer Zeit angesprochen fand, mußte Nietzsche angesichts der Verirrungen dieser Zeit zurückbleiben. Als der Chemiker Kuhn 1942 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt erhielt, machte Heidegger in einer bekannten Aufzeichnung darauf aufmerksam, daß hier jene Wissenschaft unter den Schutz Goethes gestellt werde, die die künstliche Schwängerungsführung neben der längst eingerichteten Schrifttumsführung möglich mache; die „Führer" seien nur jene Funktionäre, die mit sicherem Instinkt durch die technische Intelligenz die wirkliche oder angebliche Animalität im Menschen organisierten (nämlich die Mechanik der gesellschaftlichen Konkurrenz, die Klasse oder die Rasse). Mehr als Nietzsches Aphorismen zeigten nun die Fragmente Heraklits und Hölderlins Spuren für einen Weg in die Zukunft.25 Wenn Nietzsche vom Widerstreit zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen gesprochen hatte, dann war nach Heideggers Auffassung die Aufgabe angezeigt, aus dem Erleiden des Werdens heraus die begrenzenden Formen zu finden. Damit waren die Bahnen der Aristotelischen Philosophie nicht einfach verlassen; vielmehr war an deren tiefere Dimensionen erinnert worden. Heidegger hatte Aristoteles zuerst von Franz Brentanos Dissertation und damit vom mittelalterlichen Aristotelismus her gesehen, aber gefragt, wie die Ousia als leitende Bestimmung des Seins zurückgestellt werden müsse in unterschiedliche Zeithorizonte. Auch der Bezug auf Kants Schematismus-Lehre knüpft hier an. Nietzsches Rede von der Schematisierung des Chaos nach praktischen Bedürfnissen kennt diese Aufgabe nur in einer verstellten Form; doch kann Nietzsches Fragestellung dazu führen, den leitenden Begriff vom Sein bei Aristoteles in der Energeia zu finden, die die Dynamis oder offene Möglichkeit in sich trägt. Wird die Dynamis aufgefaßt als „Eignung", dann wird die Energeia, die nicht mehr als Entelecheia abgesichert ist, zum Ereignis. Heidegger ließ die Aristotelische Theologie als einen Irrweg der Metaphysik auf sich beruhen; so wurde ihm das, was Aristoteles zu denken versuchte, zum Nachklang frühesten griechischen Denkens, etwa des Einklangs von Physis, Aion, Aletheia und Logos bei Hera-

2i

Vgl. Vorträge und Aufsätze. 91 ff. - Zum folgenden vgl. Einführung in die Metaphysik. 54 ff.

36

Logik und Zeit

klit. Sicherlich kann man darauf aufmerksam machen, daß „Physis" bei Heraklit kaum schon der Name für das Ganze des Seienden oder dessen Aufgehen in die Offenheit ist. Doch Heidegger sieht das Sein nun auch ursprünglich mit dem Werden dadurch verbunden, daß er an die indogermanischen Wurzeln erinnert, die neben Formen wie „wir sind" auch Formen wie „ich bin" ermöglichen und so wie das Wort „Physis" auf ein Werden verweisen. Wenn Nietzsche ein Denken, wie es im tragischen Zeitalter der Griechen verwirklicht worden war, in verwandelter Weise für die eigene Zeit zurückzuholen suchte und auf eine neue „Tragödie" hoffte, dann verstrickte er sich in die Zweideutigkeiten des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Als Hölderlin sich dieselbe Aufgabe einfacher und reiner stellte, suchte er sich einen Weg auch durch Überlegungen zu öffnen, die an die Philosophie anknüpften. So konnte Heidegger sich durch Hölderlins Gedanken über das „untergehende Vaterland" auf seinem Weg bestätigt fühlen, den Untergang als Übergang zu fassen, nämlich als eine Tragödie, die neue Wege lehrt. Nach Hölderlin fühlt sich in diesem Übergang „auch das Neueintretende, Jugendliche, Mögliche". Heidegger sieht das „Wesen des ursprünglichen Seyns" angesprochen in Sätzen wie dem folgenden: „Aber das Mögliche, welches in die Wirklichkeit tritt, indem die Wirklichkeit sich auflöst, dies wirkt. "24 In den Beiträgen zur Philosophie folgt Heidegger den Winken Hölderlins. Mit Hölderlin bestimmt er auch die Aufgabe des Dichtens neu, das Heilige zu nennen, indem er im Heiligen und Göttlichen den Rückbezug der Zeit auf das „Ewige" sieht. Dieses Ewige aber wird mit Hölderlin gefaßt als der „Vorbeigang", der jeweils seine Stunde hat. Das Denken kann sich dieses Nennen des Heiligen nicht anmaßen; ihm bleibt als Aufgabe die Entfaltung der Rede vom Sein. Im Sein wird uns das Seiende offen; die Offenheit des Seins selbst (als Sein des Dinges oder Sein des Menschen) gehört jedoch in unterschiedliche Konstellationen. So ist das Sein nur Grund für die Offenheit des Seienden, in dem sich seine Offenheit zugleich immer auch entzieht. Für die unterschiedliche Offenheit des Seins selbst kann kein Grund mehr angegeben werden (da in ihr erst das Gründen sich entfaltet); sie bleibt abgründig und verstellt ungründig durch die gewährte Offenheit sich selbst mit dem Entzug in ihr. Sie ist Lichtung für das Sichverbergen und so Ereignis. Die hier nötige Logik der Philosophie muß alle gewährte Offenheit zurückstellen in den Entzug und die Verbergung und damit in das zu bergende Geheimnis. So kann Heidegger diese Logik in den Beiträgen ansprechen als „Sigetik", nämlich als das Erschweigen des Geheimnisses in aller Offenheit von Sein und Seiendem. Rudolf Bultmann hat diese Verwandlung der formal anzeigenden Hermeneutik in die strukturale Analyse einer Konstellation nie mitvollzogen (nach seiner 24

Vgl. Hölderlins Hymnen „Germanien" und „Der Rhein". 122 f. - Zur Frage nach den Grenzen von Heideggers Bezug zu Hölderlin vgl. meine Einleitung zu dem Sammelband Jenseits des Idealismus Hölderlins letzte Homburger Jahre Hrsg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler. Bonn 1988. 48 ff., ferner 252 ff.

Heideggers logische Untersuchungen

37

Auffassung gelten die Existenzialien, wenn sie überhaupt Phänomene fassen, durchweg überzeitlich). Für Heidegger dagegen blieb die Logik der Philosophie ein offenes Problem im „Unterwegs zur Sprache". Die Wendung in seinem Denken, die sich Anfang der vierziger Jahre durchsetzt, kann man vielleicht fassen durch den Unterschied zwischen „Wink" und „Spur". Mit Hölderlin sagt Heidegger, daß „Winke" die Sprache der Götter seien. Gedacht ist dabei daran, daß jemand, der Abschied nimmt, in diesem Sichentfernen noch einmal uns zuwinkt. In jedem Fall werden Anwesen und Abwesen oder Nähe und Ferne hier von einer unmittelbaren Gegenwärtigkeit her verknüpft. Die Spur verweist dagegen auf das schon oder noch Entfernte, das sich aber als Fußspur der Erde eingeschrieben hat. So ist das Moment der Abwesenheit in gesteigerter Weise da. Heidegger knüpfte bei der Rede von der Spur an Hölderlins Elegie Brot und Wein an, die dem Dichter die Aufgabe zuspricht, auf der Spur der entflohenen Götter zu bleiben. Bezeichnend ist, daß Heidegger um 1946 die Rede von der Spur nach ihren verschiedenen Dimensionen hin entfaltete (in den Aufsätzen über Anaximander und Rilke, die dann in den Band Holzwege aufgenommen wurden). In dieser Zeit begann Heidegger auch, mit Hilfe eines chinesischen Bekannten sich die Sprüche des Laotse zu vergegenwärtigen, in denen die einzelnen Bildzeichen in vielfacher Verflechtung miteinander verknüpfbar sind. Indem Heidegger sich schließlich in intensiver Weise mit den Bildern Paul Klees auseinandersetzte, ging er jenen französischen Phänomenologen voran, die trotz Piaton das Tun der Maler und Philosophen zueinanderstellen. Hat Heidegger es vermocht, Hölderlins Rede von der Spur auszuschöpfen oder gar der Weise gerecht zu werden, wie ein heutiger Dichter die Aufgabe Hölderlins übernehmen könnte? Bleiben hier Zweifel, dann wird auch wichtig, wie die phänomenologische Philosophie die Rede von der Spur weitergeführt hat. Emmanuel Levinas hat 1963 in seinem Aufsatz „Die Spur des Anderen" geltend gemacht, daß wir nicht auf der Spur zum Eigenen sind, sondern immer schon auf der Spur zum Anderen. Levinas konnte sich dabei auf die religiöse Tradition berufen und das 33. Kapitel des Buchs Exodus einbringen, in dem Gott sich dem Moses nur im „Vorbeigang" zeigt. Ricoeur hat diese Konzeption der Spur gegen Hegels Geschichtsphilosophie gewandt, um jener „dokumentarischen Revolution" gerecht zu werden, die um 1800 die geschichtsträchtigen Monumente in kritisch distanzierte Dokumente verwandelte. Derrida hat das Anliegen von Levinas mit Freuds Rede verbunden, nach der nur das verletzte Unbewußte im Gedächtnis eine Dauerspur aufbaut.25 Sicherlich führt diese Rede von der Spur an die Grenzen der philosophischen Arbeit; doch von diesen Grenzen her hat die philosophische Tradition immer gesprochen. So hat Vico die Logik der Philosophie von der Tradition der Rhetorik her durchsichtig 25

Vgl. die Aufsätze zu Levinas, Ricoeur und Derrida im Band 24 der Hegel-Studien (1988), ferner 0. Pöggeler: Spur des Worts Zur Lyrik Paul Celans. Freiburg/München 1986. 20 ff., 401 f. - Zum folgenden vgl. meinen Beitrag Toptk und Philosophie in: Topik. Hrsg. von D. Breuer/H. Schanze. München 1981. 95 ff.

38

Logik und Zeit

zu machen versucht, indem er die Philosophie zurückbezog auf jene phantasie geschaffenen Universalien, die auf indirekten und verschlungenen Wegen in der Geschichte aufgebaut und dann der philosophischen Klärung übergeben werden. Erst wenn man die Wege der philosophischen Tradition zusammen mit Heideggers Weg im ganzen nachvollzieht, kann man die Frage entfalten, ob Heideggers ständig neuer Ansatz zu logischen Untersuchungen neben einem scheinbar so vollendeten Werk wie Husserls Logischen Untersuchungen Bedeu tung hat.

2. Zeit und Sein bei Heidegger Steven Weinberg empfiehlt in seinem Buch über den Ursprung des Universums {The First Three Minutes, New York 1977) als Alternative zu seinen Hypothesen die quasimythologischen Vorstellungen der jüngeren Edda, die um 1220 von Snorri Sturleson zusammengestellt wurde: Die Hitze, die von Muspellheim südlich des Nichts ausgeht, bringt das Eis von Nebelheim nördlich des Nichts zum Schmelzen; aus den Schmelztropfen entsteht der Riese Ymir, der sich von einer Kuh Audhumla nährt, die ihrerseits salzige Steine leckt, usf. Die alten Isländer machten sich die Entstehung der Welt und dessen, was in ihr ist, von dem her verständlich, was sie besonders beeindruckte: Eis und Feuer, Leben und Nahrung. Der moderne Wissenschaftler kann die Anschaulichkeit der Erzählungen nicht erreichen; schon im Titel seines Buches wird er zudem paradox: obwohl wir die Minute durch eine Teilung von Bewegungen in unserem Sonnensystem gewinnen oder durch Zählung von Schwingungen eines Atoms, wird die Zeit der Minuten in einen Zustand hineingetragen, wo es weder das eine noch das andere gab. Der Physiker kann schließlich nichts Verläßliches darüber sagen, ob die Zeit des Universums jener Lebenszeit einer Kuh ähnlich ist, die einmalig und unumkehrbar nach vorn, zum Tod hin, gelebt werden muß. Mit einigen leichten Manipulationen an den überlieferten Rechnungen hat Hegel es noch einmal fertiggebracht, den Sturz der alten biblischen Zeitrechnung rückgängig zu machen und Zeit oder Geschichte auf 7500 Jahre zu begrenzen und als wohlgeordnete Darstellung des Ewigen zu begreifen. Doch noch zu Hegels Lebzeiten begann der Embryologe Karl Ernst v. Baer zu arbeiten, dessen bekannte Zeit-Fiktionen den endgültigen Sturz der Spekulationen ä la Hegel anzeigen. Ertrinkt der Mensch mit seiner Zeit nicht in den Zeiträumen, die der Evolution des Lebendigen oder gar der Entstehung der Sternsysteme zugeschrieben werden, und zerschellt seine Weise, Zeit zu haben, nicht an anderen Weisen der Zeit? Kürzlich, vor nicht viel mehr als zweitausend Jahren, sagte man noch „Alles ist Wasser oder Feuer"; jetzt scheint eher eine These wie „Alles ist Zeit" an der Zeit zu sein. In jedem Fall neigen Historiker, denen es primär um den Menschen geht, zu Thesen dieser Art, und so lesen wir denn etwa bei Spengler ein trotziges „Wir sind die Zeit". Aber selbst einzelne Aspekte dieser Zeiterfahrung werden sehr unterschiedlich dargestellt. So sagt Spengler von der Erfindung der Räderuhren und der mit ihnen verbundenen Turmuhren und Glockenstühle (also eines Vorspiels der heutigen Apparatur zur Zeitmessung): „Unter den Völkern des Abendlandes waren es die Deutschen, welche die mechanischen Uhren erfanden, schauerliche Symbole der rinnenden Zeit, deren Tag und Nacht von zahllosen Türmen über Westeuropa hin hallen-

40

Logik und Zeit

de Schläge vielleicht der ungeheuerste Ausdruck sind, dessen ein historisches Weltgefühl überhaupt fähig ist." Heidegger dagegen erinnert in dem Text Vom Geheimnis des Glockenturms daran, daß dieses Uhrenwesen der religiösen Formung der Zeit entsprang, der Glockenturm mit seinen Zeichen Jahreszeiten und Stunden in jene „geheimnisvolle Fuge" fügte, die „eines der zauberhaftesten und heilsten und währendsten Geheimnisse des Turmes birgt, um es stets gewandelt und unwiederholbar zu verschenken bis zum letzten Geläut ins Gebirg des Seyns". Während Weinberg abschließend festhält, das Universum erscheine um so „sinnloser", je begreiflicher es werde, Spengler nicht viel anders denkt, sucht Heidegger die Philosophie an die religiöse Tradition anzuschließen; freilich wirken die Superlative, die er gehäuft gebraucht, nicht gerade vertrauenerweckend. Wenn Zeit in dieser unterschiedlichen Weise erfahren wird, muß die Philosophie dann die Zeit nicht zum Problem, zur Aufgabe ihres Denkens machen und so den Menschen, der durch all seine Forschungen und Entdeckungen desorientiert ist, wenigstens über die unterschiedlichen Weisen des Zeitbezugs orientieren? Wenn die phänomenologische Philosophie (zusammen mit Bergson und Dilthey) etwas eingebracht hat in die philosophische Arbeit der letzten hundert Jahre, dann den Versuch einer solchen Orientierung. Den radikalsten Versuch scheint Heidegger unternommen zu haben: die Auszeichnung des „Ist" in den indogermanischen Sprachen hatte die Seinsfrage zur zentralen philosophischen Frage gemacht; diese Frage wird von Heidegger gefragt als Frage nach Sein und Zeit. Kehrt aber die Philosophie mit solcher Radikalität nicht zurück zu spekulativen oder quasimythologischen Thesen? Eine Phänomenologie der Zeit, die vor allen Konstruktionen unsere Zeiterfahrungen aufwiese und einigermaßen verläßlich ordnete, findet sich (trotz des Ansatzes in den Schlußparagraphen vowSein und Zeit) bei Heidegger kaum. Englische oder amerikanische Philosophen, die sich über die Tradition des kontinentaleuropäischen Denkens orientieren möchten, fragen gelegentlich erstaunt, wo Heideggers Denken denn überhaupt „Ergebnisse" gebracht habe - also systematisch ansetzende Arbeiten wie Husserls Logische Untersuchungen. Kritiken dieser Art verkennen jedoch, daß Heideggers Denken seine entscheidenden Wirkungen als Korrektiv anderer Ansätze und als Hinweis auf neue Wege erreicht hat: Die phänomenologische Philosophie gewann durch Heideggers Einsatz eine neue Dimension; von der existenzialen Interpretation aus konnte die christliche Theologie neu aufgebaut, aber auch eine Philosophie und Geschichte der Mathematik entworfen werden (durch Oskar Becker zugleich mit Sein und Zeit im gleichen Band von Husserls Jahrbuch). Die spätere Erörterung der Geschichte des Seins führte zu einer neuen Aufarbeitung der philosophischen Traditionen; aber auch die sogenannte Rehabilitierung der Praktischen Philosophie verdankt entscheidende Anstöße dem Umgang des jungen Heidegger mit Aristoteles. Heidegger hat der Gesamtausgabe seiner Arbeiten, die er in den letzten Jahren seines Lebens plante, schließlich nur das Motto vorangestellt: „Wege - nicht Werke". Dieses Motto schließt die Überzeugung ein, daß auch die leitende Fra-

Zeit und Sein bei Heidegger

41

ge nach Sein und Zeit nur auf unterschiedlichen Wegen entfaltet wurde, vielleicht nur so zu entfalten ist. Als Heidegger nach dem Zweiten Weltkrieg die Rezeption seines Denkens von der Ausrichtung auf eine existenzphilosophische Deutung weg- und zu anderen Fragen hinführen wollte, hat er von einer „Kehre" gesprochen, die er zu machen gehabt habe. Nachdem man aus dieser Rede ein Deutungsschema für Heideggers Denkweg - eine Einteilung von „Heidegger" in Heidegger I und II - gemacht hatte, hat Heidegger selber darauf hingewiesen, daß eine Einteilung seines Denkwegs in drei Phasen angemessener wäre. Was dabei für Heidegger vom eigenen Werk zählt, sind die Ausarbeitungen seit 1923. Vor 1923 hat Heidegger aber in Lehrveranstaltungen, in denen er vielleicht seine bedeutendste Wirkung erreichte, schon eine Phänomenologie des Lebens vorgetragen, und zu dieser Phänomenologie war er nach einer Krise gekommen, in der er von seinen ersten Versuchen Abschied nahm, die metaphysische Tradition fortzusetzen. Wenn Heideggers Denken ein Weg ist oder wenn von Wegen gar nur im Plural gesprochen werden kann, dann muß für alle diese Phasen gefragt werden, wie die Zeit in ihnen zum Thema wurde. Wer den Weg von Heideggers Denken nachgehen will, muß auf die leitenden Motive achten und die Argumente prüfen, mit denen der eine Ansatz zugunsten eines anderen verlassen wurde. Heidegger hat z. B. den dritten Abschnitt von Sein und Zeit mit der entscheidenden temporalen Interpretation des Seins nicht publiziert. Die publizierten Abschnitte von Sein und Zeit geben freilich viele Hinweise auf diesen Abschnitt, der also genau konzipiert sein mußte; die Vorlesungen aus der Zeit der Arbeit an diesem Buch bringen zur Darstellung dieses Abschnittes aber nur embryonale Ansätze. Die Abhandlung Vom Wesen des Grundes stellt die temporale Interpretation vorläufig zurück; die dann einsetzende Frage nach dem Wesen der Wahrheit geht neue und andere Wege. Hatte Heidegger Gründe für diesen Wechsel des Ansatzes? Statt diesen Gründen nachzugehen, hat man noch zwanzig Jahre nach dem Abbruch des Ansatzes von Sein und Zeit gefragt, wie die Geschichte des Denkens und des Lebens der Menschen sich wandeln würde, wenn Heidegger aus seiner Todtnauberger Hütte das Manuskript dieses Abschnittes in die Niederungen unserer Städte gelangen lassen würde. Wiederum fünfundzwanzig Jahre später hat man die Gegenrechnung aufgemacht: ein Buch, das mit bibliothekarischer Sorgfalt die Vorverweise auf den dritten Abschnitt von Sein und Zeit zusammenstellt, kommt doch zu der These, Heidegger habe uns Sein und Zeit in seiner Vollständigkeit vorenthalten, weil er die Macht und den schnellen Einfluß mehr geliebt habe als die Erkenntnis (obwohl die entscheidende Krise in Heideggers Denken einige Jahre vor der Verwicklung in die Politik liegt). Der editorische Bericht, Heidegger habe sein Manuskript verbrannt, konnte unter diesen Umständen nicht ausbleiben.26 In je-

Vgl. Egon Vtetta Die Seinsfrage bei Martin Heidegger Stuttgart 1950. 30, 22; HansDiedrich Kempf Martin Heideggers Sorge Bonn/Brüssel \979;Sein und Zeit. Frankfurt a. M. 1970. 582 (editorisches Nachwort).

42

Logik und Zeit

dem Fall liegen genügend Texte zur Rekonstruktion des Heideggerschen Ansat zes und seiner Aporien vor. Dieses Nachgehen des Weges von Heidegger als Rekonstruktion der Motive und Ansätze vom jeweiligen Gedankengang her ist aber immer noch die erste Voraussetzung für eine Entscheidung der Frage, wel chen Beitrag Heidegger und welchen Beitrag die phänomenologische Philoso phie zum philosophischen Fragen der Gegenwart geleistet habe.

I. Einstieg in die Tradition Heidegger ist als Student von der Theologie zur Philosophie gegangen; so er möglichte ihm sein Studium den Einstieg in die klassische philosophische Tra dition: Scholastik und Mystik des Mittelalters, Aristoteles als der große Lehrer des Abendlandes, dazu der Neukantianismus bestimmen den Versuch, mit Rickert und Lask eine Kategorienlehre und Methodenlehre auszuarbeiten, den Bereich der Wirklichkeit nach den unterschiedlichen Bereichen zu gliedern und die Zugangsweisen zu den Bereichen festzulegen. Das ideale Sein des Logischen wird vom realen des Sprachlichen und Psychischen unterschieden. Mit Rickert glaubt Heidegger jedoch, Wertgestaltung in der Zeit auf eine überzeitliche Wertgeltung beziehen zu können. So wird Zeit in ein Verhältnis zur Ewigkeit gesetzt, die Geschichte mit Hegel in ein Verhältnis zum System. In seinem Habilitationsvortrag unterscheidet Heidegger in Fortführung der Arbeit Rickerts und Windelbands die Bereiche von Natur und Geschichte, in dem er den Zeitbegriff der Naturwissenschaften vom Zeitbegriff der Ge schichtswissenschaften abhebt. Das Motto, das Heidegger seinem Vortrag vor anstellt, unterscheidet jedoch mit einem Wort des Meisters Eckhart Zeit und Ewigkeit: „Zeit ist das, was sich wandelt und mannigfaltigt, Ewigkeit hält sich einfach." Nach Piatons Timatos ist die Zeit Bild der Ewigkeit; der damit gesetz te abkünftige Charakter der Zeit wird vom Neuplatonismus herausgestellt. Als im italienischen Ostgotenreich die letzten römischen Patrizier und die germani schen Eroberer die begonnene Zusammenarbeit durch Mißtrauen und Ver dacht zerstörten, dachte Boethius im Kerker die philosophische Ausrichtung der Vernunft auf das Ewige und das christliche Heilsverlangen im Vorsehungs begriff zusammen und stellte diesen Begriff über den Schicksalsbegriff; die Ewigkeit oder Aeternitas stellt in einen geordneten Zusammenhang, was in der Zeit zerstreut und isoliert ist. Dieser Tradition folgt Eckhart; zahllos sind bei ihm die polemischen Äußerungen gegen die Zeit: Für die Seele, die bei Gott und in Gott ist, ist das, was vor tausend Jahren geschah, nicht entfernter als die bestimmte heutige Stunde. Da die Zeit trennt, der Raum dagegen zusammenzu halten scheint, kann sich die Mystik nicht nur der Rede von der Überwindung der Zeit, sondern in einem positiven Gebrauch auch der Raummetaphorik be dienen (in der Rede von Nähe, Tiefe, Grund und Abgrund). Heideggers Eck hartzitat stammt aus der Predigt Consideravit domum. Der zugrundeliegende Spruch Salomons (31, 27) sagt in der Epistel des Festtags der heiligen Elisabeth

Zeit und Sein bei Heidegger

43

von der „guten Frau", sie habe die Stiegen ihres Hauses abgeleuchtet und das Brot nicht müßig gegessen. Eckhart legt bekanntlich nicht nur die allegori schen, sondern auch die historischen Teile der Bibel allegorisch aus; auch ge genüber unserem Spruch wendet er die allegorische Auslegung an: Das Haus bedeutet die Seele, die Stiegen sind dann die Kräfte der Seele. Mit den niederen Kräften berührt die Seele die Zeit und ist dem Wandel unterworfen; mit den oberen Kräften rührt sie an die wandellose Ewigkeit Gottes und wird sie nach Gott gebildet, der nur nach sich selbst gebildet ist: „Sein Bild ist, daß er sich durch und durch erkennt und nichts als Licht ist." Freilich überschreitet Eck hart die neuplatonische Ausrichtung auf das Erkennen und Denken, wenn er den Akzent auf das Streben der Seele legt, das nicht ertragen kann, daß Gott über ihm ist, das sich in Gott und Gott in sich finden muß. Doch gerade mit diesen Gedanken kann Eckhart an die Tradition der Weisheitsliteratur und an deren praktische Ausrichtung anschließen. Mochte Heidegger sich bald von den Anfängen seines Denkens entfernen: dieser Einstieg in die Tradition hat ihn bleibend geprägt. Auch die spätere Ab setzung von der Konstruktion der Systeme, das Bestehen auf Deskription und Analyse bleiben von der Spekulation geprägt. Vom Neukantianismus über nimmt Heidegger die Auffassung, in der Physik finde sich das Modell naturwis senschaftlicher Erkenntnis, dem das Modell der Historie entgegenzusetzen sei. In diesem Sinne setzt der Habilitationsvortrag voraus, der Zeitbegriff der Phy sik und damit der Naturwissenschaften nehme Zeit als eine homogene Stellen ordnung von Zeitpunkten. Der mechanische Vorgang eines Billardspiels könn te somit zur Erläuterung dienen und dann auch zu der weiteren Frage führen, ob die Zeitrichtung des Spiels nicht auch umgekehrt gedacht werden könne. Wenn die qualitative, wertbezogene Zeitauffassung der Geschichtswissenschaf ten von diesem Zeitbegriff abgesetzt wird, dann ist die historische Zeitrechnung nach ausgezeichneten Ereignissen (Gründung der Stadt Rom, Geburt Christi) im Blick. Durch diese Orientierung an ausgewählten Wissenschaften werden ganze Wissenschaftsgruppen wie die Biologie und deren Anwendungen in den Hintergrund gedrängt. Der Gebrauch der Mathematik wird vor allem den soge nannten Naturwissenschaften zugesprochen; umgekehrt wird nicht herausge stellt, wie Deskription und Morphologie, ja Historie zu den Naturwissenschaf ten, etwa zur Botanik, gehören. Die kartesische Unterscheidung zwischen Den ken und Ausdehnung bestimmt offenbar in verwandelter Form diese Gegen überstellung von Geschichte und Natur. Die überlieferte Beziehung der Zeit auf die Ewigkeit vermag sich am ehesten in den Bereich der Geschichte zu retten und muß dann gegen die Behauptung einer absoluten Zeit durchgehalten werden, die von Newton durchgesetzt wor den war. In den unruhigen Vorahnungen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, wie sie von Dostojewskij, Nietzsche und Kierkegaard geweckt wurden, dann in der Katastrophe dieses Krieges wurde aber zu Gewißheit, daß die Erfahrung der Geschichte von den überlieferten Vorstellungen und von den Kompromis sen mit ihnen Abschied zu nehmen hatte. So schrieb Heidegger am 9. Januar

44

Logik und Zeit

1919 seinem Förderer, dem Freiburger Theologen Engelbert Krebs: „Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht - nicht aber das Christentum und die Metaphysik (diese allerdings in einem neuen Sinne) ..." 2 7 Es ist also vor allem die „Theorie geschichtlichen Erkennens", die auf neue Wege bringt.

II. Transzendentale und hermeneutische Phänomenologie Als Heidegger nach dem Ersten Weltkrieg in Freiburg als selbständig Lehrender auftrat, hatte er sich der Phänomenologie Husserls angeschlossen: diese entfalte ein ursprüngliches Fragen, passe Philosophie nicht n u r von der Tradition her als Neukantianismus oder Neuhegelianismus dem Zeitalter der Wissenschaften an. Husserls Phänomenologie ist nach Heidegger in der Tat Wissenschaft vom Ursprung, aber in ihrer faktischen ersten Ausgestaltung einseitig am theoretischen Erkennen orientiert. Diese Einseitigkeit kann nach der JaspersRezension nicht durch ergänzende Phänomenologien des ästhetischen, ethischen, religiösen Erlebens aufgehoben werden; vielmehr muß der genannte Ursprung als das „volle Erfahren in seinem eigentlich faktischen Vollzugszusammenhang im historisch existierenden Selbst" gefunden werden. Das Leben ist „faktisch" hier und jetzt; das Erleben ist ein Erfahren, das sich im Leben aufbaut; die faktische Lebenserfahrung ist historisch. Wenn Bergson, Dilthey und Nietzsche das volle Leben gegen das blutleere Bewußtsein ausspielten, so radikalisiert Heidegger dieses Leben mit Kierkegaard und wie Jaspers zur Existenz; doch der lebens- und existenzphilosophischen Begriffsfeindlichkeit gegenüber will Heidegger „hermeneutische Begriffe" nach ihrem eigenen Charakter hin zur Explikation des Lebens herausarbeiten. 2 8 Kierkegaards indirekte Mitteilung wird zur formalen Anzeige, die das Leben in die allgemein verbindlichen Strukturen seines Vollzuges hineinführt, aber die angezeigte konkrete Erfüllung in der Schwebe hält und so z. B. als politische oder religiöse Entscheidung außer sich hat. Gleich im Wintersemester 1919/20 weist Heidegger in einer Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie die einseitig theoretische Ausrichtung der Phänomenologie zurück durch den Nachweis, daß das faktische Leben in eine Umwelt hineinlebt, in der Mitwelt Welt mit anderen teilt, sich in der „Bekümmerung" um sich selbst auf die Selbstwelt konzentriert. Diese Konzentration des faktischen Lebens auf die Selbstwelt sei uns selbstverständlich geworden, doch sei sie erst in der christlichen Urgemeinde entdeckt

27

28

Vgl. Bernhard Casper Martin Heidegger und die theologische Fakultät Freiburg 19101923. In: Kirche am Oberrhein Hrsg. von R. Bäumer, K. S. Franz, H. Ott. Freiburg i Br. 1980. 534-541. Vgl. die Jaspers-Rezension in: Wegmarken (s. Anm. 46). Zu den frühen Freiburger Vorlesungen s. Anm. 17.

Zeit und Sein bei Heidegger

45

worden und habe sich dann gegen die Verschüttung durch die antike Wissenschaft in gewaltigen Eruptionen wieder durchsetzen müssen (bei Augustin, in der mittelalterlichen Mystik, bei Luther und Kierkegaard). Die tendenziöse Struktur des faktischen Lebens, das sich in seiner Erfahrung historisch durchsichtig wird, muß sich gegen den Abfall von sich immer neu durchhalten; damit aber werden die Geschichte und deren „Destruktion" statt der Psychologie zum entscheidenden Leitfaden der Phänomenologie. Im März 1919 berichtet Husserl seinem einstigen Göttinger Kollegen Rudolf Otto nach Marburg, seine Freiburger Lehrtätigkeit habe „etwas merkwürdig Revolutionierendes": Evangelische würden katholisch, Katholische (wie Heidegger) evangelisch, obwohl er doch als „freier Christ" und „undogmatischer Protestant" auf „alle wahrhaftigen Menschen, mögen es Katholische, Evangelische oder Juden sein", wirken wolle. Husserl konzediert Heidegger ausdrücklich, daß bei ihm das „theoretisch philosophische Interesse" das religiöse überwiege; er sieht aber (noch) nicht, daß Heidegger gerade die Phänomenologie „revolutioniert". Von den beiden Assistenten Husserls sollte O. Becker die transzendentale Phänomenologie auf die Felder von Naturwissenschaft und Mathematik anwenden, Heidegger auf die Felder der Geschichte; so geschah es ganz unter Zustimmung Husserls, daß Heidegger im Winter 1920/21 Einleitung in die Phänomenologie der Religion las und dabei, wie Husserl ausdrücklich betonte, auch z. B. auf den Galaterbrief einging. Husserl war durch Heidegger und dessen Freund Ochsner auf Rudolf Ottos Buch Das Heilige von 1917 aufmerksam gemacht worden und hatte in diesem Buch den Ansatz zu einer Phänomenologie der Religion gefunden. Husserl bemerkte aber, die Eidetik des Religiösen sei vernachlässigt, zudem trage der Metaphysiker und Theologe Otto den Phänomenologen davon (er erinnere an jene Engel auf den alten Bildern, die mit ihren Flügeln ihre Augen decken). Konnte Heidegger den Ansatz Ottos korrigieren?29 Heidegger hatte im August 1917 in einem privaten Kreis über das Problem des Religiösen bei Schleiermacher gesprochen, dabei die Frage nach dem Wesen der Religion im Sinne der zweiten der Schleiermacherschen Reden in den Vordergrund gerückt. Als Lessing unter dem Hinweis auf Spinoza dargelegt hatte, daß die orthodoxen Begriffe von der Gottheit nichts mehr für die Zeit seien, hatten Schleiermacher mit seiner hermeneutischen Rückführung der Religion auf das Leben und Hegel mit seiner spekulativen Theologie unterschiedliche Wege eingeschlagen; diese Wege wurden für Heidegger bedeutsam (ehe Hölderlin für ihn entscheidend wurde). Rudolf Otto, der sich in die Tradition von Schleiermacher (und Fries) stellte, gibt auch eine Kritik des Schleiermacherschen Ansatzes: Wenn Schleiermacher Religion in das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit setzt, dann spricht er zwar nicht von der Abhängigkeit des einen vom andern, sondern von der schlechthinnigen Abhängigkeit 29

Vgl. Husserls Brief an Otto sowie Heideggers Vortrag über Schleiermacher in: Das Maß des Verborgenen Heinrich Ochsner zum Gedächtnis Hrsg. von Curd Ochwadt und Erwin Tecklenborg. Hannover 1981. 157-160, 92, 266.

46

Logik und Zeit

eines Teils vom Ganzen; doch bleibt die Vorstellung von Kausalität und Abhängigkeit fragwürdig (Otto will lieber von einem Kreaturgefühl sprechen). Die Rede vom Gefühl geht überdies aus von der Spiegelung des Göttlichen im Menschen, während Religion doch vom Göttlichen selbst spricht. So möchte O t t o lieber von einer Gestimmtheit sprechen, da diese Rede zumal in ihrem musikbezogenen Gebrauch stärker objektbezogen ist. Zentral ist dann die Gestimmtheit der Scheu (aidös). Damit gibt Otto einen Ansatz vor, den Heidegger ausbauen wird, und doch hält Heidegger den leitenden Vorgriff Ottos für verfehlt. Nach O t t o ist das Numinose der Scheu oder das Göttliche und Heilige in seiner Tiefe irrational, doch kann es in „synthetischen" Begriffen rational geformt oder schematisiert werden (so daß das tremendum zur Gerechtigkeit Gottes wird, das fascinans zur G ü t e und Liebe, das mirum zur Absolutheit). Nach Heidegger geht es jedoch beim Phänomen des Religiösen nicht um ein Rational-Irrationales, sondern um das faktische Leben, das als historisches erfahren sein will. Wenn Heidegger sich für diese Erfahrung auf den Galaterbrief beruft (und noch in Marburg einen Vortrag über Luthers Galaterbriefkommentar hält), dann rückt er mit der Historizität die Freiheit in den Vordergrund, die sich gegen den Abfall in die gesetzliche Regelung oder zu den Idolen behaupten muß. Was die Rede vom Historischen meint, hat Heidegger vor allem an ältesten Dokumenten des Urchristentums, dem 4. und 5. Kapitel des ersten Thessalonicherbriefes und dem 2. Kapitel des zweiten deutlich gemacht: Das faktische Leben (hier der christlichen Urgemeinde) ist nach der Sprache dieses Briefes charakterisiert durch das, was es schon gesehen hat oder weiß; es muß sich gegen den Abfall von sich durchhalten und unter ein Maß stellen (den Glauben an Jesus als den Christus). Dieses Sichausrichten wird vom Apostel als Wach-Sein gefordert; die „Parousie" Christi ist aber nicht durch chronologische Charakrerc als dann oder dann eintretend zu bestimmen, sondern nur kairologisch als Ausgerichtetsein auf das Plötzliche und gehaltlich nicht Bestimmbare, das unverfügbar bleibt. 50 Heidegger verfolgt in seiner Vorlesung auch die Entfaltung der jüdischen Erwartung des „Tages des Herrn"; nach seiner Auffassung kann jedoch der religionsgeschichtliche Rückgang bis hin zu iranischen Vorstellungen die christliche Eschatologie nicht verständlich machen, da diese die Zeiterfahrung revolutioniert habe und nicht von stärker linearen Zeitvorstellungen her zu verstehen sei. Zudem tue die Paulinische Theologie einen entscheidenden Schritt, indem sie nicht mehr einen Prediger des Tages des Herrn vorstelle, sondern in der Erfahrung des Jesus als des Christus und der Hoffnung auf das „zweite" Kommen ,0

Wenn Heidegger sich auf den urchristlichen Glauben als auf ein Modell bezieht, geht es nicht um Theologie, sondern um die leitenden Motive des Lebens. Das Wachsein, das durch Paulus gefordert wird, hat bei Heidegger einen anderen Kontext, wenn er z. B. im Sommer 1923 sich im Schwarzwald auf jugendbewegte Weise vor einem Feuer von dem Freiburger Kreis verabschiedet mit den Worten: „Wach sein am Feuer der Nacht" (vgl. Hans-Georg Gadamer Philosophische Lehrjahre. Frankfurt a. M. 1977. 214).

Zeit und Sein bei Heidegger

47

Christi das Leben auf den Kairos dieses Tages ausrichte. Wenn Heidegger im Sommer 1921 über Augustin und den Neuplatonismus las, dann suchte er eine Verstellung dieser Zeiterfahrung durch eine unangemessene philosophische Begrifflichkeit abzuwehren; seine Forschungen über Aristoteles als den Lehrer des Abendlandes gingen aus von der Polemik, wie Luther sie gegen den Aristotelismus entfaltet hatte. Heidegger wollte jedoch seine Weise, Phänomenologie zu treiben, durchaus positiv von Aristoteles her zeigen. Obgleich schon der bloße Rückgang auf Aristoteles für die „transzendentale" Phänomenologie eine Provokation sein mußte, wollte Husserl Heideggers geplantes großes AristotelesBuch in seinem Jahrbuch publizieren. War Aristoteles nicht der bessere Phänomenologe? Husserl hatte sich zu Anfang der sechsten Logischen Untersuchung auf den „alten Streit" bezogen, der im Anschluß an die Aristotelische Hermeneutik entstanden war: sind Bedeutung und vor allem Wahrheit-Falschheit an Aussagen und damit an den theoretischen Bereich geknüpft oder erweiterbar auch auf Frage, Befehl oder Wunschsatz und damit auf andere als die rein theoretischen Bereiche? Indem das sechste Buch der Nikomachischen Ethik episteme, techne und phronesis unterscheidet, läßt es sich von der Auffassung leiten, daß es eine eigenständige praktische Wahrheit gebe. Hans-Georg Gadamer berichtet, Heidegger habe 1923 in seinem Aristoteles-Seminar zu zeigen versucht, daß die techne eine „innere Grenze" besitze: „ihr Wissen sei kein volles Entbergen, weil das Werk, das sie zu erstellen verstehe, in das Ungewisse eines unverfügbaren Gebrauchs entlassen werde". Man kam bei der Interpretation an den Satz, der der techne, nicht aber der phronesis eine lethe zuspricht: „Als wir an diesem Satz unsicher und ganz in die griechischen Begriffe verfremdet heruminterpretierten, erklärte er brüsk: ,Das ist das Gewissen!'"'1 Es ist in der Tat merkwürdig, daß im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik die Worte aletheia und alethes zusammen auftauchen mit lanthanö und lethe. Trotzdem wird man lethe nicht mit Heidegger als Verborgenheit verstehen, sondern als Vergessen. Wenn Heidegger vom Gewissen sprach, so zeichneten sich ihm in der Aristotelischen Unterscheidung zwischen episteme, techne und phronesis schon die exemplarischen Verhaltensweisen des Daseins ab, die in Sein und Zeit behandelt werden: das Vorstellen von Vorhandenem, der Umgang mit Zuhandenem, das Existieren als Gewissen-haben-wollen. Vielleicht war Heideggers Übertreibung nicht einmal so originell, wie Gadamer es unterstellt; er könnte durchaus die Aristoteles-Rezeption des Thomas im Sinn gehabt haben, nämlich die Verbindung des Bestehens auf der Eigenständigkeit des Ethischen mit einer mehr neuplatonisch-theologischen Ausrichtung auf das Gewissen als Letztes. In jedem Fall ist an Heideggers (und Gadamers) Interpretation zutreffend, daß die Praxis durch die Phronesis ausgerichtet ist auf das Ganze des Lebens mit dessen Eupraxie, daß somit die Phronesis nicht wie das 1

Vgl. Hans-Georg Gadamer: Martin Heidegger und die Marburger Theologie. In: Heidegger Perspektiven zur Deutung seines Werks (s. Anm. 6). 169-178, vor allem 171. Vgl. auch H -G Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. 295 ff.

48

Logik und Zeit

Wissen einer Techne gelernt und wieder verlernt werden kann. Die Phronesis unterscheidet sich von der Wissenschaft dadurch, daß sie nicht von den Gründen als einem Ersten ausgeht, sondern auf ein zweckhaftes Letztes ausgerichtet ist, das ein „Daß" ist - die Faktizitat des Lebens. Dieses Sichbewegen in einer aktualen Sittlichkeit kann (ähnlich wie Kierkegaards Forderung einer Gleichzeitigkeit mit Christus) durchaus ausgespielt werden sowohl gegen eine Transzendentalphilosophie, die eine vorurteilslose letzte Durchsichtigkeit fordert, wie gegen die historische Reflexion, die die Praktische Philosophie auflöst, indem die letzten Zwecke für den Wissenden zum nur historisch Reproduzierbaren werden. Da diese Sittlichkeit sich „sublunar" in Situationen bewegt, läßt sie sich auf den Kairos hin radikalisieren, den nach Heideggers frühen Vorlesungen die urchristliche Religiosität entdeckt hat. Dem Philosophen geht es jedoch darum, die Faktizitat, die historisch ergriffen werden muß, begrifflich-formal zu fassen. Die hier nötige Entfaltung einer eigenständigen hermeneutischen Begrifflichkeit ist nach Heidegger aber von der antiken Philosophie nicht geleistet worden. Die Sittlichkeit hier unter dem wechselnden Mond blieb für Aristoteles etwas Vorletztes, schon gegenüber dem angeblich unveränderlichen Sternengang, sicherlich gegenüber den Vernunftwahrheiten. So führt die Nikomachische Ethik schon im sechsten Buch über die Phronesis hinaus zur Sophia, dann im zehnten Buch zur Theoria als der höchsten Praxis. Indem Heidegger in seiner Aristoteles-Interpretation neben der Ethik die Hermeneutik und vor allem die Metaphysik berücksichtigt, kann er zeigen, daß dieses Hinwegarbeiten der Sterblichkeit (die Forderung des athanatizein) auf einem bestimmten Wahrheitsbegriff und einer metaphysischen Option beruht. Die Logik-Vorlesung vom Winter 1925/26 trägt schon die abgeschlossene Aristoteleskritik vor, fordert aber immer noch gegen die Tradition die gleichursprüngliche Berücksichtigung der praktischen und religiösen neben der theoretischen Wahrheit. Da Aristoteles für die Tradition steht, kann Heidegger 1922/23 zu jener entscheidenden These kommen, die nach seiner Auffassung sein Denken erst auf den gültig bleibenden Weg gebracht hat, nämlich zur Frage nach Sein und Zeit: die Faktizitat und Historizität und damit die Zeitlichkeit der Existenz können in der philosophischen Tradition nicht zureichend gedacht werden, weil diese Tradition schon von einer unzureichenden Zeiterfahrung ausgeht; Sein wird gedacht als Anwesenheit (ousia), damit als Gegenwart und so nur von einem bestimmten Modus der Zeit aus. Von dem so gedachten Sein aus wird dann auch die Zeit gedacht, nämlich als eine Folge von anwesenden oder vorhandenen (noch nicht vorhandenen, nicht mehr vorhandenen) Jetzt-Punkten. Diese Zeitvorstellung gehört nach Heidegger schon zur Aristotelischen Physik; von ihr aus kann ein Kairos nicht erfahren werden. Heidegger hatte in seinen ersten Arbeiten jenen Bezug von Zeit und Ewigkeit aufgenommen, wie er in der klassischen philosophisch-theologischen Tradition seit Piatons Timaios entfaltet worden war. Die frühen Freiburger Vorlesungen setzten dann voraus, daß die Theologie im Bruch mit der idealistischen Tradition das „eschatologische" Bewußtsein Jesu wieder ernst nahm, damit eine

Zeit und Sein bei Heidegger

49

Erfahrung, in der Zeit nicht von den wesentlichen Gehalten her auf eine geordnete und perfekte Ewigkeit bezogen wird, in der vielmehr je und je die Stunde des Heils etwas Letztes, „Zeit" Gottes, ist. Innerhalb der Theologie findet Heideggers Ansatz seine Parallele wohl weniger in jener „Dialektik", die nach Kierkegaard und Barth Zeit immer neu unter das Gericht des Ewigen stellt, das gewährte Ewige immer neu zurückfallen läßt auf die Zeit. Näher ist vielmehr jene „präsentische Eschatologie", wie Rudolf Bultmann sie in Verbindung mit dem Heidegger der Marburger Jahre seinem Neuaufbau der Theologie zugrunde legte. Wie wenig freilich für Heidegger das Jeweilige und Geschichtliche sich in einem Wesen „Geschichtlichkeit" erfüllt, zeigt sich daran, daß schon Sein und Zeit an maßgeblicher Stelle vom Schicksal (des Einzelnen) und vom Geschick (eines Volkes) spricht. So kann dann jener Dichter bedeutsam werden, der sich gerade bei seinem Rückgriff auf die tragische Erfahrung der Griechen auf den so verkannten Apostel Paulus berief, der vom Tag der Tage als der „Zukunft des Herrn" gesprochen habe (Hölderlin am 9. November 1795 gegenüber Ebel). Es war der Nietzschefreund Overbeck, den Heidegger unter den Theologen besonders hervorhob. Overbeck aber fand in der christlichen Theologie den Widerspruch, daß sie als Wissenschaft teilnahm an der modernen Kultur, auf Grund ihrer Christlichkeit aber bezogen sei auf eine eschatologische Erwartung, die enttäuscht worden sei; an die Stelle solcher Erwartung sei für uns das Schweigen gegenüber dem Tod getreten. Für den Phänomenologen blieb zu fragen, wie solches Sein-zum-Tode begrifflich ausgelegt und von dieser Auslegung her Philosophie neu aufgebaut werden könne.

III. Zeit und Schematisierung Heidegger hat des öfteren betont, daß er die Logischen Untersuchungen seines Lehrers Husserl dessen Ideen vorgezogen habe. Mit solcher Wertung des Werkes von Husserl folgte Heidegger nicht den realistischen Tendenzen des älteren Göttinger Phänomenologenkreises; vielmehr suchte er Husserls Einschwenken auf die Vorurteile der Tradition zurückzuweisen: das Sein sollte nicht vorschnell aufgefaßt werden als Eidos für ein Erkennen als Sehen, dieser platonisierende Vorgriff nicht kartesianisch in einer gewissesten Zugangsweise festgemacht werden. Heideggers Vorlesung über den Zeitbegriff vom Sommer 1925 zeigt, wie Heidegger den Einstieg in die Phänomenologie von der fünften Logischen Untersuchung her gewinnt. Dort hatte Husserl, Brentanos empirische Psychologie radikalisierend, die Konzeption der Intentionalltät des Bewußtseins benutzt, um das Sein der einzelnen Regionen zu unterscheiden. Die Ausrichtung-auf, wie sie für das denkend-wollend-fühlende Bewußtsein kennzeichnend sein soll, ermöglicht den Bezug auf Wahrheit. Evidenz wird jedoch nicht nur dann erfahren, wenn das zuerst nur leer Vermeinte in ausweisender Erfüllung mit dem originär Angeschauten identifiziert werden kann; Heidegger betont (wie in anderer Wei-

50

Logik und Zeit

se Scheler), daß es auch eine Wollensevidenz, Wunschevidenz oder Evidenz des Liebens und Hoffens gebe. Neben der Intentionalitat als der ersten „Entdekkung" Husserls wird die kategoriale Anschauung der sechsten Logischen Untersuchung als eine zweite Entdeckung vorgeführt. Wenn die kategoriale Anschauung neben die sinnliche Anschauung tritt, ist dann nicht die Aufgabe gestellt, den Hiat zu überwinden, den die Analytik der Vernunft zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand als Träger der Kategorien aufriß? Indem Heidegger mit dieser Aufgabenstellung in die Bahnen des spekulativen Idealismus einlenkt, kann er auch weiterfragen nach der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft. Heidegger schreibt Husserl eine neue, nicht nur nominalistische Sicht des Apriori als dritte Entdeckung zu; neben das Formale von Einheit, Beziehung usf. tritt das materiale Apriori der Ideation. Doch die entscheidende Frage, wie z. B. die Existenzialien des Daseins ein Apriori für Existenzielles sind, wird auch von Heidegger auf spätere Überlegungen abgeschoben. Der Hinweis führt nicht weit, daß der Marburger Neukantianismus den Unterschied zwischen Substanzbegriff und Funktionsbegriff einseitig von den Naturwissenschaften her gewonnen und letztlich nicht aufgeklärt habe. Indem Heidegger in „mitanleitender Korrektion" Existenzialien wie Sinnoffenheit oder Schuld theologischen Konzeptionen wie Offenbarung oder Sünde vorgab, hat er faktisch eine maßgebliche Arbeitsrichtung einer geisteswissenschaftlichen Disziplin für zwei Generationen geprägt; doch die grundlegenden logischen Untersuchungen zu diesen Fragen sucht man in seinen Arbeiten vergeblich. Wenn der Slrukturbegtitf für das Zusammenspiel der nichtintentionalen und der intentionalen Elemente in der Erkenntnis eingeführt wird, so geschieht das ohne genauere Vermittlung.'2 Husserl hatte seine „phänomenologische Aufklärung der Erkenntnis" 1904/ 05 in einer berühmten Vorlesung über Hauptstücke aus der Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis fortgeführt. Die Unterscheidung verschiedener Sphären von Intentionalitat wird exemplarisch für Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Phantasie und Bildbewußtsein geleistet; da Husserl in dieser modellhaften Differenzierung von temporalen Charakterisierungen wie Gegenwärtigen und Vergegenwärtigen Gebrauch macht, schließt sich auch aus diesem Grunde als viertes Hauptstück eine Phänomenologie der Zeitwahrnehmung an. Ergebnisse der Analyse der phänomenologischen Zeit oder des inneren Zeitbewußtseins wurden z. B. in den Ideen mitgeteilt. Als Heidegger mit der Frage nach Sein und Zeit hervortrat, wollte Husserl mit seinem Ansatz im Spiel bleiben, und so edierte Heidegger 1926/28 Edith Steins Transkription des Schlußteils der Vorlesung. In der Vorbemerkung zur Edition sagte Heidegger, der zweite Band der

Prolegomena 273, 61, 75, 147, 152. - Zum folgenden vgl. Die Grundprobleme der nomenologie; die Vorlesung sucht zu zeigen, daß die traditionelle Orientierung am Unterschied von Was-Sein und Daß-Sein der techne entspricht, die einen Tisch nach seinem Was hin konzipiert und dann realisiert oder auch nicht realisiert. Vgl. ferner Sein und Zeit. 363; s. ferner Anm. 46.

Zeit und Sein bei Heidegger

51

Logischen Untersuchungen habe die „höheren" Akte der Erkenntnis zum Thema gehabt; Husserls Vorlesung von 1904/05 wende sich dagegen den „zuunterst liegenden intellektiven Akten" zu. Da Heidegger damals in seinem Kantbuch Husserls Lehre von der „kategorialen Anschauung" in der Weise fortführte, daß er die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand, aber auch von theoretischer und praktischer Vernunft suchte und dabei mit dem deutschen Idealismus von der produktiven Einbildungskraft ausging, enthält die Charakterisierung des Husserlschen Unternehmens indirekt eine Kritik: Husserl lenkt in die Form-Stoff-„Mythologie" ein; Zeit tritt mit den „unteren" Akten zu den höheren hinzu, die auf mehr als Zeit ausgerichtet sind. Schon Heideggers Vorlesung über den Zeitbegriff hat in diesem Sinne den Cartesianismus Husserls kritisiert: Husserls Ideen suchen ein transzendentales Ich, weil sie auf eine „absolute Wissenschaft" aus sind; zu dem reinen und idealen Bewußtsein kommt die Realisierung im empirischen Bewußtsein als eine nachträgliche und zufällige hinzu. Der Seinssinn des konstituierenden Bewußtseins ist damit traditionell vom Unterschied zwischen Was und Daß her gefaßt und nicht ursprünglich neu bestimmt. „Wenn es aber Seiendes gäbe, dessen Was es gerade ist, zu sein und nichts als zu sein, dann wäre diese ideative Betrachtung einem solchen Seienden gegenüber das fundamentale Mißverständnis." Das Unternehmen von Sein und Zeit gilt dem Nachweis, daß die Existenz die Seinsweise des Menschen und so ein Seiendes im genannten Sinn ist. Das Erkennen, das in charakteristischer Weise Gegenwärtigen und Vergegenwärtigen ist, kann in objektivierender Thematisierung innerzeitlich Vorhandenem gerecht werden, aber nicht dem zeithaft-geschichtlich existierenden Dasein. Hier kann die Übernahme der Faktizitat in der Historizität und der geschichtlich sich aufbauenden „Erfahrung" nicht gedeutet werden als ein Zurückkommen auf die zufällige Realisierung eines Was. Heidegger setzt auf Grund dieser Kritik an seinem Lehrer zu einer Umgestaltung der Phänomenologie an, die eine Revision der ontologischen Begrifflichkeit einschließt. Die Jaspers-Rezension unterscheidet mit den frühen Vorlesungen im „vollen Sinn eines Phänomens" den Vollzugs-, Gehalts- und Bezugssinn. Hatte vor allem Scheler betont, daß ein Akt nicht als Gegenstand erfaßt, sondern vollzogen oder mitvollzogen werden müsse, so erscheint in Heideggers Ausrichtung auf die „Selbstbekümmerung" (oder Sorge) der Vollzugssinn als vorherrschend (als archontisch oder dominant gegenüber dem Gehaltssinn). Die Vorlesung über den Zeitbegriff stellt der genannten Gliederung entsprechend Aktphänomenologie, Sachphänomenologie und Beziehungs- oder Korrelationsphänomenologie nebeneinander. Innerhalb der ontologischen Begrifflichkeit tritt zum Daß-Sein und Was-Sein das Wie-Sein. Die Unterscheidung der Intentio und des Intentum, des Vollzugs und seines Gehalts, ermöglicht die Ausrichtung auf Wahrheit; sie ist wie selbstverständlich übernommen, aber doch so, daß die Einheit in einem Dritten in differenzierender Weise erfragt wird: Die Faktizitat der Existenz (oder des Daseins im Menschen) ist seinem Wie-Sein nach und damit als ursprünglich aufgenommenes Phänomen ein Zusein - ein Vollzug, dessen Daß sich jeweilig für das Was oder die Gehalte öff-

52

Logik und Zeit

net. Solche Faktizitat kann nicht von der Realität etwa eines Tisches her verstanden werden, bei dem zum Was das Daß als zufällige Realisierung hinzukommt. Die Bemühung, den Sinn von Realität durch Reduktion erst aufzuklären, bleibt via negationis an Realität in diesem Sinn orientiert und führt nicht zur genuinen Bestimmung des „Seinssinns" des konstituierenden Daseins. In der Logik-Vorlesung vom Winter 1925/26 brach Heidegger seine Auseinandersetzung mit Aristoteles ab, um zu einer Kant-Rezeption überzugehen. In einer erneuten Kant-Vorlesung sagte Heidegger dann zwei Jahre später: „Als ich vor einigen Jahren die .Kritik der reinen Vernunft' erneut studierte und sie gleichsam vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und Kant wurde mir zu einer wesentlichen Bestätigung der Richtigkeit des Weges, auf dem ich suchte."" Im April 1926 machte Husserl Heidegger den Vorschlag, seine (sicherlich zwischen beiden diskutierte) Lehre von Impression, Retention und Protention als Momenten des inneren Zeitbewußtseins zu edieren. Ließen sich nicht auch Apprehension, Reproduktion und Rekognition als Momente der Einbildungskraft, ja Befindlichkeit, Verstehen und Artikulation (bzw. „Rede") als Momente der Grundstruktur des Daseins auf die Zeitekstasen der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft beziehen? Damit wäre nicht nur geklärt, wie das Zu-sein des Daseins Zeit ist; Kants Lehre von der Schematisierung der Begriffe gäbe auch den Anstoß für einen Aufweis der Schemata der Zeit als eines Prinzipiengefüges zur Entfaltung des Sinnes von Sein nach unterschiedlichen Bedeutungen hin. Die Zeit-Vorlesung von 1925 sagt noch mit Aristoteles, der Logos jeder Rede sei semantisch, der Logos der Aussage aber in einer ausgezeichneten Weise apophantisch (und diesem Logos müsse die Philosophie folgen); im nächsten Semester stellt Heidegger aber vom Schema des Als her das Hermeneutische dem Apophantlschen gegenüber: nehme ich in einer theoretischen Aussage etwas als etwas, dann folge ich dem apophantischen Als; gehe ich mit einem Hammer als Hammer um oder gar mit meinem Sein als einem Zusein, dann folge ich dem hermeneutischen Als. Mit der Lehre von den Schemata der eigentlichen und der uneigentlichen Zeitigung von Zeit ist das leitende Thema des dritten Abschnittes von Sein und Zeit gewonnen. Innerhalb des mannigfaltigen Seienden spielt die Existenz insofern eine ausgezeichnete Rolle, als die anderen Seinsweisen wie Vorhandensein und Zuhandensein auf das existenziale Sein als das erfüllteste Sein ausgerichtet sind. Hier übernimmt Heidegger die Lehre von der Analogie des Seins, nämlich der Ausrichtung der möglichen Bedeutungen von Sein auf die leitende Bedeutung der Ousia. Edmund Husserl versuchte nach dem Scheitern der Zusammenarbeit mit Heidegger in den Cartesianischen Meditationen eine Gegenposition gegen den „Anthropologismus" der Lebens- und Existenzphilosophie aufzubauen. Da die

" Vgl. Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft Frankfurt a. M. 1977. 431. S. auch Anm. 5.

Zeit und Sein bei Heidegger

53

Edition der Analyse der immanenten Zeit aus der Vorlesung von 1904/05 nicht die Diskussion, die Husserl wünschte, auslöste, gab Husserl in den dreißiger Jahren Eugen Fink die Bernauer Manuskripte, die die Analyse des inneren Zeitbewußtseins fortführen, zur Edition. Fink scheiterte sowohl mit einer zusammenfassenden Edition wie auch mit einer selbständigeren Arbeit über das Zeitproblem. (Er untersagte testamentarisch die Edition seiner Versuche; seine Vorlesungen aus der Nachkriegszeit zeigen, daß er sich den Ansatz Heideggers angeeignet hatte.) Konnte Husserl überhaupt die Bernauer Manuskripte von 1917/18 der Kritik Heideggers entgegenstellen, Husserls Phänomenologie gehe einseitig von der theoretischen Sphäre aus und sehe deshalb die Zeit vorzüglich in der nivellierten Weise der Gegenwärtigung und Vergegenwärtigung? Husserl fragte in seinen Manuskripten, ob er nicht Wahrnehmung und z. B. Wollen zugleich berücksichtigen solle; er wies diesen Weg aber ab, weil es erst nach der Analyse des Einzelnen eine Zusammenfassung geben könne. Wurde damit nicht in der Tat das Theoretische in eine Leitfunktion gedrängt? Gegenüber dem Ansatz Heideggers ist jedoch die Frage berechtigt, ob mit der Erweiterung der Evidenz zur Wollens- und Wunschevidenz und mit dem allzu eiligen Vorgriff auf ein umfassendes Ganzes nicht die Problematik der Geltung im theoretischen Bereich verlorengeht (wie ähnlich bei Dilthey). Als Heidegger die vielfache Intentionalitat als Transzendieren und so in der Ganzheit der Transzendenz faßte, hat Husserl opponiert.34 Wenn Heidegger das Ganze der Transzendenz in einem „Affekt" wie der Angst erfahren werden ließ, schlug er dann nicht in der Tat allen traditionellen Ansätzen ins Gesicht (auch einer Phänomenologie der Affekte, die die Angst eher in die Nähe der Panik als des aufweckenden Gewissens bringen muß)? Wenn gerade die Angst (im Unterschied zur gerichteten Furcht) das In-der-Welt-sein als endliches, sterbliches und zeitliches und damit den Zusammenhang von Sein und Zeit aufdecken sollte, mußte Husserl dann nicht eine Verkehrung der Philosophie in eine emotionale Pseudometaphysik fürchten? Es schien gerade die Phänomenologie der Zeit zu fehlen, zu der Husserl in seinen Manuskripten zum mindesten Ansätze vorlegte: im Aufweis der Analogien und Disanalogien von Raum und Zeit, in der Unterscheidung zwischen dem fließenden Jetzt, der Modalisierung nach Zukunft-VergangenheitGegenwart, den Lagebestimmungen wie „Früher-Später". Verwickelt sich 5«'« und Zeit nicht gerade bei der Deutung der Grundstruktur des Daseins als „Zeit" in eine vielfache Verwirrung? Einmal werden als Grundmomente Befindlichkeit, Verstehen, Artikulation angegeben; dann kommt das Verfallen als viertes Moment hinzu oder verdrängt die Artikulation (obwohl es doch eine Modifikation der Zeitigung im ganzen ist). Von drei Grundmomenten wird (wie gegenüber der Einbildungskraft Kants) gesprochen, damit ein Bezug zu drei Ek-

,4

Vgl. Heideggers Bericht: Metaphysische Anfangsgründe. 214. - Den im folgenden genannten Versuch, drei Dimensionen der Zeit in einer vierten zu einigen, hat Heidegger nach mündlichen Berichten schon bei der Weiterarbeit an Sein und Zeit gemacht. Vgl. auch Zur Sache des Denkens 11, 15 f.

54

V

Logik und Zeit

stasen oder Dimensionen der Zeit hergestellt werden kann. Die Frage ist aber, ob Modalitäten wie Nochnichtsein, Nichtmehrsein, Sein hier nicht mit den Dimensionen verwechselt werden, wie die „erlebte" Zeit sie zeigt: zwei Dimensionen, nämlich die Offenheit für die immer auch vorenthaltene Zukunft und das abschiedliche Verhalten zur tragenden und sich entziehenden Vergangenheit, ergeben (in der Einheit mit der Räumlichkeit) Gegenwart. Heidegger weist die Kantische Beteuerung, Zeit habe nur eine Dimension, ab, will aber drei Dimensionen finden und diese in einer vierten als der ersten einigen. Heideggers Fragen nach Sein und Zeit bleibt trotz aller Kritik an Husserl entscheidend durch Husserls Ansatz bestimmt. Die Auseinandersetzung mit Kant wird wichtig, weil sie über die Transzendentalphilosophie Husserls hinausführen soll. Bei Husserl wie in Kants Lehre von der Schematisierung bekommen temporale Charaktere in der ontologischen Problematik eine besondere Relevanz; gerade das Achten auf Abschattungen und Horizonte hätte aber auch auf spatiale Charaktere (auf Perspektivität oder Nähe und Ferne) führen müssen - wie schon Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung geltend machte. O b w o h l Heidegger, über Beckers phänomenologische Untersuchungen zur Geometrie hinausgehend, die erlebte und „gelebte" Räumlichkeit als das Ursprüngliche ansetzte, wollte er in Sein und Zeit doch noch - wenn auch anders als Kant - Räumlichkeit auf Zeitlichkeit zurückführen. Schließt ferner nicht auch Heidegger das Dasein, obgleich es als endlich und zeitlich gedacht wird, in seine Ganzheit und in die Eigentlichkeit als ein Zueigenhaben ein? Heidegger hebt zwar die natürliche Realitätssetzung nicht durch eine Reduktion auf, um sie neben anderen Prädikaten als Sinnbestimmtheit des Noema zurückzugewinnen; aber auch für ihn gibt es Realität des Realen nur in der Bindung an die Faktizitat des Daseins, die geschichtlich zu übernehmen ist. Im entscheidenden Aufweis der Zeitlichkeit des Daseins erscheint Dasein nicht mehr als Ich gegenüber dem Du, als Jetzt gegenüber dem Dann einer anderen Zukunft, als Hier gegenüber dem Dort. So muß unklar bleiben, wer denn eigentlich das Dasein in seiner Endlichkeit ist: der Einzelne, die Generation, das Volk? Geschichtlichkeit und Innerzeitigkeit sollen gleichursprünglich sein, doch der Tendenz nach erhält die Geschichtlichkeit als Zeitigung der Zeit eine Auszeichnung. Heidegger sagt nicht mehr mit Husserl, die phänomenologische oder immanente Zeit sei „eine eindimensionale .stetige' Mannigfaltigkeit", die sich zuletzt mit der objektiven „absoluten Zeit" d e c k e . " Er faßt das Newton-

" So Edmund Husserl in Ideen II, vgl. Husserliana Band IV 178. Husserls Bernauer Manuskripte mußte ich noch nach den Transkriptionen des Löwener Husserl-Archivs studieren. Zur platonischen Zeitautfassung vgl. Gernot Böhme: Zeit und Zahl Frankfurt a. M. 1974. Nach Heidegger soll Aristoteles den sogenannten Jetzt-Punkt auf das Nichtsein von Zukunft und Vergangenheit bezogen und so die dialektische Zeitinterpretation begonnen haben. Diese Interpretation trägt noch Sartre vor gegen den Idealismus der Intentionalitat, die in ihre eigene Gegenwart eingeschlossen bleibt: L'etre et le neant Paris 1943. 543, 152 f. Was Aristoteles betrifft, so ersetzt die Textherstellung der Physik durch Ross an entscheidender Stelle stigme durch gramme: Zeit ist eine Linie mit

Zeit und Sein bei Heidegger

55

sehe Konstrukt, dessen Struktur Husserl so glücklich in seiner Innenschau wiederfindet, als berechtigte Deutung der Innerzeitigkeit des Daseins. Diese Deutung habe sich aber sehr früh als „vulgäre" Zeitauffassung verabsolutiert u n d damit die Erfahrung der Geschichtlichkeit verdrängt. Nach § 81 von Sein und Zeit ist im Timaios Piatons die Zeit Abbild der Ewigkeit, weil die Folge der Jetzt-Punkte im Wechsel des einzelnen durch das Allgemeine ihrer Vorhandenheit auf Ewigkeit als stete Vorhandenheit verweist. Ewigkeit ist für Piaton jedoch eher die Lebenskraft, die gesammelt in sich steht; die Rhythmik der Wiederkehr kann damit so durch die Zahl bestimmt sein, wie das Reich der musikalisch verwertbaren T ö n e nach der pythagoreischen Deutung durch Zahlenverhältnisse bestimmt ist. Wie Piaton wirklich gedacht hat, wieweit diese pythagoreische Bewältigung der Zeit tragen könnte, kommt bei Heidegger nicht einmal als Frage auf.

IV. Geschichtlichkeit und Geschichte Gleich in den Jahren nach der Publikation des ersten Teils von Sein und Zeithat Heidegger den Ansatz dieses Werks aufgegeben; seine Sprache erschien ihm, wie er später rückblickend sagte, allzusehr traditioneller Metaphysik verhaftet. In der Tat trägt z. B. das „ U n w i l l e n " als Schema der entscheidenden Zukunftsekstase die Herkunft aus Aristoteles, aber auch aus Kierkegaards Protest gegen die metaphysische Tradition an die Stirn geschrieben. Vor allem wird eines nicht deutlich: ist das Gefüge der Schemata der Zeitekstasen ein (überzeitliches) Prinzip zur Unterscheidung von Seinsweisen, oder ist die Zeit das Medium, das als ontologische Geschichte erst solche Prinzipien erbringt? Gleich die Einleitung zu Sein und Zeit behauptet ja, daß alle Ontologiebildung geschichtlich sei; doch der Zirkel zwischen dem systematischen oder konstruktiven Teil von Sein und Zeit und dem historischen oder destruktiven wird nicht ausgeschritten. Auch die phänomenologische Basis von Sein und Zeit k ö n n t e zu schmal sein; jedenfalls erweitert Heidegger in den dreißiger Jahren die exemplarischen Phänomene um die Weise, wie in der Geschichte Politik, Denken und Kunst jeweils Wahrheit ins „Werk" setzen. Das große Kunstwerk kann als Exempel dienen: indem es uns Bestimmtes zeigt, erschüttert es zugleich mit der Erfahrung, daß es überhaupt dieses Zeigen und dessen Offenheit gibt; nach seiner immer neu zu entdeckenden Tiefe hin ist das Werk unerschöpflich - die Aeneisz. B. ist etwas anderes für den sterbenden Vergil, für Dante, für H e r d e r , für Eliot. Erst in den Beiträgen zur Philosophie von 1936-1938 gibt Heidegger

zwei Enden, also z. B. der Tag oder das Jahr, eine begrenzte Dauer. Als ob Heidegger kein Griechisch gelernt hätte, bringt die Heidegger-Ausgabe die Übersetzung des alten Textes (stigme) und dazu den neuen Text von Ross mit gramme: Die Grundprobleme der Phänomenologie Franfurt a. M. 1975. 354. Der Sache nach wird in dieser Jetztpunkttheorie die auf Null hin reduzierte Quantität mit der Realität verwechselt.

56

Logik und Zeit

eine Daseinsanalyse, die den entscheidenden Anstoß für eine hermeneutische Philosophie geben kann. „Daseinsanalyse" ist hier verstanden als Daseinsgründung: Gründung des Daseins als des Zeit-spiel-raums und der AugenblicksStätte der Wahrheit des Seins. Diese Daseinsgründung geschieht geschichtlich in dem Sinne, daß sie den „Sprung" verlangt, der von einem verendenden ersten Anfang (der Tradition von Anaximander bis Nietzsche) zu einem anderen Anfang führen soll. In dieser Daseinsanalyse gelingt es Heidegger, Raum und Zeit gleichursprünglich der Augenblicks-Stätte der Wahrheit des Seins zuzusprechen: das ekstatische Da ist sowohl eine Entrückung in die Ekstasen der Zeit, die einer Verfestigung im Vorrang der Gegenwart wehrt, wie auch „Berückung" als Sammlung der Entrückungen in einen „Umhalt", nämlich in die Räumlichkeit (die ja eher zusammenzuhalten als zu trennen scheint). Als das „Sein" vom Vorrang des Theoretischen her auf Anwesenheit und Gegenwart festgelegt worden sei, sei die Ausdauer der Entrückung, die mit dem Umhalt zusammengehe, zur zeitlosen Dauer geworden; Zeit habe dementsprechend dem Unteren, dem Stofflich-Körperlichen, zugewiesen werden müssen. Die Vorstellung der Zeit als Folge von Jetzt-Punkten und des Raums als Schachtelung von Raum-Stellen habe die Messung und damit den Parameter-Charakter von Raum und Zeit in der Neuzeit ermöglicht. Die Wahrheit (also die Differenzierung des Sinnes von Sein nach den unterschiedlichen Bedeutungen von Sein als Sein des Seienden hin) findet in diesem Dasein ihre Augenblicks-Stätte so, daß das Aufbrechen überhaupt „Geheimnis" bleibt, daß zudem die eine gewährte Offenheit die andere verstellt. Diese Wahrheit ist „Grund" nur in dem Sinn, daß von ihr als dem Bereich alles Gründens der Grund wegbleibt; als abgründige ist sie aber zugleich ungründig, die verstellende „Irre". Freilich fragt es sich, ob diese Charakterisierung der Wahrheit als des abgründig-ungründigen Grundes nicht noch skizzenhafter und einseitiger ist als die nunmehr aufgegebene Lehre von den Schemata der Ekstasen der Zeit. Von einer Analogie des Seins, nämlich der Ausrichtung der Seinsweisen auf die leitende Seinsweise des Daseins, kann nun nicht mehr gesprochen werden; das Leben z. B. erscheint dementsprechend nicht mehr als eine Privation des Daseins, sondern als dessen „anderer Widerklang". Wenn jedoch die Weise, wie Wahrheit Ereignis wird, als „Seinsgeschichte" gefaßt wird, dann bleibt offen, ob hier die Rede von Geschichte überhaupt noch an die übliche Rede von Geschichte im Unterschied zur Natur oder zum idealen Sein anknüpft. Während Sein und Zeit nach § 42 noch von Aristoteles her die ontologischen Grundlagen der augustinischen Anthropologie offenlegen wollte, stellt das andersanfängliche Denken sich in anderer Weise in den geschichtlichen Zusammenhang. Durch eine Interpretation des Platonischen Höhlengleichnisses bahnt Heidegger sich im Winter 1931/32 unter Umgehung des Timaios den Weg zur tragischen Welterfahrung der Griechen. Heraklits Rede vom Aiön wird fortan so ausgelegt, als ob in ihr vom Weltlauf und „Weltspiel" die Rede sei, die Götter und Menschen auf das Spiel setzten. Heidegger folgt damit der

Zeit und Sein bei Heidegger

57

Interpretation Nietzsches, der schon in der Geburt der Tragödie den entscheid e n d e n Schnitt in unserer geistigen Herkunft zwischen die tragische Welterfahrung der griechischen Frühe und Sokrates oder Piaton gelegt hatte, so daß das Christentum zum Piatonismus für das Volk wurde. Der einstige Aristokrat und Opferkönig Heraklit hatte in einer Zeit, in der das Imperium der Perser die alte agrarische Kultur durch den Vorrang von Handel und Gewerbe und durch demokratische Tendenzen zerstörte, aber tatsächlich sagen wollen, daß der Weltlauf ein kindisches Treiben sei. Wenn Heidegger jedoch fragt, wie Hölderlin in seinen Hymnen die tragische Welterfahrung eines Sophokles fortsetzt, dann hat er ein auch historisch legitimes Thema. Heidegger bezieht sich auf Hölderlins Hymnen, weil er nicht nur fragen will, wie die Dinge für den Menschen eine Offenheit gewinnen, sondern auch, wie der Mensch in solchem Aufbrechen von Wahrheit auf ein Heil und so auf das Heilige und Göttliche verwiesen ist. Heidegger lehnt in einer Diskriminierung alles Lateinischen das W o r t „Religion" ab und sieht überdies die Religion einseitig aus ihrer Beziehung zu Kult und Kunst und nicht vom Moralischen her; sieht man davon ab, dann darf man sagen, daß Heidegger von Hölderlin her die religiöse Dimension der Welt offenzulegen suche. Vom „Sein qua Übermächtigem, qua Heiligkeit" her (nicht aber von einem Wert oder einem „absoluten Du" her) möchte Heidegger nach einer Notiz zur letzten Marburger Vorlesung die Genesis der Idee des Göttlichen verständlich machen.' 6 Dabei wird ihm mit Hölderlin die Gestimmtheit der Scheu, die das Numinose erfährt, zur verzichtenden und ahnenden Verhaltenheit, die die Erfahrung der sterbenden Kirche austrägt und für den Übergang zu einer anderen Erfahrung des Heiligen bereit ist. Daß ein Gott (wie die Athene über Athen) sterben kann, verweist darauf, daß G o t t selbst ganz „Zeit" sein kann (wie Hölderlin sagt). Wenn sich für den Menschen Zeit in der Begegnung mit einem Göttlichen erfüllt und in dieser Erfüllung nach der überlieferten Rede unter das Maß des Ewigen tritt, dann ist diese Ewigkeit nicht Einsammlung des Wesentlichen in die aeternitas vom Gehalt her, sondern die Freiheit des einmaligen Vollzugs, auch abtreten zu können. Heidegger spricht von „vergänglicher" Ewigkeit im Anschluß an die phänomenologisch mannigfach belegbare These Hölderlins, daß alles Himmlische schnellvergänglich sei. Heidegger sagt von seiner eigentlichen Spätphilosophie, sie frage nicht mehr wie Sein und Zeit nach dem Sinn von Sein und nicht mehr wie die Arbeiten der dreißiger Jahre nach der Wahrheit als Geschichte, sondern in einer Topologie des Seins „nach dem Ort oder der Ortschaft des Seins".' 7 Da wir die Geschich-

Metaphysische Anfangsgründe 211. Zur „vergänglichen Ewigkeit" vgl. Hölderlins Hymnen „Germanien" und „Der Rhein". 110 f. Vgl. ferner Beiträge. 371 ff. Vgl. auch O. Pöggeler Heidegger und das Problem der Zeit. In: L'Hentage de Kant Melanges Philosophiques Offerts au P Marcel Regnier. Paris 1982. 287-307. Vgl. Martin Heidegger: Vier Seminare Frankfurt a. M. 1977. 82. Während FriedrichWilhelm von Herrmann (s. Anm. 10) in den Beiträgen die Grundlegung von Heideggers spätem Denken sieht, erscheint es mir angemessen, nach dem Abbrechen der Beiträge eine dritte Phase von Heideggers Denken beginnen zu lassen (s. Anm. 13).

58

Logik und Zeit

te üblicherweise als einen bestimmten Bereich von der Natur oder dem idealen Sein unterscheiden, kann jener „Bereich", der erst die Unterscheidung der genannten Bereiche ermöglicht, nicht mehr mit dem Namen für einen der abkünftigen Bereiche „Geschichte" genannt werden. Wenn man seit Hegel in immer neuen Ansätzen versucht, Metaphysik oder Transzendentalphilosophie mit Geschichte zusammenzudenken, so verabschiedet Heidegger diesen Versuch. Wenn er deshalb Husserl auch in späten Äußerungen noch vorhält, diesem sei die „Geschichtlichkeit" des Denkens immer fremd geblieben, so ist damit nicht wie in Sein und Zeit unterstellt, Geschichtlichkeit sei die höchste Seinsweise des Daseins. Heidegger interpretiert deshalb seine Rede von einem Seinsgeschick auch so um, daß er das Geschick nicht von der Geschichte her versteht, sondern vom Schicken her, das immer auch ein Verstellen ist, und damit aus dem Wesen der Wahrheit. Vom Ereignis heißt es, es sei zugleich Enteignis: die Augenblicks-Stätte der Wahrheit des Seins soll so im Anspruch der Wahrheit aufgehen wie die Ant-wort im Zuspruch. Da Heidegger in seinem Spätwerk wieder verstärkt Bezug nimmt auf Meister Eckhart, kann man die Rede vom Enteignis von Eckhart her zu verstehen suchen, nach dessen Rede über die Armut des Geistes wir nicht nur nichts wissen und wollen, sondern auch nichts haben sollen, nämlich keine „Stätte". Heidegger geht aber nicht mehr den Weg Eckharts mit, der im Sinne der metaphysischen Tradition zu Gott findet und dann in der mystischen Einigung Gott zum abgründigen Leben der Gottheit hin übersteigt. Heidegger will schon die ersten Schritte anders tun: nicht mehr dem „Geist der Rache" folgen, der Vergänglichkeit nicht erträgt und innerhalb unserer Tradition sein Letztes entweder in Gott findet, der als sich wollender Wille ewig sich selber will, oder in der Welt, die ewig wiederkehrend in sich kreist.38 Dürfen wir überhaupt voraussetzen, daß die mystische Erfahrung des Nichts, wenn sie die Dinge und noch Gott übersteigt, zur reinen Offenheit des Sichvernehmens, dem fließenden Licht der Gottheit kommt? Erbringt nicht ein Licht, das jeweils aus einem Dunkel kommt, die Offenheit der Dinge, die auch die Erfahrung des Heiligen gewähren kann? Wenn Heidegger in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Laotse zu übersetzen begann, dann um dieser Fragen willen. So konnte er sich das Wort Weg oder Tao als Leitwort zueignen; eine andere Zeiterfahrung kam ins Spiel: man nimmt an, das Zeichen I (so im grundlegenden I Ging) sei am wechselnden Mond abgelesen, dessen Sichwandeln Einfü-

,8

Vgl. Was heißt Denken? 44, 96. - Bernhard Weite hat sein besonnenes Buch: Meister Eckhart Gedanken zu seinen Gedanken Freiburg, Basel. Wien 1979, aus dem Gedenken an Gespräche mit Heidegger geschrieben. Er sieht den Weg Heideggers und der metaphysischen Tradition, der Metaphysik und der Mystik, der östlichen und der westlichen Mystik in einer Grunderfahrung konvergieren. Demgegenüber habe ich zu zeigen versucht, daß die metaphysischen Wege nicht Heideggers Wege sind, Metaphysik nicht Mystik ist, daß die Erfahrungen Eckharts nicht die Erfahrungen des Isaak Luria sind, westliche Mystik nicht östliche Mystik ist. Vgl. O. Pöggeler Neue Wege mit degger (s. Anm. 22). 387 ff.

Zeit und Sein bei Heidegger

59

gung verlangt, aber nicht den Überstieg zu einem angeblich ewigen Sternengang oder zu einem wunderbar sich ankündigenden letzten Willen. Heidegger hat in Sein und Zeit das „Sein zum Tode" gerade auf das „mögliche Ganzsein des Daseins" hin ausgelegt; so wurde Zeit nicht erfahren als das Trennende, das das Eine vom Anderen scheidet, aber auch zum Anderen hin offensein läßt. In seinen späteren Arbeiten fordert Heidegger einen anderen Anfang und darüber hinaus, daß sich das anfängliche Abendländische den „wenigen anderen großen Anfängen" auf dieser Erde (etwa dem Ostasiatischen) öffne.' 9 Heidegger liebt nicht nur Worte wie Sein und Dasein, die sich nicht in den Plural setzen lassen; er setzt nicht nur Worte wie Welt und Wahrheit nicht in den Plural, obwohl das sprachlich möglich wäre; er erklärt auch sein Leitwort „Ereignis" für ein Singulare tantum. Auf dem Weg seines Denkens vollzieht Heidegger sehr unterschiedliche Wertungen (z. B. der Eschatologie); aber er setzt nicht einmal an zu einer Vermittlung der verschiedenen durchlaufenen Positionen. Das frühe griechische Denken (bzw. eine verdeutete Auswahl aus ihm) wird zum einzigen ersten Anfang, dessen Vergessenes ein anderer Anfang herausstellen soll; dabei wird gar nicht erst gefragt, wie die Griechen sich z. B. mit ihrer Zeiterfahrung in das Feld der Zeiterfahrungen der verschiedenen Kulturen einfügen. Die geforderte Verwindung der Metaphysik bleibt bezogen auf den Ansatz dieser Metaphysik: die Rede vom Einklang zwischen Ereignis und Austrag übersetzt die spekulative Formel von der Identität der Identität und Differenz, in der die Identität einen Vorrang hat. Die Zeit wird dementsprechend von der „Gleich"-Zeitigkeit der Ekstasen her verstanden, so daß im Spätwerk sich die Raummetaphorik vordrängen kann. Wenn die Phänomenologie dieser „Metaphysik" gegenüber phänomengerechter das Trennende der Zeit oder die Differenz betont (Levinas, Derrida), kann sie dann sagen, was „die" Zeit ist? Kann man gar den Ertrag der Zeitanalysen Husserls oder Heideggers noch einmal in einem spekulativen Prinzip „lebendige Gegenwart" oder „Ereignis" zusammenfassen? Läßt sich durch den Entwurf einer „zeitlichen Logik" in einer „Umkehrung der der philosophischen Tradition vorschwebenden Rangordnung" mit Heidegger „die" Zeit als Horizont „des" Seins auffassen? 40 Als um 1927 der Zusammenhang der Phänomenologie endgültig zerbrach, sprach Oskar Becker in seinen Untersuchungen zur Philosophie der Mathematik, zum Modalkalkül und zu ästhetischen Fragen lieber von antagonistischen letzten „Hypothesen"; vielleicht hätte man damals an den konkreten Fragen weiterarbeiten sollen, statt in einsame Spekulationen, in eine fragwürdige Philologie der Vorsokratiker oder in eine weltanschauliche Auswertung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik auszuweichen. 19 40

Vgl. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1971. 172. - Zum folgenden vgl. Identität und Differenz. Pfullingen 1957. 29, 10. Vgl. die entsprechenden Formulierungen in einem Vortrag Carl Friedrich von Wetzsäkkers zum 65. Geburtstag Georg Pichts: Zeit und Wissen. In: Offene Systeme II. Logik und Zeit. Hrsg. von K. Maurin, K. Michalski und E. Rudolph. Stuttgart 1981. 17-38, vor allem 25.

60

Logik und Zeit

Als Bergson und Einstein 1922 in Paris über die Zeit diskutierten, schien Bergson zu unterliegen: wenn er die „Dauer", die Freiheit ermöglicht, gegen die Verräumlichung der Zeit zur Dimension eines Raum-Zeit-Kontinuums verteidigte, wurde er der neuen Physik nicht gerecht. So konnte Einstein nicht ohne Spott die „Zeit der Philosophen" ablehnen, in der inkompetente Leute als Erfahrung und Erlebnis retten wollten, was die Wissenschaft zurückgelassen hatte. Als Einsteins Freund Besso, der die Irreversibilität der Zeit hatte verteidigen wollen, gestorben war, schrieb Einstein kurz vor dem eigenen Tode, ein solches Vorangehen im T o d e bedeute nichts. „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion." „Gläubig" sind diese Physiker im Sinne Spinozas; so könnte man sie als Beleg für die These Heideggers anführen wollen, daß die m o d e r n e Wissenschaft n u r ein Nachzügler der Metaphysik ist. Ist jedoch Heideggers Protest nicht noch ohnmächtiger als der Protest Bergsons? Zwar konnte Heidegger gelegentlich darauf hinweisen, daß das gleichzeitige Hervortreten von Sein und Zeit und der Heisenbergschen Quantenmechanik nichts Zufälliges sei, weil in beiden Ansätzen die theoretische Einstellung mit ihrer Subjekt-Objekt-Scheidung gebrochen worden sei. 41 Zugleich sah er aber in der „Jagd nach der mathematisch-theoretischen physikalischen Weltformel" den Beleg dafür, daß die Physik im ganzen Raum und Zeit nur als Parameter kenne und so verabsolutiere, so daß die Welt als der Bereich von Nähe und Ferne, von Weite und Weile „verwüstet" werde. Daß die Physik sich nicht mehr auf den „Glauben" Einsteins festlegt, daß die Rede von der Weltformel nur eine vulgäre Verdeutung des (zerbrochenen) Versuches zur Herstellung der Einheit der Physik ist, kommt nicht in Heideggers Blickfeld. Als Heidegger den ihm angewiesenen Platz in der Zusammenarbeit der Phänomenologen verließ und seine spezifischen Erfahrungen nicht mehr gegenüber den Erfahrungen z. B. aus der naturwissenschaftlichen Arbeit beschränkte, minderte er die Kraft seines Denkens zum Begreifen dessen, was ist.

Zur Diskussion des angeführten Satzes von Einstein vgl. Ilya Prigogine Vom Sein zum Werden München 1979. 210 ff. - Zum folgenden vgl. Unterwegs zur Sprache 209. Auch Heideggers später Vortrag Zeit und Sein (vgl. Zur Sache des Denkens 1 ff) macht Gebrauch von früheren Annahmen aus der Phänomenologie von Raum und Zeit, die hier in Frage gestellt wurden: daß die Zeit drei Dimensionen habe, welche in einer vierten Dimension zur Einheit kämen, das Sein als Anwesenheit auf Gegenwart bezogen sei, diese aber eine Dimension der Zeit sei, daß der Zeit-Raum des Seins durch Nähe und Ferne, damit durch eine bewegte Identität und nicht durch Trennung bestimmt sei, usf.

3. Destruktion und Augenblick Das Wort .Destruktion' gehört zu jenen Titeln, die sich schon früh und wie selbstverständlich im Philosophieren Heideggers durchsetzten. Eignete nicht der Geste, mit der der Privatdozent Heidegger auftrat, überhaupt etwas Destruktives? Die Vorlesungen, mehr noch zum Beispiel die Briefe an Karl Löwith, wiesen ab, wollten wegräumen, konnten sich mit nichts zufriedengeben. Solche Destruktion traf jedoch auf die Phänomenologie Edmund Husserls, die nichts anderes sprechen lassen wollte als die Sachen selbst. Die Frage blieb, wie weit diese Sachen (die Phänomene der phänomenologischen Philosophie) sich nur in einem Prozeß zeigen, dessen bewegender Kern immer wieder neu durch die Destruktion geöffnet werden muß. Muß nicht gerade von ,den letzten Dingen' gelten, daß der rechte Bezug auf sie uns nur im unverfügbaren Augenblick zugesprochen wird? Das Existieren selbst fällt von diesem Augenblick immer wieder ab; es will sich „ruinant" von Dingen her verstehen, die selbstverständlich gegeben sind wie Tische und Stühle im alltäglichen Leben. Kann aber der flüchtige Augenblick überhaupt Konstruktives hergeben? Die Konstruktionen waren für die phänomenologische Philosophie gerade das, was abgebaut werden mußte - Spekulationen, die den Sachen selbst nicht gerecht werden. In diesem negativen Sinn führt Heidegger „Konstruktion" in Sein und Zeit ein; im Laufe der Abhandlung bekommt das Wort jedoch einen positiven Sinn, so daß die Vorlesung vom Sommer 1927 über Grundprobleme der Phänomenologie die Konstruktion als den systematischen Teil neben die Destruktion als den historischen Teil der Philosophie stellen kann. Die Konstruktion ist dann ein Aufweisen und Sehenlassen der Gesetzlichkeit einer Sache. Man kann ein rechtwinkliges Dreieck im Hinblick auf jene Gesetzlichkeit hin konstruieren, die im Pythagoreischen Lehrsatz ausgesprochen wird. Für die Philosophie selbst wird unterstellt, daß sie es nicht nur mit den Gesetzlichkeiten der Mathematik zu tun habe, daß in ihr vielmehr Systematik und Historie, Konstruktion und Destruktion nicht zu trennen sind. Das Zusammenspiel von Konstruktion und Destruktion ist Aneignung der Tradition, in der wir immer schon stehen, aber Aneignung von dem her, was vergessen wurde, was von der Sache her aber nötig ist und so freizulegen bleibt. Was mittels der Destruktion im abendländischen Philosophieren freigelegt werden muß, könnte gerade die Ausrichtung auf den Augenblick sein. So sagt Heidegger in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik: „Der Zeitbann kann nur durch die Zeit selbst gebrochen werden, durch das, was vom eigenen Wesen der Zeit ist und was wir im Anschluß an Kierkegaard den Augenblick nennen." Heidegger stellt zugleich fest: „Was wir hier mit .Augenblick' bezeichnen, ist dasjenige, was Kierkegaard

62

Logik und Zeit

zum erstenmal in der Philosophie wirklich begriffen hat - ein Begreifen, mit dem seit der Antike die Möglichkeit einer vollkommen neuen Epoche der Philosophie beginnt."42 Die angeführte Vorlesung wurde im Krisenwinter 1929/30 gehalten und verweist auf eine Krise auch im Philosophieren Heideggers, die dann die Fortsetzung des Fragments von Sein und Zeit verhinderte. Eine erste selbstkritische Frage betraf die Tradition: Kann das Denken Kierkegaard folgen, der das Fragen des Sokrates aufnahm, es aber mit dem Apostel Paulus auf den eschatologischen Augenblick ausrichtete? Heidegger wies in dieser Vorlesung daraufhin, daß die eigene Zeit durch einen Nietzscheanismus bestimmt sei, der in mannigfacher Weise das Leben oder die ,Seele' gegen den Geist ausspiele. Max Scheler hatte dagegen von einem Weltalter des Ausgleichs gesprochen, das nun die Traditionen von Ost und West, aber auch die männliche und die weibliche Lebensform neu verbinden müsse, vor allem die dionysische Einfügung in den Lebensdrang und die apollinische Partizipation des Geistes an allem So-sein. Heidegger nahm den Widerstreit des Dionysischen und Apollinischen als geschichtliches Grundgesetz auf; er wollte diesem Widerstreit zugleich die volle Schärfe zurückgeben und erinnerte deshalb auch an Nietzsches Formel „Dionysos gegen den Gekreuzigten". Das Denken wurde zurückverwiesen auf jenes tragische Zeitalter, in dem es als Partner neben dem Dichten stand und der Logos sich noch nicht dem Mythos entgegengestellt hatte. Wenn die erste HölderlinVorlesung und die erste Nietzsche-Vorlesung den Widerstreit des Dionysischen und Apollinischen als Grundgesetz unseres geschichtlichen Daseins ansetzen, dann sehen sie diesen Widerstreit reiner und einfacher bei Hölderlin ausgesprochen als Widerstreit zwischen dem begeisternden Feuer vom Himmel und der nüchternen Form. Hölderlins Briefe an Böhlendorff werden angeführt für die Einsicht, daß dieser Widerstreit sich für die Griechen und für uns jeweils anders darstelle, wir also nicht die Griechen nur kommentieren dürften.4' Von Hölderlins Erfahrungen her sprechen die Beiträge zur Philosophie, jenes Hauptwerk Heideggers aus den Jahren 1936-1938, das erst im hundertsten Geburtsjahr Heideggers erschien. Kierkegaard, Nietzsche und Hölderlin werden dort als jene genannt, die das Denken an die Aufgabe verweisen, die vergessene Dimension der Wahrheit als Augenblicks-Stätte aufzudecken. Doch heißt es über die drei so früh Gescheiterten, daß Hölderlin, der zuerst kam, am weitesten in die Zukunft vorausweise. Anfang der vierziger Jahre hatte Heideggers Denken mit einer Krise fertig zu werden, in der es noch einmal grundlegend sich wandeln mußte: die Illusion mußte abgelegt werden, als könne das Schaffen der großen Schaffenden, von dem Nietzsche gesprochen hatte, von einer tragischen Welterfahrung her Geschichte neugründen. Mit den Fragmenten Heraklits und den späten Versuchen 42 41

Vgl. Die Grundbegriffe der Metaphysik 225 f; zum folgenden 107 f. Vgl. Hölderlins Hymnen „Germanien" und „Der Rhein" 190; Nietzsche Band 1. 124. Zum folgenden Beiträge. 204.

Destruktion und Augenblick

63

Hölderlins sollten in der Verdüsterung der Welt wenigstens Spuren festgehalten werden, die einmal zu einer Wandlung des Lebens führen könnten. In den Sommern 1946 und 1947 versuchte Heidegger mit Hilfe eines chinesischen Bekannten, sich die Bildzeichen Lao-Tses und deren vielfach verflochtenes Zusammenspielen zu vergegenwärtigen. Zum Heraklitschen Grundwort .Logos' trat aus einer anderen Herkunft heraus das Wort ,Tao' oder ,Weg'. Es ging nicht mehr nur darum, vom Griechischen her zum Eigenen zu übersetzen (wie Hölderlin es versuchte, als er durch Übersetzungen von Pindar und Sophokles sich zu seinen eigenen Gedichten führen ließ). Es ging um ein Gespräch, in dem die Differenz der Sprechenden sich der jeweils anderen geschichtlichen Herkunft aus Ost und West verdankte, aber auch dem unterschiedlichen Vortasten in die Zukunft. Wolfgang Schadewaldt hatte als junger Professor 1933 Heidegger zum Rektor der Freiburger Universität vorgeschlagen (damit nicht, wie man damals meinte, ein vielfach gefährdeter Augenblick gänzlich verfehlt werde). Er schrieb im O k t o b e r 1947 an Heidegger: „Von Ihrem Namen ist nun die Welt erfüllt. Soll man Sie dazu beglückwünschen oder beklagen?" Worte, so meinte Schadewaldt, blieben zweideutig; sollte das Denken nicht in ihnen so spielen, wie die Dichtung es tue? Auch Piaton habe sein Ernsthaftestes nicht Worten preisgegeben, sondern im Verborgenen deponiert. Heidegger antwortete: „Das hohe Spiel erblüht nur dem Ernst, nie dem Spielerischen und Lässigen. Für eine Jähe ,Spiel' mußte Piaton eine M ü h e des Denkens wie den .Sophistes' und anderes geben und dies noch auf die Gefahr, daß jenes inskünftig bis auf seltene Augenblicke der Erleuchtung Seltener verborgen bleibe." 44 Die J ä h e ' ist das e£oupvT)