Zola in seiner Zeit
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Seit dreißig Jahren gibt es in Frankreich eine Zola-Renais­ sance. Zu dieser Wiederentdeckung trägt das Buch von Karl Korn Entscheidendes bei. Die Lebensgeschichte des jungen Intellektuellen Zola wird als Beispielsfall für die Iden­ titätsprobleme eines Einwanderersohnes gesehen und durchleuchtet. Korn bringt die tiefenpsychologische Sicht in die Biographie ein. Die zweite Neuentdeckung gilt dem Autor der zwanzigbändigen Romanserie der »RougonMacquart«, die mehr ist als eine Chronik der Wanderung einer Sippe von unten durch die Ränge und Chancen einer Gesellschaft im Aufbruch - nämlich ein Kolossalgemälde aus Darwinismus und Milieutheorie. In subtilen Kabinett­ stücken der Schilderung und kritischen Durchleuchtung weist derAutorZola als einen Flaubert und Balzac ebenbür­ tigen Intimkenner der gesellschaftlichen Szene Frankreichs aus. Der Leser lernt Zola nicht nur als den Erzjournalisten und Reporter vor Ort kennen, sondern auch als den politischen Kopf, der die Macht der Cliquen und die Begierden der Massen in Erzählstoff zu fassen vermag. Korn sieht das Phä­ nomen des ersten Großschriftstellers der neueren Zeit weni­ ger ästhetisch aiszeitgeschichtlich. Dies gilt besonders auch für die neu entdeckte Städtetrilogie »Lourdes- Rom- Paris« und im Zusammenhang damit für Zolas Rolle im Kampf ge­ gen und für Alfred Dreyfuß. Derselbe Emile Zola, der einen Thiers gefeiert hat, wird zum Opfer des Konflikts von Tradi­ tion und Revolution, der für das moderne Frankreich bis heute grundlegend geblieben ist.

DM 16.80 ISBN 3 548 2Z532 X

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Lebensbilder

Lebensbilder Ullstein Buch Nr. 27532 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Ungekürzte Ausgabe U mschlagent Wurf: Hansbernd Lindemann Foto: Ullstein Bilderdienst Alle Rechte Vorbehalten Mit freundlicher Genehmigung des Societäts Verlages, Frankfurt/Main © 1980 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH Printed in Germany 1984 Druck und Verarbeitung: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3 548 27532 X Dezember 1984

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Korn, Karl: Zola in seiner Zeit / Karl Korn. Ungekürzte Ausg. Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein, 1984. (Ullstein-Buch; Nr. 27532: Lebensbilder) ISBN3-548-27532-X NE: GT

Karl Korn

Zola in seiner Zeit Mit 102 Abbildungen

Lebensbilder

Inhalt

Der Vater Flucht nach Paris Bohème 1860/1862 Lehrjahre im Großverlag Hachette Claudes Beichte/Alexandrine Die Großen desJahrzehnts :Taine, Courbet, Manet Journalismus 1865/70 Vom Abenteurer zum Kaiser: Louis Napoleon Ein Minister im Räderwerk Zola greift an : »Mes Haines« Ein Triebverbrechen :Thérèse Raquin Wilde Ferien an der stillen Seine Der Einstieg einer Sippe in die Gründerzeit Der Rausch der Gründerjahre Ein Aufstand und seine blutige Niederwerfung Thiers oder die Republik der Bürger Zur Metaphysik der Provinz Die Angst der Fetten Das gute Weib aus der Straße zum goldenen Tropfen Nur ein Blatt Liebe? Zola intim Lebenskrise 1880/Das Warenhaus Bürger-Satire »Lebensfreude« -ein Buch des Pessimismus Der Literatur-Ingenieur Cézanne-eine Freundschaft zerbricht Vorläufer der weiblichen Emanzipation ? Apokalypse des Geldes »Neuer Feldzug« Lourdes, eine Umkehr Romaaeterna? Paris, Stadtder Zukunft Die Affäre Dreyfus »Ich klage an« Fruchtbarkeit aus keuschen Ehen Das Melodram »Arbeit« Der Kampf gegen die klerikalen Schulen Das tragische Ende Zola gestern und heute

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Anhang: Literaturverzeichnis N amensverzeichnis Verzeichnis der Werke und Periodica Bildnachweis

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Sämtliche Werkzitate und Dokumentarbelege dieses Buches sindzum Teil erstmalig - vom Autor übertragen worden.

Der Vater

Das Land östlich der Stadt Aix ist bis heute eine Enklave der reinen Natur. Die Departementalstraßen nach Vauvenargues, in dessen Schloßgarten Picasso begraben ist, wie die nach dem ehemaligen adligen Landsitz der Marquis de Galliffet in Le Tholonet, schieben sich, die eine nördlich, die andere südlich, an das Massiv der Kalk­ berge der Sainte Victoire heran, berühmt durch die Bilder des Paul Cézanne. Die Unversehrtheit dieses Landes ist dem harmonischen Stufenaufbau zu danken, der in mehreren plateauförmigen Übergän­ gen zu dem Steilabfall der Sainte Victoire führt. Eine Heilige Victoria gibt es nicht. Der Berg ist durch Cézanne geheiligt. Sein Name, im alten provenzalischen Dialekt Ventoux, ist vermutlich ein Berg des Winds wie sein durch die Vaucluse und Petrarca berühmter Namens­ vetter, der Ventoux, der oberhalb von Carpentras das Rhonetal wie ein Sagengigant beherrscht. Die Montagne Sainte Victoire (Santa Ventura, eine rührende Sakralisierung) ist der Hausberg der schönen Stadt Aix. Das lang gestreckte Massiv der grauweißen, in der Mittags­ sonne grell leuchtenden verkarsteten Gesteinsöden, eine Gebirgskomposition, könnte dem großen Cézanne den Gedanken vermittelt haben, daß Malerei Komposition aus geschichteten Farbflächen sei. Rings um den behäbig weiten, an schönen Teichen und rauschen­ den Wassern gelegenen, hinter riesigen Platanen versteckten ehemali­ gen Herrensitz der Galliffet im Tholonet kann man den Pilgerweg »Cézanne« wandern und den Zusammenklang der Naturmotive und der Malerei in immer neuen, überraschenden Varianten nacherleben. Angesichts dieser Landschaft hat Cézanne von der Konfiguration gesprochen, die sich ihm, dem Compositeur, als Bildaufbau der Realität anbot. In dieser Landschaft von klassischer Monumentalität dehnt sich wie ein Sockel, dem »Santa Ventura«-Gebirgsstock vorgelagert, das Infernet, eine, wie der Name sagt, untere Region von felsigen Schluchten, in denen sich die Wasser sammeln, die seit den frühen Tagen der Kelten und Ligurer die Brunnen der ersten Siedlungen im Raum der späteren Römerstadt Aix (Aquae) speisten. Man erreicht dieses entlegene Gebiet etwa sechs Kilometer außerhalb der heutigen Stadt, wenn man von der Straße nach Vauvenargues rechts in Rich­ tung eines Plateaus einbiegt, das den merkwürdigen Namen Bibemus trägt.

An Werktagen tritt man in einen Bezirk absoluter Stille ein und sucht im hellen Licht des Himmels, den man als den Äther der Antike

empfindet, ein Bauwerk, das, obwohl kaum mehr als hundert Jahre alt, so einsam und vergessen scheint, daß man es nur mit Mühe ausmachen kann. Der Weg führt durch lichte Aleppokiefern. Am Boden wuchern Ginster, vereinzelte Pistazienbüsche, allerlei dorni­ ges Buschwerk der Macchia. Die heiße Luft duftet nach Thymian, Harz und dem bitteren Rosmarin. Oft tritt in Adern der kahle Kalkstein hervor. Die Kiefern stehen licht, so daß der Blick auf das Massiv der Sainte Victoire in Durchblicken freie Bahn findet. Am Rande des Plateaus führt der Weg in einer Kehre an einem Hang nach Westen in ein ausgewaschenes Tälchen, dessen Flanken in warmem Ockerton schimmern. Eine schmale Fahrspur führt von dort in die Nähe der Steinbrüche, worin der Muschelkalk gebrochen wird, der, zu Quadern geschnitten, die Stadtpalais und Kirchen von Aix in warmes Gold kleidet. Die Szenerie wird breiter, das Gelände steigt an, und auf einige hundert Meter Distanz wird das Bauwerk sichtbar, das wir suchen: Der Zola-Kanal, Le Canal Zola. Im Vorfeld erkennt man quer über eine ansteigende Talschlucht geführte, in Terrassen angelegte, schmale Seitenkanäle. Ihre Schleusen scheinen verwittert und nicht mehr in Betrieb zu sein. Das Bett eines Gießbachs wird in einer tief gelegenen Rinne erkennbar. Uber der wilden Szenerie taucht eine zwischen die abfallenden Felshänge gesetzte, senkrecht ansteigende Sperrmauer auf. Sie ist aus grauen Quadern aufgeschich­ tet. Der obere Saum des Bauwerks ist von einem weiß getünchten, kleinen Haus bekrönt. Kein Mensch weit und breit. Ein offenbar verlassenes technisches Bauwerk der frühen Industrieperiode, zu dem man mit einiger Mühe über steinige Pfade hinaufgelangt. Die Wege sind kaum geschottert. Links erblickt man am Berghang einen schö­ nen behauenen Block jüngeren Datums mit der in Antiqualettern in den Stein gemeißelten Aufschrift »Zola«. Wir haben gefunden, was wir suchen. Oben auf dem Kranz des Mauerwerks angelangt, betreten wir den gemauerten Weg über den Damm und erblicken auf der andern Seite des Damms den niedrigen Wasserspiegel etwa fünfzehn Meter unter­ halb tiefgrün, aber klar. Der Damm ist in schöner halbkreisförmig geschwungener Kurve nach innen gekrümmt. Durch die segmentartig zum Tal hin ausgebuchtete Krümmung hat der Erbauer den Wasser­ druck abgefangen und nach außen abgeleitet. Doch ist, was sich dem ersten Blick als Stausee darbot, eher ein Kanal zu nennen, der geradlinig bis zu einem dahinter liegenden natürlichen Seensystem führt. Vor der Anlage von Staudamm und Kanal müssen die Wasser aus den in mehrere Zipfel ausgelappten Schluchten in wilden Kaska­ den talab geflossen sein. Durch die stauende Mauer sind die zipfelig gegliederten Seen erst eigentlich zu ihrer heutigen Höhe angestiegen.

Das Ganze stellt eine wohlgelungene Verbindung von Natur und Kunstbau dar. Kein Boot, kein Kahn, kein Mensch weit und breit. Es ist am Ort nicht auszumachen, ob das Werk heute noch - es wurde 1853/54 fertiggestellt - zur Trinkwasserversorgung von Aix und zur Landbewässerung dient. Inzwischen hat man etwa drei Kilometer oberhalb nach dem gleichen Prinzip die Wasser, die im Herbst und Winter reichlich von der Sainte Victoire herunterstürzen, in einem neuen doppelt so großen Staudamm abgefangen und dahinter die sich fächerförmig ausbreitenden Schluchten so mit Wasser gefüllt, daß auch dort ein umfangreiches System von durch Technik konstru­ ierten, zipfelig angeordneten »Naturseen« entstanden ist. Auch hier am Barrage Bigaud sieht man nichts als die reine Naturszenerie vor der Steilfront der Montagne Victoire. Offenbar hat man die Nutzung der Seen durch jede Art von Booten strikt untersagt. Der Gedanke, die stufenweisen, von Schluchten durchzogenen Plateaus vor dem Gebirge durch Sperrmauern zu verbauen und Seen als offene Wasserreservoire anzulegen, stammt von dem Manne, dem ein provenzalischer Wanderverein die schlichte Inschrift des bloßen Namens Zola als einziges Denkmal, das es gibt, gesetzt hat. Vielleicht verwechseln jüngere Menschen, die heute als Schulklassen oder Wan­ dervereine durch das einsame Gebiet ziehen, den unbekannten Inge­ nieur Francesco Zola mit seinem berühmten Sohn Emile, den sie aus Schulbüchern kennen. Diese mögliche Verwechslung wäre vermut­ lich nicht gegen den Willen der Toten gleichen Namens. Als der Vater längst tot war, hat der Sohn Emile, der in Aix heranwuchs, mit den Freunden Paul Cézanne und Jean-Baptistin Baille vorzugsweise im Gebiet zwischen Sainte Victoire und Le Tholonet oft Streifzüge unternommen, und stets wurde der schmale Pfad an die Staumauer in den Wanderweg eingeflochten. In Emile Zolas unter Pseudonym erschienenem Erstling La Confession de Claude wird in Kapitel XVIII das Jugendglück beim Streifen rings um die Montagne Sainte Victoire mit solcher Erinnerungsglut evoziert, daß vieles davon an die späteren Bilder des reifen Cézanne erinnert, die dieser im Infernet gemalt hat. »Nachts weckte ich euch mit Jagdtasche und Gewehr, Cézanne und Baille. Wir waren wie die jungen Rösser... die weißen feuchten Morgennebel, dann die glühenden Sonnen (!), die Luft voller Hitze, diese breiten Strahlenmassen, die männlich starke Stunde, in der das Blut vorzeitige Reife erlangt, die fruchtbaren Eingeweide der Erde. Die provenzalische Lebensglut... das Erdreich gelb und rot, die Bäume mager, die der Ebene von dunklem Laub­ werk, die Hügelketten zart blau, von einem weichen Violett.« Dieser lyrisch expressionistische Ausbruch ist landschaftlich lokalisierbar. Es ist das Infernet, dem Sainte-Victoire-Berg vorgelagert, und es ist

die Ebene von Le Tholonet, in der Cézanne später sein »Schwarzes Schloß« erwarb, ein finsteres Malernest voller Geister. Im Leben von Vater und Sohn war der Staudamm auf der Höhe des Plateau du Marin so etwas wie eine Schicksalsmauer. Wer war jener Francesco Zola? Die Geschichte der Zola, einer venezianischen Familie von Berufsoffizieren und Verwaltungsbeamten der Republik Venedig vor ihrem Untergang in den napoleonisehen Kriegen, ist nicht nur für den berühmten Emile Zola von Bedeutung, sondern auch von allgemeingeschichtlichem Interesse, gibt sie doch ein Beispiel für die Situation von Menschen, die, mit einer traditionsreichen Staatsbürgerschaft geboren, in eine revolutio­ näre Epoche geraten, durch mehrfache Wechsel der Souveräne ihre Identität verloren und sie kaum wiederzugewinnen vermochten. Francesco Zola, geboren in Venedig im Jahr 1795, ist in seinem bis heute nicht ganz aufgeklärten und wohl unaufklärbaren Schwanken zwischen den französischen Eroberern und »Befreiern« und den österreichischen »Restauratoren« alter Ordnungen ein Beispiel für den Verlust der staatsbürgerlichen Identität und eine Unsicherheit, die sich als Verrat auskristallisieren kann. Francesco Zola war der jüngste Sohn von Carlo Zolla (der Sippen­ name ist in den italienischen Urkunden stets mit zwei 11 anzutreffen), geboren 1752 im dalmatinischen Zara, wo sein Vater in veneziani­ scher Garnison stand, gestorben 1810 in Venedig. Dieser Mann, der Großvater Emile Zolas, war wie der Urgroßvater Antonio Zolla venezianischer Offizier in Diensten der Serenissima, lange Zeit als Pionierleutnant, später als Hauptmann, noch später in Verwaltungs­ diensten der Österreicher (1797-1805) als Generalinspekteur der öffentlichen Gebäude tätig. Dieser Carlo soll nach einer nicht mehr genau kontrollierbaren Familientradition, die Emile Zola bis zu seinem Tode für wahr gehalten hat und deren Verbreitung durch seinen ersten Biographen und treuen Anhänger Paul Alexis er inspi­ riert hat, mit einer Griechin aus Korfu verheiratet gewesen sein. Die griechische Großmutter muß in der venezianischen Familie geradezu als eine Zierde gewürdigt worden sein. Sie schien den politisch heimatlos gewordenen Staatsbürgern der in den Revolutionszeiten untergegangenen Republik so etwas wie ein Schimmer der Erinne­ rung an die großen Jahrhunderte, in denen Korfu eine venezianische Bastion am südlichen Ausgang der Adria gewesen ist. Es ist auffällig, daß auch der Vater des Francesco Zolla in Biographien des Emile Zola gelegentlich Dalmatiner genannt wird, was die irrtümliche Annahme nahelegen konnte, Emiles Großeltern seien eine kroatisch-griechische Verbindung gewesen. Davon kann nach neueren Forschungen in den venezianischen Archiven keine Rede sein. Der Geburtsort Zara an

der dalmatinischen Küste - die Altstadt ist bis heute im baulichen Gepräge venezianisch - war die Garnison, in der Carlo als Sohn des Standortkommandanten zufällig geboren wurde. Urkunden, die bezeugen, daß dieser Mann 1779 um seine »Rapatriierung« einkam, sind erhalten. Wichtiger ist, daß die griechische Großmutter nach neueren Nachforschungen des französischen Historikers René Ternois nicht existiert hat. Die Großmutter des Emile Zola war die Venezianerin Nicoletta Bondioli, gleichfalls aus einer Familie von Militärs - der Vater war Artilleriefeldwebel, ein Schwager immerhin Hauptmann. Das Testament der Dame, 1828 aufgesetzt - sie starb 1832 -, läßt einen gewissen bescheidenen bürgerlichen Wohlstand erkennen. Da werden silberne Kandelaber, Gold- und Brillant­ schmuck, silberne Zuckerdosen, Uhren und Pendulen, Bestecke und Auflegelöffel samt anderem Zubehör minuziös an die Kinder aufge­ teilt und jedesmal hinzugefügt, »damit sie sich der Mutter erinnern«. Eine Tochter Caterina, die 1803 einen venezianischen Notar, Petropoli, heiratete, konnte immerhin über zwölftausend Lire als Mitgift in die Ehe einbringen. Die Frage, wie es zu der Familienlegende von der griechischen Großmutter hat kommen können, ist weniger erheblich als der Umstand, daß Emile Zola sie als wahr angenommen und sie sogar durch Recherchen nach dem Wappen von Korfu, das er 1886 als genealogisches Ornament in die Glasfenster des Billardzimmers sei­ nes Landhauses hat einsetzen wollen, bestätigt hat. Es könnte sein, daß die exotische Ausschmückung des Familienstammbaums auf eine Zeit zurückgeht, da ein Zolla nicht nur auf Kefalonien, sondern auch auf Korfu Militärdienst für die Republik Venedig getan hat. Das lag noch zehn und mehr Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution und ist in unserem Zusammenhang insofern wichtig, als bei dem Urgroßvater sowohl die Kontinuität des Offizierberufs in der Familie bereits deutlich erkennbar ist wie der Ursprung von der Terra ferma, nämlich aus Brescia, das ebenso wie die dalmatinischen Garnisonen von Zara und Cattaro jahrhundertelang venezianisch war. Die Familie und die Frauen, welche die Zolla heirateten, stam­ men entweder aus der Lagunenstadt oder aus Padua oder Brescia. Aus Concesio nahe bei Brescia stammt ein Giuseppe Zola (1739 bis 1806), den bisher noch kein Biograph Emile Zolas in die Nähe der Vorväter gebracht hat. Es wäre möglich, daß dieser durch fortschritt­ lich josephinische Ideen bekannt gewordene Prälat und Theologe zur weiteren Sippe der Zolas zu rechnen wäre. Giuseppe Zola aus der Gegend von Brescia begann früh als Professor der Kirchengeschichte in Pavia. Er hat den autoritären Klerikalismus der Kurie kühn kritisiert, so daß er sein Katheder zeitweilig verlor. Die Franzosen,

die als Revolutionäre auch in dieses Leben eines gebürtigen veneziani­ schen Staatsangehörigen eingriffen, setzten den Eiferer gegen den »Hildebrandismo« wieder ein, der im Zusammenwirken mit dem Abt Bellegarde einer der Urheber des holländischen Schismas wurde. Dem Temperament nach würde dieser Zola zu Francesco und Emile Zola passen. Francesco Zolla, der sich später François Zola nannte, vermutlich, weil Zolla (die Erdscholle) ihm einen unedlen Nebenklang zu haben schien, ist als das jüngste von vier Kindern des Carlo Zolla und der Venezianerin Nicoletta geborene Bondioli 1795 in Venedig geboren. Als der Knabe zwei Jahre alt war, kam seine Vaterstadt an das von dem französischen Eroberer General Napoleon gegründete König­ reich Italien, das 1814/15 an Österreich fiel. Als der Fünfzehnjährige 1810 auf die Offizierschule von Pavia ging, war Eugène Beauharnais, Stiefsohn Napoleons und Sohn der späteren Kaiserin Josephine, Vizekönig von Italien. Das Offizierspatent als Leutnant stammte aus dieser Zeit. Francesco wechselte bereits zwei Jahre später mit seinem italienischen Regiment in österreichische Dienste. Man ließ den jun­ gen Offzier von zweiundzwanzig Jahren auf die Universität Padua ziehen, wo er binnen weniger Jahre ein Doktorat der Mathematik erwarb. Der Vater des Emile Zola scheint mit wacher Intelligenz und beträchtlichem Ehrgeiz schon als junger Artillerieoffizier an eine zivile Zukunft als Ingenieur gedacht zu haben. Den akademischen Titel hat er sich mit einer These über Bodennivellierung und Landver­ messung verdient. Das war die Basis seines späteren Zivilberufs als Tiefbauingenieur und Konstrukteur. 1820 nahm er als Hauptmann der Artillerie seinen Abschied. Bereits 1821 finden wir ihn an den Nivellierungsarbeiten für einen ersten Schienenweg von Linz an der Donau nach dem südböhmischen Budweis beschäftigt, der vor allem dem Transport von Salz aus Österreich dienen sollte, der damals noch mit Pferden betrieben wurde. In seinen Anfängen arbeitete er in den Diensten des österreichischen Eisenbahnpioniers Anton von Gerstner. Als dieser gemeinsam mit Francesco Zola die Fortführung der Linie Budweis-Linz nach Gmunden ins Salzkammergut plante, kam es mit den Aktionären zu Unstimmigkeiten, weil die Geldgeber die von den Ingenieuren geplante Trassierung für die spätere Nutzung mit Dampfbahnen nicht zu finanzieren bereit waren. Das war ein Konflikt der Art, wie ihn der Ingenieur Zola später sein ganzes Berufsleben lang nur zu bitter kennenlernen sollte. Im Zusammen­ hang mit Emile Zolas Roman Das Geld von 1891 entbehrt es nicht einer gewissen Pikanterie, daß die Rothschild-Bank diese Bahnlinie später finanziert hat. Gerstner gab auf und ging nach England, um dort die ersten Dampfbahnen zu studieren. Es könnte sein, daß der

Österreicher den jungen venezianischen Mitarbeiter auf diese Reise über den Kanal mitgenommen hat. Dafür spräche, daß Emile Zola, der den Ruhm des Vaters in Erzählungen im Freundeskreis pflegte, von einer Englandreise berichtet hat. Einige Biographen vermuten, daß der unruhige junge Mann im restaurativen Österreich politischen Anlaß sah, das Land zu verlassen. Im Revolutionsjahr 1830 taucht Francesco Zola, der sich zum François wandelt, in Paris auf und läßt sich in die Fremdenlegion aufnehmen. Er dürfte es seinem italo-französischen Offizierspatent verdankt haben, daß man ihn als Leutnant einstellte. Zuvor hatte er eine Denkschrift an den neuen Bürgerkönig Louis Philippe gelangen lassen, worin er erstaunlich moderne Vorschläge für die Verteidigung von Paris macht. Er schlug vor, statt einer Ringsumbefestigung im weiten Umkreis um die Stadt einzelne, nicht miteinander verbundene Forts zu errichten. Diesen Gedanken hat der Ingenieur zehn Jahre später wieder aufgegriffen und dem Kriegsminister persönlich vorge­ tragen. Zunächst hatte der stellungslose Zivilingenieur in Frankreich keine berufliche Chance, so daß er sich in die Fremdenlegion ver­ dingte. Dieser Versuch scheiterte nach fünfviertel Jahren mit einer Affäre, die nicht ganz aufzuklären war und ist. Der Leutnant, der vorübergehend auf der Kleiderkammer Dienst getan hatte, war den Reizen einer Madame Fischer, Frau eines deutschen Sergeanten, erlegen. Die Fischer scheint ihm einen Betrag von 1500 Franken abgeschwatzt zu haben, die bei einer Revision in der Militärkasse der Kleiderkammer fehlten. Das Paar war, als es im Begriff stand sich in Algier einzuschiffen, festgehalten worden. Der junge italienische Offizier vermochte die Summe zu erstatten, so daß seinem Gesuch um Entlassung stattgegeben wurde. Dieser Tatbestand ist unbestrit­ ten. François Zolas berühmter Sohn Emile hat 58 Jahre nach dieser Affäre erleben müssen, daß ein Denunziant sich Zugang zu den Personalpapieren des Vaters im Kriegsministerium zu Paris verschaf­ fen konnte und in chauvinistischen Zeitungen eine Verleumdungs­ kampagne gegen den ehemaligen Offizier der Fremdenlegion hat entfesseln können, um den in der Dreyfusaffäre engagierten Sohn moralisch zu schädigen. Emile Zola hat den Sachverhalt nach erbitter­ ten Kämpfen mit dem Kriegsministerium um die Einsicht in die Personalakten, die man zuvor einem Denunzianten gewährt hatte, in mehreren Artikeln klargestellt, die in dem Band La Vérité en marche (Die Wahrheit auf dem Vormarsch) nachzulesen sind. Zola hat dabei feststellen müssen, daß entlastende Dokumente aus dem Dossier inzwischen verschwunden waren. Der Umstand, daß die in solchen Dingen sehr strenge militärische Obrigkeit den verdächtig Geworde­ nen alsbald freiließ, seinen Abschied und die Übersiedlung nach 13

Marseille genehmigte, hat den gehässigen Verleumdern den Mund gestopft. Emile Zolas Kampf um die bürgerliche Ehre des Vaters bleibt ein Denkmal der Rechtschaffenheit und Pietät des Sohnes. Was für ein Mensch Vater Zola gewesen ist, kann nur aus seinem bewegten, abenteuerlichen, trotz vieler Rückschläge erfolgreichen Leben erschlossen werden. Wir wissen von dem Ingenieur-Unterneh­ mer, der sich 1831 in Marseille niederließ und in den Jahren des Bürgerkönigtums geradezu ein Vorkämpfer des neuen Industriezeit­ alters wurde. Er eröffnete an der Cannebière zu Marseille, die direkt auf den alten Hafen führt, ein Ingenieurbüro und beschäftigte dort drei Zeichner und zwei Lehrlinge. Sein Ehrgeiz, es zu großen öffent­ lichen Aufträgen und Ansehen zu bringen, ließ ihn nicht ruhen. Wie er bereits 1830 in Paris versucht hatte, einen Plan zur Verteidigung von Paris entgegen den orthodoxen Ansichten über die Befestigung der Hauptstadt an den König gelangen zu lassen, so trat er in Marseille alsbald mit Projekten an die Öffentlichkeit, wie man die Stadtbeleuchtung mit Gaslaternen einrichten und wie man die Ver­ sorgung mit Trinkwasser verbessern könne. Vor allem aber griff er in die Diskussion ein, wie der alte, nur für Segelschiffe taugliche Hafen durch neue Anlagen des Seehafens und der dazugehörigen Docks für die Dampfschiffahrt zu ersetzen sei. Dabei geriet er in öffentlich ausgetragene Fehden mit einem einheimischen Konkurrenten. Er investierte, was er verdiente, samt seinem mütterlichen Erbteil in Denkschriften und Plänen, die er auf seine Kosten drucken ließ, reiste mehrfach nach Paris, wo er 1836 vom König und dem Prinzen von Joinville empfangen wurde. Obwohl er verschiedene Schiffahrtsgre­ mien für seine Pläne mit dem Argument gewann, daß das von ihm vorgeschlagene Terrain weitaus besser gegen den Einfall der widrigen Winde des Mistral geschützt sei, obsiegten die einheimischen Kräfte, denen er Grundstücksinteressen vorwarf. Der italienische Ingenieur hatte früh den etwa gleichaltrigen, in Marseille geborenen Adolphe Thiers, der bereits 1832 vom liberalen Abgeordneten zum Innenmini­ ster aufgestiegen war, auf seiner Seite. Der Kampf um den besseren Hafen ist dreißig Jahre später noch einmal in Marseille aufgeflammt, als François Zola bereits zwanzig Jahre tot war. Sein Sohn Emile hat um 1867 in einer Pressefehde die nie ausgeführten Pläne des Vaters in zwei Erwiderungen gegen den Ingenieur Paul Borde verteidigt und dabei stolz erklärt, sein Vater habe vom Marseiller Stadtrat 1836 die Bestätigung seiner Entwürfe als »von öffentlichem Nutzen« erhalten. Im gleichen Sinne hätten damals das Marineministerium und eine fachmännische Kommission von 210 Kapitänen sich geäußert. Dieser Nachhall nach dreißig Jahren beweist, wie leidenschaftlich Emile Zola das Andenken des Vaters bewahrt und verteidigt hat. Er hatte 1

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sogar Hoffnung, daß der alte Plan seines Vaters für eine Erweiterung nach 30 Jahren wiederaufgegriffen würde. Daraus wurde wiederum nichts. François Zola mußte aufgeben. Der Vater war nicht Absol­ vent der Ecole Polytechnique und kam gegen die Grundstücksinter­ essen seiner Gegner nicht an. Er ist, wohl auch darin seinem Sohne ein Vorbild, allzu offen und ungedeckt in die Kämpfe gegangen. Im Jahre 1838 bewarb sich der unermüdliche Mann um ein neues öffentliches Projekt. Der Stadtrat von Aix-en-Provence hatte andert­ halb Jahre zuvor für den Bau eines trinkwasserführenden Kanals eine Million Franken ausgesetzt. Francesco Zola erkundete die Umgebung der Stadt und legte die Pläne für den Staudamm, den anschließenden Kanal und das dahinter angestaute Trinkwasserbecken im Infernet vor. Die Stadt schloß mit dem Ingenieur eine Art Vorvertrag. Wir sehen dann den Ingenieur überraschend nach Paris entschwinden, wo er die Lizenz für den Staudamm und seinen alten Plan betreibt, dem Kriegsministerium ein geradezu revolutionäres Konzept der Verteidi­ gung der Hauptstadt Paris vorzulegen. Es ist nicht auszumachen, wie François Zola diese Jahre, in denen er kaum Einkünfte hatte, finan­ ziert hat. Es gehört zu seinem Erscheinungsbild, daß er, ein unge­ wöhnlich hartnäckiger und zäher Kämpfer, an seinen endlichen Erfolg so fest geglaubt hat, daß er Schulden machte. Der Kredit, den man ihm gewährte, ist wohl dem Umstand zu verdanken, daß der Bürgerkönig Louis Philippe, vermutlich durch Vermittlung Thiers’, an dem der Venezianer zeitlebens eine politische Stütze hatte, ihn empfangen hat. Zola sprach und schrieb geläufig französisch und scheint sich in den Ministerien und im Parlament mit Geschick umgetan zu haben. So gelang es ihm 1840, vom Kriegsminister Marschall Soult empfangen zu werden. Es lohnt sich, in das schön gedruckte Memorandum, das den Titel »Lignes stratégiques pour la Défense de la Capitale du Royaume du Territoire Français et de L’Algérie par F. Zola, Ingénieur civil, Ex-Officier d’Artillerie sous l’Empire, Membre de l’Académie Imperiale et Royale des Sciences et Lettres de Padoue et Concessionaire (!) du Canal d’Aix en Provence« trägt, einen Blick zu werfen. Der Verfasser, der seinem Namen alle Titel (außer dem algerischen Zwischenspiel in der Fremdenlegion) beigibt, beginnt mit der Erinne­ rung an seinen Empfang durch Seine Majestät in Sachen der Docks von Marseille 1836. Mit dem vorgelegten Memorandum wolle er in acht Monaten die Hauptstadt in einen Verteidigungszustand verset­ zen, der sehr zu fürchten wäre. Er schlage vor, fünf Sechstel des Kapitals zu sparen, das für eine Rundumverteidigung mit Wällen aufzuwenden wäre. Das System sei auch auf Algerien anzuwenden, »um die Kolonisierung zu vollenden«. 1

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Für Paris sei den bestehenden Befestigungen ein System von unab­ hängigen, untereinander nicht verbundenen Forts oder Bunkern im Vorfeld vorzuschalten. Statt aus Paris eine geschlossene Festung zu machen, möge man die »Türme« mit starker Feuerkraft ausstatten und auf diese Weise den etwa eindringenden Feind seine Kräfte verzetteln lassen. Eine geschlossene Festung Paris habe untereinander viel zu lange Verbindungswege und koste enorme Summen, die man doch zum Bau von Boulevards in der großen Stadt dringend brauche. Eine Rundum-Festung binde zu viele Truppen, die besser eingesetzt würden, wenn sie den Feind im offenen Gelände, von den Bunkern unterstützt, angriffen. Was würde eine geschlossene Festung kosten, wenn zwei bis drei Meilen bereits 8o bis loo Millionen kosten? Dagegen werde sein Bunkersystem nicht durchbrochen werden kön­ nen, weil der Feind seine Kolonnen, seinen Nachschub und die Rückzugswege dem Kreuzfeuer der Nachbarbunker aussetze. Die Verteidiger der »Türme« (Bunker) würden die Feuerkraft der moder­ nen Mörser nutzen. Die größere Beweglichkeit der eigenen Truppen würde großen Gewinn bringen. Sein, Zolas, Plan garantiere mit den geringsten Mitteln die größte militärische Kraft und Sicherheit. Diese Ausführungen beschließt der Petent mit dem stolzen und für ihn charakteristischen Satz »Auf Grund meiner langen Studien als Artillerieoffizier biete ich das Vorstehende in dem Augenblick an, da der Nationalgeist erwacht«. Der Kriegsminister Marschall Soult, ein General, der aus der Revolution stammte, bei Austerlitz den Sieg entschieden, nach Waterloo den Rückzug geleitet und bis 1818 in Düsseldorf in der Verbannung gelebt hatte, war unter der Julimonarchie mehrfach im Amt. Er legte das Memorandum des aufdringlichen Italieners bei­ seite. Ein neuer Fehlschlag für den allzu kühnen Ingenieur-Offizier aus Italien, der den französischen Generalstab über moderne Metho­ den der Kriegführung hatte belehren wollen. Es scheint, als hätte dieser Vater dem Sohn Emile das Einzelkämpfertum, wenn auch in dem sehr andern Felde der Literatur vererbt. Immerhin hat François Zola der französischen Armee und ihren Festungsbauern um 1840 ein Patent verkaufen können. Er erfand sozusagen nebenbei eine neue Maschine für den Erdaushub - beim Festungsbau von Paris. Die Maschine ist denn auch in Clignancourt eingesetzt worden. Welch ein Mann! Im Jahr zuvor hatte François Zola 44jährig in Paris ein hübsches zwanzigjähriges französisches Mädchen, Emilie Aubert, einfachster kleiner Provinzhandwerker Kind, geheiratet. Er hatte sie beim Kirch­ gang erblickt und sie, wie man sagt, vom Fleck weg vor den Traualtar geführt. Ein Jahr danach wurde dem Paar in der Rue Joseph im I. 16

Arrondissement, einem Viertel in der Nähe der damaligen Zeitungs­ druckereien, der Börse und der Rue Montmartre der Sohn Emile geboren. Der Sohn wird alsbald in Paris katholisch getauft. Ministerpräsident war zu der Zeit Thiers, in Marseille geboren, der Vater Zola schützte und ihm in gemeinsamen liberalen Gesinnungen verbunden war. Anfang August scheiterte ein Staatsstreichversuch des Napoleonneffen Louis Napoleon, der nach dem Putsch auf der Festung Ham ein Buch über die Bewältigung des Pauperismus schreibt. Anfang Dezember wurde die Asche des großen Napoleon auf Vorschlag Thiers’ nach Paris in den Invalidendom überführt. 1842 werden nach einem Gesetz Guizots sechs große, das Land erschlie­ ßende Eisenbahnlinien von privaten Gesellschaften gebaut. Als Emile drei Jahre alt war, zogen die Eltern nach Aix-enProvence, zunächst an den Cours Ste Anne außerhalb der alten Stadt, später in die Sackgasse Silvacanne nahe dem schönen Cours Sextius und den alten, aus Römerzeiten stammenden Thermen und dem Thermenhotel, das von dem »Aubergiste« Baille geführt wurde, mit dessen Sohn Jean Baptistin Emile Zola später eine lange, über die Schule hinaus währende Freundschaft verbunden hat. Das ländliche Haus mit einem schönen Vorgarten in der Impasse Silvacanne war zuvor von Thiers, als dieser noch Abgeordneter war, und dessen Familie zur Miete bewohnt worden. Es ist in seinem damaligen Zustand erhalten und dürfte den Raum- und Repräsentationsbedürf­ nissen des Ingenieurs Zola entsprochen haben. François Zola hat 1843 mit der Stadtverwaltung von Aix einen neuen Vertrag abgeschlossen, in dem die Änderungen des Kanal- und Staumauerprojekts berück­ sichtigt waren, die der Innenausschuß des Staatsrats vorzunehmen angeordnet hatte. Ein Jahr später hat der Staatsrat den »Canal Zola« als »von öffentlichem Nutzen« erklärt. Wiederum ein Jahr danach konnte endlich die Kommanditgesellschaft »Société du Canal Zola« mit einem Kapital von 600 000 Francs gegründet werden. Die Person des Ingenieurs François Zola schillert. Er scheint nicht mehr als mittelgroß gewesen zu sein, agil, sein Blick energisch, gespannt, beweglich. Auf dem erhaltenen, durch die Jugendfreunde Emiles aus der letzten Wohnung in Aix geretteten Familienbild eines unbekannten Malers ist er neben der eher phlegmatisch erscheinen­ den, in ein straffes Seidenkleid eingeschnürten jungen Frau und dem in einen Kinderpelz gekleideten fünfjährigen Söhnchen die unruhigste Gestalt. Er scheint das Ende der Porträtsitzung kaum abwarten zu können, um wieder zu Sitzungen und Entwürfen zu eilen. Was wir privat von dem Manne wissen, weist auf ein gehetztes Leben hin. Er neigt dazu, sich durch Optimismus Mut zu machen, wenn die Konkurrenten ihn abzudrängen suchen. So hat er, als er sich in

Marseille noch Hoffnung machte, einem Vetter Lorenzo Petrovitch in einem Brief, worum er um ein Geburtsdokument und Todes­ scheine der Eltern bat, vielleicht etwas voreilig ruhmredig davon berichtet, daß die französische Regierung ihm sein Projekt für 100 ooo Francs abgekauft habe. Als »eher Chesco« angeredet, erhält er alsbald von seiner Schwester Caterina, die verwitwet in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, aus Venedig einen Brief mit der Bitte um Hilfe. Francesco (François), der Auswanderer und unternehmeri­ sche Ingenieur, hatte im heimischen Venedig nicht nur durch fami­ liäre Briefe, mit denen er eher sparsam war, von sich reden gemacht. Die »Gazette de Venise« hatte 1836, als er noch das Hafenprojekt in Marseille durchzusetzen Hoffnung hatte, aus dem »Moniteur« berichtet, daß Francesco Zola, Sohn der Stadt, mit hoher Wahr­ scheinlichkeit den großen und ehrenvollen Auftrag für den Bau der neuen Docks von Marseille und einer neuen Hafenausfahrt erhalten werde. Derselbe Brief enthielt die Nachricht vom Tod der Mutter und der Erbschaft, die für den jüngsten Sohn bei der Prätur von Montagnana deponiert sei. Darauf hatte François Zola reagiert, der Verwandtschaft seine schön gedruckten Entwürfe für die neuen Hafenanlagen von Marseille geschickt und unvorsichtig renommiert. Auf den Bettelbrief der Schwester hin hat er dann freilich zurückstekken müssen. Im Januar 1839 hat François die Familie wissen lassen: »Meine Docks sind anderen vorgezogen und von allen Kommissio­ nen als von öffentlichem Nutzen erklärt worden, mein Ausgangska­ nal für den Marseiller Hafen ist von der Regierung angenommen worden, die ihn auf Staatskosten wird ausführen lassen müssen. Die Regierung verhandelt mit mir über den Ankauf meiner Pläne; ich hoffe 80 000 bis 100 000 Francs zu bekommen. Aber all das ist nur ein Projekt, und nichts ist bisher verwirklicht. Inzwischen habe ich in vier Jahren alles, was ich in Marseille verdient habe, ausgegeben; ich habe drei Jahre in Paris zugebracht, ohne einen Sou zu verdienen und ich habe zudem 20 000 Francs Schulden gemacht, um mit allen Mitteln die Lösung der so wichtigen Angelegenheit zu erreichen. Ich hoffe, daß das Ministerium im Laufe dieser Sitzungsperiode den Kammern das Gesetz zu meinem Dock und meinem Kanal vorlegen wird. Dann werde ich ein wenig aufatmen können. Um aber ein endgültiges Ergebnis zu erlangen, muß ich mindestens noch acht bis zehn Monate warten. Als ich sah, daß das Gelingen dieses Vorhabens noch unmäßig lange sich verzögern würde, habe ich ein anderes entworfen. Es handelt sich um die Versorgung der Stadt Aix mit Trinkwasser, wie Du in den Zeitungen lesen kannst, die ich Dir schicke. Dieses Vorhaben rein lokaler [!] Bedeutung ist von der Stadt günstig aufgenommen worden, und ich habe mit dem Bürgermeister

einen Vertrag über die Ausführung abgeschlossen. Alles ist bereit, es fehlt nur noch der königliche Ausführungsbefehl, den ich vielleicht in vier Monaten in Händen halten werde. Dann wird mir das Geld nicht fehlen und ich werde dem lebhaften Wunsch genügen können, meiner geliebten Schwester und meiner lieben kleinen Nichte nützlich zu sein.« Das war kurz vor der Eheschließung geschrieben und ist wohl ein frommer Wunsch geblieben. Denn François Zola hatte, als er einen Hausstand gründete, den Buckel voller Schulden. Wir tun hier einen Blick in die Existenzsorgen von Leuten, die sich in die Wagnisse der ersten Gründerzeit ungesichert stürzten und oft Planer, Ingenieur, Unternehmer zugleich sein mußten. Die kleinen bürgerlichen Vermögen, die sie in die kühnen Projekte mitbrachten, genügten kaum, um die langen Wartezeiten zu überbrücken. Meist waren die familiären Ressourcen bereits durch die Studienjahre aufge­ zehrt. Für einen eingewanderten Ausländer vollends, der weder auf heimische Cliquen noch auf Bodenbesitz oder familiären Rückhalt zählen konnte, waren Unternehmen der Art, wie sie der ehrgeizige Venezianer ins Auge faßte, von vornherein so gut wie aussichtslos. François Zola muß ein ungewöhnlich begabter Ingenieur gewesen sein, ideenreich, sehr beweglich, kühn, unermüdlich und vor allem ehrgeizig. Was er dem französischen Generalstab zur Verteidigung von Paris vorschlug, das Bunkersystem statt eines geschlossenen Festungsrings, nimmt sich in heutiger Sicht als eine um loo Jahre verfrühte Vorwegnahme der Kritik am sogenannten Maginotdenken, das die Franzosen so lange beherrscht hat, aus. In Marseille hatte er die Schiffahrtsexperten und den Magistrat für sich. Seine Gegner, fünfzehn einheimische Ingenieure, bekämpften ihn mit Argumenten wie dem, daß der notwendige Erdaushub nicht bewerkstelligt werden könne und die Massen Erdreich nicht unterzubringen seien. Offenbar haben seine Gegner sowohl in Marseille wie in Aix seine finanzielle Schwäche gekannt. Es ist bis heute schwer zu verstehen, daß königli­ che Orders und zustimmende städtische und Departementalbehörden gegen den Widerstand bodenständiger Gegner unwirksam zu sein schienen. Das Marseiller Projekt, um das François Zola Jahre lang gekämpft hat, war bestechend. Im Gegensatz zu dem Entwurf, der schließlich als Bassin de la Joliette verwirklicht wurde, schlug der Italiener vor, den alten Hafen als inneres Dock zu nutzen und den im Herbst und Winter besonders für die Schiffe gefährlichen Mistralwinden durch den Bau eines Kanals ostwärts auszuweichen, der hinter der Corniche mit einem Landdurchstich die viel geschütztere Bucht der Fausse Monnaie erreicht haben würde. Dort wären dann die neuen Hafen1

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becken anzulegen gewesen. Das Gelände, das für den kühnen Plan hätte genutzt werden können, heißt noch heute Les Catalans, das Küstenkap Endoume an der Corniche. In Aix, wo man dringend Trinkwasser brauchte, stieß Zola, der »Concessionnaire du Canal«, auf den Widerstand eines mächtigen Granden, des Marquis de Galliffet, dessen prachtvoller Herrensitz o Ironie der Geschichte - heute die Wasserbau-Ingenieurbüros und die Verwaltung eines der größten Kanalsysteme des modernen Frank­ reich bis hin zur Durance und zu den Gorges du Verdon beherbergt. Oberhalb des inzwischen zum Denkmal der Technik gewordenen Canal Zola liegt das moderne Stauwerk »Barrage du Bimond«, das im Winter von den Wassern des Verdon gespeist wird und das neue Aix samt seinem Umland ausreichend mit Wasser versorgt. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man diese Systeme, die die E.D.F. (Electricité de France) mit Wasserkraft und Strom versorgen, in ihrem Ursprung auf den genialen Einfall des Alleingängers François Zola zurückführt. Im Infernet, dem unwegsamen Felsengebirge vor der Montagne Sainte Victoire, Cézannes und Emile Zolas mythischem Berg, beginnt die technische Moderne der Haute Provence. François Zola ist daran gescheitert. Dieses Scheitern ist der Anfang eines anderen gigantischen Lebenswerks, dessen Urheber der Sohn Emile werden sollte. Es ist wohl mehr als ein Zufall, daß die neuere Zolaforschung ein Gedicht des jungen verwaisten Emile Zola, Le Canal Zola betitelt, einer tiefenpsychologischen Deutung des literari­ schen Werks zugrunde legt. Doch wir sind der Chronik der Ereignisse vorausgeeilt. Jener Marquis de Galliffet, in dessen Schloß Le Tholonet die junge Baronin Emilie de Marignane, die spätere Gattin des skandalumwitterten Gabriel Honoré de Riquetti, Grafen Mirabeau, in galanten Bühnen­ stücken aufgetreten ist, wußte mit seinen Einsprüchen gegen den Kanal den Baubeginn bis 1847 hinzuziehen. Der Marquis war der größte Grundbesitzer im Infernet und vermochte die Gemeinden gegen das technische Werk des Fremdlings trotz königlicher Ordres und Magistratsbeschlüsse zu mobilisieren, bis dann endlich im Februar 1847 der erste Spatenstich getan werden konnte. Vater Zola hat das siebenjährige Söhnchen zu dem großen Augenblick an den einsamen Platz im gebirgigen Vorland von Jaumegarde mitge­ nommen. Ein paar Wochen nach dem Baubeginn unternimmt der rastlose, von Terminen, Verhandlungen und Vorsprachen in Amtsstuben gestreßte Vater hastig in dem zugigen Postwagen eine Reise nach Marseille und holt sich auf der Fahrt eine Lungenentzündung. Die junge Frau wird eilends aus Aix in ein schäbiges Hotel, wo der 25

Jahre ältere Mann auf den Tod daniederliegt, herbeigeholt. Er stirbt nach sieben Tagen. Die Familientragödie dieses Todes kam der völligen Existenzver­ nichtung nahe. In Emile Zolas Roman Une Page d'Amour ist die entsetzliche Lage der Mutter aus dem Gedächtnis des Sohnes, den Emilie damals nach Marseille mitgenommen hatte, wachgerufen: »Sie kannte keine Straße, sie wußte nicht einmal, in welchem Viertel sie sich befand. Acht Tage lang war sie mit dem Sterbenden eingeschlos­ sen geblieben, indessen die Straßengeräusche zum Fenster herauf­ drangen... Als sie zum ersten Mal die Füße wieder auf das Pflaster setzte, war sie Witwe. Der Gedanke an das große nackte Zimmer voller Arzneiflaschen, wo die Koffer nicht einmal ausgepackt waren, ließ sie noch immer erschauern.« François Zola ist mit 52 Jahren den Managertod gestorben. Er hinterließ eine junge Frau von 28 Jahren, kleiner Handwerker vom Lande Kind, in Geschäften und gar in Rechtsangelegenheiten völlig unerfahren und hilflos, und ein Söhnchen von sieben Jahren. Für das kaum begonnene Bauwerk des Staudamms und Kanals im Infernet hatte er allein die volle unternehmerische Verantwortung. Er war der Chefingenieur und führte die Bauaufsicht. Er hatte die mühseligen Verhandlungen beim Zustandekommen der Kommanditgesellschaft geführt, jahrelang den Widerstand der Grundstücks- und Wasser­ rechtseigner zu überwinden gesucht, er hatte Schulden gemacht, die in die Zehntausende gingen, viele Reisen nach Paris und Marseille unternehmen müssen, um die amtlichen Prüfungen und Genehmi­ gungen voranzutreiben, gesellschaftliche Beziehungen zu einflußrei­ chen Beamten und Geldgebern gepflegt. Das waren enorme Arbeits­ leistungen. Seinem Leben haftet etwas Unstetes an. Er scheint gewußt zu haben, daß er in seinem Auftreten repräsentieren mußte. Sein Einfallsreichtum und seine bewegliche Intelligenz verschafften ihm Kredit. Insgeheim müssen ihn die Schulden gedrückt haben. Wo er unbeobachtet war, lebte er sparsam. Er hat, als ob er die Gefahr ahnte, in die seine junge Familie geraten könnte, rechtzeitig einen Gütertrennungsvertrag notariell abgeschlossen, der seine Frau vor den enormen Schulden sicherte, die er für die großen Projekte hatte aufnehmen müssen.

Flucht nach Paris

Durch einige ältere Zola-Biographien schleppt sich die Legende von des Knaben Emile glücklicher Jugend. Davon kann keine Rede sein. Es gibt zwar Glücksmomente. Sie liegen in der Jünglingszeit, als Emile mit den beiden Schulfreunden Paul Cézanne und Jean-Bapti­ stin Baille das Licht und die schwebenden Konturen der Provence wie den Äther der Griechen in einem Zustand der Trance erlebte. Im Grunde aber war diese Kindheit und Jugend von Bitternissen erfüllt. Der Knabe hat sie mit einer Leidensfähigkeit hingenommen, die er vielleicht den enormen Spannungen seiner Herkunft verdankt. Das Bild des zwar abenteuerlichen, aber brillanten und vitalen Vaters ist uns, nachdem neuere Archivstudien mehr Tatsachen zutage geför­ dert haben, einigermaßen klar. Die Mutter, die in des Kindes Leben eine wichtige Rolle gespielt hat, können wir nur mit Mühe erschlie­ ßen. Emilie Zolas Vater (1783-1861) stammte aus Dourdan, einem Kreisstädtchen im Département Seine et Oise und war Glaser und gelegentlich Tüncher, die Mutter kam aus der flachen weiten Weizen­ region der Beauce, aus Auneau, wo Emiles späterer Roman La Terre spielt. Sie war die Tochter eines Kesselschmieds und arbeitete als Näherin. Die Großmutter, die nach dem Tode des Schwiegersohns mit dem Großvater nach Aix gekommen war, muß eine prachtvolle Frau des Volkes gewesen sein, tüchtig zupackend, praktisch, ein Mensch mit Herz. Zola hat berichtet, daß sie, als die blutjungen Soldaten des Kaisers unter den Platanen des Cours Mirabeau zu Aix kampierten, um anderntags nach Marseille zu marschieren und dort für den Krimkrieg verladen zu werden, einige Burschen aus ihrer Heimat mit einer Suppe und einem billigen Rotwein bewirtet und zwei Jahre danach wiederum einige, darunter einen zum Krüppel geschossenen Landsmann aus der Beauce, mütterlich beherbergt habe. Da wird wie in einer Blitzlichtaufnahme das häusliche Milieu erhellt, in dem der Knabe Zola aufgewachsen ist. Kleine notvoll lebende Leute, eine junge Witwe, der Knabe und die Großeltern, eine Solidargemeinschaft der kleinen Leute, die sich in den imperialisti­ schen Kriegen des ungeliebten Kaisers verheizt fühlen. Verwandtes hat Zola später in dem Roman über Plassans, das für die Stadt Aix steht, berichtet: Die Erregung des Knaben und einiger Kameraden auf dem Cours Mirabeau in einer Morgenfrühe beim Heerlager der Kürassiere. Nach dem Tod des Vaters hat die junge Witwe ohne bares Geld sich einer Schar von Gläubigern und Aktionären der Kanal-Gesell-

Schaft gegenüber gesehen, die alsbald ihre erbitterten Gegner wurden. Der Marseiller Arzt, den der Hotelwirt herbeigerufen hatte, drohte mit einer Klage um 845 Franken. Die schöne Wohnung in der Impasse Silvacanne wurde zu teuer. Das Einzige, das die Witwe besaß, waren Aktien der Gesellschaft, die sie nach und nach zur Besänftigung der Gläubiger hat hergeben müssen. Die Großeltern schossen ihr Erspartes in den kleinen Haushalt ein. Man mußte entbehrliches Mobiliar veräußern, billigere Wohnungen suchen. So zog man zunächst an den Pont Béraud, der damals ein Weiler östlich der Stadt war, ein ländliches Revier, in dem das Kind sich tummeln konnte. Der Knabe war zart und vermutlich von der Mutter her nervös belastet. Emile hat früh die Not begriffen, in die er mit der Mutter und den Großeltern geraten war. Fünfmal haben sie im Lauf von zehn Jahren das Quartier wechseln müssen. Di'e Gesellschafter, die um ihre Einlagen bangten, da der Bau des Staudamms nach dem Tode François Zolas sofort eingestellt wurde, gewährten unter dem Druck der öffentlichen Meinung der Witwe eine schmale Rente von 150 Francs monatlich. Diese Zahlungen wurden im Januar 1852 eingestellt. Die junge Mutter, welche die Sorgen des Gatten zu dessen Lebzeiten vermutlich kaum gekannt hatte, erschöpfte sich in Prozes­ sen gegen den Hauptaktionär Migeon, einen opportunistischen Geschäftsmann und späteren Abgeordneten der Gesetzgebenden Versammlung. Dieser schuldete der Gesellschaft beträchtliche Sum­ men, zu deren Zahlung er erst nach vielen vergeblichen Versuchen 1853 veranlaßt werden konnte. Migeon hatte die Zahlung von 300 Aktien lange verweigert, die Witwe sehr rasch aus der Kanalbauge­ sellschaft verdrängt und nach mehreren Versuchen schließlich den Konkurs der Gesellschaft erreicht. Das Objekt fiel durch Rückkauf an Migeon, der den Staudamm und Kanal alsbald exakt nach den Plänen und Entwürfen François Zolas ausführen ließ und als neuer Hauptkapitaleigner aus dem Unternehmen Gewinn zog. Versuche der Witwe, gegen Migeon zu prozessieren, scheitern. Man muß vermuten, daß die enormen Schulden, die der Ingenieur aufgenom­ men und für die die Witwe laut Vertrag nicht aufzukommen hatte, die Versuche der jungen Frau, für das geistige Eigentum ihres Mannes eine Entschädigung zu erhalten, verhindert haben. Die Gläubiger der ersten Kanalbaugesellschaft waren zugleich die Aktionäre und foch­ ten mit diesem Argument die Ansprüche der Witwe an. Migeon hat bei dem Ganzen eine miserable Rolle gespielt, indem er das Kapital und Objekt zu einem Schleuderpreis in Konkurs gehen ließ und es alsbald in eigner Regie mit neuem Geld flott machte und in einem Jahr bauen ließ. Emilie Zola hat zehn Jahre lang um ihr Recht gekämpft. 1857, als 2 3

alle Instanzen und Rechtsmittel in Aix ausgeschöpft waren, versuchte sie beim Tribunal de la Seine in Paris den Kampf aufzunehmen und verlegte im gleichen Jahr ihren Wohnsitz in die Hauptstadt, wo sie Hilfe von Freunden und Gönnern ihres Mannes erwartete. Sie muß eine energische Person gewesen oder geworden sein. Die nackte Not war der Motor. Emilie Zola hat die von Migeon betriebene Umbe­ nennung des Namens der Gesellschaft und des Kanals durch eine Stellungnahme im »Memorial d’Aix« verhindert. Ob es zutrifft, daß sie Ratschlägen guter Freunde ihres Mannes nicht immer folgte, läßt sich nicht mehr nachprüfen. Sie hat, was für die frühen Eindrücke des Knaben nicht ohne Wirkung gewesen sein dürfte, Emile oft zu den Gesprächen mit dem Anwalt mitgenommen. Wie bedrängt die mate­ rielle Lage der Familien Zola und Aubert war, wird aus zwei doku­ mentarisch belegbaren Vorgängen deutlich. Leser der Zeitung »Prog­ rès« und Freunde des verstorbenen Ingenieurs hatten in dem Blatt zu einer Geldsammlung für ein würdiges Grabmonument aufgerufen. Die Witwe soll, wie böse Zungen ausstreuten, die eingegangene Summe von einigen hundert Francs »belieben« haben. Der Sohn erwähnt die Sache verdeckt und mit Bitterkeit. Von dem Großvater Louis Aubert, der mit der Familie in immer ärmlichere Wohnungen zog, belegt ein Dokument, daß er auf seine alten Tage irgendwo am Rand der Stadt einen Backofen mietete, um dort im Lohn Brot zu backen. Es kann kein Zweifel mehr daran sein, daß Emile Zola in seiner Kindheit und Jugend unter der anhaltenden Misere gelitten hat. Dies zu wissen, ist für das Sozialverständnis selbst des späten Zola und für ein gewisses gesellschaftliches Außenseitertum, das er noch auf der Höhe seines späteren Ruhms lebte, von eminenter Bedeutung. Emile Zola hat sich schon sehr früh als Deklassierter gefühlt. Sein Vater war, obwohl hoch verschuldet, um seiner genialen Ideen, seiner Energie und seiner politischen Überzeugungen willen ein in der Stadt Aix angesehener und geachteter Mann. Bei seinem Begräbnis, so berichtet Emile Zola in Mon Père 1898, hielten der Unterpräfekt, der beamtete Regierungs-Ingenieur, der Bürgermeister und der Anwalt beim Appellationsgericht Labot die Zipfel des Bahrtuchs am Leichen­ wagen. Das Kapitel von St. Sauveur zelebrierte ihm ein feierliches Requiem. Mit dem forcierten Optimismus, der ihn ausgezeichnet zu haben scheint, hatte François Zola aufwendig gelebt. Um so bitterer schmerzten den Knaben nach dem Tode des Vaters Verleumdungen und gehässiges Geschwätz hinter dem Rücken der Mutter. Die junge Witwe schien zunächst einigermaßen energisch und selbstbewußt aufzutreten, als sie ihre und ihres Kindes Rechte vertrat. Um so schmerzlicher war dann die Not. Emile Zola ist davon gezeichnet. Er 2

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hat sich unter den Söhnen des Collège Bourbon, dem heutigen Lycée Mignet, in seiner Klasse einsam und wohl auch verachtet gefühlt. In einer Jahrzehnte später aufgezeichneten Lebensskizze für Alphonse Daudet hat Emile Zola, als er längst berühmt war, erklärt, er sei wenn nicht ein brillanter, so doch ein angesehener Schüler gewesen und habe sich in seiner Schulklasse am Collège Bourbon so wenig wohl gefühlt, daß er die Bürgersöhne angesehener Familien zunächst mit Sie angeredet habe. In dem 1865 erschienenen verschlüsselt autobio­ graphischen Roman La Confession de Claude, einem durch seine Leidenskraft erschütternden Buch, heißt es zum Thema der Schülerleiden: »Es waren Jahre der Tränen. Man ignorierte mich. Ich wollte mich nicht zu erkennen geben. Ich bin geboren, mich selbst zu zerfleischen. Ich verzeihe meinen Kameraden, die mich beleidigt haben in meinem Stolz und meiner Zärtlichkeit. Sie haben mir die ersten Lektionen des Lebens gegeben, unter ihnen traurige Gesellen, dumm und neidisch, heute perfekte Dummköpfe, deren Namen ich vergessen habe.« Noch schärfer und direkter spricht Zola in einem Bericht über Schulleben und Schule in Frankreich 1877 von seinen Mitschülern, Söhnen von Anwälten, Händlern, Grundbesitzern aus dem Umland: »Das Leben war ihnen schon in der Jugend ganz vorgekaut, sie fragten sich, warum sie sich den Kopf zerbrechen sollten, da ihr Schicksal schon ganz festgelegt war. Beim Verlassen der Schulbank brauchten sie sich nur in den alten Familiensessel und vor den Schreibtisch zu setzen, woran ihr Großvater schon sein Vermögen gemacht hatte.« Die Mutter, die ihr Schicksal gehörigen Orts vorzubringen offen­ bar nicht zögerte, war beim Magistrat um eine Freistelle eingekom­ men, die »in Ansehung der Verdienste ihres Gatten um die Stadt Aix« gewährt wurde. Man darf annehmen, daß die zwar ungebildete, aber energische Mutter nicht unbeteiligt war an den Schulerfolgen des Jungen. Sein Name erschien häufig auf den im französischen Schulsy­ stem üblichen Listen der jährlichen Ehrenpreise und lobenden Erwähnungen, sei es für den freien Aufsatz, sei es für Übersetzungen oder für Physik. Zola hat sich an den öden Paukbetrieb, die schlechte Schulküche des Mittags und ihre Gerüche und an die geistige Enge der Schule freudlos und ohne Dank erinnert. Der Deklassierte, dem die häuslichen Sorgen nicht entgingen, neigte zum sozialen Ressenti­ ment. Es wurde darin bestärkt durch den Spott und die Abneigung einiger Mitschüler, die sich über das Lispeln des fremden Jungen, des Italieners, lustig machten. Bis ins Mannesalter hat sich Zola einer bürgerlichen Jugend erinnert, die in der öden Langeweile ihrer rei­ chen oder wohlhabenden Elternhäuser dahindämmerte, geistig wenig anspruchsvoll war und in den Cafés am Cours Mirabeau bei Spielkar2 5

ten die Zeit totschlug. Wäre eine frühe Erzählung des jungen Autors über die Grisetten der Provence erhalten, sie könnte Aufschlüsse über die erotische Seite des Problems einer stagnierenden Provinzjugend enthalten. Die Mutter und Emile, der Sohn des bekannten Inge­ nieurs, dem gleichermaßen Bewunderung, üble Nachrede und Haß galten, haben ihre Armut nicht offen zeigen wollen. Das Söhnchen sollte nach dem Willen der Mutter und wohl auch der schlichten Großeltern das kompensieren, was dem Vater versagt geblieben war. So hat Emile in jugendlicher Verkennung seiner Gaben in der Ober­ stufe sich für den physikalischen Unterricht gegen Latein und Grie­ chisch entschieden, Fächer, die, wären sie ihm musisch vermittelt worden, doch wohl seinen frühen poetischen Neigungen eher ent­ sprochen hätten. Es könnte eine nie eingestandene Trotzreaktion gegeben haben, es dem in der Erinnerung geradezu heroisierten Vater gleichzutun. Der achtzehnjährige Emile Zola hat 1858 ein Gedicht Le Canal 2 ola geschrieben und in der Zeitung »La Provence« (17. Febr. 1859) veröffentlichen können, in deren Redaktion offenbar Leute saßen, die sich des Vaters respektvoll erinnerten. Dies Gedicht ist nicht nur ein Zeugnis der Pietät des Sohnes. Es ist ein Beweis mehr dafür, daß der heranwachsende junge Mann die verzweifelten Versuche seiner Mut­ ter um ihr Recht und Erbe ideell zu unterstützen versucht hat. Daß er es mit dem literarischen Mittel des Gedichts tat, ist für sein Leben geradezu ein Signal gewesen. Le Canal Zola ist aber mehr. Dies gezeigt zu haben, ist das Verdienst der ersten Deutung Zolas mit den Methoden der Psycho­ analyse, die Jean Borie 1971 veröffentlicht hat. Diese Natur ist Jungfrau. Sie hatte noch Empfangen in ihrem Schoß nur das himmlische Licht Die glühende Sonne. Er [der Vater] stand da nachdenkend. Uber sein göttliches Haupt schickte die Sonne eine Garbe von Feuer, Er stand da aufrecht auf hohem Hügel, Beherrschend die Felsen, schien an die Himmel zu rühren. Sein Adlerauge pflügte durch die Tiefe der Berge. Lange schaute er auf das geöffnete Gebirg’, Wüste Schlucht... Der Berg inmitten schien aufgerissen, auf den Seiten ragte der Fels steil in die Luft, 26

In der Schlucht ein Sturzbach, dessen eingeklemmter Strom sich in Strudeln ergoß. Er suchte Steigen zu machen und unbeweglich das schmale Wasser, das in Sprüngen hüpfend dahinfloß. Er träumte von Teichen, einem stillen See, einem breiten gemächlichen Wasserlauf. Der Mensch will durchbrechen. Wenn ihn der Fels hemmt. Der Sprengsatz reißt ihn weg. Und da sieht man aus seinem funkelnden Aug’ Blitze sprühen - und plötzlich sagen die Ausbrüche seiner Stimme zum Fels: Her zu mir Bombe! Her zu mir Arme der Arbeit! Daß hier mit kühnem Griff ein technischer Vorgang mythisiert wird, ist unmittelbar evident: Der technische Konstrukteur als Bezwinger der unaufgebrochenen wilden Erde. Das Elementare mit Symbolen begriffen, die nahe bei der Sexualität liegen. Das Gewalt­ same der Bezwingung durch die Technik, die Sprengung und die Verwandlung der rohen Natur in Fruchtbarkeit: Er [der Vater] will mit einem Wasserlauf die Ebenen fruchtbar machen. Er will den Fels rundum abklopfen, ein neuer Moses, ihn mit seinem Finger berühren, um aus ihm hervorbrechen zu machen eine gewaltige Quelle. Er will mit frischen Rasenteppichen die Provence bedecken. Er will es. Auf sein Geheiß wird sich sein Plan verwirklichen Natur! Zu zeugen wird dieser Mann über sie kommen. Es ist auffällig, daß in diesem naiven Dithyrambus das Anarchische der Maschinentechnik, im Fall des Kanals die Sprengung, mit der zivilisatorischen Bändigung kombiniert wird. Dieser Dualismus wird in Zolas Werk wiederkehren, die Lokomotive als schönes Monstrum, der Hochofen, das Bergwerk. Bedeutsamer aber für die Person des jungen Autors ist die Rückbeziehung der technischen Ungetüme auf die großen Urbilder, die Laren eines intimen Universums. Der Ingenieurvater als Demiurg, Zerstörer und Architekt, im Ursinn als Schöpfer und Erbauer verstanden. Wie später der Finanzspekulant Saccard in dem Roman UArgent vom Montmartrehügel über Paris 2 7

hin schaut, um es sich zu unterwerfen, so wird der Ingenieurvater bereits als männliche Urgewalt begriffen, die mit »Adlerblick« sich den Weg sucht und die bis dahin unbefleckte Erde bezwingt: Ein Feld, es hemmt den Abfluß, Es falle. Füllt mir das weite Tal auf, grabt mir diese Felsen aus, ihre Masse stürze krachend herab und fülle die Schluchten auf! Der Vater ist die Maschine, die sprengt und zugleich eindeicht. In solchen Versen ist die mythische Dimension zu spüren, die in Zolas späterem Werk so oft sich auftut. Das Technische wird als gewalt­ same Umarmung, als Einheit von Libido und Produktion, von Anarchie und Kreativität gesehen oder gefühlt. Man kann den Dithy­ rambus auf den Vater als einen Versuch, sich von der Mutter zu befreien, sehen. Die wackere und handfest hilfreiche Großmutter, ein Bauernmädchen aus der Beauce, war ein Jahr zuvor gestorben. Emile Zola hat bis auf das Jahr 1860/61 stets mit der Mutter zusammen unter einem Dach gelebt. Seine Ehe hat, wie die autobiographischen Züge in dem düsteren Roman La Joie de vivre beweisen, unter dieser Konstellation gelitten. Die ersten scheuen Versuche des Jünglings mit Mädchen in Aix und seine späteren Schwierigkeiten in erotischen Beziehungen hängen mit der Bindung an die Mutter zusammen. Diese durch die frühe Witwenschaft geschlagene, von den äußeren Existenzproblemen überforderte Frau hat wohl unwissentlich und in guter Absicht den Knaben in Abhängigkeit gehalten. Zola hat seit der peinlichen Entdeckung sexueller Spiele des Fünfjährigen mit einem homosexuellen arabischen Flausdiener schuldbewußt im Verhältnis der Abhängigkeit von der Mutter gelebt. Die Mutter scheint bei seinen timiden Annäherungsversuchen an Mädchen als Hemmnis funktioniert zu haben. Der Roman Thérèse Raquin spielt darauf an, wie sehr auch das Motiv der Mutter als Beobachterin verbotener Liebe dort verfremdet ist. In der nächsten familiären Umgebung des Hausstands spielt ein Onkel Emiles, Bruder seiner Mutter, Lucien Aubert, eine gewisse Rolle. Diesen Schwager hatte der Ingenieur Zola zu Lebzeiten noch zum Angestellten der Kanalgesellschaft gemacht. Er vertrat seine verwitwete Schwester auf den stürmischen Sitzungen der Gesell­ schaft. Es gibt einen Brief des jungen Zola an ihn aus Paris 1859, der eine gewisse Vertraulichkeit zwischen den beiden wahrscheinlich macht. Unter anderm teilt Emile dem Onkel mit, daß der Hauptwi­ dersacher der Zolas, jener Migeon, der die Gesellschaft in den Konkurs gebracht hatte, aus der Gesetzgebenden Versammlung aus­

geschlossen worden sei. Der Grund war die Führung eines falschen Grafentitels. Lucien Aubert könnte es gewesen sein, der Emiles Flaß auf das Regime des Kaisers angestachelt und ihn in seiner tiefen Zuneigung zu den Aufständischen gegen den Staatsstreich im Depar­ tement Var vom Dezember 1851, Thema des ersten Romans der Serie La Fortune des Rougon, bestärkt hat. Der Onkel hatte keine rechte bürgerliche Position und wird auf einer Liste »gefährlicher Indivi­ duen« geführt, die von der Unterpräfektur Aix nach dem Staats­ streich angelegt worden war. Lucien Aubert ist etwa 1853 aus Aix nach Marseille abgewandert, wo er sich ohne Glück in einem Laden­ geschäft versuchte. Aktuelle politische Ereignisse scheinen im Umgang Emiles mit seinen Schulfreunden Paul Cézanne und Jean-Baptistin Baille keine Rolle gespielt zu haben. Was diese drei zusammenband, war ihre gemeinsame soziale Außenseiterrolle, die sie sich von der oberflächli­ chen Jeunesse dorée der Stadt absondern ließ. Der Bund dieser jungen Männer ist für Zola wie für Cézanne von hoher lebensgeschichtlicher Bedeutung. Cézannes Vater war ein wohlhabender Hutfabrikant. Bis vor kurzem war das Firmenschild noch an einem Haus am Cours Mirabeau zu sehen. Dieser Familientyrann, der spät eine Arbeiterin geheiratet hat - sein Porträt gehört zu den wichtigsten frühen Bildern des jungen Cézanne - eröffnete eine Privatbank und wurde reich. Zola hat sein schönes Besitztum Jas de Bouffan gekannt. Der Alte hat der Freundschaft seines Sohnes, den er zeitlebens finanziell sehr kurz gehalten hat, weil er sein Künstlertum ablehnte, mit dem Sohn der Witwe Zola scheel angesehen und mißbilligt. Der Dritte im Bunde der Außenseiter war Baille, ein braver Sohn des Wirts des Thermen­ hotels, später Student der Ecole Polytechnique in Marseille. Die drei Jünglinge waren verfrühte Wandervögel mit allen jugendlich schwär­ merischen Affekten gegen Bürger und Spießer. Zum ausgedehnten Wanderprogramm rings um die Montagne Sainte Victoire gehörten Besuche an Vater Zolas Staumauer. Briefe und Landschaftsszenen in den Romanen La Fortune des Rougon und Die Schuld des Abbé Mouret und viele oft wehmutsvolle Reminiszenzen des Einsiedlers von Médan im Freundeskreis halten dieses Schwärmen und Schweifen in der nahen Provence als Inbild genialischen Jugendglücks fest. So anfällig und gefährdet Emile Zola von früher Kindheit an war und so häufig ihn Krankheiten in gefährliche Krisen gebracht haben, so robust und vital scheint seine Konstitution gewesen zu sein. Die Bedrängnisse seiner Mutter und die fünf Wechsel in immer ärmere und engere Wohnquartiere, die den Knaben und Jüngling zeitlebens für das Elend der kleinen Leute sensibilisiert haben, sie schienen vergessen, wenn der temperamentvolle Freund Paul Cézanne Emile 29

in aller Frühe aus den Federn holt und die drei Wanderungen in den Schluchten und an den schroffen Flängen der Karstberge über Vauvenargues unternahmen, prahlerisch Jagdtaschen und Flinten mitführ­ ten, mitgebrachte Hammelkoteletts zum Weißbrot verschlangen und die eine und andere Flasche Landwein sich in die Kehlen gossen. Die Streifzüge in das Umland gingen etwa dieselben Pfade, die heute als” Malerpfad Cézannes rings um Le Tholonet eingezeichnet sind. Die jungen Männer lagerten oft an den noch heute erhaltenen Schleifen des Flüßchens Are und tummelten sich beim Baden und Fangen kleiner Krebse. Emile Zola war ein vorzüglicher Schwimmer. Es gibt Briefe Cézannes an den Freund in Paris, der dort am Heimweh nach der Provence und jenen Jugendtagen leidet. Einige enthalten köstliche Zeichnungen von dem bukolischen Glück. Emile scheint gelegentlich auch allein Erkundungsgänge unternom­ men zu haben. Einer ließ ihn einen verlassenen Park entdecken, in den der Junge über verfallende Steinmauern eindrang. Er entdeckte einen verlassenen Herrensitz, überwucherte Balustraden, Alleen, Höhlen und Grotten und eine üppige blühende Pracht, die ihn das Gesehene in der Erinnerung immer höher verklären und schließlich zum Paradou stilisieren ließ, einem Garten Eden, worin die Schöp­ fungsgeschichte zwischen dem jungen asketischen Priester Serge und Albine in eine sublime Legende von Naturseligkeit und Liebestod (La Faute de l’Ahhé Mouret) umgeschrieben ist. Als Emile noch jünger war, hat er mit zwei anderen Kameraden die nähere Umgebung der alten Stadt Aix durchstreift und auch von diesem ersten kindlichen Umherschweifen Eindrücke empfangen, die man in den ersten Romanen des Zyklus antrifft. Die beiden Gefähr­ ten waren der spätere Journalist am »Petit Journal« Marius Roux und der mit Emile gleichaltrige Philippe Solari, Sohn eingewanderter Italiener wie Zola, auch er erst relativ spät naturalisiert. Zolas erste scheue Liebe scheint einer der zahlreichen Schwestern Philippes gegolten zu haben, dem in einem Versepos besungenen Mädchen Aérienne. An den Solaris konnte Emile erfahren, daß es auch andere arme Familien mit bürgerlichen Lebens- und Bildungsansprüchen gab. Solari wurde ein angesehener, wenn auch wenig erfolgreicher Bildhauer und hat drei Zolabüsten, unter anderem die auf dem Grab am Montmartre-Friedhof, geschaffen. Die Bedeutung, die das Ausweichen in die große klassische Schön­ heit der Provence für Emile und seine Freunde hatte, kann kaum überschätzt werden. Es war insbesondere für Zola die Rettung. Der Briefwechsel, den die Freunde nach der Trennung miteinander führ­ ten, als Emile dem Ruf seiner Mutter folgen und nach Paris übersie­ deln mußte, ist ein einzigartiges Zeugnis einer genialischen Jugend. 3

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Das Erlebnis dieses Ausbruchs in die Freiheit hatte zwei Komponen­ ten: die Landschaft, die der alte Cézanne fünfzig Jahre danach in Bildern, die er von L’Estaque über das Chateau Noir, Bibemus und Infernet bis hin zur Montagne Sainte Victoire aus der Farbe konstru­ ierte, und die große romantische Literatur der Victor Flugo, Alfred de Müsset, Lamartine, George Sand. In einem Brief vom 5. Mai 1860 schreibt Zola aus Paris an Paul Cézanne: »Du erinnerst Dich an unsere Schwimmpartien, jene glückliche Zeit, als wir unbekümmert um unsere Zukunft eines schönen Abends die Tragödie des berühm­ ten Pitot zusammenbauten [eine Paukersatire mit antikischen Remi­ niszenzen]. Am Ufer ging die Sonne strahlend unter, die Landschaft, vielleicht haben wir sie damals nicht so wahrgenommen. Aber jetzt in der Erinnerung, wie ist sie ruhig und strahlend! Einer hat gesagt - ich glaube Dante - daß nichts schmerzlicher ist als Glückserinnerungen in den Tagen des Unglücks.« Die zahlreichen Briefe Zolas von Paris aus elenden Quartieren an die Freunde nach Marseille oder Aix sind voller literarischer Reminis­ zenzen. Der Leser dieser Briefe heute wird Zeuge der Geburt eines großen Schriftstellers. Literatur war die große Passion der drei. Zola hatte dabei die Führung. Er behält sie, wenn er in seinen Briefen das Damals heraufholt, es feiert und es nicht selten mit kritischer Refle­ xion hinter sich bringt. Alfred de Müsset rühmt er als seinen Vor­ zugsschriftsteller. Als der solide, grundehrliche und treue Baille Zolas Klagen über seine Misere mit der Andeutung beantwortet, der Freund müsse sich eine »Situation«, will sagen eine Stellung im praktischen Leben schaffen, bricht es aus Zola heraus. Er hält Baille die Jugendjahre vor, als sie gemeinsam Mussets Versepos Rolla gelesen hatten, die Kampfansage an das stumpfe Jahrhundert, die Fleroisierung des Ausnahmemenschen, den Hymnus auf die Leiden­ schaften, die Liebe, den Wahnsinn und als Höchstes die Freiheit. Müsset, immer wieder Müsset, der ihn weinen gelehrt hat! Le seul bien qui me reste au monde Est d’avoir quelque fois pleuré. Aber auch viel Victor Hugo, vor dem er sich in einem direkten Brief als jungen »verträumten und leidenschaftlichen« Anhänger be­ kennt. Die romantische Literatur, die Zola und seine Freunde unter dem Einfluß eines Lehrers am Collège Bourbon in vollen Zügen in sich aufnahmen, hat ihre Pubertät in idealistische Regionen emporgeho­ ben, sie geradezu beflügelt und befreit. Die französische Romantik war zwar mittelaltersüchtig und schwärmerisch wie die ältere deut­ sche romantische Bewegung. Aber sie enthielt auch das Pathos des Aufruhrs. Victor Hugos Ruy BlaSy den seine chimärischen Glücks­ 31

träume und genialen Gaben zu höchsten Hofämtern und zur Gunst der Königin emportragen, ist von Herkunft ein Lakai. Der griechi­ sche Befreiungskampf als Fanal der Befreiung überhaupt spielt in diese Literatur hinein. Sie ist stark emanzipatorisch und hat den ursprünglich konservativen Victor Hugo zum Haupt des Liberalis­ mus werden lassen und als Feind der Tyrannei des Louis Napoleon in die Verbannung zu gehen gezwungen. Der Romantizismus, den die Jünglinge von Aix in sich aufnahmen, den sie unter dem nächtlichen hellen Sommerhimmel der Provence deklamierten, war demokra­ tisch. Sie lasen Lamartines große elegisch pathetische Ode an den See, Le Lac: Ainsi, toujours poussés vers de nouveaux rivages. Dans la nuit éternelle emportés sans retour. Ne pourrons-nous jamais sur l’océan des âges jeter l’ancre un seul jour? Sie glühten über den lyrisch-empfindsamen Romanen der George Sand L'Indiana oder La mare au diable. LFnd immer wieder die Nächte Mussets, worin das zerbrechliche Glück, das Scheitern der Sehnsucht und der Konflikt von Leben und Poesie in schwebende Verse gebannt sind: J’ai perdu ma force et ma vie Et mes amis et ma gaité; J’ai perdu jusqu’à la fierté Qui faisait croire à mon génie. Die offene Welt der großen Gefühle, des Schweigens in Träumen und in unendlicher Trauer, der strömende Rousseauismus hat Zola, Cézanne und irgendwie auch den biederen Baille über ihre Jünglings­ nöte und die Schmerzen der Jugend, die sich sucht und in der Realität auf Widerstände, Unverständnis und Stumpfheit stieß, hinwegge­ tragen. Die romantische Dichtung kam dem Ungestüm und der ersten Erfahrung des Ungenügens dieser Jugend an ihrem Selbst und an der Umwelt entgegen, fing sie auf, faßte ihre unbestimmten Sehnsüchte und Gefühle in Reflexion, Worte und Verse. Der Briefwechsel, den die Freunde nach der Trennung miteinander geführt haben, führt die Jugendzeit weiter und arbeitet sie auf. Zola ist in dem Prozeß der Selbstfindung der Führende. Doch bevor es dazu kam, geschah im Leben des achtzehnjährigen ein Einschnitt, der ihm zur schwersten Lebenskrise wurde. 3 2

1 Paul Cézanne, Der Berg Ste-Victoire und das schwarze Schloß, 1900, Tokio, Sammlung Ishibashi.

2 Zeichnung von Paul Cézanne in einem Brief an Zola vom 20. 6. 1859. Die Szene stellt die Badefreuden der Jugend am Flüß­ chen Are rings um Aix dar. 3 Zeichnung in einem Cézanne-Brief an Zola vom 30. 6. 1866: der Schmied von Gloton an der Seine.

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4 Paul Cézanne, Der Steinbruch Bibemus bei Aix-en-Provence, 1898-1900, New York, Sammlung Spiegel. In der Nähe liegt die Stau­ mauer von F. Zola.

5 Jean-Louis Gérome, Empfang der Botschafter Siams durch den Kaiser im Schloß Fontainebleau, 1864, Museum von Versailles.

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6 Der Cours Mirabeau in Aix-en-Provence mit dem Neun-Röhren-Brunnen und den scharf konturierten Licht-Schatten-Spielen der Platanen, ln Zolas frühen Romanen: Der Cours Salvaire von Plassans.

7 Das Landhaus in der Sackgasse Silvacanne in Aix-en-Provence, wo der Ingenieur Fran­ çois Zola mit seiner Familie von 1843 bis 1847 gewohnt und ge­ arbeitet hat.

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I;!quae ipse miserrima vidi et quorum pars magna fui< [die ich selbst als so elend gesehen habe und an denen ich meinen großen Anteil hatte]. Während einiger Stunden habe ich mich vor der großen Mauer in der Rue Soufflot wiedergefunden; ich hatte Berthe nahe bei mir und ihr zerlumptes Kleidchen. Ich fand Deine Schmerzen und Deine Armut wieder.« Das Buch ist für die Biographie Zolas eminent wichtig. Es ist ein Buch außerordentlicher Leiden und Leidenschaften, der grausamen Selbstzerfleischung, der Erniedrigungen und Gefährdung, ein Buch, das scharf, erbarmungslos und zart beobachtet, ein Buch, in dem 61

etwas von dem Zola enthalten ist, der vierzig Jahre später für Dreyfus sich und seine Existenz preisgibt, weil er es moralisch nicht erträgt, daß ein Jude gekreuzigt wird. Claudes (Zolas) Bekenntnis stammt, wie der Psychiater und Arzt Dr. Toulouse kurz vor der Dreyfus-Affäre schrieb, aus einer »exzes­ siven Emotionalität«. Man wird Zolas Gesamterscheinung nicht ver­ stehen, wenn man die Bekenntnissucht des scheuen, durch das erste Erlebnis der Sexualität mit einer Prostituierten tief verstörten jungen Mannes nicht voll ernst nimmt und auf das spätere Leben Zolas insgesamt bezieht. Seine erste sexuelle Erfahrung hat dieser durch Kindheitserlebnisse, durch den frühen Tod des Vaters ganz auf die Mutter verwiesene, der seiner geliebten Heimat der Provence beraubte Jüngling als Entjung­ ferung - sit venia verbo - erlebt: »Der ganze menschliche Schmutz hat sich vor mir aufgetan.« Aus dem Buch spricht das Entsetzen vor der Sexualität. Die geradezu kindlichen Versuche Claudes [Zolas], die unter dem Namen Laurence literarisch aufgewertete Prostituierte zu »retten«, entstammen der nackten Angst. Er versucht, der Frau durch das Gespräch beizukommen. Das ist weniger karitativ gemeint denn als Versuch der Selbstrettung. Er versucht es mit Versen, mit dem geradezu kindlichen Versprechen, sie zu heiraten. Die Frau reagiert mit völliger Verständnislosigkeit. Da er das Lager mit ihr teilt und die Möglichkeit spürt, ihr zu verfallen, mit in den Sumpf aus Gemein­ heit, Fühllosigkeit, Unfähigkeit zu seelischer Reaktion hineingezogen zu werden und darin unterzugehen, packt ihn das bare Entsetzen. Er beobachtet ihre Flatterhaftigkeit, wie sie sich putzt, wie sie auf einen jener Bälle strebt, wo sie zu Hause war. Ihre Augen sind erloschen, ihre Haut ist bereits schlaff. Er ist ihr trotzdem verfallen. Als das Geschöpf so etwas wie Anhänglichkeit zu entwickeln scheint, ver­ sucht er, sie zur Arbeit zu bewegen, und erlebt ein neues Scheitern. Zola hat vielleicht in Anlehnung an die reale Figur jenes Mitschü­ lers Pajot Kontrastfiguren in den Roman eingeführt, so das Paar Jacques und Marie. Jacques ist eher robust, ein junger Bourgeois, ein kindliches (!) Mädchen Marie wird zart, keusch, dem Tod bestimmt stilisiert. Claude und die Sterbende sehen an der gegenüberliegenden Brandmauer vor dem Schein eines erleuchteten Fensters eine Liebesszene in Schattenrissen, eine Art filmischer Projektion. Die schäbige Untreue der »Geliebten«, die er hatte retten wollen, gibt Claude schließlich die Kraft, das Geschöpf wieder in den Untergrund entlau­ fen zu lassen, dem es entstammt. Der Abschied ist grausam. Laurence bekennt, nur aus Langeweile mit Jacques geschlafen zu haben. Zu Claude: »Ich wußte nie, was du von mir wolltest.« Bis zum letzten Augenblick ist es ungewiß, ob Claude von seiner »durch Elend und 62

Verlassenheit schändlichen Leidenschaft« freikommen wird. Eine alte Kupplerin auf dem Flur flucht über so viel Sentimentalitäten, wäh­ rend Claude im Sterbezimmer Maries, deren auf mystische Art überirdisch reine Augen im Tod sich nicht schließen, die Kraft zu sich selbst zurückfindet. »Jacques hatte Recht, ich hatte Fieberdelirien. Ich bin stolz auf meine Leiden, ich war nicht gemein... Ich kann nicht wie die Belle jeunesse leben. Ich brauche reine Gipfel, weites Land. Ich habe Laurence wie eine Jungfrau geliebt. Sie hat sich feig lieben lassen, ohne meine Liebe zu erwidern, ich war wie ein weinen­ des Kind, das nicht zum Gesicht seiner Mutter [!], seiner ganzen Hoffnung, hinaufreicht.« Der Fünfundzwanzigjährige hat sich vier Jahre nach den Vorgän­ gen in der Rue Soufflot von den Erinnerungsbildern und Fieberdeli­ rien freigeschrieben. Es fällt auf, daß der Autor die düsteren Bekennt­ nisse Claudes mit einigen glücklichen Szenen aus seinem neuen Leben aufgehellt hat. Da scheint einiges aus dem dunklen Kapitel Berthe (Laurence) mit den sonntäglichen Ausflügen, die er mit Gabrielle in den Wald von Fontenay-aux-Roses und in das ländliche Lokal »Le Coup du Milieu« unternahm, kontaminiert worden zu sein. Zola hat oft erlebte Szenen und Profile aus verschiedenen Lebensschichten in seine erzählenden Werke eingearbeitet. Daß die anonyme Confession de Claude im Kern autobiographisch ist, kann nicht bestritten werden. Wie Gabrielle Buch und Widmung aufgenommen hat, darüber gibt es keine Nachricht. In den Briefen Zolas an Literatur- und Maler­ freunde, die sich an Wochenenden in Bennecourt und andern Villegiaturen an der Seine weitab von Paris trafen und Zolas Gefährtin kannten, werden oft Grüße übermittelt. Es kann kaum Zweifel geben, daß die ersten Jugendjahre ungetrübt waren. Über das Ver­ hältnis zu Zolas Mutter, die mit dem Paar eine Wohngemeinschaft einging, welche über Batignolles und Médan bis zum Tode der Witwe Zola gedauert hat, sind wir nicht unterrichtet. Gabrielle hat 1867, als Zola seinen Posten bei Hachette verloren hatte, im selben Verlag durch Streifbandkleben ein paar Francs für den Lebensunterhalt mitverdient. Von Spannungen im Verhältnis der Geliebten zur Mut­ ter Emiles ist noch keine Spur zu finden - wären nicht die beiden frühen Romane Madeleine Férat und Thérèse Raquin^ die auch dem wohlwollendsten Leser Vermutungen über frühe intime Probleme nahelegen, allen voran Madeleine Férat, Die Story dieses Romans (1867), der ursprünglich ein Bühnenstück war, das Zola nicht anbringen konnte, weil es als zu anstößig beurteilt wurde, geht auf die merkwürdige, tiefenpsychologisch interessante Anschauung zurück, die Zola in Michelets Schriften vorfand, daß die 63

Frau von ihrem ersten Manne so »imprägniert« sei, daß sie in gewissem Sinne an diesen physisch gebunden bleibe. Madeleine, die auffällig zögernd dem Werben des zarten und unsicheren Guillaume nachgibt, hat von diesem ein Kind, das ihrem ersten Geliebten sehr ähnlich ist. Der totgeglaubte Jacques kehrt zurück, Madeleine verfällt ihm erneut, so wie Gervaise in L’Assom­ moir dem Länder, als der in ihre Ehe einbricht, wieder verfällt. Madeleine nimmt sich nach dem Tode ihres Kindes das Leben. Ihre geschlechtlichen Beziehungen zu den beiden Männern waren grundverschieden. Madeleines Ehe ist ruhig, von Leidenschaft frei, eine sichere Lebensgemeinschaft. Der erste Liebhaber war eine Eroberernatur. Er hat Madeleine genommen und verlassen. Sie wird mit starker Beunruhigung an ihn erinnert, als der zarte, rücksichts­ volle zweite Mann mit ihr ausgerechnet in einem alten behäbigen Provinzgasthof übernachtet, den sie von einer Begegnung mit dem ersten Geliebten her erkennt. Das Gasthaus stand zu Zolas Zeit noch unweit von Mantes in Vétheuil als »Hôtel du grand cerf«, ein »wahres Dorf mit Ställen, Schuppen, Höfen und drei Gebäuden ungleicher Höhe«. Auch der Wochenendplatz Bennecourt an der Seine, wo Zola oft mit Gabrielle gewohnt hat, ist wiederzuerkennen. Nach Meinung einiger Biographen Zolas hat Madeleine die Gestalt und die Züge Gabrielles. »Geschmeidige Glieder, eine fast männliche Formung der oberen Gesichtspartie, Schläfen, Nase und Wangen verraten die Linien eines knochigen Baus, das Gesicht kühl und fest wie Marmor, die Augen groß und manchmal von tiefem Leuchten erhellt. Eine Frau, kühl und stolz, aber auch zart und empfindsam. Der Unterteil des Gesichts von erlesener Feinheit.« Madeleines Kindheit war wie die Gabrielles hart, sie ist als Waise aufgewachsen. Armand Lanoux, ein Zolabiograph, der zu den phantasiereich nachspürenden zählt, vermutet, daß Madeleine Férat ein geheimes, aus Unsicherheit stammendes Forschen des Autors verrät, der, beses­ sen von dem Gedanken der ersten prägenden Liebe, hinter die ihm verborgene Vergangenheit seiner Frau zu kommen sucht. Man müßte solches Nachspüren als undelikate Reporterneugier verurteilen, wenn nicht Zola selbst noch nach zwanzig Jahren in einem andern Roman eine Ehe geschildert hätte, deren Konstellation mit der in dem Frühwerk auffallend verwandt ist. In dem Roman L‘Oeuvre ist Zola selbst der Schriftsteller Sandoz. Dessen Ehe wird wie die Ehe Made­ leines mit Guillaume in dem Roman Madeleine Férat gesehen. »Sie gaben sich weniger Liebe als Beruhigung (apaisement).« Die Kombinationen, die sich durch solche Spurensuche ergeben, führen auf den Grundbefund einer tiefen Unsicherheit Zolas in allem, was Sexualität ist. Die Identität der Lebensprobleme Zolas mit den im 64

%\ 12 Cercle im Schloß SaintCloud, rechts das Kaiser­ paar.

13 Die Gräfin Castiglione, Agentin Cavours am kai­ serlichen Hof. Modell der Clothilde in Son Excel­ lence Eugène Rougon.

15 Haussmanns Abbrüche des alten Paris. Durchbruch zur neuen Avenue de l’Opera.

16 Napoleon III. übergibt dem Präfekten Haussmann den Erlaß, der die Eingemein­ dung der Bannmeile in die Stadt Paris verordnet.

18 Tod des Abgeordneten der Partei des Volkes Boudin auf den Barrikaden von Paris am Tag nach dem Staatsstreich Dezember 1851. 17 Victor Hugo, der große alte Gegner des Kaisers, als Ma­ gier.

19 Sébastien Charles Giraud, Speisesaal der Prinzessin Ma­ thilde, Compiègne, Musée du Chateau.

21 Ball im Tuilerienpalast. 20 Der Gelehrte Hippolyte Taine (1828-1893).

22 Jean Baptiste Grenze, Das Morgengebet. Die süßen Mädchengestalten dieses Ma­ lers haben Zola ein Leben lang gefesselt.

23 Zolas Frau Alexandrine-Gabrielle, geborene Meley. Pa­ stell von Edouard Manet, 1879, Louvre, Jeux de Paume, Paris.

24 Der Wörterbuch-Philologe und Aufklärer Emile Littré (1801-1881).

25a + b Najaden und Nym­ phen vor der Fontai­ ne des In­ nocents (Brunnen der un­ schuldigen Kinder) des Jean Goujon. " Zola ' schwärmte von den poetischen Relief­ bildern.

26 Titellitho des deut­ schen Ma­ lers und Zeichners Ferdinand von Rezni6ek.

27 Die Seine­ ufer unter­ halb Man­ tes bei Gloton und Ben­ necourt; heute noch so bukolisch unversehrt wie in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhun­ derts.

28 Das Haus in der Rue Neuve Saint-Etienne du Mont 24, heute Rue Rol­ lin 4, wo Zola in der obersten Mansarde in großer Not Hunger litt und fror.

Roman dargestellten wird geradezu unabweisbar, wenn man hinzu­ denkt, was über die Jugend Guillaumes gesagt ist. »Im Gymnasium schlug man mich. Er kam mir zu Hilfe. Er hat mich vor den Tränen gerettet, hat mir seine Freundschaft und seinen Schutz angeboten, der ich als Paria in der Verachtung und unter dem Gespött aller lebte.« »Er« heißt im Roman Jacques, der totgeglaubte Heimkehrer, dem Madeleine wieder anheimfällt. In der Wirklichkeit des Zolaschen Schülerlebens war Paul Cézanne der Beschützer des vor Angst und Unsicherheit zitternden jüngeren Kameraden. So war es Zola selbst, der sogar seine Freunde auf den Gedanken brachte, Cézanne sei jener Jacques gewesen und Gabrielle das Urbild Madeleines. In den Skizzen und Vorstudien zu dem Roman UOeuvre hat Zola erklärt, er habe sich in zwei Personen doppelt autobiographisch dargestellt, als den Schriftsteller Sandoz und zugleich als den Maler Lander. Von diesem liest man: »Es war die Leidenschaft des Keu­ schen für das Fleisch des Weibes, ein verrücktes Begehren von nie besessenen Nacktheiten, die Unfähigkeit sich zu befriedigen, aus diesem Fleisch zu schaffen, was er mit glühenden Armen zu umfassen träumte. Die Mädchen, die er aus seinem Atelier verjagte, liebte er in seinen Bildern. Er umschlang sie mit seinen Liebkosungen und vergewaltigte sie, bis zu Tränen verzweifelt, daß er sie nicht schön und lebend genug malen konnte.« Der Maler, der nach Zolas eigenen Worten ein Teil seiner selbst ist, endet im Selbstmord. Als Cézanne, der sich Jahre lang in Médan nicht mehr hat sehen lassen, dieses Buch gelesen hatte, war eine innige, fast allzu innige Lebensfreundschaft für immer zerbrochen. Die direkte Rückbeziehung literarischer Motive auf Zolas Leben kann nur mit äußerster Vorsicht betrieben werden, es sei denn, es lägen wie in den Fällen La Confession de Claude, Madeleine Férat und L'Oeuvre - es wären noch andere zu nennen - Hinweise des Autors vor, dies und jenes Motiv oder bestimmte Gestalten biogra­ phisch zu lesen. Doch ist auch dann das Einzelne zugleich Spielmate­ rial im Ganzen des Werks und führt ein literarisches Eigenleben. Immerhin findet sich in Zolas bedeutendstem frühen Roman vor den Rougon-Macquart, einem Buch, das wie die beiden vorangehenden erheblichen Skandal machte, in Thérèse Raquin erneut ein Hand­ lungsmotiv, das direkt auf Zolas Privatleben zurückweist. Es ist das Dreiecksverhältnis Mutter - junges Paar. Obwohl die äußere Hand­ lung jede direkte Parallele zum Autor ausschließt, ist es auffällig, daß wiederum ein störender Dritter, in diesem Falle die Mutter - im Roman ist sie stumm - zum Mitwisser des ehelichen Lebens auf engem kleinbürgerlichem Raum wird und damit zum Feind. Dies Motiv wiederum verweist darauf, daß das Verhältnis Alexandrines, 6 5

wie sich Gabrielle nach ihrer Verheiratung nannte, zu der Mutter Zolas nicht durchweg harmonisch war. Ein späterer Roman, die für die tiefste Phase des Zolaschen Pessimismus um 1880 so ungemein aufschlußreiche La Joie de vivre (1884), enthält Szenen zwischen Mutter und Schwiegertochter, die Strindberg-Charakter haben. Die Eifersucht zwischen den beiden Frauen entlädt sich, als die Mutter auf den Tod darniederliegt, in schierem Haß und dem Verdacht, die Junge wolle die Alte vergiften. Dazu stimmt, daß Madame Witwe Zola kurz vor ihrem Tod 1880 kaum zu bewegen war, die Frau des Sohnes an ihr Krankenlager zu lassen, und diese hart zurückgewiesen haben soll. Es ist für Zola charakteristisch, daß sein Leben gewisse kleinbür­ gerliche Züge enthält und daß gerade diese vielfach die spezifische Atmosphäre seiner Romane ausmachen. Das Frühwerk Claudes Beichte hat den kaiserlichen Staatsanwalt beschäftigt. Das ist in der Epoche, da Zola an die Öffentlichkeit drängte, nicht ungewöhnlich und weist darauf hin, daß der kecke junge Mann sofort beim ersten öffentlichen Auftritt sich Feinde zuzog. Das Gutachten des Staatsanwalts ist erhalten und zeigt überra­ schend einen Mann von liberaler Gesinnung und sogar von literari­ scher Urteilsfähigkeit. Ein Verfahren wegen Sittenwidrigkeit wurde nicht eröffnet. Wohl aber erschienen im Hause Hachette Beamte der Pariser Polizei, um Erkundigungen einzuziehen. Das Aufsehen, das der Vorgang am Arbeitsplatz des jungen Chefs der Presseabteilung machte, kostete ihn die Stellung. Sein Gönner, der Firmengründer Louis Hachette, war bereits 1864 gestorben. Der junge Zola scheint die schöne Position leicht und aus freien Stücken geräumt zu haben. Er drängte in die freie Wildbahn der publizistischen Kämpfe.

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Die Großen des Jahrzehnts; Taine, Courbet, Manet

In der Mitte der sechziger Jahre hatte das Regime gewisse Liberali­ sierungen verordnet. Die Gesetzgebende Versammlung erhielt das Recht auf Diskussion der Regierungserklärung, die Sitzungen wur­ den öffentlich, und dem Parlament war in gewissem Umfang das Budgetrecht zugestanden worden. Das ergab zwar nicht die Freiheit, aber Freiheiten und in Grenzen etwas mehr politische Information und Meinung in den Zeitungen, die dazu freilich Lizenzen brauchten und nach wie vor scharf überwacht wurden. Den Republikanern wird unter Bedingungen Amnestie gewährt, so daß ein Teil der Brüsseler Emigration, durchweg Republikaner und zugleich Intellektuelle, zurückkehren konnten. Das war, verglichen mit den fünfziger Jah­ ren, ein Fortschritt. Flauberts Madame Bovary und Baudelaires Fleurs du Mal waren in berühmten Prozessen der fünfziger Jahre noch von Staatsanwälten wegen Verletzung des sittlichen und religiö­ sen Empfindens mit Argumenten und Interpretationen bedacht wor­ den, die heute grotesk erscheinen. Immerhin war Flaubert freigespro­ chen worden, während Baudelaire verurteilt wurde. Die beiden Fälle sind für das geistige Klima des ersten Jahrzehnts des Zweiten Kaiser­ reichs charakteristisch, weil gleichzeitig eine Fülle von Kitsch und schlüpfrigen Produktionen unangefochten blieben, die geradezu als Symptome der lockeren Sitten jener Jahre gelten können. In der Mitte der sechziger Jahre war die Überwachung der Zeitun­ gen, Zeitschriften und Bücher keineswegs abgebaut. Der junge Zola hat öfters die Bekanntschaft mit der Zensur gemacht. Aber er trat in einer Zeit an, in der die Voraussetzungen sich bereits geändert hatten. Seit i86i waren die Kontrollen und Sanktionen gegen Presse, Verlage und Drucker gelockert worden, weil die gesellschaftlichen Bedürf­ nisse mehr billigen Lesestoff, vor allem auch populäre Unterhaltungs­ blätter erforderten. Von 1863 bis Ende 1864 sind nicht weniger als sechzehn Anträge auf Genehmigungen neuer politischer Zeitungen gestellt worden. Darunter waren natürlich nicht wenige regierungs­ freundliche. Zola hat gelegentlich an einem Blatt mitgearbeitet, das »Travail« hieß. Der junge Clémenceau war dort Redakteur. Es wurde unterdrückt, weil es links von den Republikanern sozialistische Ten­ denzen vertrat. Im Quartier Latin erschienen studentische Blätter, die sich mit revolutionären Tendenzen vorwagten und meist bald wieder verschwanden. »Temps«, »La Liberté«, »Le Globe« und »L’Avenir national« sind seriöse Neugründungen gewesen. Die wenigen politi67

sehen Blätter »Les Débats«, »Le Siècle« und »L’Univers«, die den Staatsstreich überlebt hatten, hielten eine distanzierte Linie. Die Blätter, die den Markt vollends veränderten, verdankten ihre Entstehung, ihre meist kurze Blüte und das bewegte Auf und Ab von Pleiten, Neu- und Umgründungen einem Instrument, welches das Regime selbst von seinem sichtbarsten Repräsentanten hatte schaffen lassen, dem Boulevard. Der berühmte und berüchtigte Baron Haussmann, der das mittelalterliche Paris mit Dampframmen niederlegen und durch die alten, dicht bebauten Viertel große Prachtstraßen, die Boulevards, als Schneisen für den Durchgangsverkehr und als Auf­ marschbahnen für Polizei und Militär gegen die Faubourgs legen ließ, hat mit seinem Urbanismus zugleich das Fundament für die neue Massenzivilisation gelegt. Boulevard und Avenue wurden zu Schlag­ adern des neuen pulsierenden Lebens. Theater, Cafés, Variétebühnen, Banken, Warenhäuser wurden direkte Nachbarn der großen Zeitungshäuser. Die bürgerliche Opposition machte sich das neue Stadtwesen, das gegen sie geplant war, zunutze. Die Boulevardpresse verdankt Haussmann ihre Existenz. Künftig werden die großen literarischen und künstlerischen Schlachten am Boulevard geschlagen. Der Boulevard wird zum Umschlagplatz für Nachrichten, Indiskre­ tionen, Gerüchte, Parolen und Meinungen, Moden. Das mondäne intellektuelle Leben der Weltstadt ist am Boulevard und mit ihm entstanden. Die berühmte Maison Dorée beherbergte Alexandre Dumas’ Wochenblatt »Monte Cristo«. Am Boulevard kamen in der »Librairie Nouvelle« Balzacs 55Bände der Comédie humaine zum Preis von je 1,25 Francs heraus. Es ist kein Zufall, daß der Boulevard alsbald ein Thema der Impressionisten war. Ein neuer Typus des Verlegers ist der in allen Farben schillernde Villemessant, Gründer des »Figaro«. Er gründet das Wochenblatt 1866, als die politischen Voraussetzungen besser geworden waren, in eine Tageszeitung um. Sie wird in den frühen journalistischen Jahren Zolas eine wichtige Rolle spielen. Als Zola 1866 nach vier Jahren der äußeren und inneren Stabilisierung das Haus Hachette verließ, war er kühn genug zu hoffen, daß er seine und der beiden Frauen, Mutter und Gefährtin, Existenz auf den Journalismus würde gründen kön­ nen. Zola wollte mit neuen Überzeugungen und mit den erlernten Techniken des publizistischen und journalistischen Gewerbes in die Öffentlichkeit hineinwirken. Er hatte sich zum Anhänger einer neuen Weltbetrachtung gewandelt, die wissenschaftsgeschichtlich mit ihren Vätern Conte und Taine Positivismus genannt wird. Wen anders und besseren könnten wir bemühen, in kurzen Sätzen darzutun, was gemeint ist, als Zola selbst, der sein Leben lang ein Vulgarisator geistiger und ideologischer Inhalte gewesen ist. 68

In einem Brief vom 22. Juli 1885 dankt Zola einem jüngeren Schriftstellerkollegen und Anhänger der naturalistischen Schule Gustave Geffroy für eine »schöne Studie«, die er als eine freund­ schaftliche und eindringende Kritik bezeichnet. Endlich werde also die Wahrheit über ihn geschrieben, nachdem ganze Ladungen Papier ihn angeschwärzt und zu einer schlimmen Legende haben werden lassen. In dem Brief faßt Zola sich selbst in ein paar Zeilen; »Sie haben Recht, ich glaube, daß man in meinen Werken eine besondere Philosophie der Existenz sehen sollte. Meine Rolle war, den Menschen in der Schöpfung wieder an seinen Platz zu setzen als ein Produkt der Erde, das allen Einflüssen der Umwelt (milieu) unterworfen ist. Im Menschen selbst habe ich das Gehirn unter den andern Organen an seinen Platz zurückversetzt. Denn ich glaube nicht, daß das Denken etwas anderes als eine Funktion der Materie sei. Die berühmte Psychologie ist nur eine Abstraktion, allenfalls ein sehr begrenzter Raum könnte Psychologie genannt werden.« Diese kurzen Sätze sind zwar eine schreckliche Vereinfachung nicht nur dessen, was Taine gelehrt und geschrieben hat, sondern auch dessen, was Zola literarisch praktiziert hat. Man muß aber einen solchen Brief von Zola her verstehen. Der war, so sensibel und furchtsam er in gewisser Beziehung war, so feinfühlig und rücksichts­ voll er im Umgang sein konnte, ein Kämpfer und gelegentlich sogar ein Provokateur. Zola hat Slogans in Umlauf gesetzt, bevor sie auf diesen Begriff gebracht wurden. Was der Brief enthält, ist eine im Meinungskampf des Tages verwendbare Kurzinformation. Der agi­ tatorische Nebenton ist unüberhörbar. Was Zola von Taine gelernt hat, ist die Grundüberzeugung, daß alles Geschehen, die physischen und psychischen Vorgänge, von Gesetzlichkeiten determiniert sind. Das richtete sich sowohl gegen Metaphysik überhaupt wie gegen das spekulative Moment im roman­ tischen Denken. Die Methode, die Gesetze aufzuspüren, nach denen die individuellen und die sozialen Lebensvorgänge verlaufen, muß naturwissenschaftlich sein, konkret vor allem in der Ermittlung von Tatsachen. Als Instrument dazu hat die Beobachtung Vorrang. Taine war als historisch orientierter Wissenschaftler Pluralist. Seine Genia­ lität lag darin, daß er Geschichte aus der Fülle der Materialien und Komponenten schrieb. Ob er Zolas Satz, das Denken sei eine Funk­ tion der Materie, gutgeheißen hätte, darf man bezweifeln. Taine hat auf Auguste Comtes Fundamentalsatz aufgebaut, daß die Wissen­ schaften im Zeitalter der industriellen Gesellschaft - dies war ein Begriff Saint-Simons - positive Tatsachen und deren Beziehungen der Folge oder der Ähnlichkeit zu ermitteln haben, weiter nichts. Es sei, nachdem die Menschheit aus dem metaphysisch-spekulativen Sta69

dium herausgetreten sei, nicht mehr möglich, über die hinter den Erscheinungen etwa verborgene geheime Natur der Dinge, über ihre erste Ursache oder ihre Zweckursache, noch über die absolute Ursa­ che der Erscheinungen nachzudenken und solche Spekulationen als Erkenntnis auszugeben. Taine hat den Positivismus zur Grundlage umfassender geschichtlicher Epochendarstellungen, etwa über die Entstehung des modernen Frankreich oder über die französischen Philosophen des 19. Jahrhunderts oder die Geschichte der englischen Literatur gemacht. Er hat dabei die geistigen Erscheinungen keines­ wegs in ihrer Eigenständigkeit angetastet. Seinem Prinzip der Bedingtheit aller Erscheinungen zufolge hat er die Kunst der Zuord­ nung physischer und technischer Tatsachen zu gesellschaftlichen, geistigen und künstlerischen virtuos geübt. Sein Begriff des Wirklichen war nicht doktrinär vorgegeben. Aus der Fülle der ineinanderwirkenden Komponenten ließ Taine in der Darstellung das Wirkliche als Totalgemälde entstehen. Seine Theorie des Milieus umfaßte die physische, die geistige und die soziale Umwelt. Die bahnbrechende Untersuchung der Wirkung sozialer Faktoren auf die individuelle geistige Hervorbringung bis zum genia­ len Schaffen war die Entdeckung, alles andere galt als Entwertung des Geistes. Im Künstler hat Taine Volkscharaktere am deutlichsten ausgeprägt erkannt und dargestellt. Wie stark geschichtlich Taine gedacht hat, wird an dem Kriterium des »Moments« deutlich. Moment bedeutet, daß es keine Konstanten und festen Gewichtungen in historischen Situationen gibt. Wie die Faktoren zueinander liegen, Tradition, Fortschritt, technische Entdeckungen, spekulative Bewe­ gungen des Geistes, die materielle Ausgangslage für Kunst und Wissenschaften, die sozialen Gefüge und ihre Spannungen, das Phy­ sische bis in die materiellen Lebensgewohnheiten - das ist in dem Begriff »Moment« enthalten. Kaum ein anderes Studium konnte für einen jungen Romancier wie Zola, der sich mit sehr ehrgeizigen Plänen trug, fruchtbarer sein. Von Taines Posivitismus, der zugleich eine Kulturphilosophie war, führt ein Weg zum Roman Emile Zolas. Die besten Werke des RougonMacquart-Zyklus, etwa L'Assomoir, Germinal und La Terre^ haben zwei Grundforderungen Taines an die Darstellung des Wirklichen erfüllt. Sie sind vielfältig verschränkte Beziehungsgeflechte von phy­ sischen Gegebenheiten und psychischen Aktionen und Reaktionen, ihr Motor ist die Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses. Die Übereinstimmung geht so weit, daß Zola als Künstler und Taine als Wissenschaftler in der Endrechnung bei einer eher skeptischen Ein­ schätzung des Menschen und seiner Gesamtentwicklung anlangen. In einem Brief Zolas vom 10. Dezember 1866 an einen vier Jahre 70

jüngeren ehemaligen Mitschüler im Collège Bourbon in Aix, einen jungen Literaten, den Cézanne porträtiert hat, Antony Valabrègue, schreibt Zola, er habe dem 33. Wissenschaftlichen Kongreß Frank­ reichs, der in diesem Jahr in Aix tage, auf Anforderung dreißig Seiten eines Vortrags »Definition des Romans« eingereicht, den er nicht selbst in Aix vortragen könne. Zola bittet den Freund, sich im Saal umzuhören, wie seine Arbeit aufgenommen worden sei. Er sei stolz auf diese kleine Arbeit, »in der ich die Methode Taines breit verwendet habe«. Über den Hachette-Autor Taine hatte er schon drei Jahre zuvor in dem Hausorgan des Verlages »Bulletin du libraire et de Tamateur du livre«, speziell über Taines Geschichte der englischen Literatur geschrieben. 1865 hat Zola in dem Lyoner Blatt »Le Salut public« über eine allgemeine »Einführung in die Geschichte Frank­ reichs« eines gewissen Autors berichtet, der ganz auf Taine und seinem Schüler Deschanel fußt. 1866 widmete Zola eine Arbeit direkt Taines Ästhetik, die später in dem Sammelband Mes Haines unter dem Titel M. H. Taine artiste wieder abgedruckt ist. Noch im selben Jahr berichtet Zola in dem von Villemessant neu gegründeten Blatt »L’Evènement« wiederum über Taine unter dem Titel Marbres et Plâtres (Marmor und Gips). Der große Taine schätzte den jungen Zola so sehr, daß er sich für eine Besprechung von dessen Confession de Claude im »Journal des Débats« verwandte und dem jungen Angestellten von der Librairie Hachette einen Brief schrieb: »Sie sind der Künstler [dies mit Beziehung darauf, daß Zola über den Künstler Taine geschrieben hatte]. Am Anfang Ihres Artikels stehen fünf, sechs Seiten, zu denen der Anlaß gewesen zu sein, mich mit Stolz erfüllt.« In dem Brief an Freund Valabrègue sind Sätze enthalten, in denen Zola sich wieder einmal als älterer, hilfreicher Literatur- und Litera­ tenberater erweist. Sie sind für das Persönlichkeitsbild Zolas, des späteren Chefs der naturalistischen Schule von Médan, so aufschluß­ reich, daß sie zitiert zu werden verdienen. Zum Verständnis muß vorangeschickt werden, daß Valabrègue sich schwer tat, von der Heimat Aix und ihren Verführungen zum romantischen Träumen loszukommen. Zola schreibt: »Sie arbeiten, sagen Sie, und was Sie mir schicken, zeigt mir, daß Sie nicht in einer lebendigen Umwelt arbeiten. Ein ganzes Buch über Herbstlandschaften! Das erschreckt mich, wenn ich offen sein soll. Ich will nicht über den Titel aburtei­ len, nur fürchte ich, daß Sie zu Unrecht der Feder abverlangen, was Sache, ich sage nicht des Pinsels, sondern der Palette wäre. Ich bestehe nicht darauf, ich möchte nur wünschen. Sie gegen die Träu­ mereien zu wappnen. Überlegen Sie es sich, ob es nicht an der Zeit wäre, daß Sie den Kampf aufnähmen. Nur der Streit wird Ihrem 71

Talent die Reife bringen, die Sie vergebens von den Studien erhoffen. Einige Monate Praxis ersetzen Jahre der Theorie. An Ihrer Stelle würde ich - ich sage Ihnen das als guter Kollege - nicht mehr schreiben um des Schreibens willen. Ich käme mit einem festen Ziel nach Paris, ich würde alle Kräfte an irgendeinen raschen Erfolg setzen... Gewiß, ich weiß, daß ich in diesem Augenblick kein gutes Beispiel bin. Der Journalismus behandelt mich merkwürdig schlecht. Meine Einnahmen stehen schlecht, ich strenge mich sehr an für ein mageres Ergebnis. Und doch rate ich Ihnen mit allen Kräften, hierher zu kommen und mit mir journalistisch zu arbeiten. Sie werden zwangsweise durch irgendeine Lehre hindurch müssen, und es wäre gut, das so schnell wie möglich abzumachen. Wenn Sie kommen, sagen Sie aber nicht, daß Sie sich in Ihr Zimmer einscTiließen wollen, um zu studieren. In Aix schließt man sich ein, hier marschiert man.« Als Zola Ende Januar 1866 bei Hachette seinen Abschied nahm, konnte er voller Optimismus sein. Der mächtige Verlegerboß Villemessant, der den mondän literarischen Figaro leitete - das Blatt wurde erst 1867 als politisches Blatt zugelassen -, hatte 1865 »L’Evè­ nement«, ein anspruchsvolleres Boulevardblatt gegen die Konkurrenz des niveaulosen Groschenblatts »Le Petit Journal«, gegründet. Zola, durch Rezensionen und zwei immerhin beachtete Bücher als wendi­ ger und kundiger Literat bekannt, machte dem Direktor des »Evène­ ment« den Vorschlag, eine regelmäßige Sparte »Bücher von heute und morgen« einzurichten und sie ihm anzuvertrauen. Das Blatt kündigte den neuen Mitarbeiter und die Kolumne am Tag nach Zolas Abschied bei Hachette so an: »Das Buch am Tag seiner Auslieferung belauern und, wenn möglich noch zuvor, über alle einschlägigen Neuheiten auf dem laufenden halten, kurz der amüsante Chronist des Bücher­ markts sein.« Zola erhielt ein Fixum von 500 Francs. Die Biographin, Herausge­ berin und Kommentatorin von Zolas Briefen in der Zeit von 1858 bis 1867, Colette Becker, hat in der ersten Hälfte des Jahres i866 106, in der zweiten 72 Artikel Zolas gezählt. Die Arbeiten erschienen in mehreren Blättern, darunter auch im »Salut public de Lyon«. Im April 66 machte der ehrgeizige Journalist seinem Verleger Villemessant einen neuen Vorschlag. Zola hatte durch seinen Freund Cézanne vielfältige Kontakte mit jungen Malern erhalten. Es waren, allen voran, der »bescheidene und gewaltige« Pissarro, wie Cézanne ihn nannte, und der Maler Frédéric Bazille aus Montpellier, reicher Eltern Sohn, der zugleich in Paris Medizin studierte. Dieser wie­ derum war befreundet mit Monet und Renoir, die es beide sehr schwer hatten, weil sie ohne alle Mittel waren. Pissarro, der älteste 7 2

unter denen, die später als Impressionisten galten, war ein Verehrer von Corot, hat sich aber in den sechziger Jahren von ihm entfernt, als er eine Malerei suchte, die mit satten, oft mit dem Spachtel aufgetra­ genen Strichen mehr Ausdruck der Farbe und eine feste Bildkon­ struktion zugleich suchte. Cézanne, zu dessen Malerei Zola nie Zugang gefunden hat, ist diesen Weg am konsequentesten weiterge­ gangen. Etwa um das Jahr 1860 hatten sich die Jungen der Ecole des Beaux Arts oder der Académie Suisse zu einer losen Gruppe gemein­ samer Überzeugungen und Interessen zusammengefunden. Auch Manet gehörte, wenn auch mit einiger Distanz, zur Gruppe der jungen Protestmaler. Er war insofern der interessanteste, als er parallel zur allgemeinen Wendung der Wissenschaften und der Litera­ tur die Malerei von dem posenhaft gewordenen Akademismus weg zu einer Kunst aus modernem Geist führte. Seine kühle, fast ironische Umformulierung großer klassischer Vorbilder (Tizian, Giorgione, Velasquez) hat mit ihrer Prägnanz und ihrem Realismus, was immer das sein mochte, die sogenannte gute Gesellschaft, die sich an reisge­ puderten, als antike Göttinnen lüstern in Szene gesetzten Damenak­ ten delektierte und den mattierten Schmelz dieser Arrangements genoß, ungeheuer provoziert. Der Salon präsentierte die offizielle akademische Kunst. Er war für die Jungen die einzige Gelegenheit, an die große Öffentlichkeit zu kommen. Die Kämpfe um die Zulassung zum Salon sind eines der erregendsten Kapitel in der Geschichte der modernen Kunst. Die Palette der jungen Freilichtmaler wirkte revolutionär, ihre Farben waren heller, bei Manet provozierend flächig, Plakatmalerei, wie die Gegner schimpften. Ihr Farbauftrag wurde von konservativen Betrachtern vom Schlage eines Cabanel, dessen peinliches Bild einer Geburt der Venus der Kaiser angekauft hat, von Akademieprofesso­ ren zumal als plebejisch und irgendwie sittenwidrig angesehen. Zola wußte von den Debatten und Gesprächen, die um den Durchbruch einer thematisch und sozial wahrhaftigeren, formal neuen Malerei kreisten, seit Cézannes erstem gescheitertem Besuch in Paris. Er muß damals wenigstens zeitweise von seinem schwärmerisch verehrten Lieblingsmaler Grenze (1725-1805), dessen süß-sinnliche ländliche Mädchenbildnisse ihn affiziert hatten, abgekommen sein. In dem Furor, mit dem er sich vor allem der Kunst Manets verschrieb, ist auch seine knabenhafte Begeisterung für Ary Scheffer verflogen. Doch Zolas Rolle im Kampf gegen den ausgelaugten und verloge­ nen Akademismus der offiziellen Kunst des Second Empire setzt früher ein. Bevor er Manet entdeckte und gegen die tonangebende Gesellschaft durchsetzte, hat Zola den zwanzig Jahre älteren Cour­ bet, vielleicht dank wiederum Cézanne, mit dem er den Salon von 7 3

i86i besuchte, sich erschlossen und ihn treffsicher formuliert. Im Jahre 1865 hat Zola in der Lyoner Zeitung »Salut Public« einen seiner wichtigsten frühen Artikel zum Thema der bildenden Kunst veröf­ fentlicht. Man konnte ihn ein Jahr später in seiner ersten Essaisamm­ lung, die den provozierenden Titel Mes Haines trägt, wiederlesen. Der Aufsatz ist eine heftige Widerrede gegen Proudhons Schrift Des Principes de PArt et de son utilité sociale [Von den Grundsätzen der Kunst und ihrer sozialen Nützlichkeit]. Der Sozialist Proudhon war mit Courbet befreundet, hing der doch selbst sozialistischen Ideen an. »Ich bin nicht nur Sozialist«, erklärte der vitale, unpolitisch naive Bauernsohn aus der Franche-Comté 1851, »sondern auch Demokrat und Republikaner, kurz ich unterstütze die ganze Revolution, und vor allem bin ich ganz Realist [!]... denn Realist sein bedeutet, ein aufrichtiger Freund der wirklichen Wahrheit zu sein.« Zola schreibt im »Salut publique« 1865 über ihn: »Courbet fühlte sich ganz aus der Sinnlichkeit (de toute sa chair) angetrieben... zur materiellen Welt, die ihn umgab, den üppigen Frauen, den starken Männern, den von Fruchtbarkeit strotzenden Feldern. Stämmig und kräftig gewachsen, hatte er das heftige Verlangen, die wahre Natur in seine Arme zu fassen. Aus dem vollen Fleisch und der vollen Erde wollte er malen. Courbet gehört zur Familie derer, die Fleisch malen können... Seine Brüder sind, ob er will oder nicht, Veronese, Rembrandt und Tizian.« Es ist für den Zola, der Manet entdeckt hat und ihn mit Kraft und Ausdauer verteidigte, bezeichnend, daß er die Schwäche gefälli­ ger Arbeiten (Frau mit Papagei) offen ausspricht, die Courbet in den Jahren, da Manets Stern bereits aufging, in den Salon gab. Unbeirrbar aber ruft Zola Courbets große Entdeckungen, die sozialen Bilder der »Steinklopfer«, der »Kornsieberinnen«, der »Spinnerin«, die Entdekkung eines kraftvollen Regionalismus in der »Beerdigung von Omans«, die ungeschminkte, robuste Sinnlichkeit der »Badenden«, in Erinnerung. Mit dem sicheren Instinkt des Literaten hat Zola den Skandal voraus gewittert, der in Manets Bildern »Olympia« und »Frühstück im Freien« enthalten war. Ihn zum offenen Konflikt mit der mondä­ nen Gesellschaft treiben, bedeutete für den jungen Mann, der im kleinen Journalismus kümmerlich genug existiert hatte, den Durch­ bruch. Die sehr junge, nackte Prostituierte auf zerwühltem Bett, die kleine gespreizte Hand unverschämt auf dem Geschlecht, im Haar eine kesse Blüte und um den Hals ein billiges Samtband, das Pantöf­ felchen leicht gelockert, ein Gesicht von der Straße, kühl berechnend, abwartend und fühllos - dies Bild war die Herausforderung des »Wirklichen« an den akademischen Plunder schlechthin und eine Verhöhnung der senilen Akademie der Schönen Künste. Zola hat das 7 4

erlesene Bild Manets als Programmkunst verstanden, als Bestätigung des physiologischen Themas der positivistischen Naturwissenschaft im sozialen Kontext. Manets »Frühstück im Freien« bedeutete Steige­ rung und Verdeutlichung. Woher kam die ungeheuere Aufregung des feinen Publikums? Zola hat, ohne den Begriff zu gebrauchen, die Sprengkraft der künstlerischen Tabuverletzung instinktiv begriffen: die brillant unpathetische, kühle Malerei des »Frühstücks im Freien«, die Beziehungslosigkeit der Nackten unter tadellos gekleideten jun­ gen Herren, der direkte Blick der Unbekleideten ins Publikum, der Verzicht auf Gefühl, Gebärde, Bedeutung, was immer das sein könnte. Noch vor der Eröffnung des Salons 1866, der mehr als ein gesell­ schaftliches Ereignis zu werden versprach, weil durchgesickert war, daß Manet nicht mehr vertreten sein würde, griff Zola die Jury scharf an. Ironisch erinnert er an die guten alten Zeiten, als die Akademie der Schönen Künste die Auswahl traf. Da habe man wenigstens noch gewußt, daß die Maßstäbe immer die gleichen sein würden und mit wem man es zu tun habe. Jetzt aber sei ein scheindemokratisches System an die Stelle der alten Bärte von der Akademie getreten, das in Wirklichkeit die Herrschaft der Cliquen sei. Wer bereits einmal arriviert war, indem er eine Medaille oder eine lobende Erwähnung erhielt, habe sich in einer Gruppe zusammengetan, die sich für kompetent ausgebe, deren Legitimation aber undurchsichtig bleibe. Diese Argumentation weist den jungen Zola als raffinierten Pole­ miker aus, der eine erste Schwäche im etablierten Kunstregime sofort ausnutzt, um die Dinge voranzutreiben. Im Jahre 1863 hatte der Kaiser persönlich die Proteste der vom Salon ausgeschlossenen Maler in einer Anwandlung von Liberalität immerhin so ernst genommen, daß er gnädigst einen »Salon der Zurückgewiesenen« bewilligte. Dies war ein erstes Schwächezeichen gewesen. Insgeheim hatten die Coterien der Kunstszene alles aufgeboten, um eine Wiederholung des Salons der Zurückgewiesenen zu verhindern. Die Aufsätze über den Salon von 1866, journalistisch hochbegabt, haben indirekt politisch die Wirkung getan, die der oppositionelle junge Republikaner anstrebte, die Verunsicherung einer mondänen Gesellschaft, deren Kunstideal so abgestanden und verlogen war wie ihre Moral. Zolas Kampf für Manet war mehr als das Eintreten für eine neue Ästhetik. Es kann zwar keinen Zweifel daran geben, daß Zola die neue Qualität dieser Malerei verstand und aus Überzeugung feierte. Worauf es ihm aber vor allem ankam, war die sozialkritische Agitation. Es ging dem jungen Oppositionellen nicht nur um eine neue Wirklichkeit in der Kunst, sondern vor allem um eine neue 7 5

politische Wirklichkeit. Unter dem Druck der Zensur wählte der Literat mit auffälligem Spürsinn den Umweg der Kunst. Wie Manet hat Zola die Vokabeln Realismus oder Naturalismus zunächst nur gelegentlich gebraucht, weil er sie im Kampf gegen den Muff und die Macht herkömmlicher Sehweisen und Stilgewohnheiten als Instrumente des Kampfs für wirksam hielt und hat sie zugleich kritisch beiseite geschoben, wenn er das Unverwechselbare einer künstlerischen Individualität zu artikulieren suchte. »Realismus, Naturalismus, was soll’s - das Wesentliche des Genies Courbets liegt anderswo... Ein Kunstwerk ist allemal ein Stück Schöpfung, gesehen durch ein Temperament.« Der berühmte Satz in dem Essai, mit dem Zola Courbet gegen Proudhons naiven Gedanken, Kunst habe sich durch ihren gesellschaftlichen Nutzen auszuweisen, mit Leidenschaft zurückweist, ist keineswegs als das Programm eines unverbindlichen Subjektivismus zu verstehen. Zola objektiviert ihn, indem er Tempe­ rament, Kraft, Persönlichkeit im Kunstwerk als Natur und Wahrheit selbst sieht. Zwischen Manet und Courbet gibt es nicht die geringste Ähnlichkeit. Aber beide sind ihm, so konträr ihre Farben, ihre Inspiration, ihr Pinselstrich, ihre Sinnlichkeit sein mögen, die einzi­ gen starken Künstler der naturalistischen Schule. Zola kommt ohne den Begriff nicht mehr aus, der die Erneuerung der Kunst und die Erweiterung der menschlichen Schöpferkraft auf eine Formel gebracht hat. Dabei argumentiert er nicht nur mit Courbets und Manets Themen. In vielfach variierten Hinweisen zielt er auf die Ursprünglichkeit und die Kraft dieser Maler, auf die neue unkonven­ tionelle Peinture, auf Farben, Bildstrukturen. Zola ist freilich mehr ein intuitiver als ein analytischer Kritiker gewesen, ein Promotor. Sein auffälliges Versagen vor Cézanne, der bis in die Mannesjahre sein bester Freund aus Jugendtagen war, muß im Zusammenhang mit Zolas Anfängen als Kunstkritiker gesehen werden. Die Biographen haben bisher oft einseitig den Akzent auf die Bedeutung Manets gelegt. Wenn dies Verfahren auch durch die wiederholten Veröffentlichungen über Manet gerechtfertigt sein mag, so darf doch nicht übersehen werden, daß Zolas Romane thematisch und formal und seine Naturalismustheorie ihre Parallelen eher in der Malerei Courbets als in der Manets finden. Zolas späterer Dissens zu Courbet war politisch motiviert. Er hat die Rolle des Malers als Delegierter für die Schönen Künste in der Kommune nicht gebilligt. Den Sturz der Vendome-Säule, für den der Maler Courbet, obwohl nicht direkt verantwortlich, verurteilt wurde, scheint Zola im Zusam­ menhang mit Courbets lebenslanger Agitation für die soziale Revolu­ tion gesehen zu haben. Die eminente Verwandtschaft seiner grundle­ genden »naturalistischen« Anschauungen über Kunst, sei es die bil76

dende, sei es die des Romans, mit Courbet während dessen Exil in der Schweiz und nach Courbets Tod (1877), hat Zola eindrucksvoll bejaht. Beide Männer verband der gemeinsame Haß gegen alles, was Zweites Kaiserreich war und hieß. In seiner Autobiographie schreibt sich Courbet 1866 zu, der einzige gewesen zu sein, der das Kaiser­ reich in der Kunst angeprangert hat. Sainte-Beuve hat 1862 nach einem Gespräch mit Courbet in einem Brief von einer großen Idee des Malers berichtet. »Es ist die, eine monumentale Malerei zu verwirklichen, die im Einklang mit der neuen Gesellschaft steht. Courbet hat die Idee, weite Bahnhöfe für die Eisenbahn zu bauen, neue Kirchen für die Malerei, und diese vielen großen Wände mit tausend geeigneten Sujets zu schmücken: Ansichten der Landschaf­ ten, die man durchfährt; die Porträts der großen Männer, deren Namen mit den Städten verbunden sind, durch die man fuhr; morali­ sche, industrielle, metallurgische Themen; mit einem Wort, die Heili­ gen und die Wunder der modernen Gesellschaft.« In solchen Horizonten sind die Parallelen zu Zola mit Händen zu greifen: das Pathos der neuen Zeit und Gesellschaft, das moderne Milieu, symbolisiert in den Eisenbahnen und Bahnhöfen, indu­ strielle, vor allem metallurgische (!) Themen mit moralischen auf einer Stufe, der Versuch, die Industrie zu sakralisieren. Nimmt man die Courbet und Zola gemeinsame Vorliebe für das arbeitende Volk, die Entdeckung der »reizlosen«, elementaren Landschaft hinzu, dann hat man überraschend viel Übereinstimmung. Man kann sie auch in der gemeinsamen Begeisterung für die Pariser Weltausstellungen antreffen. Schließlich ist Zola, so abweisend er der Kommune von 1871 gegenübergestanden hat, in der Courbets Schicksal sich zum Tragischen wandte, 1898 in der Affäre Dreyfus seinen revolutionären Weg gegen die etablierte Gesellschaft gegangen. Zolas provozierender Satz »La République sera naturaliste ou elle ne sera pas« könnte auch Courbets Devise gewesen sein.

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Journalismus 1865/70

Zola, Literaturproduzent, lange bevor der Begriff erfunden wurde, ist über den Journalismus zur Literatur gekommen. Vorangegangen war die Periode der Versdichtung des Jünglings. Die war im Schatten des großen Victor Hugo geschrieben und verrät in den Titeln Rodol­ phe, Paolo und Aérienne (ein lyrisch-episches Liebesgedicht von einigem biographischem Aussagewert), die erdrückende Macht der literarischen Romantik. Zola hat sich im Hause des großen Louis Hachette vom Packer zum Chef der Werbeabteilung heraufgearbei­ tet. Das war 1862 und hielt bis 1866 an. Etwa um diese Zeit hatte der junge Zola von seinem Stuhl bei Hachette aus bereits den Weg zu Zeitungen gefunden. In dem großen Verlag, dessen bedeutendster Autor der Historiker, Literaturhistori­ ker und philosophische Begründer des Positivismus Hippolyte Taine war, hatte Zola das ineinandergreifende Räderwerk von Presse, Lite­ ratur, Werbung und Kritik kennengelernt. Sein Weg in die, wie man heute sagen würde, Welt der Medien mutet wie eine moderne Story an. Da wird einer in das Paris der Ara Haussmann verschlagen. Der junge Mann hat keinen Pfennig in der Tasche und macht, während rings um ihn eine grandiose Gründerzeit den üppigen Glanz der Laszivität und das Dunkel sozialen Elends entfaltet, die Erfahrungen, die sein Leben bestimmen werden. Der Nervenkitzel der neureichen Pracht hat den neurotisch sensiblen jungen Mann stark affiziert. Sein revoltierendes moralisches Gefühl lehnte sich gegen die Härte seines Schicksals auf. In dem Betrieb des Großverlags Hachette wurde Zola zuteil, was ihm das Gymnasium nicht gegeben hatte. Er wurde Literat, Intellek­ tueller und ein Mann des Metiers. Zola hat die Weltfremdheit des Nurliteraten nicht gekannt. Vom Beginn seiner Wendung zur Prosa an hat er für den Markt gearbeitet. In einem Brief an einen in Aix lebenden jüngeren Bekannten, der Schriftsteller werden will, hat Zola 1865 seine Erfahrung mit dem Literaturbetrieb folgendermaßen formuliert: »Wenn Sie wüßten, armer Freund, wie wenig Talent im Erfolg liegt, würden Sie Feder und Papier beiseite legen, und das literarische Leben zu studieren beginnen, die tausend kleinen Schurkereien [canailleries], die einem die Türen öffnen, die Kunst, den Kredit anderer für sich zu nutzen, den grausamen Zwang, den lieben Kollegen über den Bauch hinweg­ zusteigen. Kommen Sie [nach Paris], ich weiß viel und stehe zu Ihrer Verfügung.« 7 8

So viel stimmungshaft zufällige Skepsis in diesen Sätzen enthalten sein mag, sie verraten, daß da einer spricht, der seiner Sache bereits sicher ist und die Kompromisse kennt. Zola war aber von allem Anfang an ein kämpferisches Naturell. Er hat sein Schriftstellerleben lang »in Empörung« gelebt. Gleichzeitig mit ersten Prosaerzählungen begann Zola eine inten­ sive journalistische Mitarbeit an verschiedenen Blättern. Nach dem Ausscheiden aus dem Haus Hachette lebte er von Zeilenhonoraren, oft trotz fleißiger Fron kümmerlich. Auch Balzac hat das Joch des Journalismus ausgiebig gekannt. Der Fall Zola liegt jedoch anders. Sein Eintritt in den Journalismus fällt mit dem ersten Erscheinen eines Blattes zusammen, das »Le petit Journal« betitelt, als Ein-Sou-Blatt für das Volk der kleinen Leute gedacht war und Erfolg hatte. Die dieses billige, völlig unpolitische Blatt lasen, entsprachen nicht mehr den von Daumier karikierten Kleinbürgern, die sich als Zeitungsleser ein Air und einen Rang zu geben versuchten. Leser des »Petit Journal« waren Leute, die Zola zwölf Jahre später in seinem ersten Erfolgsbuch L'Assommoir literaturfähig gemacht hat, Kutscher, Boten, kleine Handwerker, Hilfsarbeiter, Wäscherinnen, Büglerin­ nen, Dienstmädchen, Conciergen der Mietskasernen, Näherinnen, Midinetten, Heimarbeiter. Die systematische Zolaforschung, die unter der Führung des Zola­ experten und Herausgebers der Rougon-Macquart-Serie, Henri Mit­ terand, betrieben wird, beabsichtigt, parallel zu den Romanen das gesamte journalistische Œuvre zu ermitteln und herauszugeben. Dem weit ausholenden, noch nicht verwirklichten Plan, Zolas sämtliche journalistische Arbeiten systematisch zu sammeln, greift eine Auswahl bisher unbekannter früher Zola-Artikel vor, die ein Freelancer 1963 in einer entlegenen Publikation vorgelegt hat (L’Ate­ lier de Zola, recueilli et présenté par Martin Kanes, Genf, Librairie Droz, 1963). Diese ergiebige Sammlung öffnet nicht nur neue Ein­ blicke in Zolas schriftstellerische Entwicklung, sondern auch in die persönlichen und zeitgeschichtlichen Voraussetzungen seiner giganti­ schen Romanzyklen von den Rougon-Macquart an bis zu den vier Evangelien. Vieles, das in den Romanen bis heute als Durchbruch zu einer neuen Sozialthematik auffällt, hat seinen Ursprung in der frühen journalistischen »Knochenarbeit«. Zolas spezifische Eigenhei­ ten, sein Hang zur Stoffanhäufung, zum Panorama und zur Senti­ mentalität, sein sozialethisches Pathos und der hohe Anteil reportage­ hafter Einschübe sind von den journalistischen Anfängen an wahr­ nehmbar. Zola hat sich in gewissem Sinne als Volksschriftsteller begriffen. Sein Selbstverständnis ist nicht elitär. Zwar hat er den Sumpf des Massenjournalismus verachtet und sich davon befreit. 7 9

wenn er ihm je gedient hat. Seine frühen Zeitungsarbeiten reichen von Stimmungsfeuilletons über die Chronik und das Fait-Divers zur Vorankündigung literarischer Neuerscheinungen, zu bemerkenswer­ ten literarischen Porträts und zu kurzen szenischen Skizzen mit kulturkritischer und sozialkritischer Tendenz. Es fällt auf, daß der junge Zola bis ins Kriegsjahr 1870 kaum einmal ausdrücklich politi­ sche Themen behandelt. Trotzdem ist das Ganze, das uns in dem Sammelband angeboten wird, mit dem Begriff dessen, was wir Feuil­ leton nennen, nicht zu fassen. Es ist indirekt weitaus politischer, als es sich auf den ersten Blick präsentiert. An dem Groschenblatt fürs Volk »Le petit Journal« hat Zola nicht lange mitarbeiten können. Er beginnt mit einer sentimentalen Chro­ nik zum Neujahrstag, an dem der Bourgeois den Armen dicke Sousstücke spendet. Die Larmoyanz der Schilderung eines armen Mädchens, das von hungernden und frierenden Eltern auf die Straße geschickt wird, weil die Reichen an diesem Tag so gut sind, kann die versteckte Kritik an dem schlechten Gewissen des Bürgers kaum verbergen. Danach fällt Zola etwas Satirisches ein, das bereits kaum mehr in das populäre Konzept schöner Illusionen, von denen das Blatt lebte, gepaßt haben dürfte. Er erfindet mitten im Karneval einen Mann, der die Fröhlichkeit, die es in Fiaussmanns Neu-Paris so wenig mehr gibt wie in den Vorstädten (Faubourgs), durch Anlernen und Mieten junger Männer zu organisieren sucht. Darin steckt die Satire auf die in der Entfremdung verkommene, künstlich von einem Entertainer hergestellte Illusion von geselliger Freude. Der FreudenUnternehmer Coquardeau hat mit seiner Organisation »Französische Fröhlichkeit pro Stunde für zwei Francs« bald 100 000 Franken Rente gemacht. »Laßt uns, traurige Leute und Brüder, das alte Lachen der Gallier begraben!« Das war auf das öde System des Zweiten Kaiserreichs gezielt, auch auf Jacques Offenbach, und brachte dem Anfänger, wenn schon nicht Leserbriefe, so doch den Abschied ein. Zola hatte erreicht, was er als Vorbedingung des Einstiegs in den Medienbetrieb erkannt hatte, als er bei Hachette Waschzettel schrieb, er war aufgefallen. Das nächste Blatt, in dem er mit einem regelmäßigen Dienst vertreten ist, heißt »L’Evènement«. Es ist der Vergessenheit durch eine Merkwürdigkeit entrisssen, die dem Freund und Kenner Cézannes bekannt ist. Das fast lebensgroße Porträt von Cézannes Vater, im Lehnstuhl Zeitung lesend, von 1868 zeigt deutlich auf dem entfalteten geknickten Zeitungsblatt den Titel »L’Evènement«. Das war eine Hommage des Malers an seinen besten Jugendfreund aus den Tagen in Aix und rund um die Montagne Sainte Victoire. Villemessant, der Gründer des konservativen »Le Figaro« (1854), 80

war der Typ des Verleger-Chefredakteurs der Gründerzeit und ver­ suchte mit »L’Evènement«, einem Titel aus dem Jahr 48, dem verach­ teten »Petit Journal« ein besseres bürgerliches Pendant entgegenzu­ setzen und dem kläglichen Groschenblatt einen Marktanteil abzuja­ gen. »L’Evènement« überdauerte zwar das Jahr 1866 nicht, weil es der Zensur zum Opfer fiel. In diesem Jahr aber konnte sich Zola die journalistischen Sporen, zunächst als Redakteur eines Literaturser­ vice, den der junge Mann selbst angeboten hat, verdienen. Zola lud sich die schier übermenschliche Aufgabe auf, die Leser des Blatts im voraus über die wichtigsten Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt zu informieren. Das war ein Etwas zwischen Verlagsanzeige und Kritik. Uber Taines Reisebuch Voyages en Italie, das der Kolumnen­ schreiber nur angelesen haben kann, heißt es treffsicher: »Er schafft eine neue Ästhetik der reinen Beobachtung und trägt über Michel­ angelo und Raffael Urteile vor, die unsere Hochschule der schönen Künste in Schrecken jagt. Ihre Schüler spenden Beifall, die Magister sind entsetzt.« Das war kühn, frech und traf ins Ziel. In einer andern Chronik tut er die Lyriker ab, womit er seine eigene Vergangenheit verwirft. »Ich habe in meiner Schublade einige hunderttausend Verse vergraben. Ich muß den jungen Dichtern sagen, daß ich ihnen sehr zugetan bin, aber ich muß hinzufügen, daß ich sehr streng mit ihnen sein muß, da ich den Mut habe, mich selbst abzuurteilen und zu verdammen.« Zu einem allzu philologischen Buch über Voltaire heißt es, es komme nicht darauf an, den Voltaire das Abitur noch einmal bestehen zu lassen, auch nicht darauf, ihn als Dichter, Philosoph, Historiker und Romancier zu würdigen, vielmehr gelte es, ihn als eine Kraft zu sehen, deren sich die Wahrheit als Werkzeug bedient habe, oder als eine Individualität, die die vollständigste und glänzend­ ste des glorreichen 18. Jahrhunderts war. Einem Monsieur Vapereau, der ein literarisches Jahrbuch zusam­ mengeschrieben hatte, verpaßt der kecke Chronist die Anmerkung: »Wissen Sie, welches Etikett er mir auf die Stirn geklebt und in welche Gesellschaft er mich versetzt hat: Vorzimmer- und Alkoven­ roman. Indiskrete Schilderungen. Als einzige verehrenswerte Gesel­ lin habe ich Mademoiselle Leonide Leblanc [eine Skandalschreiberin, die sich eines üblen Rufs erfreute]... Vielen Dank, Monsieur Vape­ reau!« Uber Jules Verne: »M. Jules Verne ist der >fantaisiste de la scienceFachidioten< Flistoriker. »Monsieur Arsène Houssaye ist ein Historiker besonderer Art. Man wirft ihm vor, die Phantasie in die Geschichte zu tragen. Ich persönlich sehe nichts Schlimmes darin. Ich nehme diese Geschichte des Salons und des Boudoirs gern an als Ausdruck eines eleganten, feinsinnigen Natu­ rells, das zu studieren sehr interessant ist.« Das wurde verstanden, wie es gemeint war, als schiere Ironie. Zola bewältigt auch anspruchsvolle Titel und Themen, zum Bei­ spiel über das Wörterbuch von Littré. Wie im Falle eines Schülers Comtes, eines Positivisten, nicht anders zu erwarten, kennt Zolas Lob keine Grenze, ist aber präzis und intelligent formuliert. »M. Littré kennt unsere Sprache auf wunderbare Weise, ihre Ursprünge und ihre Veränderungen. Er besitzt ein mächtiges Instrument, den ungeheuren Stoff wissenschaftlich zu gliedern... Littré ist der erste, der nach einer starren und fast mathematischen Methode sein Werk komponiert hat.« Ein anderer Beitrag des jungen Literaturberaters des »Evènement« betrifft wiederum Taine, dessen Theorie der Kritik Zola kurz zu resümieren versteht, wobei er sich nicht scheut, sich unter andern selbst einen früheren Gegner zu nennen, der Taine vorgeworfen habe, er verkenne, indem er den Künstler aus den Komponenten Herkunft, Umwelt, zeitgeschichtlicher Augenblick zusammensetze, das Persönlich-Individuelle. Ein erfundenes Gespräch, das der fünfundvierzigjährige Flaubert beim Besuch eines »Unsterblichen« der Akademie führt, sprüht von Witz und verbindet mit der satirischen Karikatur des Académicien treffliche Sätze über das analytische und darstellerische Genie Flauberts. So lernt man einen Zola kennen, den man vor der manchmal ausufernden Üppigkeit der Rougon Macquart kaum vermutet. Man versteht nicht, daß Goncourt, der den »Esprit« des i8. Jahrhunderts persönlich gepachtet zu haben glaubte, Zola diese französische Gabe des Geistes so ganz abgesprochen hat. Nachdem die feste Kolumne und das Fixum von 500 Franken im Evènement verloren waren, front Zola bei einem neuen populären Massenblatt, das sich »L’Evénement illustré« nennt, und erscheint in andern Blättern wie »Le Gaulois« als Mitarbeiter, worin er die Büchervorschau fortsetzen kann, oder »La Tribüne«, einem Blatt, in dem er regelmäßig Plaudereien über gesellschaftliche Ereignisse, ihren Stil und ihre Repräsentanten schreibt, und schließlich Raum für zwei vorzügliche Essays über Balzac und einen über Flaubert erhält. Neue oppositionelle Blätter wie »Le Rappel« und »La Cloche«, die nach der Lockerung der Pressegesetze 1868 neu gegründet wurden. 82

haben Zola Themen zur kritischen Behandlung überlassen, deren politischer Hintergrund denkenden Lesern klar war. Das war von 1868 an möglich. Was Zola vorher, Zeilen schindend, veröffentlicht hat, ist nicht selten billig sentimental oder pseudomondän. Er hat von diesen Dingen später Abstand genommen und sie gering einge­ schätzt. Wie selbstkritisch er die Situation und sich mitteninne sah, geht aus einem Beitrag in der »Tribüne« hervor, der im Januar 1869 erschien. Er spricht dort von den »Banalitäten des Journalismus«. Er skizziert die Generation, die das 48er Jahr bewußt erlebt hat, und nennt Taine, Flaubert, die Gebrüder Goncourt. »Aber wir, Söhne des Zweiten Kaiserreichs, wo sind unsere Werke?... Wo sind die Versprechungen von Männern meines Jahrgangs, auf welchen Anfängen kann man Vertrauen in die Zukunft bauen? Wir werden bald dreißig Jahre, wir hätten dem Land bereits sagen müssen: >Hier sind wir, wir werden wachsen, wir werden die Herren von Morgen sein.< Wenn eine Generation nicht mit dreißig ihren Hoffnungsschrei ausgestoßen hat, ist es erlaubt, an ihr zu verzweifeln. Ich suche in der Runde und sehe keinen einzigen meiner Jahrgangsgefährten, der die kräftige Hand hätte, sich des Erbes der Älteren zu bemächtigen... Ist es nicht offensichtlich, daß die Jugend noch heute ganz vereist ist durch die Ereignisse von 1852 [Staatsstreich und Beginn des Regimes des Louis Napoleon]. Damals hatten wir noch kaum das Alter der Vernunft erreicht. Als unser Geist erwachte, war die Presse stumm, das Denken geknebelt. Wir sind inmitten des Schweigens der Herzen und der Geister aufgewachsen und sahen uns auf materielle Ziele verwie­ sen, unkundig unserer eigenen Geschichte. An Stelle der alten Organe, die von Freiheit und Recht sprachen, fanden wir Klatsch­ blätter vor, die die Regierung als notwendige Ventile duldete. Und so kam es, daß die meisten unter uns in die Niederungen indiskreter Boudoirgeschichten hinabstiegen, weil wir nicht zu politischen Aus­ einandersetzungen aufsteigen konnten. Fast meine ganze Generation steckt in diesem dümmlichen Fieber einer Neugier, die nach kleinen Dingen der mondänen Chronik jagt, als ob das Heil der Welt von der Haarmode abhinge, welche diese und jene Dame beim letzten Tuilerienball getragen hat. Gewiß, es gibt edle und begeisterungsfähige Herzen. Aber ihre Erziehung ist abgeschlossen, sie sind nicht auf die Höhen der weiten Horizonte der Freiheit gelangt, sie haben Gesell­ schaftsberichte geschrieben, und ich fürchte, sie werden bis zu ihrem Tode damit fortfahren. Was der >kleine Journalismus< des Zweiten Kaiserreichs an Geist verschlungen hat, ist unberechenbar. Darum zögere ich nicht, zu erklären: wenn unser Hirn leer ist und unser Herz nur für die tausend Nichtigkeiten des eleganten Paris schlägt. 83

dann ist es die Schuld derer, die uns die hohen [!] Diskussionen verschlossen und uns in das Weibergeschwätz gewiesen haben. Wäh­ rend das Publikum sich an unsern Kapriolen ergötzte, haben Gaffer und Hampelmänner nicht daran gedacht, das Kaiserreich abzuurtei­ len. Ein andrer Grund der literarischen Unzulänglichkeit meiner Generation ist das geringe Maß von Liebe des Systems für die Literatur. Wir sind seine verdammten Kinder.« Diese Abrechnung mit dem Regime, sich selbst und seinesgleichen hat Zola herausgeschrien, als 1868 die Zügel der Unfreiheit gelockert wurden. Was immer er selbst zu den Nichtigkeiten des »kleinen Journalismus« beigesteuert haben mag, er ist für diesen Sumpf nicht verantwortlich zu machen. Er hat zwar an dem sentimentalen, indis­ kreten Geschreibe jener Jahre teil, aber er hat sich den kritischen Blick bewahrt und sich bereits durch drei Romane und einen Band Novellen als den ausgewiesen, der er werden wollte, einen freien Schriftsteller in der Unfreiheit.

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Vom Abenteurer zum Kaiser: Louis Napoleon

Um die Epoche, in die Zolas Kindheit und Entwicklungjahre fielen, wie in einem Brennspiegel zu sammeln, wenden wir uns einem Manne zu, der in seinem Charakter, seiner Herkunft und seinem abenteuerlichen Aufstieg zum zweiten Kaiser der Franzosen wie kaum ein anderer das Oben und Unten, das Schillernde, Fragwür­ dige, aber auch die massiven, politischen und sozialen Strömungen seiner Zeit vereinigt. Es ist Louis Napoleon, der wie ein Spieler zur Macht gelangte und den Staatsstreich vollführte, von dessen Folgen Zolas Hauptwerk, der Romanzyklus der Rougon-Macquart, inspi­ riert ist. Louis Napoleon Bonaparte war der dritte Sohn von Kaiser Napoleons Bruder Louis. Seine Mutter war eine Beauharnais, die durch ihre Liebesaffären, ihre Schönheit, ihre künstlerischen und schriftstellerischen Gaben berühmte und um ihrer intriganten priva­ ten und politischen Machenschaften willen berüchtigte Hortense, Königin von Holland (1806-1810). Hortenses Mutter Josephine, Napoleons erste Frau - die Ehe wurde 1809 wegen Kinderlosigkeit geschieden -, war eine Kreolin von der Insel Martinique, in erster Ehe mit einem Sproß aus altem französischem Adel, dem General Vicomte Alexandre de Beauharnais, verheiratet. Tochter Hortense hat ein paar Jahre ihrer frühen Kindheit auf Martinique verbracht. Als sie elf Jahre alt war, wurde ihr Vater, adliger Standesvertreter in der Nationalversammlung, dann General der Revolution, aufs Schaffott geschickt, weil er als Kommandant der Rheinarmee schuldig sein sollte an der Übergabe der Festung Mainz an die Alliierten (1803). Ihre Mutter Josephine Beauharnais saß derweil im Gefängnis, aus dem sie von Barras, einem Grafen aus dem französischen Süden, befreit wurde. Die schöne Kreolin, Mätresse des Barras und Witwe Beauharnais’, wurde 1796 die Frau des jungen ehrgeizigen Generals Bonaparte, des späteren Siegers von Lodi und Arcole gegen die Österreicher in Oberitalien. Napoleon hat Josephines Kinder aus erster Ehe adoptiert. Als Kaiser zwang er die zwanzigjährige Hor­ tense, 1803 seinen dritten Bruder Louis zu heiraten, der vier Jahre später König des eroberten Satellitenstaats Holland wurde. Hortense gebar ihrem ungeliebten Gemahl, einem griesgrämigen Querulanten, zwei Söhne und als Königin von Holland noch einen dritten, dessen eheliche Herkunft die Eingeweihten anzweifelten. Dieser schließlich allein überlebende, jüngste Sohn wurde als legitimer Sproß aus dem Hause Bonaparte anerkannt. Seine Mutter, die »kaiserlich« dachte und empfand, geriet mit dem König von Holland in heftigen Streit, 8 5

als dieser aus Loyalität zu »seinem Land« holländische Politik gegen die Kontinentalsperre und also gegen seinen Bruder, den Kaiser, zu machen wagte. Der königliche Gemahl wurde kurzerhand abgesetzt, Hortense, der der kaiserliche Adoptivvater die Scheidung untersagte, hatte als Regentin den Übergang zum direkten Anschluß Hollands an das Empire zu vollziehen und erhielt zum Lohn Jahresbezüge von 2 Millionen und endlich die Einwilligung in die Trennung. Nach Napoleons Rückkehr von Elba eilte Hortense zu dem Kaiser und Adoptivvater zurück, den sie in Malmaison rührend umsorgte. In der auf Waterloo folgenden zweiten Restauration wurde sie, da man ihre Unbeständigkeit haßte und ihre Gefährlichkeit fürchtete, ausgewie­ sen. Sie ist jahrelang heimatlos in Europa umhergezogen. Aix les Bains, Genf, Karlsruhe, Augsburg waren die Stationen, bis sie am Schweizer Ufer des Bodensees das Schloß Arenenberg entdeckte und kaufte. Dort sind ihre Söhne, deren älteren der Vater später zu sich holte, herangewachsen. Ihr Mann hat sie eine gebärfreudige Messalina genannt. Hortense, die wie ihre Mutter ihre Gunst vielen schenkte, hat sich in einer Epoche des wiederholten Umsturzes und in einer Umwelt, in der Macht, Frivolität, Intrigen die Szene beherrschten, tapfer für ihre Söhne und schließlich den einzigen, der ihr blieb, den späteren Kaiser Napoleon III. geschlagen. Louis Napoleon, wie er bis zur Inthronisation als Kaiser der Franzosen 1852 genannt wurde, ist von der Mutter her bestimmt. Das Ungestüm des politischen Ehrgeizes auf schwächster Ausgangsbasis, eine Portion Verschlagen­ heit, etwas Parvenühaftes, hohe Sensibilität bei einer gleichzeitigen auffälligen sinnlichen Trägheit, die Sucht, um jeden Preis zu den Großen dieser Welt zu gehören, charakterisieren Mutter und Sohn gleichermaßen. Der junge Mann auf Arenenberg bildet sich im nahen Thun in den militärischen Gebieten der Artillerie und des Pionierwesens aus, wird Schweizer Bürger und Offizier, interessiert sich oberflächlich für die sozialen Bedingungen der Umwelt, geht mehr aus Abenteuerdrang als aus Überzeugung mit dem Bruder nach Florenz, wo sich die italienische Unabhängigkeitsbewegung erneut rührt, wird gar Mit­ glied der Geheimorganisation der Carbonari und mit Mühe von der Mutter zurückgeholt. Der ältere Bruder stirbt 1831 in Italien, die einen sagen an den Masern, die andern, der Prinz sei ermordet worden. Als der Franz Joseph Karl, der als Sohn der Erzherzogin Marie Louise, Napoleons I. zweiter Frau, in Wien aufgewachsen und mit dem böhmischen Herzogtum Reichstadt ausstaffiert worden war (1832), an Tuberkulose stirbt, sieht sich der letzte lebende Neffe des Kaiser Louis Napoleon als ien Thronprätendenten der Bonaparti8

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sten. Mit 26 Jahren unternimmt er einen reichlich törichten ersten Putschversuch gegen das Regime des Julikönigs Louis Philippe aus dem Hause Orléans. Der dilettantische Versuch, die Straßburger Garnison zu gewinnen, scheitert kläglich. Hortense interveniert per­ sönlich bei dem französischen König, der den jungen Abenteurer mit einem Reisegeld von 16 000 Goldfranken nach Rio de Janeiro abschiebt. Bald taucht der Unstete in New York auf, wo er seine Vettern Murat trifft. Aus den Staaten wurde der Verbannte nach Arenenberg an das Sterbebett seiner Mutter Hortense zurückgerufen. Ein Jahr später, 1838, verläßt er die Schweiz, der er eine Loyalitätserklärung verwei­ gert hatte, und reist nach London, weil ihm, dem Anwärter auf die Nachfolge Napoleons, Frankreich untersagt war. In London, der Heimat so vieler politischer Flüchtlinge vom Kontinent, führt er ein aufwendiges Leben in mondänen Kreisen und bringt das Vermögen der Mutter unbekümmert durch. Zwei Jahre danach startet er ein neues Unternehmen, den Bürgerkönig aus der Linie Orléans, der nach der Julirevolution von 1830 auf den Bourbonen Karl X. gefolgt war, vom Thron zu stürzen. Er landet mit einer kleinen Gruppe von Anhängern in dem Seehafen Boulogne sur Mer im Pas de Calais am Ärmelkanal. Der Prinz wurde, kaum daß er französischen Boden betreten hatte, festgenommen, vor Gericht gestellt und diesmal zu lebenslänglicher Haft in der alten Festung Ham südlich Saint Quentin verurteilt. Die Haft war mild, zu mild, wie sich nach sechs Jahren zeigen sollte. Der Aufrührer hatte ein Reitpferd und konnte in einer Wohnung Gesinnungsfreunde, Militärs und politische Verschwörer, aber auch einige bedeutende Zeitgenossen empfangen. Er versuchte sich fit zu halten, tischlerte, schrieb ein Buch mit dem Titel Die Auslöschung der Armut^ worin er Gedanken des utopischen Sozialis­ mus Saint-Simons und Proudhons verwässert nachschrieb, und machte einer hübschen Büglerin zwei uneheliche Kinder. In Artikeln, die er in Provinzzeitungen unterbrachte, bekannte er sich mehrfach als Republikaner, was nicht ganz abwegig war, da er das restaurierte Königtum abschaffen und vom Volk durch Plebiszit zum Kaiser ausgerufen werden wollte, äußerte aber zugleich Zweifel, ob die Franzosen zur Republik geeignet seien, eine Meinung, die durchaus in die Situation paßte. Er korrespondierte mit dem mächtigen Mini­ ster Thiers, dem Gönner von Vater Zola, mit dem großen schwerkalibrigen Romantiker und Konservativen Chateaubriand, mit dem patriotisch-volkstümlichen Liederdichter Béranger, sogar mit dem Sozialisten Louis Blanc. Nach sechs Jahren Haft gelang Louis Napoleon die Flucht über Belgien nach London. Dort sammelte er wieder einen Kreis von 87

Leuten um sich, die Witterung für kommende Unruhen und Umwäl­ zungen hatten und sich davon eine Chance versprachen. Es waren politisch Heimatlose, vielfach Militärs, die nach ein paar Jahren Dienst in Algerien zurückgekehrt waren, oder solche, die den Dota­ tionen und dem Ruhm ihrer Dienstjahre unter den Fahnen Napole­ ons nachtrauerten, oder Abenteurer, die durch die Kämpfe um mehr Verfassungsrechte in den Institutionen zu Posten und Ehren zu kommen hofften. Der Kaiserneffe lebte auf großem Fuß. Zolas moralisierendes Grundmotiv der »grenzenlosen Begierden«, die das Zweite Kaiser­ reich entfesselt habe, hat in dem Londoner Treiben sein Vorspiel. In Miss Howard, einer jungen Kurtisane, fand er eine großzügige Geldgeberin. Kaum hatten die ersten Februarunruhen das morsche, durch Kor­ ruption und Skandale zermürbte Julikönigtum gestürzt, brach Louis Napoleon eilends auf und gelangte mit der Bahn nach Paris, wo die Barrikaden noch rauchten und der Dichter Lamartine Mühe hatte, in der Republik die Ordnung notdürftig wiederherzustellen. Großspu­ rig ließ Napoleon verlauten: »Ich unterstelle mich der Fahne der Republik.« Dann erfuhr er sehr rasch, daß der Aufstand noch keines­ wegs beendet war, daß die sozialen Fragen völlig ungelöst waren und sich Anarchie in der Hauptstadt breitmachte. Der Napoleonide war politisch gewitzt genug geworden, zu wissen, daß, wer immer jetzt eingriffe, sich verbrauchen müsse. Obwohl ihn seine Verschwörer­ freunde, voran der erst kürzlich aus der Haft entlassene Kumpan des Unternehmens Boulogne, Persigny, drängten, entschloß er sich, schleunigst Paris zu verlassen. Er kehrte nach London zurück und schrieb an die enttäuschten Freunde einen Brief, der dem Politiker Louis Bonaparte das Zeugnis politischer Intelligenz und taktischen Geschicks ausstellt. Aus dem Abenteurer schien ein politischer Kopf geworden zu sein. Zola, um dessen literarischen Kampf gegen das Zweite Kaiserreich es geht, scheint diese Seite in dem schillernden Charakterbild des Bonaparte gesehen zu haben. Der Neffe des Kaisers hat 1848 aus London an seine Getreuen in Paris geschrieben: »Mein lieber Persi­ gny, nach den Unternehmungen von Straßburg und Boulogne hat mir die arme und republikanische Klasse Sympathie bezeugt, während die reiche und monarchische Klasse mich als einen lächerlichen Thronan­ wärter hingestellt hat. Nun hat die Revolution mir gegenüber nicht die Meinungen, wohl aber die Interessen [!] dieser beiden Klassen verändert. Die Republikaner, die mich nicht mehr brauchen, sind meine Feinde geworden, obwohl sie mich schätzen, die andern sind meine Freunde geworden, während sie zugleich an meinen Chancen 8

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und Fähigkeiten zweifeln. Nur die Zeit kann diese Lage verän­ dern.« Das ist der künftige Präsident der Republik und Kaiser, dessen politischen Verstand der alternde Victor Hugo nicht erkannt, den Karl Marx aus guten Gründen gehaßt, den der Bürger Thiers gefürch­ tet und bekämpft und den Zola, wie seine Romane zeigen, bei aller Kritik an dem Charakter als ernstzunehmenden politischen Men­ schen erkannt hat. Louis Napoleon wartet in London ab, wo er sich kurioserweise als Polizist betätigt. Indessen stellen ihn die kleinen Gruppen, die auf ihn hoffen, als Kandidaten auf. Fünf Departements, darunter natürlich auch Korsika, wählen ihn und Paris wählt ihn mit iio ooo Stimmen, worunter sowohl Republikaner wie Legitimisten, Anhänger also einer Monarchie waren. Victor Hugo schreibt, das Volk habe Napo­ leon seit 1815 erwartet! Die Rechnung des Neffen ist aufgegangen. Diese Wahlen standen nicht mehr unter dem Zensus des Bürgerkö­ nigtums, das die Nichtbesitzenden praktisch von den politischen Bürgerrechten ausgeschlossen hatte. Bonapartes direkte Anhänger waren freilich noch gering an Zahl. Weder Bürger noch Republika­ ner, waren sie politisch Heimatlose, Militärs, die den glorreichen Zeiten und hohen Dotationen des Kaisers nachtrauerten, Abenteurer, die in den Kämpfen und Unruhen durch den Träger des Namens Napoleon zu Posten zu kommen hofften. Sie waren weder Eisen­ bahningenieure noch Landjunker oder Fabrikanten oder Bankiers. Doch das Potential, mit dessen Hilfe der Napoleonide Abgeordneter von Paris und in fünf Departements zugleich wurde, repräsentierte nicht so einheitlich das verschreckte Bürger- und Kleinbürgertum, wie Marx in seiner Schrift »Der 18. Brumaire des Louis Napoleon« es darstellt. Seine Wähler waren politisch aktive Gegner der BesitzBourgeoisie, Demokraten. Die Zweite Republik von 1848 hat der Privilegierung jener Bour­ geoisie ein Ende gesetzt, der Louis Philippe aus der Linie der Orléans, ein Sohn des Philippe Egalité, beim Antritt seines König­ tums zugerufen hatte: »Bereichert euch!« Das politische Mittel der Privilegierung war der Zensus, das heißt die Einschränkung des Wahlrechts auf einen bestimmten Einkommens- und Vermögens­ stand. Damit waren Kleinbürger, Handwerker und kleine Bauern von der Teilnahme an der Gesetzgebung ausgeschlossen. Zolas Vater hatte als Unternehmer und Ingenieur den Aufstieg in die vom Zensus bestimmte Bourgeoisie angestrebt. Aber François Zola war nicht französischer Staatsbürger gewesen. Sein Sohn Emile würde, da der Vater kein Vermögen hinterließ, nicht zum Wahlrecht gelangt sein, wenn die 48er Revolution es nicht allen Staatsangehörigen gegeben

und das Kaiserreich Napoleons III. es nicht nach dem Rückschlag einer erneuten Einschränkung wiederhergestellt hätte. Freilich hat das Diktatursystem das Parlament dann so entmachtet, daß das Stimmrecht praktisch kaum politische Bedeutung besaß. Der geradezu phantastische Aufstieg Louis Napoleons, der ihn bereits im Dezember des Révolutions]ahres 1848 durch direkte Volkswahl in das höchste Staatsamt des Präsidenten der Republik, ein Amt von erheblicher Machtfülle, gelangen ließ, ist zwei Umständen zu verdanken. Louis Napoleon wurde, wie er in dem zitierten Brief vorausgesagt hatte, von zwei politisch entgegengesetzten Lagern berufen. Die Mehrheit stellten diejenigen dar, die aus Furcht vor der sozialen Revolution sich gegen die Republikaner auf den vermeintlich schwächsten Kandidaten einigten, von dem sie die Verteidigung ihres Besitzes und ihrer Vorrechte erwartete, und andrerseits von einem beträchtlichen Teil des niederen Volkes, das von Louis Napoleon und seinen vagen Versprechungen volksfreundliche soziale Maßnahmen erwartete oder einfach nur der Magie des Namens erlag. Lamartine, Grévy, Ledru-Rollin, den Victor Hugo einen BastardDanton nannte, und andere Gegner einer neuen Diktatur, unter ihnen nun auch der Sozialist Proudhon, sehen voraus, was sein wird, wenn der »Prätendent«, der unter Beteuerungen, daß er nicht der Wiederhersteller des Kaisertums sein wolle, zum Präsidenten gewählt würde. Der Mann, der trotz Bedenken zuerst aussprach, daß man den Kretin Louis Napoleon wohl werde wählen müssen, um Schlimmeres zu verhüten, und daß man ihn dirigieren werde, war der kleine, viel verspottete, als Vertreter bürgerlicher Interessen noch immer mäch­ tige Advokat aus Marseille, Adolphe Thiers, vordem Minister jenes bürgerlichen Systems, das die Revolution von 1848 gestürzt hatte. Der Prinz-Präsident verlegte sich aufs Warten. Er besaß zwar beträchtliche Machtfülle, war aber gemäß der Verfassung nur vier Jahre im Amt. Die Minister, die er berief, gerieten alsbald mit dem Mann, der tiefe Unsicherheit in politischen Geschäften nicht verber­ gen konnte, in Konflikte. Der berühmte konservative Graf Toqueville, der einige Monate sein Außenminister war, bemerkte: »Ich war denn doch erschreckt, als ich bemerkte, daß in seinen [Louis Napole­ ons] Plänen etwas Unbestimmtes, Wahnhaftes, wenig Gewissen und viel Wirrwarr steckte.« Wie hätte es anders sein können, war seine Schulbildung doch stets eine Crux seiner Mutter und seiner Privatleh­ rer gewesen, die froh waren, wenn das Herrchen überhaupt dem Unterricht zuzuhören beliebte. Indessen erhielt der Präsident, der auf seine Besucher oft merkwürdig hinterhältig wirkte, vielerlei Ermun­ terungen und Ovationen, wo immer er sich in der Öffentlichkeit 90

zeigte. Truppenparaden waren eine beliebte Gelegenheit, an die glorreiche Zeit des Empires zu erinnern. Die ihn in exklusiven Clubs, bei Bällen oder großen Empfängen aus der Nähe kennenlernen, sind von seiner physischen Unscheinbarkeit und seinem unsicheren Auf­ treten betroffen. Man entrüstet sich darüber, daß der Präsident seine englische Mätresse Howard in der Nähe des Elysée-Palasts Wohnung nehmen läßt, und daß er sich mit ihr auf Reisen in die Provinz oder im Bois de Boulogne zeigt. Der Prinz ist, wie man weiß, auch sonst hinter hübschen Frauen her und bedient sich gern, wie im Falle der Howard, wo andere ältere Rechte haben, so der Maler Chassériau. Louis hat wie der große Onkel Ärger mit der schrecklichen Familie Bonaparte, vor allem mit seinem Neffen Napoleon-Jeröme, einem Sohn des »Königs von Westfalen« aus der »großen Zeit«, und mit Pierre Bonaparte, der ihm noch erhebliche Schwierigkeiten machen wird. Die Cousine Prinzessin Mathilde, eine Tochter jenes Jeröme, den die Deutschen als den König Lustik gekannt haben, hielt sich in Distanz, nachdem Gerüchte, der Prinz-Präsident werde die Cousine heiraten, sich als falsch erwiesen hatten. Prinzessin Mathilde hat während des Second Empire und danach in der Zeit der Dritten Republik einen literarischen Salon unterhalten, zu dem Edmond de Goncourt und gelegentlich auch Flaubert, Zola jedoch nie, ge­ hörten. Louis hat auch als Präsident Umgang mit ehemaligen Kumpanen seiner Putschversuche und der Haft, hält die Drängenden aber noch zurück. Ihm nähert sich in einer zunächst eher peinlichen Begegnung sein Halbbruder Morny, gewandter Geschäftemacher und Habitué in der Pariser eleganten Welt. Morny wird in Zolas politischstem Roman Son Excellence Rougon für einen Gegenspieler der Titelfigur Modell stehen. Politisch kommen die Dinge ganz im Sinne des auf seine Stunde wartenden Präsidenten in Fluß, als die Rechte in der Gesetzgebenden Versammlung töricht genug ist, das allgemeine Stimmrecht erneut zu beschneiden. Aus Furcht vor den andrängenden neuen Sozialschich­ ten und dem möglichen Anwachsen der republikanischen Stimmen setzt die rechte Mehrheit ein Gesetz durch, in dem das Wahlrecht an den Wohnort gebunden wird, dergestalt, daß einer mindestens sechs Monate wohnhaft sein müsse, um wählen zu können. Das bedeutete praktisch den Ausschluß vieler potentieller republikanischer Wähler, die durch die Industrie und die neuen Gewerbe in Mobilität geraten waren. Der Prinz-Präsident griff das Motiv sofort auf und ließ wissen, daß er immer ein Anhänger des allgemeinen und gleichen Wahlrechts gewesen sei und es zu bleiben gedenke. Teile der ent­ 9 1

täuschten Wähler fielen auf solche Machenschaften herein, ohne zu ahnen, daß der längst insgeheim mit dem Staatsstreich spielende Präsident sich bereits jetzt Stimmen zu sichern suchte, die er für ein Plebiszit zur Abschaffung der demokratischen Institutionen brau­ chen würde. Er konnte sicher sein, daß er die der Rechten dafür haben würde. Denn diese war, in Legitimisten, Orléanisten, gemä­ ßigte Republikaner, wie Thiers oder die Generäle Cavaignac und Changarnier, zerfallen und untereinander zerstritten. Sie stellte, wie Karl Marx, aber auch Proudhon und der zynische Präsident selbst, sagten, die Partei »der Ordnung« dar. In klugem Kalkül hatte Louis Napoleon bereits 1849 den französi­ schen General Oudinot mit einem Expeditionskorps dem bedrängten Papst Pius IX. gegen die Freischaren Garibaldis und jenes Orsini zu Hilfe geschickt, der zehn Jahre danach (1859) ein Attentat auf den Kaiser Napoleon unternehmen sollte, für das er mit seinem Kopf büßte. Alles, was Napoleon vor dem Staatsstreich politisch unter­ nahm, hatte den Beigeschmack von Zynismus. Immerhin war er um 1830 mit den jungen italienischen Kämpfern für die nationale Unab­ hängigkeit zu Felde gezogen. Als die Kardinäle Pius’ IX. es nach der »Befreiung« des Kirchenstaats mit der Verfolgung als liberal Verdäch­ tiger allzu arg trieben, ließ der französische Präsident sich liberal vernehmen. Was konnte man ihm glauben? Als dann in der Nacht vom I. auf den 2. Dezember der Staatsstreich gegen das Parlament lief und in den folgenden Tagen ungewiß war, ob eine Gegenaktion der Barrikaden und des Aufstands für die Republik und die Verfassung doch noch zustande käme, hielt der Hazardeur sich im Elysée zurück, wagte nicht, sich zu zeigen und ließ den Halbbruder Morny handeln. Es kam kaum zu Ansätzen der Verteidigung der Republik. Die Lage entschied sich durch einen Zufall zugunsten des Putsches. Während die Kürassiere und die Linienregimenter die Boulevards besetzt hielten, löste sich ein Schuß, dessen Ursprung nie hat ausge­ macht werden können. Daraufhin schoß die Truppe, nervös gewor­ den, in die unbewaffnete Menge der Schaulustigen. Das Blutbad, das angerichtet wurde, hat Angst und Entsetzen und einen Vorge­ schmack des Kommenden gegeben. Der Umsturz zugunsten des Napoleoniden war entschieden. Da der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 ein Eckpfeiler in Zolas Konzeption der Rougon-Macquart-Serie ist, gilt es dieses politische Ereignis festzuhalten. Das Datum bedeutet das Ende der Zweiten französischen Republik, die kaum drei Jahre (1848-1851) überlebt hat. Aus der Position der politischen Schwäche heraus wußte Louis Napoleon den Staatsapparat im Handstreich in seine Gewalt zu bringen und die Institutionen der demokratischen Republik zu 9 2

Popanzen auszuhöhlen. Wie war das möglich? Karl Marx hat in einer seiner interessantesten Schriften zur politischen Aktualität, die den ironischen Titel Der i8. Brumaire des Louis Napoleon trägt, die Groteske, daß der politisch Schwächste in dem Spiel um die Macht siegen konnte, auf die hysterische Angst der Bourgeoisie vor dem Ge­ spenst des Sozialismus zurückgeführt. Das träfe nur unter der Vor­ aussetzung zu, daß das Land mehrheitlich damals eine sozialistische Revolution gewollt habe. An Marx’ These ist richtig, daß die beiden Blöcke der monarchistischen Rechten und der bürgerlich-republika­ nischen Mitte sich im Parlament so blockierten, daß der politisch schwache Präsident Louis Napoleon obsiegen konnte. Der konnte die Enttäuschung der linken Demokraten darüber nutzen, daß eine konservative Mehrheit in der Nationalversammlung ein halbes Jahr, bevor Napoleon zuschlug, das Wahlrecht geändert hatte. Schließlich war der Bürgerkönig Louis-Philippe aus dem Hause Orléans am Zensus, das heißt der Beschränkung des Wahlrechts auf Vermögens­ grenzen 1848, gescheitert. Der einzige, der die Gefahr der Isolierung des Parlaments und der heraufziehenden Diktatur vor dem Abgeord­ netenhaus offen aussprach, war der Bürger Thiers, der denn auch, weil er allzu gefährlich schien, beim Staatsstreich sofort über die Grenze abgeschoben wurde. Louis Napoleon hat auch sonst mit taktischem Geschick operiert. Er hat als Oberbefehlshaber des Hee­ res Generäle wie Cavaignac, der die Aufstände der Linken 1848 blutig niedergeschlagen hatte, und den General Changarnier, beide der Republik gegenüber loyale Männer, rechtzeitig abberufen. Der durch den Verlust seines Vatererbes deklassierte Bürgersohn Emile Zola war zur Zeit des Staatsstreichs ein Junge von elf Jahren. Als Jüngling scheint er genug über die Situation unten im Volk und in der Provinz erfahren zu haben, um in seiner nach Begeisterungen hungernden Brust ein republikanisches Herz zu entdecken und aus dem Widerstand von Landleuten, kleinen Gewerbetreibenden und Arbeitern des benachbarten Departements Var gegen eine entwur­ zelte, ämter- und geldgierige, opportunistische Provinzbourgeoisie den Stoff zum ersten Band seiner Rougon-Macquart zu gewinnen. Kaum ein Jahr nach dem Staatsstreich am 2. Dezember 1851 ließ sich Louis Napoleon, inzwischen mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet dank den Wählerstimmen von links und von rechts, zum Kaiser der Franzosen ausrufen. Seine zweideutige Lage zwischen Volk und politischer Reaktion ist von Anbeginn offenkundig: Acht Jahre danach (1859) wird der »republikanische« Kaiser Napoleon IIL im Bunde mit Cavour das stockkonservative Österreich bei Magenta und Solferino aus der Lombardei bis zur Adria verdrängen und dafür Savoyen und Nizza von den Italienern als Gegenleistung kassieren. In 9 3

dieser erfolgreichen Aktion offenbarte sich in dem Neffen das politi­ sche Erbe des großen Oheims - und das war eher revolutionär als legitimistisch. Von seiner Geburt an war im Leben des Louis Napoleon manches zweifelhaft und miserabel. Dies in Verbindung mit dem Talmiglanz von großer Welt mit meist falschen Titeln prädestinierte ihn zum, wie man manchmal spöttisch sagte, »Kaiser der Republik Frankreich«. Das Phänomen dieser Karriere aus dem Beinahe-Nichts zu einer real­ irrealen Machtfülle hat etwas Kinohaftes. Kritische Zeitgenossen sahen in der Person dieses Kaisers und dem von ihm mit Pomp restaurierten Empire die überdimensionale Operette. Nicht zufällig hat Jacques Offenbach die zwanzig Jahre von 1851-1870 im Prozeß der gesellschaftlichen und politischen Umschichtungen am treffend­ sten illustriert. Das Second Empire, so dauerhaft seine wirtschaftli­ chen und technischen Realisationen waren und es in gewissem Umfang sogar bis heute sind, war eine Offenbachiade der Geschichte, ein Zwischenspiel voller Doppeldeutigkeit, Selbstparodie und Bril­ lanz. In der Umgebung des Prinzprätendenten und späteren Kaisers finden sich Figuren wie aus der Operette, etwa jener Herzog von Persigny, der einmal der Unteroffizier Fialin war, den man wegen republikanischer Umtriebe aus dem Heer geschaßt hatte, der sich danach als Journalist versucht und früh den Weg nach Arenenberg gefunden hat. An den dilettantischen Umsturzversuchen von Straß­ burg und Boulogne hatte Fialin sein gemessen Teil, in den achtundvierziger Wirren ließ er sich als bonapartistischen Abgeordneten in die Gesetzgebende Versammlung wählen, schwang sich dann geschickt zum Organisator der »Partei des Elysée-Palasts« auf und wurde einer der entscheidenden Männer des Staatsstreiches. Nach solchen Taten gelang es ihm, in den kaiserlichen Senat berufen zu werden. Von 1852 bis 1854 war er Innenminister und wurde es wieder 1860, nachdem er in der Zwischenzeit Botschafter Seiner kaiserlichen Majestät in London gewesen war, von wo er fünfzehn Jahre zuvor zu der wenig ruhmvollen Landung in Boulogne aufge­ brochen war. Der Kaiser, der in den sechziger Jahren schwere Probleme mit dem wachsenden inneren Widerstand bekam, ließ den brutalen Wahlmanager schließlich politisch fallen. Eine andere nicht minder schillernde Gestalt in Napoleons unmit­ telbarer Umgebung war sein Halbbruder Morny, ein Sohn der Hortense aus ihrer großen Liebe zu dem General Flahaut. Im Gegensatz zu Persigny war der Herzog von Morny elegant, nicht ohne Züge eines Herrn. Er hatte sich freilich erst, als Louis Präsident der Republik geworden war, zur Partei des Elysée-Palasts geschlagen und dank seiner guten Nerven am Staatsstreich entscheidenden Anteil. 94

Morny wird in Zolas Roman Der Bauch von Paris namentlich genannt. Einmal von einem apolitischen Spötter und Stutzer, der Skandalblätter liest, alles über die Bühnen weiß und Politik zynisch als Amüsement zur Kenntnis nimmt. Es sei ihm ein Genuß, provo­ ziert der Kerl, in den Sitzungsberichten der Gesetzgebenden Ver­ sammlung zu lesen, wie ihr Präsident Morny sich dort über die »Lumpen-Republikaner« lustig mache. In dem Roman Seine Exzellenz Eugène Rougon ist Morny mit leicht erkennbarer Namensänderung Marsy, der Gegenspieler Rougons. Im Leben war Morny einer der Mitbegründer des »Crédit Mobilier« der Brüder Pereire, eines der wichtigsten Bankinstitute zur Finanzierung des Eisenbahnbaus. Der Bankrott der Bank durch Spekulation mit Aktien hat das bestimmende Motiv in Zolas Roman L'Argent abgegeben. Zusammen mit dem Marschall Saint-Arnaud figuriert Morny in der Sittenchronik der Epoche. Zola hat davon durch die galanten Schlüsselromane des in der frivolen Materie kundi­ gen Schriftstellers Arsène Houssaye gewußt und sich darüber kurz vor Ausbruch des siebziger Krieges in der Zeitung »La Cloche« ausgelassen. Als Louis Napoleon zu regieren begann, spielten Parlament und Senat kaum mehr eine Rolle. Die drei Minister, die er sofort berief, waren ein Programm, der energische Rouher für die Justiz, der Zola außer Morny als Modell für Seine Exzellenz Eugène Rougon gedient hat, der Finanzfachmann und Industrieförderer Fould, der schon Louis Philippe beraten hatte, und der intrigante Stiefbruder Morny für Inneres. Victor Hugo, der sozialistische Abgeordnete Raspail, der ehemalige Minister Thiers, der widerspenstige General Changarnier, der sich der Entmachtung der Nationalversammlung entgegengestellt hatte, und viele namenlose Republikaner in den Provinzen kamen auf die Konskriptionslisten oder wurden deportiert, wenn sie nicht recht­ zeitig ins liberalere Belgien flohen. Das Vermögen der Dynastie Orléans wurde kurzerhand konfisziert. Unter großem Pomp fand in Saint-Cloud die Kaiserproklamation statt. Opportunisten drängten sich zu den wiederhergestellten hochdotierten Hofämtern, in Notre Dame erklang zum ersten Male der Hymnus »Salvum fac Ludovisum Napoleonem«. Es begann, was im Munde der Gegner die »Fastes Napoléoniennes« genannt wurde, die napoleonischen Prunkfeste. Im Januar 1853 fand die Hochzeit mit der Spanierin Eugenie statt, nachdem Versuche, in eine der großen ajten Dynastien einzuheiraten, fehlgeschlagen waren. Die strenge, betont kirchentreue, politisch ehrgeizige Kaiserin schenkte dem Thron einen Erben, für den sie im Bunde mit ultrakonservativen Kreisen auf den deutsch-französischen Krieg 1870/71 hinsteuerte. 9 5

Die Presse wurde im ersten Jahrzehnt einem komplizierten Lizenzund Kontrollsystem unterworfen. Die Anzahl liberaler Blätter wie etwa das sehr alte »Journal des Débats«, »L’Opinion nationale«, »Le Salut public« (Lyon), »Le Temps« fällt auf. Es hat immerhin auch einige republikanische Blätter wie »Le Siècle«, das sogar die größte Auflage und den besten Vertrieb in den Provinzen hatte, und »Le Progrès« gegeben, worin Jules Vallès, späterer Communard, zwei Jahre lang die politische Chronik schrieb. Die Regierungspresse war durch »Le Constitutionei« und den »Moniteur« vertreten. Auffällig die Zahl der Neugründungen oder der Umstellung vom Wochenblatt auf die Tageszeitung wie der »Figaro«. Typisch für die schwierige Lage kritischen Journalismus, war die Neugründung von reinen Informationsblättern, in denen Skandal, Klatsch und Fait-divers dominierten und Kritik allenfalls als gesellschaftliche Sittenschilde­ rung möglich war. Das neue große Massenblatt »Le Petit Journal« war unpolitisch. Der »Charivari«, noch heute durch die häufige Mitwirkung Daumiers bekannt, war eine Gründung nach der JuliRevolution und in der Richtung republikanisch-satirisch. Viele Spe­ zialblätter für »le Monde artistique« (Die Welt der Künstler) im weitesten Sinne berichteten regelmäßig über Bühnen, Ausstellungen und Literatur.

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Ein Minister im Räderwerk

In Zolas Romanen tritt der Kaiser dreimal persönlich auf. Einmal streift die Majestät während eines Balls in den Tuilerien die schöne Renée, Gattin des Spekulanten Saccard, mit einem seiner vielberede­ ten, umschleierten Blicke, die bei den betroffenen Damen bebendes Erschauern und bei den Umstehenden Neid oder Lüsternheit erregen (»Die Beute«). In Seine Exzellenz Eugène Rougon (1876), dem Roman um einen Minister, wird der Kaiser aus der Sicht der Zuschauer an den Seinekais bei der mit großem Pomp gefeierten Taufe des Thronfolgers auf einer in Purpur und Gold ausgeschlage­ nen Tribüne vor der Fassade von Notre Dame als Idol und Vater der Nation präsentiert. Aber das ist nur das Vorspiel. Das II. Kapitel des Romans »Seine Exzellenz» spielt im innersten Kreis der Macht, im Staatsrat der Minister. Mit auffälliger Behutsam­ keit inszeniert Zola einen politischen Entscheidungsvorgang von hoher prinzipieller Bedeutung und läßt dabei seine naturalistischen Programme beiseite. Zwar ist der Rougon, den wir in dem ihm gewidmeten Roman als einen bedeutenden politischen Kopf und Charakter kennen lernen, ein Sohn aus der schäbigen Familie Rougon in Plassans; er hat seiner ehrgeizigen Mutter durch Informationen aus der Hauptstadt den Wink gegeben, rechtzeitig auf die Linie des Louis Napoleon einzuschwenken. Auch hat dieser Rougon seinem Bruder, der sich, um seine anrüchige Existenz zu tarnen, Saccard nennt, diskret bei Grundstücksspekulationen geholfen {Die Beute), und läßt er aus politischen Erwägungen denselben Saccard fallen, als der sich durch Börsenspekulationen ruiniert hat {Das Geld). Aber das alles scheint nicht zu zählen, wenn Zola diesen Mann als Minister und politischen Partner des Kaisers vorführt. Dieser Rougon ist, wie die Zola-Philologie nachgewiesen hat, aus mehreren Gestalten der Geschichte kontaminiert, aus dem energischen Innenminister Rouher, den man wegen seiner Machtfülle den Vizekaiser nannte, aus dem General Espinasse, der nach dem Attentat Orsinis auf Napoleon III. 1859 Innenminister war, aus dem prinzipienstarren, erzbürgerli­ chen, aufrechten Guizot, der vor 1848 politisch die Richtung Thiers’ vertrat, aus dem grobschlächtigen Persigny und, wie der Zolaspezia­ list Mitterand ermittelte, »sogar aus Jules Favre«. Daß von dem Letztgenannten ein Anteil Charakter und politische Haltung in der literarischen Kunstfigur Rougon anzutreffen ist, verdient um so mehr Beachtung, als es kaum einen integereren Politiker des politischen Kompromisses in nationaler Notzeit gegeben hat als Jules Favre, war 9

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er es doch, dem Thiers nach der Niederlage von Sedan die Verhand­ lungen mit Bismarck auflud. Zola hat in seinen Rougon eine Summe von Realpolitik investiert und aus der Romanfigur zugleich eine Gestalt der Geschichte gemacht. Die Deutung, Rougon sei als klassisches Beispiel für die Besessenheit vom Willen zur politischen Macht konzipiert, ist zu einseitig, obwohl Äußerungen Zolas selbst sie nahezulegen scheinen. Nach seinem Aufstieg zu politischer Macht zeigt der kleine Provinz­ advokat bei offenkundiger Begabung und Leidenschaft zur Politik zugleich die Fähigkeit zur Zurückhaltung im Gebrauch der Macht. Wenn er um seiner Integrität und stiernackigen Energie willen gehaßt, durch Intrigen aus dem Spiel geworfen wird, vermag er sich zurückzuziehen und auf seine Stunde zu warten. Rougon steht nicht einmal für eine persönliche Bindung an den Usurpator, sondern für die Überzeugung, daß die soziale Gärung die Diktatur erfordert. Dabei weist der Mann, ohne blaß oder idealisiert zu wirken, kaum unedle Züge auf. Die Schmutzwelle der Korruption erfaßt ihn nicht, obwohl er seine Clique reichlich bedenkt. Er ist der Werbung der hochintelligenten und extravaganten Edelkokotte Clorinde gegen­ über, die Zola nach dem Bild der Nobeldame Virginia Castiglione gezeichnet hat, nicht unempfindlich. Da seine politische Leidenschaft stärker ist, verheiratet er sie mit einer seiner Kreaturen, dem albernen Staatsrat Delestang, den er zum Minister für Landwirtschaft macht. Dafür handelt sich Rougon, den Kraft, Nerven und unsentimentaler Wirklichkeitssinn auszeichnen, den Haß des Paares und dessen Rache ein. Rougon ist ein Pflichtmensch. Härte ist als politisches Mittel in seine Ordnungsvorstellungen einkalkuliert. Eher als der Genuß der Macht sind stoische Selbstbeherrschung und ein gewisses Maß von Menschenverachtung an ihm zu beobachten, welch letztere Nach­ sicht für schwache Naturen nicht ausschließt, einiger Humor sogar angesichts des allgemeinen Drängens zur Staatskrippe, Verachtung aber für die zahlreichen Intriganten am Hofe. Mit den ordensge­ schmückten, gefürsteten oder geadelten Lakaien von Saint Cloud hat der stiernackige Provenzale nichts gemein. Er tritt nicht selten kantig und unnachgiebig auf und scheut sich nicht, der Majestät zu wider­ sprechen. In der von Flaubert nicht geschätzten Vorrede, die Zola 1871 dem ersten Band seines Romanzyklus Les Rougon Macquart voransetzte, heißt es: »Seit drei Jahren sammelte ich die Dokumente für dieses große Werk, und der erste Band war sogar bereits geschrieben, als der Sturz Napoleons, dessen ich als Künstler bedurfte und den ich immer schicksalhaft als Ende des Dramas empfand, ohne ihn so nahe zu erhoffen, mir die schreckliche und notwendige Auflösung meines 98

Werks schenkte. Von heute an ist es vollständig. Es bewegt sich im geschlossenen Kreis. Es wird das Gemälde einer toten Herrschaft, einer merkwürdigen Epoche der Tollheit und der Schande.« Fünf Jahre nach diesen Sätzen, die Flaubert vielleicht auch darum nicht gefielen, weil sie Sedan in einen Triumph des literarischen Chronisten ummünzen, erschien Son Excellence Eugène Rougon, Wie vereinbart sich das Urteil »tote Herrschaft« mit dem Bild, das Zola von dem Minister und dem Kaiser selbst entwirft? Wir befragen das II. Kapitel, an dessen Ende Napoleon und sein Minister die Staatsraison an konkreten Fällen erörtern. Zolas Inszenierung ist meisterhaft: Anfahrt der Minister Rougon und Delestang in Beglei­ tung Clorindes. Anspielung auf ein Buch, das Delestang im Minister­ rat zur Sprache bringen will. Es heißt »Spinnabende bei Bauer Jacques« und enthält angeblich subversive Dinge über Sozialisierung, zum Beispiel des Bodens, ein pikantes Kapitel, da man weiß, daß der Monarch in seiner »revolutionären« Vergangenheit mit sozialisti­ schen Ideen kokettiert hat. Die versammelten Minister warten im Sitzungssaal des Schlosses von Saint Cloud auf die Majestät. Amüsiert erzählt man sich von einer Gesandtschaft aus dem Fernen Osten mit seltsamen Gewändern und noch seltsameren höfischen Sitten. Zola spielt auf ein berühmtes Gemälde Géromes »Empfang der siamesi­ schen Gesandten durch den Kaiser im Ballsaal des Schlosses Fontai­ nebleau«, heute im Museum von Versailles, an. Der Kaiser erscheint, man spricht zunächst von anmaßenden For­ derungen der Kammer zu größerer Budgetsparsamkeit und geht dann zu einer Denkschrift über die Stiftung eines neuen Adels über. Rougon, vom Kaiser um seine Meinung befragt, zeigt sich skeptisch, ironisch, erwähnt das neue Gleichheitsgefühl in der Gesellschaft und läßt spöttisch die Bemerkung fallen: »Alle Welt wird also Baron.« Einige neue Feindschaften sind ihm dafür gewiß. Danach spricht man von den Keckheiten des einzigen großen Blattes der Opposition »Le Siècle«. Zola wird in dieser republikanischen Zeitung den Roman als Feuilleton veröffentlichen. Die Majestät zeigt sich wieder einmal eher liberal. Die Sitzung scheint bereits beendet, als Rougon die Rede auf jenes subversive Buch bringt, von dem bei der Anfahrt zwischen ihm und dem Paar Delestang die Rede war. Die Stimmung unter den Ministern wird gereizt. Sie sehen die Gelegenheit, Rougon eine Schlappe zuzufügen. Vor allem der Günstling Delestang, Minister von Rougons Gnaden, macht sich für die »Spinnabende bei Bauer Jacques« stark. Rougon erwidert, das Pamphlet in Form ländlicher Unterhaltungen zwischen einem Neuerer und einem Dorfschullehrer enthalte Aufwiegelung zum Umsturz der bestehenden Ordnung unter Vortäuschung staatsfrommer Bewunderung der kaiserlichen 9 9

Institutionen. Delestang, der Gatte Clorindes, die ihn vor der Sitzung zum Widerspruch angestachelt hatte, macht sich beflissen zum Anwalt liberaler Milde. Rougon spricht gereizt von »kommunisti­ scher Theorie«. Rougon spürt und weiß, daß seine Ministerkollegen den Anlaß zum Generalangriff auf ihn, den Allzumächtigen, nutzen wollen und läßt sich zu einer Grundsatzrede hinreißen, in der er vor dem Mißbrauch der Freiheit der Presse warnt. Er habe den Auftrag übernommen, das System zu schützen. An den Kaiser gewandt, versteigt er sich zu Sätzen wie diesem: »Sire, im Namen der Nation flehe ich Sie an, ziehen Sie Ihre starke Hand nicht zurück... Schran­ kenlose Freiheit ist unmöglich in einem Lande, wo es eine Fraktion gibt, die in hartnäckiger Verstocktheit die grundlegenden Prinzipien der Regierung mißachtet. Man wird viele Jahre benötigen, bis die unumschränkte Macht sich alle unterworfen hat, bis sie die Erinne­ rung an die zurückliegenden Kämpfe im Gedächtnis ausgelöscht hat, bis sie über jede Diskussion so erhaben ist, daß man wieder über sie diskutieren darf.« Napoleon begreift sehr wohl, daß da ein, sein starker Mann, den er nach dem Attentat berufen hat, um seine Mission und seine Überzeugung kämpft. Der Leser der Szene spürt, daß der Monarch bereits entschieden haben könnte, daß Rougon fallen muß. Das Zögern des Monarchen ermutigt die Widersacher. Delestang setzt zum Angriff an, appelliert dreist an die Großzügig­ keit der Majestät, die er einem Gebäude vergleicht, zu dem sie selbst die Fundamente gelegt habe. Jetzt gehe es um die Krönung - durch großzügige Liberalität. Napoleon, wie stets lässig und undurchsich­ tig, schiebt eine Entscheidung hinaus, lädt die Runde zum Frühstück im Schloß ein und bittet Rougon zu einem Gespräch unter vier Augen. Die Situation ist zweideutig. Nachdem er im Kreise der Minister sich nicht offen erklärt hatte, spricht der Kaiser jetzt mit dem Manne, auf den er in jedem Falle zählen kann, vertraulich. Der Monarch zeigt sich hervorragend informiert, und dies nicht nur von Rougons Fein­ den im Palast, sondern besser und genauer von seiner Polizei. Er erwähnt, ohne selbst dazu Stellung zu nehmen, Übergriffe und Fehlhandlungen der Schützlinge des Ministers. Rougon läßt sich nicht in die Enge treiben, sondern verlangt, ausgerechnet in dieser Lage, provozierend für einen seiner wichtigsten Gefolgsleute, einen kompromittierten Präfekten, die Offiziersrosette der Ehrenlegion, für andere nicht minder zwielichtige Gestalten andere Gunstbeweise. Er kann dies tun, weil seine eigene Weste rein ist und weil mit der Bewilligung solcher Forderungen nur das geschähe, was ringsherum allgemein üblich ist. Jeder, der Macht hat - der Kaiser nicht ausge­ nommen -, verdankt sie den Geschenken und Gunstbeweisen an

seine Clique. Rougon spielt mit dem höchsten Einsatz, wohl wis­ send, daß Napoleon ihm nicht wird moralisch kommen können oder wollen. Louis Napoleons Reaktion lautet: »Ist das alles? Sie sind ein geradezu heroischer Schutzpatron. Ihre Freunde müssen Sie anbeten und lieben!« Rougons schneidende Antwort: »Nein, Sire, sie beten mich nicht an und sie lieben mich nicht, sie stützen mich.« Rougons Erwiderung ist von unerhörter Kühnheit. So kann nur ein Mann sprechen, der sich der Hofkamarilla nicht zu beugen bereit ist. Louis Napoleon muß sich an die Verbrechen erinnert fühlen, denen er das Imperium verdankt. Erneut besteht Rougon im Tête-à-tête darauf, daß der Monarch ihm volle Deckung im Kampf gegen die Anarchie, wie er die Opposi­ tionspolitik der fünf linken Republikaner im Parlament bezeichnet, gebe. »Herr Rougon«, sagt der Kaiser schließlich, »gehen Sie ohne Furcht vor, ich bin auf ihrer Seite.« Um die Härte dieses Zwiegesprächs mit einem halben Scherz abzuschließen, läßt Zola den Kaiser das Thema wechseln und auf die zu Beginn des Ministerrats besprochene Nobilitierung zurückkom­ men. »Sie billigen also nicht«, fragt er mit halber Stimme, »das vom Siegelbewahrer vorgeschlagene System der Nobilitierung? Ich hätte Ihre Zustimmung lebhaft gewünscht.« Dann fügt er, ohne eine Antwort abzuwarten, mit der ihm eigenen ruhigen Hartnäckigkeit hinzu: »Es eilt nicht. Ich warte, wenn es sein muß, zehn Jahre.« Unter dem Einfluß der italienischen Intrigantin und Liebhaberin Clorinde wird Napoleon schließlich bald nach dem Gespräch seinen unbequemen Innenminister entlassen, nachdem dieser durch seine »Clique« allzuschwer kompromittiert ist. Er wird unter dem Ein­ druck der Risiken, die mit der Liberalisierung des Regimes eintreten, Eugène Rougon, den Mann, auf den allein Verlaß ist, drei Jahre danach wieder ins Amt rufen. Rougon, der den Mechanismus, dessen Opfer er wurde, durchschaut, wird dem Ruf folgen und vor der Kammer eine sensationelle Rede halten. Diese Rede ist die Antwort auf einen Satz, den einer der fünf Abgeordneten der Opposition in das Halbrund zu rufen gewagt hatte: »Der 2. Dezember ist und war ein Verbrechen.« Wütende Rufe der Mehrheit erfüllen den Saal. Einer, ein typischer Opportunist und Profiteur des Systems, ruft immer wieder: »Er beleidigt den Kaiser. Er beleidigt Frankreich!« Der Präsident der Versammlung, der süffisante Marsy (Morny!), glättet mit einiger Mühe die Wogen und verschafft dem oppositionel­ len Redner wieder das Wort. Der erklärt gewisse Liberalisierungs­ dekrete für die schiere Augenwischerei. Sie seien seiner Meinung nach Betrug, solange die Ausnahmegesetze in Kraft, das System der von der Regierung aufgestellten Kandidaten für die Kammer und

die Willkürgesetze zur Knebelung der Presse nicht aufgehoben Was wird der neue Staatsminister, dem der Kaiser den Auftrag gegeben hat, das Regime samt den neuen Scheinfreiheiten zu verteidi­ gen, sagen? Wie wird er seine autoritären, aus tiefer Skepsis stammen­ den Grundüberzeugungen mit einem glaubhaften Bekenntnis zu den neuen »Freiheiten« vereinbaren? Wird Rougon lügen oder wird er die harte Faust zeigen, für die er bekannt ist? Die Situation ist politisch überaus brisant. Frankreich hat auf seiten des Piemontesen Cavour in Italien eingegriffen und Österreich aus der Lombardei hinausge­ drängt. Die Zweideutigkeit des französischen Kaiserreiches liegt offe­ ner denn je zutage. Eine Diktatur kämpft der italienischen nationalen und sozialen Freiheitsbewegung den Weg frei. Widerstand regt sich sowohl in Italien selbst von seiten der konservativ-klerikalen Kreise und dasselbe ereignet sich in Frankreich. Louis Napoleon, dem man nicht nur links, sondern auch rechts mißtraut, ruft Rougon (im Roman) und einen General in der historischen Wirklichkeit, um das Zweite Kaiserreich in dieser schwierigen Lage zusammenzuhalten. Wenn Zola nicht die volle Identität der Personen und Daten mit der Geschichte im Roman einhält, sondern auf den einen Minister Rougon die Funktion der Machtpolitik konzentriert, dann um der künstlerischen Abgehobenheit von der Chronik willen. Die histori­ sche Substanz der Situation und der Vorgänge ist im Roman konzen­ triert und überhöht enthalten. Rougon darf um der Wendung zu einem gewissen Opportunismus willen nicht als Zyniker mißdeutet werden. Im Sinne des Romanciers ist die zentrale Figur sich und der Überzeugung treu. Rougon versucht die durch die soziale Bewegung unvermeidlichen, schritt­ weisen Liberalisierungen mit der Staatsräson und der Staatssicherheit rhetorisch in Einklang zu bringen. Was er in der Rede vollbringt, ist nicht nur ein Glanzstück, sondern eine Umformulierung des autori­ tären Prinzips. Rougon gibt nichts preis. Die Freiheiten sind verlie­ hen (!), und die Aufsässigkeit der linken Republikaner beweist nur, wie sie sich getroffen fühlen, weil das Regime sich auf mehr Freiheit hin entwickelt. Das etwa ist der Tenor der Rede. Dieselben Abgeord­ neten, die Rougon aus Eifersucht auf seine Kraft und die Gradheit seiner Gesinnung vor drei Jahren aus dem Amt intrigiert hatten, jubeln ihm zu, und die Italienerin, die den Kaiser der Franzosen als Agentin Cavours beherrscht, kommt von der Tribüne herunter, um dem Manne, den sie nicht gewinnen konnte, die Hand zu geben und ihn wissen zu lassen: »Sie sind trotz allem eine hübsche Portion Kraft!« Zola legt seinem Rougon Sätze in den Mund, die der wirkliche

Minister Rouher in ähnlicher politischer Lage 1867 gesagt hat, nutzt aber auch Wendungen, die der wirkliche Minister Baroche im März 1861 gebraucht hat, um Unruhe von links und von rechts zu beschwichtigen. Die Anspielung auf das rote Gespenst aber ist einer Rede entnommen, die ein aufrechter linker Republikaner, der spätere Außenminister Thiers’, Jules Favre, damals gehalten hat. Dieser Mann hatte, obwohl zur Opposition gehörig, die rote Fahne bekämpft. In ihren Falten las er die verhaßten Worte Despotismus und Sklaverei, die er weder von der Straße noch vom Thron (!) her vernehmen wollte. Darf man, muß man diesen politischsten Roman Zolas politisch lesen und verstehen? Man darf und muß das Buch als literarisches Konzentrat der politischen Grundüberzeugungen des Autors verste­ hen. Zola war ein politischer Mensch. Paul Alexis, der treueste seiner jüngeren Schüler und Bewunderer, sein erster vom Meister selbst autorisierter Biograph, hat zu Son Excellence Eugène Rougon eine Anmerkung gemacht, die mit Sicherheit ohne Zolas Billigung nicht ausgesprochen und überliefert worden wäre. Sie besagt, daß der Minister Rougon des Romans Zola selbst sei, wenn er ins politische Geschäft eingestiegen wäre. Dieses Wort mag Kenner und Bewunde­ rer mit Skepsis erfüllen. Es ist mit einem Körnchen Salz zu verstehen. Immerhin wird man sich daran erinnern, daß der junge Zola in einer der kritischsten Perioden seines Lebens 1870, als der Krieg ihm Publizistik und Literatur als Lebensberuf fragwürdig werden ließ, ernsthaft sich um ein politisches Amt als Präfekt oder Unterpräfekt beworben hat, und daß er als Parlamentsberichterstatter in Bordeaux, dem Sitz der vorläufigen Regierung und in Versailles nicht nur ungewöhnliche politische Kenntnisse und Einsichten gesammelt hat, sondern sie als politischer Journalist direkt in die große Politik seiner Epoche eingebracht hat. Seine spätere Abkehr vom politischen Jour­ nalismus, seine tiefe Enttäuschung über die Wirklichkeit der parla­ mentarischen Demokratie besagen nichts gegen sein zeitlebens waches politisches Interesse und seinen politischen Blick. Hat man also den Roman des Ministers Rougon als eine Art politischen Schlüsselroman zu lesen? Davon kann keine Rede sein. Das Buch ist, obwohl nur wenige Zeitgenossen es voll zu würdigen wußten, einer der konzentriertesten Bände des Zyklus. Der Kern ist ein Schicksal, das eines ungewöhnlichen Menschen im Kontext der Macht. In den Notizen, die Zola, der wie sein Ingenieur-Vater in Entwürfen das Ganze und den Sinn ausformuliert, bevor er sich an die Aus.arbeitung setzt, lesen wir Sätze wie diesen: »Ich habe einen sehr schönen Typus, ich studiere das reine Drama einer Intelligenz. Das Moralische ist dem Intellektuellen untergeordnet. Ein Kopf, der 103

nur an sich selbst glaubt, keinerlei Glaube darüber hinaus, keine Sorge als die der Selbstverwirklichung; im Grunde die Überzeugung, daß alle Menschen entweder Dummköpfe oder Schurken sind... er (Rougon) bedient sich der andern.« Zola war in seiner macchiavellistischen Konzeption des politischen Stoffes Künstler genug und vom tragischen Grundgehalt jedes bedeutenden menschlichen Schicksals so durchdrungen, daß er seinen »Helden« nicht als Helden begriff. Je höher eine Gestalt organisiert ist, um so bedrohlicher stellt sich heraus, was Zola als »fêlure« bezeichnet. Zola ist, obwohl die meisten seiner Versuche, Dramen zu schreiben, fehlschlugen, ein Dramatiker gewesen. Er war in den besten seiner epischen Werke ein Tragiker. Rougons »Riss« (fêlure) war konkret seine Abhängigkeit von der Clique, die Zola »coterie« nennt. Diese wiederum ist nicht nur äußerlich zeitgeschichtlich und zufällig zu verstehen, sondern tief existentiell als Scheitern. In Zola steckte ein Schiller oder ein Hebbel oder ein Richard Wagner. Auf diese Verwandtschaft hat mit dem Spürsinn für das Existentielle kein Geringerer als Thomas Mann früh hingewiesen. Ein anderes Zitat aus den Entwürfen mag klären, was im Falle des Rougon konkret gemeint ist: »Damit sie, die Freunde und die Freunde dieser Freunde [die Coterie] etwas seien, muß er alles sein... Und bei der Auflösung am Ende werde ich [Zola] ihn vielleicht - das Werk ist erst im Entstehen! - ihn, den Starken von seiner Coterie aufgezehrt zeigen, erdrückt unter seinen Verantwor­ tungen, ausgeleert, fertiggemacht, vernichtet.« In diesem Ansatz scheint die Möglichkeit auf, daß Rougon als tragische Gestalt gesehen sein könnte. Doch ist Zola weltenweit von Schiller oder Corneille oder Victor Hugo entfernt. Das Verdikt über die Epoche des Zweiten Kaiserreichs bleibt unangefochten. Rougon, so männlich und stoisch er gesehen sein mag, hat einer schlechten Sache gedient, einem auf Verschleiß der Volkskräfte und Zynismus aufgebauten Regime. Diese Sicht verhindert aber nicht, daß Rougon im Räderwerk dieses Machtgebildes das Politische demonstriert. Der Staatsminister schließlich, der sich in einer großen Parlamentsrede jenem Liberalisierungsprozeß verschreibt, den er zuvor mit aller Kraft zu bremsen versucht hatte, ist kein Opportunist. Er ist auch entgegen dem Entwurf am Ende nicht fertiggemacht und vernichtet. Der Beifall freilich, den man ihm zollt, mag opportunistisch oder zynisch sein. Rougons Fall demonstriert den Fortgang des sozialen Prozesses, der daraus notwendig werdenden politischen Zugeständ­ nisse und den vorerst letzten Versuch des Politikers, eine neue Widerstandslinie aufzubauen. Wenn hier von Zynismus gesprochen werden soll, dann mit Bezug auf die Zweideutigkeit der Lage. Was Rougon schließlich erklärt, bedeutet die alte autoritäre Politik der 104

Macht mit neuen elastischeren Mitteln. Rougon wird, wie wir aus dem letzten Roman der Rougon-Macquart-Serie, dem Doktor Pascal erfahren, die Katastrophe von Sedan überleben, wie der Rouher der wirklichen Geschichte in der Kammer weiter als Bonapartist auftreten und trotz Verachtung ringsum im Parlament für das autoritäre Staatsprinzip einstehen. Mit diesem Roman und seiner Titelfigur hat der Autor keineswegs eine eigene politische Position direkt ausgedrückt. Zola hat aber nach dem Urteil französischer Historiker trotz der erheblichen literari­ schen Freiheiten, die er sich mit Chronologie und Handlungsführung nahm, die Grundkräfte der Epoche und ihre von Beginn datierende Krisenhaftigkeit aufgezeigt. Er hat ähnlich wie in der Beurteilung Thiers’ seinen Rougon als einen Menschen gesehen, der inmitten eines gegebenen Machtgefüges eine Vorstellung von Ordnung und Staat zu verwirklichen sucht und mit dieser Aufgabe zugleich sich selbst verwirklicht. In dem Streit um Zola, der bis heute nicht zur Ruhe kommt, ist erstaunlicherweise der Roman Son Excellence Eugène Rougon nicht oder kaum zur Lösung der vielberufenen Widersprüche im Werk, in der Person und im Leben herangezogen worden. Das ist um so verwunderlicher, als kaum ein anderes Werk klarer auf Max Webers inzwischen klassisch gewordene Unterscheidung von Gesinnungs­ und Verantwortungsethik gebracht werden kann. Der Minister Rou­ gon ist mehr als der Autor selbst in ihm hat sehen können, ein exemplarischer Fall von Verantwortungsethik mit zugleich starken Einschüben einer kraftvollen Sinnlichkeit. Zola selbst ist zeitlebens ein sinnlich-übersinnlicher Freier um das Leben und seine Wirklich­ keit gewesen. Sein Roman Nana bezieht seine Spannung daher, daß Zola Bourgeois und Mönch zugleich war. Nimmt man die von eiferndem sittlichem Rigorismus glühende Vorrede zum RomanZyklus der Rougon-Macquart abgetrennt von dem in vielen Farben schillernden Gesamtwerk, man würde kaum den Reichtum und die Spannungen vermuten, in denen der Autor gelebt hat. Der Nekrolog auf den Politiker und opportunistischen Taktiker Thiers (1878) scheint die Darstellung eines saturierten Bourgeois zu sein. Sieht man näher zu, dann kommt nicht so sehr der Bourgeois, sondern der Citoyen Thiers und mit ihm sein Schüler Zola zum Vorschein, jener Citoyen, der 1898 aus dem bürgerlichen Leben ausstieg und J’accuse schrieb. Liest man mit heutigen Augen Zolas soziale Romane L’As­ sommoir, Germinal und Le Travail, dann ist es ein Leichtes, sie sozialistisch zu sehen. Aber das soziale Motiv ist auch in diesen Büchern allenfalls die Dominante. Ohne das Element der in satten, wenn auch vielfach welken Farben gesehenen bürgerlichen Szenen 105

wären die genannten sozialen Fresken ideologische Schönfärberei und Vorläufer eines sozialistischen Realismus, von denen selbst engagierte Sozialisten heute lieber schweigen. Nicht einmal der zeitweise wütend eifernde Naturalist Zola ist frei von spiritualistischen Zügen, wie seine Priestergestalten, zumal der Roman Lourdes^ deutlich erweisen. Wer nun aber, um diesen Zola endlich auf einen Nenner zu bringen, ihn als Künstler autonom erklären wollte und ihm das politische Ingenium abspräche, würde sich in Widerspruch zu zwei Dritteln seines Werks begeben. Vollends hilflos sind die resignierten Schlußfolgerungen, zu denen manche Zola-Biographen kommen, die seine Widersprüche, sei es respektvoll, sei es ärgerlich, feststellen und es dabei bewenden lassen. Zolas Widersprüche sind die Widersprüche eines Lebens, das eine »vita activa« war. Die Frage ist, ob sie unreflektiert in Leben und Werk stehen geblieben sind. Die Antwort auf diese Frage kann nicht mit einem Begriff gegeben werden, weil der so weit sein müßte, daß er die schiere Leere aussagte.

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Zola greift an: »Mes Haines«

Der Titel, unter dem Zola 1866 gesammelte literarische und kunst­ kritische Aufsätze herausgab, sucht in der Weltliteratur seinesglei­ chen. Er ist unübersetzbar: Mes Haines (der Plural von Haine, der Haß). Das Erstaunlichste daran ist, daß er nicht hält, was er ver­ spricht. Nur ein Essai unter fünfzehn könnte allenfalls vom Haß oder von Feindschaft eingegeben sein, die Auseinandersetzung mit dem Roman Un Prêtre marié (ein verheirateter Priester) des katholisch­ konservativen Romanciers Barbey d’Aurevilly. Dieser Autor wird als »Catholique hystérique« vorgestellt. »Ich fühle dem Nervenkranken den Puls und ich stelle schwere Unordnungen fest. Hier liegt Miß­ brauch des Mystizismus und der Leidenschaft vor. Der Körper steht in Flammen und die Seele ist verrückt. Dieses exaltierte Wesen braucht Fleisch und Weihrauch... ein heiliger Antonius in voller Orgie mit gefesselten Händen die Augen zum Himmel gerichtet, auf den Lippen wilde Küsse und fanatische Gebete.« Danach folgt eine gewissenhafte literarische Auseinandersetzung mit dem Buch, das nicht zu den besten Barbeys zählt. Im übrigen enthält der Band u. a. den wichtigen Essay über Proudhon und Courbet, worin Zola mit Entschiedenheit dem »sozialistischen Demokraten« Proudhon das Recht bestreitet, die Kunst in die Dienste der Gesellschaft nehmen zu wollen, eine Interpretation des ersten naturalistischen Romans der Brüder Goncourt Germinie Lacerteux, eine, wie es im Vorwort heißt, »klinische Studie«, einen großen Aufsatz über Doré, den Zola als den erstaunlichsten Improvisator der Zeichenfeder feiert (»er sieht alles intuitiv und zeichnet Träume wie andere Wirkliches gestalten«), den kühnen und originellen Essay über den großen Historiker Hip­ polyte Taine, den er weniger als Wissenschaftler und Systematiker, denn als Künstler feiert, der auf der Grenze zweier Zeitalter stehe. »Er ist die reife Frucht jener Schule, die auf den Ruinen der Rhetorik und der Scholastik entstanden ist. Die neue Wissenschaft von Physio­ logie und Psychologie, Geschichte und Philosophie hat in ihm ihre volle Blüte erreicht. Er ist in unserer Epoche die höchste Manifesta­ tion unserer Neugierde, unseres Verlangens nach Analyse, unserer Begierden, alles auf den reinen Mechanismus der mathematischen Wissenschaften zurückzuführen. Als Literatur- und Kunstkritiker ist er der Zeitgenosse des Telegraphen und der Eisenbahnen. In unserem Industriezeitalter ist es, wenn die Maschine in allem der menschlichen Arbeit nachfolgt und sie ersetzt, nicht erstaunlich, daß M. Taine zu zeigen versucht, daß wir nur Räder sind, die auf Antriebe von außen 107

reagieren. Aber in ihm ist Protest, der Widerspruch des schwachen Menschen, der von der eisernen Zukunft, die er vorbereitet, erdrückt wird; er will die Kraft; er schaut zurück; beinahe trauert er um jene Zeiten, da der Mensch allein stark war und die Kraft des Körpers Königswürde verlieh. Wenn er vorausschaute, würde er den Men­ schen mehr und mehr gemindert sehen, er sähe das Individuum verblassen und in der Masse aufgehen, er sähe die Gesellschaft zu Frieden und Glück kommen, indem die Materie für sie arbeitet. Seine [Taines] ganze Künstlerart widerstrebt dieser Sicht auf Gemeinschaft und Brüderlichkeit. Er findet sich zwischen einer Vergangenheit, die er liebt, und einer Zukunft vor, der er nicht ins Gesicht zu sehen wagt, geschwächt bereits und der Kraft nachtrauernd und wider seinen Willen dem Irrwahn unseres Jahrhunderts gehorchend, alles wissen, alles auf Gleichungen reduzieren und alles den mächtigen mechanischen Kräften unterwerfen zu wollen, die die Welt verändern werden.« Diese erstaunliche kulturkritische Prophetie in einem geschichtli­ chen Augenblick, da man gerade zum Telegraphen und zur Dampfeisenbahn gelangt war, ist für Zolas Sensibilität und Intuition, aber auch für sein Temperament überaus bezeichnend. Mes Haines hätte wohl genauso gut »Meine Leidenschaften« heißen können, wenn das Wort »Passions« nicht ebenso vieldeutig wäre wie für uns Passionen. Auf das Titelblatt ließ er den Satz drucken »Wenn man mich fragt, was ich auf dieser Welt machen werde, dann antworte ich als Künst­ ler: Ich werde ganz hoch leben.« Das ist die eigentliche Meinung des Titels Mes Haines. Der Fünfundzwanzigjährige, der in solcher Erregung antrat, war eine Hochbegabung. Alphonse Daudet, der fünfzehn Jahre nach dem ersten Erscheinen die Neuausgabe bei Charpentier rezensierte, schrieb: »Was er >meine Hasse< nennt, sind schöne Anfälle von Zorn, Empörungen der Jugend, Schläge gegen Routine und Konvention. Für mehr als eine Seite könnte der Titel ganz einfach >meine Nerven< heißen.« Damit ist auf die Konstitution Zolas angespielt. In der Tat scheinen bei Zola geniale Gedankenblitze und Einsichten, die über die Stränge disziplinierten methodischen Denkens schlagen, nicht selten mit Erregungszuständen gekoppelt, die aus seiner physischen Anlage und den notvollen Erfahrungen seiner Jugend stammen. Auch der wohlwollende Kritiker der »Illustration« scheint etwas von der psychophysischen Verfassung des jungen Autors geahnt zu haben, als er anmerkt, der Satz »Ich kümmere mich kaum um Schönheit und Vollendung, ich will nur Leben, Kampf, Fieber« zwinge dazu, den Autor daran zu erinnern, daß Fieber Krankheit bedeute. In der Tat hat der als freundwillig beschriebene Zola nicht selten io8

Zeiten durchgemacht, in denen er das war, was er an andern scharf bemängelte: exaltiert. Zola hat die Exaltation nicht nur als Vorausset­ zung des Künstlers gesehen, sondern sie ins Werk selbst und in die Kunsttheorie einbezogen. So hat er sich dreißig Jahre später dem Nervenarzt Doktor Toulouse mit denselben Worten präsentiert, die er auf das Titelblatt seines Manifests Mes Haines geschrieben hatte, daß er immer »hoch gelebt« habe. Damit wird die »Exaltation« zum Programm und Kriterium von Kunst überhaupt. In dem heftigen Angriff auf Proudhon, der forderte, der Künstler habe als Individua­ lität hinter seinem Werk zu verschwinden, die Kunst habe der physischen und moralischen Vervollkommnung der menschlichen Art zu dienen, hat Zola Sätze von solcher rabiaten Heftigkeit geschrieben, daß sie das soziale Pathos der Rougon-Macquart in Frage stellen: »Ich [Moi, je] nehme als Grundsatz an, daß das Kunstwerk nur durch seine Ursprünglichkeit lebt. Ich muß in jedem Werk einen Menschen antreffen, oder das Werk läßt mich kalt. Ich opfere entschieden dem Künstler die Menschheit. Wenn ich das Kunstwerk zu formulieren hätte, würde ich sagen, ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament.« Zu diesem vielzitierten Satz merkt Musil in seinen Tagebüchern an, man könne ihn auch umdrehen: »Ein Stück Temperament auf die Natur blikkend«, die das Rechte träfe und sich mit dem Begriff Romantik deckte. Das weist auf die ästhetischen Probleme des Naturalismus voraus, insbesondere auf den Zyklus der Rougon-Macquart. Ähnlich dialektisch ist Zolas »exaltierte« Preisung Taines. Er feiert ihn als den analytischen Wissenschaftler und zugleich als Romanti­ ker, der mit den Maschinen und der Einheitsgesellschaft Künstlertum und individuelle Schöpferkraft untergehen sieht. Das produktive Leben Zolas ist von der Antinomie Künstler-Gesellschaft beherrscht. Eine Synthese war und ist dafür nicht zu finden. Zola hat diese Spannung bis zu Zerreißproben ausgehalten, die sich im Werk spie­ geln und aufheben. Das war 1866. Bald folgte die Ernüchterung. Die Zeitung »L’Evè­ nement« wurde im November 1866 verboten, weil sie entgegen dem Pressegesetz von 1852 einen politischen Kommentar zu Problemen des Theaterbaus gebracht hatte. Das damals gültige Pressegesetz gab Lizenzen für Unterhaltungsblätter und solche, denen unter Aufsicht die politische Kommentierung obrigkeitlicher Maßnahmen erlaubt war. Die Vermutung liegt nahe, daß der Verleger und Chefredakteur des »Evènement«, der zugleich Geschäftsführer des damals zweimal wöchentlich erscheinenden »Figaro« war, und mit ihm seine Redak­ teure Opfer einer Verwaltungsschikane wurden. Der tiefere Grund für das Verbot des Blatts kann in der Mißstimmung der Tuilerien 109

gesehen werden. Dazu dürfte auch die herausfordernde Sprache des jungen Zola beigetragen haben. Der Chef hatte den jungen Mann, der nicht nur die Jury in ungewohnter Sprache angegriffen, sondern auch seiner Wut über das Publikum des Salons freien Lauf gelassen hatte, gewarnt. Zola schien, wie die bald darauf erscheinende Buchausgabe von Mon Salon bewies - »Mon« war eher tollkühn als klug - zunächst ein wenig zurückzustecken, indem er versicherte, er spreche nicht für eine neue Malerschule oder -clique, und sich mit Malern befaßte, die zwar Realisten waren, aber immerhin seit Jahren ausstellten und vom Publikum akzeptiert waren: Courbet, Millet und Theodore Rous­ seau. Aber auch diese Berichte waren mit scharfen Attacken gegen die Eunuchen, die die Wände mit faden Bildern bedeckten, gepfeffert, so daß Villemessant dem jungen Mann den Auftrag entzog. Nach kaum zwei Monaten erschien Zolas Abschied eines Kunstkritikers. Darin überschüttet er mit sarkastischem Hohn Fromentin, der auch als Autor eines süffisanten Entsagungsromans {Dominique) ein gesell­ schaftlicher Erfolg war, und Gérome, dessen großes höfisches Gemälde »Empfang der siamesischen Gesandten durch den Kaiser in Schloß Fontainebleau«, ein Staatsauftrag für das Museum von Ver­ sailles, im Salon des vorangegangenen Jahrs 1865 Furore gemacht hatte. Man hat es 1979 als typisches höfisches Prunkbild im Grand Palais zu Paris in der Ausstellung »Kunst des Zweiten Kaiserreichs« bewundern können. Nachdem er die offiziellen Maler des Regimes ironisch kurz abgetan hat - »ich werde nicht von Herrn Fromentin reden und von der gewürzten Sauce, mit der er seine Malerei würzt. Übrigens weiß ich, daß Monsieur Fromentin der Gott des Tages ist« - feiert Zola Corot, dem er freilich den Rat nicht erspart, er möge seine Wälder künftig mit Bäuerinnen statt mit Nymphen bevölkern, feiert er mit Einschränkungen den Landschafter Daubigny und ohne Vorbehalt den armen Pissarro - »ich weiß, daß Sie mit großer Mühe zugelassen wurden« -, dessen so wahrhaftige Winterlandschaft dem Kritiker tiefen Eindruck gemacht hatte. »Sie sind ein großer Unge­ schickter, Monsieur. Sie sind ein Künstler, den ich liebe.« Dann endet Zola mit dem großen Pathos des Märtyrers, auf das er sich bis zu »J’accuse« meisterhaft verstanden hat. An seiner Ehrlichkeit und Tapferkeit gibt es keinen Zweifel. Es hat aber den Anschein, daß er sich, wenn denn die Sache verloren war, einen hochdramatischen Abgang hat verschaffen wollen. So legte er sich rasch noch mit den akkreditierten Kritikerkollegen an und verabschiedet sich: »Ich habe mich des Sakrilegs und Irrglaubens schuldig gemacht, weil ich inmit­ ten von Lüge und Mittelmaß Männer in der Masse der Eunuchen gesucht habe. Darum wurde ich verdammt!« Ob Zola seine Mitarbeit beim »Evénement« nach solchen Heraus-

forderungen noch lange hätte durchhalten können, darf man bezwei­ feln. Sein Verleger und Redaktionschef kann kein Unmensch gewesen sein, da er ihm einen Roman in Fortsetzungen zu drucken versprach, der so kümmerlich klischeehaft und schludrig gearbeitet ist, daß das Publikum ihn mit Grund nicht annahm. Er heißt Le voeux d'une Morte (Der Wunsch einer Toten). Man kann annehmen, daß Zola schwere Geldsorgen hatte und dieses Machwerk rasch zusammen­ schrieb. Es gehört in sein Persönlichkeitsbild, daß er eine fade, von Sentimentalität triefende Geschichte zustande brachte, obwohl er nach der Confession de Claude^ nach den Erzählungen für Ninon und vor allem nach seinen Literatur- und Kunstkritiken Mes Haines bereits einen Namen zu verlieren hatte. Wunsch einer Toten ent­ spricht einem Schema, das in Zolas Gesamtwerk nicht selten ist, die hoffnungslose Liebe eines vom Leben gebeutelten Furchtsamen zu einer Schutzbefohlenen. Das Buch, das alsbald ins Deutsche übersetzt wurde, liegt irgend­ wie in der Nähe des Trivialromans: Edler, gesellschaftlich deklassier­ ter und ungewandter junger Mann hat von einer Sterbenden vor Jahren den Auftrag, ein junges Mädchen aus bestem, aber durch einen rücksichtslosen und in der Ehe brutalen Vater bankrotten Hause davor zu bewahren, daß sich das Schicksal der Mutter an der Tochter wiederholt. Der gebildete, aber deklassierte junge Mann nimmt den Auftrag wahr, verfällt der kapriziösen jungen Dame in Liebe, sieht mit an, daß sie wie ihre Mutter falsch heiratet und unglücklich wird. Der Autor läßt den schlimmen Gatten ohne jede Motivation sterben, um der jungen Frau Gelegenheit zu geben, ihren edlen Retter zu lieben. Aber der, vom sozialen Unglück auch in der Liebe zum Martyrium vorbestimmt, wird von seinem arglosen besten Freund in der Gunst der Dame ausgestochen und stirbt an Kummer, nicht ohne das glückliche Paar sterbend gesegnet zu haben. Dies Konzept ist mit Zolas Kampf um Wahrheit, Sinnlichkeit und soziale Wirklichkeit nicht in Übereinstimmung zu bringen. Handelt es sich um einen Rückfall in pubertäre Wunschphantasien und in die Angst vor der Sexualität? Das Jahr 1867, das die letzte glanzvolle Weltausstellung in Paris und einen Höhepunkt der höfischen Prunkfeste in Gegenwart fast aller Potentaten und gekrönten Häupter der damaligen Welt brachte, war für Zola eines der schwierigsten. Er war zwar im Café Guerbois, dem Treffpunkt der ausjurierten Maler, ein gefeierter Mann, er konnte dem für ihn mit peinlichen Erinnerungen belasteten Quartier Latin entfliehen und in den damals noch ländlichen Batignolles nördlich der Gare Saint-Lazare schließlich mit Mutter und Gabrielle ein schlichtes Gartenhaus finden, wo die drei bieder kleinbürgerlich

Salat gossen und Karnickel hielten. Es ist in der Rue La Condamine nahe dem Clichy-Platz erhalten, wenn auch modisch herausgeputzt und durch Umbauung in seinem Charakter völlig verändert. Nach dem Verlust des Monatsfixums beim »Evènement« verlor Zola auch das große liberale Lyoner Blatt »Le Salut Public«, das ihm die mehr als zweijährige Mitarbeit aufgesagt hatte. Vermutlich war das indirekt auch eine Folge der aufsässigen Tonart, die Zola im Kampf gegen die offizielle Kunst des Regimes angeschlagen hatte, waren doch einige Beiträge in dem Sammelband Mes Haines zuerst in dem Lyoner Blatt erschienen. Es könnte sein, daß man in Lyon mit einem Manne keine Gemeinschaft mehr haben wollte, der in der Vorrede zu Mes Haines geschrieben hat: »Der Haß ist gesund... Haß erleichtert, schafft Gerechtigkeit und macht groß« und in der Vorrede zu Mon Salon seinem Freund Cézanne mitteilte, wie er unter dem Haß des Publi­ kums gelitten habe und daß »die Entmutigung ihm oft die Feder habe aus der Hand fallen lassen.« In Wahrheit ließ sich Zola in Widrigkeiten nicht entmutigen. Was er bei den beiden Frauen, der Mutter und der Geliebten, nicht fand, hat er in seinen jungen Jahren allemal bei Freunden gefunden, Aus­ sprache und Rückhalt, die er zurückgab. So hat ihm Marius Roux, ein Klassenkamerad aus seiner allerersten Schulzeit an der Pension Notre Dame in Aix, eine Verbindung zu dem Chefredakteur des »Messager de Provence« in Marseille verschafft. Daraus entstand die Auftragsar­ beit, die Zola, unbefangen wie er in journalistischen Dingen war, im Anklang an Eugène Sues Mystères de Paris als Mystères de Marseille betitelte und worin er handfeste spannende Gebrauchsware für tägli­ che Fortsetzungen lieferte, die aus Gerichtsberichten zusammenge­ schrieben waren. Wie es Ende 1866 und Anfang 1867 um Zolas Gemüt bestellt war, erhellt aus Briefen. An Valabrègue, den er zunächst wiederum wegen seiner Zagheit und provinziellen Versuche mit Stimmungsdichtung tadelt, bemerkt er über sich selbst: »Nichts geht voran und der Himmel der Zukunft ist besonders schwarz. An den letzten Sommer in Bennecourt-Gloton denke ich wie an das wahre goldene Zeitalter zurück. Das schöne Vertrauen und die schönen Pläne! Heute abend schreibe ich Ihnen angewidert vom Geruch der Tinte und sehe in mir einen Kretin. Man hat solche Niederbrüche und leidet sehr darunter. Was für Schläge, einer nach dem andern, und was für Zerrüttungen in der ehenden Maschine, als die ich mir vorkomme. Ich weiß schon nicht mehr, ob es der Bauch ist oder der Kopf, der mir solche Schmerzen macht... jeden Tag verändert sich meine literarische Lage. Ich muß in mehreren Blättern schreiben und das solideste Haus ist immer noch diese Baracke »Figaro«, deren Boden jeden Morgen unter meinen Füßen einzubre-

chen droht. Ich möchte, wie Sie es mir wünschen, ein ernsthaftes Werk, das mich trösten könnte, beginnen. Aber das Unglück ist, daß ich mir das im Augenblick nicht leisten kann. Ich muß Geld machen... ich weiß kaum, wie aus dieser Galeere entkommen, ich meine aus meinen Schwierigkeiten, denn ich will nie den Journalis­ mus ganz verlassen, der das stärkste Aktionsmittel ist, das ich kenne.« Alsbald aber heißt es mit einer für Zolas zähe Lebenskraft typi­ schen Wendung: »Ich habe meine Donnerstagsempfänge wieder auf­ genommen. Pissarro, Baille [der ehemalige Mitschüler vom Collège Bourbon in Aix], Solari, Georges Pajot [der Klassenkamerad vom Pariser Lycée Saint Louis] kommen jede Woche mit mir zusammen klagen, um sich über die harten Zeiten auszuweinen. Baille hat heute einen großen Sieg davongetragen: Er ist seit heute früh Preisträger des Instituts, sein Preis beträgt }000 Francs [es war der Bordin-Preis für Bailles naturwissenschaftliche Doktorarbeit]. Er schien mir verrückt, als er die gute Nachricht verkündete. Solari kratzt seine guten Götter [will sagen übernimmt jede Auftragsarbeit], er will heiraten. Sagen Sie Paul [Cézanne], er möge so bald wie möglich zurückkommen. Er wird etwas Mut in mein Leben bringen. Ich erwarte ihn wie einen Retter.« Der Brief beleuchtet die Situation. Immerhin scheint es den Zolas nach dem Winter insoweit besser ergangen zu sein, daß sie den Umzug in das ländliche Batignolles wagen konnten.



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Ein Triebverbrechen: Thérèse Raquin

In einer bescheidenen Wohnung, später in einem Vorstadthaus der Batignolles, entstanden zur gleichen Zeit zwei Romane, die man nach traditionellen Vorstellungen kaum ein und demselben Autor zuschreiben würde. Vormittags schrieb Zola seinen ersten vollgülti­ gen Roman Thérèse Raquin, am Nachmittag fronte er für den »Mes­ sager de Provence« die Mystères de Marseille, Vom ersteren schrieb er Valabrègue, den Cézanne als einen sensiblen Intellektuellen interes­ sant porträtiert hat, er glaube »coeur et chair« (Gefühl und Sinne) darin investiert zu haben, von dem andern sprach er, wenn über­ haupt, wegwerfend als hartem Broterwerb. Zola ist von dem Zeit­ punkt an, da er die Verse aufgab, als Schriftsteller bewußt doppelglei­ sig gefahren. Die Verlagslehre bei Hachette und die Erfahrung des Hungers haben ihn früh gewitzt. Ein Zyniker ist er darüber nicht geworden, obwohl er bis an gewisse Grenzen zu gehen bereit war. Er hat für den Markt geschrieben, er hat von den Massen, insbesondere auch von den neuen Menschen der Vorstädte, gelesen und verstanden werden wollen. Er hat Listen, ja Strategien angewandt, um das Leseinteresse und die Auflagen anzuheizen. Oft hat er den Skandal nicht nur nicht verschmäht, sondern geradezu gesucht, um ins öffent­ liche Gerede und ins kritische Gespräch zu kommen. Dabei war aber primär weniger Kalkül im Spiel als Leidenschaft. Thérèse Raquin ist eia Beweis dafür. Als die erste Auflage bei Lacroix unbeachtet zu bleiben drohte, reagierte Zola ohne Larmoyanz mit einem seiner besten, von Angriffslust blitzenden Ausfälle gegen Stumpfheit, Borniertheit und heuchlerische Moral. Der engli­ sche Zolakenner F. W. J. Hemmings schließt nicht aus, daß Zola mit seinem Kritikerkollegen Ulbach, der ihm ein paar Jahre später sehr hilfreich war, dessen heftigen Angriff auf die Unmoral des Romans im »Figaro« geradezu verabredet haben könnte. Damit soll nicht gesagt sein, daß dieser Mann, der beim »Figaro« die Literaturkritik leitete, ein Scheinmanöver veranstaltet habe. Wie dem auch gewesen sein mag, Zola fühlte sich durch Ulbach zu einer seiner brillantesten Vorreden zur zweiten Auflage angeregt, und er obsiegte. Das Buch erhitzte die Gemüter für und wider und wurde ein bescheidener Erfolg. Der Stoff war bereits von einem drittklassigen Schreiber in enger Anlehnung an einen sensationellen Justizfall behandelt worden, einen Mord, den ein ehebrecherisches Paar an dem Gatten der Frau verübt. Der Mord wird aufgedeckt und durch Hinrichtung gesühnt. Zola hat den Stoff durch den genialen Einfall, 114

das Mörderpaar unerkannt bleiben zu lassen, und es der Sühne zu entziehen, zu einem faszinierenden Stück Literatur gemacht. »In Thérèse Raquin habe ich Temperamente und nicht Charaktere studie­ ren wollen... ich habe Personen gewählt, die von ihren Nerven und ihren Trieben (sang) beherrscht werden, die überhaupt keinen freien Willen haben. Sie werden in jeder ihrer Aktionen durch ihre Sexuali­ tät (Zola sagt: von den »fatalités de leur chair«) geleitet. Seele fehlt da ganz. Das gebe ich leicht zu, denn ich habe es so gewollt... Jedes Kapitel ist eine Studie über einen interessanten Fall von Physiologie.« Solch provozierende These entsprang Zolas Studien über Physiolo­ gie, wie er sie damals bei Darwin, Claude Bernard und dem Doktor Lucas angetroffen hatte. Die Vorrede ist Zolas erste und fast die schärfste Formulierung dessen, was später als Naturalismus und Schule des Naturalismus die literarische Szene beherrschte. Es läuft auf den Anspruch hinaus, daß der naturalistische Roman analog dem naturwissenschaftlich medizinischen Experiment »experimentell« sei und zu sein habe. Zola weiß, wie die Vorrede beweist, daß man ihm das Herauspräparieren eingegrenzter experimenteller Labor-»Versuche« als unliterarisch vorwerfen wird. Er kontert: »Thérèse und Laurent sind menschliche Bestien, nichts mehr. Ich habe Schritt für Schritt in diesen Bestien die dumpfe Arbeit der Triebe, die Anstöße des Instinkts, die Zerrüttung des Gehirns als Folge einer Nervenkrise aufzudecken gesucht. Die Liebesvorgänge bei meinen beiden Helden sind die Befriedigung eines Bedürfnisses. Der Mord, den sie begehen, ist eine Folge ihres Ehebruchs. Sie nehmen ihn wie Wölfe, die Schafe töten, an. Was ich ihre Gewissensbisse zu nennen gezwungen war, besteht in einer einfachen organischen Störung, in einem Aufruhr der zum Zerreißen angespannten Nerven. Seele fehlt völlig... Man beginnt, hoffe ich, zu begreifen, daß mein Ziel vor allem ein wissen­ schaftliches war... Gegeben waren ein potenter Mann und eine unbefriedigte Frau. Zu suchen war nur das Tier in ihnen, sie waren in eine Gewalttat zu versetzen. Zu notieren waren die Empfindungen und Handlungen dieser Wesen. Ich habe an diesen beiden lebenden Körpern nur vorgenommen, was der Chirurg an Leichen anstellt.« Dafür habe er den Ruf, ein moralischer Kloakenfeger zu sein, auf sich gezogen. Der Vorwurf der Unmoral beweise aber bei einer wissenschaftlichen Analyse nichts. »Ich weiß nicht, ob mein Roman unmoralisch ist, ich bekenne, daß ich mir nie Gedanken gemacht habe, ihn mehr oder weniger keusch zu machen. Was ich weiß, ist, daß ich nie auch nur einen Augenblick lang daran gedacht habe, Sauereien in ihn zu packen, welche die moralischen Leute darin entdecken. Ich habe jede Szene, selbst die heißeste, nur mit der Neugierde des Gelehrten geschrieben; ich fordere meine Richter 1 1 5

heraus, darin eine Seite zu finden, die wirklich schlüpfrig wäre für Leser jener kleinen rosa Büchlein, die zehntausend Auflage machen und in jenen Journalen warm empfohlen werden, denen die Wahrhei­ ten der Thérèse Raquin Übelkeit bereiten.« Nach solchen und einigen anderen Angriffen auf eine verlogene Kritik, die sich angesichts naturalistisch-analytischer Literatur mora­ lisch entrüstet, erörtert Zola, taktisch nicht ungeschickt, die Möglich­ keit einer ernstzunehmenden Kritik an seinem Versuch. Er geht dabei so weit, eine Kritik, wie er sie sich wünschen möchte, selbst zu entwerfen. »Thérèse Raquin ist die Studie eines allzu extremen Falls. Das Drama modernen Lebens ist komplizierter, es ist weniger Hor­ ror und Irrsinn. Solche Fälle sollten in den Hintergrund eines Erzähl­ werks treten. Der Wunsch, nichts von seinen Beobachtungen auszu­ lassen, hat den Autor bewogen, jedes Detail in den Vordergrund zu treiben, was dem Ganzen noch mehr Härte und Sprödigkeit verliehen hat. Der Stil hat nicht die Einfachheit, die der Roman eines Analyti­ kers verlangt. Kurz und abschließend, der Schriftsteller müßte die Gesellschaft mit einem breiteren Spektrum erfassen, um einen guten Roman zu machen. Er müßte die Gesellschaft unter ihren vielfältigen und wechselnden Aspekten schildern und dabei eine klare natürliche Sprache schreiben.« Das ist der ganze Zola, ein bei aller Taktik engagierter Literat. Daß er zugleich daran dachte, seine Leser und die wohlwollenden Kritiker schon jetzt für das große Werk, das ihm durch den Kopf ging, zu gewinnen, liegt als Vermutung nahe. Es war die Zeit, als Zola für Manets großes Porträt saß. Zugleich waren es Jahre der journalisti­ schen Fronarbeit bei wechselnden Blättern. Zola hat die Hand in vielen Dingen des Journalismus und der Kunst. Er wirbt bei dem reichen Henry Houssaye um den Abdruck der Thérèse Raquin^ die zuvor »Un mariage d’amour« betitelt war. Er versucht seinem Verleger Lacroix Manet als Illustrator einer neuen Auflage seiner Jugendnovellen Contes à Ninon zu empfehlen, indem er auf den neuen Sensationserfolg von Manet, eine Privatausstellung in einer Baracke nahe der Almabrücke, eindringlich hinweist. Er schreibt parallel zu seinen Mystères de Marseilley deren Veröffentli­ chung in einem Marseiller Blatt er als »Dezentralisation« gegen den literarischen Wasserkopf Paris zu rechtfertigen sucht, ein Drama gleichen Titels. In zahlreichen Briefen mit seinem Aixer Schulfreund Marius Roux wird das mühsame Hin und Her und Auf und Ab deutlich, das nötig war, um durch den Marseiller Verleger Arnaud, der Zola 1870 noch überaus nützlich werden sollte, zu erreichen, daß der Theaterdirektor des »Gymnase« Bellevaut das Stück spielt. Die Umarbeitung für das Theater an der Cannebière erforderte mit 116

Rücksicht auf die Zensur erhebliche Änderungen. Die beiden Auto­ ren des Dramas verständigen sich, daß statt zweier Priester im Roman, eines guten und eines schlimmen, im Stück kein Pfaffe Vorkommen dürfe. Uber die Kirche, wenn sie überhaupt vorkomme, nur Gutes! Auch müsse die Affäre eines reichen Mannes, dessen Tochter 1823 mit einem Taugenichts dem Elternhaus entflohen war, im Stück namentlich und überhaupt nicht mehr durchscheinen. Zola, der in jener Zeit kaum einmal bei Kasse war, fuhr nach Marseille und berichtete dem Roux nach Paris komplizenhaft über die Aufführung, die unter zu großer Länge und miserablen Schauspielern gelitten hatte und schließlich auch durch Kürzungen nicht über sieben Aufführun­ gen hinwegzubringen war. Zola bleibt unermüdlich. Er hatte zuvor den Freund Roux, mit dem er wie mit kaum einem anderen über alle journalistischen Tricks und Schliche im Einverständnis war, angeregt, bei den Stadtbehörden von Aix zu intervenieren, daß der Plan, eine Straße nach dem Vater François zu benennen, verwirklicht werde. Ob der Sohn, der bei Gelegenheit seiner Theaterreise nach Marseille in Aix Station machte, sich selbst dieserhalb verwandt hat, ist unbe­ kannt. Mit dem ehemaligen Mitschüler Solari, dem Bildhauer, bestand gleichfalls in Paris reger Austausch. Da ging es um eine »Bacchantin«, die Zola später als das Werk eines Bildhauers Mahoudeau in dem Malerroman L'Œuvre beschreiben wird (»Brüste einer Riesin, Ober­ schenkel wie Türme«). Auch ist von einem Reliefbildnis, das Solari von der Gefährtin Gabrielle gemacht hat, die Rede. In einem Brief an Henry Houssaye, einen Kunstschriftsteller, Sohn des reichen Arsène Houssaye, eines Bauernsohns, der in Paris im Milieu der Leute vom Ballett und der Literatur bekannt und als Verleger des »Artiste« reich geworden war, versucht Zola, etwas für seinen Freund Manet zu tun. Der »Artiste« hatte die Olympia als Radierung abbilden wollen. Zola versucht, es dem mächtigen Boß auszureden, weil die graphische Ausführung mißlungen sei, und empfiehlt statt dessen Manets durch Baudelaires Gedicht berühmtes Bildnis der Lola de Valence zu erset­ zen. Das schlug fehl. Zola bleibt betriebsam. Immerhin konnte Thérèse Raquin in Houssayes »Artiste« in Fortsetzungen erscheinen. Die Clique - manche nennen sie Mafia, was übertrieben ist, weil sie durchweg arm waren und es lange blieben - unterstützte sich, half sich durch Querverbin­ dungen, wobei Zola es gelegentlich nicht verschmähte, Gegenseitig­ keit in Aussicht zu stellen. Ein Schlaglicht auf die oft mühseligen Hintergrundskämpfe um Publizität mag der Vorgang werfen, daß Zola in energischem Ton dem Kollegen Roux anbefahl, eine Meldung im »Figaro«, die Vergabe des Romans und Dramas Mystères de 1

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Marseille an eine Marseiller Zeitung und Bühne diene der Dezentrali­ sierung, müsse unbedingt in Marseiller Blättern mit der Angabe, daß der Pariser »Figaro« dies melde, nachgedruckt werden. Darauf zählt Roux, der Zola als Chef anzuerkennen scheint, entschuldigend vier Marseiller Blätter auf, nennt weitere zwei und meint, das genüge. Allzuviel Reklame könne schaden. Aus solchen und ähnlichen Details erhellt, wie energisch die Gruppe ihre Durchsetzung betrieben hat und wie illusionslos man sich in die Realitäten fügte. Die Kameraderie scheint darunter nicht gelitten zu haben. Häufig lädt Zola zum Essen ein. Das war nicht üppig, aber die Treffs erhielten die Kon­ takte. Sie endeten mit Teetrinken bis in die Nachtstunden. Wie der Zola dieser Jahre als journalistischer Freelancer auf Men­ schen wirkte, die gesellschaftlich über ihm standen, wird aus der Schilderung deutlich, welche die Brüder Goncourt ihrem Tagebuch anvertrauten. Sie ist ungekürzt zu Lebzeiten des Besuchers und der Besuchten im Druck erschienen. 14. Dezember 68 »Wir haben unsern Bewunderer und Schüler Zola zum Mittagessen gesehen. Es war das erste Mal, daß wir ihn zu Gesicht bekamen. Unser erster Eindruck war der eines gescheiterten Oberschülers [Normalien], robust und zart zugleich, stiernackig wie Sarcey [Thea­ terkritiker des >Tempsdie ich in diesem Augenblick in der »Tribüne« inmitten von Leuten, deren idiotische Ansichten ich anzu­ 118

nehmen gezwungen bin, schreiben muß, denn man muß es schon sagen, diese Regierung mit ihrer Gleichgültigkeit, ihrer Ahnungslo­ sigkeit gegenüber dem Talent und allem, was geschaffen wird, treibt uns in unserm Elend zu den Zeitungen der Opposition, den einzigen, die uns in Nahrung und Brot setzen. Es ist wahr, es gibt nur noch das. Ich habe so viele Feinde, das ist es. Es ist so hart, von sich reden zu müssenUnd dann, ich habe so viel nachzuforschen. Ja. Sie haben Recht, mein Roman entgleist; ich hätte nur drei Personen gebraucht. Aber ich werde Ihrem Rat folgen, ich werde mein Stück so umschreiben... und dann, wir sind die zuletzt Gekommenen, wir wissen, daß Sie unsere älteren Vorbilder sind, Flaubert und Sie. Selbst Ihre Feinde erkennen an, daß Sie Ihre Kunst selbst erfunden haben; sie glauben, das sei nichts; das ist esGesellschaftOkkupanten< überlassen worden. Ist mein Arbeitszimmer genommen worden? Hat man die Möbel beschlagnahmt oder sie nach oben geschafft, was nur durch die Fenster möglich gewesen wäre? Sind die Möbel, falls man sie unten gelassen hat, in gutem Zustand? Hat man meine Papiere in meinem Schreibtisch, in meiner Kartei und in meinem Sekretär respektiert? Hat man Geschirr zerbrochen? Hat man etwas geplündert oder mitgehen heißen?« Alexis konnte auf die besorgten Fragen des jungen Hausvaters beruhigende Auskünfte geben. Wenn der bissige Goncourt diesen Briefwechsel gekannt hätte, sein Journal würde sich vermutlich Bemerkungen nicht versagt haben, die denen aus späterer Zeit, da Zola in Médan auf großem Fuß, aber stets eher pedantisch sorgsam gelebt hat, ähnlich gelautet hätten. Der Kleinbürger Zola war, was man modern einen Aufsteiger nennt. Er hat sich zeitlebens durchbo­ xen müssen. Die gewisse Unbedenklichkeit, mit der er sich den Posten des Unterpräfekten ausgerechnet in Aix hat erobern wollen, wo er den Vater zu rehabilitieren bemüht war, ist die Kehrseite der Rückschläge, die er hat einstecken müssen. In dem Brief an Alexis, worin er jammert, wie er wohl sein »armes Kabinett« antreffen werde, in dem er mit so viel Glut seine Rougon-Macquart begonnen habe, zeigt er sich um eine Reiseerlaubnis für den Briefempfänger bemüht, die in den Wirren nicht zu erlangen war, und schickt den Getreuen zu Ulbach, dem Chef der »Cloche«. »Ich bin wieder einfacher Journalist«, stellt er trocken fest. Dann bricht die alte Unverdrossenheit durch: »Ich fühle eine Wiedergeburt. Wir sind die Männer von morgen, unser Tag kommt.« Da klingt bei allem Gegen­ satz der Charaktere etwas vom Geist des Balzacschen Rastignac an. Der Anfang des Großschriftstellers! Typisch, daß dieser Mann von geradezu fürchterlicher Energie dem Brief ein Postscriptum nach­ schickt: »Ich vergaß, François Favre, der Bürgermeister von Bati­ gnolles, kennt mich. Wir sind uns bei Hachette begegnet.« Zola hat nach seinen einsamen Jahren in den Mansarden des Quartiers Latin Kontakte außer mit seinen Schulkameraden aus Aix vor allem in den Bereichen der Verlage, des Journalismus und der freien Künstler gepflegt. Darin war er der Sohn seines Vaters, dessen man sich noch lange nach seinem frühen Tode erinnert hat. 1 5 4

So hat denn Zola von Mitte Februar bis Mitte März dank den kollegialen Beziehungen zu Ulbach nach dem Waffenstillstand über die Nationalversammlung, die im Theater von Bordeaux tagte, berichtet. Mit dem Sonderzug der Regierung reisen die Zolas um den 15. März in das zum Teil noch von preußischen Truppen besetzte Paris. Sie treffen das Haus im noch halbländlichen Viertel Batignolles unversehrt an. Zola kann, da das neue Parlament aus Furcht vor dem unruhigen Paris seinen Sitz in Versailles nahm, jeden Morgen vom Bahnhof Saint-Lazare nach Versailles fahren und über die Sitzungen gewissenhaft wie stets berichten. Vorsorglich hat er sich alsbald noch die Berichterstattung für den »Sémaphore de Marseille« verschafft, um materiell nicht auf einem Bein zu stehen. Diese Umsicht erwies sich als überaus nützlich. Bald nach der Rückkehr brach der Konflikt zwischen der Regie­ rung unter Thiers und der revolutionären Kommune in Paris aus. Nationalgarden und die Arbeiter der Vorstädte hatten in Nachwahlen gegen die Gemäßigten ein jakobinisch-sozialistisches Stadtregirrient mit teils utopisch-politischen, teils sozialistischen Zielen zur Herr­ schaft gebracht. Für etwa drei Monate kam es zum bewaffneten offenen Bürgerkrieg. Daß Zola mit andern Kollegen täglich im Jour­ nalistenzug zwischen den Fronten des blutigen Klassenkampfes hin und zurück pendelte, ist eine kuriose Arabeske. Wenig später sollte es sich dem Schriftsteller zeigen, wie gegenstandslos plötzlich sein und seiner Gesinnungsfreunde Kampf für eine freiheitliche Republik geworden zu sein schien. Die Blanqui und Genossen in der Führung der Kommune knüpften an Baboeuf an, dem es in der großen Revolution 1793 weder um Freiheit, noch um Emanzipation und schon gar nicht um Ideen und Ideale, sondern um die brutal reale Verwirklichung der Gleichheit, um die egalitäre Organisation von Besitz und Arbeit, um eine kontrollierte neue Gesellschaft ohne bürgerliche Restbestände gegangen war. Die Kommunarden, deren führender Kopf der alte Barrikadenkämpfer Blanqui war, legten Feuer nicht nur an die Tuilerien, sondern auch an die Bürgerpaläste, bauten gegen die Truppen MacMahons Barrikaden und töteten den Erzbischof von Paris, Darboy, den sie als Geisel genommen hatten, und andere Notablen. An den Grenzen zwischen Nationalgarden und Soldaten der Bourgeoisie wurde der schäbig gekleidete, bleiche und furchtsame Journalist Zola zweimal festgenommen. Er kam, ein nicht recht durchschaubarer Intellektueller, beide Male mit einiger Mühe frei. Dem Zugriff der Versailler wußte er sich nur mit knapper Not dadurch zu entziehen, daß er sich auf den Sohn des Unterrichts­ ministers Dimon berufen konnte, den er ausgerechnet in der Redak­ tion von »La Cloche« getroffen und kennengelernt hatte. 1 5 5

Als die Situation für einen mit der Eisenbahn zwischen den Bürger­ kriegsfronten pendelnden Journalisten bedrohlich wurde, zeichnete Zola seine Berichte nicht mehr namentlich. »La Cloche« wurde am i8. April von der Kommune verboten, weil das Blatt nicht revolutio­ när war. Um so eifriger setzte, da die Postverbindung nach dem Süden weiter funktionierte, als gebe es keinen Bürgerkrieg, Zola seine Berichterstattung in dem Marseiller Blatt fort, bis ihm der Boden in Paris zu heiß wurde. Der Wohlfahrtsausschuß fahndete nach Geiseln. Zolas Berichte waren in Paris natürlich gelesen worden. Kurioser­ weise gab es noch einen Weg aus Paris heraus nördlich über Saint Denis. Wehrfähige Männer konnten allerdings Paris nicht verlassen. Wie es Zola gelang, von im Osten der Stadt stehenden preußischen Truppen einen Paß zu erhalten, bleibt sein Geheimnis. Wer im Zweiten Weltkrieg ähnliche Situationen erlebt hat, darf vermuten, daß »La Cloche« am Schwarzmarkt solche Möglichkeiten besaß. Zola zog mit Weib und Mutter nach dem Weiler Gloton an der Seine zum Schmied, wo er Ende der sechziger Jahre mit seinen Malerfreunden und den Provenzalen Ferien fröhlicher Ausgelassenheit verlebt hatte. Das Merkwürdigste an dieser »Evakuierung« ist, das Zola dem »Sémaphore de Marseille« auch in der Zeit vom lo. Mai bis zum Ende des blutigen Straßenkampfs am 29. Mai regelmäßig Berichte über die Vorgänge hat geben können. In dieser kurzen Zeit sind nicht weniger als siebzehn ausführliche »Pariser Briefe« nach Marseille gelangt, die jeweils mit vier Tagen Abstand erschienen. Wie sich Zola, immerhin in 50 Kilometer Entfernung von der Hauptstadt, informiert hat, ist nicht auszumachen. Roger Ripoll, der sich der mühevollen Ermitt­ lung sämtlicher Zola-Beiträge an dem Marseiller Blatt in den Jahren 1871 bis 1877-es sind über tausend! - unterzogen und ihren Inhalt in Stichworten wiedergegeben hat, entdeckte einen Hinweis. Er fand in der Pariser Nationalbibliothek einen Brief, der von einem in Paris verbliebenen Onkel des Verlegers des »Sémaphore«, Barlatier, dessen Vater hatte wiederum Zolas Vater gekannt - stammt und Zola in seinem einsamen Feriendorf mit politischen und militärischen Nachrichten versorgte. Zola hat also die drei Monate Aufstand der Kommune zum größe­ ren Teil selbst miterlebt, die Blutwoche selbst aber außerhalb ver­ bracht. Sein politisches Urteil über dieses ungeheure Ereignis ist für das Gesamtbild des Mannes und für sein Werk von großer Bedeu­ tung. Der Bogen spannt sich von den journalistischen Augenzeugen­ berichten, insbesondere auch denen, die er nach dem Aufstand über die Aburteilung der Rädelsführer, die Massenexekutionen und die Deportationen geschrieben hat, bis hin zu dem großen Roman des Krieges von 1870/71 La Débâcle, den er nach über zwanzig Jah156

ren 1892 als vorletzten Band des Rougon-Macquart-Zyklus heraus­ bringt. Die Briefe aus Paris sind, abgesehen von der Registrierung und kurzen Inhaltsangaben, als Ganzes noch nicht veröffentlicht. Man kennt nur einzelne Stücke, darunter eines, das Zola in die Novellen­ sammlung Neue Erzählungen für Ninon aufgenommen hat. Darin, schildert er, wie er nach schweren Artilleriekämpfen zwischen den regulären Truppen Thiers’ und den Aufständischen die Porte Maillot und Neuilly angetroffen hat, Bilder voller Melancholie: die üppigen Fliederbüsche Ende April inmitten der Zerstörung ringsum, 4-5000 Flüchtende mit ihrer Flabe und neugierige Pariser Bummelanten, für deren Sensationslust der Beobachter verächtliche Worte findet. So hat er auch den Andrang der Schaulustigen zum Montmartre beschrie­ ben, wo man wie auf einem prächtigen Amphitheater von weitem die Schlacht zwischen Neuilly und Asnières beobachten konnte. Vor­ sichtig läßt Zola durchblicken, auf wessen Seite seine Sympathien sind. »Um fünf Uhr sind die Feindseligkeiten nicht wieder aufgenom­ men worden. Die Dauer des Waffenstillstands war wirklich zu kurz, und man scheint das in beiden Lagern begriffen zu haben. Bis zum Einbruch der Nacht haben sich die Föderierten [der Kommune] und die [regulären] Soldaten kaum hundert Schritte voneinander entfernt ruhig betrachtet. Ich kann Ihnen versichern, daß die Linientruppen weit davon entfernt sind, mit dem Aufruhr zu sympathisieren, wie die Kommune glauben machen will. Ich habe mich mit mehreren Offizieren und Soldaten auf Vorposten unterhalten; alle sind ent­ schlossen, die Dinge kraftvoll voranzutreiben. Ich mache mich auf eine schreckliche Schlacht gefaßt. Wenn die Föderierten entschlossen sind, auf den Wällen zu sterben, um die Stadt zu verteidigen, so verlangen die Soldaten [Thiers’] den äußersten Kampf, um sich dieser gräßlichen Sache zu entledigen und endlich nach Hause zurückkehren zu können, wo sie sehr schnell Preußen und die Kommune vergessen wollen.« Zu der schrecklichen, sehr blutigen Straßenschlacht kam es, nach­ dem die Kommune unter dem Druck von Scharfmachern nach dem Vorbild von 1793 einen Wohlfahrtsausschuß berufen hatte und Ban­ denterror vor dem Endkampf das Leben zur Hölle machte. Nach der Pariser Blutwoche vom 21.-29. Mai, in der die Aufstän­ dischen zu Tausenden von den einmarschierenden Truppen Thiers’ erschossen wurden, schrieb Zola im »Sémaphore de Marseille« fast gleichlautend, was man zwanzig Jahre danach in La Débâcle las: »Das Blutbad war eine schreckliche Notwendigkeit, um gewisse Fieber abzukühlen... Heute atmet Paris auf, und unsere Armee hat ihren militärischen Ruhm wiedergefunden« (»Sémaphore« vom 3. Juni 71). 157

In La Débâcle liest man es so: »Es war das gesunde, das vernünftige, das besonnene, bäuerliche Frankreich, das der Erde am nächsten geblieben war, welches den verrückten, rasenden, vom Kaiserreich verdorbenen, von Träumen und Lüsten heruntergekommenen Teil ausrottete... das Blutbad war notwendig, die schreckliche Opferung französischen Blutes, das Brandopfer lebendigen Fleisches im reini­ genden Feuer.« Wie immer man diese Sätze beurteilen mag, in denen ein Bürger­ krieg auf die Nenner gesund und krank gebracht wird, sie sind eindeutig und stimmen überein. Nach anfänglich zurückhaltenden Berichten, in denen zu einzelnen Beschlüssen der Kommune gele­ gentlich Zustimmung ausgedrückt ist, war Zola zu dem Urteil gekommen, daß die Aufständischen blind rasende Verrückte, Fie­ bernde, vom Kollektivwahn Befallene, ja Dekadente seien. Besonders die Häupter des Aufstands, darunter ehemalige Journalisten, die er gekannt hat, werden in Zolas Korrespondenzen hart hergenommen: Delescluze, ein Journalist, »alt geworden in hohlen Träumen, die die bestorganisierten Gehirne zerstören und aus harmlosen Träumern sehr gefährliche wilde Tiere werden lassen«, Miot, »ein alter Wahn­ befallener von 48 [!], der im Dunkel der Gefängnisse gelebt hat und sich wie eine Nachteule, die man in den hellen Tag läßt, die Stirn an allen Mauern stößt«, und andere, ähnlich düstere Kommunardenpor­ träts. Zola war angesichts dessen, was er in der Stadt nach dem Zusammenbruch des Aufruhrs erfuhr, vom Schrecken und Entsetzen erschüttert, fast gelähmt. Er hat Herz und Verständnis für die Mitläufer, die er zahme Leute, »vielleicht ein wenig hirnrissig« nennt. Die Anführer aber, mit Ausnahme Rossels, dem man keinen Pardon gewährte, hat er in ihrer Mehrzahl als Schurken bezeichnet, beson­ ders Rigault, der in den Berichten als »ein gefährlicher, herunterge­ kommener Geist« figuriert und einer der allergefährlichsten Irren werde, wenn er von der Theorie zur Anwendung übergeht. Uber das, was in der Kommune an Theorie vorhanden war oder gewesen sein könnte, erfährt Zolas Leser wenig oder nichts. Dies ist der Ansatzpunkt der Kritik von Marxisten, die, selbst wenn sie gemäßigt sind, Zola vorwerfen, er habe den Aufstand weder sozial noch politisch ins Auge gefaßt und sei ihm auch in dem Roman La Débâcle nicht gerecht geworden, indem er einen heruntergekomme­ nen Bürger und Überläufer zum Mittel- und Angelpunkt der Deu­ tung des Aufstands gemacht habe. Es gibt in der Tat zu dem Vorgang kein politisches Gesamturteil Zolas, es sei denn dies, daß er einige Führer aus der Zeit vor Sedan als politische Wirrköpfe und charakter­ lich untaugliche Leute kennengelernt habe. Kommune ist für den Epiker des Zusammenbruchs des Second Empire ein Cauchemar, ein 158

Angsttraum, eine Angelegenheit für Irrenärzte und Psychologen, eine Abirrung vom »gesunden Empfinden«, ein erschreckendes Mas­ senphänomen. Zola hat, was unbestritten ist, das Wüten der Ge­ richte, ihre Todes- und Deportationsurteile mit dem Motiv der Menschlichkeit beklagt und sich dafür eingesetzt, daß man nicht nur Milde und Gnade, sondern vor allem Gerechtigkeit walten lassen solle. Für den Maler Courbet, den großen Realisten, dessen Aktivitä­ ten als Vorsitzender des Kunstausschusses der Kommune und Orga­ nisator des Sturzes der Vendomesäule ihn vor die Gerichte gebracht hatte, verwandte Zola sich, nachdem der rote Mai vorüber war und Courbet im Gefängnis saß, wiederholt. Mehrfach hat er für die Freilassung des Mannes geschrieben. Mit Jules Vallès, dessen harte Jugend einige Verwandtschaft mit der Zolas aufwies, worüber man in Jacques Vingtras nachlesen kann, einem begabten Schriftsteller, der sich dem Todesurteil durch die Flucht hat entziehen können, hat Zola, nachdem Vallès nach der Amnestie 1880 zurückgekehrt war, mehrfach Kontakt gehabt. Er hat den Mann nach Médan eingeladen und ihm zu helfen gesucht. Politisch haben die beiden Männer einander freilich nach wie vor ferngestanden. Zola dachte bürgerlich, Vallès war Sozialist und überzeugt, daß die bürgerliche Gesellschaft ausgespielt habe. Er wurde Redakteur an der ersten französischen marxistischen Zeitung »Cri du peuple« und ist 1885 gestorben. In Goncourts Tagebüchern finden sich Anmerkungen, Zola habe Vallès zweiten Band Erinnerungen voreilig gelobt und dies Lob dann zurückgenommen, weil er sich nicht kompromittieren wollte. Was Zola im ersten Jahrzehnt der Dritten Republik politisch gedacht hat, ist konzentriert in einem Nekrolog auf Thiers enthalten, den er 1878 für den »Europäischen Boten«, eine russische, in St. Petersburg erscheinende Monatsschrift für die gebildete Oberschicht geschrieben hat. Dieser Aufsatz ist erst 1963 ins Französische rück­ übersetzt worden. »ThierSy Gründer der Dritten Republik« ist nicht nur ein Nekrolog und eine historische Würdigung, sondern ein umfassendes politisches Glaubensbekenntnis Zolas von einer Offen­ heit, die der mit journalistischen Finessen und Absicherungstricks vertraute Autor einem französischen Organ in dieser Direktheit vermutlich nicht anvertraut hätte. Um so wichtiger die Positionen und die Thesen.

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Thiers oder die Republik der Bürger

Zolas Nekrolog auf Thiers (1778) beginnt mit einer landsmännischen Solidaritätserklärung. Beide, Zola und Thiers, waren Provenzalen, Männer des Midi, Thiers die Inkarnation des rhetorisch gewandten Marseillers, beide liebten die politische Arena, waren mitteilungsfreudig und stolz auf ihre provenzalische Unabhängigkeit, die nach der regionalistischen politischen Mythologie erst spät unter den Pariser Zentralismus geraten sei. Politisch stellt Zola Thiers als den Prototyp des liberalen Bürgers und konservativen Republikaners vor. Sein großer politischer Impuls sei die Befreiung des Bürgers vom Feudalismus und den Privilegien des Adels und des Klerus gewesen. 1789 hat die Herrschaft des Bürgers vollbracht und festgeschrieben. Danach darf es keine weitere soziale Emanzipation geben. Thiers wollte, so schreibt Zola, die Tür verriegeln. Der liberale Bürger sollte nie von einer »demokratischen Flut« hinweggeschwemmt werden. Der das Jahrhundert durchzie­ hende große geschichtliche Gegensatz von Liberalismus und Demo­ kratismus wird scharf deutlich. Thiers, so heißt es mit Emphase, war immer ein Liberaler, der das höchste Glück mit der größtmöglichen sozialen und wirtschaftlichen Freiheit gleichsetzte »auf ewig und immer«. Thiers sei nie Jakobiner gewesen, wenn er auch, zumal unter dem Zweiten Kaiserreich, oppositionell war. Erst als der Liberale durch die Lehren von 1848 und 1870 erkannt hatte, daß jede Wieder­ herstellung einer Monarchie die bürgerliche Gesellschaft bedrohen würde, wurde er Republikaner. Zu Zeiten des Bürgerkönigs habe Thiers, der Louis Philippe in vielen Ministerämtern gedient hat, noch erklärt, die Republik sei in Frankreich unmöglich. Das war, wie Thiers durch den Staatsstreich und das Regime des Zweiten Kaiser­ reichs erkannt hatte, nicht länger gültig. So wurde er nach Sedan der Begründer und Verteidiger der Republik der Bürger gegen Reaktion und Versuche der Restauration. Gambettas Name fällt in dem langen Aufsatz nicht ein einziges Mal. Die Republik werde Bürgerherrschaft sein und bleiben. Wenn man sage, daß Thiers die Republik als Ausgleich für sein Ideal des Bürgerkönigtums nur hingenommen habe, dann sei das einseitig gesehen. Anständige Menschen sähen in Thiers den Patrioten, der nach Sedan das für Frankreich Klügste getan habe. »Ich [Zola] behaupte, daß Thiers, ganz gleich ob er die Macht oder Frankreich gewollt hat, im Laufe der ersten achtzig Jahre dieses Jahrhunderts - Thiers ist 1877 gestorben - eine totale Verände­ rung des liberalen Bürgertums zuwege gebracht hat.« Die Reaktion, 160

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29 April/Mai 1871 auf dem noch unbebauten Montmar­ tre. Artillerie der aufständischen Kommunarden. 31 McMahon, Sieger von Magenta, war der zweite Präsi­ dent der Republik.

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30 Gambetta: Nach Sedan radikalde­ mokratischer Re­ publikaner, Geg­ ner des Versöh­ nungsfriedens mit Preußen.

32 Thiers: Minister dreier Regime.

33 Während des Aufstands 1871 stürzten Kommunarden die mit Bronzere­ liefs geschmückte Säule, die von einem Standbild Napoleons als Cäsar gekrönt war. Im Vordergrund Barrikaden.

34 Die ausgebrannten Ruinen der Rue de Ri­ voli nach der blutigen Woche vom 21. bis 29. Mai 1871, in der der Aufstand der Kommu­ ne niedergeworfen wurde.

35 Die Stadt Versailles sie trägt die Gesichts­ züge Thiers’ - sabotiert den Postzug aus Paris mit Nachrichten vom Aufstand der Kommu­ ne. Karikatur von Daumier.

36 Honoré Daumier, „Die Republik“ (1848 in einem Wettbewerb entstanden) ist ein Meisterwerk monu­ mentaler politisch-hi­ storisch inspirierter Malerei; Louvre.

37 Ministerpräsident Thiers gießt roten und weißen Wein in ein Faß, dem französi­ schen Winzervolk ein Greuel. Karikatur von Gill, die Thiers’ innen­ politische Schaukelund Kompromißpoli­ tik kritisiert.

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◄ 38 Zola, Foto 1880. 39 Plakat von Theophile Steinlen (1859-1923) zur Uraufführung des dra­ matisierten Romans L’AssommoirimTheater an der Porte St. Martin.

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40 Edmond de Goncourt, Ro­ mancier, Verfasser von zwan­ zig Bänden Tagebuch über die literarische und mondäne Pariser Szene 1851-1896.

Großbürgertum, Adel, Großgrundbesitz, Klerus, gäben vor, daß mit Thiers’ Tod das Ende der Republik gekommen sei. Mit der schweren Wahlniederlage im Oktober 77 des konservativen Ministeriums des Herzogs von Broglie sei bereits eingetroffen, was er [Zola] ausgeführt habe, daß der Tod des großen Mannes die Republik nicht in Gefahr bringe. »Das Bürgertum sieht zu klar, wo seine Interessen liegen, als daß es die von Thiers vorgezeichnete Linie verändern würde. Darum nehme ich an, daß Thiers’ Tod nichts an den Ergebnissen der allgemeinen Wahlen ändern wird.« Thiers werde im öffentlichen Bewußtsein noch größer werden, wenn die von ihm gegründete Republik sich hält und die endgültige Regierungsform Frankreichs wird. Denn Thiers sei es gewesen, der Frankreich für immer vor seinen Thronprätendenten gerettet habe. Er hatte von Anfang an die neue Ära ganz begriffen, den Aufstieg der bürgerlichen Klasse zur Regierungsmacht, die bislang den Adligen und den Pfaffen gehört hatte. Thiers, als Erzbourgeois vielfach verketzert, hatte die blutige Unterdrückung der Kommune politisch zu verantworten. Zola war, als er den wohlwollenden Nekrolog schrieb, 37 Jahre alt und mit L'Assommoir in den vordersten Rang der damaligen Gegenwartslite­ ratur eingerückt. Er hat in seiner Laudatio Thiers’ die Republik als Herrschaftsinstrument der Bürger interpretiert. Bei dieser Deutung mag mitgesprochen haben, daß Zolas Vater von dem einflußreichen Thiers in den Jahren des Julikönigtums oft politische Unterstützung für seine öffentlichen Projekte erfahren hat. Immerhin fällt auf, daß Zola, was ihm als erfahrenem Journalisten möglich gewesen wäre, keine kritisch einschränkende Floskel in seine Darstellung eines Mannes einfließen läßt, der in seinem politischen Leben nicht nur Kompromisse, sondern auch opportunistisches Taktieren ausgiebig geübt hat. Nicht ohne Grund haben die Kommunarden sein Haus in Paris gestürmt, geplündert und zerstört, wie in Zolas Lettres de Paris ausführlich berichtet wurde. Nun wäre es irrig zu glauben, Zola sei ein Parteigenosse Thiers gewesen. In einem seiner bedeutendsten und glanzvollsten Essays Die Republik und die Literatur betitelt, mit der vieldiskutierten Studie über den experimentellen Roman veröffentlicht, hat Zola geschrie­ ben: »Ich hänge mit keinem Band an der politischen Welt und ich erwarte von der Regierung weder einen Posten noch eine Pension noch eine Anerkennung irgendwelcher Art... Ich bin ein Republika­ ner vom Vorabend. Damit will ich sagen, daß ich die republikani­ schen Gedanken in meinen Büchern und in Zeitungen verteidigt habe, als das Zweite Kaiserreich noch stand. Ich hätte mit von der Treibjagd sein können, wenn ich den geringsten politischen Ehrgeiz 161

gehabt hätte.« Das sind Worte, so klar wie herausfordernd. Zola hat gern provoziert. Er hat sich in dem Band mit dem Sammeltitel Le Roman expéri­ mental auch zu einem Thema geäußert, worin sein individuelles und soziales Selbstverständnis als Schriftsteller mit aller wünschenswerten Deutlichkeit und gelegentlicher Schärfe zu finden ist. Dieser Aufsatz ist dem Thema »Das Geld in der Literatur« gewidmet und überrascht noch heute durch seine kulturpolitische Aktualität. Gleichzeitig wird daraus das einigende Band des Selfmademan Zola zu dem Selfmade­ man Thiers ersichtlich, der als Haupt der republikanischen Opposi­ tion im Corps legislativ 1864 die fünf unabdingbaren Freiheiten ver­ langt hatte. Die Literatur und das Geld, ein Reizthema, wie man heute sagen würde. Zola, in einer Art Volkshochschuldiktion, doziert mit Tem­ perament; In der Feudalzeit war der Literat eine Art Kammerdiener an Höfen und Adelssitzen. Er wurde bekleidet, verköstigt und untergebracht und hatte im Salon zu unterhalten. Descartes wurde von seinem älteren Bruder, einem Manne aus dem Amtsadel, verach­ tet, La Fontaine mußte sich versprochene Gnadengeschenke mit Fabeln erdienen. Er war auf die Gunst der Damen in den Salons angewiesen. Das alles ist vorbei, mag auch der wackere, larmoyante Sainte-Beuve den schönen Zeiten der Adelsliteratur noch so sehr nachweinen. Die Literatur sei eine Ware geworden und sogar eine gelegentlich teure. Eugène Sue, Alexandre Dumas, Victor Hugo, sogar die wackere George Sand haben sich Vermögen erschrieben, manchmal, wenn sie sich die Bühne zu erobern wußten wie der Sohn Dumas oder Sardou, Millionen. Selbst der Fall Balzac beweise nicht das Gegenteil, denn seine Schulden stammten aus seinen unternehme­ rischen Versuchen, und es sei ihm immerhin gelungen, die Schulden mit Büchern zu bezahlen. Der Staat tat allenfalls einiges für verarmte große Figuren der Literatur wie Lamartine. Inzwischen haben wir die Situation, daß die Literatur einen Markt hat. Wem es gelingt, sich auf der Bühne einzunisten - Zola gelang es trotz lebenslanger Versuche nicht -, der verdiente das Zehnfache des Buchschriftstellers. Man klagt über den ausufernden Journalismus? Warum? Ist der Journalis­ mus, und sogar der Feuilletonismus für junge Talente nicht der Einstieg in die Literatur? Seit Literatur durch Verträge geregelt ist, indem der Autor ein vertraglich einklagbares Recht auf den Stück­ preis hat, ist das Geld die Garantie der Unabhängigkeit der Literatur. Was wären die Folgen, wenn die Klagen und Beschwerden junger angehender Schriftsteller Erfolg hätten, der Staat müsse ihren Start finanzieren? Hieße das nicht Jurys einsetzen, die mit Sicherheit das Mittelmaß prämieren würden? Seht euch doch die Monsterschauen 162

der bildenden Kunst an! Die Fülle mittelmäßiger Langeweile droht dort die wirklichen Talente zu erdrücken. Wer klagt über die billigen Groschenblätter? Sie sind Vorstufen zur Literatur, selbst wenn sie im gewerbsmäßigen Feuilletonismus verharren. Gewiß, es gibt die Gefahr billiger Massenware. Aber ernster ist die andere Gefahr, daß der fortschrittliche Schriftsteller in den Zwang gerät, ohne längere Pausen immer wieder am Markt zu erscheinen. Zola weiß es wohl, und die ihn kannten und seinen Aufstieg verfolgt haben, mußten wissen, daß er, der Vielschreiber, der Feuilletonist und Journalist zwischen politischer Information und Unterhaltung, wußte, wovon er sprach. Das alles hindert ihn nicht, das Geld als die Voraussetzung für die Unabhängigkeit der Literatur zu preisen. Zola spricht provo­ kant, wie er seit Mes Haines tat, dem Geld eine besondere Würde zu. »Welcher Autor von Rasse, will sagen von Vitalität und Durchhalte­ vermögen, hätte sein Talent im Journalismus verloren! Der Autor, der seine zehn und mehr mageren Jahre durchgestanden hat, kann es sich erlauben, aus dem Journalismus auszusteigen, es sei denn, er behält einen Fuß in den Zeitungen, um sein Wort zu den öffentlich ausgetragenen Kämpfen und Polemiken sagen zu können. Eine Lite­ ratur ist nur ein Produkt einer Gesellschaft. Unsere Gesellschaft ist demokratisch. Darum kann und wird es weder Subventionen noch Ausbildungsstätten für Autoren geben können.« Der Essay hatte zu seiner Zeit Zola vermutlich weniger Sympathien als Abneigung eingetragen. Dies, weil die Thesen allzu deutlich auf seinen eigenen Lebenserfolg zugeschnitten waren und wie das Dic­ tum eines Schulmeisters klingen. In Wahrheit hat Zola, der ein sehr dünnhäutiger, hochsensibler, unter Depressionen und Kümmernis­ sen Leidender war, mit seinem harten Monitum nichts anderes im Auge gehabt als die Literatur selbst, die für ihn nur die naturalistische war. Wenn er jungen Adepten eher abriet, dann um sie vor Illusionen und Schlimmerem zu bewahren. Daß sein Plädoyer für die Markt­ orientierung der Schriftstellerei Gestalten wie Baudelaire, Mallarmé auch seinen väterlichen Freund Flaubert einfach beiseite ließ, hat Zola vermutlich nicht einmal gesehen. Er hat oft aus dem Impuls heraus gehandelt und war von Herkunft und Wesen ein Einzelgänger. Er war auch, wie aus seinen frühen Briefen an die Freunde hervorgeht, ein Schulmeister. Um diejenigen, die sich ihm anschlossen, hat er sich immer gekümmert und mit deutlichen Ratschlägen, daß nur rastlose Arbeit endlich zum Lebenserfolg als Literat führen könne, aber auch mit konkreten Ratschlägen und Hilfen nicht gespart. Der Essay über das Geld in der Literatur hat aber mehr als zeitgeschichtliche Bedeutung. Er beantwortet indirekt, ob Zola je ein Sozialist hätte werden wollen und können. Das war schon sehr früh 1 6 3

durch seine Absage an Proudhons Entwurf einer Gesellschaft, die Kunst und Literatur in Dienst nehmen wollte, klar. Interessant im heutigen Sinne aber sind seine Darlegungen, weil sie noch nach hundert Jahren wirken, als seien sie heute geschrieben. Zola hat vorausgesehen, als von einer modernen Massengesellschaft, einer Industriegesellschaft in unserm Sinne noch nicht die Rede sein konnte, daß der Schriftsteller sich nicht abseits vom Markt und von dem, was das lesende Publikum aufzunehmen in der Lage und willens ist, halten kann. Er wußte, daß er ein Großschriftsteller war und daß er diesem Status seine Unabhängigkeit verdankte. Was man dem Vielschreiber Zola nicht selten vorgeworfen hat, seine hastige Doku­ mentation, die Verwendung von Reportagemethoden für den Roman, den Zynismus auch, mit dem er manches, das er einmal irgendwo geschrieben hatte, abtat - gehören in dieses Gesamtbild. Als Musil den Begriff Großschriftsteller prägte -■ er dürfte auf Tho­ mas Mann gemünzt gewesen sein -, waren auch Verbitterung und vielleicht auch Neid im Spiel. Aber der Begriff ist fruchtbar. Er deckt sich auch heute noch nicht mit dem ganzen Spektrum literarischer Produktion. Immerhin ist sein Inhalt von Zola in geradezu verblüf­ fend nüchterner Voraussicht mit Sinn gefüllt worden. Die Situation Zolas läßt sich auf den gegenwärtigen Schriftsteller und seine Lage zwischen den Medien ohne weiteres übertragen. Der Programmaufsatz »Die Republik und die Literatur«^ der Zola auf einem ersten Höhepunkt seiner öffentlichen politischen Geltung zeigt, erschien auf französisch am 20. April 1879 in der literarischen Sonntagsbeilage des »Figaro« gleichzeitig mit der russischen Überset­ zung im »Boten Europas« in Sankt Petersburg. Er bezeichnet die äußerste, vorgeschobene Position des Naturalisten Zola und seiner Schule im politischen Raum. Die These ist sehr aggressiv und besagt, daß die Praxis der drei Republiken bislang literaturfeindlich gewesen sei. Dabei wird unterstellt, daß die Republik als demokratisches System sich nur dann auf Dauer etablieren könne, wenn sie die Rationalität ihrer Legitimation und ihres Herrschaftsanspruchs in Einklang mit dem Geist und den Ergebnissen der positiven Wissen­ schaften bringt. In diesem Zusammenhang gebraucht Zola den Begriff der politischen Wissenschaft. Sein Essay ist wie der über das Geld in der Literatur ein Meister­ werk aufklärerischer Unterweisung, die jedermann verstehen konnte. Zola geht von der Feststellung aus, daß die Republik aus der schwie­ rigen Inkubationszeit nach dem Untergang des Zweiten Kaiserreichs herausgetreten sei, obwohl die Tendenzen der monarchistischen Restauration noch keineswegs überwunden waren. Das Drama des Aufstands der Kommune und deren gewaltsame Unterdrückung 164

hätten die Republikanische Regierung eher gestärkt als erschüttert. Solcher Pragmatismus mag manchem zynisch erscheinen. Er ist die Konsequenz aus Zolas Grundverständnis des Wirklichen, die Politik eingeschlossen. Eine Republik entstehe nicht nach Maximen allein und durch Doktrinen. Das habe der Terror von 1793 bewiesen. Thiers habe gesagt, Frankreich werde den Klügsten gehören. Was die politische Romantik vor 1848 als Freiheitsparole verbreitet habe, sei Rhetorik gewesen. Darum sei 1848 noch keine Republik möglich gewesen. Die Republik sei eine Sache der langsamen und stetigen Entwicklung. Sie sei nicht nach mathematischem Kalkül zu machen, weil sie es mit Menschen zu tun haben. Wie aber die Menschen sich durch Milieu, Institutionen und Gewohnheiten entwickeln, so ent­ stehe langsam die Republik als »condition même d’existence«, als allgemeine Lebensbedingung. Dieser Prozeß habe inzwischen achtzig Jahre und mehr in Frankreich gebraucht und sei reif. Die hundert Jahre, die seitdem vergangen sind, haben Zola glänzend recht gege­ ben. Royalistische Gruppierungen oder Tendenzen spielen in Frank­ reich, einem noch immer konservativen Land, allenfalls noch die Rolle von Erinnerung und Tradition in exklusiven Clubs oder auf einsamen Herrensitzen. Nun hat Zola es trotz seines Optimismus nicht für überflüssig gehalten, den Beitrag der Literatur zur Stabilisierung der Republik bis zur Dreyfusaffäre waren es noch fünfzehn Jahre - kräftig zu betonen und ihn den Politikern einzuhämmern. So läßt er noch einmal die Geschichte Revue passieren. Wie kam es, fragt er, daß die erste, die große Revolution den König, Gott und die alte Gesellschaft auslöschten und dabei die klassische Literatur als Modell beibehiel­ ten? Wie konnten sie nicht wissen, daß die Literatur doch unmittelba­ rer Ausdruck der Gesellschaft ist? In Frankreich hätten die Politiker der Befreiung die alte Macht zwar zerbrochen, die Literaten aber alsbald reglementiert. So sei es auch 1830 gewesen, als die Liberalen nichts von der demokratischen Rhetorik Victor Hugos wissen woll­ ten. Dasselbe habe sich am Beginn der Dritten Republik gezeigt. Der Typ des doktrinären Republikaners sei, sobald er an der Macht ist, für Tugend und Patriotismus. Als diese Leute in der Opposition standen, hätten sie die Menschheit in ihrer Häßlichkeit gesehen. Sobald sie aber die Macht hatten, war die Menschheit edel, und so sollte auch die Literatur sein. Zola steht nicht an, diesen Typ als verächtlichen Spießer darzustellen, der sich vor dem Freimut der Literaten fürchtet, weil er um die einmal errungene Position bangt. Ein anderer Typus des Republikaners, der romantische Rhapsode und demokratische Rhetoriker fürchte und bekämpfe den naturalistischen Republikaner, weil der die wirkliche Wahrheit des Menschen dar­ 1 6 5

stelle. Einer, der, früher Journalist, es bis zum Senator der Republik gebracht hatte, habe Stendhal und Balzac, die Zola stets als Vorläufer des Naturalismus gesehen hat, als unsittliche Autoren abqualifiziert, die in der Bibliothek eines anständigen Bürgers nichts zu suchen hätten. Die romantischen Republikaner seien politische Ästheten, die ein verschönertes, »arrangiertes« Menschenbild entwürfen, während »wir (die Naturalisten) die Nation in ihren Eingeweiden packen«. Diese »Wir« sind Wissenschaftler oder Literaten aus wissenschaftli­ chem Geist. Mit den Romantikern gebe es für sie keine Verständigung. Schließlich gebe es den Typus des fanatischen, Zola will sagen des sektiererischen Republikaners. Sie sähen die Republik als eine Ein­ richtung göttlichen Rechts an und mißtrauten den Literaten. Sie sprächen den Schriftstellern eine entscheidende Rolle im sozialen Mechanismus ab. Wenn sie sie annähmen, dann, um sie den Regeln der Gemeinschaft zu unterwerfen und ihnen eine gesetzlich festge­ legte Rolle zuzuweisen. »Proudhon, einer der stärksten Denker unserer Zeit, hat es sich nicht versagen können, die Kunst als eine Sache der politischen Ökonomie zu behandeln.« Hier sind wir an dem entscheidenden Punkt. Der junge Zola hatte in Mes Haines bereits Künstler und Schriftsteller frei von jedem sozialen Reglement gegen Proudhons Ideen, die auf eine Unterwer­ fung der Kunst unter die Politik hinausliefen, proklamiert. Offenbar ist der naturalistische Künstler, der sich als Wissenschaftler versteht, für Zola ein mögliches Ferment der Unruhe. So läuft denn sein Plädoyer schließlich auf die absolute Unabhängigkeit der Literatur vom Staat hinaus. Der Satz, in dem das Ganze gipfelt, lautet: »Die Republik wird naturalistisch sein, oder sie wird nicht sein.« Die Republik darf nicht in einmal festgeschriebene Formen der Herr­ schaft erstarren. Zola wußte sehr wohl, warum er jede staatlich subventionierte Literatur ablehnte und nichts anderes von der Repu­ blik verlangte als Freiheit. Praktisch bedeutete dies den Anspruch einer Elite auf absolute Unabhängigkeit vom Staat. Die große Kraft­ probe auf diesen Anspruch wird der Dreyfusprozeß bringen.

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Zur Metaphysik der Provinz

In der Vorrede zu den Rougon-Macquart, die nach dem Aufstand der Pariser Kommune datiert ist (i. Juli 1871), ist von dem Hinterhalt des Staatsstreichs Napoleons III. 1851 und von dem Verrat von Sedan 1870, von der »toten« Herrschaft und einer seltsamen Epoche des Wahns und der Schande die Rede. Es gibt ausreichende Beweise dafür, daß bereits der durch den Tod des Vaters früh zu kritischem Bewußtsein gelangte Knabe in Aix, und sehr ausgeprägt der junge Mann in Paris entschieden republikanischer Gesinnung gewesen ist. Zola hat, als das System der Diktatur unter dem Druck der stärker werdenden Opposition 1868 die Pressegesetze lockerte, den Schritt zum politischen Journalismus getan. Durch den Maler Manet war er zu der dem Klüngel um die Victor Hugo nahestehende »Tribüne« gelangt und dort zur politischen Satire über­ gegangen. Das war eine Mischform von direkter Polemik und Sitten­ schilderung und lag auf der Linie, die der junge streitbare Zola durch seine Kämpfe gegen die Akademie der Schönen Künste, durch einige seiner Novellen und die Romane Madeleine Férat und Thérèse Raquin (beide i868) sich selbst und der Öffentlichkeit vorgezeichnet hatte. In der »Tribüne« geht der junge Republikaner den Baron Haussmann an und rechnet ihm die asozialen Folgen seiner Abrisse und städtebaulichen Gesamtplanungen vor. Alsbald geht Zola dazu über, die üppige Verschwendungssucht der kaiserlichen Gesellschaft und das törichte, elegant verkommene Leben »unserer jeunesse dorée« zu geißeln. Dann findet man Zola in der neugegründeten Zeitung »Le Rappel« (»Der Ruf«) wieder, worin er sich zu einem gefährlichen Thema, der Ermordung eines republi­ kanischen Journalisten durch einen Vetter des Kaisers, äußert, die mit den Streiks der Kohlen- und Stahlarbeiter von Aubin und Le Creusot zusammenfiel: »Das neue Opfer schläft unter der Erde, wo bereits die Toten des Boulevard Montmartre schlafen, man kann furchtlos auf diesem frischen Grab tafeln und tanzen. Sie [die Bonapartisten] erklären, das Kaiserreich sei gerettet. Das Morgen wird ihnen ant­ worten. Sollen sie bis dann tanzen.« Zola war als Sohn eines Italieners und einer Mutter aus dem untersten sozialen Milieu ein »Parvenü« im strikten Sinne des Begriffs. Von diesem Ursprung hat er manche lebenslangen Verletzungen davongetragen und ist in der Tat erst spät zu einer ebenso rührenden wie kleinbürgerlich abgesicherten Erfüllung sei­ nes Intimlebens gelangt. Kann aus diesem und anderen Indizien 167

seiner Person geschlossen werden, er habe die Tiefe des Lebens nie gekostet? Wenn man dem armen Zola »Lebenstiefe«, was immer das sei, bis in seine späten Jahre bestreitet, so kann es über seine politische Urteilskraft und die offene Vertretung seiner Überzeugungen von früh an keinen Zweifel geben. Er ist, wie die seit etwa zwanzig Jahren erneut in Gang gekommene Diskussion in Frankreich beweist, eine Figur, die so vorgreifend und stellvertretend auf neue Weisen des individuellen und gesellschaftlichen Seins hinweist, daß es nicht gleichgültig ist, wie man ihn zu sehen und zu deuten hat. Sicherer als anekdotische Begebenheiten, Zeugnisse der Zeitgenossen, Selbst­ zeugnisse, die in Zolas Fall selten sind, ist das Werk, zumal das frühe, weil es die Ursprünge enthält. Wir fassen zwei Romane der Rougon-Macquart-Serie zusammen, die in Zolas Stadt der Kindheit und Jugend spielen: in Aix en Provence, das er Plassans genannt hat. Es sind La Fortune des Rougon (Das Glück der Rougons) und La Conquête de Plassans (Die Erobe­ rung von Plassans). Dies entspricht nicht der chronologischen Entste­ hungsgeschichte. Zwischen dem ersten Roman der Reihe, La Fortune des Rougon,\xnà dem von der Eroberung von Plassans liegen die Bände La Curée (Die Beute) und Le Ventre de Paris (Der Bauch von Paris), die in Paris zur Zeit des ersten Drittels der Ara Flaussmann spielen. Plassans ist... einsam und tot, das Gras wächst zwischen den Pflastersteinen. Saint-Saveur, die Kathedrale, heißt im Roman Saint Saturnin. Der Platz um das Stadthaus [Mairie] und der Marktplatz sind identisch. Der breite, von zwei hohen Platanenalleen überwölbte Cours Mirabeau, der die Stadt in zwei etwa gleichgroße Ffälften zerschneidet, heißt im Roman Cours Savaire. In den Stadtgrundriß hat Zola den Sozialgrundriß eingezeichnet und dabei Vereinfachung nicht gescheut. »Das Viertel des Adels, das man nach dem Namen der Pfarrei das Sankt-Markus-Viertel nennt, ein kleines Versailles mit geraden, von Gras bewachsenen Straßen, deren breithingelagerte Häuser weite Gärten verbergen, dehnt sich im Süden [des Cours Savaire] bis zum Rand des flachen Stadthügels aus. Einige dieser Stadtpalais, die am Rand des Stadtplateaus erbaut sind, haben am abfallenden Hang eine Doppelreihe von Terrassen, von denen aus man das ganze Tal der Viorne überblickt [in Wirklichkeit der Are, Schauplatz vieler Kind­ heitsfreuden in Zolas Novellen], ein wundervoller Aussichtspunkt, den man im Lande sehr rühmt. Das alte Viertel, die Altstadt, staffelt im Nordwesten seine engen und verwinkelten Gassen, die von alters­ schwachen Häusern begrenzt werden; dort befinden sich das Rathaus, das Gericht, der Markt, der Polizeiposten; dieser am stärki6 8

sten bevölkerte Teil von Plassans wird von Arbeitern, Kleinhändlern, dem niederen, geschäftigen, armen Volk bewohnt. Die Neustadt endlich bildet ein längliches Viereck im Nordwesten; das Bürgertum, diejenigen, die Pfennig um Pfennig ein Vermögen angesammelt haben, und diejenigen, die einen freien Beruf ausüben, bewohnen dort schön aneinandergereihte Häuser, die mit einem hellen, gelben Verputz versehen sind. Dieses Stadtviertel, mit der Unterpräfektur, einem häßlichen, mit Rosetten verzierten Bau, zählte 1851 kaum fünf oder sechs Straßen; es ist erst vor kurzem geschaffen worden und dehnt sich seit dem Eisenbahnbau im Gegensatz zu den anderen aus.« Mit wenigen Strichen zeichnet der Autor die urbanistische und zugleich die soziale Situation. Was in zwei Wochen während des Staatsstreichs vom 2. Dezember 1851, an dem Napoleon III. das Parlament auflöste und sich zum Präsident-Diktator machte, in Plas­ sans und im umliegenden Departement Var vor sich geht, ist ein Ausschnitt aus dem Aufstand des Südens gegen den Usurpator, ein Kampf zugleich der Republikaner gegen die zum Bonapartismus bereite besitzende oder die nach Besitz gierende Bourgeoisie. Das Romangeschehen hängt sozial und politisch nicht irgendwo bezie­ hungslos im Raum. Es ist bei aller intensiven epischen Konkretisie­ rung von Menschen, Zuständen, Erlebnissen fest in politisch-soziale Koordinaten eingebaut. Doch ist diese politisch soziale Ortung nicht doktrinär oder ideologisch. Wir sind weit entfernt von einem bürger­ lichen oder sozialistischen Realismus, was immer das damals hätte sein können. Der Ductus der frühen Bücher des Rougon-MacquartZyklus ist im Unterschied zu manchen schwelgerisch ausschweifen­ den Passagen in späteren Paradestücken der Serie knapp, fast gehetzt. Das Herz des Autors vibriert, enthusiastisch, satirisch oder sarka­ stisch, mit den Figuren. Aus seiner Kindheit und Jugend hat der Romancier Personen, Landschaften, Erlebnisse, mehr oder weniger verfremdet, in den Erzählverlauf hineingenommen. Man weiß, daß das Mädchen Miette, das Kind des Wilderers und Asozialen, die Fahnenträgerin der Aufständischen, einer zarten, fast ätherisch unwirklichen Jugendliebe des Autors zu einem Wesen, das er »Aérienne« nannte, verdankt wird. Man kennt ihren bürgerlichen Namen, Louise Solari, die sehr junge Schwester eines Schulfreunds, so wie man weiß, daß des Schulfreunds Paul Cézanne Vater dem bürgerlichen Haustyrann Paul Mouret in dem Fortsetzungsroman La Conquête de Plassans Charakterzüge und Skurrilitäten lieh. Aber auch da, wo direkte Bezüge zum und nach dem »Leben« nicht nachweisbar sind, wird die Griffigkeit des epischen Stils, seine Frische und Kraft, wohl der Tatsache verdankt, daß da eine intensiv 169

erlebte Kindheit und Jugend durchschlägt und beim Leser den Ein­ druck der Authentizität wie aus einem Guß hinterläßt. Neben sozial konformem Verhalten und entsprechenden Motivationen profilieren sich Querköpfe, Sonderlinge, Korrumpierte, Außenseiter und aus der Bahn Geratene. Was den Erstling der Rougon-Macquart - ein Buch, das sich nicht mit den Sensationserfolgen von Nana, Assom­ moir und Germinal messen kann - in heutiger Sicht als bedeutend erscheinen läßt, ist die Einheit des realistischen Romans in sozialen und zeitgeschichtlichen Bezügen. In Balzacs Comédie Humaine geben Zeit- und Sozialgeschichte, wie Karl Marx gerühmt hat, den Hintergrund ab. Zola hat in der Fortune des Rougons das fest datierte politische Ereignis des Staats­ streichs in die Sozial- und Individualszene einbezogen. Man hat dem späteren Zola oft den Vorwurf gemacht, er habe von Ventre de Paris an bis hin zu dem Roman vom Grubenstreik Germinal und dem Roman der Katastrophe von Sedan La Débâcle wie ein Reporter vor Ort gearbeitet und mit dem Notizblock in der Hand Daten und Fakten unvermittelt in die Romane eingearbeitet. Die frühen Romane in Plassans können des Reportage-Elements noch entraten, weil der epische Stoff in der fruchtbarsten Erfahrungsperiode des Autors, der Kindheit und Jugend, hatte ablagern und ausreifen können. Wir haben mit dem Abstand von mehr als hundert Jahren Grund, unser Urteil über die ersten Bände der Rougon-Macquart und ihren Stellenwert im Fortschritt der Romanliteratur zu überprüfen. Immer­ hin hat kein Geringerer als Flaubert dem damals trotz Thérèse Raquin noch kaum bekannten Autor nach der Lektüre der Fortune des Rougon von einem »atroce et beau livre« geschrieben und hinzuge­ fügt: »Sie sind ein stolzes Talent und ein tapferer Mann.« Dieses Lob kann man direkt auf die künstlerische Kraft beziehen, wobei man »atroce« als grausam, hart verstehen muß. Derselbe Flaubert schrieb zu dem Fortsetzungsbuch La Conquête de Plassans (Die Eroberung von Plassans) an den gemeinsamen Freund Turgenjew, er sei von der Lektüre bestürzt, das sei »hart«, besser als Der Bauch von Paris, und an den Verleger Charpentier, er sei begeistert. Das sind unmittelbare Bezeugungen des Betroffenseins. Die beiden Romane, die Plassans zum Schauplatz haben, erzählen ein einschneidendes Ereignis der politischen Zeitgeschichte als auslö­ sendes Moment der Sozialgeschichte. Konkret bedeutet das, daß Zola, so frei er fabuliert, die Vorgänge insgesamt auf einen Punkt konzentriert: den Staatsstreich Louis Napoleons. Die konservativen Schichten einschließlich eines Teils des Kleinbürgertums, der Rentner und der sozialen Aufsteiger fanden sich in der Abwehr derer zusam­ men, die die Revolution von 1848 auf eine Republik und sogar auf 170

eine soziale Republik hin weiterzuführen entschlossen waren. Die Erstürmung der Mairie von Plassans durch die Aufständischen, die Wiedereroberung durch den ehrgeizigen Spießbürger Rougon und die Repression und die Etablierung des Bonapartismus in der mittle­ ren Provinzstadt sind das politische Thema. Hätte Engels diesen ersten Roman der Rougon-Macquart-Serie gekannt, sein Urteil über Zola, das sich auf die mythischen Sozialutopien von Germinal bis hin zu Le Travail bezog, wäre vermutlich nicht so abweisend oder differenzierter ausgefallen. Was Engels in den späteren sozialutopi­ schen Büchern Zolas vermißte, die Analyse innerhalb des Erzählver­ laufs, ist in den Romanen über Plassans durchgeführt. Zola hat unabhängig von Marx, den er damals noch nicht kennen konnte - die in Marx’ Schrift Der i8. Brumaire des Louis Bonaparte ätzend scharf denunzierte Teilhabe ungesicherter und heruntergekommener Exi­ stenzen am Rande des Bürgertums in das Satyrspiel der kleinbürgerli­ chen Machtergreifung einbezogen. Freilich hat der Autor den Roman mit satirisch-burlesken Zügen überlastet, wenn er erzählt, wie Pierre Rougon, ein Abkömmling aus dem Vorstadtbauerntum, schließlich durch politisches Taktieren zu Vermögen kommt, nachdem er seine erblich belastete Mutter um ihre Ersparnisse und seine Stiefgeschwi­ ster um ihr Erbteil gebracht hat. Die Aufständischen dagegen sind heroisch-pathetisch gesehen. Sie erliegen nicht den Spießbürgern von Plassans, sondern einem auf Order von Paris herangeführten Reiter­ regiment. Das Paar Silvère und Miette findet in einer elegischen Romanze den Tod. Das volle Gewicht der innenpolitischen Probleme wird erst in dem um die Mitte des Second Empire spielenden zweiten Plassans-Roman La Conquête mit breiterer Auffächerung der gesellschaftlichen Kräfte und durch die Einführung des klerikalen Elements in das soziale und politische Spannungsfeld erreicht. Das arbeitende Volk tritt nicht mehr kollektiv in Erscheinung. Die Republikaner werden unter dem Druck des diktatorischen Regimes als vereinzelte Sympathisanten durch passiven Widerstand, intellektuelle Opposition oder volkstüm­ liches Murren sichtbar und vernehmbar. Das zentrale politische Thema sind die Veränderungen innerhalb der bürgerlichen Gesell­ schaft während des Zweiten Kaiserreichs. In der bürgerlichen Jugend treten fragwürdige Existenzen hervor, die auf Ämter im neuen Regime begierig sind oder sich durch Ehen »angepaßt« haben. Hohe Beamte aus der Zeit des Julikönigtums warten auf die Chance eines Wiedereinstiegs, ehemalige Kleinbürger wie Rougon haben dank ihrer politischen Verdienste um das Regime in der führenden Schicht Ränge besetzt und sind durch gewinnbringende Einkünfte als Steuer­ einnehmer aus den Schulden heraus. Andere, ehemalige Händler mit 171

Landesprodukten wie Wein, Öl und Mandeln, haben sich zur Ruhe gesetzt und leben als Rentner von ihren Zinsen, betreiben aber zur Vermehrung ihres Vermögens gelegentlich noch Spekulationsge­ schäfte. So lebt der Spießbürger Mouret. Der nicht wiedergewählte Unterpräfekt aus der Zeit vor 1848 wartet vergebens auf eine neue Chance. Andere sind Präsident, amtierender Bürgermeister oder Unterpräfekt. Unverheiratete, unversorgte Töchter, Söhne, die eine Advokatur oder ein Staatsamt anstreben und der Protektion bedür­ fen, weil sie, innerlich bereits unsicher oder korrumpiert, als zweite Generation weder Wurzeln in alter Familientradition noch ideelle Zukunftsperspektiven haben, bezeichnen die unsicheren Randzonen einer Gesellschaft in der Veränderung. Zola steckt das soziale Spannungsfeld zwischen Stagnation, Resi­ gnation, dem Opportunismus einzelner Aufsteiger und störrischem Beharren im Legitimismus ab. Die sozialen Gruppen liegen sich in der Stadt als feindliche Lager gegenüber, sie sind wie auf einer Bühne einander real und symbolisch zugleich gegenübergestellt. In der Villa des reichen Herrn de Rastoil und dessen weitläufigen, durch Spring­ brunnen und allerlei Wasserspiele verzierten Gärten finden die Feste der reaktionären Opposition statt. Gegenüber, auf Sichtweite, ver­ sammelt sich alles, was bonapartistisch gesinnt ist und die oberen Ränge der neuen Gesellschaft samt ihren Orden, Pfründen und Ehren innehat oder zu erreichen sucht. In einer realen und zugleich symbolischen Dreiecksbeziehung dazu liegt in Vertretung des apolitischen Mittelstandes das Haus des Spieß­ bürgers Mouret, dessen Frau eine geborene Rougon ist, während der Gatte aus der Sippe der Macquart stammt. Der Salon der alten Félicité Rougon, einer Erzintrigantin, die in den entscheidenden Tagen und Nächten des Umsturzes vor acht Jahren (nachzulesen in La Fortune des Rougon) die Dinge zugunsten des Gatten gewendet hatte, ist jetzt der einzige neutrale Ort, an dem sich die rivalisierenden adligen und bürgerlichen Gruppen treffen. Diese trickreiche epische Kon­ struktion erlaubt es Zola, die soziale Wirklichkeit der Bürger mit ihren Gegensätzen und über sie hinweg darzustellen. Das Second Empire, provinziell verkürzt in Plassans, funktioniert im Salon der intriganten Parvenu-Gattin als sozialer Schmelztiegel, in dem sich Legitimisten, Orléanisten und Bonapartisten in der Abwehr des Klassenfeindes treffen. Bedenkt man das Erscheinungsjahr des Romans, so entbehrt die soziale Retrospektive in den Guckkasten Plassans (Aix) nicht des Salzes der satirischen Kritik. La Conquête de Plassans ist 1874 erschienen, als unter der Präsidentschaft des alten Löwen der nordafrikanischen Kolonialeroberungen, des Krimkriegs, des Siegers von Magenta und Bezwingers der Kommune 1871, Mac172

Mahon, die letzte politisch gewichtige Sammlung aller restaurativen Kräfte des Bürgertums sich vollzog, die die Wiederherstellung der Monarchie wollte. Der bürgerliche Republikaner Thiers, der alte taktische Fuchs, blieb draußen. Was sich um den Präsidenten MacMahon scharte und die Rückkehr der Bourbonen versuchte, hätte sich, wenn es den Roman des jungen Emile Zola gelesen hätte, im Salon der Félicité Rougon satirisch gespiegelt erblicken können. Aber »man« las Zola damals noch nicht. Die Eroberung von Plassans war und blieb bis heute ein weniger beachtetes Buch - und ist eines der wichtigsten des Zyklus. Zwanzig Jahre danach, als sich noch einmal eine bürgerlich reaktio­ näre Front gegen einen kleinen verurteilten jüdischen Hauptmann sammelte, tauchte im Hintergrund eine Komponente dieser Einheit aller »bien-pensants« auf, die in Zolas geradezu prophetischem Roman bereits wie ein Orientierungspunkt der »Ordnungskräfte« eine eminente, bis heute nicht voll geklärte Rolle gespielt hat: der hohe und der mittlere Klerus der französischen Kirche. Die Romanhandlung der Conquête de Plassans hat im Mittelpunkt zwei Gestalten, die in das soziale Ordnungsschema des Buches nicht eingehen: den Priester Faujas und Marthe Rougon. Eines Mittags, als die penetrant durchschnittliche, bürgerliche Familie Rougon sich gerade am Tisch niedergelassen hat und die Suppe zu löffeln beginnt, tritt mächtig von Gestalt, so fremd wie abgerissen wie unheimlich, der Eindringling auf, gefolgt von einer furienhaften Alten, seiner Mutter. Von diesem ersten Augenblick an ist die Familie Rougon zerstört. Die unbehausten Eindringlinge mustern das Interieur mit scharfem Blick und nehmen es ideell in Besitz. Die Szene ist von urweltlicher Dämonie. Parallelen lassen sich bei Nordländern finden, bei Munch oder Ibsen: Die Betroffenheit vom Schicksal, das in die bürgerliche Alltagssicherheit einbricht, unwiderstehlich, unabwendbar, schrecklich. Faujas, der Eindringling, ist als Priester so stark, wie er als Mensch außergewöhnlich ist; ein Außenseiter, ein Fanatiker, ein durch unge­ heure Kräfte mächtiger Asket, der Fremde schlechthin, der immer fremd bleiben wird. Mit diesem Hünen hat der Naturalist Zola eine expressionistische Gestalt mitten ins platt Wirkliche des bürgerlichen Lebens versetzt. Niemand versteht den seltsamen Mann - bis auf die bis dahin sanft milde, farblose, Haus, Kinder und Wäsche besorgende Marthe, das Muttertier, keine Bovary zwar, aber ihr doch verwandt, ein Weib, das Mädchen geblieben ist. Was der Hüne Faujas in zerlumpter Soutane mit Marthe anstellt, ist ein Drama von entsetzlicher Rohheit, das Drama der Versagung. Der Zölibatär treibt das Weib durch alle denkbaren Stationen religiös 173

sublimierter Leidenschaft, bis Marthe schließlich zerbricht, nachdem ihr die Rückkehr zu ihrem ehelichen Gefährten und zu ihren Kindern mißlungen ist. Beider Leben ist von der ersten Begegnung an ver­ wirkt. Die Eindringlinge, Faujas, seine eifersüchtig über ihn wachende Mutter, eine schweigende, geizige Bäuerin, fast ein Clo­ chard, die Schwester des Priesters und deren Mann, ein Lump, zerstören alles, was in Mourets Familie friedlich bieder vor sich hin gelebt hatte. Der Priester nimmt geistig von dem Haus Besitz, sein Anhang bereichert sich materiell hemmungslos. Sie vertreiben die Kinder, deren einer später der Abbé Mouret mit seiner »Sünde« sein wird {La Faute de l’Abbé Mouret), sie bringen den Vater ins Irren­ haus Les Tullettes, wo die erblich belastete alte Fouque, seine wahn­ sinnige Mutter, seit Jahren haust. Am Ende zündet der aus der Zelle des Irrenhauses ausgebrochene Vertriebene sein Haus an. Der Prie­ ster, die alte Bäuerin, die diebischen Verwandten und er selbst kommen in einem schauerlichen Brand um. Bürgerdämmerung! Was Zola an der Marthe Rougon seines Romans von 1874 vorführt, ist das Leiden an einer in religiöse Sublimierung pervertierten Sexuali­ tät: nach ins Öffentliche tendierenden Werken christlich-bürgerlicher Sozialhilfe, die der Priester Marthe aufträgt, kommt es zu krankhaf­ ten Tobsuchtsanfällen im Hause Mouret, zu schwerer Hysterie und zu epileptischen Krisen. Der Priester Faujas läßt das Entsetzliche einer Personzerstörung durch religiöse Hysterie geschehen. Er ver­ sucht zwar, die Rasende von seinem Beichtstuhl zurückzuhalten, ist sich aber durchaus bewußt, die Ursache der Tragödie zu sein. Faujas ist mit einem politischen Auftrag nach Plassans gekommen. In seinem heimischen Bistum hatte man ihn abgeschoben, weil er sein geistliches Amt so rigoros verstanden hatte, daß es zu Konflikten kam. So wurde er zum Werkzeug der bonapartistischen Politik, die der Priester für seine Kirche zu nutzen beabsichtigt. In Paris lebt, wie der Zola-Leser aus dem Roman La Fortune des Rougon weiß, ein ehrgeiziger, junger Verwaltungsjurist, Eugène Rougon, Sohn der Rougons, die beim bonapartistischen Umsturz in Plassans die Chance ihres sozialen Aufstiegs wahrnehmen. Dieser junge Mann, der in einem der folgenden Romane Minister und Exzellenz Rougon sein wird und als solcher ins Zentrum der Macht gelangt, hat den Faujas insgeheim nach dem heimatlichen Plassans gesandt, um als »Intrus«, wie das magische Wort für den Eindringling aus dem Draußen heißt, das dortige Bürgertum aus der legitimistischen Opposition herauszu­ holen und es für den Staat des Zweiten Kaiserreichs zu gewinnen. Aber Faujas ist nicht der Mann, der sich zum Werkzeug machen läßt. Er kommt und erschleicht sich Macht in eigenem Auftrag. Er dringt als Untermieter in das Haus der wehrlosesten Spießbürger ein. 1 7 4

er spricht wenig und wartet auf seine Stunde. Und die Mourets sind vollends arg- und wehrlos. Plassans durchschaut ihn nicht. Sogar der Bischof durchschaut den Sendling zu spät, und kaum einer der Pfarrer, unter ihnen liebens­ werte Spießer, sogar ein heiligmäßiger Sozialpfarrer und ein eleganter Karrieremacher. Faujas ist die Inkarnation des machtgierigen Kleri­ kers. Seine Kraft stammt aus einem bis zum Äußersten getriebenen Aszetismus. Er herrscht über die Frauen durch das Mittel des Beicht­ stuhls. Sein Laster ist der Machttrieb. Indem er über die Beichte die bürgerlichen Interieurs kennenlernt und beherrscht, bringt er Annä­ herungen und Entzweiungen der Bürger zustande. Das geschieht auch durch gesellschaftliche Kontakte, die den Satiriker Zola in Aktion zeigen. Mit subtilen Methoden des Schweigens und der verdeckten Seelenführung bringt Faujas die Seelen in seine Hand. Sein Ziel - der Leser erfährt es nicht direkt. Sein Inneres bleibt verschlossen. Als Marthe aus ihrem Wahn erwacht, innerlich zerbro­ chen und ausgehöhlt, endet ihr Versuch, den Gatten aus dem Irren­ haus zu befreien und das von den Trouches ausgeräuberte Haus zu retten, in der Katastrophe. Die emotionellen Prozesse, die Marthe Rougon bis zu ihrer Selbst­ zerstörung durchmacht, lassen sich auf der realistischen Ebene des Romans verstehen, da sie als Krankheitserscheinungen registrierbar und beschreibbar sind. Aber sie haben auch eine mystische Seite, die mehr angedeutet als erklärt wird. Das Problem, das in der Gestalt des fürchterlichen Priesters zu bewältigen war, hat Zola gemeistert, indem er die Figur Faujas’ ausspart. Er sieht die Gestalt nicht von innen, weil sie das Psychologische überschreitet. Bleibt die Frage, wie die überdimensionale Erscheinung dieses Priesters im politisch-sozia­ len Felde des realistischen Romans zu orten sei. Hat Zola eine Pfaffensatire schreiben wollen? Mit Sicherheit nicht. Faujas ist weder hysterisch, noch irgendwie in die Bereiche der niederen Instinkte oder Triebe einzureihen. Man ist versucht, in Faujas das Suprana­ turale zu sehen. Er ist auf fürchterliche Weise »rein«. Er kann, da er ausgespart bleibt und nur an Wirkungen deutlich wird, als die Verkörperung eines Prinzips angesehen werden, das Zola von Jugend an unter dem Einfluß von Michelet ebenso fasziniert haben muß, wie es ihn tief verstört zu haben scheint. Dies Prinzip ist logisch-begriff­ lich mit den vielfältigen Erscheinungsformen der Katholizität, sei es der Weitläufigkeit, ja Weltlichkeit, sei es der Seelsorge mit all ihren alltäglichen, banalen Aspekten schwer vereinbar. Zola hat von Jugend an bis tief in die Zeit seiner Reife - wie die Romane Le Rêve, ein mystisch-mittelalterliches Wundermärchen, oder die große StädteTrilogie Lourdes, Rom, Paris, in deren Mittelpunkt ein Priester steht. I

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beweisen - das spezifisch Französische einer Katholizität ernst genommen, die zwischen überspitzer Rationalität der Theologie und mystischer Verzückung in einer dauernden Zerreißprobe schwebt. Man muß wissen, daß Lourdes und Lisieux keineswegs nur Volks­ wallfahrten der Armut und des Sozialelends sind, sondern für hoch­ gradige Intellektuelle wie Maritain, Claudel, Mauriac geistliche Erfahrungen und Weisen der Existenz bezeichnet haben. Obwohl Zola mit guten Argumenten als ein antiklerikaler Streiter angesehen wird, ist seinem Biographen Henri Guillemin insoweit zuzustimmen, als Zola wie so mancher Agnostiker und Antiklerikale den Katholi­ ken nie ganz hat verleugnen können. Die lebenslange Beschäftigung mit dem Priester, der in sehr vielen Typen, auch sehr achtbaren und liebenswerten, im Gesamtwerk zahlreich vertreten ist, hängt mit individuellen Lebensproblemen der Jugendzeit zusammen. Zola hat auch hierzu wie zu anderen Themen, etwa des Sozialismus und des Judentums, manche schillernde und widersprüchliche Äußerungen hinterlassen. Im Grunde ist er ein Anhänger der Trennung von Kirche und Staat und also ein Laizist gewesen. Er hat aber die Dimension des »Au delà«, wie er es nannte, und die Institution, die es verwaltet und vermittelt, nie so weit in Frage gestellt, daß er die Kirche und ihre Diener zu verfolgen gut geheißen hätte. In Plassans gehören Bischof und geistliche Institutionen zum bür­ gerlichen Leben und zur bürgerlichen Ordnung. Daß Faujas schei­ tert, während der Bischof, seine Pfarrer und Vikare sich mit dem Establishment arrangieren, gehört zu Zolas Bild von der bürgerlichen Provinz. In den Faubourgs kennt der Naturalist den Pfarrer kaum, so wie die Arbeiter ihn nicht kennen. Eine eindeutige Absage an die Kirche als Institution enthält erst der späte Roman Le Travail, ein schwaches, fast greisenhaftes Buch vom spannungslosen Sozialglück auf Erden. Der Kleriker ist aber für Zola nicht nur ein Thema, sondern hat in der Romankomposition eine sozusagen dramaturgische Funktion. Henri Mitterand hat im kritischen Teil der Ausgabe der RougonMacquart-Serie die Entstehungsphasen des Romans von der Erobe­ rung der oppositionellen Bürgerschaft von Plassans Schritt für Schritt nachgewiesen. Das Konzept war, die politisch-gesellschaftliche Inte­ gration der bürgerlichen Schichten darzustellen. Der Anstoß hierzu war ihm aus der politischen Aktualität von 1873, über die er in der republikanischen Zeitung »La Cloche« laufend kritisch berichtete, zugewachsen. Was sich in den Jahren um 1873 politisch in Paris ereignete, projizierte der Romancier zeitlich in die ihm vertraute provenzalische Provinzstadt und ins Zweite Kaiserreich zurück. Da es dieselben Kräfte waren, die sich schon unter dem Kaiserreich 176

oppositionell verhalten hatten und sich jetzt um den Grafen von Chambord und den Herzog von Orléans, die Abgeordneten vom Lande und die Jesuiten scharten, konnte Zola, Romancier und Jour­ nalist in einer Person, die Rückblende wagen. Die politisch aktuelle Spitze des Romans wurde verstanden. Wie aber das Drama, das heißt ein auslösendes Moment finden? Es bot sich dem Autor wie zufällig an. Er las in einer Zeitung ein fait divers, das sich in Paris im Viertel des Montmartre 1872 abgespielt hat. Um einen lästigen, brav durchschnittlichen Ehemann loszuwer­ den, hatte ein ehebrecherisches Paar, das vor einem Mord zurück­ schreckte, die Idee, den Ehemann dadurch zu beseitigen, daß die untreue Frau nächtliche Überfälle des Gatten simulierte und sich zum Beweis selbst Verletzungen beibrachte. Das Paar dichtete dem harm­ losen Ehemann Geisteskrankheit an und brachte es dahin, daß der Unglückliche in eine Zelle der Irrenanstalt eingesperrt wurde, wo er schließlich echt irrsinnig wurde und elend zugrunde ging. Daraus wurde die Tragödie des Pierre Mouret, dem Zola Züge des Vaters Cézannes geliehen hat. Das zweite Motiv der durch religiösen Wahn entstehenden Zerset­ zung einer gesunden Persönlichkeit verdankte Zola anderen Quellen. Das war vor allem seine Gegnerschaft gegen die politische Macht des Klerus über bürgerliche Frauen. Hinzu kamen Studien, die Zola im Zusammenhang mit seiner naturalistischen Grundthese über die erb­ liche Bedingtheit psychischer Erscheinungen wie der Hysterie ange­ stellt hatte. Leidenschaft gegen den Klerus und naturwissenschaftli­ che Lehrmeinungen spielen ineinander. Er befaßt sich in seinen Vorstudien mit der kirchenfrommen Weiblichkeit (la dévote) und rechnet bestimmte Formen forcierter religiöser Übung und Praxis der Hysterie zu, wohingegen »einfache« Weiber sich normalerweise ihrem Kochtopf zuwendeten und als Gattinnen und Mütter allenfalls des Sonntags der Religion einen Winkel widmeten, brav und für den »Dramaturgen« unergiebig, wie es ironisch heißt. In den Büchern des Docteur Moreau über »Die Identität im Zustand des Traums«, des »Irreseins« oder »Die Psychologie der seelisch Kranken« oder »Abhandlung über die physischen, geistigen und moralischen Entar­ tungen des Menschen« glaubte Zola Bestätigungen für seine Theorie vom religiösen Wahn zu finden. Er tendierte dazu, Marthe tragisch zu sehen. Daher gibt er Vorentwürfe auf, in denen der Priester, der die Lebenskrise der Frau auslöst, ein moderner, sinnlicher Tartuffe gewesen wäre, und verwandelt Faujas in ein Wesen surrealer Enthobenheit. Zola war entschlossen, jede Zweideutigkeit oder Banalität zu vermeiden. Marthe wird wie ihr Ehemann zum Opfer - und mit ihnen wird der Priester selbst der Statik und Normalität der provinz­ 177

bürgerlichen Gesellschaft zum Opfer gebracht. Das ist nicht als Agitation oder politische Satire zu sehen, es soll nach der Absicht des Romanciers tragisch verstanden werden. Die Eroberung von Plassans braucht die Tragödie des Priesters und der an religiöser Hysterie zugrunde gehenden Frau als Kontrast und metaphysischen Ausgleich zur Normalität der Gesellschaft. Die Iro­ nie dieser Konzeption gipfelt darin, daß Plassans, bevor es in seine Stagnation zurückfällt, ein kirchliches Sozialwerk erhält und sich für die kommenden Wahlen zum Parlament auf einen Kompromißkandi­ daten einigt. Im Gesamtwerk Zolas ist Die Eroberung von Plassans neu zu entdecken. Der vierte Roman des Zyklus ist in seiner Zeit und bis heute zusammen mit Seine Exzellenz Rougon eines der weniger gelesenen Bücher Zolas und eines seiner besten. Flaubert schrieb an Turgenjew, der das Buch alsbald nach Rußland empfahl, wo es binnen kurzem in Fortsetzungen und als Buch erschien, er habe den Roman in einem Zug ausgelesen und sei davon benommen und bestürzt. Der meist kühle Anatole France bemerkte im »Temps«: »Alles in diesem Roman ist wahr bis zur Evidenz.« Selbst der kritisch-konservative Brunetière fand trotz »widerlicher, bei Zola vertrauter Details inmitten der Grotesken der Kleinstadt Charaktere aus dem Leben von bemerkenswert genauer Zeichnung«. Goncourt gesteht in seinem Tagebuch, er habe den Roman ungelesen in eine Ecke geschleudert. »Bin ich denn als Autor fertig?« Natürlich hat »Freund« Goncourt das Buch gelesen. Er hat sich nicht darüber äußern wollen, was in seinem Falle für den Roman spricht. Daß der große Flaubert - zu dem Verleger Charpentier bemerkte er: »Ich bin begeistert und habe Zola nur ein Hundertstel von dem gesagt, was ich darüber denke« - dieses Buch im Gegensatz zu dem allzu kulinari­ schen Bauch von Paris besonders hochschätzte, gibt zu denken. Mit der Theorie des Naturalismus allein ist Die Eroberung von Plassans kaum zu fassen. Es ist einer der Glücksfälle großer Epik auf der Grenze zwischen Realismus und Surrealismus. Realistisch ist das gesellschaftliche Spannungsgefüge gesehen. Anatole France drückt dies so aus: »Diese Welt regt sich, ist begehrlich und redet jedermann übel nach; das ist der Lauf des Lebens und der Kleinstadt.« Der Roman enthält in unserer moderneren Sicht die Doulce France und, was darunter sitzt. Die Süße der Provinz wird mit Opfern bezahlt. Unter ihrer schönen, gefällig glatten, fast idyllischen Ober­ fläche hausen Dämonen und sitzt Angst. Man wird an Maeterlincks symbolistisches Drama L’Intrus (Der Eindringling) erinnert, und es ist kein Zufall, daß diese Hintergrundfigur mitten in Zolas Naturalis­ mus so häufig anzutreffen ist. 178

Der machthungrige Abbé Faujas ist der »intrus« schlechthin. Er ist der Zerstörer und der Tod. Zugleich aber ist er der Repräsentant des Absoluten, der eine scheinbar harmonische, schal und widersprüch­ lich gewordene Gesellschaft aufbricht. Er greift sich die in einer unerfüllten Ehe dahinlebende Marthe und stößt sie in den Unter­ grund der Psychopathologie. Sie zahlt als Einzelne für die Scheinhar­ monie der Verhältnisse, der Ehen zumal. Der Dritte, dem der Ein­ dringling außer sich selbst und Marthe den Tod bringt, ist Marthes bieder stumpfsinnig dahinlebender Ehegatte. Er verschwindet im Irrenhaus. Nach dem fanalhaften Brandopfer, in dem das Bürgerhaus der Mourets endet, kehrt Plassans gereinigt zu sich selbst, zu seinem Frieden und seiner schläfrigen Douceur zurück. Das Buch ist also weitaus mehr als eine antiklerikale Satire. Um das Jahr 1875 politisch aktuelle Bezüge auf die Abdankung Thiers’, des liberalen Republikaners, und das Wiederaufleben des Bündnisses von hohem Klerus und Feudalismus und einer neuen Restauration spielen zwar in das Buch hinein. Aber das ist es nicht, was den Roman als eine Metapher von Gesellschaft überhaupt bedeutend macht. Die Angst, die in Zolas Leben eine so wichtige Rolle einnimmt, ist hier produktiv geworden. Die Groteske der Eroberung von Plassans spielt im »heiteren« Süden und ist so nordisch wie Maeterlinck, Munch oder Ibsen und Strindberg. Bei allem zur Schau getragenem Agnosti­ zismus erscheint hier in Zolas Werk zum ersten Mal eine metaphysi­ sche, fundamental düstere Ansicht von Welt, vorweggenommener Pessimismus, den der Romancier zehn Jahre später in einem andern Roman mit Schopenhauer rechtfertigt. Dieses Buch wird den sarka­ stischen Titel Die Lebensfreude (La Joie de vivre) tragen.

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Die Angst der Fetten

Nach zweijähriger Pause erscheint 1873 dritter Band im Zyklus der Rougon-Macquart eines der meistzitierten, noch heute vielgelese­ nen Bücher Der Bauch von Paris (Le Ventre de Paris), dessen Anziehungskraft einem damals hochmodernen, heute nostalgisch beklagten Phänomen galt, den riesigen Groß- und Detailmarkthallen von Paris zwischen Saint Eustache und dem Marais-Viertel. Die Hallen des Baltard, wahre Basiliken des kühnen Eisen-Glas-Konstruktionsbaus, sind in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts abgerissen worden. Der Griff nach diesem Thema beweist Zolas Ehrgeiz und seine geradezu tollkühne Entschlossenheit, Naturalist im Vollsinn des Programmworts zu werden. Man stelle sich vor, es gäbe heute in einer weltzentralen Region ein Super-Atom-Kraftwerk und ein Romancier machte sich schon beim Bau daran, nicht nur die Ele­ mente der Konstruktion, sondern auch ihre Bestückung und ihren vollen Betrieb realistisch zu erzählen, Zug um Zug. Es wäre nicht so einzigartig wie das, was Zola unternahm und ausführte. Science fiction bietet sich zum Vergleich nicht an, weil die Hallen, die Baltard, der im übrigen, obwohl Eisenkonstrukteur, auch ein hervor­ ragender Restaurator war, unmittelbare Wirklichkeit ihrer Zeit waren. Begeisterte Leser des Ventre de Paris vergessen über den Bergen von Käsen und Käsedüften, über den Fruchtensembles und den Fisch- und Fleisch-Kolossal-Stilleben des Romans die gewaltige Leistung der Baubeschreibung. Da ist Zola, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, wieder einmal entwaffnend inkonsequent. Über seiner Begeisterung für die dem Auge so angenehmen, luftigen, schwebenden Gebilde aus Eisen und Glas, einer Feerie, die gleichsam über der üppigsten Sinnlichkeit des Bauchs von Paris aufgehängt war, vergaß der Romancier seine so begreifliche wie oft unangemessene Verdammung des Second Empire. An den Hallen, die Haussmann auf ein Wort des Kaisers hin: »Ich brauche weitaufgespannte Regen­ schirme«, selbst konzipiert und dem anfangs widerstrebenden Baltard aufdrängen mußte, hätte Zola studieren können, daß die von ihm so schrecklich verdammte Zeit nicht nur technische Entwürfe mit Phan­ tasie zu realisieren wußte, sondern auch Stil hatte. Zola ist dank seiner Verführbarkeit durch das Grandiose und das Grazile zum Sänger der Hallen geworden. Ein Glücksfall, daß Bauten, die nach hundert Jahren der Spitzhacke und dem Bulldozer zum Opfer fallen, in die große Literatur eingingen, bevor sie verschwanden. 180

In den Kapiteln, die Zola den Freuden der Tafel und ihren Materia­ lien widmet, spielt ein persönlicher Hang des Gourmets mit, gele­ gentlich sogar das, was mit einem Beiklang von Tadel Gourmandise genannt wird. Feinschmeckerei und Völlerei wohnen bei Zola dicht beieinander. Schon aus einer seiner ärmsten Lebensepochen, damals in Bordeaux, berichtet er von den köstlichen Austern von Arcachon. Mit Flaubert, Turgenjew, Edmond de Goncourt - der Bruder Jules war während des Krieges jung gestorben - und Alphonse Daudet hatte Zola seit etwa 1874 einmal im Monat einen kulinarischen Tag, der sich bis in die Nachtstunden ausdehnen konnte. Die Herren hatten sich gefunden, indem sie feststellten, daß sie gemeinsam kein Glück bei den Pariser Bühnen und deren szenischen Praktikern gehabt hatten. So feierten sie ironisch als »refusés« ihren Club und frönten den Freuden der Tafel. Zola scheint sich dessen nie bewußt geworden zu sein, daß er in Dingen des Geschmacks manche nicht durchaus gute Seiten des Zweiten Kaiserreichs, dessen Gier und Begierden zu tadeln er nicht müde wurde, geteilt hat. Wie er in La Curée im Gegensatz zu seinen verehrten Lehrmeistern Balzac und Flaubert in Orgien der Beschrei­ bung des Sinnlichen schwelgt, so ähnlich auch im Ventre de Paris. Mit Recht führt der große Cézanne-Kenner Lionello Venturi an, daß Zola in den seitenlangen üppigen Beschreibungen, etwa der Früchte, das Wesen des Stillebens geradezu verkenne. Der Romancier habe von diesem seinem Buch selbst erklärt, er wolle darin »ein gewaltiges Stilleben« (une immense nature morte) geben. Venturi führt ein Beispiel an, das sich vervielfachen ließe: »Auf der Auslage hatten die schönen Früchte, köstlich in Körben dargeboten, die Rundungen von Wangen, die sich verbergen, schöne Kindergesichter, halb unter dem Laubvorhang verborgen; die Pfirsiche besonders, die sich rötenden Montreuil, von feiner heller Haut wie Mädchen des Nordens, und die Pfirsiche des Südens, braun und sonnverbrannt zeigten die Sonnen­ bräune der Mädchen der Provence.« Der Kritiker, der dazu einlädt, ein Cézanne-Stilleben daneben zu halten, rügt Zolas Sucht, seinen Leser zu verführen. Das Beispiel belegt die Zolasche Manier, aus dem Angeschauten in reizverwandte Motive auszubrechen und ein erzähl­ tes Motiv mit andern assoziativ zu überladen. Die prunkvolle Überla­ denheit im Dekorativen aber ist das, was der von Zola so scharf gerügten Gier des Zweiten Kaiserreichs entspricht. Diesen Wider­ spruch in Zolas Ästhetik aufdecken heißt nicht, seine Virtuosität verkennen. Er ist freilich in nicht wenigen Bezügen seines Werks auf der Makartstufe stehengeblieben. Es bleibt bis heute erstaunlich, daß dieser Mann der Vorkämpfer Manets gewesen ist. Überzeugend dagegen bewährt sich die naturalistische Methode 181

der genauen Beobachtung im Milieu der Kleinbürger. Lisa Quenu, eine geborene Macquart aus Plassans, ist in ihrer individuellen Art und sozialen Determination so interessant und modern gesehen wie die tüchtige und tragische Gervaise von UAssommoir, eine Schwester der Lisa. In ihr hat Zola mit dem untrüglichen Instinkt, den er für Leute im engen Milieu hat, etwas gesehen, ja eigentlich entdeckt, das erst in unserm Jahrhundert sozial typisch zu grassieren beginnt. Wie diese ehrbar tüchtige Beherrscherin eines Metzgereibetriebs und ihres Gatten einen aus der Deportation Geflüchteten, Halbbruder ihres Mannes, alsbald als Eindringling (intrus) und Bedrohung ihrer Reputation und Existenz sieht, wie sie ihn fernzuhalten und unterzu­ bringen sucht, wie sie ihn auf Distanz und als Almosenempfänger abgesondert hält und schließlich den Gang zur Polizei antritt, um den lästigen und gefährlich werdenden Schwager durch Denunziation aus ihrem sozialen Bereich loszuwerden - das ist eine so konsequent durchgespielte Studie zum großen Kapitel des Sozialverhaltens in der organisierten Großgesellschaft, daß man Zola nur Bewunderung für dieses gesellschaftskritische Bravourstück zollen kann. »Eine Macquart, Tochter Antoines... sie ist schön, gesund, sie schwitzt Glück aus. Sie muß zweiunddreißig sein, im vollen Aufblü­ hen ihrer Natur... vor dem Staat hat sie den Respekt der Polizeiser­ geanten, der Bewerber um einen Posten; sie ist für die Regierung, die jeweils obsiegt, unterstützt sie, wenn sie wankt, bewahrt ihr den Dank des Bauches für alle Rindersteaks, die sie gegessen oder ver­ kauft hat. Unter dem Vorwand, die Ordnung aufrechtzuerhalten und die Gesellschaft zu verteidigen, treibt sie ihren Mann zu allen sozialen Gemeinheiten. Vor der Familie ist sie moralisch, rät ihrer Schwester (Gervaise) zur Arbeit, hilft ihr, wenn’s nötig ist, läßt sie fallen an dem Tag, an dem sie sich durch sie bloßgestellt fühlt (hier ist das Drama zu finden). Im Kreise ihrer Bekannten geht sie auf den Erfolg los, umschmeichelt die in guter Position, bereitet sich ein warmes Nest, in dem sie genüßlich schlummert« (so Zola selbst in den Entwürfen zu dem Roman Der Bauch von Paris). Von Anfang an hatte Zola ein symbolisches Thema vor Augen, den Bauch. Ein Monstrum, in das die gewaltigen Nahrungsmassen ein­ strömen und aus dem sie wieder austreten. Zola meint so etwas wie eine apokalyptische Vision der Animalität. Um das Monstrum anschaubar zu machen, braucht er eine Landschaft, die Hallen von Paris, und eine Person: Lisa. Er kann sich nicht genug tun, ihre saubere äußere Erscheinung, ihren hellen Teint, ihren leichten Fleischgeruch, ihre Gesundheit, Ehrbarkeit, Freundlichkeit, ihren gemessenen Charme mit Kunden und ihre kühle Seele zu umkreisen. Lisa hält es mit den Satten. Das ist zugleich ihr politisches Credo. Die 182

sozial über ihr stehen, nimmt sie nicht wahr. Die Mageren sind ihr verdächtig. Die verdauen nicht gut. Die sind nicht Bauch, sie sind die Unruhe. Der junge Huysmans, der bald Zolas Schüler und Gefolgsmann werden sollte, hat das Animalische dieser Frau und ihresgleichen zusammen mit den gewaltigen Massen von Fleisch, Fisch, Frucht, Käsen, Fetten unter den schwebenden Dächern der Hallen als ein Werk aus der üppigen Palette der großen Flamen, voran Rubens, gerühmt. Daß Zola mit geradezu genialem Instinkt zugleich einen scharf umrissenen Typus der modernen Massengesellschaft erkannt und beschrieben hat, haben seine konservativen Kritiker nicht bemerkt. Bourget vermißt die genaue Zeichnung, Goncourt doziert, daß populäre Sujets »linear« erfaßt werden müßten. Aber auch die Lobredner, die sich an der »flämischen« Buntheit, Saftigkeit und Üppigkeit der Gemüse-, Fleisch-, Früchte- und Fische-Stilleben ästhetisch erlabten, haben das Wesentliche des Werks übersehen. Zola hat kaum in einem andern Roman eine psychische Konstellation so eindeutig als neurotisch erkannt und beschrieben. Die Merkmale sind am deutlichsten an Lisa abzulesen, finden sich aber in vielfältigen Schattierungen bei den meisten han­ delnden Personen des Romans, ausgenommen die Außenseiter wie der Heimkehrer Florent oder der Maler Claude. Es handelt sich um eine kollektive Freß- und Fettsucht, die durch Angst hervorgerufen ist. Weder Lisa noch sonst jemand ihresgleichen ist böse von Anlage und Charakter. Die Leute in den Hallen sind allermeist bieder und ehrbar und legen auf das soziale Image der Korrektheit hohen Wert. Die Angst, ins soziale Abseits zu geraten, steckt den Leuten, aus deren Reihen vor Jahren die Aufrührer der Revolution von 1848 gekommen waren, noch tief in den Knochen. Sie sind durch ihre Existenzangst libidinös gestört. Die Beziehung Lisa-Quenu ist sexu­ ell und erotisch steril. Was in andern Büchern Zolas Unterleib ist, hat sich in diesem auf den Magen verlagert. Die Frauen der Hallen strahlen bei körperlicher Sauberkeit und Frische Geschlechtslosigkeit aus, sie haben ihre Begierden verdrängt und sie in Neid sublimiert, der die Nachbarschaftsbeziehungen vergiftet. Lisa, die in den dunk­ len Geflügelkellern der Markthallen, wahren Folterbänken für das Federvieh, träge sinnlich den jungen Marjolin in Erregung versetzt, stößt den Jungen, den sie begehrlich gemacht hat, kalt von sich. Es ficht sie nicht an, daß er sich den Schädel auf dem Schlachtstein gespalten haben könnte. »Sie liebte die süße Empfindung zu genie­ ßen, eine erlaubte Sache, aber ohne Konsequenz.« Vergleicht man die beiden Romane Die Beute und Bauch von Paris, ergibt sich eine Diskrepanz. Die Kritik, die Zola an den oberen 183

Rängen der Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs übte, wird oft vom Autor in die Szenen, Menschen, Situationen hineingesprochen. Am deutlichsten wird dies an der zentralen weiblichen Gestalt der Beute deutlich, einer Frau aus altangesehenem großbürgerlichem Hause, die nach einer tragischen Jugend an den Parvenü Saccard verschachert wird und aus Verzweiflung im Exzeß die Selbstvernichtung sucht. Ein individueller Fall also, der allenfalls von innen mit subtiler, an die Person und ihr Schicksal gebundener Psychologie aufzuhellen gewe­ sen wäre. Dieses Problem hat der Konstrukteur Zola nicht ganz zu bewältigen vermocht. Dagegen bietet sich der Typus Lisa, ein außengesteuerter Mensch, wie wir ein Jahrhundert später sagen werden, geradezu an, literarisch von außen konstruiert zu werden. Lisa ließ sich mitsamt ihren Geschlechtsgenossinnen aus der Umwelt der Markthallen, aus Her­ kunft und sozialen Gewohnheiten konkret aufbauen. Selbst die neu­ rotischen Züge sind gruppenbedingt. Der Autor brauchte zum Ver­ ständnis der Aktionen und Reaktionen nichts hinzuzutun. Um so mehr Intensität und Fleiß konnte er auf die Steigerung des Themas Bauch verwenden. Das wiederum lief auf eine neue Variante des Generalthemas »Débordement des appétits« (Ausufern der Begier­ den) hinaus: Die Hauptstadt als Paradies der Esser und Fresser, beherrscht vom Kult des Bauches. Für diese Sicht brachte der Autor persönliche Voraussetzungen mit, die auf eine Neurose hindeuten. Zolas Verhältnis zum Bauch schwankt zwischen sybaritischer Genußsucht und Ekel. Der Hunger seiner jungen Jahre hat ihn für die im Ventre de Paris entwickelte Mythologie, daß die Menschheit von dem Gegensatz der Satten und der Mageren bestimmt werde, geradezu vorbestimmt. Die Zeugnisse, die bei Zola über gesundheitliche Störungen im Verdauungstrakt berichten, sind zahlreich. Zola neigte, wie Goncourt vielfach notiert, zu Fettleibigkeit. Gargantua war ihm ein Leben lang ein Archetyp. Als später die Zolas reich geworden waren, haben sie ein gastliches Haus in Médan an der Seine geführt. Selbst Goncourt, dessen Boshei­ ten über das parvenühafte Interieur und den Aufwand des kinderlo­ sen Paares, über die nicht durchaus feine Dame des Hauses, in Livree gesteckte Lakaien und die Stimmungen des Hausherrn an Deutlich­ keit nichts zu wünschen übrig lassen, konnte sich über die genosse­ nen Köstlichkeiten, die Weine eingeschlossen, nicht genug tun. Sol­ che Tafeleien, die oft auch nach Theaterpremieren stattfanden und durch Médisance aus Neid und Schadenfreude gewürzt wurden, wechselten mit Perioden nervöser Magenverstimmungen, die Zola so peinigten, daß er das Rotweinglas nur zitternd zu halten und sicht­ lich inmitten der Conviven nur peinlich die Contenance zu wahren

vermochte. Concourt zeichnet mehrfach genüßlich auf, daß Zola ausgerechnet bei Tische über sein ödes Leben klagte, das ihm nur Freuden der Tafel lasse. Diese Notizen in Goncourts Journal spielen kaum verdeckt auf eine vermutete Disharmonie von Tisch und Bett an. Der kritische Leser der Tagebücher hat von dessen manchmal ärgerlichen Aufzeichnungen den Ertrag, die geradezu ungeheuerliche Produktivität Zolas, der Jahr um Jahr einen neuen Band seines Roman-Zyklus fertigstellte, aus angedeuteten Spannungen des Intim­ lebens besser zu verstehen. Der Mann, der den Bauch von Paris schrieb, war in einer Person Satter und Magerer zugleich. Dies galt wohl für seine psychische Konstitution mindestens ebenso wie für die physische. Als er Le Ventre de Paris 1872 beendet hatte und mit dem »Cor­ saire«, einem nach 1871 gegründeten republikanischen Blatt, über den Vorabdruck verhandelte, schrieb er in diesem Blatt einen politi­ schen Sonntagsartikel von solcher Schärfe, daß das Blatt aufgrund der noch gültigen Kriegsgesetze verboten wurde. Darin hat der Roman­ cier die aufkommende monarchistische Bewegung und ihren Chef, den Herzog von Broglie, bezichtigt, die Clique, die abgewirtschaftet habe, erhebe schon wieder ihr Haupt, um sich üppig in der Macht einzurichten, während die arbeitslosen Arbeiter und ihre Kinder in den Faubourgs bittere Not litten. Politisch stellte sich Zola mit diesen scharfen Ausführungen eindeutig auf die Seite der »Mageren«, die er im Roman durch einen Intellektuellen, den Maler Claude Lander, als die Unruhigen hatte charakterisieren lassen. »Das Verbot des >Corsaire< hat gewaltiges Aufsehen gemacht«, schrieb er Weihnachten 1872 an Freund Roux, »ich verliere dabei einiges Geld, aber ich gewinne schrecklichen Lärm.« Ein neues Blatt, das sich »L’Etat« betitelte und als republikanisch-konservativ zu profilieren suchte, erschien unmittelbar im Anschluß an den Lärm und brachte dank Zolas Geschicklichkeit den Roman in einer von einigen anstößigen Sätzen gereinigten Fassung in Fortsetzungen her­ aus. Das Blatt lebte genauso lange, wie die Fortsetzungen liefen. Im April brachte Zolas rühriger Verleger Charpentier das Buch heraus, das sich so gut verkaufte, daß bereits einen Monat darauf die zweite Auflage fällig wurde. Die kulturkonservative »Revue des deux Mon­ des« empfahl dem Autor, dem immerhin gewisse literarische Qualitä­ ten bescheinigt wurden, »auf ungesunde Übertreibungen, die den öffentlichen Geschmack verderben können, zu verzichten«. Ähnlich engherzig und kleinlich Paul Bourget und Edmond de Goncourt, der im Populären das Tragische vermißt. Maupassant delektierte sich an den Gerüchen von Meer und Küchenkräutergarten, den das Buch i 8 j

ausströme, Huysmans am Reichtum der Fleischtöne und an der animalischen Freß- und Liebeslust des Pärchens Marjolin-Cadine. Der politische und sozialpsychologische Gehalt und die Mythe von den Fetten und den Mageren scheint den Zeitgenossen nicht aufge­ gangen zu sein. Zola hatte früh Anlaß zu Depressionen.

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Das gute Weib aus der Straße zum goldenen Tropfen

Der Titel L’Assommoir des Romans, der Zola den Durchbruch brachte, ist von äußerster Brutalität. Assommer heißt totschlagen. Die deutsche Übersetzung Totschläger erklärt sich nicht mehr von selbst, weil die Sache Destille kaum mehr bekannt ist. Im alten Berlin und im alten Köln gab es in den zwanziger Jahren noch Destillen, zuweilen sogar noch den mit Kolben, bauchigen Glasballons und Kupferstangen ausstaffierten Destillierapparat am Ort der Kneipe. Der Sprit, mit dem sich der Proletarier der armen Viertel nach der Wochenlöhnung die Gurgel putzt, ist in der Tat ein Totschläger. Die Straße »Zum goldenen Tropfen« und das Viertel ringsum zwischen den Batignolles und dem Montmartre, Zola wohlbekannt, da er nach dem Verlassen des Quartier Latin ein Leben lang im Umkreis der Batignolles gewohnt hat, war und ist ein Volksviertel, in dem die Menschen dicht beieinander und übereinander wohnen und arbeiten. Zu Zolas Zeit und im Zweiten Kaiserreich waren Häuser, Straßen und Höfe überfüllt, weil die Haussmann-Durchbrüche die Arbeiterbevölkerung an die Ränder in die Faubourgs getrieben hat­ ten. Auch lagen Werkstätten kleiner Handwerker wie größere Betriebe, von der Dampfschmiede bis zur Knopffabrik oder dem Laden, in dessen Hinterräumen künstliche Blumen oder Wurst gemacht wurde, dicht beieinander. Ein Volksviertel voller Betrieb­ samkeit in direkter Nachbarschaft der Mietkasernen, in dem die Tageszeiten der Arbeit und die Nachtzeiten der Tanzcafés und des großstädtischen Vergnügungsrummels den Rhythmus bestimmten. Die Gerüche der Garküchen und der Kneipen mischten sich mit denen der Abwässer und Kloaken. Es war ein Viertel der Nachbar­ schaften in Schwatz, Streit und gemeinsamen Festen, eine Sozialland­ schaft voller Spannungen und Ritualen, die Schicklichkeit, Verhalten und den Ruf regelten. Zola hat als junger Bohemien in den Straßen um den Sankt Geno­ vevaberg elfmal die Wohnung gewechselt. Oft blieb er die Miete schuldig und wurde exmittiert. Heute gibt dort am ehesten noch die Rue Mouffetard eine Vorstellung von dem Milieu. In den Roman L’Assommoir brachte Zola viel eigene Sozialerfahrung ein. Durch seine verarmte und vergrämte Mutter hat er die Frauen der armen Viertel und Frauenarbeit gekannt. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Mutter sich als Wäscherin und Näherin durchgeschlagen hat, liegt nahe. Die Brüder der Mutter aus der Familie Aubert waren durchweg 187

kleine Leute in engen Verhältnissen. Zolas spätere Frau wurde in ihren jungen Jahren im Einwohnerregister als Arbeiterin geführt. Die Romanszenen, die im Waschhaus oder in der zur Straße liegenden Bügelstube der Gervaise spielen, sind so penetrant genau und reali­ stisch in den Arbeitsbedingungen und -konflikten, so intensiv bis zu den Gerüchen, die der schmutzigen Wäsche entströmen, aufgezeich­ net, daß sie in ihrer Zeit und bis heute als Erschließung einer literarisch bislang inexistenten Dimension galten. Die Heftigkeit der ersten Reaktionen gegen den Roman, als er im »Bien public« in Fortsetzungen erschien, war in ihren Motiven nicht einhellig. Die Zeitung mußte unter dem Druck der Empörung den Vorabdruck abbrechen, nachdem sie sich bei Beginn einen unge­ wöhnlichen Werbungserfolg versprochen hatte. Sie begründete die Unterbrechung als Pause, da der Autor mit dem Manuskript nicht nachgekommen sei und um einen Aufschub gebeten habe. Es fällt auf, daß Zola der Zeitung nicht etwa einen Teil des für damalige Verhältnisse üppigen Honorars von 8000 Goldfrancs zurückzahlen mußte, und daß kein Geringerer als Catulle Mendès, eines der Häupter des strikt auf Form haltenden literarischen Parnass, die Fortsetzung in seinem Wochenblatt »La République des Lettres« für weitere 1000 Francs übernahm, einem Blatt, das mit dem »Bien public« unter einem Verlagsdach erschien. Die für UAssommoir bezeichnendste Reaktion kam nicht von Rechts, sondern von Links. In dem Gambetta nahestehenden Blatt »La République française« ist die Rede von der »neronischen« Ver­ achtung des Volkes durch den Autor. Die gehässige Bemerkung entbehrt nicht der Pikanterie, offenbart sie doch eine gewisse Verle­ genheit des Journalisten, der, indem er Zola Verachtung des braven Volkes vorwarf, den Autor nicht als Ausbeuter oder Kapitalisten zu denunzieren wagte und in der Verlegenheit seine Zuflucht zu der Vokabel nahm, die ausgerechnet Zola mit dem Scheusal des klassi­ schen Altertums identifizierte. Andererseits gab der »Figaro« bald, nachdem er einen Kritiker seine volle Verachtung mit Worten wie Unsauberkeit und Pornographie hatte ausdrücken lassen, einer Gegenkritik Raum. Albert Wolff schrieb, als das Buch bei Charpen­ tier Anfang 1877 ohne Kürzungen und Verstümmelungen vorlag: »L Assommoir ist mehr als ein Roman, es ist eine Enthüllung. Mit diesem bedeutenden Buch verschwindet der Arbeiter der alten Romanze.« Das dürfte auf Victor Hugos Les Misérables gemünzt gewesen sein. In der Kritik ist dann die Rede von der Kraft, die der Gebrauch der Sprache des Arbeiters dem Bericht Zolas gebe. Diejeni­ gen, die den Kampf für und wider Zolas Arbeiterroman mit den bereits in die Literaturgeschichte eingegangenen Schlachten um 188

Hugos »Hernani« (1830) verglichen, bekamen durch den weiteren Gang der Auseinandersetzung Recht. L'Assommoir muß so unge­ heure Wirkungen ausgelöst haben, daß kein Geringerer als Flaubert, der anfänglich an Turgenjew geschrieben hatte, Zola habe eine Umkehrung der lächerlichen »Preziösen« ins Ordinäre vollzogen und sei das Opfer seiner Prinzipien geworden, in einem Brief vom Februar 1877 sein Urteil änderte: »... in dem Buch gibt es großartige Partien, eine Erzählkunst von großer Gangart und unbestreitbaren Wahrheiten. Das Ganze ist zwar zu lang in derselben Tonart, aber Zola ist ein Bursche (gaillard) von schöner Kraft und Sie werden sehen, was für einen Erfolg er haben wird.« Das erstaunlichste und intelligenteste Urteil kam von Mallarmé (La chair est triste hélas et j’ai lu tous les livres), der im selben Jahr 1876 Après-midi d’un faune veröffentlicht hatte. Er schrieb an den Autor: »Mon eher confrère, das ist ein großes Werk, würdig einer Epoche, in der die Wahrheit die populäre Form der Schönheit wird. Diejenigen, die Sie anklagen, nicht für das Volk geschrieben zu haben, täuschen sich ebenso wie die, die einem alten literarischen Ideal nachweinen. Sie haben ein modernes gefunden, das ist alles. Der dunkle Schluß und ihr bewun­ dernswerter linguistischer Versuch, dank dem so viele oft unpas­ sende, von armen Teufeln geprägte Ausdrucksweisen den Wert und die Kraft der schönsten literarischen Prägungen annehmen, die uns Literaten ein Lächeln oder Tränen entlocken - das erregt mich im höchsten Grade; ist es ein angeborener Hang von mir oder vielleicht ein Gelingen Ihrerseits, ich weiß es nicht. Der Anfang des Romans jedoch bleibt für mich bis jetzt der Teil, den ich am meisten mag. Die so wunderbar aufrichtige Einfachheit der Beschreibungen des Coupeau bei der Arbeit oder der Frau in ihrer Bügelstube bezaubern mich durch ihren Charme, ohne daß sie mich die Traurigkeit des Schlusses vergessen ließen. Sie haben die Literatur mit diesen so ruhigen Seiten, die wie die Tage eines Lebens ablaufen... um etwas absolut Neues bereichert. Ich verfolge in vielen Zeitungen mit der Freude, die jedermann angesichts einer endlich wiedergutgemachten Rechtsver­ weigerung empfindet - denn man beginnt bei Gelegenheit Ihres großen Erfolgs von der Beute und der Sünde des Abbé Mouret erneut zu sprechen - den Meinungsumschwung in bezug auf Sie. Das mußte kommen. Sie haben es selbst gewußt.« Dieser Brief des Dichters des Symbolismus markiert am deutlich­ sten den Schnittpunkt, an dem sich in der Mitte der siebziger Jahre die literarischen Entwicklungslinien trafen. Mallarmé gesteht Zola eine neue Form des literarisch Schönen zu und begrüßt ihn als einen Modernen. Damit war gemeint: Wir haben beide trotz aller Diver­ genz die literarische Tradition hinter uns gelassen. 189

Das war mehr, als Zola selbst in seinen theoretischen Schriften zur Literatur im Zeitalter der Naturwissenschaften, die für ihn zugleich die ganze Wissenschaft vom Menschen enthielt, formuliert hat und in den folgenden Jahren noch formulieren wird. Das Vorwort, das Zola der Buchausgabe voranstellt, faßt in ein paar knappen, auffallend selbstsicheren Sätzen noch einmal das Pro­ gramm der Rougon-Macquart zusammen und weist die »beispiellos brutalen Angriffe und Denunziationen« auf das Buch und seinen Autor kurz und hart ab. »Ich verteidige mich nicht. Mein Werk wird mich verteidigen.« In dem Vorwort finden sich zwei Formulierun­ gen, die über das naturalistische Programm hinausgehen. Die eine besagt, der Romen L'Assommoir sei »Moral in Aktion«, der andere er sei »das keuschste meiner Bücher«. Moral in Aktion bedeutet inhaltlich, wiederum mit des Autors eigenen Worten, den schicksalhaften Abstieg einer Arbeiterfamilie in dem verdorbenen Milieu unserer Vorstädte. Wenn 'Lo \ a L'Assommoir als sein mit Sicherheit keuschstes Buch bezeichnet, dann scheint er, der sich nie gescheut hat, im Kampf mit Journalisten und Kritikern gelegentlich auch Terrain zu räumen, zuzugeben, daß der frühe Zola gelegentlich »unkeusch« geschrieben habe. Die Wissenden dachten an Thérèse Raquin, vor allem aber an Die Beute, ein Buch, in dessen Laszivität der Autor mitunter verwickelt schien. Moral in Aktion und keusch, unter diesen Stichworten rekapitulie­ ren wir die Essenz von L'Assommoir. Ein gewisser Lander, von Gewerbe Hutmacher, ansonsten ein Mann, der sich als Republikaner aufspielt und mit einigen Zeitungsartikeln renommiert, die er in seinem schäbigen Koffer aufhebt, kommt mit einem blutjungen Ding aus der Sippe der Macquart und ihren zwei Knaben nach Paris, mietet sich in einem schäbigen Hotel ein und geht der jungen Gervaise alsbald mit einem Flittchen durch. Die junge Mutter aus der Provinz, blond, brav, einigermaßen hübsch - sie hinkt ein wenig, das Proleta­ rierkind aus einer Trinkersippe - steht vor dem Nichts. Die junge, trotz ihres Mißgeschicks ungebrochene Person heiratet den um sie werbenden Bauklempner Coupeau, sie finden eine sehr kleine bescheidene Wohnung, ziehen ihre Jungen auf. Gervaise gebiert tapfer und ohne weitere Umstände ein Mädchen, das Nana heißen und sein wird. Sie kann einiges zurücklegen, da sie sparsam ist wie ihr Mann. Die Leute sind, was man auf deutsch »ordentlich« nennt. Gervaise, die sich im Viertel durch eine Prügelei im Waschhaus mit einer herausfordernden Konkurrentin einen Namen gemacht hat, hängt dem Traum nach, nicht länger Tagelöhnerin sein zu wollen, sondern selbständig mit ein paar Angestellten in einem zur Straße hin offenen Laden schmutzige Wäsche anzunehmen, sie in eine Dampf190

Wäscherei zu geben, sie dann in eigener Regie bügeln zu lassen und an die Haushalte zurückzuliefern. Die künftige Chefin findet ein Lokal, sie wird voll mitarbeiten. Hinter dem Arbeitsraum wird man eine bescheidene Wohnung mit wenig Licht haben. Man zieht in eine riesige Mietskaserne ein. In deren vier vom Hinterhof aus zugängli­ chen Blöcken wohnen Menschen, die als Heimarbeiter oder auswärts ihr Auskommen suchen, nicht wenige bereits Gestrandete, andere schlecht und recht, viele allein, alle einander sehr genau beobachtend. Die Öffentlichkeit des Mietshauses ist kurioserweise sehr auf Ehrbar­ keit bedacht. Gervaise ist bald die Seele des neuen Hausstands. Ihr Lebensziel ist eindeutig kleinbürgerlich. Der Versuch, aus dem Elend und der Unsicherheit herauszukommen, ist von vornherein mit Hypotheken belastet. Gervaise hat bei den Goujets, dem Hausstand einer verwitweten Mutter, die Klöppelspitzen anfertigt, und eines Sohns, der als Grobschmied einigermaßen gut verdient, an die 500 Franken geborgt. Die andere Unsicherheit liegt darin, daß der »Auf­ stieg« zu einem ruhigen und sorglosen Glück davon abhängt, daß Mann und Frau gesund bleiben. Ihre Umwelt ist voller bedrohlicher Signale. Ein brutaler Mann prügelt seine Frau zu Tode, wenn er volltrunken nach Hause kommt. Ein alter Anstreicher hat nach fünfzig Arbeitsjahren keinen Pfennig, als er nicht mehr arbeiten kann. Im 6. Stock lebt ein Paar in mittleren Jahren, das Gervaise nicht wohlwill. Die Frau ist eine Schwester Coupeaus, eine neidische, zu keiner Hilfe bereite, geizige Frau voller Bosheit und übler Nachrede. Die zahlreichen Kinder wachsen in lichtlosen Höfen und Wohnungen auf. Sie sehen und hören nicht viel Gutes. Gervaise hält sich zunächst an die sozialen Glücksfälle, eine Kohlenhändlerin, andere tüchtige Geschäftsleute und an den sie scheu wie eine Madonna verehrenden Schmied Goujet. Ihr Ideal ist, ehrbar zu leben, keine Sorgen und ein warmes Bett zu haben, einen treuen Mann, mit dem man sich sehen lassen kann, und nicht geschlagen zu werden. Gervaise hat ein gutes, ein mitunter zu gutes Herz. Sie vermag Nachbarn, denen es weniger gut geht, nicht abzuwehren. Sie hat ihre Mühe mit den Büglerinnen. Die Männer streunen im Sommer vor dem Laden herum, wenn die schwitzenden Frauen ihre Blusen abstreifen und bei einem Kaffee schwatzend verweilen. Gervaise hat nicht die Eigenschaften ihrer Schwester, der Metzgersfrau Lisa im Ventre de Paris. Ihre Weiblich­ keit hat den Charme und die Schwäche einer gewissen Trägheit. Brecht würde sie mit einem Unterton, der Unheil verheißt, einen guten Menschen genannt haben. Das erste Unheil ist ein Arbeitsunfall Coupeaus, der just, als er seinem Töchterchen Nana von der Rampe eines Dachs herunter zuwinkt, abstürzt. Der Mann, ein braver Kerl, solange ihn die 1 9 1

Verhältnisse halten, kommt davon und wird nach langem Krankenla­ ger zu Hause wiederhergestellt. Seine Frau Gervaise, deren weibliche Reize Zola mit Dezenz geradezu liebevoll schildert, bewährt sich bei der Gelegenheit prächtig. Aber sie vermag die Dinge, die ins Gleiten kommen, nicht aufzuhalten. An diesem Punkt setzt der Erzähler als sehr genauer Beobachter ein. Er hält sich zurück, läßt das epische Geflecht sich gleichsam von selbst weiterspinnen. Nur ein fast unauffälliger Satz hin und wieder, der einen Wendepunkt markiert, findet sich gelegentlich. So etwa in einer Szene, die durch die penetrante Notierung der Geruchsnuancen und die undelikaten Anspielungen einer Büglerin an die Grenze des Erträglichen geht. Zola erspart, wenn er Armut und Kleinleuteleben mit der Nase wahrnimmt, seinen Lesern nichts. Den Coupeau, der als Genesender noch nicht wieder an regelmäßige Arbeit denken mag, packt inmitten der Berge stinkender schmutziger Wäsche ein zärtli­ ches Verlangen. Er greift nach seiner hübschen Frau und küßt die Widerstrebende vor den Arbeiterinnen. Gervaise, die um der Ord­ nung willen zwischen Intimleben und Arbeit genau unterscheiden möchte, läßt es schließlich zu, daß Coupeau seine Gefühlsaufwallung demonstriert. »Der grobe Kuß, den sie Mund auf Mund tauschten, war wie ein erster Sturz in das langsame Abgleiten ihres Lebens«, heißt es da, als habe die Norne gemurmelt. So beiläufig das gesagt ist, die Situation wird blitzartig erhellt. Zola ist ein reifer epischer Autor geworden. Selbst in den fürchter­ lichsten Szenen des letzten Drittels, da der erste Liebhaber, zurück­ gekommen, das bißchen Normalität und das bißchen Glück zerstört hat - das für Zola so typische Motiv des »Intrus« -, Coupeau längst ein Trinker und Faulenzer, Gervaise schlampig und Nana eine früh­ reife Göre geworden ist, die Coupeaus ihre Schulden nicht zurück­ zahlen und an Ansehen bereits so viel verloren haben, daß ihnen Bäcker, Metzger und Weinhändler kaum mehr Ware auf Pump geben, hält sich der Erzähler im Hintergrund. Das Moralische in Aktion heißt, daß die Personen, allen voran Gervaise, trotz ihrer guten Anlagen, vom ersten Nachgeben an in einen Mechanismus geraten. Zufällige Ereignisse, boshafte Verleum­ dungen, Neid der Nachbarn, schäbige Niedertracht, die den Abstieg befördern, indem man Gervaises gutmütige Art und ihren Hang zum Gewährenlassen, ihre Gastlichkeit und ihre Freude am gemeinsamen Essen und Trinken ausnutzt, so daß die Familie sich immer tiefer in Schulden verstrickt - das Gewebe des Geschehens wird mit einer bei Zola bis dahin unbekannten, geradezu altmeisterlich genauen Beob­ achtung und Aufzeichnung des Einzelnen immer dichter geknüpft. Das Schicksal steckt in den Dingen, oft in kleinsten Begebenheiten, 1 9 2

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K: 45 Edouard Manet, Olympia, Ausschnitt, 1863, Paris, Louvre, Jeux de Paume. Das Bild hat Zolas „A/ana“inspiriert.

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46 Triumph des Operet­ tenkomponisten Jacques Offenbach. Zeichnung von Gill.

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47 Alexandre Cabanel, Die Geburt der Venus, 1863, Paris, Louvre. Das Gemälde war die „cause célébré“ des Sa­ lons von 1863 und wurde vom Kaiser an­ gekauft. Der Maler er­ hielt dreimal die große Ehrenmedaille der Sa­ lons und war von 1867 bis 1878 Jury-Mitglied.

48 Betinet, Die Kurtisane Blanche d’Antigny, „männermordend und Vermögen fressend“, eine Nana, mit dem modischen Fahrrad in Sportkleidung. Mu­ seum Sceaux, Ile de France.

49 Edvard Munch, Die Begierde nach dem Weibe, 1895, Lithogra­ phie.

50 Theophile Steinlen, Gervaise, Lithographie.

51 Edgar Degas, Die Büglerin­ nen (Paris, Louvre), Ein Bei­ spiel für die in den siebziger Jahren anzutreffende Nähe zu Themen des Naturalismus.

52 Karikatur von Gill: Zola als Naturalist mit der Lupe. Die Buchtitel sind die der ersten fünf Bände der Rougon-Macquart.

*i3 Eröffnung des Warenhauses „Grands Magasins du Louvre“ 1877. Die zeitgenössische Heliogravüre zeigt die Pracht der palastartigen Archi­ tektur und das feine bürgerliche Publikum.

54 Illustration zu Zolas Waren­ hausroman, oben der Licht­ hof des „Bon Marché“. 55 Damen vor den Tischen der „Weißen Wochen“. 56 Das Titelblatt der Nana-Polka für Klavier.

aber auch in den moralischen Charakteren. Unerhörte Rohheiten, die brutale Erfahrung des Hungers, der Abbau der Hemmungen, wenn Gervaise aus Ekel vor dem durch Erbrechen verunreinigten Bett des besoffenen Coupeau schließlich der Verführung durch Lautier erliegt, werden mit nüchterner Sachlichkeit Schritt um Schritt abge­ spult. Das fatale Verhalten der Verwandtschaft beim Tode der Mutter Coupeaus oder die unreife Sexualität der Mädchen in Madame Lérats Blumenwerkstatt, die Promiskuität als Folge des dichten Nebenein­ anderwohnens und des Fehlens von Lebensinhalten oberhalb der schieren Notdurft, die Angst vor dem nächsten Mietzinstermin - der Bericht ist nüchtern, detailgenau, grausam. Entgegen der These mancher Interpreten, Zola habe bereits in L'Assommoir eine Sozialmythe geschrieben, muß gesagt werden, daß er in diesem Buch einen geradezu unerbittlichen Realismus exerziert. Die Resonanz, die das Buch in allen Schichten fand, verdankt es der Logik der kleinen, oft zufälligen Ursachen. Erst nach intensiver Vorbereitung reißt der Vorhang und wird Schicksal sichtbar. Wenn der geschundene Körper der achtjährigen Lalie, des Mütter­ chens, wie sie der Autor zubenennt, auf dem Sterbebett sichtbar wird, weil ein Laken von dem dürftigen Lager abrutscht, heißt es, die blutende, schmerzensreiche - ein Wort aus der Passion - Nacktheit einer Märtyrerin sei sichtbar geworden. Mit solchem Satz läßt sich der Autor nicht direkt vernehmen. Aber das Wort Märtyrerin eröff­ net so etwas wie eine Transzendenz des banal Naturalistischen. Auch Blasphemien transportieren den naturalistischen Konkretismus ins Überwirkliche. Zola ist in seinem Werk gelegentlich dicht am Umschlag des fürchterlich Wirklichen ins Makabre. Der Symbolist Mallarmé hat sich von den Worten Gervaises »Monsieur, so hören Sie doch, hören Sie, Monsieur«, mit dem die Verzweifelte auf dem Boulevard Clichy einen Freier zu gewinnen hofft, tief angerührt bekannt. Einmal heißt es, Vater Colombes Kneipe sei am Samstag­ abend hell wie eine Kathedrale am Festtag »der heiligen Löhnung« erhellt gewesen. Solche Metapher kündigt blasphemisch das Hölli­ sche an, zu dem der Naturalist eine auffällige Affinität gehabt hat. Wenn die Schilderung des Delirium tremens des Coupeau sich auch strikt an den exakten, wissenschaftlich kontrollierten Tatbestand hält, öffnet sich die Szene schließlich doch ins Symbolische. Unversehens geraten dem Autor die Stadien des Irreseins im Delirium, zumal in der Beschreibung der merkwürdigen Zittertänze, die der Mann in der gepolsterten Isolierzelle aufführt, zur düsteren Groteske. Zola hatte sich zwar durch Befragung von Neurologen und das Studium medizi­ nischer Spezialwerke genau informiert. Was er dann aber literarisch daraus macht, weicht in Zugriff und Stil von der wissenschaftlichen 1 9 3

Medizin ab. Das groteske Moment des Vorgangs kurz vor Coupeaus Zusammenbruch wird im Roman durch ein Satyrspiel vollends aus der Sphäre der Klinik herausgehoben und ins Makabre übersetzt. Gervaise, inzwischen auf der untersten Stufe des moralischen Abbaus, führt in der Pförtnerloge einer neugierigen Nachbarschaft Coupeaus seltsame tänzerische Verrenkungen zur Belustigung vor. Noch deutlicher wird die Grenzüberschreitung vom naturalistischen Motiv ins Symbolistische in dem Endspiel Gervaise-Bazouge. Wenn Gervaise sich, vom Hungerdelirium gepeinigt, in einem Anfall von Irresein dem Zimmernachbarn Leichenbestatter anzubieten scheint, wird deutlich, daß der Vorgang die Dimension des banal Wirklichen vollends überschreitet. So ist es schließlich der Leichenbestatter Père Bazouge, der eines Morgens die tote Gervaise zärtlich in seine groben schwarzen Hände nimmt, sie im Armensarg birgt und ihr zuredet: »Hör zu, ich bins Bibi-la-Gaité, genannt der Damentröster. Komm’, jetzt bist du glücklich. Mach’ heia. Hübsche!« Das ist der Spruch über der Leiche einer Frau, die einmal brav und ordentlich gewesen ist und deren Wünsche waren, in Ruhe zu arbeiten, ein Nest und immer Brot zu haben, die Kinder aufzuziehen und nicht geschlagen zu werden. Ihr Dasein beschließt Zola im Ton des Villon. Aber es ist nicht so, daß das Buch erst am Schluß zur Ballade würde. Zola hat lange vor Bert Brecht mit sicherem Kunst­ verstand die Poesie derer, die unten und nicht im Licht leben, als Schauerkomödie verstanden. Im Trivialen hat er den Anfang der Schrecken entdeckt. L'Assommoir ist auch eine Komödie, ein Roman der Gauner, der Lumpen und der bizarren Gestalten. Es beginnt mit dem ungemein komischen Hochzeitsessen des Paars Gervaise-Coupeau, dem grotes­ ken Ausflug der Gäste in die Gemälde- und Skulpturensäle des Louvre. Wie ein Leitmotiv ziehen sich die Protzereien mit allerlei Kleideraufwand und die Kläglichkeit des Renommierens durch die Kapitel. Unflätigkeiten, faustdicke Derbheiten, Zoten und Anzüg­ lichkeiten, Lieder aus Küche, Gosse und Schlafkammern sind bei Gervaisens großem Namenstagsgelage als Prunkstücke in das Gemälde der Trivialität gesetzt. Aus zahllosen Details komponiert der Romancier ein Sittentableau, in dem Rohheit, ehrpusselige Zim­ perlichkeit und Blasphemien dicht beieinander liegen. Kein Wunder, daß ein von Victor Hugos Pathos übersättigtes Bürgertum eine bislang unbekannte, literarisch tabuierte Vitalität als Farce genießen lernte. Zola hat diese Wirkung wohl nicht beabsichtigt. Kein Wunder auch, daß die wenigen Sprecher und Schreiber der sozialen Klasse, die hier dargestellt wurden, Enttäuschung und nicht selten Empörung äußerten. Die sich formierende sozialistische Linke zeigte sich mit 1 9 4

dem Autor erst versöhnt, als er acht Jahre später Germinal in der Apotheose der Ausgebeuteten enden ließ. In der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern sah sich Zola genö­ tigt, die politischen Konsequenzen, die sich aus der in dem Buch enthaltenen sozialen Bestandsaufnahme etwa ergeben könnten, über­ spitzt zu formulieren, so daß das Buch fast als politischer Tendenzro­ man erscheinen konnte. In Abwehr der Angriffe, daß er das Volk geschmäht, beschmutzt und sogar verhöhnt habe, hat Zola in der Zeitung »Bien public«, die im Sommer des vergangenen Jahres den Abdruck abgebrochen hatte, geschrieben, es sei die Schuld einer idealistisch-romantischen Politik, Utopien zu entwerfen, bevor sie das Wirkliche studiert habe. Der Autor besteht weiter darauf, ein sozial nützliches Buch geschrieben zu haben, das unter Beschränkung auf einen Ausschnitt Vorgänge, Zustände und Ursachen analysiere. »Ich habe Wunden aufgezeigt, ich habe heftig Leiden und Laster erhellt, die man heilen kann. Ich bin nur ein Registrator und versage es mir, Folgerungen zu formulieren. Ich überlasse es den Moralisten und den Gesetzgebern über die Sorgen nachzudenken und Heilmittel zu finden. Jawohl, so ist das Volk, aber es ist so, weil die Gesellschaft es so will.« Solche Sätze hat der Autor, seine von Beginn an eingenommene Position durchhaltend, als Naturalist sei er mehr ein Wissenschaftler denn ein Schöngeist, vermutlich selbst als zweideutig und möglicher­ weise schädlich durchschaut. In Polemiken um seine Person und sein Werk hat Zola oft eingegriffen. Die Attitüde des feinen Mannes, der es verschmäht, sich selbst zu interpretieren, lag seinem Naturell fern. Er hat Literatur irgendwie auch als Politikum verstanden. So scheu und anfällig für Schmähungen er war, er hat mehrfach daran gedacht, direkt politisch tätig zu werden. Die Gefahr, die Zola lief, wenn er den Roman L'Assommoir direkt in politische Bezüge stellte oder ziehen ließ, war, daß darüber der literarisch-künstlerische Anspruch vom Autor selbst preisgegeben zu sein schien. Ist also L'Assommoir doch ein als Bestandsaufnahme und Analyse getarnter Tendenzroman? Kann, muß man das Buch, eines seiner besten, gegen seinen Autor verteidigen? Die Antwort läßt sich mit dem Blick auf die zentrale Gestalt des Buches geben, Gervaise. Diese Frau ist eine rundum menschliche Gestalt der großen Literatur, eine der bewegendsten und realsten in Zolas riesigem Personenregister. Zugleich entspricht sie den Begriffen der naturalistischen Theorie. Zu ihrer psychophysischen Konstitution bemerkt Zola, sie sei erblich von der Mutter her bestimmt, die unter dem Namen Fine eine Ehe in 195

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