Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft: Eine grundrechtsdogmatische Untersuchung zum Normbereich von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes [1 ed.] 9783428492213, 9783428092215

Das abwehrrechtliche Verständnis von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist keine adäquate grundrechtsdogmatische Konzeption, um de

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Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft: Eine grundrechtsdogmatische Untersuchung zum Normbereich von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes [1 ed.]
 9783428492213, 9783428092215

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RALF KLEINDIEK

Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 745

Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft Eine grundrechtsdogmatische Untersuchung zum Normbereich von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes

Von

Ralf Kleindiek

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kleindiek, Ralf: Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft : eine grundrechtsdogmatische Untersuchung zum Normbereich von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes / von Ralf Kleindiek. Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 745) Zugl.: Gießen, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09221-X

Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09221-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen im Sommersemester 1997 als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnte ich bis auf wenige Ausnahmen bis Ende 1996 berücksichtigen. Entstanden ist diese Arbeit während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Herrn Prof. Dr. Brun-Otto Bryde, der das Thema der Dissertation angeregt hat. Ihm danke ich sehr für das in mich gesetzte Vertrauen, für seine fortwährende Unterstützung, für den Diskussionszusammenhang, den er an seinem Lehrstuhl zur Entstehung auch dieser Dissertation gestiftet, und den eigenen wissenschaftlichen Freiraum, den er mir zu ihrer Fertigstellung gewährt hat. Dem Präsidenten des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen, Herrn Prof. Dr. Klaus Lange, danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens, für manch aufmunterndes Wort und für die Förderung, die er als Mentor des Forschungsschwerpunkts Umweltrecht des Landes Hessen an der Justus-Liebig-Universität dieser Arbeit hat zuteil werden lassen. Astrid Wallrabenstein, Michael Bäuerle, Matthias Mayer und Dr. Bernd Hoppe, mit denen ich an der Professur für Öffentliches Recht und Wissenschaft von der Politik zusammengearbeitet habe, danke ich für ihre stetige Diskussionsbereitschaft und die kritische Durchsicht des Manuskriptes. Vor gröberen sprachlichen Ungereimtheiten haben mich Ute Klostermann und Jan Schäfer bewahrt. Frau Marga Pfeffer hat mit der ihr eigenen Souveränität und Umsichtigkeit die Druckvorlage erstellt; hierfür danke ich ihr herzlich. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern. Ohne ihre Unterstützung und ihr bedingungsloses Zutrauen wäre es mir nicht möglich gewesen, die Voraussetzungen für diese Arbeit zu schaffen. Gießen, im August 1997 Ralf Kleindiek

Inhaltsverzeichnis Einleitung

15 Erstes Kapitel: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

27

I.

Problemstellung

27

II.

Experiment, Gesetz und Fortschritt als soziologische Kennzeichen der Wissenschaft

32

1. Die sozialen Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft a) Ingenieure

35

b) Universitätsgelehrte

36

c) Humanisten

37

d) Ergebnis

38

2. Das Entstehen neuzeitlicher Wissenschaft: Experiment, Gesetz und Fortschritt als Determinanten

39

a) Das Experiment

40

b) Das Gesetz

41

c) Der Fortschritt

46

d) Der reflexive Gehalt von Experiment, Gesetz und Fortschritt e) Ergebnis III.

34

48 50

Die Organisation neuzeitlicher Wissenschaft

52

1. Wissenschaft und Technik

52

2. Das Verhältnis von Wissenschaft und Technik im Wandel seiner Organisation

54

a) Die Organisation der Akademien als Prozeß der Entdifferenzierung f

56

b) Organisatorische Differenzierung von Wissenschaft und Technik

58

Inhaltsverzeichnis 3. Genforschung

109

a) Wissenschaftlich-technische Grundlagen

112

b) Gesetzliche Grundlagen

113

c) Gentechnische Forschung: Wissenschaft oder Wirtschaft?

113

d) Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen

114

VII. Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft

118

1. Die Umwelt als Labor

121

2. Wissenschaftliches Wissen zwischen Gesetzmäßigkeit und Erfahrung

125

3. Die Ambivalenz von Chancen und Risiken durch wissenschaftlichen Fortschritt

129

a) Gefahrenproduktion durch Wissenschaft

134

b) Gefahrenidentifikation durch Wissenschaft

135

Zweites Kapitel: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem: Vom Lebensbereich Wissenschaft zum Normbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG

137

I.

Problemstellung: Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht "Jedermanns"?

137

II.

Wissenschaftsfreiheit in den Verfassunggebungen bis zur Weimarer Reichsverfassung

144

1. Wissenschaftsfreiheit als Mitteilungsfreiheit

144

2. Wissenschaftsfreiheit als Verwirklichung des Humboldtschen Bildungsideals

147

3. Die Verfassunggebungen in der wissenschaftlichen Rezeption

148

4. Ergebnis

150

Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 142 und Art. 118 WRV

152

1. Verfassunggebung: Die Beratungen zu Art. 142 WRV

153

2. Die Staatsrechtslehrertagung 1927: Das Grundrecht der deutschen Universität

155

3. Ergebnis

159

Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

162

III.

IV.

10

Inhaltsverzeichnis 1. Die Begründung der Wissenschaftsfreiheitsgarantie in Art. 5 Abs. 3 GG als Grundrecht "Jedermanns"

162

a) Verfassunggebung

162

b) Die Fortschreibung als Grundrecht der Universität

163

c) Art. 5 Abs. 3 GG als "Jedermanns"-Grundrecht

165

d) Die Staatsrechtslehrertagung 1968: Die Repersonalisierung des Art. 5 Abs. 3 GG

166

e) Das Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts

168

f) Folgerungen

170

aa) Gewährleistung freier Wissenschaft des Einzelnen

171

bb) Organisation freier Wissenschaft g) Industrieforschung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts h) Ergebnis

172

2. Die Begrenzung der Wissenschaftsfreiheitsgarantie in Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht a) Grenzen der Wissenschaftsfreiheit als Problem der Abwägung aa) Weite Normbereiche als grundrechtsdogmatische Prämisse Lebensbereich Wissenschaft als Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG

173 176 178 180

181

bb) Die Einschränkbarkeit von Art. 5 Abs. 3 GG zugunsten des Tierschutzes als Anwendungsfall cc) Ergebnis b) Begrenzung als Problem des Normbereichs

184 188 191

aa) Begrenzung des Forschungsprivilegs durch die allgemeine Rechtsordnung als immanente Nichtstörungsschranke

192

bb) Begrenzung des Wirkbereichs der Wissenschaft

193

cc) Begrenzung durch die allgemeine Verantwortung des Wissenschaftlers dd) Ergebnis

194 195

Inhaltsverzeichnis Drittes Kapitel: Vom Lebensbereich Wissenschaft zum Normbereich der Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgmndrecht

201

I.

Problemstellung: Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit

201

II.

Grundrechtstheoretischer und grundrechtsdogmatischer Zugang

208

III.

Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

210

1. Freiheitsrechte in ihrer Abwehrfunktion

211

2. Die Genese der Freiheitsrechte in ihrer Leistungsfunktion

212

a) Teilhaberechte

214

b) Schutzpflichten

215

c) Drittwirkung

218

d) Verfahrensgrundrechte

220

e) Organisationsgrundrechte

222

3. Grundrechtstheoretische und -dogmatische Folgerungen

224

a) Teilhaberechte

224

b) Schutzpflichten

225

c) Drittwirkung

226

d) Verfahrensgrundrechte

226

e) Organisationsgrundrechte

227

f) Ergebnis

228

4. Objektive Leistungsansprüche als eigenständige Grundrechtsfunktion

229

5. Subjektivrechtliche Folgen objektiver Grundrechtsfunktionen

233

IV.

Folgen für die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG

236

V.

Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsauftrag an den Staat

239

1. Der äußere Aspekt der Wissenschaftsfreiheit: Pflicht des Staates zur Organisation autonomer Wissenschaftseinrichtungen

242

a) Staatliche Organisationsleistung als Vermittlungsfunktion

244

b) Äußere Grenzen der Wissenschaftsfreiheit

245

Inhaltsverzeichnis 2. Der innere Aspekt der Wissenschaftsfreiheit: Verfassungsrechtliche Anforderungen an autonome Binnenstrukturen

247

a) Die sozialen Normen autonomer Wissenschaft

249

aa) Die Mertonschen Normen

250

bb) Ihre Kritik und Fortentwicklung

251

(1) Diskrepanz zwischen Geltung und Erfüllung (2) Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftssoziologie

253

(3) Finalisierung der Wissenschaft

255

b) Folgen für den verfassungsrechtlichen Wissenschaftsbegriff

252

256

aa) Die Relevanz der sozialen Normen autonomer Wissenschaft für das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht

257

bb) Die Relevanz der sozialen Normen autonomer Wissenschaft fur Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht

259

Die Verwirklichung autonomer Wissenschaft als Parameter für die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten

261

1. Universitäre Forschung und Lehre

262

a) Aufgaben

263

aa) Forschung

263

bb) Lehre

264

cc) Einheit von Forschung und Lehre

264

dd) Drittmittelforschung

265

b) Äußere Organisationsbedingungen

266

c) Innere Organisationsstruktur

267

aa) Geschäftsführung

268

bb) Wissenschaftliche Partizipation

269

cc) Staatliche Aufsicht

269

d) Folgerungen für die Bedingungen autonomer Wissenschaft 2. Max-Planck-Gesellschaft als Trägerorganisation

271 274

a) Aufgaben

275

b) Äußere Organisationsbedingungen

275

c) Innere Organisationsstruktur

276

Inhaltsverzeichnis aa) Geschäftsführung

277

bb) Wissenschaftliche Partizipation

277

cc) Staatliche Aufsicht

278

d) Folgerungen für die Bedingungen autonomer Wissenschaft 3. Fraunhofer-Gesellschaft als Trägerorganisation

278 281

a) Aufgaben

281

b) Äußere Organisationsbedingungen

282

c) Innere Organisationsstruktur

282

aa) Geschäftsführung

283

bb) Wissenschaftliche Partizipation

283

cc) Staatliche Aufsicht

284

d) Folgerungen für die Bedingungen autonomer Wissenschaft 4. Großforschung

285 286

a) Aufgaben

287

b) Äußere Organisationsbedingungen

288

c) Innere Organisationsstruktur

289

aa) Geschäftsführung

290

bb) Wissenschaftliche Partizipation

290

cc) Staatliche Aufsicht

291

d) Folgerungen für die Bedingungen autonomer Wissenschaft

292

5. Ressortforschung

295

a) Aufgaben

295

aa) Wissenschaftliche Beratung

296

bb) Wissenschaftliche Aufsicht und Kontrolle

298

b) Folgerungen für die Bedingungen autonomer Wissenschaft

303

6. Ergebnis

304

7. Folgen für die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten

306

a) Ressortforschung als wissenschaftliche Aufsicht und Kontrolle

307

b) Ressortforschung als wissenschaftliche Beratung

308

c) Wissenschaft im Kontext ökonomischer Verwertung

308

14

Inhaltsverzeichnis VII. Subjektivrechtliche Folgen von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht

309

1. Die Wissenschaftseinrichtung als Grundrechtsträgerin

310

2. Der einzelne Wissenschaftler als Grundrechtsträger

313

Viertes Kapitel: Vom Lebensbereich Wissenschaft zum Normbereich der Wirtschaftsfreiheit

318

I.

Problemstellung: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

318

II.

Industrieforschung als Referenzgebiet von Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen

322

1. Die Organisation wissenschaftsrelevanter Binnenstrukturen der industriellen Forschung und Entwicklung

324

III.

a) Die Organisation des Forschungs- und Entwicklungsbereichs nach technisch-wissenschaftlichen Disziplinen

325

b) Die Organisation des Forschungs- und Entwicklungsbereichs nach Phasen wissenschaftlich-technischer Erkenntnisoperationen

327

c) Die Organisation des Forschungs- und Entwicklungsbereichs nach Produkten bzw. Produktgruppen

329

2. Folgerungen für die Bedingungen autonomer Wissenschaft

331

Grundrechtsschutz für die Industrieforschung

333

1. Kein Schutz der Industrieforschung durch Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht

334

2. Kein Grundrechtsschutz ftir Industrieunternehmen aus Art. 5 Abs. 3 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG

336

3. Wirtschaftsfreiheit des Unternehmens aus Art. 12 Abs. 1 GG als Abwehrrecht

338

4. Berufsfreiheit des Industriewissenschaftlers aus Art. 12 Abs. 1 GG IV.

Folgen für die Auslegung einfachen Rechts: Die Besteuerung von Großforschungseinrichtungen als Fallbeispiel

339 340

Zusammenfassung

344

Literaturverzeichnis

358

Sachwortverzeichnis

382

Einleitung Wissenschaft, ihre Funktion und ihre Reputation wird zunehmend Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Der Grund hierfür wird in der mittlerweile janusköpfigen Gestalt vor allem der Naturwissenschaften gesehen: Einerseits sei der wissenschaftlich-technische Fortschritt aufgrund der mit ihm einhergehenden Gefahren zunehmender Skepsis und Ablehnung ausgesetzt, andererseits steige der Erwartungsdruck an die Wissenschaften, Fortschritte zu erzielen, um Zivilisationsgefahren wirksam bekämpfen und Wohlstand dauerhaft sichern zu können. Wissenschaft in der Risikogesellschaft ist deshalb nicht nur ein Paradigma zur Beschreibung der gegenwärtigen Phase des Industrialismus, sondern sie ist das konstitutive Element einer Gesellschaft, in der es nicht mehr nur um die Nutzbarmachung der Natur im Baconischen Sinne und um die Herauslösung des Menschen aus traditionalen Zwängen geht, sondern im wesentlichen um Folgeprobleme der technisch-ökonomischen Entwicklung selbst;1 eine Entwicklung, in der die Menschheit mit der Herausforderung der entscheidungsabhängigen, industriellen Selbstvernichtungsmöglichkeit oder zumindest irreversiblen Schädigung allen Lebens auf Erden konfrontiert ist.2 Beck bezeichnet diese Entwicklung als den Weg in eine andere Moderne, als "das Ende des 19. Jahrhunderts, das Ende der klassischen Industriegesellschaft mit ihren Vorstellungen von nationalstaatlicher Souveränität, Fortschrittsautomatik, Klassen, Leistungsprinzip, Natur, Wirklichkeit, wissenschaftlicher Erkenntnis usw." 3 Der Begriff des Risikos meint demnach mehr als die durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt entstehenden Risiken; er zielt vielmehr auf gesamtgesellschaftliche (Folge)Wirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ab. Er meint deshalb auch etwas anderes als Gefahren; mit Evers und Nowotny soll im folgenden davon ausgegangen werden, daß "Risiko" als soziologische Kategorie eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Umgangs mit Gefahren bedeutet, die über Handlungstechniken, Methoden und Institu1

U. Beck, Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, S. 26. U. Beck, Gegengifte - Die organisierte Unverantwortlichkeit, 1988, S. 204. 3 U. Beck, Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, S. 10 (Hervorh. i. Orig.), zu den Konturen der Risikogesellschaft ausf. S. 25 ff. 2

16

Einleitung

tionen versucht, Gefahr abgrenzbar, berechenbar oder auch zurechenbar zu machen und so die notwendig verbleibenden Unsicherheiten zwar nicht beseitigen, aber souveräner als bisher gestalten zu können.4 In dem Maße, in dem sich Gefahren durch Wissenschaft als Gefahren unmittelbar für die Gesellschaft auswirken, werden Wissenschaft und Technik zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und möglicher Reglementierung durch den Staat. Hierdurch hat die Wissenschaft zwar einerseits ihren esoterischen Charakter verloren und wird aus ihrem Arkanum der Eindeutigkeit und des Anspruchs auf Autorität kraft Sachverstandes herausgelöst. Andererseits stoßen Kontrolle und Verbote als eine Form der Steuerung von rechtlich erfaßter Lebenswirklichkeit im Falle der Wissenschaft deutlich spürbar an ihre Grenzen. Ob sich diese Prozesse nicht nur auf die gesellschaftliche Bewertung von Wissenschaft, sondern auch auf den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß selbst auswirken, ist für die folgenden Überlegungen von herausgehobener Bedeutung; es wird dementsprechend zu problematisieren sein, inwiefern Wissenschaft als jene "asoziale dritte Welt" im Sinne von Poppers Wissenschaftstheorie noch vorstellbar ist. Nachdem sich die Idee des Fortschritts durch wissenschaftlich-technische Erkenntnis in der Renaissance durchgesetzt und ihre Verwirklichung bereits die Industriegesellschaft geprägt hat, stellt sie auch das dominierende Moment in der Risikogesellschaft. Der Grund hierfür liegt in der zunehmenden Fragmentierung und Entgrenzung des Lebensbereichs Wissenschaft. Die zunehmende Fragmentierung ergibt sich aus der fortschreitenden Differenzierung von wissenschaftlichen Disziplinen und dem sozialen Kontext, in dem sich das verwirklicht, was heute unter Wissenschaft verstanden wird. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß vor nicht einmal zweihundert Jahren davon ausgegangen wurde, daß die Philosophie die alles vereinnahmende Form menschlicher Erkenntnismöglichkeiten ist, dann bestätigt sich auch für den Lebensbereich Wissenschaft ein ständig beschleunigter Wandel gesellschaft4 A. Evers/H. Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft, 1987, S. 32 f. Zumindest mißverständlich ist der Vorwurf von U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 55 f., Evers u. Nowotny verwenden das Begriffspaar Gefahr/Risiko "eigenwillig"; unangemessen ist der Vorwurf, dessen Ertrag sei aus rechtlicher Sicht zweifelhaft: Um eine juristische Begriffsklärung geht es in der Soziologie nicht. Zutreffend dagegen die Einordnung von Evers und Nowotny bei C. Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 62 ff. Zu der Kontroverse um die unterschiedliche, bzw. bei Beck nicht eindeutige Begriffsverwendung A. Evers, Risiko und Individualisierung. Was in Ulrich Becks "Risikogesellschaft" unbegriffen bleibt, Kommune 6/1989, S. 34 ff. Hierauf scheint Beck jüngst (Die Erfindung des Politischen, 1993, S. 35) einzugehen, indem er den Begriff der "RestrisikoGesellschaft" verwendet: "hier dominiert das Selbstverständnis der Industriegesellschaft, die die entscheidungsabhängig produzierten Gefahren als 'Restrisiken' zugleich potenziert und 'legitimiert1. Dazu gehört die Annahme der vollständigen Beherrschbarkeit, denn nur unter dieser Voraussetzung ist das Restrisiko tolerierbar."

Einleitung

licher Wirklichkeit. Ein wesentlicher Faktor hierfür ist die zunehmende Entgrenzung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse. Dies gilt vor allem für die Naturwissenschaften. Wissenschaft hat bis zur Renaissance nicht nur ethymologisch einen kognitiven Vorgang beschrieben. Der philosophische Kontext, die Maxime, neues Wissen durch Nachdenken zu erreichen, hat trotz einiger Ausnahmen auch die Erkenntnisprozesse in den Naturwissenschaften geprägt. Wissenschaft war damit sozial, institutionell und erkenntnistheoretisch ein in sich geschlossenes gesellschaftliches Subsystem. Ihre heute uneingeschränkt anerkannte Symbiose mit der Technik hat die Naturwissenschaften jedoch so weit von den Geisteswissenschaften entfernt, daß an dem Verständnis eines einheitlichen Lebensbereichs Wissenschaft zunehmend Zweifel aufkommen müssen; die moderne Genforschung vor allem, aber auch Teilgebiete der Chemie und die Kernenergieforschung machen deutlich, daß sich die "Wissenschaft von der Natur zur "Machenschaft entwickelt hat.5 Dieser Befund soll jedoch nicht zum Anlaß für eine konservative oder fortschrittliche Kritik am wissenschaftlich-technischen Fortschritt genommen werden - für beide Varianten gibt es prominente Beispiele, und beide sind als Konzept zur politischen und rechtlichen Bewältigung der Risikogesellschaft gleichermaßen untauglich. Vielmehr soll anhand ausgewählter Beispiele der Strukturwandel naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts skizziert werden, um der Frage nachzugehen, inwiefern sich unter den Bedingungen der Risikogesellschaft Wissen und Machen, Verstehen und Handeln6 als gleichberechtigte und nicht voneinander zu trennende Strukturmerkmale naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts entwickelt haben. Mit anderen Worten hätten die naturwissenschaftlichen Forschungen dann ihren esoterischen Charakter insofern verloren, als nicht erst ihre Wirkungen zu einer Exterritorialität des Wissens führen. Von einer sich verändernden Verfassungswirklichkeit kann das Verfassungsrecht nicht unbeeindruckt bleiben. Gerade eine Verfassung, die Dynamik und Stabilität gleichermaßen verpflichtet ist,7 besitzt das Potential an Sensibilität, um Entwicklungen, die die Grundlage dieser Untersuchung der Wissenschaftsfreiheit in der Risikogesellschaft bilden, aufzunehmen. Die Verbindung zwischen wissenschaftlich-technischem Fortschritt und Verfassung in der Risikogesellschaft hat Thomas Vesting in prägnanter Weise hergestellt. Der Be-

5

So H.-P. Dürr, Das Netz des Physikers, 1988, S. 10 f. H.-P. Dürr, Das Netz des Physikers, 1988, S. 11. 7 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung - Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 19. 6

2 Kleindiek

18

Einleitung

reich der industriell-technischen Entwicklung entsteht zwar aus Entscheidungen, er entzieht sich jedoch den überkommenen Entscheidungs- und Kontrollmechanismen. Technischer Fortschritt erfordert fur Vesting deshalb andere Formen und andere Verfahren für politische Entscheidungsprozesse8 Diese Prämisse führt letztlich zu der Frage, wie über wegen ihrer Tragweite kaum entscheidbare Probleme in einer demokratischen Gesellschaft entschieden werden kann.9 In diesem Kontext werden der Wissenschaft Kompetenzen zugeschrieben, ihre Entscheidungen mit einer Verantwortung und Legitimation versehen, die zunehmend problematischer wird. Auch für die Grundrechtsinterpretation darf dies nicht folgenlos bleiben, und wenn der wissenschaftlich-technische Fortschritt das konstitutive Element der Risikogesellschaft ist,10 dann drängt sich die Wissenschaftsfreiheit in der Risikogesellschaft als Problem auf. Der durch die Wissenschaftsfreiheit grundrechtlich organisierte Lebensbereich betrifft zwar nur einen Teilbereich der verfassungsrechtlichen Probleme um die Schaffung und Nutzung moderner Risiken, es ist jedoch zu erwarten, daß immer wieder Art. 5 Abs. 3 GG als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht der Kristallisationspunkt für die Frage nach den Grenzen wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts sein wird. Nach überkommenem und für das (deutsche) Verfassungsrecht bisher verbindlichem Verständnis wird Wissenschaft begriffen "als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit".11 Diese nahezu einhellige Charakterisierung, die Rudolf Smend in die verfassungsrechtliche Diskussion eingeführt und auf die sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Hochschulurteil gestützt hat, ist auf ihren konkreten Entstehungszusammenhang und ihre über diesen hinausgehende Tauglichkeit als allgemeingültige verfassungsrechtliche Definition zu überprüfen. Sie ist hierzu mit pointierter Kritik aus den Nachbarwissenschaften, vor allem der Soziologie, der Wissenschaftsgeschichte, aber auch der Philosophie zu konfrontieren. Sollte die These von Jean-Francois Lyotard zutreffen, nach der es in der Postmoderne nicht mehr entscheidend sei, ob wissenschaftliche Erkenntnis wahr ist, sondern welchen merkantilen und 8

T. Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation - Über die Expansion der Technik und die Grenzen der Demokratie, 1990. 9 Zu den demokratietheoretischen Problemen der Postmoderne s. auch A. Botwinick, Postmodernism and Democratic Theory, 1993. Botwinick nimmt hier den Konflikt zwischen Moderne und Postmoderne auf, um herauszuarbeiten, inwiefern sich die demokratietheoretischen Bedingungen in der postmodernen Gesellschaft verändert haben. 10 Zu den Fragen an die Grundrechtstheorie in der postindustriellen Gesellschaft T. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, in: Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, 1994, S. 9 ff. 11 BVerfGE 35, 79 (113).

Einleitung politischen Nutzen sie hat,12 dann muß gefragt werden, ob das verfassungsrechtlich zugrunde gelegte einheitliche Verständnis des Lebensbereichs Wissenschaft noch Gültigkeit haben kann. Auch Ulrich Beck stellt die Frage nach der Rolle der Naturwissenschaften in der Risikogesellschaft jenseits von Wahrheit und Aufklärung und beantwortet sie im Sinne eines radikalen Strukturwandels wissenschaftlicher Erkenntnis.13 Sowohl Beck als auch Lyotard stützen sich in ihrer Argumentation auf das Verhältnis von Wissenschaft und Technik. Diesem wird also näher nachzugehen sein; anhand eines historischen Abrisses soll die These einer Symbiose von Wissenschaft und Technik verifiziert und ihre Bedeutung für die Naturwissenschaften in der Risikogesellschaft nachgezeichnet werden. Eine Diskussion des wissenschaftssoziologischen, -theoretischen und historischen Verständnisses von Wissenschaft führt zwangsläufig zu der Frage, inwiefern der Lebensbereich Wissenschaft autonom, nur seinen eigenen - im einzelnen näher zu bestimmenden - Gesetzmäßigkeiten folgend, vorstellbar ist. Gleichwohl, für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist der verfassungsrechtliche Wissenschaftsfreiheitsbegriff maßgeblich. Demnach ist die im Verfassungsrecht ganz überwiegend vertretene Auffassung zu überprüfen, wonach dem Grundrecht der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre aus Art. 5 Abs. 3 GG nur dann Rechnung getragen ist, indem Wissenschaftsfreiheit jedenfalls vorrangig als Abwehrrecht "Jedermanns" gegenüber staatlicher Ingerenz begriffen wird. Auch wenn sich diese überkommene Zuordnung grundrechtlicher Freiheit als nicht zutreffend erweisen sollte, würde dieser Befund allein jedoch nicht genügen, um dem Problem von Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft gerecht zu werden. Bereits andernorts wurde zu Recht darauf hingewiesen, daß Wissenschaftsfreiheit unter den Bedingungen der Gegenwart einer neuen Legitimation bedarf. 14 An das Verfassungsrecht ist damit die Frage formuliert, welche Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit bei der gesellschaftlichen bzw. rechtlichen Gestaltung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zukommt. Somit stehen auch für die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG die Naturwissenschaften im Vordergrund.

12

J.- F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1986, S. 123 ff. U. Beck, Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, S. 254 ff. 14 So schon R. Pitschas, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, DÖV 1989, S. 785 ff.; U. K. Preuß, Risikovorsorge als Staatsaufgabe, 1994, S. 543. 13

20

Einleitung

Grundrechte haben die Aufgabe, menschliche Freiheit und Gleichheit zu schützen und zu gewährleisten. Im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes sind Lebensbereiche aufgeführt, deren freie Verwirklichung besonders schutzbedürftig, für den Einzelnen bzw. die Gesellschaft besonders bedeutungsvoll ist. Auch die Wissenschaftsfreiheit erfüllt diese Voraussetzungen, ihre Verwirklichung kann aber zugleich zu einer existentiellen Gefahrdung führen. Treten Grundrechte in Konflikt mit anderen Rechten, vor allem anderen Grundrechten, dann ist ein Ausgleich der widerstreitenden Rechtspositionen herbeizuführen, der - unter Berücksichtigung der vorzufindenden, verfassungsrechtlichen Wertung - beiden Seiten möglichst weitgehend gerecht wird. Diese anspruchsvolle Aufgabe bedarf eines Maßstabs, einer Orientierung, um verläßlich durchführbar zu sein. Für die Grundrechte bildet der Normbereich diesen Maßstab. In Anlehnung an Friedrich Müller erfaßt der (zu ermittelnde) Normbereich eines Grundrechts den Ausschnitt des jeweiligen Lebensbereichs, der verfassungskräftig geschützt bzw. gewährleistet ist.15 Abgesehen von den im Kontext des jeweiligen Lebensbereichs zu ermittelnden Inhalts eines Normbereichs sind zwei grundrechtsdogmatische Weichenstellungen von allgemeingültiger Bedeutung. Zum einen bestimmt sich das Verhältnis zwischen Lebensbereich und Normbereich danach, ob ein enges oder weites Normbereichsverständnis zugrunde gelegt wird. Zum anderen ist der Begriff des Normbereichs geeignet, die beiden Grundrechtsfunktionen Schutz und Gewährleistung zu erfassen. Hiermit ist bereits terminologisch der Unterschied zwischen Anwesenheit und Abwesenheit staatlichen Handelns als Voraussetzung grundrechtlicher Freiheitsentfaltung zum Ausdruck gebracht. Funktion und Reichweite von Art. 5 Abs. 3 GG sind - trotz einer zwar nicht ungeteilten, aber ungewöhnlich einhelligen Auffassung in der verfassungsrechtlichen Literatur - bisher weder widerspruchsfrei noch konsistent begründet worden. Die Gründe hierfür sind vielfältig; sie hängen wohl auch damit zusammen, daß die Wissenschaftsfreiheit bei Wissenschaftlern eine besondere Befangenheit auslöst. Anhaltspunkte hierfür gibt es in der Interpretationsgeschichte von Art. 5 Abs. 3 GG und seinen Vorläuferregelungen jedenfalls genug. Die Bestimmung des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG als Ausschnitt des Lebensbereichs Wissenschaft ist deshalb das wesentliche Anliegen dieser Untersuchung. Nur sie kann die Voraussetzung dafür bilden, konkrete Konflikte dann verläßlich zu bewältigen.

15 F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1990, S. 11 u. passim; ders., Normstruktur und Normativität, 1966, S. 117; ders., Juristische Methodik, 1993, S. 74, 147 ff., zur Normbereichsanalyse S. 277 ff.; Vgl. hierzu und zu den abweichenden Terminologien und ihrer Bedeutung B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 23 f., 259.

Einleitung

Die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG muß hierbei zwei der derzeit wohl umstrittensten Fragen der Grundrechtsdogmatik im Blick haben. Zum einen ist dies die Kontroverse um ein enges oder weites Normbereichsverständnis der Grundrechte. Ob die Wirkkraft der Grundrechte gerade darin besteht, bestimmte Segmente eines Lebensbereichs besonders hervorzuheben, den Normbereich der Grundrechte von vornherein zu begrenzen und die Lösung von Konflikten hieran zu messen oder ob die Wirkkraft der Grundrechte in einem weiten Normbereich am besten zur Geltung kommt, der auftretende Konflikte mit anderen (Grund-) Rechtspositionen dann im Wege der Auslegung bewältigt, beschäftigt spätestens seit der Entscheidung zum "Reiten im Walde" die Verfassungsrechtswissenschaft (erneut) innerhalb und außerhalb des Bundesverfassungsgerichts. Darüberhinaus weist Art. 5 Abs. 3 GG als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht besondere Probleme auf, die zu berücksichtigen sein werden. Die andere Kontroverse betrifft die in Art. 5 Abs. 3 GG enthaltenen Grundrechtsfunktionen. Auch hier erweist sich Art. 5 Abs. 3 GG über die konkreten, wissenschaftsimmanenten Probleme hinausgehend als repräsentativ, weil die Wissenschaftsfreiheitsgarantie nach ganz überwiegend vertretener Auffassung vom Abwehrrecht über eine institutionelle Garantie bis hin zu einem objektivrechtlichen Grundrechtsverständnis alle bisher entwickelten Grundrechtsfunktionen enthalten soll. Das Verhältnis zwischen abwehrrechtlicher und leistungsrechtlicher Grundrechtsfunktion ist zu Recht heftig umstritten, denn die Konsequenzen dieser unterschiedlichen Auffassungen sind gravierend. Indem der individualrechtliche Vorrang von Art. 5 Abs. 3 GG betont wird, der die individuelle Freiheit vor staatlicher Ingerenz schützt, stellt demgegenüber die institutionelle oder objektivrechtliche Grundrechtsfunktion ein "Minus" dar; selbst wenn also die Gewährleistungen der Grundrechtsausübung durch Organisation oder Verfahren der Freiheitssicherung dienen, entfalten sie auch beschränkende Wirkung und sind insofern an Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht zu messen.16 Es wird der Frage nachzugehen sein, ob sich diese Interpretation auf das historisch gewachsene Verständnis von Wissenschaftsfreiheit, auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die tatsächlich vorzufindenden Strukturen des Lebensbereichs Wissenschaft stützen kann. Hierbei muß sich zeigen, ob die gesellschaftlichen Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der sich durch die Ambivalenz von Chancen und Risiken auszeichnet, durch repressives Verbotshandeln des Staates allein zu bewältigen ist.

16 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S. 121; ebenso T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S. 152 f.; noch deutlicher C. Starck, Freiheit und Organisation, 1976, S. 484: "Repräsentation ist Repression".

22

Einleitung

Sollte ein Verständnis der Wissenschaftsfreiheit als Eingriffsabwehrrecht dem komplex organisierten und in seinen Segmenten ganz unterschiedlichen Lebensbereich Wissenschaft nicht gerecht werden, dann hält die Grundrechtsdogmatik als Reaktion hierauf ein verfügbares und entwicklungsfähiges Repertoire an Grundrechtsfunktionen bereit. Dies zugrundelegend kann sich der Frage zugewandt werden, ob die Konzeption des Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht nicht nur einen Paradigmenwechsel in der Dogmatik zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit vollzieht, sondern auch besser geeignet ist, den Lebensbereich Wissenschaft grundrechtlich zu erfassen. Es wären dann nicht mehr primär subjektive Abwehrrechte, an denen sekundär organisatorische Vorkehrungen zur Verwirklichung freier Wissenschaft zu messen sind, d. h. es bestünde kein aus einer vorstaatlichen Freiheit resultierendes Recht des Einzelnen, an dem sich staatliche Regelungen, gleichsam immer als Eingriff in diese Freiheit, rechtfertigen müssen.17 Hintergrund dieser Überlegungen ist die Frage, ob sich freie Wissenschaft "von selbst" entfaltet, oder ob die Teilhabe an staatlichen Leistungen vielmehr die soziale Bedingung für freies wissenschaftliches Arbeiten ist.18 Hiernach wäre die Wahrnehmung der grundrechtlich gewährleisteten Freiheit von organisatorischen Leistungen abhängig, die die Entfaltung individueller Freiheit zum Ziel haben und für jene Voraussetzung sind. Es wird im einzelnen zu problematisieren sein, ob diese organisatorischen Leistungen nur im Bereich des mit öffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetriebes erbracht werden, für den Lebensbereich demnach zwischen Wissenschaft innerhalb und außerhalb staatlicher Bindungen unterschieden werden müßte. Der Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG würde sich entgegen der ganz überwiegend vertretenen Auffassung dann nur auf Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen erstrecken, Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen wäre durch andere Grundrechte, vor allem Art. 5 Abs. 1 und 12 GG in ihrer Funktion als Abwehrrechte geschützt. Diese Zuordnung führt auch zu der Frage, ob das Verständnis der Abwehrrechte bei näherer Betrachtung als die "klassische" Grundrechtsfunktion angesehen werden kann, aus der sich alle anderen erst entwickelt haben. Die Begründung der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als Organisationsgrundrecht soll demnach auch einen normbereichsspezifischen Beitrag zu den eben skizzierten Kontroversen leisten.

17 Zu recht kritisch zum Verständnis vorstaatlicher Freiheit als Maßstab für die Normbereichsinterpretation von Grundrechten auch H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 254 ff. 18 So K. Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979, S. 64.

Einleitung

Als methodische Prämisse wird davon ausgegangen, daß der Wirklichkeitsbezug von Normen gleichsam zum Normbestandteil werden muß. Damit ist zwar der Dualismus von Sein und Sollen nicht aufgehoben, für die Grundrechtsinterpretation folgt hieraus jedoch, daß die vorzufindende soziale Wirklichkeit bereits die Bestimmung des Gewährleistungsbereichs eines Grundrechts beeinflussen muß.19 Hiermit wird die Analyse und Beschreibung des Lebensbereichs "Wissenschaft" unabdingbar. Grundrechte versuchen immer, einen bestimmten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit abzubilden. Für die Wissenschaftsfreiheit ist das ambivalente Verhältnis von Wirklichkeitsbezug und Norm umso plausibler, weil Wissenschaft kein durch das Recht erzeugbarer Lebensbereich ist. Dieser Lebensbereich hat sich vielmehr, bedingt durch den jeweiligen sozial- und geistesgeschichtlichen Kontext, entwickelt und ausdifferenziert - die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG würde ohne den Einfluß des Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts anders verlaufen und die verfassungsrechtliche Interpretation muß immer offen bleiben für denkbare, auch grundlegende Veränderungen der Wissenschaftslandschaft. Der Gang der Bearbeitung ist damit vorgezeichnet. Im ersten Kapitel werden zunächst die Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft nachgezeichnet. Hierbei wird zu berücksichtigen sein, daß die Überwindung vormals bestehender sozialer und intellektueller Barrieren, die auf erheblich voneinander abweichende Traditionen der Erkenntnisgewinnung zurückzuführen sind, das Wissenschaftsverständnis der Moderne prägen. Die Orientierung der Wissenschaft an der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit führt zwar zu einer forthin engen Verbindung von Wissenschaft und Technik, der hierdurch verwirklichte wissenschaftlich-technische Fortschritt hat jedoch selbst zur Folge, daß die Erkenntnisgewinnung eine Spezialisierung nach grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung erfordert. Diese Prozesse der Differenzierung und Entdifferenzierung lassen sich anhand der Organisation der Akademien des 17. und 18. Jahrhunderts nachweisen. Grundrechtsinterpretation bestimmt sich nicht nur durch ihren Bezug zur sozialen Wirklichkeit, sondern auch durch den geistesgeschichtlichen Kontext, in dem sich das Grundrecht und seine Interpretation entwickelt haben. Dieser 19 Zu dieser methodischen Prämisse B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 259 f.; D. Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit - zum Problem eines interdisziplinären Grundrechtsverständnisses, 1982, S. 44; s. auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rn. 60 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, 5. Aufl. 1993, S. 141; in deutlicherer Abkehr von Kelsen auch schon H. Heller, Staatslehre (1934), S. 313.

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Einleitung

geistesgeschichtliche Kontext ist fur die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland besonders stark ausgeprägt; er wird getragen von dem deutschen Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts, der in seiner Entstehung und konkreten Umsetzung vor allem mit Wilhelm v. Humboldt identifiziert wird. Legt man Moraws weitgehend akzeptiertes Dreiphasenschema zur deutschen Universitätsgeschichte zugrunde,20 dann wird die Bedeutung des Wissenschaftsidealismus transparent. Moraw unterscheidet zwischen einer vorklassischen Phase bis etwa 1800, der klassischen Phase, die mit dem Namen v. Humboldt verbunden wird und die bis etwa 1960 angedauert hat und einer nachklassischen Phase, in der sich die Universitäten derzeit befinden und die durch ihren Charakter als Großbetrieb und eine sehr viel stärkere Permeabilität zwischen Universität und Gesellschaft gekennzeichnet ist. Hieraus folgt nicht nur, daß die Universitäten in sehr viel stärkerem Maße gesellschaftliche Veränderungsprozesse mitvollzogen, sie mußten in den sechziger Jahren einerseits bestimmte Entwicklungen "nachholen", andererseits wurden sie schnell zur Initiatorin von Reformen, die nachhaltige gesellschaftliche Folgen haben. Auch im Hinblick auf eine verfassungsrechtliche Interpretation muß der Idee der "Bildung durch Wissenschaft" eine hervorgehobene Aufmerksamkeit zukommen, weil die Verbindung zwischen Wissenschaft und Freiheit ihren Ursprung im Idealismus des 19. Jahrhunderts hat und diese Verbindung die Vorstellung grundrechtlich garantierter Wissenschaftsfreiheit bis in die Gegenwart prägt. Für die Charakterisierung der Wissenschaft in der Risikogesellschaft ist neben den sozialen Ursprüngen und dem Entstehen neuzeitlicher Wissenschaft, ihrer Organisation und den wesentlichen geistesgeschichtlichen Grundlagen zumindest ebenso die Entwicklung der modernen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts entscheidend. Wenn die modernen Naturwissenschaften in der Risikogesellschaft tatsächlich einen so radikalen Umbruch des wissenschaftlichtechnischen Verständnisses nach sich gezogen haben, wie dies in der Soziologie, aber auch in den Naturwissenschaften selbst angenommen wird, dann ist es notwendig, die modernen Naturwissenschaften selbst differenzierter zu untersuchen. Dies soll hier anhand der drei naturwissenschaftlichen Disziplinen synthetische Chemie, Kernenergieforschung und Genforschung erfolgen. Hieran anschließend können die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis herausgearbeitet werden, die für die Risikogesellschaft charakteristisch sind und diese Phase der Industrialisierung von früheren signifikant unterscheidet.

20

P. Moraw, Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, 1982, S. 1 ff. Kritisch hierzu jüngst Rüdiger vom Bruch, Abschied von Humboldt? Die deutsche Universität vor dem Ersten Weltkrieg, 1994, S. 17 ff., wo die Dominanz des

Einleitung

Das zweite Kapitel widmet sich der Wissenschaftsfreiheit in der Risikogesellschaft als Grundrechtsproblem in einem ersten Schritt und wird untersuchen, inwiefern die bisher entwickelten Ansätze zur Begründung und Begrenzung des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG in der Lage sind, den im ersten Kapitel beschriebenen Entwicklungen und Veränderungen des Lebensbereichs Wissenschaft durch eine adäquate dogmatische Konzeption zu entsprechen. Die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht erfolgt dann im dritten Kapitel. Diese zu entwickelnde eigene Lösung kann sich auf Überlegungen von Schmidt-Aßmann und vor allem die Habilitationsschrift von Trute stützen.21 Die Begründung als Organisationsgrundrecht setzt die objektivrechtliche Dimension als eigenständige Grundrechtsfunktion voraus. Deshalb ist in einem ersten Schritt die Bedeutung der objektivrechtlichen Grundrechtsfunktionen vor allem im Gegensatz zum Verständnis der Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte zu entwickeln; möglich und sinnvoll ist dies vor allem anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Hieraus lassen sich dann die besonderen Folgen für die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsauftrag an den Staat ableiten. Diese Interpretation des Normbereichs muß sich dann neben einem äußeren Aspekt der Wissenschaftsfreiheit auch über die dem Lebensbereich Wissenschaft immanenten Eigengesetzlichkeiten, d. h. die sozialen Normen autonomer Wissenschaft, Klarheit verschaffen. Hieraus können dann Parameter gewonnen werden, nach denen entschieden werden kann, inwiefern die Bedingungen autonomer Wissenschaft in den einzelnen Segmenten des Lebensbereichs Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen verwirklicht sind. Weitgehend entsprechend der im ersten Kapitel nachgezeichneten Ausdifferenzierung ist hierfür zwischen der universitären Forschung und Lehre, der Max-Planck-Gesellschaft und der FraunhoferGesellschaft als Trägerorganisationen, der Großforschung als eigenständigem Forschungstyp sowie der Ressortforschung zu unterscheiden. Anhand der Aufgaben, der äußeren Organisationsbedingungen und der inneren Organisationsstruktur kann entschieden werden, ob staatliches Handeln zu einer freiheitsadäquaten Organisation der jeweiligen Wissenschaftseinrichtung führt. Das vierte Kapitel schließlich hat, um den Lebensbereich vollständig zu erfassen, die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit für Wissenschaft außerhalb Humboldtschen Wissenschaftsidealismus sowohl in zeitlicher als auch inhaltlicher Hinsicht relativiert wird. 21 E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, in: FS W. Thieme, 1994, S. 697 ff.; H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionaliserung, 1994.

26

Einleitung

staatlicher Bindungen vorzunehmen. Ausgehend von den im ersten Kapitel gewonnenen Erkenntnissen erweist sich die Industrieforschung hierfür als Referenzgebiet. Auch deren Verwirklichung ist von komplexen organisatorischen Leistungen abhängig. Die freiheitsadäquate Zuordnung grundrechtlichen Schutzes muß jedoch berücksichtigen, daß Industrieforschung nicht der wissenschaftlichen, sondern der wirtschaftlichen Freiheit bedarf.

Erstes Kapitel

Wissenschaft in der Risikogesellschaft I. Problemstellung "Risikogesellschaft meint eine Epoche, in der die Schattenseiten des Fortschritts mehr und mehr die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bestimmen. Das, was anfangs niemandem vor Augen stand, nicht gewollt wurde: die Zerstörung der Natur wird zum Movens der Geschichte. Dabei geht es nicht um eine Gefahrenanalyse als solche, sondern um den Nachweis, daß unter dem Druck industrieller Selbstvernichtungsgefahren und der dadurch bedingten Auflösung traditionaler Klassen- und Interessengegensätze neue Gestaltungschancen entstehen."1 "Ähnlich wie im 19. Jahrhundert Modernisierung die ständisch verknöcherte Agrargesellschaft aufgelöst hat und das Strukturbild der Industriegesellschaft herausgelöst hat, löst Modernisierung heute die Konturen der Industriegesellschaft auf, und in der Kontinuität der Moderne entsteht eine andere gesellschaftliche Gestalt."2 Mit dieser Analyse hat Ulrich Beck seit 1986 Furore gemacht. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die These, daß die Gesellschaft sich selbst zum dominanten Risiko geworden ist, ihr Fortbestand nicht mehr nur von inneren Konflikten oder von außen kommenden Bedrohungen abhängt, sondern vor allem von selbsterzeugten Risiken.3 Beck meint, damit eine postindustrielle

1 U. Beck, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Politik in der Risikogesellschaft, 1991, S. 10, Hervorh. i. Orig. 2 U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, S. 14. 3 Der Begriff "Risikogesellschaft" wird, soweit ersichtlich, zum erstenmal von Yair Aharoni in seiner Monographie "The Non-Risk Society" zugrunde gelegt. Aharoni geht allerdings von einem engeren, auf die unmittelbaren Gefahren für die Menschen, wie etwa Hunger, Krankheit oder Arbeitslosigkeit beschränkten Risikobegriff aus; vgl. Y. Aharoni, The Non-Risk Society, 1981, S. 4. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die These, daß die wesentlichen gesellschaftlichen Risiken "versicherbar" sind; mit der Beschreibung der gesellschaftlichen Folgen von Versicherbarkeit trifft er sich insofern mit F. Ewald, L'Etat providence, 1986; als Zusammenfassung ders., Die VersicherungsGesellschaft, KJ 1989, S. 385 ff.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

bzw. postmoderne4 gesellschaftliche Wirklichkeit vorgefunden zu haben, für deren Beschreibung die Parameter der Industriegesellschaft nicht mehr ausreichen. In der Soziologie hat sich der Begriff der "Risikogesellschaft" etabliert, selbstverständlich ohne außer Streit geraten zu sein5 ebenso blieb keine der benachbarten Wissenschaften von ihm unbeeindruckt.6 Unabhängig davon, ob man den Auffassungen Becks zustimmt oder auch in der Risikogesellschaft die nicht mehr adäquate Formel zur Beschreibung unseres gegenwärtigen Zivilisationsniveaus sieht,7 läßt sich der radikale Einfluß globaler Risiken auf die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mehr leugnen. Nahezu alle soziologischen Ansätze, die den Versuch einer Neubeschreibung machen, weisen hierbei eine auffällige Übereinstimmung auf, die angesichts des heutigen Meinungs- und Positionsspektrums überraschen kann: Im Zentrum - oder jedenfalls in dessen unmittelbarer Nähe - aller Überlegungen stehen Wissenschaft und Technik als die entscheidenden Produktiv- bzw. Innovationskräfte der modernen Industriegesellschaft. Für Jürgen Habermas ist es "ein quasi-autonomer Fortschritt von Wissenschaft und Technik, von dem die 4

Beck bleibt bei der Begriffswahl etwas vorsichtiger, wie der Untertitel der "Risikogesellschaft 11: "Auf dem Weg in eine andere Moderne" zeigt. 5 Vgl. etwa die Kritik von S. Breuer, Das Ende der Sicherheit, Merkur 1989, S. 710 ff.; A. Evers, Risiko und Individualisierung. Was in Ulrich Becks "Risikogesellschaft" unberücksichtigt bleibt, Kommune 6/1989, S. 33 ff.; H. Esser, Bspr. v. U. Beck, Risikogesellschaft, KZSS 1987, S. 806 ff.; R. Roth, Auf dem Weg in die Risikogesellschaft?, Sozialwissenschaftliche Literatur-Rundschau, Heft 15 (1987), S. 19 ff.; P. Wagner, Sind Risiko und Unsicherheit neu oder kehren sie wieder?, Leviathan 1989, S. 288 ff.; T. Schmid, Die Chancen der Risikogesellschaft, Freibeuter 1987, S. 149 ff.; D. Brock, Die Risikogesellschaft und das Risiko soziologischer Zuspitzung, ZfS 1991, S. 12 ff.; Z. Baumann, The solution as problem - Ulrich Beck's Risk Society, Times Higher Education supplement, Nov. 13, 1992, S. 25. Eine umfassende Verwerfung des Ansatzes von Beck enthält N. Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991, obwohl der Name Ulrich Beck nur einmal und eher beiläufig in der Einleitung (S. 2) und der Begriff "Risikogesellschaft" überhaupt keine Erwähnung findet. 6 Etwa B.-O. Bryde, Das Recht der Risikogesellschaft, 1992, S. 71 ff.; R. Wolf, Zur Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft, Leviathan 1987, S. 356 ff.; C. Prittwitz, Strafrecht und Risiko. Untersuchungen zur Krise von Strafrecht und Kriminalpolitik in der Risikogesellschaft, 1993; U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 53 f. für die Rechtswissenschaft; die Verbindung zwischen Wissenschaftsfreiheit und Risikogesellschaft stellt ausdrücklich H. Schulze-Fielitz, Freiheit der Wissenschaft, in: HdbVerfR, 1994, § 27, Rn. 14, 19, her; vgl. auch R. Kleindiek, Freiheit wofür? Zur Wissenschaftsfreiheit in der Risikogesellschaft, FoR 1994, S. 43 ff; H. Theisen, Wissenschaft in der Risikogesellschaft, liberal 3/1992, S. 9-16; H. Gottweis, Politik in der Risikogesellschaft, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Hefl 1 (1988), S. 3 ff. für die Politikwissenschaft; J. Bastian, Lehrerrolle in der Risikogesellschaft - Ratlos, unsicher ... und dabei auf neuen Wegen, Erziehung und Wissenschaft 4/1994, S. 6 ff. für die Erziehungswissenschaft. 7 So S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens - Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, 1992.

I. Problemstellung

29

wichtigste einzelne Systemvariable, nämlich das wirtschaftliche Wachstum, in der Tat abhängt. So ergibt sich eine Perspektive, in der die Entwicklung des gesellschaftlichen Systems durch die Logik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bestimmt zu sein scheint."8 Daniel Bell sieht die "Einzigartigkeit der Wissenschaft gerade darin, daß es ihr (zumindest bis jetzt) als einzigem Unternehmen in der menschlichen Gesellschaft gelungen ist, eine 'permanente Revolution' zu institutionalisieren. (...) Technologie ist die eine Achse der postindustriellen Gesellschaft; Wissenschaft als fundamentales Hilfsmittel die andere. Nun werden aber beide, Wissen wie Technologie, von sozialen Institutionen verkörpert und von Personen vertreten, so daß wir ohne weiteres von einer Wissensgesellschaft sprechen können."9 Auch für Rolf Kreibich gehört das Zeitalter der Industriegesellschaft der Vergangenheit an. "Sie ist zweifellos eine postindustrielle Gesellschaft, aber auch keine Wissens-, Technologie- oder Informationsgesellschaft, sondern eine auf den methodischen und organisatorischen Mustern der modernen Wissenschaft aufbauende Gesellschaft. Ich bezeichne sie deshalb als Wissenschaftsgesellschaft". 10 Was Habermas mit einer 1968 noch angemessenen Zurückhaltung formuliert hat, denkt Stefan Breuer ein Vierteljahrhundert später radikal zu Ende. Für ihn ist es die massive Expansion von Wissenschaft und Technik, die immer tiefer in die Infrastrukturen der Materie intervenieren, keine Grenzen mehr kennen und so Strukturen aufbauen und Kräfte freisetzen, die schließlich weder gesellschaftlicher noch individueller Verfügungsgewalt mehr unterliegen.11 "Aus der Wissenschaft vom Absoluten wird die absolute Wissenschaft", die nicht die einstmals erhofften Heilswirkungen bringt, sondern Ursache für die mögliche Selbstzerstörung der technischen Zivilisation und das Verschwinden gesellschaftlicher Strukturen ist.12 Ausgehend von der Kritischen Theorie Adornos und der Systemtheorie Luhmanns vollzieht Breuer den Schritt von der Autopoiesis zur Autodestruktion der modernen Gesellschaft: "Mit zunehmender Vergesellschaftung zerstört die Gesellschaft ihre eigenen Grundlagen, und sie tut dies vor allem mittels einer historisch beispiellosen Entfesselung von Wissenschaft und Technik."13 8

J. Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, 1968. D. Bell, The Coming of Post-Industrial Society - A Venture in Social Forecasting, 1973; deutsch: Die nachindustrielle Gesellschaft, S. 15 u. 218. 10 R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 25. Einen stärkeren Akzent auf die "Informationsgesellschaft" legt etwa A. Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung, 1993, S. 153 ff., 173 ff, S. 179, 222: Aufgrund der Erfahrungen in den USA sei zu erwarten, daß die Informations- und Kommunikationstechnik zukünftige Gesellschaftsstrukturen dominieren werde. 11 S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens - Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, 1992, S. 9, 157. 12 S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens S. 164, 157 ff. 13 S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens, S. 103; zur modernen Gesellschaft zwischen Selbstreferenz und Selbstdestruktion auch S. 65-102. 9

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Für Wolfgang Krohn und Johannes Weyer ist die Gesellschaft selbst bereits zum Labor geworden. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht die Frage, inwiefern durch experimentelle Forschung soziale Risiken erzeugt werden. Die moderne Wissenschaft, so ihre These, hat die Tendenz, Forschungsprozesse und die mit ihnen verbundenen Risiken über die institutionellen Grenzen der Wissenschaft hinauszutreiben und die Gesellschaft mit der Durchführung von Experimenten zu belasten. Die Gesellschaft wird so zur "Experimentiergesellschaft". 14 Auch auf konservativer Seite gibt es entsprechende Ansätze, die in ihrem analytischen Gehalt und ihren Konsequenzen das Terrain überkommener konservativer Technikkritik 15 verlassen. Friedrich Georg Jünger, der Bruder Ernst Jüngers, sieht in "Die Perfektion der Technik" diese nicht mehr nur als Instrument eines wie auch immer gearteten Willens, sondern als Ordnung sui generis, deren Entfaltung zerstörerische Wirkung hat. 16 Hat Carl Schmitt 1932 im Gegensatz hierzu die Technik dem Politischen noch untergeordnet, so daß es entscheidend sei, "welche Art von Politik stark genug ist, sich der neuen Technik zu bemächtigen, und welches die eigentlichen Freund- und Feindgruppierungen sind, die auf dem neuen Boden erwachsen",17 so macht er 1971 den "wissenschaftlich-technisch-industriellen Fortschritt" für die Erosion dessen verantwortlich, was er unter staatlicher Herrschaft versteht.18 Ebenso stellt Ernst Forsthoff in seinem Spätwerk "Der Staat der Industriegesellschaft" die technische Realisation, gemeint sind damit die Auswirkungen permanenten wissenschaftlich-technischen Fortschritts, in den Mittelpunkt neuer staats- und "

19

verfassungstheoretischer Überlegungen. Die eben skizzierten gesellschafts- und verfassungstheoretischen Ansätze machen deutlich, daß Wissenschaft und Technik nicht nur im Mittelpunkt moderner Analysen der Gesellschaft stehen, sondern Wissenschaft und Technik 14

W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt 40 (1989), S. 349. Etwa das beeindruckende Werk Friedrich Wagners, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt, 1964, das die erste wissenschaftssoziologische Darstellung der Atomphysik beinhaltet. 16 F. G. Jünger, Die Perfektion der Technik, 1968 als erweiterte Fassung des 1939 entstandenen und in der 1. Aufl. 1946 veröffentlichten Textes. 17 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1991, S. 94. 18 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Vorwort von 1971 zur italienischen Ausgabe, deutsch in: Complexio Oppositorum, 1988, S. 269 ff., hier S. 270. S. hierzu auch H. Freyer, Die Idee der Freiheit im technischen Zeitalter, in: FS f. Carl Schmitt, 1959, S. 68. 19 E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, vor allem S. 30 ff. u. 42 ff.; s. zum Begriff der technischen Realisation bei Forsthoff s. T. Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, 1990, S. 10 ff. 15

I. Problemstellung

31

werden als globalisierende, bisher nicht gekannte Initiatoren politischer, sozialer, ökonomischer, ökologischer und rechtlicher Wirkungszusammenhänge identifiziert. Dem entsprechend wird auch der Versuch, den Lebensbereich Wissenschaft zu beschreiben, mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert; denn nicht ohne Grund - das erschließt sich über den hier gewählten Zugang - hat Jean-Francois Lyotard die spezifischen Merkmale der Postmoderne erstmals anhand des Wissenschaftssystems herausgearbeitet.20 Wolfgang Welsch, einer der pointiertesten Kritiker Lyotards im "Postmodernestreit", markiert seinen Widerspruch gerade an der Bedeutung von Wissenschaft und Technik; für ihn ist deren massiver Vorstoß in alle mikro- und makrokosmischen Bereiche Beleg für eine Einschränkung des Monopolanspruchs der Wissenschaft und Indiz für das Ende der "Hegemonie szientifischer Orientierung". 21 Für eine Beschreibung des Lebensbereichs Wissenschaft, die Grundlage für eine verfassungsrechtliche Interpretation der Wissenschaftsfreiheit sein muß, ist es erforderlich, die Wissenschaft in diesem globalen Wirkungszusammenhang, den Kreibich treffend als "Wissenschafts-Technologie-Industrialismus-Paradigma" bezeichnet,22 zu erfassen, um die Bedingungen von Wissenschaft in der Risikogesellschaft in ihrem Kontext sozialer Wirklichkeit zu charakterisieren. Wissenschaftlicher Fortschritt in der Moderne hat alle drei klassischen naturwissenschaftlichen Disziplinen - Chemie, Physik und Biologie - nachhaltig geprägt und verändert. Die dort erfolgte Entwicklung ist, so Beck, konstitutives Merkmal der Risikogesellschaft. Dies führt zu der Frage, worin die Neuartigkeit dieses Fortschritts liegt, m. a. W., mit welcher Rechtfertigung er sich aus der immer mit Modernisierungsrisiken einhergehenden industriellen Entwicklung heraushebt. Sollte sich hierfür eine tragfähige Begründung finden, dann ergibt sich für die Naturwissenschaften hieraus als Folgeproblem, inwiefern sich ihr Lebensbereich unter diesem Einfluß gewandelt hat. Der zuletzt aufgeworfenen Frage kommt in dieser Arbeit eine besondere Bedeutung zu. Ausgehend von dem oben bereits erwähnten methodischen Vor20

J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1986. Diesem "Bericht" (so der Untertitel) liegt ein Forschungsprojekt zugrunde, in dem Lyotard als Philosoph das Wissen in höchstentwickelten Gesellschaften untersucht, für die er aus der amerikanischen Soziologie die Bezeichnung "postmodern" übernahm. Lyotard unternimmt den Versuch, neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, in der Politik, im Alltagsleben und in der Kunst nicht nur als Fortschreibung der Moderne, sondern als Phänomene des Bruchs mit ihr zu begreifen. Ergebnis und Prämisse zugleich ist, daß die gegenwärtigen Entwicklungen mit den traditionellen Theorien nicht mehr adäquat erfaßt werden können. Insofern werden Parallelen zu Becks Risikogesellschaft als Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklung in "eine andere Moderne" deutlich. 21 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 1988, S. 188, 222. 22 R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1. Aufl., 1986, S. 134 ff.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaf

gehen23 wird anhand der synthetischen Chemie, der Kernenergieforschung und der Genforschung der in den Naturwissenschaften selbst, aber auch aufgrund der in der soziologischen Forschung gewonnenen Erkenntnisse zu überprüfen sein, inwiefern sich für die Naturwissenschaften die Bedingungen der ernsthaften und planmäßigen Ermittlung von Wahrheit oder Erkenntnis strukturell verändert haben.24 Auf dieser Grundlage kann dann überprüft werden, ob die überkommene verfassungsrechtliche Interpretation der Wissenschaftsfreiheit mit dem so beschriebenen Lebensbereich der Naturwissenschaften kompatibel und zur Lösung der mit den Risiken durch Wissenschaft einhergehenden Probleme tauglich ist.

Π. Experiment, Gesetz und Fortschritt als soziologische Kennzeichen der Wissenschaft Die Ansätze zur Kennzeichnung der Wissenschaft sind nahezu so vielschichtig wie der Lebensbereich Wissenschaft selbst, was angesichts seines zunehmend fragmentarischen und ausdifferenzierten Charakters verständlich ist. Sie sind abhängig von den zugrundegelegten philosophischen, technologischen, historischen oder ideologischen Prämissen, denen hier nicht vollständig nachgegangen werden kann. Ein Rekurs auf die unterschiedlichen Facetten der Wissenschaften soll sich vielmehr an der oben bereits erwähnten Konzentration auf die Naturwissenschaften orientieren und versuchen, die charakteristischen Merkmale (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse nachzuvollziehen, um so die Konturen des Lebensbereichs Wissenschaft nachzuzeichnen und aus der Entwicklung bzw. Veränderung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse Konsequenzen für die Wissenschaft in der Risikogesellschaft abzuleiten. Moderne Wissenschaft in den drei genannten Bereichen synthetische Chemie, Kernenergie- und Genforschung ist experimentelle Wissenschaft. In den modernen Naturwissenschaften wird versucht, die Gesetze der Natur aufzufinden und die so vorgefundene Wirklichkeit zu verändern. Dieses Auffinden und Verändern geschieht durch Experimente. Die so gewonnenen Erkenntnisse gelten dann als Fortschritt gegenüber den bisherigen Erkenntnissen.

23 24

S. die Einleitung, S. 23. S. hierzu die Einl., S. 18.

II. Experiment, Gesetz, Fortschritt als Kennzeichen

33

Die drei Koordinaten Experiment, Gesetz und Fortschritt, die in der Wissenschaft der Moderne als Einheit verstanden werden, sind in ihren Ursprüngen voneinander unabhängig. Die Überzeugung oder, wie es Edgar Zilsel anhand der jüdischen Religion nachgewiesen hat, der Glaube an Naturgesetze, war ohne ein experimentelles Nachvollziehen natürlicher Vorgänge möglich, und die Erkenntnis, daß sich die Natur so, wie sie sich verhält, gottgegeben verhält, wurde ebenso nicht als Fortschritt im Sinne einer Verbesserung des empirischen Erkenntnisstandes begriffen. 25 Auch das experimentelle Auffinden oder Nachvollziehen natürlicher Vorgänge erfolgte, ohne daß hieraus bewußt Gesetzmäßigkeiten abgeleitet oder die gewonnen Erkenntnisse als Fortschritt empfunden wurden. So konstruierten Ingenieure und Künstler an den feudalen Höfen Asiens und Europas Wasserspiele, Automaten oder Feuerwerke, die zwar als nicht unwesentlicher Bestandteil bestimmter architektonischer Epochen galten, jedoch im Hinblick auf die so gewonnenen technisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse - oft im Gegensatz zu ihrer retrospektiven Bewertung - kaum Beachtung fanden. 26 Vor allem an den Fortschrittsphilosophien unterschiedlicher geistesgeschichtlicher Epochen läßt sich schließlich ablesen, daß sich das moderne Verständnis von Fortschritt erst mit dem Bewußtsein entwickelt hat, die Gesetzmäßigkeiten der Natur experimentell erschließen und durch dann mögliche technische, medizinische oder mathematische Innovationen die konkrete Lebenssituation der Menschen verbessern zu können. Dagegen wurde zuvor jede Weiterentwicklung überwiegend als Entfernung von paradiesischen Zuständen oder Goldenen Zeitaltern verstanden und als Fortschritt die Hinwendung zu und das Anstreben jener Ideale begriffen. 27 Bereits diese knappen Bemerkungen deuten darauf hin, daß das einheitliche Verständnis von Experiment, Gesetz und Fortschritt zur Charakterisierung von Wissenschaft als Ergebnis einer Entwicklung zu sehen ist, die erheblich weniger plausibel und bruchlos verlaufen ist, als sich dies aus heutiger Sicht darstellt. Die Entwicklung hin zu dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis und sein weiterer, heterogener Verlauf sollen hier nachgezeichnet werden, um das dann gefundene Ergebnis für die Bedingungen der Risikogesellschaft neu zu überdenken und zunächst auf das soziologische und hierauf aufbauend vor

25

Zur Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes, E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft, 1976, S. 66 f. 26 W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 8. 27 Paradigmatisch ist hierfür die Renaissance, vgl. F. Gilbert, The Renaissance Interest in History, 1967, S. S. 384; F. Rapp, Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, 1992, S. 11 ff. 3 Kleindiek

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

allem verfassungsrechtliche Verständnis von Wissenschaft anzuwenden und dieses gegebenenfalls zu modifizieren. Im Rahmen dieser Untersuchimg die Geschichte der Wissenschaften oder auch nur der Naturwissenschaften darzustellen, ist nicht leistbar und auch nicht erforderlich. Unverzichtbar jedoch ist es, die historische Entwicklung nachzuvollziehen, die zu dem heute herrschenden Wissenschaftsbild führt. Dies ist gleichwohl prekär, weil nicht nur die verfassungsrechtliche Bewertung moderner Wissenschaftsbereiche umstritten ist, sondern auch die historische Einordnung von und die Abhängigkeit zwischen den Wissenschaftsepochen. Ein Autoritätsargument, das den benachbarten wissenschaftshistorischen oder wissenschaftssoziologischen Forschungen entnommen werden kann, um die verfassungsrechtliche Beurteilung heutiger Wissenschaft abzusichern, ist also nicht zu erwarten. Es können jedoch Entwicklungslinien nachgezeichnet werden, die den dann zu findenden verfassungsrechtlichen Ergebnissen auch aus der Sicht der Nachbarwissenschaften eine höhere Plausibilität verleihen. Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte orientieren sich vorrangig an der zeitlichen Abfolge wissenschaftlicher Entdeckungen, indem das Denken, das Forschen, die Theoriebildung, die hieraus resultierende wissenschaftliche Tätigkeit und deren Ergebnisse rekonstruiert, analysiert, in real- und geistesgeschichtliche Zusammenhänge gestellt und - damit zumindest implizit - auch gewertet werden. Diesen Ansatz hat sich auch die Kultursoziologie zunutze gemacht, um die Entstehung der Wissenschaften als ein soziologisches Phänomen zu untersuchen.28 Eine solche Analyse kann die Berufe der wissenschaftlichen Autoren, ihre soziale Stellung und ihre Ideale ebenso wie die gesellschaftliche Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Wissenschaftler selbst zum Gegenstand haben. 1. Die sozialen Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft Noch in der Zeit zwischen 1300 und 1600 waren Experiment, Gesetz und Fortschritt als strukturelle Zentren der Erkenntnisgewinnung streng vonein28

Zu dem nicht spannungsfreien Verhältnis zwischen Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftshistorie W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 32 ff.: Der Konflikt ist entstanden aus dem Problem, kognitive Prozesse soziologisch zu erklären. Internalistische Ansätze in der Wissenschaftsgeschichte als Unterfall der Wissenschaftstheorie wollen sich auf die Begründung und die Verwerfung von Wissen (context of justification) beschränken, während sich die Soziologie auf die Analyse des sozialen Kontextes der Entdeckungen und Erfindungen beschränken soll.

II. Experiment, Gesetz, Fortschritt als Kennzeichen

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ander getrennt. Verdeutlichen läßt sich dies anhand der sozialen und institutionellen Stellung der jeweiligen Akteure, d. h. ihrem gesellschaftlichen Ansehen, ihrer Sprache und den Methoden ihres Arbeitens. Edgar Zilsel unterscheidet bei seiner Untersuchimg der sozialen Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft drei Ebenen intellektueller Tätigkeit: Ingenieure, Universitätsgelehrte und Humanisten, 29 a) Ingenieure In der Gruppe der Ingenieure lassen sich Künstler, Ärzte, praktische Mathematiker und Handwerker (Schiffbauer, Zimmerleute, Metallgießer, Bergleute) zusammenfassen; im 14. Jahrhundert waren diese noch eingebunden in die zünftische Ordnung der Städte, so daß die Künstler nicht von Steinmetzen oder Anstreichern und die Ärzte nicht von den Barbieren oder Hebammen unterschieden wurden. Nur ganz allmählich entwickelte sich eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Autodidakten, die vermutlich nur zu einem geringen Teil Lesen und Schreiben konnten, deren Erkenntnisinteresse jedoch über das der übrigen Handwerker hinausging. Zudem änderten sich zu Beginn der Renaissance in Ansätzen die Strukturen gesellschaftlicher Bedürfhisse; waren die Erfindungen der Handwerker an den unmittelbaren Erfordernissen des täglichen Lebens orientiert, die die vorgefundenen organischen Strukturen verbessern sollten, so liegt die Leistung der Ingenieure in der völligen Loslösung der technischen Konstruktion von der Natur und den organischen Handlungszusammenhängen.30 "Das mathematische Instrument, die Mühle oder die Uhr, sind keine Teile, die als Organverlängerung funktionieren, sondern sind in sich selbst Organismen oder vielmehr Mechanismen, deren Gang nur gesichert ist in Übereinstimmung mit Gesetzen und Regeln, die in ihnen wirken und beherrscht und verifiziert werden können."31 Herausragende Repräsentanten dieser neuen Generation von Künstler-Ingenieuren sind Brunelleschi (13761446), Ghiberti (1377-1466), Leone Battista Alberti (1404-1472), Leonardo da Vinci (1452-1519), Vanoccio Biringucci (gest. 1538) und Albrecht Dürer (1471-1528). Sie malten Bilder, gössen Statuen, bauten Kathedralen, konstruierten Hebemaschinen, Kanäle und Schleusen, Geschütze und Befestigungen, erfanden neue Farbstoffe, entdeckten die geometrischen Gesetze der Perspektive und entwickelten neue Meßinstrumente für das Ingenieurwesen und die Artillerie. Ihre Ergebnisse hielten sie in Manuskripten fest, die sie in

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E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft, 1976, S. 49 ff. W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 25. 31 S. Moscovici, Essai sur l'histoire humaine de la nature, 1968, S. 220. 30

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

ihrer Landessprache verfaßten und untereinander austauschten. Noch ohne experimentell-systematische Methode waren sie ihrer Zeit dennoch voraus; viele der theoretischen Konstruktionen Leonardos waren zu seiner Zeit praktisch nicht realisierbar. Gleichwohl deuten sich hier die Elemente an, die typisch für ein neuzeitliches Wissenschaftsverständnis sind: Das methodische Experiment, die empirische Beobachtung eines mechanistischen Weltbildes und die kausale Forschung anhand mathematischer Beschreibungen.32 Dennoch waren diese höheren Künstler-Ingenieure nur die unmittelbaren Vorgänger der Wissenschaftler, denn ihnen fehlte es an einer methodisch-intellektuellen Schulung, die es ihnen erlaubt hätte, den reflexiven Gehalt zwischen Naturgesetzen und Experimenten systematisch zu erfassen. Ihre Erfolge bildeten eine Kollektion isolierter Entdeckungen.33 b) Universitätsgelehrte Empirisches Beobachten, Experimentieren und kausales Forschen war den Universitätsgelehrten der Renaissance fremd. Sozial- und geistesgeschichtlich sind sie seit den ersten Universitätsgründungen um 1200 in Paris und Bologna bis weit in das 16. Jahrhundert hinein geprägt von der philosophischen Schule des Scholastizismus. Die Methode ist der scholastischen Philosophie durch ihren Ausgangspunkt vorgezeichnet: Wahrheit ist nicht erst zu finden, sondern durch die Offenbarung vorgegeben; Aufgabe der Wissenschaft ist es, sie mit den Mitteln des vernunftgemäßen Denkens auszulegen und zu begründen und so die gesamte Offenbarung intellektuell rekonstruieren zu können.34 Die Einheit von Wissenschaft und Philosophie kommt durch die einheitliche Verwendung der lateinischen Sprache zum Ausdruck, in der alle bedeutenden Werke verfaßt wurden und somit überall unmittelbar verstanden werden konnten. An diesen sozialen und intellektuellen Präpositionen hält auch der spätscholastische Rationalismus - trotz aller Säkularisierungen - fest. 35 Gleichwohl sind bereits während des Übergangs von der Hoch- zur Spätscholastik Auflösungstendenzen erkennbar, die dieses in sich geschlossene theologisch-philosophische Gedankengebäude in Frage stellen und die geistige Wende vom Mittelalter zur Neuzeit einleiten. Roger Bacon (1214-wahrsch. 1294) war der erste Scholastiker, der die eigene Philosophie grundlegend kriti32

Vgl. auch F. Rapp, Fortschritt, 1992, S. 130. Vgl. auch E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 58 f. 34 So W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 28, in Bezug auf Thomas von Aquin. 35 E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaften, 1976, S. 54 f. 33

II. Experiment, Gesetz, Fortschritt als Kennzeichen

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sierte. Neben einer polemischen Auseinandersetzung mit Albert v. Boilstädt (Albertus Magnus) und Thomas v. Aquin, die die aristotelische Philosophie zugrundelegen, und der Kritik an der fehlenden Rezeption mathematischer Erkenntnisse, die für Roger Bacon die Grundlage aller Wissenschaften bildet, wendet er sich vor allem gegen die wissenschaftliche Methode, alle Fragen durch das Berufen auf Autoritäten (die Bibel, Aristoteles, die Kirchenväter) und durch logische Deduktion aus diesen beantworten zu wollen. Demgegenüber fordert er die Reflexion unmittelbarer Erfahrungen, d. h. das Beobachten und Befragen der Natur durch Experimente, in welchen er die Quelle allen wahren "Weltwissens" sieht.36 Die auch geistesgeschichtliche Trennung zwischen Theologie einerseits, weltlicher Wissenschaft und Weltlichkeit andererseits setzte sich mit Wilhelm v. Ockhan (um 1290-1349) fort; ein Aufbrechen sozialer Barrieren läßt sich daran erkennen, daß Johannes Eckhart ("Meister Eckhart", um 1260-1327) seine Schriften und Predigten teilweise in deutscher und lateinischer Sprache verfaßt hat. Bacon, v. Occan und Eckhart waren jedoch in den entscheidenden Phasen ihres Wirkens Außenseiter unter den scholastischen Gelehrten und mehr oder weniger starken Repressionen der Kirche ausgesetzt;37 dennoch oder gerade deshalb sind es ihre Forderungen nach einer Wissenschaft und Philosophie, die sich unter Ablehnung jeder anderen Autorität allein auf unmittelbare Erfahrung und Beobachtung der Natur gründet, die das Entstehen neuzeitlicher Wissenschaft einleitet.38 c) Humanisten Ideengeschichtlich und ihrer sozialen Stellung gemäß befanden sich die Humanisten der beginnenden Renaissance zwischen den Ingenieuren und den Universitätsgelehrten. Prämisse ihres intellektuellen Vorgehens, das in dieser Phase vor allem von Petrarca (1304-1374) und an ihn anknüpfend später von Lorenzo Valla (1406-1457) und Michel de Montaigne (1533-1592) geprägt ist, war ein Verständnis von Geisteswissenschaften, Dichtung, Geschichtsschreibung und Moralphilosophie als Instrumenten geistiger Arbeit, durch die ein Wissen über "die Wege des menschlichen Geistes" gewonnen und vermittelt

36 "Ohne Erfahrung kann nichts ausreichend gewußt werden", zit. n. H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Band 1,1981, S. 270. 37 Roger Bacon durfte seine Erkenntnisse weder schriftlich festhalten noch lehren; er wurde nach zehnjährigemfranzösischen Exil in England für den Rest seines Lebens inhaftiert. V. Occan entzog sich einer längeren Haft in Frankreich durch eine Flucht nach München; Johannes Eckhart mußte 1327 nach einem Kirchenprozeß eine Widerrufserklärung abgeben; nach seinem Tod wurde eine Reihe seiner Lehrsätze durch päpstliche Bulle als ketzerisch verurteilt. 38 H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Band 1, 1981, S. 283.

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werden kann.39 Damit entspricht ihr Erkenntnisinteresse durchaus dem des scholastischen "Rationalismus", ihre Methode und ihr Erkenntnisgegenstand sind jedoch andere. Angeregt durch die literarischen Beispiele der Antike versuchen sie, neue Ansichten der inneren Welt hervorzubringen. Dies zeichnet sich durch eine Art "rückwärtsgewandter" Fortschrittsphilosophie aus: Es gibt das Goldene Zeitalter der griechisch-römischen Antike, in dem alle vorangegangenen Epochen ihren Höhepunkt fanden, und es gibt die Gegenwart, die die kulturellen Leistungen jener klassischen Vergangenheit zu rekonstruieren versucht. Entscheidend ist für die Humanisten in diesem Zusammenhang, daß Erkenntnisgewinnung nicht einem ewigen, göttlichen Plan, sondern dem selbstbestimmten Willen der Menschen entspringt. Diese Fortschrittsphilosophie war jedoch auf die geisteswissenschaftlichen Wurzeln der Antike beschränkt; sich Kenntnisse über die Natur so zu verschaffen, wie es die Ingenieure versuchten, war den Humanisten ebenso suspekt, wie der scholastischen "Naturwissenschaft" . 4 0 d) Ergebnis Es hat sich gezeigt, daß die geschilderten drei Ebenen intellektueller Tätigkeit historisch und sozial auf erheblich voneinander abweichende Traditionen zurückzuführen sind. Die sozialen und ideologischen Barrieren zwischen Ingenieuren, Universitätsgelehrten und Humanisten waren unüberwindbar. Diese deutliche soziale Trennung der drei Ebenen diente nicht zuletzt dazu, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu sichern, die durch ein sich veränderndes Wissenschaftsverständnis als gefährdet angesehen wurden. Gleichwohl gab es, wenn auch vereinzelt, "Grenzüberschreitungen", die das sich verändernde Bild der Wissenschaft andeuten. Charakteristisch hierfür ist das verhältnismäßig gut erforschte Leben und Werk Leonardo da Vincis. Seine in populärwissenschaftlichen Schriften fast zu einem Mythos stilisierte Bedeutung als genialer Erfinder relativiert sich zwar bei näherem Hinsehen; so hat der Literaturwissenschaftler Leonard Olschki bereits 1918 das Werk Leonardos als ein "verfehltes Unternehmen" bezeichnet41 und Bertrand Gille hat daraufhingewiesen, daß ein gutes Maß an Unwissenheit und Phantasie erforderlich sei, um aus Leonardo "gegen sein eigenes Zeugnis" einen genialen Erfinder zu machen, und seine 39 J. Gadol, Die Einheit der Renaissance: Humanismus, Naturwissenschaft und Kunst, 1969, S. 399 in bezug auf Petrarca und Montaigne. Zu diesem s. auch H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Band 1,1981, S. 290 f. 40 J. Gadol, Die Einheit der Renaissance: Humanismus, Naturwissenschaft und Kunst, 1969, S. 397 f. 41 L. Olschki, Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur, 1918, S. 412.

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Vielseitigkeit im Hinblick auf den konkreten Erfolg seiner Arbeiten mehr störend als nützlich gewesen sei. Leonardos wissenschaftshistorische Bedeutung liegt aber gerade darin, daß er sich sowohl zwischen Theorie und Praxis als auch zwischen den beschriebenen Schulen, Weltanschauungen und Erkennnismethoden befand. Daß er deshalb zu seiner Zeit fast zwangsläufig keinen an den modernen Kriterien meßbaren wissenschaftlich-technischen Erfolg haben konnte, ist auf die auch für ihn letztlich unüberwindbaren sozialen und intellektuellen Barrieren zurückzuführen. 42

2. Das Entstehen neuzeitlicher Wissenschaft: Experiment, Gesetz und Fortschritt als Determinanten Mit dem Entstehen städtischer Strukturen in der Renaissance bekommen die skizzierten intellektuellen Traditionen einen einheitlichen Bezugsrahmen, indem die vor allem auf soziale Barrieren zurückzuführende Distanz schrittweise verloren geht. Der Prozeß dieser Entdifferenzierung muß als der Prozeß der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft angesehen werden. 43 Die methodisch-intellektuelle Schulung der scholastischen Universitätsgelehrten bildete die Grundlage dafür, aus dem Wissen der Ingenieure und Künstler, das aus dem Handwerk und der Handarbeit entstanden war und durch Experimente und erfolgskontrollierte Erfahrungen Erkenntnisse gewonnen hatte, Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Den Humanisten schließlich ist die philosophische Prämisse zuzuschreiben, daß die Wirklichkeit rational verstanden werden müsse und daß die Prinzipien zu ihrer Erklärung dieser Wirklichkeit selbst inhärent sind. Hiermit ist zwar keine Fortschrittsphilosophie im neuzeitlichen Sinne entstanden, aber mit der Forderung, vor allem während des Mittelalters verlorengegangene Wissenschaften und Künste wiederzubeleben, das "rinascere l'arti perdute",44 trugen vor allem die Humanisten dazu bei, ein neues Epochenbe-

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Dies kommt zum Ausdruck bei B. Gille, Ingenieure der Renaissance, 1968, indem er Leonardo als Ingenieur (S. 174 ff.), als Techniker (S. 210 ff.) und dessen Methode (S. 242 ff.) untersucht. L. Olschki, Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur, 1918, S. 408 f., sieht Leonardo in einer Zwitterstellung zwischen "Tatsache und Vision", zwischen "Realismus und Mystik". 43 E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 49; ebenso W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation neuzeitlicher Wissenschaft, 1976, S. 29. 44 So die Formulierung von Matteo Palmieri, Della vita civile I 1944, S. 38. Dies ist nach A. Buck, Zu Begriff und Problem der Renaissance, 1969, S. 7, der erste Beleg für die Bezeichnung "Renaissance", wie dieser danach gebräuchlich wurde. Der Begriff "Renaissance" selbst ist nach L. Thorndike, Renaissance or Prerenaissance, Journal of the History of Ideas 4 (1943), S. 68, erstmals bei Pierre Belon, Observation de plusieurs

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

wußtsein zu prägen. 45 Der Universalismus der Renaissance war gekennzeichnet durch allgemeine wissenschaftliche Aktivitäten in allen Bereichen, in denen Erfahrungen gesammelt, Meinungen begründet und Verbesserungen probiert werden konnten. Damit erstreckte sich eine neue, "vorwärtsgewandte" Fortschrittsphilosophie auf alle wissenschaftlichen Erkenntnisbereiche. Diese neue Fortschrittsidee ist vor allem auf die Verbindung zwischen experimenteller Methode, mechanistischer Naturauffassung und mathematischer Beschreibung, also auf die enge Verknüpfung von Experiment und Gesetz, zurückzuführen, die so das theoretischen Denken im modernen Sinn begründet.46 Geschehen ist dies in einer Entwicklung, die gegen Ende des 16. beginnt und bis weit in das 17. Jahrhundert hineinreicht. a) Das Experiment William Gilberts (1544-1603) De Magnete (1600) ist das erste gedruckte Buch eines Gelehrten über Experimentalphysik, dessen Erkenntnisse fast vollständig aus Beobachtungen und Experimenten resultieren. Zilsel markiert vor allem an der wissenschaftlichen Methode Gilberts die Verknüpfung praktischer Ziele mit theoretischem Wissen und sieht in dem so erfolgten sozialen Aufstieg der experimentellen Methode der "handarbeitenden11 Künstler, Ingenieure und Chirurgen in die Schicht der Universitätsgelehrten eines der entscheidenden Ereignisse in der Wissenschaftsgeschichte.47 Die in De Magnete entwickelten wissenschaftlichen Methoden beruhen auf einer sehr intensiven Kommunikation Gilberts mit Seeleuten und Schiffsbauern, die seine Forschungen auf dem Gebiet der Nautik entscheidend prägen. Bergwerks-, Schmelztechnik und die Eisenverarbeitung haben die gleiche Funktion für chemische und physikalische Experimente. Die in ihren sozialen Ursprüngen oben bereits beschriebenen Konstruktionen und Verfahrensweisen der Künstler-Ingenieure führt Gilbert hierdurch zu einer planmäßigen Beeinflussimg der Natur, so daß sich Kausal-

singularitez et choses memorable, trouvées en Grece, Asie, Judee, Egypte, Arabie et autres pays estranges, 1553, nachweisbar. 45 So auch A. Buck, Zu Begriff und Problem der Renaissance, S. 4. Vor allem die Bedeutung der Humanisten wird in der wissenschaftshistorischen Forschung jedoch kontrovers behandelt. So vertreten G. Sarton und L. Thorndike die Auffassung, die Humanisten haben zur Entstehung modemer (Natur-)Wissenschaften nichts beigetragen, sondern diese aufgrund ihres Verfangenseins in den Philosophien des Mittelalters sogar behindert, vgl. G. Sarton, The Quest for Truth. Scientific Progress during the Renaissance, 1962, S. 67 ff. u. L. Thorndike, Science and Thougt in the Fifteenth Century, 1967, S. 148 ff. 46 So auch F. Rapp, Fortschritt, 1992, S. 130 f. 47 E. Zilsel, Die Ursprünge der wissenschaftlichen Methode William Gilberts, 1976, S. 98 ff.

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Vorstellungen entwickeln können, die für die moderne Naturwissenschaft prägend werden sollen. Deutlich wird hierin, daß das Experimentieren keinen bestimmten Bezug mehr zu politischen Verhältnissen oder theologischen Vorstellungen aufweist, sondern seit dieser Zeit als Versuch zu begreifen ist, durch eine Anordnung von steuerbaren natürlichen Faktoren einen Effekt zu erzeugen.48 Gilberts enge Bindung an die zeitgenössische Philosophie andererseits wird jedoch dort besonders sichtbar, wo er seine gewonnenen Erkenntnisse nicht durch Versuche oder empirische Beobachtungen absichern kann; insofern ist seine Theorie des Magnetismus in eine vitalistische Philosophie des Erdkörpers eingebettet, die die Erde als die "gemeinsame Mutter aller Dinge" ansieht und so die Elemente der scholastischen Metaphysik deutlich erkennen läßt: "Die magnetische Kraft ist beseelt oder ist der Seele ähnlich; sie übersteigt bei weitem die menschliche Seele, solange diese an einen menschlichen Körper gebunden ist."49 b) Das Gesetz Der Begriff des Gesetzes hat in den modernen Naturwissenschaften die Funktion, entdeckte und konstruierte Regelmäßigkeiten zu einem erklärenden Modell zu integrieren. Ihm zugrunde liegt die Überzeugimg von einer durchgängigen und systematischen Regelmäßigkeit der Natur, wobei dem Begriff der Regelmäßigkeit eine gewisse Homogenität und Reproduzierbarkeit der Natur unterstellt wird. 50 Wissenschafts- und geistesgeschichtlich betrachtet hat sich die Verbindung des Gesetzesbegriffs mit den anderen Kennzeichen neuzeitlicher Wissenschaft erst allmählich vollzogen. So haben noch zu Beginn der Renaissance auch die bedeutenden Wissenschaftler den Begriff "Gesetz" im Kontext ihrer naturwissenschaftlichen Arbeiten nicht verwendet. In seinem streng normativen Verständnis ist er stärker auf den theologischen und den juristischen Kontext beschränkt, als die im traditionellen Naturrecht häufig als Naturgesetze bezeichneten göttlichen Gesetze bzw. die positiven Gesetze, des weltlichen Gesetzgebers.51 William Gilbert benutzt in De Magnete einmal die 48 So die Definition v. W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 10. 49 W. Gilbert, De Magnete (1600), S. 12. 50 W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 10; G. Böhme, Einl. zu: ders. (Hrsg.), Protophysik. Für und wider eine konstruktive Wissenschaftstheorie der Physik, 1976, S. 10; vgl. auch E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft, dort zur Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes, 1976, S. 66. 51 Vgl. hierzu R. Grawert, Stichw. Gesetz, in: Gesch. Grundbegriffe, Bd. 2, S. 894; E.-W. Böckenförde, Der Rechtsbegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung, Archiv f. Begriffsgeschichte 12 (1968), S. 145 ff.

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Formulierung "Regel und Norm der Gleichheit", die durch seine Hypothesen den komplizierten astronomischen Bewegungen zugeschrieben werden können;52 in den ausführlichen Diskussionen magnetischer Phänomene bezieht er sich in seinen theoretischen Erklärungen jedoch vor allem auf metaphysische Verallgemeinerungen über die Beseeltheit von Erdkugel und Magneten und trifft nur einmal drei Feststellungen, die als magnetische Gesetze charakterisiert werden können.53 In Galileo Galileis Le Mecaniche (1598) sind zwar eine Fülle physikalischer Gesetze zu finden, die er anhand der Mechanismen von Hebel, Flaschenzug und Winde erörtert und deren Gleichgewichtsbedingungen er in quantitativen Begriffen angibt, der Begriff des Gesetzes wird jedoch nicht benutzt. Auch seine für die moderne Mechanik und mathematische Physik grundlegenden "Unterredungen und mathematischen Beweise über zwei neue Wissenschaften", die auch das Gesetz der fallenden Körper und ihrer Wurfbahn enthalten, belegen, daß Galileo das Gesetz als Wissenschaftsbegriff nicht kannte.54 In ähnlicher Weise gehen auch Stevin und Pascal vor, die den Naturgesetzbegriff zwar in philosophisch-theologischen Kontexten benutzen, in ihren naturwissenschaftlichen Erörterungen aber von "Regeln, Definitionen, Postulaten und Propositionen" sprechen.55 Erst bei Kepler deutet sich eine ausdrückliche Verwendung des Gesetzesbegriffs auch in seinen experimentellen Abhandlungen an. Zilsel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Kepler selbst den Naturgesetzbegriff nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den drei bekannten Gesetzen der Planetenbewegung benutzt, sondern im Kontext analoger physikalischer Betrachtungen und in sich auf seine Arbeiten beziehenden Briefen, 56 was auf eine eher allmähliche und zögernde Benutzung des Begriffs im experimentellen Kontext 52

W. Gilbert, De Magnete, Neudr. 1900, S. 237. So E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft, 1976, S. 81 unter Hinweis auf De Magnete II, 32, S. 99. 54 E. Zilsel, Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes, 1976, S.81 f. Seine durch experimentelle Forschung gewonnenen Ergebnisse legt Galilei in Theoremen, Propositionen, Lemmata und Korollarien dar, die er durch mathematische Beweise miteinander verknüpft. In diesen Kontexten verwendet er die Begriffe "Proportion", "Verhältnis" oder "Prinzip". Zilsel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die seinerzeit (1942) neueren englischen und deutschen Übersetzungen den Begriff "Gesetze der Natur" voreilig verwenden: Die "vollkommen geordnete Welt" (mondo ordinalissimo) wird als die "vollkommensten Gesetze der Natur", "gegen die Natur" (contro a natura) mit "gegen die Gesetze der Natur" übersetzt. 55 Vgl. hierzu E. Zilsel, Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes, 1976, S.83 f. 56 Zilsel, a.a.O., S. 85, zitiert aus einem Brief Keplers an Fabricius (in J. Kepler, Opera omnia, 1857-1872, Bd. III, S. 37), wonach sich Kepler mit den Unregelmäßigkeiten der planetarischen Bewegung herumschlagen mußte, "bis sie schließlich den Gesetzen der Natur (Hervorh. R.K.) eingefugt waren". 53

II. Experiment, Gesetz, Fortschritt als Kennzeichen

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hinweist. Ausdrücklich findet der Naturgesetzbegriff seine Anwendung bei Descartes, der seine Discours de la Methode (1637) mit der Erklärung einleitet, er habe "Gesetze, die Gott in die Natur gelegt hat", vorgefunden. 57 In welchem Ausmaß sich das methodische und experimentelle Vorgehen bei Descartes gewandelt hat, illustriert ein Vergleich mit Leonardo. Das Bewußtsein, mechanische Regeln, die sich auf die Nachahmung der Natur beziehen, gesetzmäßig zu begreifen und anzuwenden, ist bei Leonardo noch unterentwickelt, indem er die Mechanik als "das Paradies der mathematischen Wissenschaften" ansieht, "denn durch sie gelangt man zur mathematischen Frucht", wohingegen Descartes mit Hilfe einer mechanischen Naturwissenschaft, die auf nachweisbaren Kausalitäten basiert, Naturerscheinungen modellhaft rekonstruiert. 58 Descartes war zugleich strenger Mechanist und gläubiger Katholik. Diese nicht nur biographisch kaum zu unterschätzende, sondern auch wissenschaftshistorisch bedeutsame Verbindung fuhrt zu seiner kartesianischen Lehre von den zwei Substanzen (Materie und Bewußtsein), die nicht nur die bis heute wirksame philosophische Grundlage für eine mechanistische Naturauffassung geschaffen, sondern zugleich die bis dahin strengsten methodischen Prinzipien für das analytische Vorgehen der Naturwissenschaften formuliert hat. 59 Mit dieser Verbindung des politisch-theologisch motivierten Gesetzesbegriffs, der auf die göttliche Gesetzgebung des Alten Testaments zurückzuführen ist, mit dem auf die physikalischen Regelmäßigkeiten und quantitativen Regeln operativer Handlungen der gebildeten Künstler-Ingenieure zurückzuführenden Erkenntnisgewinn durch das Experiment entsteht der Begriff des modernen Naturgesetzes.60 Hiermit ist ein neues Gesetzesverständnis in den Naturwissenschaften nicht nur folgenreich, sondern auch notwendig geworden. Denn während das experimentelle Vorgehen der Künstler-Ingenieure an einem punktuellen Erkenntnisgewinn orientiert ist, versuchen die Wissenschaftler der Renaissance, 57

R. Descartes, Euvres completes, 1870-1910, Bd. VI, S. 41. Im folgenden bezieht Descartes dies auf die beiden Trägheitsgesetze, auf die Gesetzmäßigkeit, wonach ein Körper bei jedem Zusammenstoß so viel seiner Bewegung auf den anderen Überträgt, wie er verliert und auf das "Gesetz der Natur", wonach alle Körper, die sich auf Kreisen bewegen, aus dem Zentrum auszubrechen versuchen; hierzu ausführlich E. Zilsel, Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes, S. 85 ff. 58 Ms. E 8 v. Leonardo da Vinci, Tagebücher und Aufzeichnungen, 1930, S. 473. Mechanik muß bei Leonardo eher als "Werkzeugkunde", denn als wissenschaftliches Hilfsmittel gesehen werden; hierzu und zur Bedeutung der Mechanik für die weitere Wissenschaftsgeschichte E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, 1952, S. 33-63, S. 36 ff; zu Descartes S. 44 ff. 59 F. Rapp, Fortschritt, 1992, S. 135. 60 E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft, 1976, S. 88f.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

auf ihren Forschungsgebieten - der Mechanik, der Chemie, dem Magnetismus Modelle, Theorien oder axiomatische Systeme zu entwickeln, die auf die Erzeugung allgemeingültiger Strukturen gerichtet sind, in die sich die einzelnen Erkenntnisse einfügen lassen. Das Entwickeln allgemeingültiger Strukturen fuhrt dazu, daß innerhalb der Forschungsgebiete bestimmte Bereiche der Natur einheitlich gedacht und so schließlich in den naturwissenschaftlichen Weltbildern der Neuzeit die gesetzmäßige Einheit der Natur konzipiert wird. 61 Für Carl Friedrich v. Weizsäcker ist dieser Gedanke der gesetzmäßigen Einheit die konstruktive Aufgabe der modernen Naturwissenschaft. 62 Durch Experimente erkannte Gesetzmäßigkeiten erheben damit den gleichen Geltungsanspruch wie die scholastischen Deduktionen, die sich in ihrer Methode bis in die antiken Philosophien zurückführen lassen und bis dahin die hierarchische Ordnung aller Gesetze innerhalb einer "Naturverfassung 11 bestimmt haben. Die experimentelle Wissenschaft der Renaissance mußte jenes Gesetzesverständnis adaptieren, um an dessen anerkannten Geltungsanspruch zu partizipieren, andererseits konnte die noch sehr dem Scholastizismus verhaftete Philosophie jene Überzeugungen über den zunehmenden wissenschaftlich-technischen Fortschritt eher als Bestandteil eines veränderten, jedoch auf ihren Vorstellungen aufbauenden Weltbildes akzeptieren. Die Beziehung, die der naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff zwischen philosophisch-theologischen Weltanschauungen und den Erkenntnissen aus der Natur herstellt, stiftet damit die "moderne Überzeugimg von der durchgängigen und systematischen Regelmäßigkeit der Natur." 63 Die antike philosophische Vorstellung von der Einheit der Natur ist so einerseits mit dem empirischen Bewußtsein von der Geltung einzelner Regeln verbunden, andererseits hat sich im Gegensatz zum antiken Denken durchgesetzt, daß die Einheit der Natur nicht vorgegeben, sondern durch die sich aus den einzelnen Gesetzmäßigkeiten ergebenden Zusammenhängen erkennbar ist. Gesetze begründen Wenn-Dann-Beziehungen, aber keine Weil-Beziehungen.64 Die im Experiment angelegte Suche nach der Ursache ist die Suche nach demjenigen Faktor, dessen Manipulation bewirkt, daß das gewünschte Resultat entsteht.65 Die den modernen Wissenschaften inhärenten 61

S. 9.

W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976,

62 C. F. v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur - Studien, München 1971, S. 183; in diesem Sinne auch S. W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 1988, S. 195. 63 W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 9. Die beschriebene Entstehung des modernen Naturgesetzbegriffs widerlegt damit auch die von Sarton und Thorndike (s. oben Fn. 45) vertretene These, der Humanismus habe zur Entstehung modemer Naturwissenschaften nichts beigetragen. 64 P. Lorenzen, Methodisches Denken, in: Ratio, Bd. VIII, 1965, S. 20. 65 P. Janich, Zweck und Methode der Physik aus philosophischer Sicht, 1973, S. 227 f.

II. Experiment, Gesetz, Fortschritt als Kennzeichen

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Kausalitätsvorstellungen ließen sich also nur erreichen, indem diese beiden Komponenten - die Planmäßigkeit des Experiments und die Allgemeingültigkeit des Gesetzes - miteinander verbunden wurden. Isaac Newton hat den Gesetzesbegriff in den Naturwissenschaften endgültig etabliert. In seiner Philosophiae Naturalis Principa Mathematica (1687) stellt er die bedeutenden drei "Bewegungsgesetze11 auf und macht in der Einleitung auf den nun vollzogenen Paradigmenwechsel ausdrücklich aufmerksam: "Die alten hielten die Mechanik für sehr wichtig bei der Erforschung der Natur, und die Neuern haben, nachdem sie die Lehre von den substantiellen Formen und den verborgenen Eigenschaften aufgegeben, angefangen die Erscheinung der Natur auf mathematische Gesetze zurückzuführen. (...) Wir aber, die wir nicht die Kunst, sondern die wir die Wissenschaft zu Rathe ziehen, und die wir nicht über die Kräfte der Hand, sondern die der Natur schreiben (,..)." 66 Allerdings sind auch die Principa nicht ohne ihren theologischen Kontext verständlich, wenn Newton die Schöpfung der Welt auf eine intelligente Wesenheit zurückführt, durch die etwa die Übereinstimmung der Richtungen und Ebenen der Planetenbahnen erklärbar werde. Die Planeten verharren in ihren Kreisbahnen "durch die Gesetze der Gravitation, aber sie hätten anfänglich nicht die reguläre Position der Kreisbahnen durch diese Gesetze einnehmen können."67 Damit werden in den Principia theologische Begründungen für Gesetzmäßigkeiten auf die Anfangsbedingungen und auf das reduziert, was noch nicht Wissenschaft68

lieh gewußt ist.

66

In der Folgezeit wird die theologische und juristische

1. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, 1963, S. 1 f. In der Newtonschen Beschreibung der Mechanik wird von der Vorstellung ausgegangen, daß Körper (Teilchen oder Massenpunkte) feste Bahnen durchlaufen. Insbesondere bewegt sich ein kräftefreier Körper auf einer geraden Linie mit konstanter Geschwindigkeit von einem Anfangspunkt A zu einem Punkt Β zu einer späteren Zeit. Wirken Kräfte auf den Körper, so wird die Bahn entsprechend den Newtonschen Bewegungsgesetzen gekrümmt und ungleichmäßig durchlaufen. Das erste Newtonsche Gesetz besagt demnach, daß ein Körper, auf den keine Kraft einwirkt, sich in gerader Linie und mit gleicher Geschwindigkeit fortbewegt; nach dem zweiten Newtonschen Gesetz wird ein Körper proportional zu der auf ihn wirkenden Kraft beschleunigt; nach dem dritten Gesetz ist die Beschleunigung um so kleiner, je größer die Masse des Körpers ist; I. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, 1. Buch, Von der Bewegung der Körper, 1963, S. 32. 67 1. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, 1963, 3. Buch, Regeln und Erscheinungen; Von den Ursachen des Weltsystems, S. 385 f. Newtons Gravitationsgesetz besagt, daß jeder Körper jeden anderen mit einer Kraft anzieht, die der Masse jedes Körpers proportional ist. 68 So auch Η. P. Dürr, Das Netz des Physikers. Naturwissenschaftliche Erkenntnis in der Verantwortung, 1988, S. 27.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

schrittweise durch eine eigenständige Bedeutung des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffs ersetzt.69 c) Der Fortschritt Für das Konzept einer großangelegten Umgestaltung der Natur für menschliche Zwecke, die im geistesgeschichtlichen Kontext der allgemeinen Aufbruchstimmung der Renaissance verständlich wird und nicht als ein isoliertes Phänomen angesehen werden kann, sind jedoch die geschaffenen intellektuellen Voraussetzungen und eine Effizienz der Methoden allein nicht ausreichend. Hinzukommen mußte die "Unbegrenztheit des Wollens".70 In der Spätrenaissance ist sich der Mensch erstmals darüber klar geworden, daß er Fortschritte erzielt hat, wie er sie erzielt und wie er diesen Fortschritt fortsetzen kann, nämlich durch Forschung. Theorien sind nicht mehr - wie im griechischen Sinne des Wortes - Naturbetrachtungen, sondern Modelle und Entwürfe, in denen bekannte und noch unbekannte Erkenntnisse probeweise geordnet werden. 71 Das Bewußtsein der Innovationsfähigkeit durch den Menschen und die Bewertung dieser Innovation als Fortschritt ist einer der entscheidenden Paradigmenwechsel für den Beginn der Moderne, in der das Streben nach dem unverfälschten Naturzustand des "Goldenen Zeitalters" oder zumindest spontanes, auf Bewahrung, Erhaltung und Stabilität gerichtetes

69 Nur am Rande sei bemerkt, daß das hier skizzierte Gesetzesverständnis auch in der Staats- und Rechtsphilosophie prägend wird: Während Lockes Essay concerning Human Understanding (1690) die Naturgesetzmetapher in ihrem physikalischen Kontext noch nicht verwendet, ist sie bei Berkeleys Treatise concerning the Principles of Human Knowledge (1710) bereits geläufig. Hobbes diskutiert im Leviathan (1645) das Naturgesetz in seiner juristischen Bedeutung, 14. Kap.: Vom ersten und zweiten natürlichen Gesetz und von Verträgen (S. 99 ff.), 15. Kap.: Von anderen natürlichen Gesetzen (S. 110 ff.); hierzu I. Fetscher, Einleitung zu: T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, 1966, S. IX ff. Die hier geschilderte Entwicklung wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß Montesquieu im ersten Kapitel des ersten Buches von L'esprit des lois (1748) [Vom Geist der Gesetze, 1994, S. 98] das physikalische Gesetz unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Newtonschen Bewegungsgesetze behandelt: "Zwischen einem bewegten Körper und einem anderen bewegten Körper werden alle Bewegungen gemäß den Bezügen der Masse zur Geschwindigkeit weitergegeben, vergrößert, verringert und verebben." In Deutschland hofft Kant, in der Vielfalt der geschichtlichen Erscheinungen einen regelmäßigen Gang, das bedeutet beständige Naturgesetze, entdecken und in dieser Hinsicht Kepler und Newton nachvollziehen zu können. Kant argumentiert kausal-mechanisch, seine Beweise gründen auf Erfahrung; I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), 1912, Bd. 8, S. 17 ff. 70 F. Rapp, Fortschritt, 1992, S. 137. 71 W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 13.

II. Experiment, Gesetz, Fortschritt als Kennzeichen

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Denken von einem bewußten Streben nach Veränderung abgelöst wird. 72 Der Fortschritt wird begriffen als eine Bewegung des Werdens auf etwas Künftiges hin, das in der Aneignung der Natur durch den Menschen liegt.73 Repräsentativ für diesen Wandel sind vor allem Francis Bacon und Descartes. In seiner Staatsutopie Nova Atlantis (1627) fordert Bacon, durch die Nachahmung der Natur "möglichst alle Dinge bewerkstelligen" zu können, denn: "Der Zweck unserer Gründung (gemeint ist die des Staates Nova Atlantis) ist die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen."74 Unter dem Motto "scientia et potentia in idem coincidimi" Wissen und Macht gehören zusammen - wird der wissenschaftliche Fortschritt zum Zweck der proficiency zum Ziel für eine bessere Menschenwelt. Noch deutlicher wird die Hinwendung zu einer neuen, "vorwärtsgewandten" Fortschrittsidee bei Descartes, für den sich anhand der von ihm entwickelten Physik gezeigt hat, "daß es möglich ist, zu Kenntnissen zu kommen, die von großem Nutzen für das Leben sind, und statt jener spekulativen Philosophie, die in den Schulen gelehrt wird, eine praktische zu finden, die uns die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebenso genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so daß wir sie auf ebendieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen können."75 Descartes Hinweis auf die Handwerkstechniken macht deutlich, daß der bereits angesprochene Prozeß der Entdifferenzierung, in dem sich die sozialen Barrieren der intellektuellen Traditionen moderner Wissenschaften zurückentwickeln und einen einheitlichen Bezugsrahmen bekommen,76 schon sehr weit fortgeschritten ist. Dies war nur folgerichtig, denn für das Konzept der Naturbeherrschung, das Hans Jonas treffend als das Baconische Ideal bezeichnet,77 und das den Fortschritt des Wissens zum Nutzen der Menschheit als das Ziel des Wissenschaftlers beschreibt, wurden wissenschaftliche Techniken notwendig. Sowohl die Techniken als auch die Idee des Fortschritts entstanden nicht in einem spezifisch wissenschaftlichen Kontext, sondern ihre Ursprünge finden sich bei den Künstler-Ingenieuren. Auf deren Bedeutung für das Ent-

72 73 74 75 76 77

Vgl. F. Rapp, Fortschritt, 1992, S. 137. K. Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts, 1964, S. 15, 17. F. Bacon, Neu-Atlantis, in: Der utopische Staat, 1962, S. 171-215, S. 205. R. Descartes, Discours de la Methode, Hamburg 1960, S. 101. S. oben, S. 39 f. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979, S. 251.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

stehen von Techniken aus ihrer Experimentiertätigkeit wurde bereits hingewiesen; aber auch die utilitaristische Konnotation der Fortschrittsidee ist, so Zilsel, erstmals in den Schriften der Handwerker des 15. Jahrhunderts nachweisbar.78 Für ihn ist die Baconische Idee des wissenschaftlichen Fortschritts deshalb auf die Bedürfnisse der frühkapitalistischen Ökonomie und Technik zurückzuführen. 79 Francis Bacon, darauf weist Zilsel zu recht hin, hat dann den wissenschaftlichen Fortschritt jedoch zum Ideal des Fortschritts der Zivilisation an sich erhoben und damit die philosophischen Grundlagen geschaffen, die diesen utilitaristischen Ansatz konzeptionell mit den anderen beiden Elementen der modernen Wissenschaften - Experiment und Gesetz - in Verbindimg bringen, indem eher zufällige Erkenntnisse durch planerisches Handeln zu ersetzen seien, das den möglichen Fortschritt der Wissenschaften aufzeige und in einen gesteuerten Prozeß der Erfindungen überführe. 80 d) Der reflexive

Gehalt von Experiment, Gesetz und Fortschritt

Das Konzept des wissenschaftlichen Fortschritts als entscheidendes Movens der Entwicklung der Zivilisation war zur Zeit seines Entstehens eine Utopie. Die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnis in praktische Erfolge gelang im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert eher selten, so daß Erkenntnis und Nutzen noch nicht gleichgesetzt werden können.81 Völlig unrealistisch waren die Vorstellungen, die Francis Bacon, der kein bedeutender Naturwissenschaftler war, in seiner Nova Atlantis über die Umwandlung der Elemente, die Erzeugung künstlicher Stoffe, die Beschleunigung des Wachstums von Tieren und Pflanzen, die Züchtung neuer Arten, die Lebensverlängerung und ähnliches mehr entwickelt hat. 82 Dennoch hat sich eine Vorstellung durchgesetzt, in der sich die mathematische Naturwissenschaft endgültig verselbständigt, d. h. von allem loslöst, was nicht mechanisch und quantitativ bestimmbar ist und so die Abtrennung der Natur und der Naturwissenschaft von kosmischen Lebensvorstellungen und den damit zusammenhängenden Fragen der Theologie und

78 Zilsel fuhrt hier eine Abhandlung (1486) des Architekten der Kathedrale von Regensburg, Mathias Roriczer, über handwerkliche und statische Verbesserungen beim Kirchenbau an, vgl. E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 134 f. 79 E. Zilsel, a.a.O., S. 148 ff. 80 E. Zilsel, a.a.O., S. 148; vgl. auch R. Koselleck, Stichw. Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 393. 81 F. H. Tenbruck, Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß, 1975, S. 19 ff., S. 27, Fn. 10. 82 F. Bacon, Neu-Atlantis, S. 205 ff.

II. Experiment, Gesetz, Fortschritt als Kennzeichen

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Moral bewirkt; die natürliche Welt wird zu einem Objekt, das berechnend und experimentell manipuliert werden kann.83 Möglich war dieses Entstehen der modernen Wissenschaften, weil Experiment, Gesetz und Fortschritt als deren Elemente aufeinander bezogen wurden und so einen reflexiven Gehalt erfahren haben: Fortschritt entsteht durch experimentelle Forschung, die sich auf die Gesetzmäßigkeit der Natur bezieht.84 Geistesgeschichtlich beginnt hiermit die Ablösung der Naturwissenschaft von der Theologie, indem die moderne Wissenschaft - als "Konkurrenz" - ein anderes Verständnis von Wahrheit entwickelt. Galileis Disput mit der Kirche bezog sich nicht auf das heliozentrische Weltbild als solches, sondern auf seine Deutung, in der die Sonne als Mittelpunkt des Planetensystems zur inneren Wahrheit der Schöpfungsordnung gehöre.85 Damit entsteht nicht nur eine Einheit von Erkenntnis und Nutzen, sondern auch eine Einheit von utilitaristischer Erkenntnis und Wahrheit. Der Alleinvertretungsanspruch theologischer Wahrheit wird durch die naturwissenschaftliche Wahrheit relativiert; neben die Wis86

senschaft vom Absoluten tritt die absolute Wissenschaft, die dem Menschen verspricht, ihn zum "Herrn und Eigentümer der Natur" zu machen.87 Dieses Wissenschaftsverständnis ist nicht auf die Naturwissenschaft beschränkt geblieben, sondern es wird auch auf andere Wissenschaftsbereiche ausgedehnt. So überträgt Auguste Comte die ursprünglich für mathematischexperimentelle Naturwissenschaften gedachten Verfahren Mitte des 19. Jahrhunderts in der neuen, von Comte so benannten Disziplin der "Soziologie" auf die menschlichen Verhältnisse, in der Absicht, den Fortschritt der Gesellschaft auf der methodischen Grundlage zu beschleunigen, nach der das Wissen das Voraussehen und damit ein bestimmtes Handeln möglich macht. Die Naturwissenschaften liefern damit das Vorbild, nach dem schließlich auch die Ge83

K. Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts, 1964, S. 24 f. Zum reflexiven Gehalt der Begriffe Experiment, Gesetz und Fortschritt vgl. W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 13 ff. 85 Hierzu F. H. Tenbruck, Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß, 1975, S. 22, m.w.N. Nach Galilei stehen mathematische Erkenntnisse nur der Qualität, nicht aber der Quantität nach hinter Gott zurück; vgl. hierzu auch E. Cassirer, Zur modernen Physik, 1987, S. 145 f. 86 In Anlehnung an eine Formulierung von S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens, 1992, S. 164. Bereits Leonardo da Vinci hat die Wissenschaft zur "zweiten Schöpfung" erklärt, die mit dem Verstand gemacht sei; vgl. E. Cassirer, Individuum und Kosmos, 1974, S. 170. Nach Kepler erhebt sich der menschliche Geist durch die Mathematik und Astronomie in eine Region, in der er die gottähnlichen Schöpfungsgedanken nachzudenken und dadurch seiner Gottähnlichkeit innezuwerden vermag; vgl. E. Cassirer, Zur modernen Physik, 1987, S. 145 f. 87 R. Descartes, Von der Methode, Hamburg 1960, S. 50. 84

4 Kleindiek

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

sellschaft unter Berücksichtigung der für sie maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten "technokratisch", d. h. systematisch, planmäßig und zielgerichtet umgestaltet werden soll.88 Es ist bemerkenswert, daß die Naturwissenschaften nicht nur die übrigen Wissenschaften, sondern gesellschaftliches und individuelles Handeln überhaupt dominiert haben, obwohl sich der wissenschaftliche Fortschritt als die Verbindung von Nützlichkeit und Wahrheit und utilitaristischer Erkenntnis und Wahrheit weder im 17. noch im 18. Jahrhundert realisiert hat. Offenbar hat das Prinzip der systematischen Erforschung der Natur allein im Hinblick auf mögliche Anwendungen ausgereicht, um eine Dynamik herbeizuführen, der - zumindest in der Vorstellung - nur durch die verfügbaren Ressourcen und die Gesetze der physischen Welt äußere Grenzen gesetzt sind. Den reflexiven Gehalt von Experiment, Gesetz und Fortschritt, die damit entstandene Wissenschaft der Moderne und die gesellschaftlichen Auswirkungen dessen, was als möglich erachtet wurde, hat in der Philosophie zuerst Immanuel Kant berücksichtigt. Deutlich wird dies in seiner "Kritik der reinen Vernunft". Kant erkennt die "Eroberung der Welt durch die objektivierende Wissenschaft" zwar ohne Vorbehalt an, er hat aber auch ihre Unverbindlichkeit für alle Lebenserscheinungen und für den Menschen als moralische Person postuliert und deshalb die theoretische von der praktischen Vernunft getrennt, um die eigentliche menschliche Sphäre nicht an dem theoretischen Wissen der Wissenschaft, sondern an moralischen Maximen zu messen.89 e) Ergebnis Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß sich die moderne Wissenschaft aus einer Verbindung zwischen Scholastizismus und der Anwendung methodischer Programme und empirischer Grundlagen entwickelt. Sozial- und geistesgeschichtlich haben diese beiden Aspekte zu dem seit Beginn des 17. Jahrhunderts dominanten, utilitaristischen Wissenschaftsverständnis geführt. Konsequenz des reflexiven Gehalts der Strukturmerkmale Experiment, Gesetz und Fortschritt, d. h. des experimentellen Zugangs zur Natur mit Hilfe ihrer Gesetzmäßigkeiten und mit dem Ziel eines fortschreitenden Erkenntnisstandes, ist 88

A. Comte, Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, 1974. Zur Entstehung der Soziologie als neue Wissenschaft und der Bedeutung Comtes vgl. auch E. J. Hobsbawm, The Age of Revolution (1789-1848), 1995, S. 342 ff. 89 1. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorwort, S. 10 ff. (XIII ff.) Vgl. hierzu auch W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 13 f.; K. Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts, 1964, S. 25.

II. Experiment, Gesetz, Fortschritt als Kennzeichen

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ein deterministisches Wissenschaftsverständnis. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Welt ein zwar hochkomplizierter, aber objektiv existierender Mechanismus ist, der nach festen, unabänderlichen Gesetzen in Raum und Zeit abläuft. 90 Aufgabe der Naturwissenschaften ist es, die Struktur dieses Mechanismus möglichst exakt zu erforschen und die Gesetze zu finden, auf denen dieser Mechanismus beruht. Die Methode hierfür ist das Experimentieren nach dem Verfahren "Versuch und Irrtum", das zum Ziel die vollständige Abbildbarkeit der Natur und das vollständige Erkennen der sich in ihr vollziehenden Gesetzmäßigkeiten hat. Von entscheidender Bedeutung für dieses deterministische Verständnis sind demnach zwei Aspekte: Zum einen ist es möglich, die Natur aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse vollständig zu erfassen, nur subjektives Unvermögen der Wissenschaft und der Wissenschaftler selbst ist hierfür ein Hindernis, das durch zunehmenden wissenschaftlichen Fortschritt beseitigt werden kann. Die Kenntnisse der Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit eröffnen somit die Möglichkeit, zukünftige Ereignisse vorherzusagen und so Naturprozesse beherrschbar und für eigene Zwecke nutzbar zu machen. Zum anderen wird von der prinzipiellen Identität von Wirklichkeit und Wissenschaft ausgegangen. Als Prämisse ergibt sich hieraus für die weiteren Überlegungen das mittlerweile wissenschaftstheoretische und -soziologische Allgemeingut, daß experimentelle Wissenschaft zugleich auch praktisches Handeln ist und sie somit eine bestimmte Art und Weise des praktischen Umgangs mit ihrem Gegenstand und ein sich darin ausdrückendes spezifisches Verhältnis zu diesem Gegenstand repräsentiert. 91 Welche Folgen die Annahme eines solchen spezifischen Verhältnisses für die Wissenschaft (und folglich auch für die ihr naheliegenden Lebensbereiche) hat, ist hiermit freilich noch nicht geklärt. Sie führt jedoch zu den für die weitere Entwicklung wesentlichen Fragen, deren Beantwortung Aufschluß über das Verständnis von Wissenschaft in der Moderne geben kann.

90 Als Beschreibung hierfür dienen der Mechanik entnommene Metaphern des "Uhrwerks" oder "Räderwerks", s. hierzu etwa H.-P. Dürr, Das Netz des Physikers, 1988, S. 27; G. Altner, Naturvergessenheit. Grundlagen einer umfassenden Bioehtik, 1991, S. 19. 91 Vgl. nur A. v. Gleich, Der wissenschaftliche Umgang mit der Natur, 1989, S. 63 f.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

ΙΠ. Die Organisation neuzeitlicher Wissenschaft Der reflexive Gehalt von Experiment, Gesetz und Fortschritt hat die Wissenschaft für ihre praktische Anwendung gerüstet. Die hiermit erfolgte Überwindung sozialer und intellektueller Gegensätze war demnach Voraussetzung für ein sich veränderndes Verhältnis von Wissenschaft und praktischem Handeln. Als Folge hiervon fand sich Wissenschaft in einem neuen, wesentlich komplexeren Wirklichkeitszusammenhang wieder. Das Zusammentreffen intellektueller Traditionen bedurfte, den neuen Zielen und Möglichkeiten des Fortschritts entsprechend, auch neuer Handlungszusammenhänge. Hierdurch entstand erstmals - vielleicht abgesehen von der Gründung der frühen Universitäten - die Notwendigkeit, den Lebensbereich Wissenschaft so zu gestalten, daß er den an ihn formulierten Anforderungen gerecht werden konnte, die in der praktischen Anwendung und Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnis bestanden. Hierfür wurden neue Organisationsformen und Verwirklichungszusammenhänge erforderlich. Paradigmatisch läßt sich die Organisation der neuzeitlichen Wissenschaft deshalb an dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Technik nachvollziehen. 1. Wissenschaft und Technik Die Konfrontation der Menschheit mit der Herausforderung der entscheidungsabhängigen, industriellen Selbstvernichtungsmöglichkeit oder zumindest irreversiblen Schädigung allen Lebens auf Erden wäre ohne die enge Verbindung von Wissenschaft und Technik nicht möglich gewesen - die Risikogesellschaft ist auch eine wissenschaftlich-technische Gesellschaft. 92 Daß die industrielle (und postindustrielle) Entwicklung eine wissenschaftlich-technische ist, hat als Prämisse für die Herangehensweise an die Bewältigung globaler Risiken interdisziplinär Anerkennung gefunden. 93 Obwohl dies auch für die Rechts-

92

Vgl. bereits oben, Einl., S. 51 f. u. oben, S. 27 ff. Vgl. etwa den Zweiten Beratungsgegenstand der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 1989: Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, mit Berichten v. J. Ipsen, D. Murswiek, B. Schlink, in: WDStRL 48 (1990), S. 177 ff.; H. Schulze-Fielitz, Handbuch des Verfassungsrechts, 1994, § 27, Freiheit der Wissenschaft, vor allem Rn. 14; H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 126 ff.; vgl. auch die Beiträge in: R. Schaeffer (Hrsg.), Ist die technischwissenschaftliche Zukunft demokratisch beherrschbar?, 1990; ebenso die Analysen in: U. Beck (Hrsg.), Politik in der Risikogesellschaft, 1991. Aus philosophischer Sicht H. 93

III. Die Organisation neuzeitlicher Wissenschaft

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Wissenschaft gilt und der Topos "wissenschaftlich-technisch" als Rechtsbegriff anerkannt und Wortlaut einer Reihe von Normen geworden ist, 94 besteht offenbar wenig Klärungsbedarf für die Frage, in welchem Verhältnis beide Elemente zueinander stehen. Dies ist dann berechtigt, wenn eine Differenzierung nicht erforderlich ist.95 Im Technikrecht bestätigt sich dieses fehlende Erfordernis, indem dort ein einheitliches Verständnis von Wissenschaft und Technik zugrundegelegt wird. 96 Für den Lebensbereich Wissenschaft ist die Beantwortung dieser Frage offenbar komplizierter, denn resümiert man die Beschreibung des Lebensbereichs Wissenschaft zum Zweck einer Interpretation der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG, so läßt sich feststellen, daß bis zum Beginn der achtziger Jahre nahezu einhellig und danach noch ganz überwiegend von einem selbständigen und von der Technik abgrenzbaren Bereich der Wissenschaft ausgegangen wird; unvermeidbare Überschneidungen werden durch eine Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Wissenschaft, zwischen zweckfreier und zweckgebundener Wissenschaft, zwischen akademischer Grundlagenwissenschaft und Ingenieurwissenschaften berücksichtigt, um so den 97

selbständigen Charakter der Wissenschaft zu betonen. Wird die oben geschilderte Entwicklung zugrunde gelegt, so überrascht dieser Befund, denn das Wesentliche der neuzeitlichen Wissenschaft bestand gerade in der ÜberzeuJonas, Warum die moderne Technik ein Gegenstand für die Philosophie ist, 1985 S. 26 ff; F. Rapp, Fortschritt, 1992, S. 130; und bereits J. Habermas, Praktische Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, FS f. W. Abendroth, 1968, S. 121 ff. 94 § 5 ChemG, § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG; das GenTG unterscheidet zwischen dem "Stand von Wissenschaft und Technik" (§§ 6 Abs. 2, 13 Abs. 1 Nr. 4, 16 Abs. 1 Nr. 2) und dem "Stand der Wissenschaft" (§§ 6 Abs. 1, 7 Abs. 1, 16 Abs. 1 Nr. 3) als Genehmigungsvoraussetzung. 95 Hiervon gehen offenbar J. Ipsen, D. Murswiek, B. Schlink in ihren Referaten zu dem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Technik vorsichtig formulierten Beratungsgegenstand der VDStRL, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, in: WDStRL 48 (1990), S. 177 ff., aus. In diesem Sinne auch die Begleitaufsätze von R. Pitschas, DÖV 1989, S. 758; C. Degenhart, NJW 1989, S. 2435; R Streintz, BayVbl. 1989, S. 550 und bes. deutlich M. Ronellenfitsch, DVB1. 1989, S. 851, der die Begriffe "wissenschaftlich" und "technisch" zu "wissenschaftlich-technisch" zusammensetzt und diesen mit "naturwissenschaftlich" gleichsetzt. 96 R. Wolf, Der Stand der Technik, 1986, S. 265 ff. Eine sorgfältige Unterscheidung zwischen dem Stand der Technik und dem Stand von Wissenschaft und Technik nimmt auch das BVerfG in seiner Kalkar-Entscheidung vor, BVerfGE 49, 89 (133 ff.). 97 Ausfrüherer Zeit etwa G. Tellenbach, Anwendung der Wissenschaft - Eine Gefahr für ihren Geist?, Göttingen 1954; jüngst D. Lohse, Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht, 1994, S. 106 ff. Anders und instruktiv zur Abgrenzung von Forschung und Technik nun H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 126 ff.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

gung, daß man nicht erst aus den Wissenschaften erkennen müsse, wie die Welt ist, um in ihr erfolgreich technisch handeln zu können, sondern es muß erst technisch erfolgreich gehandelt werden, um zu erkennen, wie sich die Welt im Rahmen naturwissenschaftlicher Methoden zeigt.98 Ein wesentliches Element des "Baconischen Ideals" ist also die Einheit von Wissenschaft und Technik. Diese herzustellen oder anzustreben ist auch eine Frage der Organisation von Wissenschaft. Im folgenden wird deshalb zu erörtern sein, ob bzw. unter welchen organisatorischen und inhaltlichen Veränderungen sich das Baconische Ideal verwirklicht und durchgesetzt hat, welchen Veränderungen es unterlegen ist und wie sich das Verständnis von Wissenschaft hierauf ausgewirkt hat. 2. Das Verhältnis von Wissenschaft und Technik im Wandel seiner Organisation Das Verhältnis von Wissenschaft und Technik ist eine der in der wissenschaftssoziologischen und wissenschaftshistorischen Forschung am heftigsten umstrittenen Fragen. Dies gilt vor allem für den nun zu untersuchenden Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit sind die Verwirklichungsbedingungen von Wissenschaft und Technik heftigen Veränderungen ausgesetzt; die Idee des wissenschaftlich-technischen Fortschritts beginnt sich zu verwirklichen und auf alle gesellschaftlichen Bereiche auszuwirken. Die aufgezeigten gegensätzlichen sozialen und intellektuellen Strömungen treffen in aller Spürbarkeit aufeinander. Dieser Befund ist nicht unumstritten, sondern weckt in der gegenwärtigen wissenschaftssoziologischen und -historischen Forschung auch das Bedürfnis nach deutlicher Abgrenzung und Aufrechterhaltung traditioneller Wissenschaftsverständnisse durch eine entsprechende Interpretation der Gegebenheiten. So sieht A. R. Hall für die frühe Periode von 1660 bis 1760 "wenig Gründe für die Annahme, daß - jedenfalls was die frühen Stadien betrifft - Gelehrsamkeit oder Belesenheit irgendetwas mit dem technischen Wandel zu tun hatte; im Gegenteil, es scheint, daß praktisch alle technischen Methoden der Zivilisation bis vor ein paar hundert Jahren das Werk von ebenso ungebildeten wie unbekannten Leuten war." 99 Für Eric Ashby gab es in der Zeit von 1760 bis 1860 "ein paar 'Wissenschaftsbeflissene 1, wie sie genannt wurden, die Forschung trieben, doch man maß ihrer Arbeit wenig Bedeutung für die Ausbildung und noch weniger für die Technik bei. Es gab praktisch keinen Gedan98 99

Vgl. P. Janich, Grenzen der Naturwissenschaft, 1992, S. 202 f. A. R. Hall, The Historical Relations of Science and Technology, 1963.

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kenaustausch zwischen den Wissenschaftlern und den Konstrukteuren in der Industrie." 100 Zu dem gegenteiligen Ergebnis kommt T. S. Ashton, der "in dem englischen wissenschaftlichen Denken einen der Hauptbeiträge zur industriellen Revolution" sieht: "Die Namen der Ingenieure, Eisenfabrikanten, Industriemechaniker und Instrumentenbauer auf der Liste der Fellows der Royal Society zeigen, wie eng die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Praxis waren." 101 Für E. Robinson ist die Lunar Society entscheidend dafür verantwortlich, daß England "den wissenschaftlichen Vorsprung gegenüber dem Kontinent aufrechterhalten konnte, auf den seine industrielle Überlegenheit aufbaute". 102 Die Limar Society sei "ein Pionierprojekt oder eine Avantgarde der industriellen Revolution," weil "starke Strömungen wissenschaftlichen Forschens entscheidenden Seiten dieser Bewegung zugrundeliegen."103 Einen solchen dominanten Einfluß der englischen Wissenschaft bestreitet Hobsbawm. Zwar sei die Industrialisierung vor allem in England durch die Produktion von Baumwolltextilien, die Verarbeitung von Kohle und Stahl und den Aufbau einer Infrastruktur durch Eisenbahn und Schiffahrt vorangeschritten; die Verbindung von Wissenschaft und Technik sei jedoch durch die Gründung polytechnischer Hochschulen und wissenschaftlich-technischer Gesellschaften zuerst im nachrevolutionären Frankreich gelungen, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse für diese neue Verbindung dort günstig waren. In England hingegen habe auch die Regierung vor allem die handwerklich-technische Entwicklung gefordert und gefordert, weil diese zu unmittelbar industriell umsetzbaren Ergebnissen führte. 104 Diese für die englische Wissenschaft besonders pointiert geführte Diskussion soll im folgenden auch auf die Entwicklung in Italien und Frankreich erweitert werden. Möglich ist dies zum einen anhand vergleichbarer Strukturen der nationalen Akademien, an deren Organisation zunächst die Entdifferenzierung von Wissenschaft und Technik und danach eine zum Ausdruck kommende Differenzierung ablesbar ist. Zum anderen sind die kognitiven Prozesse geeignet, das Verhältnis von Wissenschaft und Technik anhand der

100

E. Ashby, Technology and the Academics, 1958, S. 50 f. T. S. Ashton, The Industrial Revolution, 1948, S. 15 f. 102 E. Robinson, The Lunar Society and the Improvement of Scientific Instruments II, Annals of Science, Bd. 3 (1957), S. 45. 103 R E. Shofield, The Lunar Society of Birmingham, 1963, S. 410,437. 104 E. J. Hobsbawm, The Age of Revolution (1789-1848), 1995, S. 45 ff., 336 ff. 101

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spezifischen oder gemeinsamen Theoriestrukturen, der Fragestellungen und Entwicklungsdynamiken zu veranschaulichen.105 a) Die Organisation der Akademien als Prozeß der Entdifferenzierung Mit dem Entstehen der neuzeitlichen Wissenschaft nimmt die Bedeutung der Universitäten mittelalterlicher Prägung ab; an ihre Stelle treten wissenschaftliche Akademien als zentrale Institutionen der "neuen Wissenschaft", begleitet von wissenschaftlichen Zirkeln und Gesellschaften in den Hauptstädten Europas. Mit der "Accademia del Cimento ", der Akademie des Experiments, gründen die Medici 1657 die erste wissenschaftliche Akademie. Hier arbeiten "wissenschaftliche Amateure" in der Tradition Galileis am experimentellen Nachweis und der Fortführung theoretisch entwickelter Probleme. Methodisch kommt hierin das Formulieren einer wissenschaftlichen These als Präposition und erst danach ein erfolgsorientiertes, überprüfendes Experimentieren als einheitlicher Prozeß der Erkenntnisgewinnung zum Ausdruck. 106 Im Unterschied hierzu bestand in der Londoner Royal Society, die aus einem spontanen Zusammenschluß von Amateuren und Gelehrten entstanden ist und deren erster Bericht 1660 erschien, 107 eine stärker ausgeprägte Parallelität von rein wissenschaftlichen 108 und technischen Fragen, die sich vor allem auf Verbesserungen in den Bereichen Fabrikation und Handel bezieht. Gemäß den 1663 von der Society verabschiedeten Statuten ist "business" und "design" der Royal Society "to improve the knowledge of natural things, and all usefull Arts, Manufactors, Mechanic practices, Engynes and Inventions by Experiments. (...) To examine all systems, theories, principles, hypotheses, elements histories, and experiments of things naturall, mathematicall, and mechanicall, invented, recorded or practiced, by any considerable author ancient or modern. In order to the compiling of a complete system of solid philosophy for explication all phenomen produced by nature or art, and recording a rationall acount of the

105 Dies entspricht dem Ansatz vor allem Peter Weingarts, Wissensproduktion und soziale Struktur, 1976, S. 93 ff. 106 Vgl. hierzu die Essayes of Natural Experiments Made in the Academie del Cimento (1684), Neudr. 1964. 107 M. Ornstein, The Role of Scientific Societies in the Seventeenth Century, 1938, S. 101. 108 So hat Mertons thematische Auswertung der Protokolle der Royal Society aus den Jahren 1661, 62, 86 u. 87 ergeben, daß Arbeiten ohne direkten Bezug zu praktischen Bedürfnissen - Grundlagenforschung im heutigen Sinne - zwischen 40 und 70% betragen haben, R. Merton, Science, Technology and Society in Seventeenth-Century England, 1978, S. 200 ff., 203.

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causes of things." Eine Trennung zwischen wissenschaftlichen und technischen Aufgaben gab es weder im Hinblick auf den Erkenntnisprozeß und -stand noch auf die Tätigkeitsfelder ihrer Mitglieder; die Society insgesamt war orientiert an der Wechselbeziehung von Nützlichkeit und Wahrheit, von theoretischen und operationalen Problemstellungen.110 Die Verschränkung von Wissenschaft und Technik jedenfalls in organisatorischer Hinsicht illustrieren auch zwei Tätigkeitsfelder der Society, denen neben der experimentellen Wissenschaft besondere Aufmerksamkeit zukam. Die Royal Society erhielt 1662 das Patentierungsmonopol. Der Grund hierfür ist darin zu sehen, daß sie Kenntnisse wissenschaftlicher Verfahren und das Verständnis technischer Regeln in sich vereinte. Das andere bedeutende Projekt der Society war die Erstellung einer Enzyklopädie, der "Histories of Nature, Arts or Works", in der alle wissenschaftlichen, handwerklichen, künstlerischen Erfindungen und Techniken des 17. Jahrhunderts aufgeführt werden sollten, um so eine umfassende Beschreibung des bestehenden Wissens zu besitzen.111 Die Konzeption der französischen Academie des Sciences von 1666 war zunächst - im Gegensatz zur Accademia del Cimento und auch zur Royal Society - dual angelegt. Sie sollte Anfragen der Krone zu technischen Problemen beantworten und "zur Glorifizierung des Sonnenkönigs durch die Förderung der Wissenschaften" beitragen. 112 Im Unterschied zur Royal Society werden die Mitglieder vom Staat bezahlt und die Experimente in Kooperation der Mitglieder im Labor der Akademie durchgeführt. Dies deutet für die Academie des Sciences auf einen von Anbeginn höheren Organisationsgrad der Wissenschaft hin, macht aber auch eine größere staatliche Abhängigkeit deutlich.113 Die Verbindung von Wissenschaft und Technik, das hat die kurze Darstellung der Akademien - trotz aller unterschiedlichen Nuancierungen im einzelnen - gezeigt, ist auf der organisatorischen Ebene als ein Prozeß der Entdifferenzierung von Wissenschaft und praktischer Anwendung nachweisbar. Dieser Vor109 Zitiert bei M. Ornstein, The Role of Scientific Societies in the Seventeenth Century, 1938, S. 108 f., Fn. 63. 110 So auch P. Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur, 1976, S. 104. Hooke, selbst Mitglied der Society schreibt hierzu, daß "acknowledge their most useful information to arise from common things and diversify their most ordinary operations upon them." zit. bei M. Ornstein, The Role of Scientific Societies in the Seventeenth Century, 1938, S. 120, Fn. 111. 111 Das Enzyklopädien hat einen empirischen und einen geistesgeschichtlichen Hintergrund. Vgl. hierzu R. Hahn, The Anatomy of a Scientific Institution - The Paris Academy of Sciences 1666-1803, 1974, S. 86 ff. 112 R. Hahn, The Anatomy of a Scientific Institution - The Paris Academy of Sciences 1666-1803, 1974, S. 14. 113 Vgl. hierzu P. Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur, 1976, S. 108 f.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

gang ist nicht zu unterschätzen. Er verdeutlicht nicht nur eine enge Verbindung durch einen einheitlichen Handlungszusammenhang in den Akademien, der, wie sogleich zu zeigen sein wird, relativ leicht aufhebbar ist, sondern auch die Entdifferenzierung durch eine bestimmte Organisationsleistung bewirkt oder ermöglicht einen anderen, auch theoretischen Erkenntniskontext, indem es zur wissenschaftlichen Methode gehört, das Formulieren von Theorien experimentell zu verifizieren; sei es als bloße Methode oder sogar im Zusammenhang mit Patentierungen, dem letzten Schritt vor der nichtwissenschaftlichen Verwendung von Erkenntnis. In dieser Entwicklung wird erstmals, und sehr viel früher als vor allem in der verfassungsrechtlichen Literatur angenommen,114 die Finalisierung der Wissenschaft als soziale Kategorie spürbar. Das Konzept der Finalisierung hat das Verhältnis von Wissenschaft und sozialer Umwelt zum Gegenstand und begreift dieses als einen Prozeß, in dem externe Zwecksetzungen gegenüber der Wissenschaft zum Leitfaden wissenschaftlicher Erkenntnis werden. 115 Ursprünglich 116 war Wissenschaft von jeglicher praktischen Umsetzung oder Anwendung getrennt; die enge Verbindung zur Technik kann deshalb als erste externe Zwecksetzung der Wissenschaft identifiziert werden. b) Organisatorische Differenzierung

von Wissenschaft und Technik

Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt sich der organisatorische Rahmen, in dem das Verhältnis von reiner und angewandter Wissenschaft in den Akademien in London und Paris 117 eingebunden ist, zu verändern. Vor allem unter dem Einfluß Newtons 118 geht die utilitaristische Orientierung der Royal Society zurück. Die Gründe, die hierfür benannt werden, scheinen 114 So geht T. Dickert (Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S. 64) für die Wissenschaft im 19. Jahrhundert davon aus, daß diese kaum die "die praktischen Angelegenheiten des Tages" beeinflußte, wissenschaftliche Forschung und ihre Anwendung somit weitgehend getrennt waren. Diese historische Einordnung führt dann zu der auch von H. Schelsky (Einsamkeit und Freiheit, 1963, S. 32) vertretenen Auffassung, daß traditioneller Ort der Wissenschaft die Universität sei, wie sie sich in jahrhundertelanger Tradition herausgebildet habe und daß es in allen Epochen der Wissenschaftsgeschichte Auswanderungen aus der Universität gegeben habe, T. Dickert, a.a.O., S. 300. Betrachtet man den von Dickert gemeinten Zeitraum, dann ist das Gegenteil der Fall, zur Begründung sogleich unten, S. 63 ff. 115 G. Böhme/W. v.d. Daele/W. Krohn, Die Finalisierung der Wissenschaft, ZfS 1973, S. 129. 116 S. oben, S. 34 ff. 117 Die Accademia del Cimento wird bereits 1667, also nach nur zehn Jahren, aufgelöst. 118 Hierzu M. Ornstein, The Role of Scientific Societies in the Seventeenth Century, 1938, S. 132 ff.

III. Die Organisation neuzeitlicher Wissenschaft

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vielfältig zu sein, symptomatisch ist jedoch ein Prozeß organisatorischer Differenzierung zwischen praktischen Gelehrten bzw. Handwerkern und theoretischen Gelehrten. Die Trennung vollzieht sich mit der Gründimg der Society of Arts (1754) und der Lunar Society (1765). Gerade die Lunar Society verdeutlicht zwar die Auseinanderentwicklung von akademischer Wissenschaft und Ingenieurwissenschaft, gleichwohl ging hiermit keine strikte Trennung der wissenschaftlichen und technischen Betätigungsfelder einher. Vielmehr kann von einer kooperativen Beziehung gesprochen werden, in der es keine voneinander abgegrenzten akademisch-wissenschaftlichen und praktisch-technischen Bereiche gibt. Auch im Hinblick auf den gesellschaftlichen Rang und die Bedeutung kann nicht festgestellt werden, daß die Trennung zu einer herausgehobenen Stellung der Society of Arts geführt hätte. 119 Jedenfalls für die Lunar Society muß gesagt werden, daß sich in ihr nicht die "abgespaltene" Technik, sondern die fortgesetzt enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Technik etablierte, so daß sie als "informelle technische Forschungsinstitution"120 bezeichnet werden kann, in der versucht wurde, "wissenschaftliche Kenntnisse und Verfahren auf die technischen Probleme der industriellen Revolution anzuwenden. Gewiß kann man viele dieser Versuche auch eine Anwendung der Wissenschaftler und Ausschlachtung der Wissenschaft nennen, doch wenn die Wissenschaftler angewandt wurden, dann war es jedenfalls ihre eigene Absicht, und ein Unterschied zwischen der Anwendung und der Ausschlachtung der Wissenschaft ist auch heute nicht immer leicht zu machen. Damals wie heute wurde die Wissenschaft häufig zur Erklärung eines unabhängig von ihr entwickelten Produktionsverfahrens herangezogen, doch die Fabrikanten in der Lunar Society wollten damit die Verfahren verbessern. Außerdem leisteten sie selbst Beiträge zur 'reinen' Wissenschaft ihrer Zeit oder versuchten es jedenfalls." 121 Die organisatorische Trennung von akademischer Wissenschaft und Ingenieurwissenschaften wird in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-

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Obwohl diese früher und die Lunar Society in der Provinz in Birmingham gegründet wurde. Werner Busch, der das Verhältnis von Wissenschaft und Religion im 18. Jahrhundert anhand des Gemäldes "Experiment mit der Luftpumpe" von Joseph Wright of Derby aus kunsthistorischer Sicht analysiert hat, kommt zu dem Ergebnis, daß die Lunar Society zumindest für England die Spitze einer vorwiegend naturwissenschaftlich orientierten, aufgeklärten Forschung darstellt, deren Mitglieder sich nicht nur mit allen aktuellen naturwissenschaftlichen, sondern auch mit den sich hieraus ergebenden gesellschaftlichen, ethischen und vor allem religiösen Fragestellungen beschäftigen; W. Busch, Joseph Wright of Derby - Das Experiment mit der Luftpumpe. Eine Heilige Allianz zwischen Wissenschaft und Religion, 1986, S. 60 ff. 120 So R. Schofield, Die Orientierung der Wissenschaft auf die Industrie in der Lunar Society von Birmingham, 1977, S. 157. 121 R. Schofield, Die Orientierung der Wissenschaft auf die Industrie in der Lunar Society von Birmingham, S. 163.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

hunderte weiter vorangetrieben; 1771 wird die erste Ingenieurgesellschaft gegründet. 122 Ganz ähnlich verlief die Entwicklung in Frankreich. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wendet sich die Academie des Sciences zunehmend unmittelbar praktischen Problemen zu; parallel dazu entstehen spezialisierte wissenschaftliche Gesellschaften, die eine enge Verbindung von Theorie und Praxis verfolgen. 123 Ihnen wird unter der vorrevolutionären Wissenschaftspolitik und der Dominanz der Académie des Sciences allerdings auferlegt, sich "nicht mit Theorie oder Wissenschaft, sondern mit Nützlichem zu beschäftigen." 124 Vor allem im nachrevolutionären Frankreich bildet sich dann eine funktionale Differenzierung der Wissenschaftsorganisation heraus, die für das 19. Jahrhundert in ganz Europa verbindlich wird und deren konsequenteste Ausprägung in Deutschland erfolgt. Kennzeichnend hierfür ist die Aufspaltung der Academie des Sciences in drei Institutionen mit spezialisierten Funktionen. Die Beratung der Regierung sollte nach dem bereits bestehenden Muster durch besonders ernannte Personen oder Gruppen erfolgen und in den allgemeinen Verwaltungsapparat integriert werden; die Verbreitung wissenschaftlichen Wissens sollte in einem neu zu gründenen Bildungssystem organisiert werden; die Förderung der Wissenschaft selbst, d. h. in dem Verständnis dieser Differenzierung die reine Wissenschaft, sollte durch von der staatlichen Autorität unabhängige Vereinigungen geleistet werden. 125 Der Grund für die so eintretende Trennung liegt paradoxerweise im Erfolg der organisatorischen und inhaltlichen Entdifferenzierung: Das stetige Wachstum wissenschaftlich-technischen Wissens, zu dem die Akademien erheblich beigetragen haben, führt zu einer zunehmenden Realisierung des Fortschrittsgedankens, der sich vor allem in einer fortschreitenden Industrialisierung niederschlägt. Dies führt unweigerlich zu einer zunehmenden Systematisierung der Wissenschaft und damit zu einer inhaltlichen Spezialisierung und Ausdifferenzierung, in der Wissenschaft und Technik in eine sich voneinander distan-

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Hierzu A. E. Musson, Die Ausbreitung technischer Verfahren in Großbritannien während der industriellen Revolution, 1977, S. 117 f. 123 Zuerst die Société Académique des Beaux-Arts, danach das Collège de Pharmacie, die Académie Royal de Marine und schließlich die Société Libre d'Emur; hierzu R. Hahn, The Anatomy of a Scientific Institution - The Paris Academy of Sciences, 1666-1803, 1974, S. 108 ff. 124 Zit. bei R. Hahn, The Anatomy of a Scientific Institution - The Paris Academy of Sciences, 1666-1803,1974, S. 111. 125 Vgl. Hierzu R. Hahn, a.a.O., S. 240 f. u. P. Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur, 1976, S. 112 ff.

III. Die Organisation neuzeitlicher Wissenschaft

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zierende Wechselbeziehung treten. 126 Hiermit zeichnet sich eine Entwicklung ab, die am Beginn des 19. Jahrhunderts abgeschlossen ist und zum Ende der Epoche der Generalisten, Naturforscher und Amateure in "der" (einen) Naturwissenschaft fuhrt. Aus geistesgeschichtlicher Sicht zerfallt das Baconische Ideal der Einheit von utilitaristischer Erkenntnis und Wahrheit. Aus organisatorischer Sicht treten an die Stelle der Akademien die modernen Universitäten und die spezialisierten Forschungseinrichtungen. 127 3. Ergebnis Die Wissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts ist durch eine enge Verbindung zur Technik geprägt. Die zunehmende Industrialisierung, das gesellschaftliche Bedürfnis nach praktisch verwertbaren Erkenntnissen und der sich durchsetzende Glaube an den Fortschritt im Sinne des Baconischen Ideals markieren das Entstehen moderner Wissenschaft und eines modernen Wissenschaftsverständnisses. In organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht findet diese Entwicklung in der Gründung der wissenschaftlich-technischen Akademien als Zentrum der Wissenschaft in Italien, Frankreich und England ihren Ausdruck, womit ein Prozeß der Entdifferenzierung von Wissenschaft und Technik einhergeht. Der Erfolg dieser Entdifferenzierung in dem Sinne, daß das wissenschaftlich-technische Wissen weiter anwächst, ist zugleich der Grund für die sich dann herausbildende Distanz zwischen reiner Wissenschaft und Technik; die Gründe für diese Differenzierung beruhen nun nicht mehr auf sozialen bzw. ideologischen Motiven, sondern auf der ratio des Fortschritts. Trotz der wechselvollen Beziehung zwischen Wissenschaft und Technik gerade in der Zeit ihrer Entstehung hat sich eine Konstante herausgebildet, die diese Beziehung bis in die Risikogesellschaft prägt: Auch mit der Herausbildung einer "reinen" universitären Wissenschaft - Merton spricht von "pure science" - ging nicht die Herausbildung einer "reinen" unwissenschaftlichen Technik einher, sondern in den organisatorisch von der universitären Forschung und Lehre verschiedenen Segmenten des Lebensbereichs Wissenschaft wird die enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Technik fortgesetzt.

126 So auch P. Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur, 1976, S. 115; s. auch schon oben, S. 34 ff. 127 P. Weingart, a.a.O., S. 115 f.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Diese organisatorische und inhaltliche Trennung von universitärer Forschung und Lehre einerseits und wissenschaftlich-technischer Forschung andererseits sollte die weitere Entwicklung entscheidend prägen.

IV. Der deutsche Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts: Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit Die inhaltliche und organisatorische Verwirklichung eines neuen Wissenschaftsverständnisses innerhalb der Akademien in England, Italien und Frankreich ist mit der Entwicklung in Deutschland nicht zu vergleichen. Obwohl, wie Martha Ornsteins Standardwerk zu den wissenschaftlichen Gesellschaften im 17. Jahrhundert nachweist, das Potential wissenschaftlich-technischen Fortschritts vor allem in Nürnberg keineswegs geringer war als sonst in Europa, gelang den "neuen" Wissenschaften nicht ein vergleichbarer Durchbruch. Ornstein fuhrt dies auf den sich in Deutschland langsamer oder kaum vollziehenden Prozeß sozialer Entdifferenzierung der intellektuellen Traditionen moder128 ner Wissenschaften zurück, der auch keine Differenzierung zur Erhaltung und Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts erforderlich macht. Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen hat Leibniz 1670, also kurz nach Abschluß der Gründungsphase der Akademien in Italien, England und Frankreich, eindringlich beschrieben: Die Deutschen seien die ersten, die Erfindungen machen, aber die letzten, die sie auch nutzen; die wissenschaftlichen Leistungen von Kopernikus, Tycho Brahe oder Kepler werden exportiert und später, etwas verändert, aus anderen Ländern als Neuheit importiert. Leibniz fuhrt dies auf das Fehlen wissenschaftlicher Akademien und Gesellschaften zurück. 129 Tatsächlich wird die der Academie des Sciences oder der Royal Society vergleichbare Berliner Akademie der Wissenschaften erst 1700, also rund 40 Jahre später, von Leibniz gegründet.130 In dem Maße, in dem Deutsch128

Während die Wissenschaftler in anderen europäischen Ländern zumindest auch in ihrer Landessprache kommunizieren, ist in Deutschland noch Latein die Sprache der Gelehrten. M. Ornstein, The Role of Scientific Societies in the Seventeenth Century, 1938, S. 165 ff. 129 G. W. Leibniz, Bedencken von Aufrichtung einer Societät in Teutschland zum Aufnehmen der Künste und Wissenschaften, 1875, S. 64 ff. 130 Hierzu A. Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Academie der Wissenschaften zu Berlin (1900), Bd. 1.1, zur Vorgeschichte der Gründung S. 1 ff, zur Gründung selbst S. 71 ff. Ornstein fuhrt noch zwei frühere, allerdings kaum bedeutende Gründungen an, die Societas Ereunetica (1622) und das Collegium Naturae Curiosorum

IV. Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit

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land an der bisherigen Entwicklung unbeteiligt war, wird der deutsche Idealismus des 19. Jahrhunderts auch England, Italien und Frankreich erheblich beeinflussen. Insofern können die fehlenden organisatorischen und inhaltlichen Vorkehrungen, die das Verhältnis von Wissenschaft und Technik den jeweils formulierten Anforderungen entsprechend gestalten und die Wechselbeziehungen zwischen beiden deutlich hervortreten lassen, durchaus als ein Grund dafür gesehen werden, daß die "reine" universitäre Wissenschaft zunächst vor allem in Deutschland zum dominierenden Leitbild des gesamten Lebensbereichs Wissenschaft wird. Die zurückgehende Bedeutung der Akademien als organisierte "Verklammerung" von Wissenschaft und Technik und das Entstehen moderner Universitäten und spezialisierter Forschungseinrichtungen hat es erforderlich gemacht, für diese veränderte Wissenschaftslandschaft eine adäquate organisatorische und inhaltliche Struktur zu entwickeln. Dieser Aufgabe hat sich für das deutsche Universitätssystem vor allem Wilhelm v. Humboldt verschrieben. Als Bildungspolitiker hat er für die neu zu gründende Universität Berlin ein organisatorisches Konzept entworfen, das sich zugleich in das (nach Auffassung v. Humboldts ebenfalls zu reformierende) gesamte Bildungssystem einfügen sollte und auf sehr tiefgehende Reflexionen zurückgeht. Der Idee von der Bildung durch Wissenschaft muß in dieser Untersuchung zudem eine hervorgehobene Aufmerksamkeit zukommen, weil die verfassungsrechtlich wirksame Verbindung zwischen Wissenschaft und Freiheit ihren Ursprung im Idealismus des 19. Jahrhunderts hat und diese Verbindung die Vorstellung grundrechtlich garantierter Wissenschaftsfreiheit bis in die Gegenwart prägt. 1. Bildung durch Wissenschaft in "Einsamkeit und Freiheit" "Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem SelbstActus im eigentlichsten Verstand ist nothwendig Freiheit und hülfreich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fliesst zugleich die ganze aüßere Organisation der Universitäten." 131 Mit diesem Postulat der "Einsamkeit und (1651), M. Omstein, The Role of Scientific Societies in the Seventeenth Century, 1938, S. 167 ff. 131 W. v. Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan (1809), S. 191; ähnlich auch in "Über die innere und äußere Organisation der Höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin" (1810), S. 255: "Da diese Anstalten ihren Zweck indes nur

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Freiheit" hat Wilhelm v. Humboldt die seiner Auffassung nach erforderlichen geistigen und sozialen Voraussetzungen der Universität prägnant formuliert; als einer der relevanten und folgenreichen Beiträge zur Diskussion um die Universitätsreform in der Bundesrepublik hat Helmut Schelsky diese Formel 1963 aufgegriffen, analysiert und gefordert, sie bei allen weiteren Reformüberlegungen als eine zentrale Orientierung zu berücksichtigen.132 Das Humboldtsche Verständnis von der reinen Wissenschaft als "etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" 133 hat aber nicht nur das Verständnis universitärer Wissenschaftsfreiheit, 134 sondern bis in die jüngste Zeit die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG schlechthin geprägt. 135 So gesehen ist "Einsamkeit und Freiheit" als soziales und geistiges Leitbild der Humboldtschen Universität zugleich Grundlage jeglichen Verständnisses der Wissenschaft und ihrer Freiheit geworden. Dieser Befund, in dessen Zentrum die Vorstellung von der "reinen" universitären Wissenschaft steht, überrascht, wenn berücksichtigt wird, daß die Entwicklung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu zwei gleichberechtigten Ausprägungen - der "reinen und der anwendungsorientierten - Wissenschaft geführt hat. Zudem ist zu berücksichtigen, daß die Bedeutung der Universitäten in dieser Zeit erheblich zurückgegangen ist. Dennoch wird auch in der Retrospektive die Dominanz universitärer Wissenschaft als eine wesentliche Konstante der Wissenschaft angesehen. So geht Dickert zu der von ihm untersuchten (und abgelehnten) These, der Gewährleistungsbereich des Art. 5 Abs. 3 GG erfasse nur die universitäre Forschung und Lehre, davon aus, daß traditioneller Ort für die Wissenschaften die Universität sei, wie sie sich in jahrhundertelanger Tradition herausgebildet habe, und nimmt unter Berufung auf Schelsky an, daß es in allen Epochen der Wissenschaftsgeschichte auch Gegenbewe-

erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorhaltenden Prinzipien." 132 H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, 1963, S. 278: "Einsamkeit und Freiheit, dieses von Humboldt formulierte soziale Leitbild, ist nach wie vor ein regulatives Prinzip jeder Universitätsreform." 133 W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), S. 257. 134 BVerfGE 35,79(113). 135 W. Schmidt-Aßmann, Das Wissenschaftsrecht im Ordnungsrahmen des öffentlichen Rechts, JZ 1989, S. 207; T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S. 300, 301. E. Denninger, AK-GG, Art. 5 Abs. 3, Rn. 2, merkt hierzu an, daß die Leitprinzipien Einsamkeit und Freiheit "bis zum Uberdruß immer wieder zitiert worden" sind.

IV. Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit

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gungen und "Auswanderungen" aus der Universität gegeben habe. 136 Betrachtet man den von Dickert gemeinten Zeitraum, ist das Gegenteil der Fall: Die Universitäten der Renaissance waren im Hinblick auf die Wissenschaftsentwicklung sozial und intellektuell bedeutungslos; verhaftet in mittelalterlichen Vorstellungen waren sie nicht bereit und in der Lage, der Idee des Fortschritts, der utilitaristischen Wissenschaft, die zu einer Synthese von Wissenschaft und Technik fuhrt, zu folgen. Wissenschaft wurde dort vielmehr aus der Perspektive der spekulativen Philosophie interpretiert. 137 Insofern ist auch Schelskys These mißverständlich, die Akademien hätten es erschwert oder verhindert, daß die moderne Wissenschaft Eingang in die Universitäten fand. 138 Vielmehr hat die oben beschriebene Entwicklung auch in Deutschland zu der Forderung nach einer grundlegenden Umstrukturierung der Universitäten geführt: Die Trennung von Forschung und Lehre oder sogar die Auflösung der Università139

ten und ihre Umwandlung in Fachschulen. Ein Reformbedürfnis wurde also für die Universitäten und nicht für die anderen Wissenschaftsbereiche gesehen. Diese Reformbereitschaft als Ausgangslage darf für die weitere Entwicklung nicht unterschätzt werden, weil sie die Möglichkeit einer organisatorischen und inhaltlichen Neuordnung der Universitäten zumindest erleichterte. In diesem Kontext ist der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland erfolgende Paradigmenwechsel der Ideale zu sehen, der das Wissenschaftsbild nicht nur dort nachhaltig verändert hat und die Universitäten wieder in den Mittelpunkt treten läßt. Diese für die Genese des Wissenschaftsbegriffs und die Interpretation der Wissenschaftsfreiheit folgenreichen Entwicklung, die mit der Person Wilhelm v. Humboldts verbunden wird, soll im folgenden nachgezeichnet werden. Hierbei ist vor allem zu problematisieren, in welchem Verhältnis das philosophisch-theoretische Fundament und die (bildungs-)politische Umsetzung dieses Paradigmenwechsels zu dem gesamten Lebensbereich Wissenschaft steht.

136 T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S. 300; H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, 1963, S. 32. 137 W. Nitsch/U. Gerhardt/ C. Offe/U. K. Preuß, Hochschule in der Demokratie, 1965, S. 7. Vgl. auch oben S. 36 ff. 138 H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, 1963, S. 32. 139 Vgl. hierzu die Zusammenfassung bei R. König, Vom Wesen der deutschen Universität (1935), 1970, S. 30 ff. 5 Kleindiek

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

2. Der deutsche Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts Für das philosophisch-theoretische Fundament dieses Paradigmenwechsels ist vor allem Kant von erheblicher Bedeutung. Er hat die Frage nach dem Zustandekommen von Erkenntnis neu gestellt und zum Thema der von ihm begründeten transzendentalen Logik gemacht. Als Prämisse, die vom Wissenschaftsverständnis in der Romantik und dem deutschem Idealismus aufgenommen und weiterentwickelt wurde, gilt demnach, daß Wissen und insbesondere Wissenschaft nur im Reich der Erscheinungen möglich sei und daß es eine hierüber hinausgehende Metaphysik nicht geben könne. Dies gelte auch für die modernen Naturwissenschaften, die, so Kants bekanntes Resumée, "begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt." 140 Damit spielt die Erfahrung nur eine sehr marginale, d. h. von den Vorgaben des wissenschaftlichen Verstandes abhängige Rolle. 141 Kant sieht eine "dritte Revolution" in dem Verständnis der Metaphysik als Wissenschaft, nachdem die Mathematik als Wissenschaft durch die Griechen und die Naturwissenschaft durch Bacon begründet wurde. 142 In diesem Sinne gewinnt die Wissenschaft eine größere Bedeutung als die Philosophie,143 deren Funktion sich auf eine Zusammenfassung, eine Synthese des in den Wissenschaften erarbeiteten Wissens beschränkt. Hiermit waren die Voraussetzungen geschaffen, damit seit 1794 zunächst Fichte und dann Schelling mit der Philosophie des deutschen Idealismus auch die philosophische Begründung einer neuen Universitätsidee entwickeln konnten. Die grundlegenden Gedanken der Fichteschen Philosophie sind in den beiden Schriften "Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie" und "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" (beide 1794) enthalten. Der Begriff "Wissenschaftslehre" bedeutet bei ihm etwa das gleiche wie die "Transzendentalphilosophie" bei Kant: Während es alle Einzelwissenschaften mit Gegenständen zu tun haben, betrachtet die Philosophie das Wissen selbst; sie ist deshalb eine Wissenschaft von und vor anderen Wissenschaften und daher Wissenschaftslehre. Fichtes Vorstellung von der Philosophie als Wissenschaft von der Wissenschaft beruht auf einer dualen Prämisse. Philosophie hat die Funktion, Erfahrung (gemeint ist damit die "Vorstellung von den Dingen") zu erklären. Hieraus ergeben sich zwei Mög140

1. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 10 f. S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens, 1992, S. 160 f. 142 Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787), S. 10. S. hierzu auch W. Schapp, Philosophie der Geschichten, Vorwort, S. XIII ff. 143 W. Schapp, Philosophie der Geschichten, Vorwort, S. XIII. 141

IV. Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit

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lichkeiten: Die Vorstellungen können von den Dingen abgeleitet werden und umgekehrt die Dinge von den Vorstellungen. Die erste Ableitung charakterisiere den Materialismus (oder Sensualismus), die zweite den Idealismus. Da das denkende Subjekt am Anfang der Philosophie stehe, entscheide sich der passiv veranlagte Mensch für den Materialismus, der aktiv und selbständig Denkende für den Idealismus.144 Dieses Konzept konkretisiert Fichte in der "Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre" (1796), für den hier interessierenden Zusammenhang in zweifacher Hinsicht. Zum einen komme dem Staat im Bereich der Erziehung eine überragende Funktion zu, in der er dafür zu sorgen habe, die Jugend durch planvolle Organisation zu Menschen und Staatsbürgern zu bilden; hieran wird deutlich, daß für Fichte, noch stärker als für Kant, die praktischen Aufgaben des Menschen und damit seine Pflichten als Glied einer sozialen Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen. Der zweite Aspekt betrifft eher den inneren Aufbau des Staates selbst. Fichte verfolgt die Idee einer egalitären Bildung, einer "Nationalerziehung" für alle. 145 Diese Nationalerziehung soll über das elitäre Konzept einer Unterteilung in eine wissenschaftlich gebildete Schicht, der Wissenschaftsaristokratie, und den nicht wissenschaftlich Gebildeten, dem Volk, erreicht werden. 146 Schelling kann als der eigentliche Philosoph der Romantik in Deutschland bezeichnet werden. Sein Frühwerk ist geprägt von einer intensiven Beschäftigung mit den Erkenntnissen moderner Naturwissenschaften und ihren Fortschritten in Chemie, Elektrizitätslehre, Biologie und Medizin, und dem Versuch, diese Entwicklung in einem naturphilosophischen Konzept zu integrieren. Vor allem die "Ideen zur Philosophie der Natur" (1797), der "Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" (1798/99) und das "System des transzendentalen Idealismus" (1800) bilden das Fundament für die Naturphilosophie des kommenden 19. Jahrhunderts. Schelling kehrt Fichtes Objekt-Subjekt-Verständnis um: Nicht die Natur ist Produkt des Geistes, sondern der Geist ist das

144 Das "sich selbst setzende Subjekt" ist für Fichte der Ausgangspunkt, die "Tathandlung", die Vernunft erzeugen kann. 145 So entwickelt in J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation (1808), SW Bd. 7, S. 274 ff; hierzu R. Vierhaus, Gesch. Grundbegriffe, Stichw. Bildung, S. 526 f. 146 Fichte spricht in seinem Universitätsplan von "dem wissenschaftlich ausgebildeten Stande (denn einen andern hohem Stand gibt es nicht, und was nicht wissenschaftlich ausgebildet ist, ist Volk) und dem niedem, oder dem Volke", Deduzierter Plan einer zu Berlin errichtenden höheren Lehranstalt, § 26, S. 160. Mit Schelsky (Einsamkeit und Freiheit, S. 110), der hierin das Entstehen des Führungsgedankens der "Akademikerschicht" sieht, kann angemerkt werden, daß Fichte diesen Führungsanspruch als eine geistige, sittliche und soziale Verpflichtung sieht und die sich hieraus entwickelnde geistige und soziale Freiheit später der Gesellschaft insgesamt zuteil werden soll.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Produkt der Natur. 147 Geist und Materie (als Natur im engeren Sinne) begegnen sich in zwei Reihen. Am Ende der einen Reihe steht die Materie als tote Masse, am Ende der anderen die vollendete Selbstdarstellung des Geistes in Philosophie und Kunst. Das Eine ist jedoch ohne das Andere nicht vorstellbar, denn sie sind nicht entgegengesetzt, sondern identisch; ihr Verhältnis zueinander bestimmt sich nach einem Mehr oder Weniger. 148 Es zeigt sich bereits anhand der skizzenhaften Darstellung der Prämissen bei Kant und der weiteren Entwicklung bei Fichte und Schelling, daß das philosophische Fundament des deutschen Idealismus alles andere als homogen ist. Gemeinsam ist ihnen allerdings, trotz nachhaltiger Unterschiede und Gegensätze,149 zweierlei: Der Gegenstand ihrer Überlegungen ist zum einen das Verhältnis von menschlichem Geist und Natur und zum anderen die Philosophie als die wichtigste Moderatorin von Erkenntnisprozessen. Fichte und Schelling sind in diesem Zusammenhang auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie ihre Philosophien in bildungspolitischen Konzepten konkretisiert haben, die, zusammen mit den Überlegungen von Schleiermacher, Steffens und der Umsetzung einer neuen Universitätsidee durch v. Humboldt, für die Genese des Wissenschaftsbegriffs im 19. Jahrhundert - nicht nur in Deutschland - von entscheidender Bedeutung sein sollen. 3. "Deduzierte Pläne" zu einer akademischen Universitätsidee Im Mittelpunkt dieser neuen Universitätsidee steht die sittliche Bildung des Menschen, die akademische Selbstbildung frei von staatlichem Zwang als Vollendung der Bildung; eine Forderung, die nicht nur um ihrer selbst willen erhoben wurde, sondern mit der sich auch Erwartungen an die Reform des Staates verbanden. a) Das theoretische Fundament Schellings "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" (1802) bilden das erste in sich geschlossene Modell einer Rezeption des philosophischen Idealismus für die Wissenschaften. Bereits in der einleitenden der 147 In diesem Grundgedanken der Identitätsphilosophie wird Schellings Beschäftigung mit der Natur unter den Bedingungen der modernen Naturwissenschaften deutlich, die bei Fichte nahezu völlig fehlt. 148 Hierzu R. König, Vom Wesen der deutschen Universität (1935), 1970, S. 128 ff. 149 So und zum Folgenden A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 43 ff.

IV. Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit

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insgesamt 14 Vorlesungen macht Schelling deutlich, daß für ihn das Verhältnis von Wissen und Handeln im Sinne einer absoluten Einheit im Vordergrund steht.150 Wissen ist dem Idealen, dem unbegrenzten Erkennenwollen, Handeln dagegen dem Realen und dem begrenzten Erkennenkönnen verpflichtet. 151 Das akademische Studium an der Universität, so die Forderung Schellings, muß zunächst von der Einheit des Idealen und Realen ausgehen. Konkret überantwortet er diese Aufgabe der "Wissenschaft aller Wissenschaft, der Philosophie", die als "Studium generale" nicht nur jedem universitären (Fach-)Studium vorausgehen muß, sondern eine philosophische Konzeption der Wissenschaft zu gewährleisten und zu vermitteln hat, die das Wissen, d. h. die Übereinstimmung des Subjekts mit dem Objekt erklärt und für die akademische Bildimg insgesamt verbindlich ist. 152 Bereits hieran wird deutlich, daß die empirischen Wissenschaften als Ideal von der Philosophie abgelöst werden sollen, indem die Verbindung von Wissenschaft und praktischem Handeln als Erkenntnisprozeß durch den Absolutheitsanspruch der Philosophie zurückgedrängt werden soll. 153 Für Steffens muß der "gebildete Staat" anerkennen, daß die Grenze seiner Gewalt dort sei, wo "das Geistige" beginnt.154 Im Unterschied zu anderen Schulen seien Universitäten solche der "Selbstbildung", die der Staat unterhalten müsse, denn "sein ganzes höheres Dasein beruht darauf, daß hier der Geist

150 F. J. W. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802), 1. Vorlesung: Über den absoluten Begriff der Wissenschaft, S. 11/12. 151 F. J. W. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802), 1. Vorlesung: Über den absoluten Begriff der Wissenschaft, S. 6/8. 152 F. J. W. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 1. Vorlesung: Über den absoluten Begriff der Wissenschaft, S. 6: "Wir können diese wesentliche Einheit (gemeint ist die von Idealem und Realem) selbst in der Philosophie nicht eigentlich beweisen, da sie vielmehr der Eingang zu aller Wissenschaftlichkeit ist; es läßt sich nur eben dies beweisen, daß ohne sie überhaupt keine Wissenschaft sei, und es läßt sich nachweisen, daß in allem, was nur Anspruch macht, Wissenschaft zu sein, eigentlich diese Identität oder dieses gänzliche Aufgehen des Realen im Idealen beabsichtigt werde." 153 F. J. W. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 1. Vorlesung: Über den absoluten Begriff der Wissenschaft, S. 6/7: "Bewußtlos liegt diese Voraussetzung allem dem, was die verschiedenen Wissenschaften von allgemeinen Gesetzen der Dinge oder der Natur überhaupt rühmen, so wie ihrem Bestreben nach Erkenntnis derselben zugninde. Sie wollen, daß das Konkrete und das in besondern Erscheinungen Undurchdringliche sich für sie in die reine Evidenz und die Durchsichtigkeit einer allgemeinen Vernunfterkenntnis auflöse. Man läßt diese Voraussetzung in den beschränkteren Sphären des Wissens und für den einzelnen Fall gelten, wenn man sie auch allgemein und absolut, wie sie von der Philosophie ausgesprochen wird, weder verstehen, noch eben deswegen zugeben sollte." 154 H. Steffens, Vorlesungen über die Idee der Universitäten (1808/09), Zweite Vorlesung, S. 324.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

des freien Forschens ungehindert walten kann." 155 Auch Steffens weist, ganz ähnlich wie Schelling, der Philosophie die Aufgabe der "wissenschaftlichen Selbstbildung" zu. 1 5 6 Noch grundlegender sind die Vorstellungen, die Fichte mit einer Reform der akademischen Ausbildung verbindet. Wie in den einleitenden Bemerkungen zu seinen philosophischen Prämissen bereits deutlich wurde, ist die neue Universität eine der zentralen Bedingungen für eine Kultur- und Bildungsgesellschaft der Zukunft. 157 Auch Fichtes "Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt" reflektiert immer wieder über das Projekt der "Nationalerziehung" durch die verschiedenen staatlichen Erziehungsanstalten, in das er auch die Aufgaben der Universität eingebunden sehen will. 1 5 8 Durchaus im Sinne egalitärer Bildungsvorstellungen ist er der Überzeugimg, daß die demokratischen Ideale Freiheit und Gleichheit in einer Kultur- und Bildungsgesellschaft am ehesten zu verwirklichen seien.159 Der Universität komme darüber hinaus die Aufgabe der Bildung durch Wissenschaft zu: Sie soll "eine Schule der Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauches" sein. 160 Die Idee der Bildimg durch Wissenschaft hat bei Fichte eine philosophische und eine bildungspolitische Komponente, die einander bedingen: "Dem Gelehrten aber muß die Wissenschaft nicht Mittel für irgend einen Zweck, sondern sie muß ihm selbst Zweck werden; er wird einst, als vollendeter Gelehrter, in welcher Weise er auch künftig seine wissenschaftliche Bildung im Leben anwende, in jedem Fall allein in der Idee die Wurzel seines Lebens haben, und nur von ihr aus die Wirklichkeit erblicken, und nach ihr sie gestalten und fügen, keineswegs aber zugeben, daß die Idee nach der Wirklichkeit sich füge". 161 Hier löst Fichte den Konflikt zwischen Idealismus und Sensualismus zugunsten des Idealismus auf. Möglich ist dies durch ein streng antiutilitaristisches Wissenschaftsverständnis. Antiutilitarismus darf jedoch, auch das macht diese Passage deutlich, nicht als Zwecklosigkeit angesehen werden, sondern ist als Selbstzweck der (Aus-)Bildung durch Wissenschaft zu verstehen, in der die "Kunst 155 H. Steffens, Vorlesungen über die Idee der Universitäten (1808/09), Fünfte Vorlesung, S. 352, ähnlich auch S. 353. 156 H. Steffens, Vorlesungen über die Idee der Universitäten, Sechste Vorlesung, S. 358. 157 In diesem Sinn auch H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, 1963, S. 109. 158 S. nur die Schlußbemerkung des Schlußkapitels "Von den Mitteln, durch welche unsere wissenschaftliche Anstalt auf ein wissenschaftliches Universum Einfluß gewinnen solle", J. G. Fichte, Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, § 67, S. 216 f. 159 R. Vierhaus, Gesch. Grundbegriffe, Stichw. Bildung, S. 526 f. 160 J. G. Fichte, Deduzierter Plan, § 5, S. 131. 161 J. G. Fichte, Deduzierter Plan, § 10, 2. Abschnitt, S. 138.

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des wissenschaftlichen Verstandesgebrauches" die Fähigkeit zu selbständiger wissenschaftlicher Erkenntnis und Reflexion meint. Der Selbstzweck der Wissenschaft trägt auch Fichtes Forderung nach einer Trennimg von theoretischer Bildung an der Universität und praktischer Ausbildung in anderen Institutionen 162 Rechnung. Die Ausbildungsstruktur der älteren akademischen Berufe, also der Theologie, Medizin, Lehramtspädagogik und Rechtswissenschaft macht deutlich, daß sich diese Forderung zum Teil durchgesetzt hat. 163 Zweckfreiheit darf also nicht mit fehlendem praktischen Nutzen oder praktischer Anwendung verwechselt werden. Auch im Hinblick auf die sozialen Bedingungen universitärer Bildung hat Fichte konkrete Vorschläge gemacht. Für ihn ist die "vollkommne Isolierung" von allen anderen Lebensbereichen besonders wichtig, denn nur in einem solchen Umfeld könne sich die Wissenschaft als Selbstzweck und nicht als Mittel für irgend einen Zweck entfalten. 164 Der Selbstzweck der Wissenschaft darf gleichwohl nicht mit der Zwecklosigkeit wissenschaftlicher Bildung verwechselt werden; entscheidend ist nur, daß die Fähigkeit zur Erkenntnisgewinnung isoliert von den Möglichkeiten praktischer Anwendung und praktischer Nützlichkeit erworben wird. 165 Ebenso betont Schleiermacher, Theologe, Philosoph und Professor an der neu gegründeten Berliner Universität, den Wert der höchsten Bildung für den 162

"Femer haben mehrere bisher auf den Universitäten bearbeitete Fächer, (als die soeben erwähnte Theologie, die Jurisprudenz, die Medizin), einen Teil, der nicht zur wissenschaftlichen Kunst, sondern zu der sehr verschiedenen praktischen Kunst der Anwendung im Leben gehört. Es gereicht sowohl einesteils zum Vorteile dieser praktischen Kunst, die am besten in unmittelbar und emstlich gemeinter Ausübung unter dem Auge des schon geübten Meisters erlernet wird, als andernteils zum Vorteile der wissenschaftlichen Kunst selbst, welche zu möglichster Reinheit sich abzusondern und in sich selbst zu konzentrieren hat, daß jener Teil von unserer Kunstschule abgesondert und in Beziehung auf ihn andere für sich bestehende Einrichtungen gemacht werden." J. G. Fichte, Deduzierter Plan, § 22, S. 155. 163 Hierzu auch H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, 1963, S. 88 f. Seiner Meinung nach hat sich diese Trennung mit der Idee der neuen Universität durchgesetzt. Die Untersuchung von Bake zur Entstehung des dualistischen Systems der juristischen Ausbildung in Preußen stützt dies insofern, als daß auch er zu dem Ergebnis kommt, daß - obwohl der juristische Vorbereitungsdienst bereits mit der Justizreform 1748 eingeführt wurde - die strikte Trennung zwischen Theorie und Praxis mit der Gründung der Berliner Universität 1810 eine neue Qualität aufweist, die auf die Verwirklichung des hier beschriebenen Bildungsideals zurückzuführen ist, U. Bake, Die Entstehung des dualistischen Systems der Juristenausbildung in Preußen, S. 72 ff. 164 J. G. Fichte, Deduzierter Plan, § 10, 2., S. 138. Aus diesem Grund lehnt er die Großstadt als Zentrum bürgerlichen Lebens als Standort für eine Universität ab, denn hier sei die Gefahr "der Verfließung des studierenden Teiles des gemeinen Wesens mit der allgemeinen Masse des gewerbtreibenden oder dumpfgenießenden Bürgertums" am größten; a.a.O., S. 139. 165 Deutlich wird dies in Fichtes "Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten" (1811), S. 149: "Das Wissen heißt: es wird durch das selbe ein Handeln gefordert und vorgezeichnet".

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Staat. In seinen philosophischen Prämissen geht er ebenso wie Kant von einer scharfen Trennung zwischen Wissen und Glauben aus und zu einem Nebeneinander von christlichem Glauben und unabhängiger wissenschaftlicher Forschung, in der weder die Forschung den Glauben noch der Glaube die Forschung beeinträchtigen solle. 167 In seinen konkreten bildungspolitischen Reformvorschlägen macht Schleiermacher den überkommenen Universitätsstrukturen jedoch deutlich mehr Zugeständnisse als die Vorgenannten. Obwohl er die Vorstellungen der idealistischen Philosophie über Funktion und Aufgabe der Bildimg durch Wissenschaft grundsätzlich teilt, 168 sieht er in den Universitäten vor allem Lehr- und Erziehungsanstalten, deren Aufgabe es zwar auch sei, auf die "Idee der Wissenschaft" vorzubereiten, diese sei dann jedoch in der Akademie als Ort freier Wissenschaft zu verwirklichen. 169 Die Universitäten sollen hingegen zugleich als höhere Spezialschulen Staatsdiener in akademischen Berufen ausbilden.170 Schleiermachers Vorstellungen beruhen auf einer Stufenbildung ausgehend von den höheren Schulen über die Universitäten bis 171

hin zu den Akademien. Eine solche Konzeption lehnt vor allem Schelling rigoros ab: "Man könnte fragen, ob es überhaupt zieme, gleichsam im Namen der Wissenschaften Forderungen an Akademien zu machen, da es hinlänglich bekannt und angenommen sei, daß sie Instrumente des Staates sind, die das sein müssen, wozu dieser sie bestimmt. Wenn es nun seine Absicht wäre, daß in Ansehung der Wissenschaften durchgehend eine gewisse Mäßigkeit, Zurückhaltung, Einschränkung auf das Gewöhnliche oder Nützliche beobachtet würde, wie sollte dann von Lehrern progressive Tendenz und Lust zur Ausbildung ihrer Wissenschaft nach Ideen erwartet werden können?"172 An dieser 166

F. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808), S. 249. 167 Schleiermacher wird hiermitrichtungsweisendfür den deutschen Protestantismus im 19. Jahrhundert. 168 "Die Wissenschaft, wie sie in der Gesamtheit der gebildeten Völker als ihr gemeinschaftliches Werk und Besitztum vorhanden ist, soll den Einzelnen zur Erkenntnis heranbilden, und der einzelne soll auch wiederum an seinem Teil die Wissenschaft weiter bilden." F. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808), S. 234. Zu den abweichenden Vorstellungen Schleiermachers s. H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, 1963, S. 60 f. 169 F. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808), S. 235 ff, 238. 170 F. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, S. 248. 171 Schleiermacher umschreibt diese Stufenbildung mit einem schönen Bild: "Die Schule als das Zusammensein der Meister mit den Lehrburschen, die Universität mit den Gesellen und die Akademie als Versammlung der Meister unter sich." Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, S. 233. 172 F. J. W. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802), 2. Vorlesung: Uber die wissenschaftliche und sittliche Bestimmung der Akademien, S. 17.

IV. Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit

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Kontroverse wird deutlich, daß die Frage, unter welchen realen Bedingungen von Freiheit die Forderung "Bildung durch Wissenschaft" zu verwirklichen ist, im Mittelpunkt steht. Es zeigt sich aber auch, daß Schelling die Tradition der Akademien verkürzt rezipiert, zumindest berücksichtigt er nicht, daß die Akademien im Hinblick auf die Möglichkeiten staatlicher Ingerenz unterschiedlich organisiert waren. 173 b) Ihre organisatorische

Umsetzung durch die Gründung

der Berliner Universität Als 1810 in Preußen "alle Anstalten, welche Einfluß auf die allgemeine Bildung haben",174 der neu geschaffenen Abteilung für Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Innern unterstellt werden, wird das Ideal "Bildung durch Wissenschaft" in seiner staatspolitischen Konsequenz sichtbar. Wilhelm v. Humboldt wird ihr erster Direktor und am Ende seiner sechzehnmonatigen Amtszeit steht die Gründung der Berliner Universität, deren erster Rektor Fichte wird. Hegel charakterisiert sie 1818 als die "Universität des Mittelpunkts", in der "auch der Mittelpunkt aller Geistesbildung und aller Wissenschaft und Wahrheit, die Philosophie ihre Stelle und vorzügliche Pflege finden" müsse. Auch diese Bedeutung hat die Universität für Hegel nicht um ihrer selbst willen, sondern "hier ist die Bildung und die Blüte der Wissenschaften eines der wesentlichen Momente selbst im Staatsleben".175 Als unmittelbarer historischer Anlaß für die Gründung muß die mit dem Tilsiter Frieden vom 7. und 9.Juli 1807 nach dem preußisch-französischen Krieg einhergehende Neuordnung weiter Teile Preußens gesehen werden, wonach Preußen lediglich die Universitäten Königsberg und Frankfurt/Oder verblieben.176 Zunächst war der Kabinettsrat Karl-Friedrich v. Beyme für die Koordination der theoretischen Vorbereitungen zuständig; er bat 1807 u. a. Fichte um ein Gutachten - der erst 1817 veröffentlichte "Deduzierte Plan" -, bevor Wilhelm v. Humboldt 1809 für die Neuorganisation des höheren Bildungswesens und damit auch die Berliner Gründung zuständig wurde. 177 Das 173

Vgl. oben, S. 56 ff. Verordnung über die veränderte Verfassung aller obersten Staatsbehörden in der Preußischen Monarchie v. 27.10.1810, GSlg. für die Preußischen Staaten 1811, S. 14. 175 Hegel, Anrede an seine Zuhörer bei Eröffnung seiner Vorlesungen in Berlin am 22.10.1818, in: Sämtliche Werke Bd. 8 (1929), S. 32. 176 Friedrich Wilhelm III. forderte die Universität Berlin mit der Begründung: "Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat." Zit. b. R. König, Vom Wesen der deutschen Universität (1935), 1970, S. 58. 177 Vgl. hierzu die kurze Darstellung bei E. Andrich, in: Die Idee der deutschen Universität, 1956, Vorwort, S. X ff. 174

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Leben und Werk Wilhelm v. Humboldts (1767-1835) ist wechselhaft und facettenreich. Seine Bedeutung als Diplomat, Philologe, Übersetzer, Dichter, Sprachforscher, Staatsmann und Philosoph wird in sich und in seiner Gesamtwürdigimg unterschiedlich bewertet. 178 Für die hier zu untersuchende Genese des Wissenschaftsbegriffs ist v. Humboldt als Bildungspolitiker von Interesse. Die von ihm in der nur sechzehnmonatigen Amtszeit (1809/10) als Direktor der Abteilung für Kultus und Unterricht durchzuführende Reform des Bildungswesens wird gemeinhin als seine wichtigste Leistung angesehen. Gleichwohl waren sowohl die Bildungsreform als auch die Universitätsgründung (1810) durch die Schriften vor allem von Fichte, Schelling, Schleiermacher und Steffens theoretisch vorbereitet, 179 so daß die Bedeutung v. Humboldts vor allem in der effektiven politischen Umsetzung dieser (nicht unbedingt seiner) Reformvorstellungen liegt, auch wenn vieles hiervon, ausgehend von den Karlsbader Beschlüssen (1819), in der Phase der Restauration bis 1848 revidiert wurde. Die zentrale Forderung in dem Antrag Humboldts auf Gründung der Berliner Universität ist der Zusammenschluß der vorhandenen Akademien der Wissenschaften und der Künste und der wissenschaftlichen Institute, soweit diese "rein wissenschaftlicher Natur sind".180 Das Entscheidende in der so zu gründenden Universität liege, neben der Frage der Finanzierung, 181 in der Aufhebung der Trennung der Fakultäten und in dem Recht, akademische Grade zu verleihen. 182 Motivation für die beantragte Neugründung sind Erziehung und Bildung. 183 Welche inhaltlichen Anforderungen v. Humboldt hierzu für erforderlich hält, ergibt sich aus dem Gründungsantrag selbst nicht, sondern aus dem vielzitierten Schulplan für Königsberg und Litauen (1809). Dieser ist von Humboldt als Entgegnung auf den Reformvorschlag verfaßt worden, das dreigliedrige Bildungssystem (Elementarunterricht, Schulunterricht, Universitätsunterricht) um die Stufe der Mittelschule zu ergänzen. Humboldt versucht hier nachzuweisen, daß nur das dreigliedrige System den "natürlichen Stadien"

178

T. Borsche, Wilhelm von Humboldt, 1990, S. 12 ff. T. Borsche, Wilhelm von Humboldt, S. 31; vgl. auch das Vorwort v. E. Andrich, Die Idee der deutschen Universität, 1956, S. X ff. 180 W. v. Humboldt, Antrag auf Errichtung der Universität zu Berlin, Juli 1809, S. 115. 181 V. Humboldt beantragt eine Unterhaltung der Universität durch staatliche Zuschüsse, aber vor allem durch die regelmäßigen Einkünfte aus landwirtschaftlichen Gütern, W. v. Humboldt, Antrag auf Errichtung der Universität zu Berlin (1809), S. 117 f. 182 W. v. Humboldt, Antrag auf Errichtung der Universität zu Berlin (1809), S. 114 f. 183 W. v. Humboldt, Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, S. 113. 179

IV. Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit

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der Bildung gerecht wird. 184 Er beschreibt zunächst die Funktion der Elementarschule, der (gelehrten) Schule und schließlich der Universität: "Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem SelbstActus im eigentlichsten Verstand ist nothwendig Freiheit und hülfreich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fliesst zugleich die ganze aüßere Organisation der Universitäten. Das Kollegienhören ist nur Nebensache, das Wesentliche, dass man in enger Gemeinschaft mit Gleichgestimmten und Gleichaltrigen, und dem Bewußtseyn, dass es am gleichen Orte eine Zahl schon vollendeter Gebildeter gebe, die sich nur der Erhöhimg und Verbreitung der Wissenschaft widmen, 185

eine Reihe von Jahren sich und der Wissenschaft lebe." Diese Charakterisierung der Universität dient in ihrem Kontext also zunächst der organisatorischen und bildungspolitischen Abgrenzung von den anderen beiden Ausbildungsformen. Humboldt beschreibt die Besonderheit der universitären (Aus-)Bildung gegenüber den beiden niedrigeren Stufen des Unterrichts; Bildung durch die reine Wissenschaft ist demnach die höchste Form der Bildung. Über die Verbindung von organisatorischen und inhaltlichen Anforderungen an die Universitätsstruktur gibt Humboldt an anderer Stelle Aufschluß: "Da diese Anstalten ihren Zweck indes nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien. Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten. (...) Was nun das Auessere der Verhältnisse zum Staat und seine Thätigkeit dabei betrifft, so hat er nur zu sorgen für Reichthum (Stärke und Mannigfaltigkeit) an geistiger Kraft durch die Wahl der zu versammelnden Männer und für Freiheit in ihrer Wirksamkeit". 186 Nur in der Verbindung dieser inneren und äußeren Anforderungen an die Universitätsorganisation sieht Humboldt die Möglichkeit, das zu verwirklichen,

184

W. v. Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan (1809), S. 191. W. v. Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan, S. 191. 186 W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), S. 255 f.; S. 259. 185

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

worauf es ihm letztlich ankommt: Die "Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig sie als 187

solche zu suchen". Diese auch vom Bundesverfassungsgericht in dem Hochschulurteil von 1973 aufgegriffenen Formulierung 188 postuliert einen, sich in Absichtslosigkeit und Ungezwungenheit vollziehenden, offenen Wissenschaftsprozeß. Diese Offenheit des Wissenschaftsprozesses ist vordergründig als Gegensatz zu den "fertigen und abgemachten Kenntnissen" der Schulen 189

formuliert. Hintergründig nimmt Humboldt den vor allem von Schelling entwickelten Gedanken des dauernden Forschern, das Verwerfen und Neufinden von Erkenntnissen im Gegensatz zu praktischer Anwendimg 190 auf, um die neue Universitätsidee hieran auszurichten. Humboldt begründet hiermit auch inhaltlich die Einheit von Forschung und Lehre in der Universität und lehnt die etwa von Schleiermacher geforderete Trennung ab. Die Sentenz von der Wissenschaft als etwas nicht ganz Gefundenem und nie ganz Aufzufindendem faßt das Konzept der Bildung durch "reine" und "universelle" Wissenschaft zusammen; Reinheit im Sinne einer antiutilitaristischen, Universalität im Sinne einer ganzheitlichen und nicht spezialisierten Wissenschaft, in deren Zentrum die Philosophie steht. Grundlage für die hieraus folgende Unterordnung der universitären Einzeldisziplinen unter die Philosophie, das hat die bisherige Untersuchung gezeigt, ist die idealistische Naturphilosophie Fichtes und Schellings. Die hier skizzierten Reformvorstellungen waren nicht unumstritten. Welche Widerstände zu überwinden waren, illustriert der Briefwechsel zwischen KarlFriedrich v. Beyme (1765-1838), den man als gemäßigten Vertreter des überkommenen Universitätssystems einordnen kann und v. Humboldt über die 187

W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, S. 257. 188 BVerfGE 35, 79 (113). 189 W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, S. 256. 190 F. J. W. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802), 2. Vorlesung: Uber die wissenschaftliche und sittliche Bestimmung der Akademien, S. 19, kritisiert das Verständnis von Wissenschaft als Nützlichkeit und der Universität "als bloße Anstalt zur Überlieferung des Wissens. Hier wird auch der Einfluß Schillers auf die neuhumanistisch-idealistische Universitätsidee und der Versuch seiner konzeptionellen Umsetzung deutlich. Schiller hat bereits 1789 in seiner Berliner Antrittsvorlesung "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" (S. 361) den Gegensatz zwischen "Brotgelehrten" und "philosophischen Köpfen" entwickelt. Die Unterschiede sieht er nicht in den Studieninhalten, sondern in verschiedenen Mentalitäten. Der "Brotgelehrte" werde, im Gegensatz zum philosophischen Kopf, die "Zwecklosigkeit" des wissenschaftlichen Studiums "nicht ertragen". Zu Schillers Einfluß auch H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, 1963, S. 76 ff.

IV. Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit

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Frage, ob konkrete ("fertige") Kenntnisse über das Allgemeine Landrecht im Studium vermittelt werden sollen.191 In Berlin hat sich die Reformidee "Bildung durch Wissenschaft" zunächst durchgesetzt. Dies wird belegt etwa durch die Berufung Fichtes zum ersten Kanzler, aber auch v. Savignys zum ersten Direktor der juristischen Fakultät. Trotz aller Unterschiede im einzelnen kann festgestellt werden, daß die Vorstellungen v. Humboldts und v. Savignys jedenfalls in diesem Punkt übereinstimmen.192 Zu fragen bleibt, wie sich das Ideal "Bildung durch Wissenschaft" weiterentwickelt hat, wenn man berücksichtigt, daß dieses in der Reform der Universität zwar zunächst wirksam geworden ist, ihr naturphilosophisches Fundament und auch der universelle Wissenschaftsanspruch der Philosphie aber bereits ab etwa 1830 zunehmend an Bedeutung verloren hat. Interessant ist hier vor allem ein Blick auf die modernen Naturwissenschaften mit ihren zunehmenden Spezialisierungen und den sich dort überall durchsetzenden Parametern Experiment, Gesetz und Fortschritt. 193 Noch in den "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" wirft Schelling in seinen Überlegungen zur Naturwissenschaft im Allgemeinen die Frage auf, ob die Methode der empirischen Naturbetrachtung, das experimentelle Suchen von Naturgesetzmäßigkeiten überhaupt zu einer Wissenschaft der Natur fuhren könne. 194 In der Vorlesimg über das Studium der Physik und Chemie wird dieser Möglichkeit für die moderne Naturwissenschaft eine klare Absage erteilt. 195 Verständlich wird dies nur, wenn man Schellings Ausführungen im Kontext des Ideals "Bildung durch Wissenschaft" sieht, denn gerade Schelling ist bereits frühzeitig von den modernen Naturwissenschaften geprägt worden und hat deren Fortschritt anerkannt. Gleichwohl haben auch die der Naturphilosophie ablehnend gegenüberstehenden Naturwissenschaftler die Vorstellungen von der "reinen Wissenschaft" jedenfalls als Konzept für die universitäre Bildung geteilt. Dies belegen Ausführungen von v. Helmholtz und Liebig, zwei der führenden Naturwissenschaftler um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die der Naturphilosophie kritisch 191 Geschildert bei U. Bake, Die Entstehung des dualistischen Systems der Juristenausbildung in Preußen, 1971, S. 74 ff, 87 ff. (Der Briefwechsel v. Beyme/v. Humboldt ist bei U. Bake im Anhang, S. 155 ff., abgedruckt). 192 U. Bake, Die Entstehung des dualistischen Systems der Juristenausbildung in Preußen, S. 90 ff., 111. 193 S. hierzu oben, S. 39 ff. 194 F. J. W. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 11. Vorlesung, Über die Naturwissenschaft im Allgemeinen, S. 93, Hervorh. i. Original. 195 F. J. W. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 12. Vorlesung, Über das Studium der Physik und Chemie, S. 101 ff.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

gegenüberstanden und eine ausgeprägte Beziehung zur Anwendung von Wissenschaft hatten. Für von Helmholtz ist es allein die "vollständige Kenntnis und vollständiges Verständnis des Waltens der Natur- und Geisteskräfte", was die Wissenschaft erstreben könne; die Verfolgung des praktischen Nutzens müsse dagegen erfolglos sein. 196 Noch deutlicher auf die Aufgaben der Universität bezogen betont Liebig das neue Verhältnis von Wissenschaft und ihrer Anwendung: "Ein wahrhaft wissenschaftlicher Unterricht soll fähig und empfänglich für alle und jede Anwendung machen, und mit der Kenntnis der Grundsätze und Gesetze sind die Anwendungen leicht, sie ergeben sich von selbst. Nichts ist nachteiliger und schädlicher als wenn der Materialismus oder die Nützlichkeitsprinzipien in irgendeiner Lehranstalt Wurzeln fassen." 197 Hieran zeigt sich, daß sich die grundlegende Trennung zwischen universitärer und außeruniversitärer Wissenschaft vollauf durchgesetzt hat. Die Trennung von Wissenschaft und Technik ist durch das Ideal "Bildung durch Wissenschaft" irreversibel geworden; der praktische Nutzen von Wissenschaft ist nurmehr als ein vermittelter denkbar, in dem die Technik als die Anwendung der Wissenschaft dieser nachgeordnet ist. Der praktische Nutzen der Wissenschaft ist damit notwendig ein indirekter; zugleich ist die Rückbindung der Technik an die Wissenschaftsentwicklung, d. h. ihre "Verwissenschaftlichung" impliziert. Erstaunlicherweise gilt dies nicht nur für Deutschland, sondern, unabhängig von dem philosophischen Kontext dort, auch für Frankreich, wo die naturphilosophischen Vorstellungen auf entschiedenen Widerstand gestoßen sind, und für England, wo sie unbekannt bleiben.198 4. Ergebnis Die Begriffe Wissenschaft und Bildung sind im neuhumanistischen Idealismus konvergent. Der idealistische Wissenschaftsbegriff hat einen rein bildungsphilosophischen Kontext. Der Weg zur sittlichen Individualität, in der sich der Mensch verwirklicht, führt über die "Einsicht in die reine Wissenschaft", die "der Mensch nur durch und in sich selbst finden kann". Diese "reine Wissenschaft" ist die Philosophie, die aus der "reinen Gedankenbewegung des sich besinnenden Individuums, aus der kritischen Reflexion" hervor-

196 H. v. Helmholtz, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften (1862) 1971, S. 104 f. 197 J. Liebig, Über das Studium der Naturwissenschaften und über den Zustand der Chemie in Preußen, Braunschweig, 1840, S. 38. 198 Hierzu J. T. Merz, A History of European Thought in the Nineteenth Century, Vol. I., 1965, S. 74 f.

IV. Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit

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geht und in der alle übrigen Fächer aufgehen. 199 Bildung durch Wissenschaft ist für Humboldt die Voraussetzung dafür, daß die Universität "Geburtsstätte einer neuen Gesellschaft" 200 wird. Hiermit verbindet sich eine für die Universitätsidee des Neuhumanismus und Idealismus charakteristische Kritik an der Stellung der Universität in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Kritik richtet sich gegen die auf Pragmatismus und Utilitarismus ausgerichtete Politik der Berufsausbildung an den Universitäten, die ebenso ein Konzept zur Überwindung des überkommenen Universitätssystems darstellt. Die Idee der "Einsamkeit und Freiheit" war für Humboldt nicht nur die philosophische Grundlage, sondern auch Organisationsmaxime für die Universität. Einsamkeit und Freiheit sind hiernach soziale Normen, deren Verwirklichung eine adäquate Organisation verlangt, in der die Suche nach Erkenntnis unter Gleichgesinnten und frei von zweckfremder Ingerenz 201 erfolgen kann. Für diese philosophisch angeleitete Form der Erkenntnisgewinnung ist das Suchen entscheidend. Das Verständnis von Wissenschaft "als etwas noch nicht Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" belegt dies. Die Organisation von Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit verlangt jedoch nicht - jedenfalls nicht in dem Konzept v. Humboldts eine uneingeschränkte Emanzipation der Universitäten von staatlicher Herrschaft und Obrigkeit, die in ein Selbstverwaltungsrecht der Universitäten münden sollte. Beispielhaft sei hierfür angeführt, daß Humboldt die Berufung von Professoren im Sinne eines Selbstergänzungsrechtes ablehnt: "Die Ernennung der Universitätslehrer muss dem Staat ausschließlich vorbehalten bleiben, und es ist gewiss keine gute Einrichtung, den Facultäten darauf mehr Einfluss zu verstatten, als ein verständiges Curatorium von selbst thun wird." 202 Das neuhumanistische Bildungsideal sah gerade im Staat den erfolgversprechendsten Verbündeten gegen die hochschulpolitischen Vorstellungen, die den Utilitaris-

199

P. Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur, 1976, S. 118 f. H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, 1963, S. 109. 201 H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 68, verwendet die Formulierung von der "polemisch gemeinte(n) Zweckfreiheit der Wissenschaft"; die deutlich machen soll, daß Wissenschaft nicht anderen Zwecken als der reinen Erkenntnis zu dienen hat. 202 W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, S. 264 f. Daß er den Akademien im gleichen Zusammenhang ein solches Selbstergänzungsrecht einräumt ("Die Wahl der Mitglieder der Akademie aber muss ihr selbst überlassen und nur an die Bestätigung des Königs gebunden sein, die nicht leicht entsteht. Denn die Akademie ist eine Gesellschaft, in der das Princip der Einheit bei weitem wichtiger ist, und ihr rein wissenschaftlicher Zweck liegt dem Staat als Staat weniger nahe.") zeigt einmal mehr, daß für ihn in bezug auf die Universitäten das Ideal "Bildung durch Wissenschaft" im Vordergrund steht. 200

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mus durch eine enge Verbindung von Wissenschaft und ihrer Anwendung auch in den Universitäten durchsetzen wollten. 203 Die im Idealismus vertretenen Auffassungen waren polemisch und auch so gemeint. Bereits in der frühen Rezeption ist eine Loslösung der Einsamkeit von der Freiheit zu erkennen; 204 vieles an Idealvorstellungen ist nicht zur Umsetzung gelangt, vieles ist in der Phase der Restauration bereits ab 1815 revidiert worden. Was dennoch geistes- und philosophiegeschichtlich verbleibt, ist die enge Verbindimg zwischen Bildung und Wissenschaft, die ihre vollendete Ausprägung in der Universität finden soll: "Die Trennung der Wissenschaft von ihrer Anwendung im Leben ist ein Axiom dieser Wissenschaftsauffassung und der auf sie gegründeten 'philosophischen Universität'". 205 Das universitäre Bildungsideal hat "um 1800 und mit weitreichenden Folgen bis in die Gegenwart eine einzigartige philosophisch-ästhetische und pädagogische Überhöhung und ideologische Aufladung erfahren, die nur im Zusammenhang der staatlichgesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland zu verstehen ist". 206 In diesem Kontext muß der Blick auf ein sehr viel umfassenderes Wissenschaftsverständnis gerichtet werden. Reine Wissenschaft war seit dem Entstehen moderner Wissenschaft nämlich nur eine Variante, denn als zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Baconische Ideal von utilitaristischer Erkenntnis und Wahrheit, von Wissenschaft als Macht und "unvermitteltes Verfügenkönnen über das isolierte Gegebene in Natur und Gesellschaft" 207 zerfällt, hatte sich das Konzept einer streng experimentellen Wissenschaft als die anerkannte und geforderte Form des Erkenntnisfortschritts außerhalb der Universitäten bereits etabliert.

203

So auch H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 118, 131 ff., der aus soziologischer Perspektive zu dem Ergebnis gelangt, daß die Ideen der Bildung durch Wissenschaft in der Universität weniger den Ansprüchen des Staates als Herrschaftsmacht, sondern vor allem dem bürgerlichen Utilitarismus der Aufklärung abgerungen werden mußte. 204 H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 118 ff., 132. Schelsky sieht vor allem in dieser frühen Trennung der Einsamkeit von der Freiheit den Versuch einer - nach heutiger Anschauung - "Vergesellschaftung" der Universität. 205 H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 89. 206 R. Vierhaus, Gesch. Grundbegriffe, Stichw. Bildung, S. 508. 207 W. Nitsch/U. Gerhardt/ C. Offe/U. K. Preuß, Hochschule in der Demokratie, 1965, S. 263.

V. Wissenschaftsidealismus und moderne Naturwissenschaften

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Die Untersuchung der Genese des Wissenschaftsbegriffs im 19. Jahrhundert in Deutschland hat gezeigt, daß dieser durchgängig einen engen Kontext zum Ideal "Bildung durch Wissenschaft" aufweist, ohne allerdings behaupten zu können, daß seine Protagonisten nicht auch die Wissenschaft jenseits dieses Ideals gesehen hätten, wofür die Beeinflussimg des frühen Schellings durch den Fortschritt in den Naturwissenschaften beispielgebend ist.208 Es kommt mit diesem "deutschen Sonderweg"209 jedoch zu einer Differenzierung, die zunächst für alle diejenigen verbindlich sein müßte, die sich auf das Humboldtsche Ideal berufen. Dieses hatte niemals im Sinn, die Wissenschaft außerhalb der Universität zu schützen oder zu fordern.

V. Der Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts und die modernen Naturwissenschaften Die wissenschaftlich-technische Entwicklung Anfang des 17. Jahrhunderts ist aus einer engen und wechselhaften Verbindung von Wissenschaft und Technik entstanden, die das Entstehen moderner Wissenschaften und des modernen Wissenschaftsverständnisses kennzeichnet. Charakteristisch für diese Verbindung sind ebenso Entwicklungsstufen, in denen ein gemeinsamer organisatorischer und inhaltlicher Rahmen nachweisbar ist, wie der deutliche Versuch, "reine" Wissenschaft von der "reinen" Technik zu trennen. Entscheidend ist aber, daß mit der Herausbildung einer "reinen", akademischen Wissenschaft nicht die Herausbildung einer reinen, "unwissenschaftlichen" Technik einherging, sondern in dem organisatorisch von der akademischen Wissenschaft verschiedenen Bereich die enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Technik fortgesetzt wird.

208

Vgl. hierzu oben, S. 77. So auch H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 21; R. Vierhaus, Gesch. Grundbegriffe, Stichw. Bildung, S. 308; P. Weingart. Wissensproduktion und soziale Struktur, S. 120; im Gesamtzusammenhang skeptischer H.-U. Wehler, Deutsches Bildungsbürgertum in vergleichender Perspektive - Elemente eines "Sonderweges"?, 1989, S. 215 ff. 209

6 Kleindiek

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Das Verhältnis von Wissenschaft und Technik in der Moderne ist das Ergebnis einer Entwicklung, die ihre Grundlagen im 19. Jahrhundert hat und vor allem von dem deutschen Wissenschaftsidealismus geprägt ist. Wissenschaft als Ideal emanzipiert sich in dieser Entwicklungsphase von ihrem realen Bezug und verselbständigt sich. Technik ist der Wissenschaft nachgeordnet, sie ist deren Anwendung. Die Untersuchung der tatsächlichen Entwicklung hätte diesen Befund nicht oder jedenfalls nicht für den gesamten Lebensbereich Wissenschaft erwarten lassen, denn die Ideen Wilhelm v. Humboldts und des deutschen Idealismus können - für einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum ihre Umsetzung lediglich in der universitären Wirklichkeit reklamieren. Dennoch wird die Idee von der Suche nach Wahrheit in Einsamkeit und Freiheit nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Frankreich zu dem dominierenden Leitbild für die Wissenschaft. Demnach läßt sich als Resumée feststellen, daß die Wissenschaft in ihrer tatsächlichen Entwicklung das Baconische Ideal verwirklicht hat, während das dominierende geistige Leitbild auf den Wissenschaftsidealismus v. Humboldts und damit nur auf ein Segment der Wirklichkeit beschränkt blieb. Mit anderen Worten beruht die wissenschaftlich-technische Entwicklung auf einem inadäquaten theoretischen Fundament. Dieses Defizit ist mm allerdings nicht etwa Wilhelm v. Humboldt zuzuschreiben, denn die Untersuchung des Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts hat gezeigt, daß v. Humboldt und die seinen Versuch der praktischen Umsetzung begründende Philosophie ihre Wissenschaftsvorstellungen ausdrücklich auf den universitären Bereich beschränkt wissen wollten. Entscheidend ist vielmehr, daß dem Wissenschaftsidealismus in der weiteren Entwicklung eine Allgemeingültigkeit zugeschrieben wurde, die so nie bestand und der aufgrund der geschilderten Entwicklung auch jede Grundlage fehlt. Diese Allgemeingültigkeit, den Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts als umfassende theoretische Grundlage zu begreifen, kollidiert mit der Bedeutung der Wissenschaft für die gesellschaftliche, industrielle und ökonomische Entwicklung vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Denn auf eine ganz andere Weise, als der Idealismus sich dies vorgestellt hat, nehmen die Naturwissenschaften eine zunehmend dominierende Rolle ein. Das ambivalente Verhältnis von rasantem wissenschaftlich-technischem Fortschritt und industrieller Prosperität muß als Ursprung der Probleme angesehen werden, die schließlich mit der Wissenschaft in der Risikogesellschaft zu identifizieren sind.

V. Wissenschaftsidealismus und moderne Naturwissenschaften

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Um diese Entwicklung bis in die Gegenwart hinein nachzuzeichnen und zu veranschaulichen, sollen im Folgenden mit der synthetischen Chemie, der Kernenergieforschung und der Genforschung Paradigmen moderner Naturwissenschaften dargestellt werden, die in ihrem jeweiligen historischen Kontext besonders signifikante wissenschaftlich-technische Fortschritte zu verzeichnen haben. Für die synthetische Chemie beginnt diese Phase in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts; sie bestimmt insofern die Spätphase der industriellen Revolution. An dieser zeitlichen Anknüpfung zeigt sich zugleich, daß sich der wissenschaftlich-technische Fortschritt von der theoretischen Dominanz des Wissenschaftsidealismus nicht hat nachhaltig beeinflussen lassen - gleichwohl wird aufmerksam zu beobachten sein, welche Bedeutung dieser gerade für die universitäre Chemie als verhältnismäßig junge Wissenschaft hat. Für eine verfassungsrechtliche Untersuchung bleibt jedoch von entscheidender Bedeutung, welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf das verfassungsrechtliche Wissenschaftsverständnis haben. Die Diskrepanz zwischen tatsächlicher wissenschaftlich-technischer Entwicklung einerseits und den theoretischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen andererseits kann sich nämlich dann als besonders brisant erweisen, wenn das verfassungsrechtliche Wissenschaftsverständnis das geistige Leitbild nur eines Segmentes des Lebensbereichs Wissenschaft für allgemeinverbindlich erklärt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Wissenschaft auch im verfassungsrechtlichen Sinn nach ganz überwiegender Auffassimg verstanden wird als der ernsthafte und planmäßige Versuch zur Ermittlung der Wahrheit. Die relevanten Diskussionen zur Wissenschaftsfreiheit - für die Weimarer Zeit vor allem die Staatsrechtslehrertagung 1927, für das Grundgesetz die Staatsrechtslehrertagung 1968 und die Interpretation des Hochschulurteils des Bundesverfassungsgerichts - beziehen sich immer wieder auf dieses Verständnis von Wissenschaft. Damit besteht für das Verfassungsrecht die Gefahr, das eben beschriebene Theoriedefizit zu seiner Grundlage zu machen. Prima facie bestätigt sich diese Vermutung: Die Interpretation der wissenschaftssoziologischen und -historischen Prämissen, die das Bundesverfassungsgericht dem Hochschulurteil zugrundelegt, wird nach der nahezu einhellig vertretenen Auffassung auf den gesamten Lebensbereich Wissenschaft erstreckt. Hierdurch deutet sich an, daß die beiden Grundlagen modernen Wissenschaftsverständnisses, die reale wissenschaftlich-technische Entwicklung in der fortschreitenden Industriegesellschaft und die ideale geistesgeschichtliche Grundlage universitärer Wissenschaft zu einem theoretischen (Miß-)Verständnis zusammenfügen und so zur Grundlage verfassungsrechtlich gewährleisteter und einzelnen Grundrechten zugeordneter Freiheit werden.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

VI. Synthetische Chemie, Kernenergieforschung und Genforschung als Paradigmen moderner Naturwissenschaften Neuere Untersuchungen zur Forschungs- bzw. Wissenschaftsfreiheit kritisieren, daß sich die verfassungsrechtliche Diskussion bis weit in die achtziger Jahre dieses Jahrhunderts vor allem auf die universitäre Wissenschaft konzentriert hat. Diese Kritik wäre berechtigt, wenn der Lebensbereich Wissenschaft eine Heterogenität aufweisen würde, die es nicht erlaubte, universitäre Wissenschaft als für den gesamten Lebensbereich prägend anzusehen. Die bisherigen Ausführungen bestätigen diese Kritik; die wissenschaftlich-technische und die wissenschaftsideale Entwicklungslinie stehen neben- bzw. gegeneinander. Wissenschaftssoziologische bzw. -historische Grundlagen können sich mit diesem Befund jedoch nicht begnügen. Für die Charakterisierung der Wissenschaft in der Risikogesellschaft ist neben den sozialen Ursprüngen und dem Entstehen neuzeitlicher Wissenschaft, ihrer Organisation und den wesentlichen geistesgeschichtlichen Grundlagen vielmehr ebenso die Entwicklung der modernen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts entscheidend. Bisher wurde der Strukturwandel "der" Wissenschaften analysiert und nachgezeichnet, soweit dies für die anschließende Untersuchung der Wissenschaftsfreiheit als verfassungsrechtliches Problem erforderlich ist. Hierbei war in Kauf zu nehmen, daß es "die eine" Soziologie oder Geschichte der Wissenschaften nicht geben kann, weil der Lebensbereich Wissenschaft hierfür schon immer viel zu heterogen gewesen ist. Wenn die modernen Naturwissenschaften in der Risikogesellschaft tatsächlich einen so radikalen Umbruch des wissenschaftlich-technischen Verständnisses nach sich gezogen haben, wie dies in der Soziologie, aber auch in den Naturwissenschaften selbst angenommen wird, dann ist es notwendig, die modernen Naturwissenschaften selbst differenzierter zu untersuchen. Dies soll hier anhand der drei naturwissenschaftlichen Disziplinen synthetische Chemie, Kernenergieforschung und Genforschung erfolgen. Der soziologische Topos der Risikogesellschaft im Sinne Ulrich Becks beschränkt sich nicht auf die Feststellung, daß das Leben auf der Erde unter den gegenwärtigen Bedingungen gefährdet und sogar existentiell bedroht ist, sondern das soziologische Interesse Becks besteht darin, die strukturellen Mechanismen zu beschreiben, die zu diesem gesellschaftlichen Entwicklungsstadium geführt haben und mit welchen Mechanismen versucht wird bzw. versucht

VI. Paradigmen moderner Naturwissenschaften

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werden sollte, hierauf zu reagieren. 210 Dieser Vorgehensweise soll auch in dem folgenden Abschnitt zur näheren Konkretisierung der Wissenschaften in der Risikogesellschaft entsprochen werden. Es kann deshalb nicht darum gehen, die Gefährlichkeit von synthetischer Chemie, Kernenergieforschung und Genforschung zu entlarven oder etwa gar zu entscheiden, ob weiterer wissenschaftlich-technischer Fortschritt auf diesen Gebieten gesellschaftlich wünschenswert bzw. zumutbar ist. Anhand dieser drei Disziplinen sollen vielmehr die Veränderungen der Strukturen wissenschaftlich-technischer Erkenntnis herausgearbeitet werden, die die Entwicklung von der Industrie- zur Risikogesellschaft geprägt haben, soweit dies für die nachfolgende Untersuchimg der Wissenschaftsfreiheit in der Risikogesellschaft als verfassungsrechtliches Problem erforderlich ist.

1. Synthetische Chemie Die Forschungen auf dem Gebiet der synthetischen organischen Chemie führten die Wissenschaft, die die Eigenschaften, die Zusammensetzung und die Umwandlung der Stoffe und ihrer Verbindungen zum Erkenntnisgegenstand hat, auf eine neue qualitative Ebene. Während für die anorganische Chemie und auch noch für die frühe Agrikulturchemie galt, daß alle verwendeten Stoffe - wenn auch zum Teil in verschwindend geringen Konzentrationen - schon in der Natur vorkommen, so änderte sich dies mit dem Einstieg in die synthetische organische Chemie der chlorierten Kohlenwasserstoffverbindungen, der über die Steinkohlenteerchemie erfolgte. Nun wurden Stoffe synthetisiert, die es zuvor in der Biosphäre nicht gab oder so jedenfalls nicht nachweisbar waren. 211 Die Synthese naturfremder (xenobiotischer) Stoffe vollzog sich historisch im Anschluß an die Synthese der natürlichen Alizarin-Farbstoffe durch C. Graebe und Κ. T. Liebermann 1868/69. 212 Aufgrund der 1890 entwickelten Heumannschen Synthesen gelang der "Badischen Anilin- und Sodafabrik" (BASF) in einem wissenschaftlichen Großprojekt die synthetische Herstellung von Indigo, 210 Vgl. hierzu auch U. Beck, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Politik in der Risikogesellschaft, 1991, S. 10. 211 Aus heutiger Sicht wird man unterscheiden müssen zwischen Stoffen, die durch chemische Umwandlung von makromolekularen Naturprodukten hergestellt werden (halbsynthetische Kunststoffe) und solchen, die aus niedermolekularen Substanzen synthetisiert werden (vollsynthetische Kunststoffe), instruktiv hierzu Wolfgang König, Produkte und Verfahren der chemischen Großindustrie - Erste Kunststoffe und Kunstfasern, 1990, S. 387 ff. 212 Alizarin ist der Hauptinhaltsstoff des aus der Krappwurzel gewonnenen roten Farbstoff. Anilin, eine Steinkohlenteerfraktion, ist das Ausgangsmaterial für die Alizarinsynthese; vgl. hierzu die anschauliche Darstellung bei O. Henseling/A. Salinger, Farbstoffe, 1985, S. 116.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

die das gesamte Kapital des Unternehmens band und wegen seines ungewissen Ausgangs gefährdete. 213 Die Farbensynthese war nicht nur ein bedeutender ökonomischer Faktor, sondern erst mit den dort gewonnenen Kenntnissen war es möglich, durch systematische Veränderung eines Moleküls, durch Anhängen verschiedener "Reste", ζ. B. von Chlor an den verschiedenen Stellen, dieses Molekül vielfach zu variieren und aus den dadurch entstandenen Substanzreihen die Substanzen mit interessanten Wirkungen (farblich, pharmazeutisch, technisch) herauszulesen. Die Anzahl der bekannten chemischen Substanzen stieg hierdurch von 1865 bis 1880 von 3000 auf 15000 und bis 1910 auf 150000. Die weitere Entwicklung war wesentlich durch den Ersten Weltkrieg geprägt, der die bis dahin erfolgte Entwicklung noch forcierte und vor allem die Produktion kriegswichtiger Chemikalien in den Mittelpunkt rücken ließ. Denn weitgehend isoliert und damit von lebens- und kriegswichtigen Bodenschätzen abgeschnitten, wurde Deutschland mit einer in diesen Dimensionen gänzlich neuen Problematik konfrontiert: Bereits eine Woche nach Kriegsbeginn erläuterte AEG-Chef Walter Rathenau der militärischen Führung, daß der Krieg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu gewinnen sei, solange die Rohstoffrage und deren Nachschub nicht beachtet würden. Zahlreiche der wichtigsten Rohstoffe wie Nitrate, Öl, Gummi und verschiedene Metalle mußten importiert werden; deren Ausbleiben würde die Produktion von Kriegsmaterial und eine Reihe wichtiger anderer Produktionszweige empfindlich treffen. Obwohl die militärische Führung diesen Fragen anfangs kaum Beachtung schenkte, kam es schließlich zur Einrichtung der Kriegsrohstoffbehörde im Kriegsministerium unter Leitung von Rathenau.214 In der wissenschaftlichen Abteilung der Behörde arbeiteten kurze Zeit später alle bedeutenden Chemiker Deutschlands.215 Zunächst ging es darum, in möglichst kurzer Zeit die wissenschaftlich-theoretischen Grundlagen vor allem für die synthetische Herstellung von Salpeter, das als natürlicher Rohstoff nur aus Chile importiert werden konnte, zu vervollkommnen. Bereits 1909 war es Fritz Haber gelungen, durch den Einsatz von Hochdruck und extremen Temperaturen Stickstoff und Wasserstoff zu Ammoniak zu verbinden. Die wissenschaftliche 213

Zur Bedeutung der BASF für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der Chemie eingehend R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 175 ff. 2,4 R Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 180, der in diesem Zusammenhang von einem "historischen Schlüsselereignis" spricht. Vgl. auch A. Hermann, Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor, 1982, S. 94 ff. 215 Unter Leitung von Fritz Haber vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie forschten hier u. a. die Nobelpreisträger W. Nemst, E. Fischer u. R. Willstätter; vgl. hierzu R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, S. 180 f. m. w. Hinw.

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Lösung war jedoch nur der erste Schritt; das Verfahren, das Haber im Laborversuch geglückt war, wurde 1913 von Carl Bosch genutzt, um synthetisches Ammoniak industriell und in großen Mengen herzustellen. Die entscheidende Umwandlung von Ammoniak in Salpeter war bisher lediglich in einer "PilotAnlage" als zwar technisch möglich, aber nur in kleinem Maßstab und damit industriell nicht nutzbar nachgewiesen, bis aus dem im Haber-Bosch-Verfahren erzeugten Ammonium durch katalytische Oxydation schließlich Salpeter entstand. Für die wissenschaftlich-technische Leistung der Ammoniak-Synthese in einem großtechnischen Verfahren erhielt Carl Bosch 20 Jahre später den Nobelpreis; er war damit der erste Ingenieur, dem diese Auszeichnung verliehen wurde. Das von den Weltmärkten abgeschnittene Deutsche Reich wurde aufgrund dieser Entwicklung in die Lage versetzt, den Krieg weiterzuführen; bereits Ende 1915 konnten sieben- bis achttausend Tonnen Salpeter erzeugt werden. 216 Auch wenn die politische und militärische Führung die Bedeutung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts für die Kriegsführung weiterhin unterschätzte, fand diese im übrigen weitgehend Anerkennung. So bemerkte Otto von Gierke: "Die glänzenden Leistungen der deutschen Technik sind für unsere kriegerische Überlegenheit von ausschlaggebender Bedeutung. Der angewandten Naturwissenschaft fällt die wichtigste Rolle zu." 217 Aus dem Bereich der synthetischen Chemie ist hier nur ein kleiner, aber für das Wissenschaftsverständnis bedeutsamer Abschnitt skizziert worden. So war eine Folge der systematischen Entwicklung und Anwendimg synthetischer Farbstoffe die Erkenntnis, daß ein Teil dieser Stoffe positiv auf krankheitserregende Mikroorganismen reagiert; die Folge war die Entwicklung der pharmazeutischen Industrie als einem weiteren Bereich, in dem eine Vielzahl naturfremder Stoffe synthetisiert und industriell produziert wurde. 218 Daß die 1925 gegründete deutsche Interessengemeinschaft der chemischen Industrie den Namen "IG Farben" trug, mag ein weiterer Beleg für die Bedeutung der Farbstoffe sein. Bis zum Beginn der neunziger Jahre hat der Chemical Abstract Service acht Millionen definierte, größtenteils neue synthetische Chemikalien 216 Vgl. die Darstellung bei A. Hermann, Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor, S. 95 f. 217 O. v. Gierke, Der deutsche Volksgeist im Kriege, 1915, S. 22 f. Der Pazifist Albert Einstein berichtete einem Freund bei einem Besuch in der Schweiz im Herbst 1915, daß nicht die Lebensmittelversorgung, sondern die Beschaffung von für die Kriegführung notwendiger chemischer Materialien die größten Schwierigkeiten bereite. Der bewundernswerte Erfindergeist deutscher Wissenschaftler mache den Ausfall von Ersatzstoffen jedoch wett. "Diese umfassende organisatorische Geschicklichkeit ist fast unvorstellbar. Alle an Universitäten tätigen Gelehrten haben militärische Dienste oder Aufträge übernommen." A. Einstein, Über den Frieden. Weltordnung oder Weltuntergang, 1975, S. 35. 218 O. Henseling/ A. Salinger/ Farbstoffe, 1985, S. 116.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

registriert; es kommen jährlich fünf Millionen (d. h. 1500 chemische Verbindungen täglich) hinzu. Nicht erfaßt sind dabei die bei jeder Synthese entstehenden Nebenprodukte und Abfallstoffe, deren mögliche toxikologische Bedeutung am Beispiel der Dioxine besonders deutlich geworden ist. 219 a) Merkantilisierung

des Wissens - Das Entstehen von Industriewissenschaft

Der Durchbruch der synthetischen Chemie markiert den Übergang von der technisch-industriellen zu einer wissenschaftlich-industriellen Entwicklung. Während der technische Fortschritt der Industriegesellschaft bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert noch von der Anwendung und Umsetzung wissenschaftlichen Grundlagenwissens auf den Gebieten der Mechanik, der Elektrizitätslehre und der Chemie geprägt war, ändert sich dieser Kontext hiermit grundlegend. Es entwickelt sich eine wechselseitige Durchdringung von Wissenschaft, Technik und Industrialisierung, in der die Wissenschaft in den großindustriellen Produktionsprozeß und militärischen Bereich miteinbezogen wird. 220 So kommt es zu einer unmittelbaren Merkantilisierung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse, mit denen die Verwissenschaftlichung von Arbeitsabläufen und Produktionsprozessen und die beginnende Herausbildung eines eigenen Wirtschaftssektors "Wissenschaft, Technikentwicklung und -transfer" einhergeht. Es bildet sich mit der Industriewissenschaft ein neues Segment des Lebensbereichs Wissenschaft heraus. Die Hintergründe dieses grundlegenden Wandels der Wissenschaftslandschaft sollen deshalb im folgenden beleuchtet werden. Im 19. Jahrhundert war vor allem die Chemie ein Beispiel für die Vorstellung, daß technische Innovationen zunehmend aus wissenschaftlichen Forschungen hervorgehen, die Wissenschaft so mehr und mehr zur Triebkraft der Technik wird. 221 Repräsentativ für dieses Verständnis von der Grundlagenwissenschaft und der dann erfolgenden Anwendung ist Justus Liebig, über den Gottfried Benn treffend geschrieben hat: "Liebig experimentell und merkantil, der erste in der uns heute so geläufigen Reihe der Konquistadoren zwischen Induktion und Industrie". 222 Diese Vorstellungen überdauerten die epochalen 219 S. O. Wassermann/ C. Alsen-Hinrich/ U. E. Simonis, Die schleichende Vergiftung. Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht, 1990, S. 14; vgl. auch U. Beck, Risikogesellschaft, S. 58. 220 R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 162 ff., 172 ff.; E. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter (1875-1914), 1995, S. 314 ff. 221 J. Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1989, S. 157. 222 G. Benn, Goethe und die Naturwissenschaften (1932), in: Gesammelte Werke, Bd. 1, 1959, S. 192.

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Entwicklungen in den etwa 40 Jahren um die Jahrhundertwende, denn noch 1920 war Waither Rathenau der Auffassung, daß die Stärke Deutschlands darin gelegen habe, daß seine Wirtschaft auf Wissenschaft beruhe, denn Technik sei nichts anderes als angewandte Wissenschaft. 223 Hinter der Betonung der wissenschaftlichen Grundlage der Technik standen sowohl auf der Seite der chemischen Wissenschaft als auch auf der Seite der Chemietechnik sich entsprechende Interessen. Die Wissenschaft sah, jedenfalls z. T., in dieser Verbindung die Möglichkeit, die gewonnenen Erkenntnisse auch praktisch umsetzen und so nicht nur ökonomische Vorteile erzielen zu können. Die Industrie brauchte vor allem das autoritative Element der Wissenschaft, das zur Legitimation von umfassenden Reorganisationen und Rationalisierungen beitragen sollte. Hinzu kamen Statusambitionen des aufsteigenden Standes der Ingenieure, der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als eigene Berufsgruppe formierte 224 und sich so vor allem von den Handwerkern abgrenzen und einen eigenen akademischen Status sichern wollte. 225 Dies gelang ihnen schließlich mit der Anerkennung eines eigenen Promotionsrechts für Technische Hochschulen zwischen 1899 und 1901. 226 Das Interesse der universitären Chemie an der ökonomischen Umsetzung ihrer Erkenntnisse war jedoch nicht unumstritten und auch nicht ohne weiteres durchsetzbar. Nach offiziellen Bekundungen war auch sie eine "zweckfreie" Wissenschaft, die wohl noch mehr als andere naturwissenschaftliche Disziplinen Rücksicht auf das überkommene universitäre Selbstbild nehmen mußte, 227 denn sie war eine verhältnismäßig junge Wissenschaft und hatte sich erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts an den Universitäten etabliert, so daß sie um eine den anderen Naturwissenschaften entsprechende Reputation bemüht sein mußte. Berücksichtigt man zudem den deutschen Wissenschafts- und Bildungsidealismus des 19. Jahrhunderts, der hier immer noch Gültigkeit besaß und jedes anwendungsorientierte Wissenschaftsverständnis ablehnte, dann wird 223 W. Rathenau, Schriften und Reden, 1964, S. 405. In diesem Sinne bereits Pasteur für die moderne Wissenschaft bis zum 19. Jahrhundert: "Es gibt keine angewandte Wissenschaft; es gibt nur Wissenschaft und ihre Anwendung." Louis Pasteur, Oeuvres Completes, Vol. VII, 1922-1939, S. 215; zu den Differenzen zwischen Wissenschaft und Technik auch E. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter (1875-1914), 1995, S. 315 f. 224 Der Verein Deutscher Ingenieure wurde 1856 gegründet. 225 Zu beiden Aspekten J. Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1989, S. 157 ff. 226 Hierzu W. König, Bildung und Wissenschaft als Produktivkräfte - Technische Bildung und Ingenieurberuf, 1990, S. 393 ff. 227 W. König, Bildung und Wissenschaft als Produktivkräfte - Technische Bildung und Ingenieurberuf, S. 404.

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deutlich, daß der Bereich der Universitätschemie zwar bemüht war, traditionelle Wissenschaftsvorstellungen zu verinnerlichen, der Modernisierungsschub aber zugleich gerade hier so dominant war, daß sie sich gut eignete, um neue Wissenschaftsmodelle zu verwirklichen. Tatsächlich begann sich deshalb unterhalb der ideologisch motivierten Ebene in der Hochschulchemie eine intensive Zusammenarbeit mit der Industrie zu etablieren. Dies war auch erforderlich, denn erst um 1880 bauten die Industrieunternehmen größere eigene Forschungskapazitäten auf; vor allem auf dem Gebiet der Farbstoffsynthese war diese neue Form der Zusammenarbeit erfolgreich. Den einzelnen Industrieunternehmen gelang es, Professoren durch vertragliche Vereinbarungen bzw. durch ein Netz formeller und informeller Kontakte an sich zu binden. Die Firmen finanzierten universitäre Forschungsarbeiten, belieferten die Institute umsonst mit den notwendigen Chemikalien und kauften an den Universitäten entwickelte Verfahren auf. Im Gegenzug ließen die Professoren Industriechemiker in den Hochschullaboren arbeiten, vergaben von den Unternehmen vorgeschlagene Dissertationen und boten industriell verwertbare Forschungsergebnisse zunächst der mit ihnen kooperierenden Firma an. Diese stellte dann bevorzugt Absolventen des ihr nahestehenden Instituts als Chemiker ein. 228 Es zeigt sich hier, daß das Entstehen der Industriewissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin auf einer sehr engen Kooperation mit der universitären Wissenschaft beruht. Betrachtet man den Zeitraum, in dem sich Industriewissenschaft noch vermittelt in der Universität als traditionellem Ort der Wissenschaft entfaltete, dann weist diese Form der Drittmittelwissenschaft, auch verglichen mit dem heutigen Entwicklungsstand, einen erstaunlichen Grad an Intensität und Ausdifferenzierung auf. Aber ebenso wäre ohne die Synthese von Wissenschaft und Technik die Herausbildung eines eigenen Wissenschaftstyps Industrieforschung nicht möglich gewesen. Die universitäre Wissenschaft war strukturell und ihrem Selbstverständnis gemäß nicht in der Lage, den seit der Hochindustrialisierung rasant wachsenden Bedarf der Wirtschaft an wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen zu befriedigen. Die bisherige Darstellung hat aber auch gezeigt, daß weder die enge Verbindung von Wissenschaft und Technik noch die Idee der Nützlichkeit Ergebnis einer allein ökonomischen Eigendynamik von Verwertungsinteressen gewesen ist. Vielmehr hat die Industriewissenschaft in den Universitäten eine spürbare 228

W. König, a.a.O. Diese Zusammenhänge berücksichtigt E. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter (1875-1914), 1995, S. 316, nicht hinreichend, wenn er anmerkt, daß - außerhalb der Medizin - "ausgerechnet" in der Chemie die Verbindung von reiner Forschung und praktischer Anwendung gelungen ist, obwohl "in dieser Zeit keine fundamentalen oder revolutionären Veränderungen vor sich gingen."

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Bereitschaft vorgefunden, die es ermöglichte, Wissenschaft industriell einzubinden und zu nutzen. Hiermit soll zwar nicht in Abrede gestellt werden, daß die Industriewissenschaft durch das Hineinwirken in die universitäre Wissenschaft neue Probleme geschaffen und überkommene Strukturen verändert hat die prekäre Situation der Hochschulchemie zwischen den überkommenen Idealen und den (eigenen) Interessen an der ökonomischen Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnis belegt dies; es kann aber jedenfalls eine allzu monokausale Betrachtungsweise relativiert werden, die davon ausgeht, daß die ökonomische Entwicklung von der Wissenschaft "Besitz ergriffen" und deren Strukturen so grundlegend verändert hat. b) Die Abkehr vom mechanistischen Weltbild Mit diesen organisatorischen und inhaltlichen Transformationen haben sich aber auch die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis selbst verändert. Wissenschaft folgte bisher der Idee des mechanistischen Weltbildes, nach dem die Gesetze der Natur abbildbar und so auch erfaßbar sind. Zu diesem Zweck werden natürliche Prozesse künstlich (experimentell) reproduziert, um die vorgefundene natürliche Wirklichkeit partiell darzustellen; m. a. W. ist es das Ziel der Naturwissenschaften, "an Natur berechenbar zu machen, was an ihr berechnet werden kann". 229 Das Verhältnis zwischen natürlichen Prozessen und künstlicher Reproduktion hat sich mit der modernen Chemie grundlegend gewandelt. Nicht mehr das Erforschen, Nachvollziehen und Nutzbarmachen natürlicher Vorgänge ist das wesentliche Erkenntnisinteresse, sondern das artifizielle Ersetzen natürlicher Prozesse.230 Hiermit geht ein Methodenwechsel einher, denn das Artifizielle ist nicht mehr Mittel wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern selbst deren Gegenstand. Diese Entwicklung hat auch Folgen für das Verständnis von der Chemie als Wissenschaft, denn war ihr Erkenntnisgegenstand bisher die Zusammensetzung, die Enstehung und die Eigenschaft aller natürlich vorkommenden Stoffe, so kommt nun die Möglichkeit ihrer künstlichen Veränderung hinzu; aus der wissenschaftlich erkennbaren Natur wird die wissenschaftlich veränderbare Natur. 231 Freilich ist die mit dieser Formulierung von Janich illustrierte Auffassung nicht unbestritten, und für den hier interessierenden Zusammenhang läßt sich feststellen, daß sich die Kontro229

G. Altner, Naturvergessenheit, 1991, S. 116. Um das Eigenständige an dieser Entwicklung deutlich zu machen, soll hier der lateinische Begriff "artifiziell" verwandt werden, damit deutlich wird, daß diese Abkehr vom bisherigen naturwissenschaftlichen Verständnis ein Element des Verhältnisses von Wissenschaft und Technik ist. 231 So eine Formulierung von P. Janich, Grenzen der Naturwissenschaft: Erkennen als Handeln, München 1992, S. 63. 230

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verse einmal mehr am Naturbegriff und seinen Wandlungen festmachen läßt, der hier konkret das Verhältnis zwischen Natur und Chemie betrifft. 232 Dieser Paradigmenwechsel des Erkenntnisinteresses wird sich deshalb auch noch deutlicher in den Bereichen der Kernenergieforschung und der Genforschung zeigen. Insofern deutet die synthetische Chemie den Übergang von der Industrie· zur Risikogesellschaft bereits sehr früh an und weist in die Richtung der weiteren Entwicklung. 2. Kernenergieforschung Die gegenwärtige Phase des Industrialismus wird oftmals als Atomzeitalter bezeichnet. Damit soll deutlich gemacht werden, welch dominanten Einfluß diese neue, erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wirksam gewordene Technik erlangt hat. Eine kurze wissenschaftshistorische Skizze 233 hat die Entdeckung der "x-Strahlen" durch C. Röntgen im Jahre 1895, hierauf aufbauend der Radioaktivität durch H. Bequerel (1896) und der Strahlung radioaktiver Stoffe durch P. und M. Curie (1898) zu nennen. Die Quantentheorie Max Plancks (1900), durch die der atomare Charakter strahlender Energie nahegelegt, aber noch nicht bewiesen werden konnte, und die Aufdeckung des Atomzerfalls als Ursache radioaktiver Strahlung durch E. Rutherford und F. Soddy (1902), die den Strahlungsvorgang aus der spontanen Umwandlung von Elementen erklärten, bildeten im weiteren das Fundament für die beiden Grundprinzipien der modernen Atomtheorie 234: Die Umwandlungsfähigkeit radioaktiver Atome und deren Strukturänderung unter Abgabe von Energie. Der ent232 Exemplarisch H. Markl, Die Natürlichkeit der Chemie, 1990, S. 139 ff. Vgl. auch A. v. Gleich, Der wissenschaftliche Umgang mit der Natur, 1989, S. 103 ff., 135 ff.; F. Rapp, Fortschritt, 1992, S. 167 ff. 233 Über die Anfänge der Atomwissenschaften gibt es eine mittlerweile unübersehbare Anzahl von Veröffentlichungen; hier seien nur die "Klassiker" genannt: E. Rutherford, The History of Radioactivity, in: Background to Modern Science. Ten Lectures at Cambridge, arranged by the History of Science Committee, 1936; F. Joliot-Curie, Epoche Atom und Automation. Enzyklopädie des technischen Jahrhunderts, 1958 ff., Band II, S. 9 ff. S. auch J. G. Feinberg, Die Geschichte des Atoms, 1954 u. A. Hermann, Die fünf Epochen in der Geschichte der Atomenergie, 1987, S. 11 ff. 234 Das "Atom" ist nicht erst Gegenstand neuzeitlicher Wissenschaft, sondern bereits Demokrit hat, aufbauend auf Leukipp und Anaxagoras, die Grenze der unermeßlichen Teilbarkeit der Materie in dem Atom als kleinste Materieeinheit gesehen, das - unsichtbar, unzerstörbar und ewig - zwar nicht mathematisch, aber doch physikalisch unteilbar sei; vgl. hierzu H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, 1957, S. 68, zur Atomtheorie Demokrits S. 47-49. Der zentrale Unterschied besteht darin, daß bis zur modernen Atomphysik die Unteilbarkeitshypothese eine bedeutende geistesgeschichtliche Grundlage war; vgl. hierzu etwa W. Heisenberg, Zur Geschichte der physikalischen Naturerklärungen, 1949, S. 24 ff. u. H. G. Gadamer, Antike Atomtheorie, Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft 1935, S. 81 ff.

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scheidende theoretische Schritt zur Umwandlung von Atommasse in Energie war jedoch Einsteins Relativitätstheorie von 1905, denn bereits damals war den Physikern bewußt, daß bei einer einzelnen radioaktiven Zerfallsreaktion eine im atomaren Maßstab - sehr beträchtliche Energie freigesetzt wird, 235 ohne daß sie über Möglichkeiten verfügt hätten, Radioaktivität zu induzieren, was eine technische Nutzung der Kernenergie im Prinzip ermöglicht hätte. Nachdem Ernest Rutherford 1919 die erste künstliche, das heißt von Menschenhand bewirkte Atomumwandlung gelang, erlebte die Kernphysik 1932 den nächsten entscheidenden Fortschritt. Nach der Entdeckung des Neutrons erkannte Heisenberg, daß neben dem positiv geladenen Proton das Neutron Baustein des Atomkerns ist. Gleichzeitig ließ sich das neuentdeckte Teilchen hervorragend dazu verwenden, Atomumwandlungen durchzuführen. Diese Erkenntnisse nutzten Otto Hahn und Fritz Strassmann 1939 zu der Entdeckung, daß der Atomkern des Urans, wenn er von einem Neutron getroffen wird, nicht nur in zwei große Teilstücke zerplatzt und besonders viel Energie freisetzt, sondern der von einem Neutron am Uran-Atomkern ausgelöste Spaltungsprozeß seinerseits wieder zwei bis drei Neutronen liefert. Damit wurde die Möglichkeit, Energie durch gesteuerte atomare Kettenreaktionen zu nutzen, sehr konkret. Bereits 1942 gelang es Enrico Fermi und seinen Mitarbeitern, zum ersten Mal eine Kettenreaktion in Gang zu setzen; am 16. Juli fand die erste Testexplosion einer Atombombe in der Wüste von New Mexico statt. Realisiert wurde diese durch das von J. Robert Oppenheimer geleitete Forschungszentrum in Los Alamos. An dem Bau der amerikanischen Atombombe, dem "Manhattan Project", waren 250.000 Mitarbeiter und ein Finanzvolumen von 2 Milliarden Dollar beteiligt, um mit einem bis dahin ungekannten Maß an zentraler Steuerung ein wissenschaftlich-technisches Problem zu lösen.236 Dort wurden die Uranbombe, die am 6.August durch den Abwurf über Hiroshima 200.000 Menschen und die Plutoniumbombe, die drei Tage später 75.000 Menschen in Nagasaki tötete, gebaut.237

235

Sowohl mit dieser Speziellen Relativitätstheorie als auch der Allgemeinen, die 1915/16 folgen sollte, ging Einstein der Frage nach, ob die Trägheit eines Köipers von seinem Energiegehalt abhängt; die Freisetzung von Kernenergie durch radioaktiven Zerfall benutzte er nur zur experimentellen Überprüfung des Gesetzes E = me2, da bei chemischen Reaktionen die freigesetzte Energie zu klein ist, um eine meßbare Massenveränderung ergeben zu können; vgl. hierzu A. Hermann, Die fünf Epochen in der Geschichte der Atomenergie, 1987, S. 12. 236 Vgl. hierzu M. D. Kamen, The Birthplace of Big Science, Bulletin of the Atomic Scientists 30 (1974), S. 42 ff. 237 Oppenheimer hatte mit 20.000 Toten je Abwurf gerechnet, A. Hermann, Die fünf Epochen in der Geschichte der Atomenergie, 1987, S. 18.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Zweifelsohne ist die Entwicklung der Kernenergieforschung in dieser Zeit durch den Zweiten Weltkrieg geprägt gewesen. Die Kontroverse über das Verhältnis zwischen ziviler und militärischer Nutzung begleitet diese deshalb seit ihren Anfängen. 238 Ihr nachzugehen ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht erforderlich; entscheidend ist, daß es mit der Testexplosion und den beiden Abwürfen in Japan zum ersten Mal zur Anwendung der gewonnenen atomwissenschaftlichen Erkenntnisse kam. Die damit erfolgte wissenschaftlich-technische Realisierung eröffnete nach 1945 die Perspektive, Kernenergie auch zivil zu nutzen, so daß sich die weitere Forschung, auch wegen der technisch bedingten Unterschiede zwischen ziviler und militärischer Nutzung, parallel und mit den unvermeidlichen Überschneidungen entwickelte. Der Weg zur zivilen Nutzung der Kernenergie sollte jedoch länger sein, als dies in Öffentlichkeit, Politik und teilweise auch in der Wissenschaft angenommen wurde; 239 rückblickend läßt sich feststellen, daß mit der wissenschaftlichen Lösung der Grundprobleme noch wenig erreicht war und die Verwirklichimg der zivilen Kernenergienutzung vielmehr von einem langen Prozeß wissenschaftlich-industrieller Entwicklung abhing. a) Kernenergieforschung

in der Bundesrepublik Deutschland

Für die Analyse des Lebensbereichs Wissenschaft sind die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis von Interesse, die der Entwicklung der Kernenergieforschung zugrunde liegen. Hierbei wird einerseits deutlich werden, daß sich die bereits mit der Entwicklung der synthetischen Chemie einsetzende organisatorische Ausdifferenzierung der Wissenschaftsbereiche fortsetzt und so zur Herausbildung eines weiteren Wissenschaftstypus, der Großforschung fuhrt. Andererseits geht hiermit ein Wandel der Strukturen wissenschaftlich-technischer Erkenntnis selbst einher, der das Verhältnis zwischen theoretischer Präposition und technischer Anwendung durch das Element der Erfahrung neu kombiniert. Diese Entwicklungen sollen hier beispielhaft an der Kernenergie-

238 Vgl. hierzu J. Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 19451975, 1983, insbes. S. 96 ff; symptomatisch für den Konflikt seit Beginn der fünfziger Jahre ist das von US-Präsident Eisenhower vor der UN-Voll Versammlung am 8. Dez. 1953 vorgestellte Programm "Atome für den Frieden", sowie die "Mainauer Erklärung" der Nobelpreisträgertagung 1955 (abgedr. bei F. L. Boschke, Kernenergie, 1988, S. 257 f.) und das "Göttinger Manifest" von 1957, in denen sich führende Atomwissenschaftler, darunter O. Hahn, W. Heisenberg und F. Soddy, dafür aussprechen, Atomwaffen auch nur zur Abschreckung zu benutzen (abgedr. bei Otto Hahn, Erlebnisse und Erkenntnisse, 1975, S. 221 f. 239 Vgl. hierzu J. Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 19451975, 1983, S. 78 ff. m. zahlr. Nachw.

VI. Paradigmen moderner Naturwissenschaften

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forschung in der Bundesrepublik Deutschland dargestellt und analysiert werden. aa) Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen: Wissenschaft oder Wirtschaft? Es überrascht nicht, daß auch die Kernenergieforschung zu friedlichen Zwecken in den Anfangsjahren der Bundesrepublik unter alliiertem Vorbehalt stand. So enthielt das Kontrollratsgesetz Nr. 25 zur "Regelung und Überwachung der naturwissenschaftlichen Forschung" vom 29.4.1946 ein Verbot für "angewandte naturwissenschaftliche Forschung", zu der die "Angewandte Kernphysik" ausdrücklich gezählt wurde; ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt galt für "grundlegende naturwissenschaftliche Forschung" mit "Radioaktivität für andere als medizinische Zwecke". 240 Dem entsprechend unterblieb jede Kernforschung, die insbesondere zur Reaktorentwicklung hätte beitragen können, so daß sich die deutschen Wissenschaftler mit der experimentellen Verwendung radioaktiver Isotope begnügen mußten, die zentral von der 1946 gegründeten "Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften" koordiniert wurde. Hieran änderte auch das von der Alliierten Hohen Kontrollkommission am 2.3.1950 verabschiedete Gesetz zur "Überwachung von Stoffen, Einrichtungen und Ausrüstungen auf dem Gebiet der Atomenergie" 241 nichts, das die Möglichkeit bisher erteilter Ausnahmegenehmigungen eher noch einschränkte und Berichtspflichten für die bis dahin entstandenen Forschungsinstitute in Göttingen, Hamburg und Mainz präzisierte. 242 Bemerkenswert ist eine zu dem 1950 verabschiedeten Gesetz verfaßte Stellungnahme, in der die Wissenschaftler um Werner Heisenberg zusammen mit den Forschungsüberwachungsstellen in den Wirtschaftsministerien der Bundesländer versuchten, erleichterte Genehmigungsbedingungen für ihre Forschungstätigkeit durchzusetzen, da "die Beschränkungen, die der deutschen Wissenschaft

240 Alliierter Kontrollrat - Gesetz Nr. 25 "Regelung und Überwachung der naturwissenschaftlichen Forschung" vom 29.4.1946, Amtsbl. d. Kontrollrats i. Deutschland Nr. 6 v. 30.4.1946, S. 138 ff.; auch abgedr. in: W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Anfänge und Weichenstellungen, 1990, S. 635 ff. Zu diesem Verbot und seiner Durchführung vgl. S. 43 ff. 241 Amtsbl. d. Alliierten Hohen Kommission Nr. 12 v. 7.3.1950, S. 122 ff.; auch abgedr. in: W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie, 1990, S. 641 ff. 242 So die Einschätzung von W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, S. 49 ff. Ausführlich zu den besatzungsrechtlichen Beschränkungen der Kemenergieforschung Werner Bischof, in: Bonner Kommentar, 72. Lfg., 1994, Art. 74 Nr. 1 la, Entstehungsgesch., Rn. 17-27.

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und Wirtschaft auferlegt werden, den in allen Ländern anerkannten Grundsätzen der Freiheit der Wissenschaft nicht entsprechen".243 Infolge der Pariser Verträge vom 23.10.1954 wurden diese Verbote und Beschränkungen dann durch die Proklamation der Alliierten Hohen Kommission vom 5.5.1955 aufgehoben, 244 so daß zivile Kernenergieforschung nicht nur möglich, sondern auch zum Gegenstand der Gesetzgebung in Bund und Ländern wurde. Daß dann zeitgleich mit der Ergänzung des Grundgesetzes um die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie gemäß Art. 74 Nr. I l a GG auch die einfachgesetzlichen bundesrechtlichen Voraussetzungen durch das "Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz)" am 1.1.1960 in Kraft traten, 245 ist vor allem dem Umstand geschuldet, daß die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung noch umstritten war, nachdem der später im wesentlichen Gesetz gewordene Entwurf bereits in den Bundestag eingebracht wurde. 246 Gegenstand dieser Auseinandersetzung war neben haftungs- und sicherheitsrechtlichen Fragen vor allem das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten der Kernenergie, die in der diskutierten Möglichkeit zum Ausdruck kam, Kernenergie den bereits vorhandenen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes zu subsumieren. So war umstritten, ob sie einerseits als Bestandteil der Energiewirtschaft (Art. 74 Nr. 11) und andererseits als Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Art. 74 Nr. 13) anzusehen ist. Neben der dann noch nicht geregelten Einfuhr von radioaktiven Stoffen sah die Mehrheit die Notwendigkeit, die Verwendung der Kernenergie zu wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Zwecken zu einer neuen Gesetzgebungskompetenz zusammenzufassen, gerade weil zwischen diesen beiden Verwendungszwecken getrennt werden müsse.247

243 Pressemitteilung des Arbeitsausschusses Forschungskontrolle v. 14.4.1949; Akten Heisenberg, Arbeitsausschuß Forschungskontrolle; zit. bei W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, S. 52. 244 Amtsbl. d. Alliierten Hohen Kommission Nr. 126 v. 5.5.1955, S. 3272. 245 S. einerseits das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 23.12.1959 (BGBl. I, S. 813) und andererseits das Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren v. 23.12.1959 (BGBl. I, S. 814 ff.). Zur Entstehungsgeschichte beider Gesetze umfassend Werner Bischof, in: Bonner Kommentar, 72. Lfg., 1994, Art. 74 Nr. IIa, Entstehungsgesch., Rn. 1-21, Erl., Rn. 35-48. Daß das zeitgleiche Inkrafttreten von grundgesetzlicher Gesetzgebungskompetenz und einfachgesetzlicher Umsetzung verfassungswidrig ist, hat das BVerfG 1972 unter Bezugnahme auch auf das AtomG festgestellt, E 34,9 (25 f.). 246 Dies ergibt sich aus dem Schriftlichen Bericht d. Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht, BT-Drs. 2/3416, Bericht d. Abgeordneten Dr. Wahl, S. 1. 247 Schriftlicher Bericht d. Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht, BTDrs. 2/3416, Bericht d. Abgeordneten Dr. Wahl, S. 1: "Aber die Verwendung der Kem-

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Da ein Ende der parlamentarischen Beratungen auf Bundesebene, die sich schließlich über fast vier Jahre hinziehen sollten, nicht abzusehen war, wurden 1957/58 in sieben Bundesländern vorläufige atomrechtliche Bestimmungen erlassen. Diese waren notwendig, weil nach Wegfall der besatzungsrechtlichen Beschränkungen vor allem von der Wissenschaft auf die Genehmigungsmöglichkeit von Kernreaktoren zu Forschungszwecken gedrängt wurde, 248 die bereits 1956 in München, Hamburg, Frankfurt, Berlin und Nordrhein-Westfalen das Projektstadium erreicht hatten. Die landesgesetzlichen Regelungen beschränkten sich, mit Ausnahme von Bayern und Baden-Württemberg, ausdrücklich auf die Errichtung und den Betrieb von Kernreaktoren zu Forschungszwecken.249 bb) Grundlagenforschung und Anwendungsforschung im Bereich der Kernenergie Hiermit entsprach der Rahmen des rechtlich Zulässigen dem des zu diesem Zeitpunkt technisch Möglichen: Vor allem durch das erste deutsche Atomprogramm (1957) sollte das wissenschaftlich-technische Grundlagenwissen zur wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie geschaffen werden. 250 Nach einer ersten Stufe, die der Förderung der theoretischen Grundlagenforschung und des

energie für Forschungs- und medizinische Zwecke läßt sich schwerlich unter den Begriff der Wirtschaft subsumieren." In diesem Sinne auch Edmund Jess, in: Bonner Kommentar, 12. Lfg., 1964, Erstbearbeitung von Art. 74 Nr. Ila, II., Rn. 2: "Wollte man eine solche Verwendung [gemeint ist die wirtschaftliche, R.K.] andererseits unter die Zuständigkeit zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung des Art. 74 Nr. 13 GG bringen, so blieb es zweifelhaft, ob damit auch Vorschriften über die Ausübung der Forschung möglich waren." Die Gegenansicht der SPD-Fraktion wurde vom Abgeordneten Ruhnke begründet, s. BT-Drs. 2/194, S. 110. Vgl. auch O. Kimminich, Atomrecht, 1974, S. 34, der davon ausgeht, daß der Bund ohne Grundgesetzänderung keinerlei Gesetzgebungskompetenz gehabt hätte. 248 W. Heisenberg hat als Präsident des Deutschen Forschungsrates in einem Brief an Bundeskanzler Adenauer bereits 1951 auf die Möglichkeiten der "Erforschung und wirtschaftlichen Nutzbarmachung der Atomenergie im Frieden" im Rahmen eines eigenständig zufördernden Forschungsbereichs mit der Bemerkung hingewiesen, daß es zwar fraglich sei, ob man dieses Gebiet schon jetzt in der Öffentlichkeit nennen solle, daß man aber, sobald die Verbote der alliierten Behörden fielen, Arbeiten auf diesem Gebiet aufnehmen müßte. Heisenberg an Adenauer v. 19.6.1951; Akten Bundeskanzleramt Β 136-2028; zit. bei W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 78. 249 S. die Darstellung von H. Fischerhof, Atomgesetze der Bundesländer, DÖV 1958, S. 16 ff.; hierzu auch M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 38 f. 250 Zum ersten Atomprogramm W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, S. 354 ff.; zur grundlagenwissenschaftlichen Ausrichtung zwischen 1957 und 1967 Κ. H. Beckurts/J. Eidens, Kernforschung und kemtechnische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, Kommunalwirtschaft 1977, S. 142 ff. 7 Kleindiek

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

wissenschaftlichen Nachwuchses dienen sollte, war in der zweiten Stufe die Errichtung mehrerer Forschungsreaktoren vorgesehen.251 In § 1 Nr. 1 AtomG, der die Grundsatzentscheidimg für die Förderung der friedlichen Nutzung der Kernenergie enthält, wird bei der Bestimmung des Förderzweckes zwischen den drei Bereichen Erforschung, Entwicklung und Nutzung unterschieden. Die besatzungsrechtlichen Regelungen und die Entstehungsgeschichte der normativen Grundlagen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie in Bund und Ländern hatten gezeigt, daß hier die Kernenergieforschung als eigenständiger Regelungs- und Konfliktbereich durchaus relevant gewesen ist. Dies ist in der Folgezeit nicht mehr der Fall; der Erforschung der Kernenergie als von den übrigen Förderzwecken unterscheidbaren Bereich wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur keine Bedeutung mehr beigemessen. So belassen es die Kommentare zum Atomgesetz bei dem Hinweis, der Förderzweck umfasse zugleich die Ausprägung der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre (Art. 5 Abs. 3 GG) und der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit (Art. 12 und 14, 2 Abs. 1 GG). 2 5 2 Dies bedeutet jedoch nicht, daß Kernenreaktorforschung sowohl in rechtlicher als auch naturwissenschaftlicher Hinsicht keine oder neben den anderen Förderzwecken eine nur untergeordnete Bedeutung zukommt. Der Grund liegt vielmehr darin, daß die Förderzwecke, mit denen der Gesetzgeber meinte, die Kernenergie vollständig zu erfassen, strukturell nicht voneinander zu trennen sind. Die Gründe hierfür sollen im folgenden im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis durch Forschung am Beispiel der Kernenreaktortechnik näher dargelegt werden. (1) Forschungsreaktoren Reine Forschungsreaktoren sind ein wichtiges Element zur Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Kernenergie. Sie liefern einerseits mit der radioaktiven Strahlung (den freigesetzten Neutronen) das Medium für vielfältige Versuche auf nahezu allen naturwissenschaftlichen Gebieten; zum anderen sind sie selbst Forschungsgegenstand, indem ihr Betrieb Aufschluß über die Reaktorfunktion zur Wärmeerzeugung gibt. Forschungsreaktoren sind deshalb auch unabdingbar für die Entwicklung von Kernreaktoren, die Energie produzieren. 253 Hierbei beschränken sie sich jedoch auf den Nachweis, daß im Labor251 W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, S. 354 m.w.N. 252 H. Haedrich, Atomgesetz, 1986, § 1, Rn. 3; H. Fischerhof, Deutsches Atomgesetz und Strahlenschutzrecht, Bd. I, 1978, § 1 AtG, Rn. 3. 253 Hierzu W. Kliefoth/E. Sauter, Kernreaktoren, 1973, S. 44 ff., 71 ff.; W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 242.

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maßstab eine Kettenreaktion unter Kontrolle möglich ist. 254 Hierzu wurden zwischen 1959 und 1967 insgesamt 26 Forschungsreaktoren in Betrieb ge255

nommen. (2) Versuchskernkraftwerke und Prototypen Bereits anhand des ersten Atomprogramms läßt sich auch ablesen, daß Wissenschaft, Industrie und Staat die weitere Entwicklung auf dem Gebiet der Kernenergie unter dem Aspekt wirtschaftlicher Nutzung sahen. Zu diesem Zweck sollten ein Versuchskernkraftwerk und mehrere Prototypen errichtet werden. 256 Versuchsanlagen und Prototypen dienen dem Nachweis des industriellen Einsatzes einer Reaktorbaulinie. Bei Versuchsanlagen sollen vor allem im Hinblick auf die Realisierbarkeit einer Reaktorbaulinie Erfahrungen gesammelt werden. 257 Sie dienen also dazu, theoretisch, in Experimenten oder Forschungsreaktoren gewonnene Erkenntnisse zu bestätigen bzw. zu falsifizieren, Unsicherheiten aufzuzeigen und bisher nicht erkannte Probleme aufzudecken. Die in Versuchsanlagen gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen werden auf projektierte Prototypanlagen extrapoliert. Der Prototyp ist die Vorstufe zum Industriereaktor. Er soll den Nachweis führen, daß eine bestimmte Reaktorbaulinie im Vergleich zu anderen Stromerzeugern kerntechnischer und konventioneller Art rentabel ist. Er soll zudem vor dem industriellen Einsatz, d. h. der Serienreife, noch letzte offene Fragen klären, die sich vor allem auf sichere und effiziente Handhabbarkeit und Wartungsfreundlichkeit beziehen.258 Versuchskernkraftwerken und Prototypen ist gemeinsam, daß ihre Entwicklung am anwendungsbezogenen Leistungsbetrieb orientiert ist. Es geht also nicht (mehr) darum, durch den Betrieb solcher Anlagen grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, sondern Erfahrungen im Umgang mit einer Technik zu sammeln, deren Funktion und Wirkungsweise im 259

Kleinstbetrieb bereits erprobt ist. Auch im übrigen verläuft die Grenze zwischen den einzelnen Reaktortypen eher fließend. Dies gilt auch für die Abgrenzung zwischen Prototypen und Industrieanlagen. So kommt Mayinger nach einem Vergleich zwischen den in Deutschland bisher realisierten Reak254

D. Bünnemann/W. Kliefoth, Vom Atomkern zum Kernkraftwerk, 1980, S. 24, 31. S. die Übersicht bei W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 667 f. 256 W. D. Müller, a.a.O., S. 354 m.w.N. 257 W. Kliefoth/E. Sauter, Kernreaktoren, S. 71; T. Mayinger, Restrisiko bei Versuchsanlagen und Prototypen im Kemenergierecht, 1991, S. 92. 258 T. Mayinger, Restrisiko bei Versuchsanlagen und Prototypen im Kernenergierecht, 1991, S. 92,106 ff. 259 T. Mayinger, a.a.O., S. 112. 255

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

torbaulinien (Leichtwasserreaktoren, Schnelle Brutlinie, Hochtemperaturreaktoren) zu dem Ergebnis, daß die Entwicklungssystematik "von der Versuchsanlage über die Demonstrationsanlage zum Industriereaktor" nur für die Leichtwasserreaktoren gelten kann, im übrigen aber eine scharfe Abgrenzung nicht möglich ist. 260 Für eine nicht trennscharfe Unterscheidung zwischen den Reaktortypen sogar unter Einbeziehung des Forschungsreaktors spricht auch der Mehrzweckforschungsreaktor Karlsruhe, in dem entsprechend seiner Bezeichnung die Eigenschaften eines Forschungsreaktors, einer Versuchs- und Prototypenanlage, aber auch eines Industriereaktors zur kommmerziellen Nutzung miteinander kombiniert und auch genutzt wurden. 261 Abgesehen von diesem auffälligen Beispiel wurden jedoch Versuchsanlagen und Prototypen aus jeder der drei in Deutschland verwirklichten Reaktorbaulinien zur kommerziellen Energiegewinnung und damit industriellen Nutzung eingesetzt.262 Möglich ist dies, weil die thermische Leistung (die maßgeblich für die elektrische Nettoleistung ist) zwar bei Versuchsanlagen und Prototypen erheblich niedriger ist als bei den reinen Industriereaktoren, zur kommerziellen Energiegewinnung aber immer noch ausreicht.263 Hieraus folgt aber auch, daß im Hinblick auf das Gefährdungspotential zwischen Versuchsanlagen, Prototypen und reinen Industriereaktoren keine maßgeblichen Unterschiede bestehen, da ihr Aktivitätsinventar das der Industriereaktoren insofern nicht maßgeblich unterschreitet. 264 So hätte auch die Freisetzung von Radioaktivität bei einem Reaktor mit vergleichsweise niedrigem Aktivitätsinventar katastrophale Auswirkungen auf die (nähere) Umgebung.265

260 T. Mayinger, a.a.O., S. 108: Dies verdeutlicht auch der Begriff der Demonstrationsanlage. Prototypen ohne Demonstrationscharakter tendieren als Großversuchsanlagen eher zu den Versuchsanlagen, während Prototypen mit Demonstrationscharakter eher zu den Industriereaktoren tendieren. 261 Hierzu A. Ziegler, Der Mehrzweck-Forschungsreaktor, atw 1962, S. 17 ff.; s. auch M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 44 f. 262 S. die Übersichten bei T. Mayinger, Restrisiko bei Versuchsanlagen und Prototypen im Kernenergierecht, 1991, S. 194 ff. als tabellarische Auflistung unterschieden nach Versuchsanlagen, Prototypen und Industriereaktoren, die sich an ihrem ursprünglichen bzw. erstrangigen Verwendungszweck orientiert und M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 43 ff. mit einer Beschreibung der bis 1983 zumindest in Bau befindlichen Kernkraftwerke und der jeweiligen Einordnung als Reaktortyp. 263 670-1380 MWe bei Industriereaktoren, 16-100 bei Versuchsanlagen, 160-345 MWe bei Prototypen, vgl. die Übersicht bei T. Mayinger, Restrisiko bei Versuchsanlagen und Prototypen im Kernenergierecht, 1991, S. 194 f. 264 So zutreffend das Ergebnis der Untersuchung von T. Mayinger, Restrisiko bei Versuchsanlagen und Prototypen im Kemenergierecht, 1991, S. 193. 265 Vgl. hierzu E. Hicken, Reaktorsicherheit, in: H. Michaelis (Hrsg.), Handbuch der Kernenergie, S. 841.

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Nach alldem ist es nur konsequent, daß Versuchsreaktoren und Prototypen im Hinblick auf die erforderliche Schadensvorsorge, die wesentliche Grundlage für die atomrechtliche Genehmigung ist, grundsätzlich den gleichen Anforderungen wie Industriereaktoren unterliegen. Für den Bereich der Gefahrenabwehr unterliegen Prototypen und Versuchsanlagen darüberhinaus, sofern die Erkenntnis- und Erfahrungsbasis nicht so ausgeprägt ist wie bei Industriereak266

toren, sogar höheren Genehmigungsvoraussetzungen. Die Anforderungen an die erforderlichen Gefahrenvorsorgemaßnahmen unterliegen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz insofern, als dem Schutz der Bevölkerung die Grundrechte der Betreiber entgegenstehen. Mayinger differenziert hierbei zwischen dem Schutz der Betreiber von Industrieanlagen durch Art. 2 Abs. 1 GG und dem für Versuchsanlagen und Prototypen, deren Betreiber auch durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt seien.267 b) Das Verhältnis von Gesetz und Experiment in der Kernenergieforschung Das Beispiel der Kernreaktorfunktionen zeigt, daß eine Unterscheidung zwischen Erforschung und Anwendung nur für die Forschungsreaktoren und auch dort nur für einen Teilbereich der Funktionen möglich ist. Haben sie die Funktion, radioaktive Strahlung zu erzeugen, um diese als Medium naturwissenschaftlich zu nutzen, handelt es sich bei den Forschungsreaktoren um Forschungsmittel, d. h. erzeugte Artefakte als notwendige Voraussetzung und Hilfsmittel wissenschaftlicher Erkenntnisoperationen. Sie selbst gehören damit nicht in den Bereich wissenschaftlicher Forschung, sondern sind Ergebnis einer Umsetzimg bekannten Wissens, das als Mittel der Wissenserzeugung genutzt wird. Der Prozeß der Wissenserzeugung, der ζ. B. die Verwendbarkeit und die Verhaltensweisen radioaktiver Strahlung zum Gegenstand haben kann, gehört

266

In diesem Kontext ist es bemerkenswert, daß Hicken (a.a.O., S. 862) drei Störfalle in den U.S.A., Großbritannien und Jugoslawien mit ζ. T. tödlichem Ausgang und hoher radioaktiver Kontamination der Umwelt mit dem Hinweis relativiert, hier handelte es sich um Versuchsanlagen, an die wesentlich geringere Sicherheitsanforderungen gestellt worden seien, als dies bei Kernkraftwerken zur kommerziellen Nutzung der Fall sei. 267 T. Mayinger, Restrisiko bei Versuchsanlagen und Prototypen im Kernenergierecht, 1991, S. 193; zur Wissenschaftsfreiheit etwas ausführlicher S. 163 f. Die Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr- und Gefahrenvorsorgemaßnahmen im Atomrecht folgt der gesetzlichen Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG. Hiemach betreffen Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge Maßnahmen gegen das Risikopotential einer kemtechnischen Anlage, sie unterscheiden sich dadurch, daß sich Gefahrenvorsorge auf den durch die Maßnahmen zur Gefahrenabwehr rechtlich umschriebenen Bereich des tolerablen Risikos beziehen. Vgl. hierzu. T. Mayinger, Restrisiko bei Versuchsanlagen und Prototypen im Kemenergierecht, 1991, S. 65 ff., 81 ff.; R. Herzog, Technisches Risiko - Individuelle Verantwortung, ET 1984, S. 873.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

dann wieder in den Bereich wissenschaftlicher Forschung.268 Mit der Entwicklung und Erprobung von Reaktorfunktionen zur Wärmeerzeugung, in der die Forschungsreaktoren den Nachweis erbringen sollen, daß eine Kettenreaktion im Labormaßstab möglich ist, sind diese dagegen selbst Teil der Forschung: Entwicklung und Betrieb dienen nicht einer anderen, sondern sie selbst bilden die wissenschaftlich-technische Handlung, durch die im kleinen Maßstab Erkenntnisse über das Reaktorverhalten zur Energiegewinnung gewonnen werden sollen. Sie bleiben zwar Artefakte, ihr Betrieb soll jedoch nicht bekanntes Wissen im Labormaßstab erzeugen. Eine Differenzierung zwischen einem wissenschaftlichen und technischen Aspekt wird in dieser Konstellation unmöglich. Es hat sich gezeigt, daß auch die Konzeption und der Betrieb von Versuchsanlagen (soweit diese überhaupt von den Forschungsreaktoren unterscheidbar sind) und Prototypen als wissenschaftliche Erkenntnisoperationen anzusehen sind. 269 Der Grund hierfür liegt darin, daß auch in Forschungsreaktoren die Reaktorfunktionen nur unzureichend modelliert werden können. 270 Notwendige Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeit von Kernreaktoren lassen sich demnach nur experimentell gewinnen. Ob Forschungsreaktoren zur Erprobung von Reaktorfunktionen als nicht trennbarer Handlungszusammenhang zum Lebensbereich Wissenschaft gehören, ist demnach zwar anhand der bisher entwickelten Strukturmerkmale zu entscheiden. Das für die moderne Wissen271

schaft charakteristische Verhältnis von Gesetz und Experiment kehrt sich jedoch um: Ausgehend von Forschungsreaktoren über Versuchskernkraftwerke und Prototypen werden die Gesetzmäßigkeiten der Kernreaktorfunktionen überhaupt erst entwickelt. Diesem wissenschaftlich-technischen Erkenntnisprozeß ist inhärent, daß eine theoretische, d. h. gesetzmäßig begründete Annahme erst durch ihre praktische Anwendung verifizierbar bzw. falsifizierbar ist. Den sich so vollziehenden Paradigmenwechsel von der Anwendung als Erprobung von theoretischem Wissen zur Anwendung als Produktion von theoretischem Wissen hat Wolf Häfele, einer der prominenten deutschen Atomphysiker, Befürworter der Kernenergietechnik und der erste Vorsitzende der 1969 gegrün268 Allgemein zum Verhältnis von Forschung und Technik in diesem Sinne auch H.H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 126 ff. 269 So auch W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor. Die Erzeugung sozialer Risiken durch experimentelle Forschung, Soziale Welt 40 (1989), S. 351 ff.; J. Radkau, Kerntechnik: Grenze von Theorie und Erfahrung, Spektrum der Wissenschaft 1984, Nr. 12, S. 88 f. 270 B. Wynne, Unruly Technology: Practical Rules, Impractical Discourses and Public Understanding, Social Studies of Science 18 (1988), S. (147 ff.), S. 153, bezeichnet diese Umkehrung als "Prototyp-Technologie"; vgl. hierzu auch W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt 40 (1989), S. 358. 271 S. oben, S. 39 ff., 48 ff.

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deten Kerntechnischen Gesellschaft, 272 treffend beschrieben: "Es ist genau das Zusammenspiel zwischen Theorie und Experiment oder Versuch und Irrtum, das für die Reaktortechnologie nicht länger möglich ist. (...) Reaktoringenieure tragen diesem Dilemma dadurch Rechnung, daß sie das Problem technischer Sicherheit in Unterprobleme zergliedern. Beispielsweise wird die Festigkeit der Drucksysteme als ein Teilproblem analysiert, ebenso das Funktionieren der Kontroll- und Pumpsysteme. (...) Jedoch auch die Aufspaltung des Problems kann nur der Annäherung an ultimative Sicherheit dienen. (...) Das verbleibende 'Restrisiko' öffnet die Tür in das Reich des 'Hypothetischen1. (...) Der Austausch zwischen Theorie und Experiment, der zur Wahrheit in traditionel273

lem Sinne führt, ist nicht länger möglich." c) Der organisatorische Rahmen: Die Entwicklung der Großforschung am Beispiel der Kernreaktorforschung Die Kernreaktorforschung sprengte, bereits als sie noch in ihren "Kinderschuhen" steckte, jeden vorhandenen forschungspolitischen Rahmen. Dies galt vor allem für die an ihr beteiligten Universitäten; so beanspruchte die Reaktorstation der Technischen Hochschule München bei der vollen Inbetriebnahme 1959 etwa 40% des gesamten Etats der Hochschule.274 Die Erwartungen, die in die friedliche Nutzung der Kernenergie gesetzt wurden, führte zu einer Nachfrage wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die weder die Industrie noch die staatlich organisierte und eingerichtete Wissenschaft innerhalb und außerhalb der Universitäten allein erfüllen konnte. Hinzu kam die Überzeugung, daß auf diesem Gebiet ein auf zehn Jahre geschätzter Vorsprung des 275

Auslands aufzuholen sei. Da die Kernreaktorforschung die Möglichkeiten universitärer Forschung überstieg und die Industrie aufgrund noch nicht abgesicherter ökonomischer Verwertungsmöglichkeiten und -perspektiven die alleinige Durchführung eines Forschungs- und Entwicklungsvorhabens in diesem Umfang scheute, andererseits aber Politik und Industrie in der Kernenergie die Energieform der Zukunft sahen, war es nur konsequent, eine Kooperationsform zu finden, die den möglichen Nutzen, aber auch die (ökonomischen) Risiken angemessen zu verteilen suchte. Vorbilder für ihre 272 W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 200. 273 W. Häfele, Hypotheticality and the New Challenges: The Pathfinder Role of Nuclear Energy, Minerva 12 (1974), S. (304 ff.) 313 ff.; Übers, b. U. Beck, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, 1988, S. 200. 274 W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 249. 275 Vgl. hierzu oben, S. 94 ff.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Verwirklichung waren Einrichtungen im Ausland, für die sich die Charakterisierung als "Big Science" etabliert hatte; nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelten sich in den USA mit den aus dem Manhattan-Project 276 hervorgegangenen National Laboratories, 277 aber auch in Großbritannien (Harwell) und Frankreich (Saclay) ein neuer Typ von Forschungsorganisationen. Diesen entsprachen die sechs Kernforschungszentren als Großforschungseinrichtungen in Deutschland.278 Die weitere Entwicklung in Deutschland zeigt, daß diese Zusammenarbeit durchaus sensibel auf die jeweiligen Interessen der Beteiligten, vor allem der Industrie, reagierte. Das Kernforschungszentrum Karlsruhe wurde zwar in seiner Gründungskonstellation (1956) jeweils zur Hälfte von einer staatlichen und einer Finanzierungsgesellschaft der Industrie getragen und ist somit ein Beispiel für den Versuch einer engen Kooperation von Staat und Wirtschaft, bereits 1963 beendete die Industrie jedoch diese Zusammenarbeit und schenkte ihre Anteile der staatlichen Gesellschaft. 279 Nun übernahm der Staat allein die Rolle, langfristige Projekte mit hohem Erfolgsrisiko im Vorfeld der industriellen Nutzung zu fordern, um auf diesem Weg unternehmerische Interessen zu 280

antizipieren. Daß bereits ab 1967 die ersten Aufträge für kommerzielle Anlagen ohne staatliche finanzielle Hilfe erteilt wurden, 281 belegt, daß die Industrie fortan eigenständig die Möglichkeiten der zivilen Nutzung der Kernenergie erforschen und realisieren wollte. Dem entspricht es auch, daß sich Großforschung und Atomindustrie auseinander entwickelten; die Industrialisierung der Forschimg führte nicht zu einer Identität von Forschung und Industrie. Dort standen wirtschaftliche Verwertungsinteressen im Vordergrund, denen eine möglichst schnelle Umsetzung wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse

276

Vgl. hierzu oben, S. 93. Oak Ridge (ORNL), Argonne (ANL), Brookhaven (BNL). Alvin Weinberg, Autor des Standardwerkes zur Großforschung (Probleme der Großforschung, 1970) war Direktor des Oak Ridge National Laboratory. 278 Vorbild für die wissenschaftliche Konzeption der Kernforschungsanlage Jülich war das Argonne National Laboratory; hierzu B.-A. Rusinek, Die Gründung der Kernforschungsanlage Jülich, 1990, S. 50; in diesem Sinne auch H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 49, Fn. 165, der die Kernenergie zutreffend als Prototyp für die Entwicklung der Großforschung bezeichnet. 279 M. Szöllösi-Janze/H. Trischler, Entwicklungslinien der Großforschung in Deutschland, 1990, S.15; W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 327. 280 M. Szöllösi-Janze/H. Trischler, Entwicklungslinien der Großforschung in Deutschland, 1990, S. 15. 281 M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 42 f. 277

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inhärent ist, während staatlich organisierte Großforschung jedenfalls auch die Vertiefung und Erweiterung des Grundlagenwissens zum Gegenstand hatte. 282 d) Großforschung als eigener Forschungstyp Großforschung als eigener Forschungstyp zeichnet sich nicht nur durch seine quantitativen Dimensionen aus. Als ein Segment organisierter Forschung stellt sie ein neues Instrument der Planung und Steuerung von Forschung in den Bereichen dar, die von anderen Wissenschaftsbereichen nicht oder nicht in adäquater Weise wahrgenommen werden können. Dieser subsidiären Aufgabenstellung entsprechend bearbeiten Großforschungseinrichtungen langfristig angelegte und komplexe Forschungs- und Entwicklungsaufgaben von überregionaler bzw. volkswirtschaftlicher Bedeutung, die mit erheblichen technischen und ökonomischen Risiken verbunden sind und einen hohen Planungsund und Managementaufwand sowie eine kontinuierliche Bearbeitung erfordern. 283 Zur Erfüllung dieser komplexen und anspruchsvollen Aufgabenstellung sind die Großforschungseinrichtungen sowohl zur anwendungsorientierten Forschung und technischen Entwicklung (sog. FuE-Zentren) als auch zur Grundlagenforschung eingerichtet.284 Nachdem die bloße Verwirklichung der Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken als vorrangiger Gegenstand der Großforschung in den Hintergrund getreten ist, hat die dann einsetzende Differenzierung innerhalb der Großforschung 285 zur Errichtung bzw. Erweiterung von Einrichtungen auf verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebieten geführt. Hierbei haben sich die staatliche Daseins- und Zukunftsvorsorge und die Technikfolgenab282 Für den "Ausstieg" der Industrie aus der gemeinsamen Trägerschaft für die Kernforschungsanlage Karlsruhe werden tiefgreifende Spannungen zwischen den Interessen der atomphysikalischen Grundlagenforschung und denen der Reaktorentwicklung verantwortlich gemacht, s. hierzu J. Radkau, Kerntechnik: Grenzen zwischen Theorie und Erfahrung, Spektrum der Wissenschaft 1984, S. 76; W. D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 203 ff. 283 So das von der Bundesregierung in der 10. Wahlperiode in Zusammenarbeit mit den Großforschungseinrichtungen erarbeitete Konzept, BT-Drs. 10/1327, S. 19; in diesem Sinne auch Bundesbericht Forschung 1993, S. 431. Zur Großforschung als eigenständigen Forschungstyp instruktiv auch H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 107 ff. 284 Etwa 2/5 der Aufwendungen der Großforschungseinrichtungen werden auf die Grundlagenforschung, nahezu die Hälfte auf die industrienahe Anwendungs- und Entwicklungsforschung verwandt, Großforschungsbericht BT-Drs. 10/1327, S. 33. Vgl. zum Ganzen auch C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S. 53 ff. 285 Hierzu, auch im internationalen Kontext, C. Reuter-Boysen, Diversifizierung von Großforschung, 1990, S. 161 ff.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Schätzung als neue Schwerpunkte etabliert. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Bundesregierung für die Bestimmung der gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben vor allem der Großforschungseinrichtungen von einer wissenschaftlich-technischen Entwicklung ausgeht, in der Chancen und Risiken in einem ambivalenten Verhältnis zueinander stehen: "Technischer Wandel in den hochentwickelten westlichen Industriestaaten beinhaltet Chancen, die vor allem wirtschaftlich genutzt werden können, und Risiken, die frühzeitig erkannt werden müssen, damit Gegenmaßnahmen erarbeitet und ergriffen werden können."286 Der aktuelle Bundesbericht Forschimg bestätigt dieses Konzept, indem sich die Forschungsinhalte, neben der klassischen Orientierung an Großgeräten oder etwa der Raumfahrt, zunehmend auf die Vorsorgeforschung in den Bereichen Umwelt und Gesundheit bzw. die Technologieentwicklung im Bereich der umweltfreundlichen sicheren Energieversorgung konzentrieren sollen.287 Hiermit würde eine bereits begonnene Umstrukturierung noch verstärkt, denn bereits zwischen 1980 und 1990 haben sich die staatlichen Aufwendungen für Umweltforschung und -entwicklung in Deutschland nahezu verdoppelt und haben derzeit einen Anteil von rund 20% an den gesamten Forschungsfordermitteln. 288 Diese zeitgemäße Umorientierung der Großforschung zeigt deutlich, daß Großforschungseinrichtungen als ein wirksames Steuerungsinstrument anzusehen sind, durch das sich für gesellschaftlich relevant erachtete Perspektiven und Ziele staatlicher Forschungspolitik verwirklichen lassen. Die Aufgaben der Großforschungseinrichtungen bedürfen einer adäquaten Organisation und finanziellen Grundlage. Gemeinsames Kennzeichen der konkreten organisatorischen Ausgestaltung ist die Gründung als zumeist privatrechtliche Gesellschaft (als Gesellschaft mit beschränkter Haftung, als gemeinnütziger Verein oder als Stiftung); die unterschiedlichen Rechtsformen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Grundfinanzierung gegenwärtig bei allen Großforschungsprojekten zu 90% durch den Bund und zu 10% durch die jeweiligen Sitzländer erfolgt. 289 Großforschung ist somit materiell eine Einrichtung des Staates und unterliegt deshalb staatlicher Organisationsverantwortung, die aufgrund der Finanzierungskonstellation entscheidend vom Bund

286

BT-Drs. 10/1327, S. 30. Bundesbericht Forschung 1993, S. 431. 288 In diesem Zeitraum ist eine entsprechende Entwicklung in Großbritannien zu verzeichnen, während die staatlichen Aufwendungen in den USA nur um weniger als 10% gestiegen und in Frankreich sogar leicht zurückgegangen sind; Bundesbericht Forschung 1993, S. 10 f. 289 BT-Drs. 10/1327, S. 34. 287

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wahrgenommen wird. 290 Derzeit beschäftigen die 16 Großforschungszentren 291 in Deutschland etwa 14 000 Wissenschaftler und Techniker. Sie beanspruchen rund 35% der personellen und 45% der finanziellen Ressourcen der außeruniversitären, staatlich finanzierten Forschung.292 e) Großforschung als Anwendungsforschung

und als Grundlagenforschung

Die Großforschung hat sich, ähnlich wie die Industrieforschung, 293 als eigenständiger Forschungstyp aus den vorhandenen Wissenschaftsstrukturen entwickelt. Exemplarische Untersuchungen etwa der wissenschaftlichen Arbeitstechnik Ernest Rutherfords 294 oder der Entwicklung der Chemiefor295

schung in Deutschland lassen diesen Vergleich im Hinblick auf die innere Organisation der Forschungstätigkeit und die hochspezialisierte Arbeit an gemeinsamen Projekten zu. Großforschung erweist sich besonders gut geeignet, um als ein Segment von Wissenschaft in staatlicher Verantwortung auf gesellschaftliche Ansprüche an die Wissenschaft zu reagieren; die Universitäten etwa 290 So H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 556. 291 Es sind dies: Stiftung Alfred Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI, gegründet 1980 als Stiftung d. öfftl. Rechts), Stiftung Deutsches ElektronenSynchroton (DESY, gegr. 1959 als Stiftung d. priv. Rechts), Stiftung Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ, gegr. 1964 als Stiftung d. öfftl. Rechts), Deutsche Forschungsanstalt fiir Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR, gegr. 1969), Gesellschaft für biotechnologische Forschung mbH (GBF, 1976 hervorgegangen aus der von der Stiftung Volkswagenwerk getragenen Gesellschaft für Molekularbiologische Forschung mbH), Stiftung GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ, gegründet 1992 als Stiftung d. öfftl. Rechts), GKSS-Forschungszentrum Geesthacht GmbH [vormals Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt, gegr. 1956 als GmbH] (GKSS). Gesellschaft fiir Mathematik und Datenverarbeitung mbH (GMD, gegr. 1968), GSF-Forschungszentrum fiir Umwelt und Gesundheit GmbH (GSF, vormals Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung, gegr. 1960), Gesellschaft fiir Schwerionenforschung mbH (GSI, gegr. 1969), Hahn-Meitner-Institut Berlin GmbH (HMI, gegr. 1959 als Ressortforschungseinrichtung des Landes Berlin, 1971 Umwandlung in GmbH m. Bundesbeteiligung), Max-Planck-Institut fiir Plasmaphysik (IPP, gegr. 1960 als GmbH von der MPG und W. Heisenberg, 1971 eingegliedert in die MPG), Forschungszentrum Jülich GmbH [vormals Kernforschungsanlage Jülich] (KFA, gegr. 1956 durch das Land NRW, ab 1961 als eingetr. Verein, seit 1967 GmbH), Kernforschungszentrum Karlsruhe GmbH (KfK, gegr. 1956), Stiftung Max-Delbrück-Centrum fiir Molekulare Medizin (MDC, gegr. 1992 als Stiftung d. öfftl. Rechts), UFZ-Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle GmbH (UFZ, gegr. 1991). 292 M. Szöllösi-Janze/H. Trischler, Entwicklungslinien der Großforschung in Deutschland, 1990, S. 9. Ähnliche Daten im Großforschungsbericht der Bundesregierung, BT-Drs. 10/1327, S. 20. 293 Vgl. hierzu oben, S. 88 ff. 294 L. Badash, The Origins of Big Science: Rutherford at McGill, 1979, S. 29 ff. 295 J. A. Johnson, The Chemical Reichsanstalt Association: Big Science in Imperial Germany, 1980.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

können diesen Zweck weniger gut erfüllen, weil ihre eindeutige Aufgabenstellung und die sich hieraus ergebende Verbindung von Forschung und Lehre sie insofern unflexibel macht. Innere Struktur und rechtlicher Rahmen zeigen, daß Großforschung einen hohen Organisationsgrad aufweist und voraussetzt. Ihre Einrichtung, dies hat die Entwicklung der Kernenergieforschung gezeigt, führt zu einem gewandelten Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft, wovon die Verfassungund Gesetzgebung zum Atomrecht seit ihren Anfängen geprägt ist. Eine enge Kooperation dieser drei Akteure setzt eine Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessenlagen voraus. Entstehen und Verlauf der Kernreaktorforschung belegen, daß dieses Vorhaben dort insofern mißglückt ist, als eine anfangs enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft nach verhältnismäßig kurzer Zeit nicht mehr fortzusetzen war, weil tiefgreifende Unterschiede in der Prognose bestanden, wie schnell Kernkraft eine wirtschaftlich verwertbare Energieform werden soll und wird. Wohl nicht zuletzt deshalb ist es eine erklärte Aufgabe der nunmehr fast ausschließlich staatlich finanzierten Großforschung, wissenschaftlich-technische Entwicklungen in den Bereichen zu initiieren, die für die Wirtschaft ein zu hohes oder nicht kalkulierbares ökonomisches Risiko in sich bergen. Andererseits zeigt der zunehmende Bedeutung erlangende Bereich der Technikfolgenund Risikoforschung, daß sich staatliches Handeln in der Risikogesellschaft nicht mehr allein auf repressive Kontrolle beschränken kann; wissenschaftlichtechnisches Wissen ist nicht nur an der Verursachung von Gefahren beteiligt, sondern auch für deren Identifizierung und Bewältigung erforderlich. 296 Die Entwicklung der Großforschung als eigener Forschungstyp dokumentiert, wiederum vergleichbar mit der Industrieforschung, zudem auf eindringliche Weise, daß die nunmehr unauflösbare Verbindimg von Wissenschaft und Technik dazu geführt hat, daß die anwendungsorientierte Forschung - die eher mißverständlich auch "Zweckforschung" genannt wird 2 9 7 - und die Grundlagenforschung zu gleichbedeutenden Bestandteilen des Lebensbereichs Wissenschaft geworden sind. Hieran wird einmal mehr deutlich, daß die immanenten intellektuellen Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis von den externen gesellschaftlichen Determinanten der wissenschaftlich-technischen Entwicklung abhängig sind.

296 U. Beck, Risikogesellschaft, S. ; B.-O. Bryde, Das Recht in der Risikogesellschaft, 1992, S. 74 f.; ders., Aufgabe und Aufbau der Universität, 1991, S. 4. 297 So etwa T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S. 259 ff.

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Mit der Großforschung hat sich ein eigener Forschungstyp innerhalb staatlicher Bindungen herausgebildet, der neben die universitäre Forschung und Lehre, die in der deutschen Wissenschaftstradition ebenfalls staatlich organisiert ist, 298 und die Industrieforschung tritt. Die Besonderheit der Großforschung hängt mit den Strukturen wissenschaftlich-technischer Erkenntnis in der Risikogesellschaft unmittelbar zusammen. Hiermit ist der Prozeß der organisatorischen Ausdifferenzierung der Wissenschaftslandschaft jedoch keineswegs vollständig erfaßt. Anhand der Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsforschung läßt sich vielmehr feststellen, daß parallel zu der Entwicklung der Großforschung mit der "Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.", die 1948 als Nachfolgerin der 1911 gegründeten "Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V." gegründet wurde, und mit der seit 1949 bestehenden "Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V." bedeutende Trägerorganisationen geschaffen wurden, die die Anwendungs- und die Grundlagenforschung als jeweils eigenständige Wissenschaftsbereiche repräsentieren. Hinzu kommt, als überkommener Wissenschaftstyp, die staatliche Ressortforschung, deren Aufgabe sich angesichts des wissenschaftlich-technischen Fortschritts erheblich verändert hat. Auf die Besonderheiten dieser unterschiedlichen Ausprägungen organisierter Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen wird im Zusammenhang mit ihrer verfassungsrechtlichen Beurteilung näher einzugehen

3. Genforschung Keine wissenschaftliche Disziplin wird mit den positiven und negativen Verheißungen der Risikogesellschaft so sehr identifiziert wie die gentechnische Forschung. Auf dem Gebiet der synthetischen Chemie hat sich der Paradigmenwechsel des Erkenntnisinteresses bereits angedeutet, die Erforschung der Kernenergie hat zu einer Umkehrung des Verhältnisses von Gesetz und Experiment geführt. Diese enge Verbindung von Wissenschaft und Technik wird endgültig hergestellt und die wesentlichen Grundlagen der Strukturen wissenschaftlich-technischer Erkenntnis in der Risikogesellschaft werden so geschaf298 Zu den hiermit "konkurrierenden" Privatuniversitäten A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie: Zugleich ein Beitrag zum Problem der Privatuniversität, AöR 105 (1980), S. 36 ff., 67 ff.; M. Erhardt, Stiftungsuniversität bürgerlichen Rechts?, WissR 3 (1970), S. 97 ff; L. Niemann, Die GmbHUniversität für die Mandarine der Zukunft, KJ 1970, S. 73 ff. (Teil I), 209 ff. (Teil II). Zu dem System staatlicher und privater Universitäten in den USA instruktiv P. Weingart, Die amerikanische Wissenschaftslobby, 1970, S. 198 ff. 299 Vgl. unten, 3. Kap., S. 279 ff.

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fen; auch der Fortschritt in der Chemie oder Kernenergie, für den bestimmte wissenschaftlich-technische Erkenntnisoperationen konstitutiv sind, führt zu einer Selbstgefährdung des Menschen und seiner Umwelt. Auch Chemie und Kernenergie weisen den "Weg in eine andere Moderne" (U. Beck). Ein Grund für die herausgehobene Bedeutung der Genforschung kann darin liegen, daß sie die jüngste der drei wissenschaftlichen Disziplinen ist. Abgesehen hiervon unterscheidet sich die Genforschung von den anderen Disziplinen, weil sie in ihren Anwendungsmöglichkeiten potentiell unbegrenzt ist, indem jede Zelle gentechnisch verändert werden kann. Dies hat zur Folge, daß der Mensch sich selbst in seinen fundamentalen Grundlagen zum Gegenstand wissenschaftlichtechnischer Erkenntnisoperationen machen kann. Der Humangenetik, die es dem Menschen ermöglicht, eine künstliche Veränderung seines "genetischen Materials" vorzunehmen, liegen Erkenntnisoperationen zugrunde, die ihrer Qualität nach den direkten Durchgriff auf die Subjektivität ermöglichen; Naturbeherrschung als Baconisches Ideal und Subjektbeherrschung fallen so zusammen.300 Die leidenschaftliche gesellschaftliche Diskussion um die Chancen und Risiken vor allem der Humangenetik, und hier insbesondere der Möglichkeiten von Genomanalyse und Gentherapie in der Embryonenforschung, 301 hat hierin ihre tiefere Begründung. Aber auch unterhalb der spektakulären Ebene der Humangenetik hat die Genforschung die Strukturen wissenschaftlich-technischer Erkenntnis nachhaltig verändert. Sie ist zwar als eine Disziplin der molekularbiologischen Grundlagenforschung entstanden, ihre ubiquitäre Anwendungsmöglichkeit und die bisher zu verzeichnenden Fortschritte haben jedoch dazu geführt, daß sie diesen Bereich längst verlassen hat, bzw. die Molekularbiologie fester Bestandteil anderer Wissenschaftsdisziplinen geworden ist. So sind gentechnische Verfahren heute in der Arzneimittelforschung, der Chemie und der Forschung auf dem Gebiet der Tier- und Pflanzenproduktion anwendbar. 302 Kurz- und mittelfristige Erfolge, die auch zu industrieller Produktion und ökonomischer Verwertbarkeit geführt haben, sind vor allem auf dem Gebiet der Arzneimittelforschung zu verzeichnen. Dort werden gentechnische Methoden eingesetzt, um Arzneimittel herzustellen, die zuvor nicht in ausreichender Menge oder Reinheit verfügbar waren; in den USA kam 1982 das erste gentechnisch hergestellte Humaninsulin auf den Markt. 303 In der 300

U. Beck, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, 1988, S. 49. Vgl. hierzu die konstruktive Darstellung in dem insgesamt vorzüglichen Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Chancen und Risiken der Gentechnologie", S. 140 ff.; als BT-Drs. 10/6775 und gesondert veröffentlicht von W.-M. Catenhusen/H. Neumeister (Hg.), Chancen und Risiken der Gentechnologie, 1990. 302 Zum Ganzen D. Brocks/A. Pohlmann/M. Senft, Das neue Gentechnikgesetz, München 1991, S. 10 f. 303 In Deutschland wurde 1984 die erste Genehmigung eines Verfahrens zur Herstellung gentechnisch erzeugten Humaninsulins beantragt und 1984 erteilt. Hierauf bezieht 301

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angewandten Chemie ist die Relevanz gentechnischer Verfahren zwar noch eher gering, Anzahl und Bedeutung der durchgeführten Forschungsprojekte auf diesem Gebiet sind jedoch verhältnismäßig groß. 304 Bereits in dieser knappen Einleitung wird deutlich, daß die grundlagen- und die anwendungsorientierte Genforschung die für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt erforderlichen organisatorischen Strukuren vorgefunden hat, indem sich, neben der vor allem in der Genforschung nicht zu unterschätzenden universitären organisierten Forschung, bereits mit der synthetischen Chemie der eigene Forschungstyp der Industrieforschung und mit der Kernenergie die Großforschung entwickelt hat. Es spricht vieles dafür, daß dieser Vorsprung durch ein bereits bestehendes, ausdifferenziertes und organisiertes Wissenschaftssystem gegenüber den anderen beiden Wissenschaften, die neben der eigentlichen Forschung an der Herausbildung dieser Strukturen beteiligt waren, 305 ein Grund dafür ist, daß sich im Bereich der Genforschung der wissenschaftlich-technische Fortschritt wesentlich schneller vollzieht als etwa im Bereich der Kernenergieforschung. In der Diskussion um die Chancen und Risiken der Genforschung nimmt das Gebiet der Pflanzenproduktion eine herausgehobene Stellung ein. Der Grund hierfür liegt darin, daß bereits die Grundlagenforschung Freilanderfahrungen in ihr Forschungsdesign einbeziehen muß, um die Stabilität der neu geschriebenen Organismen im beabsichtigten Wirkungsfeld zu erkunden. Man erhofft sich hiervon im Ergebnis Fortschritte für die Sicherung der Ernährung, eine umweltschonende, wirtschaftliche und von klimatischen Bedingungen stärker unabhängige Landwirtschaft. Die Möglichkeit einer Störung des Umweltgleichgewichts oder der Infektion anderer Organismen als Folge der Freisetzung eines genetisch veränderten Organismus ist unbestritten, gleichwohl besteht in der Wissenschaft nach wie vor keine Einigkeit über Ausmaß und Wahrscheinlichkeit dieser Risiken. Nach einer skizzenhaften Darstellung der wissenschaftlich-technischen und der gesetzlichen Grundlagen soll im folgenden auf die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis im Bereich der Genfor-

sich auch das Urteil des Hess VGH v. 6.11.1989, JZ 1990, S. 80 ff., in dem eine ausdrückliche gesetzliche Regelung (das 1990 in Kraft getretene GenTG) als Voraussetzung fur den Betrieb einer gentechnischen Anlage verlangt wird, weil sonst dem grundrechtlich verbürgten Schutz von Leben und Gesundheit nicht Rechnung getragen sei. 304 Die Enquete-Kommission nennt Forschungsprojekte zu Bioethanol, Fetten, Nahrungsmittelzusatzstoffen und vor allem Enzymen; W.-M. Catenhusen/H. Neumeister (Hg.) "Chancen und Risiken der Gentechnologie", 1990, S. 40 ff., 46; zur Enzymtechnologie im besonderen S. 47 ff. 305 Die Geschichte der Kernenergie von W. D. Müller belegt durchweg sehr deutlich, daß der Einfluß einzelner Wissenschaftler, aber auch der scientific community insgesamt, bei nahezu jeder wichtigen Weichenstellung deutlich spürbar war.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

schung am Beispiel der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen näher eingegangen werden. a) Wissenschaftlich-technische

Grundlagen

Die gentechnische Forschung als eigenständige Disziplin der Molekularbiologie ist eine verhältnismäßig junge Wissenschaft. Die Amerikaner Stanley Cohen und Herbert Boyer berichten 1973 über das erste Experiment mit rekombinierten Desoxyribonukleinsäuren (DNS). 3 0 6 Dieses Jahr gilt als die Geburtsstunde der Genforschung; durch sie wird ein mikrobiologisches Verfahren möglich, mit dessen Hilfe genetische Informationen eines Organismus in den Zellkern eines anderen Organismus verpflanzt und neue Formen des Lebens konstruiert werden können, die imstande sind, bestimmte Aufgaben zu übernehmen. Zu diesem Zweck wurden Bakterienstämme, vor allem von Escherichia coli, gezüchtet, um komplizierte, in der Medizin zu verwendende biologische Moleküle erzeugen zu können, die bislang nur unter erheblichem Aufwand zu gewinnen waren. Zu den ersten Erfolgen zählt die synthetische Herstellung von menschlichem Insulin, von Wachstumshormonen und Interferon. Hiermit waren die Voraussetzungen geschaffen, um die Struktur alles Lebenden, von Mikroorganismen über Pflanzen und Tiere bis hin zu Menschen zu verändern und neu zu gestalten; eine Entwicklung, die angesichts ihrer Bedeutung für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt einen Vergleich mit der oben beschriebenen synthetischen Chemie 307 und der Kernspaltung 308 erlaubt.

306

Die Nukleinsäuren bestehen aus langen Molekülen, die die Erbinformationen und gleichsam das Konstruktionsprogramm für die Organismen enthalten. Bei der DNARekombination wird ein Stück dieser Erbinformation ("Gen") herausgenommen und auf die DNA eines anderen Organismus übertragen. Voraussetzung für diesen Schritt war in den vorangegangenen Jahren die Bestimmung der Struktur der DNS durch Watson und Crick, die Entdeckung der spezifischen DNS-Schneide-Enzyme durch Arber, das Identifizieren des genetischen Codes durch Nirenberg, die Isolierung der DNS-Ligasen durch Geliert und die Arbeiten über die Polymerasen zur biochemischen Synthese von DNS durch Baltimore; vgl. hierzu ausführlich S. Krimsky, Genetic Alchemy. The Social History of the Recombinant DNA Controversy, 1983; J. Lear, Recombinant DNA. The Untold Story, 1973; J. D. Watson/J. Tooze, DNA Story, 1981. 307 Vgl. oben, S. 85 ff. So auch G. Hobom, Gentechnologie: Von der Analyse des Vererbungsvorgangs zur synthetischen Biologie, 1987, S. (15 ff.) 17, 19: "Wenn wir uns umschauen nach einem vergleichbaren revolutionären Umschwung in einer anderen Wissenschaft, so fällt der Blick vor allem auf die Entwicklung der Organischen Chemie vor 150 Jahren, die damals von der Beschreibung der chemischen Inhaltsstoffe von Organismen zu dem vorher undenkbaren zielgerichteten Synthetisieren dieser Stoffe gelangte. Jahrzehnte des Nachsynthetisierens von Naturstoffen wie z. B. von Indigo folgten, sie gingen allmählich über in frei gewählte Zielsetzungen für die Neusynthese

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b) Gesetzliche Grundlagen Das 1990 in Kraft getretene Gentechnikgesetz unterscheidet, in Anlehnung an die entsprechende Regelung im Atomgesetz, in § 1 GentG zwischen dem Zweck, "Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen sowie die sonstige Umwelt in ihrem Wirkungsgefiige und Sachgüter vor möglichen Gefahren gentechnischer Verfahren und Produkte zu schützen und dem Entstehen solcher Gefahren vorzubeugen" (§ 1 Nr. 1 GentG) und dem Zweck, den rechtlichen Rahmen für die "Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Gentechnik zu schaffen" (§ 1 Nr. 2 GentG). Das Gentechnikgesetz ist also, unter Beachtung des notwendigen Schutzes, der in den entsprechenden Genehmigungsvoraussetzungen zum Ausdruck kommt, auf die Ermöglichung gentechnischer Verfahren ausgerichtet. Der Regelungsbereich umfaßt deshalb die Errichtung und den Betrieb gentechnischer Anlagen, gentechnische Arbeiten, die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen und das Inverkehrbringen von Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen (§ 2 GentG). Das Gentechnikgesetz versucht so, den gesamten, für gentechnische Verfahren relevanten Regelungsbereich zu erfassen. In verwaltungsrechtlicher Hinsicht werden hierdurch sachnahe und auf eine Konzentrationswirkung hinzielende Voraussetzungen für die Genehmigimg gentechnischer Anlagen und Verfahren erreicht. 309 c) Gentechnische Forschung: Wissenschaft oder Wirtschaft? Gentechnische Forschung im Sinne einer wissenschaftlich-technischen Erkenntnisoperation läßt sich dem Gentechnikgesetz als abgrenzbare Handlungs-

chemischer Stoffe - nicht zuletzt um Arzneimittel nach vorkonzipierten Plänen zu gewinnen." 308 Vgl. oben S. 92 ff. In diesem Sinne auch der Biochemiker L. F. Cavalieri (Twin Perils: Nuclear Science and Genetic Engineering, in: Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 38 (1982), S. 72 ff.), wo er die "auffallende Ähnlichkeit zwischen Atomwissenschaft und Gentechnik" begründet; wie schon bei der Entdeckung der Atomkraft liege die "Illusion grenzenloser Macht" in der Luft: "What is more seductive than the power to design human beings?" Vgl. hierzu auch J. Radkau, Hiroshima und Asilomar. Die Inszenierung des Diskurses über die Gentechnik vor dem Hintergrund der KernenergieKontroverse, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S. 329 ff. 309 Daß dies sachgerecht ist, hat sich erst im Laufe der Beratungen des GenTG herausgestellt; so hat sich der Gesetzentwurf der Bundesregierung zunächst auf die Regelung gentechnischer Arbeiten beschränkt, ohne auch die Genehmigungsvoraussetzungen für die Errichtung und den Betrieb gentechnischer Anlagen im GenTG selbst zu regeln, vgl. BT-Drs. 11/5622; vgl. hierzu R. Lukes, Der Entwurf des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Gentechnik, DVB1. 1990, S. (273 ff.), 276. 8 Kleindiek

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

variante gentechnischer Arbeiten nicht ohne weiteres entnehmen. Das Gesetz unterscheidet in § 3 Nr. 5 und 6 GentG zwar zwischen gentechnischen Arbeiten zu "Forschungszwecken" und zu "gewerblichen Zwecken". 310 Diese Unterscheidung hat auch weitreichende Folgen, vor allem fiir die Anforderungen an die Genehmigung gentechnischer Anlagen und Versuche; so sieht das Gesetz für Forschungszwecke eine teilweise Freistellung von der Genehmigungs- oder Anmeldepflicht gentechnischer Anlagen bzw. Arbeiten, die Befreiung vom öffentlichen Anhörungsverfahren und eine Erleichterung des Verkehrs mit gentechnisch veränderten Organismen vor. 311 Das Gesetz enthält jedoch keine ausdrücklich benannten Kriterien, wonach entschieden werden könnte, wann 312

eine gentechnische Arbeit dem Bereich der Forschung zuzurechnen ist. Der Gesetzgeber hat für die Privilegierung von Forschungszwecken lediglich auf verfassungsrechtliche Gründe verwiesen, ohne hierauf näher einzugehen.313 d) Freisetzung gentechnisch veränderter

Organismen

Eines der Querschnittsthemen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu den Chancen und Risiken der Gentechnologie hat sich den Auswirkungen der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt gewidmet. Bei der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen handelt es sich um das Einbringen von Lebewesen oder vermehrungsfähigen Nukleinsäuren (Viren) in die Umwelt. Dies kann in tatsächlicher Hinsicht beabsichtigt geschehen oder die Folge ihres unbeabsichtigten Entweichens aus Laboratorien oder Produktionsstätten sein. 314 Als eine Freisetzung im Sinne einer wissenschaftlich-technischen Erkenntnisoperation ist jedoch nur das beabsichtigte Ausbringen zu verstehen.315 Seit der Freisetzung gentechnisch

310

§ 3 Nr. 5 und 6 GenTG lauten: "Im Sinne dieses Gesetzes sind (...) 5. gentechnische Arbeit zu Forschungszwecken eine Arbeit für Lehr-, Forschungs oder Entwicklungszwecke oder eine Arbeit für nichtindustrielle beziehungsweise nichtkommerzielle Zwecke in kleinem Maßstab, 6. gentechnische Arbeit zu gewerblichen Zwecken jede andere Arbeit als die in Nr. 5 beschriebene." 311 Vgl. §§ 8 Abs. 2, 9 Abs. 1, 18 Abs. 1, 14 Abs. 2 GenTG. Hinzu kommt, daß sowohl der Genehmigungsantrag als auch die Dokumentation der Forschungsarbeit selbst weniger Angaben enthalten muß, vgl. § 2 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 GenTAufzV. 312 T. Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Vergleich, 1992, S. 39. 3,3 BT-Drs. 11/6778, S. 22. 314 W.-M. Catenhusen/H. Neumeister (Hg.), Enquete-Kommission "Chancen und Risiken der Gentechnologie", 1990, S. 214. 315 Das GenTG definiert die Freisetzung in § 3 Nr. 7 deshalb auch als "das gezielte Ausbringen von gentechnisch veränderten Organismen". Die EG-Freisetzungsrichtlinie

VI. Paradigmen moderner Naturwissenschaften

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veränderter "Eis-minusf,-Pseudomonas-Bakterien durch ein Forschungsinstitut der Universität Berkeley und der amerikanischen Firma Advanced Genetic Sciences 1987 316 hat es weltweit rund 1200 Versuche gegeben;317 in Deutschland ist es bisher zu rund 50 Freilandversuchen gekommen.318

verwendet die Freisetzung als Oberbegriff für das absichtliche Ausbringen zu "experimentellen Zwecken" und "in Form von kommerziellen Produkten" (Richtlinie des Rates über die absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt v. 23.4.1990, EG-Abl. Nr. 2/117/15). Das GenTG differenziert zwischen der Freisetzung und dem Inverkehrbringen, das dann als "Abgabe von Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten" definiert wird (§ 3 Nr. 8 GenTG). Hieraus wird gefolgert, daß die Freisetzung gem. Nr. 7 auch zu "gewerblichen Zwecken" und damit nach der Definition des Gesetzes (s. hierzu oben, S. 113) nicht zu Forschungszwecken erfolgen kann, G. Hirsch/A. Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz, § 3, Rn. 44. Daß es sich auch bei dieser Auslegung um eine mißverstandene Interpretation der Abgrenzung zwischen Forschung und gewerblichen Zwecken im GenTG handelt, die letztlich auf einem inkonsistenten Verständnis der grundrechtlich garantierten Wissenschaftsfreiheiten beruht, wird im verfassungsrechtlichen Teil dieser Arbeit zu begründen sein. 316 Den Freisetzungen auf zwei Versuchsfeldern in Kalifornien ging ein zweijähriger Rechtsstreit zwischen dem National Institute of Health (NIH) und der amerikanischen Umweltschutzbehörde Environmental Protection Agency (EPA) um die Kompetenz für die Erteilung einer Genehmigung voraus; auch infolge dieser Auseinandersetzung ist nun das U.S. Department of Agriculture (USDA) die für die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen und die EPA für gentechnisch veränderte Bakterien zuständige Genehmigungsbehörde. Den Versuchen lag folgende Konstellation zugrunde: Die auf Blättern siedelnden Pseudomonas-Bakterien produzieren normalerweise ein Protein, das die Bildung von Eiskristallen bereits bei Temperaturen von -1° bis -5°C auslöst, während Wasser sonst als unterkühlte Flüssigkeit erst bei tieferen Temperaturen kristallisiert. Entstehende Eiskristalle führen bei frostempfindlichen Pflanzen (z.B. Erdbeeren oder Kartoffeln) zum Zelltod und stellen daher in bestimmten Klimaregionen ein beträchtliches Problem für die Landwirtschaft dar. Bei den "Eis-minus"-Pseudomonaden war nun durch genetische Methoden das für die Eiskristallbildung verantwortliche Gen entfernt worden. Durch die gezielte Ausbringung dieser "Eis-minus"-Bakterien ist es nun möglich, solche Frostschäden an Nutzpflanzen zu verhindern; allerdings befürchtet man von denfreigesetzten Mikroorganismen auch unerwünschte Auswirkungen auf die Umwelt - bis hin zu globalen Klimaveränderungen. Schilderung bei A. Dietz/J. Landsmann/F. Niepold/H. Backhaus (Gruppe Gentechnik und Sicherheit im Freiland bei der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, Institut für Biochemie), Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen: Fallbeispiele und gesetzliche Regelungen, in: Nachrichtenblatt des Deutschen Pflanzenschutzdienstes 41, 1989, S. 8 ff. 317 W.-M. Catenhusen, Das Kreuz mit der Gentechnik, Die Zeit v. 27.5.1994, S. 41. 318 Zu der Kontroverse vor diesen Versuchen H. Keßler, Kampf um die Wurzelbäume, Die Zeit v. 8.4.1994, S. 43; allerdings hat es 1987 im Rahmen des EG-Aktionsprogramms "Biotechnologie" einen Freiland-Test mit Rhizobien gegeben, die durch natürliche Bakterienkonjugation genetisch markiert waren und an der die Universität Bayreuth als einer von drei Freisetzungsorten beteiligt war. Diese Freisetzung unterscheidet sich jedoch grundlegend etwa von dem "Eis-Minus"-Experiment, weil es sich hier um natürliche, d. h. in vivo genmanipulierte Bakterien handelt, s. hierzu A. Dietz u.a., Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen, S. 11.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Einleitend wurde bereits darauf hingewiesen, daß die gentechnische Forschung Freilanderfahrungen in ihr Forschungsdesign einbeziehen muß, um die Stabilität der neu geschriebenen Organismen im beabsichtigten Wirkungsfeld zu erkunden. Die Freisetzung von Pflanzen, 319 deren genetische Eigenschaften in einer bestimmten Umgebung neu sind, beruht zwar auf einer langen Erfahrung, denn zum einen ist es ein Prinzip der Pflanzenzüchtung, neue Genkombinationen zu erstellen, zum anderen stammen eine Reihe von Nutzpflanzen etwa in Westeuropa und Nordamerika aus dem jeweils anderen Kontinent, sie müssen sich also einer neuen, unbekannten Umgebung anpassen.320 Gentechnische Veränderungen können im Vergleich zur klassischen Züchtung zudem mit einer größeren Präzision durchgeführt werden, das Hauptrisiko liegt jedoch in den Unsicherheiten bei der Beurteilung der neuen Gesamteigenschaften der gentechnisch erzeugten Organismen, denn die Einführung jedes neuen Gens bringt zusätzliche Wechselwirkungen im Gesamtmetabolismus des Organismus mit sich. 321 Welche konkreten Auswirkungen freigesetzte gentechnisch veränderte Organismen etwa im Hinblick auf Kreuzungsmöglichkeiten mit Nachbarkulturen oder Wildpopulationen haben, in welchem Ausmaß natürliche Evolutionsbarrieren überwunden werden können,322 kann nur unter den tatsächlichen Freilandbedingungen erprobt werden. Problematisch ist dies vor allem, weil einmal freigesetzte Mikroorganismen und Viren nicht mehr rückholbar sind. 323 Es ist unbestritten, daß Freilandversuche eine Störung des ökologischen Gleichgewichts hervorrufen können; ein als Sachverständiger der EnqueteKommission gehörter Biologe hat dies sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: "Man muß ganz klar sagen: Es müssen auch gefährliche Experimente gemacht

319

Von 64 Freisetzungsgenehmigungen, die das amerikanische Landwirtschaftsministerium bis April 1990 erteilt hatte, bezogen sich 40 auf genetisch modifizierte herbizidresistente Pflanzen, G. Winter, Entfesselungskunst, KJ 1991, S. 25. 320 Dies hebt auch die Enquete-Kommission, "Chancen und Risiken der Gentechnologie", 1990, S. 72, hervor. 321 A. Dietz u.a., Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen, 1989, S. 8; R. Kollek, Das Restrisiko der "ver-rückten" Gene, in: Genetischer Informationsdienst 7/8 1987, S. 9 ff. 322 G. Winter, Grundprobleme des Gentechnikrechts, Düsseldorf, 1993, S. 7: Die Rekombination von Erbmaterial verschiedener Sorten von Lebewesen bricht natürliche Schranken der Artentrennung und führt so zu einer neuen Qualität des Eingriffs der Menschen in die Natur. 323 A. Dietz, u.a., Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen, 1989, S. 9; R. Kollek, Das Restrisiko der "ver-rückten" Gene, in: Genetischer Informationsdienst 7/8 1987; Enquete-Kommission "Chancen und Risiken der Gentechnologie", 1990, S. 72.

VI. Paradigmen moderner Naturwissenschaften

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werden können."324 Nach über tausend Freisetzungen von gentechnisch veränderten Organismen spricht zwar vieles dafür, daß diese verantwortungsbewußt durchgeführt werden; gleichwohl - in der Logik dieser wissenschaftlich-technischen Erkenntnisoperation, die auf noch nicht zehn Jahre praktische Anwendimg zurückblickt, liegt es, daß gerade die nicht gewollten Folgen erst sehr viel später als die unmittelbar beabsichtigte Erkenntnis eintreten können.325 Zudem wird davon ausgegangen, daß das mit der Aussetzung gentechnisch manipulierter Organismen in eine natürliche Umwelt verbundene Risiko sehr gering, die Schadensausmaße im Falle seiner Realisierung aber sehr groß sind; insofern entspricht die Risikokonstellation derjenigen der Kernenergieforschung und weniger den Risiken durch chemische Substanzen, bei denen das Risiko linear mit dem Grad der Immission steigt.326 Ob es verantwortbar ist, die Risiken gentechnischer Forschung einzugehen, muß und kann hier nicht entschieden werden; für den Gesetzgeber ist, ähnlich wie bei der Kernenergie, das bestehende Restrisiko akzeptabel. Für die wissenschaftlich-technische Erkenntnis in der Risikogesellschaft ist die Gentechnik, das hat das Beispiel der Freisetzungsversuche gezeigt, jedoch eine weitere wesentliche Facette, die bei der nun folgenden Analyse der Strukturen wissenschaftlich-technischer Erkenntnis in der Risikogesellschaft zu berücksichtigen ist.

324

Zit. bei J. Radkau, Hiroshima und Asilomar. Die Inszenierung des Diskurses über die Gentechnik vor dem Hintergrund der Kemenergiekkontroverse, Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S. 357. 325 Zu der notwendigen, aber vom GenTG nicht berücksichtigten angemessenen Unterscheidung von Freisetzungen und gentechnischen Veränderungen in geschlossenen Systemen am Maßstab der Risikominimierung instruktiv G. Winter, Entfesselungskunst. Eine Kritik des Gentechnik-Gesetzes, KJ 1991, S. 22 ff. 326 G. Mahro, Rechtliche Regelung der Umwelt- und Gesundheitsrisiken in der Gentechnik, in: R. Mellinghoff/H.-H. Trute, Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S.261 ff., 291.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

VIL Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft Nicht Erkenntnis allein ist der Sinn moderner Wissenschaft, sondern die Einheit von Nützlichkeit und Erkenntnis. Auch die Analyse der Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft kann den Bezug zum Baconischen Ideal nicht außer acht lassen: Mit der Einheit von Nützlichkeit und Erkenntnis vergrößert sich auch in der Risikogesellschaft der Anwendungsbereich der Wissenschaft. Insofern ist die wissenschaftlich-technische Entwicklung als Kontinuum moderner Wissenschaft zu begreifen. Gleichwohl dürfen hierüber die Unterschiede zu der früh- und hochindustriellen Epoche nicht übersehen werden. Zilsels Untersuchung der sozialen Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft hat ergeben, daß die Baconische Idee des wissenschaftlichen Fortschritts auf die Bedürfhisse der frühkapitalistischen Ökonomie und Technik zurückzuführen ist. Der theoretische Überbau, den Bacon entwickelt hat, liegt darin, daß er den wissenschaftlichen Fortschritt zum Ideal des Fortschritts der Zivilisation erhebt. 327 Bacons Apologie der praktisch-nützlichen Wissenschaften war jedoch - dem wissenschaftlich-technischen Potential seiner Zeit gemäß - nur um den Preis des Verzichts auf diese Theorie möglich, da die noch sehr vereinzelte Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnis in praktische Erfolge nicht zur Gleichsetzung von Erkenntnis und Nutzen führen konnte, die 328

vorstellbaren Möglichkeiten des Fortschritts nicht realisierbar waren. Hierfür bedurfte es der engen Verbindung von Wissenschaft und Technik, die das gesellschaftliche Bedürfnis nach praktisch verwertbaren Erkenntnissen und den sich durchsetzenden Glauben an den Fortschritt zu der modernen Wissenschaft und einem modernen Wissenschaftsverständnis zusammenführten. 329 Tenbruck bezeichnet diese Entwicklung treffend, und durchaus in Abgrenzung zu einer idealistischen Überhöhung der Wissenschaft, als Trivialisie-

327 Zu dem soziologischen Ursprung des Baconischen Ideals vgl. die aufschlußreichen Ausführungen v. E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, 1976, S. 147 f. und ausführlich oben S. 34 ff. Die Bacon-Rezeption ist mittlerweile unüberschaubar; vgl. zu dem hier interessierenden Zusammenhang R. Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, 1986, S. 134 ff.; F. Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt, 1964, S. 45 ff. 328 F. H. Tenbruck, Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß, Opladen 1975, S. 27 u. hier insbes. Fn. 10; vgl. auch oben, S. 46 ff. 329 Vgl. hierzu oben, S. 52 ff.

VII. Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis

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rungsprozeß. 33° Mit dem Begriff der Trivialisierung soll zum Ausdruck gebracht werden, daß sich wissenschaftliche Erkenntnis in vielfältigen, heterogenen Handlungszusammenhängen entfaltet. In der Soziologie wird diese Ausdifferenzierung auch durch den Begriff der Institutionalisierung erfaßt, 331 den Trute zur Grundlage seiner verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Untersuchung gemacht hat. 332 Der Begriff der Institutionalisierung bezieht sich hierbei nicht auf die wissenschaftliche Erkenntnishandlung als solche, sondern auf ihre Ermöglichung. Die bisherigen Überlegungen, die das Problem der Institutionalisierung stärker unter dem Gesichtspunkt konkreter Organisationsformen berücksichtigt haben, bestätigen diese Analyse: Die Organisation von Wissenschaft folgt immer bestimmten ideen- und geistesgeschichtlichen Vorstellungen, die dem Verständnis von Wissenschaft zugrunde liegen. Sie verwirklichen sich, wenn bestimmbare Vorstellungen gesellschaftlich forciert werden und sich schließlich durchsetzen. Der Utilitarismus, die Verbindung von Wissenschaft und Technik oder der Wissenschaftsidealismus sind hierfür charakteristisch; die Darstellung zu den Akademien sollte diesen Prozeß an einem konkreten Beispiel veranschaulichen. Es ist auch deutlich geworden, daß sich diese Organisationsleistungen nicht gegenseitig ausschließen, sondern nebeneinander bestehen. Für die moderne Naturwissenschaft gilt dies in besonderem Maße. Anhand der anorganischen Chemie und der Kernenergieforschung wurden mit der Industrieforschung und der Großforschung eigenständige Forschungstypen hergeleitet, die - neben der universitären Wissenschaft mittlerweile in jedem innovativen Bereich naturwissenschaftlicher Forschung gleichermaßen nachweisbar sind. Mit der Intervention in die Wirklichkeit hat jedoch auch die wissenschaftliche Erkenntnishandlung als solche ihren esoterischen Charakter verloren. "Die moderne Naturwissenschaft erstand mit dem Entschluß, der Natur ihre Wahrheit durch aktives Eingreifen in sie abzuzwingen, also durch Intervention in den Gegenstand der Erkenntnis. Diese Intervention heißt 'Experiment', welches ein Lebenselement für alle moderne Naturwissenschaft geworden ist.

330

F. H. Tenbruck, Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß, 1975, S. 19 ff. 331 W. van den Daele, Die soziale Konstruktion der Wissenschaft. Institutionalisierung und Definition der positiven Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: G. Böhme/W. v.d. Daele/W. Krohn, Experimentelle Philosophie, 1977, S. 129 ff., S. 134 f. 332 H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, zur Begriffsbestimmung S. 178 f.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Beobachtung beinhaltet hier Manipulation."333 Angesichts dieser zutreffenden Charakterisierung moderner Wissenschaft bleibt zu fragen, worin sich die Wissenschaft unter den Bedingungen der Risikogesellschaft qualitativ von der Wissenschaft in der Industriegesellschaft unterscheidet, worin m. a. W. der Beitrag der Wissenschaft dazu liegt, daß die Modernisierung heute die Konturen der Industriegesellschaft auflöst und in der Kontinuität der Moderne eine andere gesellschaftliche Gestalt entsteht.334 Ulrich Beck kommt zu dem Ergebnis, daß sich in der Risikogesellschaft mit der Einheit von Nützlichkeit und Erkenntnis nicht nur der Anwendungsbereich der Wissenschaft vergrößert, sondern von ihr auch ganz neuartige Risiken ausgehen, so daß mit der Intervention der Wissenschaft in die Wirklichkeit ein Trivialisierungsprozeß einhergeht, 335 der die Wissenschaft in ganz neue Legitimationsprobleme drängt: "Nicht das Versagen, sondern der Erfolg der Wissenschaften hat die Wissenschaften entthront. Man kann sogar sagen: je erfolgreicher die Wissenschaften in diesem Jahrhundert agiert haben, desto schneller und gründlicher sind ihre Geltungsansprüche relativiert worden. In diesem Sinne durchläuft die wissenschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in ihrer Kontinuität eine Zäsur, und zwar nicht nur im Außenverhältnis, sondern auch im Innenverhältnis: in ihrem wissenschaftstheoretischen und gesellschaftlichen Selbstverständnis, in ihren methodologischen Grundlagen und in ihrem Anwendungsbezug".336 Zurückzufuhren ist diese Entwicklung auf ein verändertes Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und Wirklichkeit, das in der wissenschaftlichen Erkenntnishandlung als solche begründet ist. Der Topos von der Gesellschaft oder der Welt als Labor 337 hat sich hierfür in der Soziologie etabliert und auch Eingang in verfassungsrechtliche Überlegungen zur Wissenschaftsfreiheit ge338

funden; im folgenden soll, in hier vielleicht noch unangebrachter Anlehnung an die juristischen Kategorien, der Begriff der Umwelt als Labor zugrundege333 H. Jonas, Freiheit der Forschung und öffentliches Wohl, in: ders., Technik, Medizin und Ethik, 1985, S. (90) 98. Der Text ist im engl. Original 1976 erstmals veröffentlicht. 334 U. Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 14; vgl. auch oben, S. 15. 335 U. Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 254, bezeichnet dies als "Entzauberung" der Wissenschaft. 336 U. Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 266. 337 W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt (40), 1989, S. 349 ff.; U. Beck, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, 1988, S. 200 ff.; U. Beck, Die Welt als Labor, in: ders. (Hrsg.), Politik in der Risikogesellschaft, 1991, S. 154 ff. 338 H. Schulze-Fielitz, Handbuch des Verfassungsrechts, 1994, § 27, Freiheit der Wissenschaft, Rn. 15; H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 140 ff.

VII. Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis

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legt werden. Wissenschaftliches Handeln und dessen unmittelbar wirksamen Konsequenzen verlaufen hiernach zunehmend synchron, indem experimentelle Forschung bereits selbst eine Form des praktischen Umgangs mit der Umwelt 339

wird.

Die Kernenergie- und die Genforschung sind hierfür beispielhaft.

Hiermit geht ein weiteres wesentliches Strukturmerkmal wissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft einher: Wissen wird nicht mehr als gesetzmäßiges Wissen experimentell erprobt, sondern durch Erfahrung gewonnen. Berücksichtigt man zudem, daß etwa in der Kernenergie Erfahrungen im Großversuch unter realistischen Bedingungen gemacht werden müssen, dann wird deutlich, daß wissenschaftliches Wissen durch Erfahrung eine neue erkenntnistheoretische Bedeutung erhält, die sich dem überkommenen reflexiven Gehalt als Kennzeichen moderner Wissenschaft nicht ohne weiteres fügt. Hiermit sind zwei Topoi identifiziert, die zur Charakterisierung der Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft dienen können. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt ist gleichwohl nicht "bloß" gefahrlich, so daß es unangemessen wäre, auf die geschilderten Strukturen lediglich mit staatlicher Reglementierung und Restriktion im Sinne einer Gefahrenbeseitigung zu reagieren. Wissenschaft in den drei näher untersuchten Disziplinen ist vielmehr durch eine Ambivalenz von Chancen und Risiken gekennzeichnet, die an deren (staatliche) Fremdsteuerung und an die Selbststeuerung ganz neue Anforderungen stellt. 1. Die Umwelt als Labor Der Wissenschaft ist wie sonst keinem anderen gesellschaftlichen Subsystem das Begehen von Fehlern, das Unterlaufen von Irrtümern oder ein Mißerfolg als Ergebnis einer Erkenntnishandlung gestattet. Nicht nur dies: Die "prinzipielle Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnis" 340 verlangt als inhärente Eigenschaft das ständige Verwerfen, Überprüfen, Verifizieren und Falsifizieren von (immer nur vorläufigen) Ergebnissen. Die Naturwissenschaft bedient sich hierzu des Experiments; angenommene, möglicherweise durch vorherige Versuchsanordnungen schon relativ gefestigte Gesetzmäßigkeiten - Wenn-Dann-Beziehungen - werden hierdurch nachgewiesen.

339 A. v. Gleich, Der wissenschaftliche Umgang mit der Natur. Über die Vielfalt harter und sanfter Naturwissenschaften, 1989, S. 9. 340 So etwa BVerfGE 35, 79 (113); ähnlich auch E 47, 327 (367 f.).

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Die im Experiment angelegte Suche ist die Suche nach demjenigen Faktor, dessen Manipulation bewirkt, daß das gewünschte Resultat entsteht.341 Etwaigen Unsicherheiten, die in den näher untersuchten naturwissenschaftlichen Disziplinen zu Gefährdungen führen können, wurde traditionell entgegengetreten, indem gefährliche Experimente im Labor und im kleinen Maßstab durchgeführt werden, und erst nachdem Faktor, Manipulation und gewünschtes Resultat übereinstimmen, erfolgt die Umsetzung in der Wirklichkeit und schließlich die nützliche Anwendung. Wirklichkeit wird somit zunächst nachgebildet; die Versuchsanordnung ist Surrogat für die Natur, und simulierende Modelle vertreten die Natur in der Absonderung des Labors. 342 Streng genommen ist zwar auch die Simulation im Labor eine Intervention in die soziale Wirklichkeit, 343 der entscheidende Unterschied zwischen wissenschaftlichem Handeln in der Wirklichkeit - "im Maßstab 1:1" - und der Laborforschung besteht jedoch darin, daß es sich bei dieser um konsequenzentlastetes Probehandeln 344 handelt. Unter dieser Prämisse, die durchaus als eine umfassend geltende Sicherheitsphilosophie begriffen werden kann, hat sich das Verhältnis von Gesetz, Experiment und Fortschritt entwickelt und eine nützliche Anwendung der Erkenntnisse ermöglicht. Diese Maxime ist unter den Bedingungen der Risikogesellschaft entfallen, indem experimentelle Forschung bereits selbst eine Form des praktischen Umgangs mit der Umwelt geworden ist. 345 Daß der Zwischenschritt des konse-

341

Vgl. bereits oben, S. 40 ff. H. Jonas, Freiheit der Forschung und öffentliches Wohl, in: ders., Technik, Medizin und Ethik, 1985, S. 98; W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt (40), 1989, S. 353. Im Labor vollzieht sich gleichwohl mehr als nur simulierte Wirklichkeit im kleinen Maßstab. Die Macht des Labors ist vielmehr, wie es Knorr Cetina treffend formuliert hat, im "homing in" natürlicher Prozesse begründet. Laborwissenschaft muß nicht mit natürlichen Prozessen zurechtkommen, wie sie sind, wo und wann sie gerade stattfinden, sondern natürliche Objekte werden zunächst entfremdet, d. h. z.B. fragmentiert, extrahiert, gereinigt, abgebildet. Das Labor läßt sich somit als "gesteigerte" Umwelt begreifen, die die alltäglich erfahrbare Naturordnung in Relation zur Sozialordnung "verbessert". Zum Ganzen K. Knorr Cetina, Die Manufaktur der Natur oder: Die alterierten Naturen der Naturwissenschaft, 1994, S. 99 f. 343 K. Knorr Cetina, Die Manufaktur der Natur, S. 100. Immerhin besteht auch die Möglichkeit eines Laborunfalls. 344 W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt (40), 1989, S. 353. 345 A. v. Gleich, Der wissenschaftliche Umgang mit der Natur. Über die Vielfalt harter und sanfter Naturwissenschaften, 1989, S. 9. 342

VII. Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis

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quenzentlasteten Probehandelns entfallen ist, zeigt sich in den drei untersuchten Wissenschaftsdisziplinen auf eindringliche Weise. 346 Die toxikologische Bedeutung der bei jeder chemischen Synthese entstehenden Nebenprodukte und Abfallstoffe ist nicht absehbar und kann sich erst in der Reaktion mit der Wirklichkeit erweisen. Die Erprobung an realen Verhältnissen ist nicht Bestandteil des Forschungsdesigns und möglicherweise eine zu wenig beachtete Nebenfolge; da die nicht gewollten Effekte aber nicht Eigenschaften der Substanzen selbst, sondern emergente Eigenschaften ihrer Wechselwirkung mit komplexen Umgebungen sind, können sie nur unzulänglich im Labor aufgeklärt werden. 347 Die strukturelle Unzulänglichkeit der Forschung im Labormaßstab haben synthetische Chemie und Kernreaktorforschung gemeinsam. Zwar läßt sich die prinzipielle Funktionsweise von Kernreaktoren im Labormaßstab nachvollziehen, die komplexen Verhaltensweisen unter realistischen Bedingungen lassen sich jedoch nicht modellieren, sondern nur sukkzessive aus den im großen Maßstab gewonnenen Erfahrungen erfassen und einordnen. 348 Der fließende Übergang von Forschungs- über Versuchsreaktoren zu Prototypen und Industriereaktoren, in denen eine Unterscheidung des wissenschaftlichtechnischen Erkenntnisprozesses von der Umsetzung "fertiger" Erkenntnisse nicht möglich ist, illustriert diese Umkehrung. 349 Auch Reaktorsicherheitstheorien sind deshalb nicht vor, sondern erst nach dem Bau von Kernkraftwerken überprüfbar; experimentelle Großtechnik läßt sich nur im Stadium ihrer praktischen Wirkung erforschen und kontrollieren. Der Ausweg, Teilsysteme zu überprüfen, verstärkt die Kontingenzen ihres Zusammenwirkens und erzeugt damit Fehrlerquellen, die ihrerseits nicht experimentell kontrolliert werden können.350 Hierin wird die Umkehrung wissenschaftlich-technischer Erkennt346 U. Beck, Gegengifte, 1988, S. 201: "Das Dilemma, in das die Großgefahren die wissenschaftliche Logik gestürzt haben, gilt durchgängig, also für atomare, chemische und genetische Experimente". 347 Vgl. W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt (40), 1989, S. 363 ff. am Beispiel von DDT und Dioxin. 348 Hierzu B. Wynne, Unruly Technology: Practical Rules, Impractical Discourses and Public Understanding, Social Studies of Science 18 (1988), S. 153, wonach die Kluft zwischen Labormaßstab und Realität zu einer neuen "Prototyp-Technologie" führt. 349 Vgl. hierzu oben, S. 97 ff. 350 U. Beck, Gegengifte, 1988, S. 201; U. Beck, Die Welt als Labor, in: ders. (Hrsg.), Politik in der Risikogesellschaft, 1991, S. 158; A. M. Weinberg, Science and TransScience, Minerva 10 (1972), S. 211, hat daraufhingewiesen, daß Unsicherheit in diesem Bereich nur beseitigt werden kann, "wenn man bereit ist, einen Prototyp in voller Größe zu bauen und ihn exakt unter den Bedingungen zu testen, die für die spätere Praxis

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

nisprozesse deutlich: Es ist keine Überprüfung im Labormaßstab und mit der anschließenden Anwendung im großen Maßstab möglich, sondern die Herstellung muß vor der Forschung erfolgen. 351 Von der Wissensphase konsequenzentlasteten Probehandelns haben sich die gentechnischen Freisetzungsversuche schließlich vollständig gelöst. Die konkreten Folgen der gentechnischen Manipulation etwa einer Pflanze lassen sich nicht einschätzen, wenn man es nicht ausprobiert hat; die Simulation von Wirklichkeit im Labormaßstab kann in diesem Fall von vornherein keinen adäquaten Erkenntnisgewinn erbringen. 352 Die möglichen Konsequenzen sind vor dem Experiment nicht bekannt, ob sie sich nachher verwirklicht haben, ist deshalb nur durch den Versuch an der Wirklichkeit festzustellen; zum Forschungsdesign gehört diese unvermittelte Konfrontation mit der Umwelt. Demnach sind aber auch die Risiken nicht mehr von der Umwelt fernzuhalten. Die "prinzipielle Unabgeschlossenheit wissenschaftlicher Erkenntnis" bekommt in diesem Kontext eine ganz neue Bedeutung; das Verwerfen, Überprüfen, Verifizieren und Falsifizieren von (immer nur vorläufigen) Ergebnissen, das in der Naturwissenschaft als experimenteller Erkenntnisprozeß anerkannt ist, muß von der Umwelt alsfremde Logik übernommen werden. Die Risiken der Forschung werden so zu Risiken der Umwelt. 353 Das "Refugium des folgenentlasteten Probehandelns"354 ist dem Teil der Forschung, der die Risikogesellschaft aus der Sicht der Naturwissenschaft charakterisiert, aus strukturellen Gründen versperrt. Die klassische Rangordnung zwischen Theorie und Erfahrung hat keine Gültigkeit mehr, denn die theoretische Aussage liegt genau darin, daß nicht vorhersehbar ist, was eintreten wird; das experimentelle Interesse wird so theoretisch auf die Entdeckung von Überraschungen gerichtet; 355 m.a.W. ist der Erkenntnisprozeß - gemessen an dem überkommenen Verhältnis von Experiment und Gesetz - theorielos. Unwissenheit über die wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten des Fortschritts waren in dem Baconischen Weltbild der Grund fiir Theorielosigkeit. In der Risikogesellschaft ist die Unwissenheit über die Folgen der wissenschaftlich-

gelten." Übers, b. W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt (40), 1989, S. 351, Fn. 9. 351 U. Beck, Gegengifte, 1988, S. 201. 352 Vgl. hierzu auch oben, S. 114 ff. 353 In diesem Sinne auch W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt (40), 1989, S. 352: "Die Risiken der Forschung werden zu Risiken der Gesellschaft." 354 W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt (40), 1989, S. 369. 355 W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt (40), 1989, S. 366 f.

VII. Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis

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technischen Möglichkeiten der Grund dafür, daß ein adäquates erkenntnistheoretisches Konzept nicht besteht. 2. Wissenschaftliches Wissen zwischen Gesetzmäßigkeit und Erfahrung Im 19. Jahrhundert konnte Technik noch als angewandte Wissenschaft gelten; in der technologischen Literatur wurde deshalb häufig die "Wissenschaft" der "Empirie" gegenübergestellt.356 Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesse in der Risikogesellschaft verwischen die Grenze zwischen beiden zunehmend, indem mit der Technisierung der Wissenschaft der Erfahrung eine neue Bedeutung zukommt.357 Theorien über das Funktionieren und die Sicherheit von Atomkraftwerken beispielsweise sind erst nach deren Bau überprüfbar, d. h. sie bedürfen experimenteller Erfahrungen, die erst im Stadium ihrer praktischen Anwendung gemacht werden können. Erkenntnisgewinnimg und Anwendung fallen so zusammen;358 gesetzmäßig gesichertes Wissen, das sich als wesentlicher Bestandteil wissenschaftlicher Erkenntnis etabliert hat, scheint seine überkommene Bedeutung verloren zu haben. Das Zusammenfallen von Anwendung und Erkenntnis ist dann problematisch, wenn Kenntnisse über die gesetzmäßigen Funktionen, die einer bestimmten Anwendung zugrundeliegen, erst durch die Anwendung selbst erworben werden können. Die Genehmigungsvoraussetzungen für eine atomare Anlage können dies beispielhaft verdeutlichen. Gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG darf die Genehmigung nur erteilt werden, wenn "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist". Angesichts der bisherigen Ausführungen offenbart sich hiermit ein Dilemma: Indem die für die Errichtung und den Betrieb einer atomaren Anlage erforderliche Sicherheit am Stand von Wissenschaft und Technik gemessen werden soll, der Stand von Wissenschaft und Technik aber erst durch den Betrieb der Anlage verläßlich erforscht werden kann, stellt sich die Frage, anhand welcher Maßstäben über die erforderliche Genehmigung zu entscheiden ist.

356

J. Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1989; S. 40 ff. 357 J. Radkau, Kerntechnik: Grenzen von Theorie und Erfahrung, Spektrum der Wissenschaft 12/1984, S. 74 ff. 358 Hierzu A. M. Weinberg, Science and Trans-Science, Minerva 10 (1972), S. 209 ff.; W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt (40), 1989, S. 354 ff.;

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

Vor diesem Problem stand auch das Bundesverfassungsgericht bei seinem Beschluß über die Verfassungsmäßigkeit von § 7 AtomG. 359 Das Bundesverfassungsgericht legt im Kalkar-Beschluß ein dynamisches Verständnis von Wissenschaft und Technik zugrunde und ist der Auffassung, daß deshalb die Exekutive die Aufgabe, den Stand von Wissenschaft und Technik zu ermitteln, sachgerechter erfüllen kann: "Insbesondere mit der Anknüpfung an den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik legt das Gesetz damit die Exekutive normativ auf den Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge fest. (...) Nur eine laufende Anpassung der für eine Risikobeurteilung maßgeblichen Umstände an den jeweils neuesten Erkenntnisstand vermag hier dem Grundsatz einer bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge zu „360

genügen. Nur ein dynamisches Verständnis von Wissenschaft und Technik ist demnach in der Lage, den Anpassungsdruck zu verarbeiten, den ein permanentes Anwachsen von Erfahrung hervorruft. Es folgen dann etwas später die entscheidenden Ausführungen zur konkreten Ermittlung des Standes von Wissenschaft und Technik aus erkenntnistheoretischer Sicht: "Will der Gesetzgeber die Möglichkeit künftiger Schäden durch die Errichtung oder den Betrieb einer Anlage oder durch ein technisches Verfahren abschätzen, ist er weitgehend auf Schlüsse aus der Beobachtung vergangener tatsächlicher Geschehnisse auf die relative Häufigkeit des Eintritts und den gleichartigen Verlauf gleichartiger Geschehnisse in der Zukunft angewiesen; fehlt eine hinreichende Erfahrungsgrundlage hierfür, muß er sich auf Schlüsse aus simulierten Verläufen beschränken. Erfahrungswissen dieser Art, selbst wenn es sich zur Form des naturwissenschaftlichen Gesetzes verdichtet hat, ist, solange menschliche Erfahrung nicht abgeschlossen ist, immer nur Annäherungswissen, das nicht volle Gewißheit vermittelt, sondern durch jede neue Erfahrung korrigierbar ist und sich insofern immer nur auf dem neuesten Stand unwiderlegten möglichen J. Radkau, Kerntechnik: Grenzen von Theorie und Erfahrung, Spektrum der Wissenschaft 12/1984, S. 74 ff. Unkritisch E. Hicken, Reaktorsicherheit, 1986, S. 860 ff. 359 Zur Sachverhaltsschilderung im einzelnen vgl. BVerfGE 49, 89 (92 ff.). Der Entscheidung liegt eine Vorlage des OVG Münster zugrunde; hiernach verstoße § 7 AtomG gegen das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), gegen das Prinzip der parlamentarischen Demokratie (Art. 20 Abs. 1 u.2 GG) und gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), weil § 7 AtomG auch die Genehmigung von Schnellen Brutreaktoren ermögliche, ohne daß der Gesetzgeber hierfür eine ausreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage geschaffen habe. Eine präzise Ermächtigung, durch die der Gesetzgeber die Verantwortung für die weitere Entwicklung auf dem Gebiet der zivilen Nutzung der Kernenergie wahrnehme und nicht auf die Exekutive verlagere, sei schon deshalb erforderlich, weil angesichts der Gefahren auch grundrechtlich geschützte Rechtsgüter betroffen seien. 360 BVerfGE 49, 89 (138 f.).

VII. Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis

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Irrtums befindet." 361 In der sich unmittelbar anschließenden Passage ändert sich die Argumentationsperspektive dann ziemlich unvermittelt: "Vom Gesetzgeber im Hinblick aufseine Schutzpflicht eine Regelung zu fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, die aus der Zulassung technischer Anlagen und ihrem Betrieb möglicherweise entstehen können, hieße die Grenze menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen und würde weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen. Für die Gestaltung der Sozialordnung muß es insoweit bei Abschätzungen anhand praktischer Vernunft bleiben."362 Ein Bruch in der Argumentation ist hierin gleichwohl nicht zu sehen; vielmehr werden Entscheidungsmaßstäbe für die atomrechtliche Genehmigung herausgearbeitet, die den Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis entsprechen: Wissenschaftliche Erkenntnis und ihre Verwertung werden zutreffend als ein Entscheidungsmaß stab zusammengefaßt. Die "prinzipielle Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnis" 363 wird mit der ebenfalls prinzipiellen Unabgeschlossenheit des "fertigen" Produkts begründet; es geht nicht mehr um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um die Sicherheitsanforderungen an "fertige" technische Anlagen, für die keine absolute Sicherheit verlangt werden könne. Etwas verschleiert wird dieser Perspektivenwechsel durch die Verwendung der Formulierung "menschlichem Erkenntnisvermögen", obwohl es "wissenschaftliches Erkenntnisvermögen" heißen müßte, weil § 7 AtomG die Genehmigungsanforderungen an den "Stand von Wissenschaft und Technik" und nicht an allgemeines menschliches Erkenntnisvermögen knüpft. 364 Sodann werden, im Sinne wissenschaftlichen Erkenntnisvermögens, die Anforderungen an den Stand von Wissenschaft und Technik konkretisiert: "Was die Schäden an Leben, Gesundheit und Sachgütern anbetrifft, so hat der Gesetzgeber durch die in § 1 Nr. 2 und in § 7 Abs. 2 AtomG niedergelegten Grundsätze der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge einen Maßstab aufgerichtet, der Genehmigungen nur dann zuläßt, wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint, daß solche Schadensereignisse eintreten werden. Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursache in den Grenzen mensch-

361

BVerfGE 49, 89 (142 f.). BVerfGE 49, 89 (143). 363 So etwa BVerfGE 35, 79 (113); ähnlich auch E 47, 327 (367 f.). 364 In diesem Sinne auch D. Lohse, Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht am Beispiel der Gefahrenabwehr im Immissionsschutzund Atomrecht, 1994, S. 102 ff., 110 ff. 362

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

liehen Erkenntnisvermögens; sie sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen." 365 Begrenzt ist nicht das menschliche, sondern das wissenschaftliche Erkenntnisvermögen; "unentrinnbar" sind die Ungewißheiten insofern, als die Wissenschaft ihr begrenztes Erkenntnisvermögen durch Experimente an der Umwelt anwendet und erweitert. Es kann und muß im Rahmen dieser Untersuchung nicht entschieden werden, ob der verfassungsrechtlichen Beurteilung durch das Bundesverfassungsgericht zuzustimmen ist; entscheidend war vielmehr, an diesem Beispiel die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis zu illustrieren: Das Bundesverfassungsgericht hat in seltener Eindeutigkeit herausgearbeitet, daß im Bereich der Kernreaktorforschung die Erfahrung an die Stelle des naturwissenschaftlichen Gesetzes getreten ist: "Erfahrungswissen dieser Art, selbst wenn es sich zur Form des naturwissenschaftlichen Gesetzes verdichtet hat, (...)." 366 Für die Genforschung und für die synthetische Chemie ließen sich entsprechende Ergebnisse begründen. Die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis haben sich jedoch nicht nur im Hinblick auf erkenntnistheoretische Fragestellungen verändert. Die Intervention in die Wirklichkeit hat vielmehr auch dazu gefuhrt, daß in dem Maße, in dem sich die Gefahren durch Wissenschaft als Gefahren für die Gesellschaft auswirken, diese auch zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung geworden sind. Der Verlust des esoterischen Charakters der Wissenschaft hat diese auch aus ihrem Arkanum der Eindeutigkeit und des Anspruchs auf Autorität kraft Sachverstandes gelöst. "Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau' alle Wirkungskraft und Samen Und tu' nicht mehr in Worten kramen." 367 Obwohl Goethe durch Faust die Wissenschaft - im Kontext seiner Epoche - weitsichtig beschreibt, ist sie als Charakterisierung in der Risikogesellschaft überholt. 368 Moderner Wissenschaft liegt - seit dem Durchbruch der Quantenphysik - ein anderes Paradigma zugrunde. Im Mittelpunkt steht nicht mehr ein Erkenntnisinteresse, das "im immer Kleinsten" von der unendlich sezierbaren Materie ausgeht und nach dem sucht, was - als unverrückbare Konstante und feststehende Gegebenheit - die Welt im Innersten zusammenhält: Die Wahrheit. In den modernen Naturwissenschaften wird die Wahrheit als permanente Gestaltbarkeit von Materie von der Wissenschaft selbst erstellt. Entscheidend ist damit 365

BVerfGE 49, 89 (143.), Hervorh. im Orig. BVerfGE 49, 89(143). 367 J. W. Goethe, Faust, Der Tragödie erster Teil, S. 34. 368 Der faustische Geist der Naturwissenschaften ließ sich noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts beschwören, etwa W. Sombart, Der moderne Kapitalismus (1927), 1987, S. 78, 79, 85. 366

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nicht mehr die Vorstellung, man könne das, was "das Innerste" ist, "finden" oder die Suche danach sei der Erkenntnisfortschritt, sondern entscheidend ist die eigene naturwissenschaftliche Macht zur stetigen Veränderbarkeit der Wirklichkeit. In seinem Hochschulurteil von 1973 hat sich das Bundesverfassungsgericht für die Bestimmung des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG demgegenüber vor allem auf das Wissenschaftsverständnis Wilhelm v. Humboldts und Rudolf Smends gestützt: "Damit sich Forschimg und Lehre ungehindert an dem Bemühen um Wahrheit als 'etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes (Wilhelm von Humboldt) ausrichten können, ist die Wissenschaft zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt worden. Damit ist zugleich gesagt, daß Art. 5 Abs. 3 GG nicht eine bestimmte Auffassung von der Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie schützen will. Seine Freiheitsgarantie erstreckt sich vielmehr auf jede wissenschaftliche Tätigkeit, d. h. auf alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist. Dies folgt aus der prinzipiellen Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis." 369 Aus wissenschaftssoziologischer Perspektive ist festzustellen, daß die modernen, angewandten Naturwissenschaften nicht nach der Wahrheit suchen, sondern Wahrheit machen. Hans-Peter Dürrs Feststellung eines Wandels von der Wissenschaft, zur Machenschaft verdeutlicht diese Entwicklung deshalb sehr plastisch.370 Damit hat sich auch der Erkenntnisprozeß radikal umgekehrt. Es geht nicht mehr um das Auffinden von wissenschaftlicher Wahrheit durch das systematische Ausschalten wissenschaftlicher Unwahrheit, sondern um die Verwirklichimg von Gestaltungsmöglichkeiten. Dies ist für das Verständnis von Wissenschaft entscheidend und muß sich auch auf den verfassungsrechtlichen Umgang mit ihr auswirken. 3. Die Ambivalenz von Chancen und Risiken durch wissenschaftlichen Fortschritt Wissenschaft, ihre Funktion und ihre Reputation wird zunehmend Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Der Grund hierfür liegt in der mittlerweile janusköpfigen Gestalt vor allem der Naturwissenschaften: Einerseits ist der wissenschaftlich-technische Fortschritt aufgrund der mit ihm einhergehenden Gefahren zunehmender Skepsis und Ablehnung ausgesetzt,

369 370

BVerfGE 35, 79(113). H.-P. Dürr, Das Netz des Physikers, 1988, S. 10 f.

9 Kleindiek

130

1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

andererseits steigt der Erwartungsdruck an die Wissenschaften, Fortschritte zu erzielen, um Zivilisationsgefahren wirksam bekämpfen zu können. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt war ein entscheidendes Movens der Industriegesellschaft. Auch wenn die Entwicklungen auf dem Gebiet der Chemie und der Kernenergie eine vergleichbare Affinität mit den Möglichkeiten militärischer Nutzung aufweist, so war der wissenschaftlich induzierte Fortschritt - jedenfalls über einen verhältnismäßig langen Zeitraum - durch die ungebrochene Überzeugung motiviert, die Lebensbedingungen der Menschen entscheidend zu verbessern. Auch die Gefahren industrieller Entwicklung sind sicherlich so alt wie diese selbst und deren Wahrnehmung ist nicht erst das Resultat retrospektiver Analysen; vielmehr begleitet die Ambivalenz von Chancen und Risiken durchweg das Entstehen und die Entwicklung moderner Wissenschaft. Bereits für Roger Bacon, der das systematische Experiment und das Quantisieren als prinzipielle Möglichkeiten in die Naturwissenschaft einführte, war die Ambivalenz der wissenschaftlichen Erforschung technischer Möglichkeiten jedenfalls im militärischen Bereich offenkundig, und zwar schon deswegen, 371

weil die gewonnenen Erkenntnisse dem Gegner in die Hände fallen konnten. Der schon in der Epoche der Vorformen moderner Wissenschaft deutlich werdende Zwiespalt zwischen "Heil und Unheil" 372 setzt sich auch mit dem Beginn der modernen Naturwissenschaften fort. Auch Francis Bacon, der philosophische Begründer der modernen Naturwissenschaft, 373 war sich dieser Ambivalenz bewußt, sonst würde er in seiner Nova Atlantis (1627) nicht Vorkehrungen treffen, die das Bekanntwerden bestimmter Erfindungen - auch dem Staat gegenüber - verhindern sollen.374 Auch in der mit der Chemie beginnenden Epoche der Wissenschaft in der Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine solche Ambivalenz zu entdecken. Briefwechsel und andere literarische Zeugnisse belegen auf beeindruckende Weise, daß die theoretischen und in seiner Zeit undurchführbaren Überlegungen des Begründers der "neuen Chemie", Berthelot, zu den Möglichkeiten der Energiege371 R. Bacon, Opus Majus I, S. 220, hrg. v. J. J. Bridges, 1897. Ders., Opus Tertium, S. 95 f., hrsg. v. J. S. Brewer, 1859. 372 R. Bacon, Opus Tertium, S. 95 f. 373 Vgl. hierzu oben, S. 46 ff. 374 F. Bacon, Neu-Atlantis, 1964, S. 214: "Auch ist es bei uns üblich, genau zu erwägen, was von unseren Erfindungen und Untersuchungsergebnissen zu veröffentlichen angebracht ist, was dagegen nicht. Ja, wir verpflichten uns sogar alle durch einen Eid, das geheimzuhalten, was wir geheimzuhalten beschlossen haben. Wenn wir auch einiges davon mit allgemeiner Zustimmung zuweilen dem König oder dem Senat enthüllen, so halten wir anderes doch völlig in unserer Gemeinschaft."

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winnung aus Atomen von der Überzeugung begleitet waren, daß sich mit ihrer Realisierung die Menschheit selbst gefährden würde. 375 Bereits mit der Entdeckung der Umwandlungsfähigkeit von Atomen durch deren Zerfall als Ursache radioaktiver Strahlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und damit lange vor den konkreten Bedrohungen durch die zivile und militärische Nutzung der Kernenergie in der Gegenwart waren diese Gefahren mehr als nur eine utopische Vorstellung. Ernest Rutherford, einem der führenden Atomwissenschaftler dieser Epoche, war es bewußt, daß, "wenn ein geeigneter Zünder zu finden wäre, es denkbar sei, daß durch die Materie eine Welle von atomarem Zerfall aufspränge, die in der Tat diese alte Erde in Asche verwandeln könnte", und er sah dann die Möglichkeit, daß "irgendein Gimpel in einem Laboratorium unversehens die ganze Welt in die Luft sprengen könnte".376 Pierre Curie, der zusammen mit Marie Curie und Henri Becquerel den Nobelpreis für Physik des Jahres 1903 für die Entdeckung des Radiums erhielt, stellte am Ende seiner Nobelpreisrede die Frage, ob, angesichts der Möglichkeit, daß das Radium in verbrecherischen Händen sehr gefährlich zu werden vermag, "die Menschheit Gewinn davon trägt, die Geheimnisse der Natur zu erkennen und ob sie reif dazu ist, sie nutzbar zu machen, oder ob diese Erkenntnis ihr schädlich ist." 377 Die hier zum Ausdruck kommende Sorge um die negativen Folgen des eigenen wissenschaftlich-technischen Erkenntnisfortschritts findet sich auch in der Folgezeit vor allem bei Atomphysikern, was angesichts der Entwicklung in diesem Bereich kaum überraschen kann. War es jedoch bei Rutherford und Curie vor allem die Angst vor einem Mißbrauch der neuen Erkenntnisse in verbrecherischer oder unwissender Absicht, so beginnen sich die Warnungen Frederic Joliot-Curies, 1935 zusammen mit Irene Joliot-Curie Chemie-Nobelpreisträger für die Möglichkeit der künstlichen Herstellung radioaktiver Substanzen, an den Erkenntnisfortschritt selbst zu richten. Eine Wissenschaft, die Elemente nach Willkür aufbauen oder zerschlagen könne, so Joliot-Curie, 375 Das Journal der Gebrüder Goncourt spiegelt das Umfeld Berthelots im Paris der 60er Jahre in anschaulicher Weise wider; vgl. E. u. J. de Goncourt, Journal. Memoires de la Vie Littéraire Vili (1867-70), S. 192 f., hrg. v. R. Ricatte, 1956. Aufschlußreich ist auch "Die Zukunft der Wissenschaft" von Ernest Renan. Renan, selbst kein Naturwissenschaftler, aber ein enger Freund Berthelots, hat die grenzüberschreitende Ambivalenz der Wissenschaftsutopien seiner Zeit besonders prägnant beschrieben; E. Renan, L'Avenir de la Science (ersch. 1890): Über den wissenschaftlichen Fortschritt resümiert er, daß zwar "die unermüdliche Arbeit die Kenntnis der Tatsachen einzigartig vermehrte, daß aber das Schicksal der Menschheit dunkler als jemals wurde" und daß diese Menschheit durch ihre Wissenschaft "keinen brauchbaren Katechismus" erhielt, in: H. Psichari, E. Renan. Oeuvres Completes, Bd. III, 1949, S. 722. Zu Renan ausführlich F. Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt, 1964, S. 71 ff.; vgl. nun auch S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens, 1992, S. 167 ff. 376 Zitiert nach F. Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt, 1964, S. 118. 377 P. Curie, Les Prix Nobel en 1903, zit. b. F. Wagner, Die Wissenschaft und die gefährdete Welt, S. 121.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

werde bald in der Lage sein, durch Kettenreaktionen auch Kernumwandlungen von explosivem Charakter herbeizufuhren, die möglicherweise die Erde vernichten würden: "Sollten sich solche Kernumwandlungen in der Materie fortpflanzen, so kann man die Freisetzung der ungeheuren nutzbaren Energie ermessen, die dann stattfinden wird. Wenn die Fortpflanzung solcher Umwandlungen fiir alle Elemente unseres Planeten gilt, dann müssen wir freilich mit tiefster Sorge die Konsequenzen der Auslösung einer solchen Elementarkatastrophe voraussehen." Da er davon ausgeht, daß der Versuch gemacht werden wird, diesen Prozeß zu verwirklichen, hofft er, daß sich die Wissenschaftler zumindest "die nötige Vorsicht auferlegen." 378 Der für den Bau der Atombombe erforderliche Kernreaktor größeren Ausmaßes offenbarte dann das "Strahlenproblem", zu dem E. O. Lawrence, Direktor des Strahlenlaboratoriums der Universität Berkeley, feststellte, daß "aus diesem Grund der Kernreaktor das größte Problem fiir den Schutz des menschlichen Lebens ist, dem die Menschheit jemals begegnete."379 Mit der Verwirklichung zunächst im Bereich der militärischen Nutzung verstärkt sich auch der Konflikt, der in der Ambivalenz von Chance und Risiko begründet ist. Repräsentativ hierfür ist die Person Robert Oppenheimers. Oppenheimers Haltung wird vor allem für die Zeit nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki kontrovers beurteilt, seine grundlegenden Überzeugungen als Wissenschaftler haben sich jedoch nicht gewandelt. Möglich war dies, weil er trotz der Erkenntnis, daß Kernforscher durch den Bau von Atomwaffen "eine Erfahrung der Sünde machen, die sie nie wieder verlassen kann" 380 und der Atomwaffenbau eines Tages als widersinnig erscheine und "wir auf sie beschämt darüber zurückblicken werden, wie töricht wir waren," 381 die Freiheit der Forschung immer unbedingt verstanden hat, so daß eine Einschränkung weder aufgrund der Gefährlichkeit des Forschungsvorhabens noch aufgrund der möglichen Folgen zulässig ist. Der Wissenschaftler sei nur seiner Wissenschaft verantwortlich, eine Kollektivverantwortung gebe es nicht, da kein Wissenschaftler die Folgen, die seine Forschung für die Menschheit habe, voraussehen könne, "außer der, daß sie weiteres Wissen erzeugt". 382

378 379

1946.

F. Joliot-Curie, Les Prix Nobel en 1935, zit. b. F. Wagner, a.a.O., S. 136. Zitiert von R. S. Stone, Health Protection Activities of the Plutonium Project,

380

S. 87 f. 381

R. Oppenheimer, Physics in the Contemporary World, in: The Open Mind, 1955,

R. Oppenheimer, A Talk in Chicago, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 1963, VIII, S. 5. 382 R. Oppenheimer, The Encouragement of Science, in: The Open Mind, 1955, S. 90 ff.

VII. Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis

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Die Ambivalenz von Chancen und Risiken ist nicht erst ein Phänomen der Risikogesellschaft, sondern Begleiterscheinung nahezu jeden Erkenntnisfortschritts. Zu diesem Ergebnis gelangt man nicht nur aufgrund einer retrospektiven Aneinanderreihung und Bewertung einzelner Entwicklungen, sondern der jeweilige Erkenntnisfortschritt wurde bereits in seiner Zeit kontrovers beurteilt. Dennoch gibt es zentrale Unterschiede, die es nicht zulassen, wissenschaftliche Erkenntnis in der Risikogesellschaft in die Historizität der Ambivalenz wissenschaftlicher Erkenntnis einzureihen. Eine Analyse der Unterschiede zur Industriegesellschaft muß davon ausgehen, daß die Verwirklichung von Gefahren oder zumindest deren Möglichkeit, nunmehr offenkundig und unbestreitbar geworden ist. Umstritten geblieben sind lediglich die Wahrscheinlichkeiten ihrer Verwirklichung und die Abwägung zwischen den negativen Folgen und ihrem Nutzen. Insofern tritt die Risikogesellschaft das Erbe der Industriegesellschaft an: "Es geht also nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich um die Nutzbarmachung der Natur, um die Herauslösung des Menschen aus traditionalen Zwängen, sondern es geht auch und wesentlich um Folgeprobleme der technisch-ökonomischen Entwicklung selbst. Der Modernisierungsprozeß wird 'reflexiv', sich selbst zum Thema und Problem." 383 In diesem Prozeß der reflexiven Modernisierung 384 kommt der Wissenschaft eine entscheidende Bedeutung zu. Zum einen ist dies darauf zurückzuführen, daß sich die Wissenschaft in dem Maße, in dem sich die eben beispielhaft geschilderten, aber auch alle weiteren negativen Verheißungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts verwirklicht haben, als 385

Produzentin von Gefahren herausgestellt hat. Zum anderen sind die typischen Gefährdungen der Risikogesellschaft nicht mehr durch Primärerfahrungen spürbar, sondern können erst mit Hilfe verwissenschaftlichten Wissens bewußt werden. 386 Hieraus folgt, daß Wissenschaft nicht nur an der Verur-

383

U. Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 26, Hervorh. i. Orig. U. Beck, Risikogesellschaft, S. 254 ff. Umfassend hierzu nunmehr ders., Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie der reflexiven Modernisierung, 1993; zu Begriff und Theorie S. 57 ff., 67. Reflexive Modernisierung bedeutet hiemach eine Veränderung der Industriegesellschaft, die sich im Zuge normaler, verselbständigter Modernisierungen ungeplant und schleichend, also nicht reflektierend vollzieht. 385 U. Beck, Risikogesellschaft, S. 29 ff.; ders., Gegengifte, S. 117 ff.; A. Evers/H. Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 22 ff., 191 ff. 386 U. Beck, Risikogesellschaft, S. 265: "Ins Zentrum rücken mehr und mehr Gefährdungen, die für den Laien oft weder sichtbar noch spürbar sind, Gefährdungen, die unter Umständen gar nicht mehr in der Lebensspanne des Betroffenen, sondern erst in der zweiten Generation ihrer Nachfahren wirksam werden, in jedem Fall Gefährdungen, die der 'Wahrnehmungsorgane' der Wissenschaft bedürfen - Theorien, Experimente, Meßinstrumente -, um überhaupt 'sichtbar', interpretierbar zu werden." 384

134

1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

sachung von Gefahren, sondern ebenso notwendig an ihrer Identifikation und Bewältigung beteiligt ist. a) Gefahrenproduktion

durch Wissenschaft

Die Bedeutung der Wissenschaft für die Produktion von Gefahren läßt sich nicht ermessen, indem allein die Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft berücksichtigt werden. Die Produktion von Gefahren durch die wissenschaftlichtechnischen Fortschritt hat sich vielmehr in einem Prozeß technischer Naturbeherrschung und wirtschaftlicher Wohlstandsvermehrung vollzogen.387 Vor allem durch die Industriewissenschaft hat sich die Wissenschaft zu einem wesentlichen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Dies wird vor allem unter dem Aspekt kritisiert, daß sich andere Lebensbereiche die Wissenschaft angeeignet und diese entfremdet habe. So kommt etwa Portmann zu dem Ergebnis, daß die zunehmende ökonomische Abhängigkeit der Naturwissenschaft "in der Lebensforschung eine Biotechnik ermöglicht, welche sich mehr und mehr von den ursprünglichen Zielen der Forschung loslöst. Wohl gründet sich diese Biotechnik auf die Methode des Forschens, ihre Impulse aber entstammen den Absichten der Gesellschaft, dem Verlangen herrschender Gruppen ... Die Forschung ist die Gefangene der Macht." 388 Friedrich Wagner sieht in der "zum Dogma erhobenen Wertfreiheit der Naturforschung eine ersatzreligiöse Drapierung, um so ihre Abhängigkeit von privat- und staatskapitalistischen Wirtschaftsmächten und deren Handlungen zu verschleiern." 389 Diese Kritik hat richtig erkannt, daß sich durch die Merkantilisierung der Wissenschaft auch die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis verändert haben. Gleichwohl hat die bisherige Darstellung auch gezeigt, daß weder die enge Verbindung von Wissenschaft und Technik noch die Idee der Nützlichkeit ausschließlich Ergebnis einer ökonomischen Eigendynamik von Verwertungsinteressen gewesen ist. Vielmehr hat bereits die Industriegesellschaft wissenschaftlich-technische Erkenntnisstrukturen vorgefunden, um Wissenschaft industriell einzubinden. Hiermit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß die Industriewissenschaft den Lebensbereich Wissenschaft verändert, neue 387

B.-O. Bryde, Das Recht der Risikogesellschaft, 1992, S. 74 f. A. Portmann, An den Grenzen des Wissens, 1974, S. 244. In diesem Sinne auch G. Altner, Naturvergessenheit, 1991, S. 168: "Wenn sich Wissenschaft heute nur noch in engem Interessenverbund zwischen Staat und Wirtschaft vollzieht, so hat dies weitgreifende Folgen für den Vollzug wissenschaftlicher Praxis von der Grundlagenforschung bis in die weitgestreuten Bereiche der angewandten Forschung." 389 F. Wagner, Weg und Abweg der Naturwissenschaft, 1970, S. 10 f.; zu "Technik und Wissenschaft als Hierophanie" auch S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens, 1992, S. 157 ff. u. "Götterdämmerung", S. 173 ff. 388

VII. Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis

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Problemlagen geschaffen und überkommene Strukturen verändert hat. Es muß jedoch eine allzu monokausale Betrachtungsweise relativiert werden, die davon ausgeht, daß die ökonomische Entwicklung von der Wissenschaft "Besitz ergriffen" und so deren Strukturen grundlegend verändert hat. Die Entwicklung etwa der synthetischen Chemie als ökonomisch induzierte Wissenschaft wäre ohne eine Öffnung der universitären scientific community nicht möglich ge390

wesen. b) Gefahrenidentifikation

durch Wissenschaft

Indem die Wissenschaft als (Mit-)Verantwortliche für die Selbstgefährdung der Zivilisation erkannt ist, richtet sich die Kritik unmittelbar gegen sie. Im Unterschied zu der immer vorhandenen wissenschaftsimmanenten Opposition verändert die gesellschaftliche Diskussion um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der Risikogesellschaft auch das Selbstverständnis der Wissenschaft. Die typischen Gefährdungen der Risikogesellschaft werden nicht mehr durch Primärerfahrungen spürbar, sondern erst mit Hilfe verwissenschaftlichten Wissens bewußt: "Ins Zentrum rücken mehr und mehr Gefährdungen, die für den Laien oft weder sichtbar noch spürbar sind, Gefährdungen, die unter Umständen gar nicht mehr in der Lebensspanne des Betroffenen, sondern erst in der zweiten Generation ihrer Nachfahren wirksam werden, in jedem Fall Gefährdungen, die der 'Wahrnehmungsorgane' der Wissenschaft bedürfen Theorien, Experimente, Meßinstrumente -, um überhaupt 'sichtbar', interpretierbar zu werden." 391 Hiermit werden die Folgeprobleme selbst Gegenstand der veränderten Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis. Wissenschaft hat nicht mehr nur die Aufgabe, Fortschritt zu ermöglichen, sondern ebenso die Folgen des Fortschritts zu bewältigen. An die Wissenschaft als gesellschaftliches Subsystem sind damit neue Aufgaben gestellt. Zur Erfüllung dieser Aufgaben muß der Staat entsprechende Rahmenbedingungen schaffen, die der Ambivalenz von Chancen und Risiken durch die Wissenschaft gerecht werden. Den Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogeselllschaft wird es nicht gerecht, der Wissenschaft selbst, im Sinne eines autonom und nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten handelnden Systems die Verantwortung für 390 391

Vgl. hierzu oben, S. 85 ff. U. Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 265.

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1. Kap.: Wissenschaft in der Risikogesellschaft

existentielle Entscheidungen zu überlassen. Auch die vermeintlichen Vorteile dieser Kompetenzzuweisung, die in einer sachgerechten und von "wissenschaftsfremden" Belangen unbeeindruckten Entscheidung gesehen wird, relativieren sich in dem Maße, in dem vermeintlich externe Einflüsse die wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse selbst mitbestimmen und in dem offenkundig wird, daß es die eine objektive wissenschaftliche Erkenntnis nicht (mehr) gibt; wenn schon das Verständnis von Wissenschaft an das problematische Kriterium der Wahrheit anknüpft, dann muß zumindest berücksichtigt werden, daß es nicht eine alleinige, sondern mehrere wissenschaftliche Wahrheiten gibt. 392 Welche dieser Wahrheiten - sei es im positiven, sei es im negativen Sinne als besonders folgenreich angesehen werden, kann die Wissenschaft für die Gesellschaft nicht (mehr) entscheiden. Gleichwohl sind Staat und Gesellschaft auf die Kompetenz der Wissenschaft angewiesen; entscheidend ist nur, daß als Kompetenz möglichst die gesamte Bandbreite wissenschaftlicher Auffassungen und Erkenntnisse angesehen wird, um den Verlust an objektivierbarer Eindeutigkeit wissenschaftlicher Auffassungen produktiv umzusetzen. Dies müssen auch alle Konzepte bloßer Verminderung von möglichen wissenschaftlichen Handlungsoptionen berücksichtigen. In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist hiermit das Problem der Beschränkung wissenschaftlicher Freiheit angesprochen: "Es ist aber die Frage, ob überhaupt die Suche nach Schranken die richtige Lösimg für die skizzierte Rolle der Wissenschaft in der Risikogesellschaft ist. Der Ruf nach Kontrolle von außen würde verkennen, daß Wissenschaft eben nicht nur an der Verursachung von Risiken beteiligt ist, sondern auch für ihre Aufdeckung und Überwindung gebraucht wird. Eine Garantie, daß der staatliche Eingriff in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß Gefahren bekämpft und 'Gegengifte' aktiviert, gibt es nicht. Eher kann das Gegenteil vermutet werden, die Förderung der Risikoproduzenten und die Ausschaltung der Kritiker. Die Lösung kann daher nicht darin bestehen, den Staat gegen Wissenschaft in Stellung zu bringen, vielmehr muß Wissenschaft gegen Wissenschaft 393

in Stellung gebracht werden."

392 393

B.-O. Bryde, Aufgabe und Aufbau der Universität, 1991, S. 4. B.-O. Bryde, Aufgabe und Aufbau der Universität, 1991, S. 4.

Zweites Kapitel

Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem: Vom Lebensbereich Wissenschaft zum Normbereich des Art. 5 Abs· 3 Satz 1 GG I. Problemstellung: Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht "Jedermanns"? Das erste Kapitel hat gezeigt, daß sich der Lebensbereich Wissenschaft durch radikale Wandlungen entwickelt hat: Die Wissenschaftslandschaft ist erheblich ausdifferenzierter und heterogener geworden; vor allem durch die Verbindung von Wissenschaft und Technik hat sich ein Prozeß der Entgrenzung vollzogen, in dem sich wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem wirtschaftlichen und politischen Faktor gewandelt haben, die mit dem Verständnis von Wissenschaft als Suche nach der Wahrheit, als etwas noch nicht Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes nur noch wenig gemeinsam hat. Lyotards These, nach der es nicht mehr entscheidend sei, ob wissenschaftliche Erkenntnis wahr ist, sondern welcher merkantile und politische Nutzen ihr zukommt, hat sich demnach für einen wesentlichen Teil des Lebensbereichs Wissenschaft als zutreffend erwiesen. Die Untersuchung des deutschen Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts hat den spezifischen Bildungskontext präzisiert, in dem Wissenschaft im Humboldtschen Sinne ihre Wirkungen entfalten kann, und so auch den Kontrast zu den anderen, vielfältigen Formen wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung aufgezeigt. Die Strukturen naturwissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft entfalten sich zudem in einer Ambivalenz von Chancen und Risiken. Die Verbindung von Wissenschaft und Technik hat nicht nur zu einer Entgrenzung des Lebensbereichs Wissenschaft geführt, sondern auch zu einer Entgrenzung der wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse selbst; diese beziehen die Umwelt in einer bisher noch nicht gekannten Weise in den Gewinn von Erkenntnissen und die Schaffung von Risiken mit ein.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

A n diesen beiden Ergebnissen orientiert sich die nun folgende Untersuchung der Wissenschaftsfreiheit in der Risikogesellschaft als Grundrechtsproblem. Grundrechte haben die Aufgabe, menschliche Freiheit und Gleichheit zu schützen und zu gewährleisten. Im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes sind Lebensbereiche aufgeführt, deren freie Verwirklichung besonders schutzbedürftig bzw. für den Einzelnen bzw. die Gesellschaft besonders bedeutungsvoll ist. Auch die Wissenschaftsfreiheit erfüllt diese Voraussetzungen, ihre Verwirklichung kann aber zugleich zu einer existentiellen Gefährdung führen. Treten Grundrechte in Konflikt mit anderen Rechten, vor allem anderen Grundrechten, dann ist ein Ausgleich der widerstreitenden Rechtspositionen herbeizuführen, der - unter Berücksichtigung der vorzufindenden, verfassungsrechtlichen Wertung - beiden Seiten möglichst weitgehend gerecht wird. Diese anspruchsvolle Aufgabe bedarf eines Maßstabs, einer Orientierung, um verläßlich durchführbar zu sein. Für die Grundrechte bildet der Normbereich diesen Maßstab. Der (zu ermittelnde) Normbereich eines Grundrechts erfaßt den Ausschnitt des jeweiligen Lebensbereichs, der verfassungskräftig geschützt bzw. gewährleistet ist.1 Für die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre weist der Wortlaut des Grundgesetzes dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG diese Aufgabe zu. Prima facie ist es deshalb konsequent, daß ausschließlich Art. 5 Abs. 3 GG gemeinhin als die Vorschrift angesehen wird, die Wissenschaft, Forschung und Lehre zu schützen und zu gewährleisten hat. Andere Grundrechte sind lediglich in Randbereichen bzw. als Konkurrenzproblem von Bedeutung. Das verfassungsrechtliche Verständnis von Wissenschaft und die Verwirklichung von Schutz und Gewährleistung durch Art. 5 Abs. 3 GG sind ganz wesentlich durch das Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts geprägt. Wissenschaft "als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit" 2 ist zur allgemein gültigen verfassungsrechtlichen Definition geworden. Das Verständnis von Wissenschafts/rei'AeiY geht demnach davon aus, daß alles, was nach Inhalt und Form ein ernsthafter Versuch zur Ermittlung der Wahrheit ist, frei sein soll.3 Der so umschriebene Freiheitsanspruch verwirkliche sich, so das Bundesverfassungsgericht für den Bereich der Hochschule und ihm folgend die ganz überwiegende Auffassimg in der Literatur für den gesamten Lebensbereich 1 Vgl. hierzu F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1990, S. 11 u. passim; ders., Normstruktur und Normativität, 1966, S. 117; ders., Juristische Methodik, 1993, S. 74, 174 ff.; hierzu und zu den von der Bezeichnung als Lebensbereich einerseits und als Normbereich andererseits abweichenden Terminologien und ihrer Bedeutung B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 23 f., 259. 2 BVerfGE 35,79 (113). 3 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 58.

I. Problemstellung: Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht "Jedermanns"

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Wissenschaft, indem "jeder, der in Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist oder tätig sein will, (...) ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse" hat.4 Hiermit ist die Grundrechtsfunktion angesprochen, die individuelle Freiheit durch Abwehr staatlicher Ingerenz schützt. Aus dieser abwehrrechtlichen Funktion wird gefolgert, daß sich für "Jedermann", also überall dort, wo sich den Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft verpflichtet und nach ihnen gehandelt wird, die Wirkung von Art. 5 Abs. 3 GG entfalte. 5 Dessen Schutzbereich beschränke sich somit nicht auf die Universität, sondern schließe auch die außeruniversitäre Wissenschaft, Forschung und Lehre mit ein. Außeruniversitär meint in diesem Zusammenhang nichtuniversitäre wissenschaftliche Einrichtungen in staatlichen Bindungen und industrielle Forschung und Wissenschaft. 6 Für das Bundesverfassungsgericht erschöpft sich der Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG jedoch nicht in der Abwehr staatlicher Ingerenz, sondern der Staat habe "die Pflege der freien Wissenschaft und ihre Vermittlung an die nachfolgende Generation durch Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln zu ermöglichen und zu fördern." 7 In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht die Wissenschaftsfreiheit für den Bereich der Hochschule als Teil der objektiven Wertordnung konkretisiert; eine Grundrechts4

BVerfGE 35, 79 (112); auch bereits in E 15, 256 (263 f.). Aus der jüngeren Kommentar- und Handbuchliteratur: T. Oppermann, Freiheit von Forschung und Lehre, HdbStR VI, 1989, § 145, Rn. 18 ff.; R. Scholz, in M/D/H/Sch, Bd. 1, Art. 5 III, Rnrn. 4, 138 f.; K. Stem, Staatsrecht, Bd. III/l, 1988, S. 803 ff., 811 ff.; U. Karpen, Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverwertung, 1990,S. 77; H. Schulze-Fielitz, Wissenschaftsfreiheit, HdbVerfR, 2. Aufl., 1994, § 27, Rn. 6 ff.; R. Wendt, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 4. Aufl., 1992, Rn. 103; E.-J. Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 1992, Rn. 155; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 3. Aufl., 1995, Art. 5, Rn 79; H. Bethge, in: M. Sachs, Grundgesetz, 1996, Rn. 209; I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 28; bereits differenzierend E. Denninger, in: AK-GG, 2. Aufl. 1989, Art. 5 Abs. 3 I, Rn. 27, wonach die Interpretation als Jedermannsgrundrecht nicht bedeute, daß der maximale Schutz- und Gewährleistungsauftrag "jedermann" einschränkungslos in gleicher Weise zustehe. Hierzu dann als eigene Konzeption C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994. 6 Zum Beispiel die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofergesellschaft, die Großforschungseinrichtungen als nichtuniversitäre Wissenschaftseinrichtungen in staatlicher Trägerschaft einerseits, die Industrieforschung andererseits; instruktive Darstellungen bei T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S. 689 ff.; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S. 33 ff. für den privaten Bereich, S. 43 ff. für den außeruniversitären staatlichen Bereich; zu den Forschungstypen als Elemente des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 96 ff Vgl. auch W. Thieme, Die Wissenschaftsfreiheit der nichtuniversitären Forschungseinrichtungen, DÖV 1994, S. 150 f. 7 BVerfGE 35, 79 (114). 5

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

interpretation, die ebenfalls nahezu ungeteilte Zustimmung gefunden und in der verfassungsrechtlichen Literatur ebenso einhellig auf den gesamten Lebensbereich Wissenschaft erstreckt wird. 8 Die Wissenschaftsfreiheit gehöre demnach zu den Grundrechten, in denen die subjektivrechtliche und die objektivrechtliche Grundrechtsfunktion nebeneinander zur Entfaltung kommt. Hiermit ist, als eines der derzeit wohl umstrittensten grundrechtsdogmatischen Probleme, das Verhältnis zwischen objektivrechtlicher und subjektivrechtlicher Grundrechtsfunktion angesprochen. Diese Kontroverse fiir die Untersuchung des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG fruchtbar zu machen setzt jedoch voraus, den beiden Grundrechtsfunktionen in ihrer konkreten Anwendung für die Wissenschaftsfreiheit näher nachzugehen. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, vor allem die Berufung auf v. Humboldt und Smend,9 zeigen zum einen, daß sich das Gericht auf das in der deutschen Wissenschafts- und Verfassungstradition gewachsene Verständnis von Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit bezieht. Hiermit sind Weiterentwicklungen und Anpassungen an gegenwärtige Problemstellungen nicht ausgeschlossen; die eben zitierten Passagen, deren geistesgeschichtlicher Kontext und nicht zuletzt der Entscheidungsgegenstand verdeutlichen jedoch, daß sich die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG unmittelbar nur auf den Bereich universitärer Wissenschaft, Forschung und Lehre beziehen. Eine Erweiterung der subjektiv- und objektivrechtlichen Grundrechtsfunktionen in Art. 5 Abs. 3 GG bedarf deshalb der zumindest knappen Analyse der Vorläuferregelungen von Art. 5 Abs. 3 GG und der mit ihnen einhergegangenen, zentralen Auseinandersetzungen. Schließlich bedarf es, soll zumindest eine konsistente Einordnung der Verfassungsrechtsprechung gelingen, mehr als des Hinweises, das Bundesverfassungsgericht habe im Hochschulurteil Art. 5 Abs. 3 GG als Jedermannsgrundrecht für den gesamten Lebensbereich Wissenschaft betont, wenn bereits die Rechtsprechimg des Gerichts zur außeruniversitären Forschung hieran Zweifel weckt.10 Eine Auswertung der verfassungsrechtlichen Literatur bis etwa Mitte der achtziger Jahre zeigt, daß diese extensive Interpretation gleichwohl eher umstandslos festgestellt, denn begründet wurde. 11 Dies ist darauf zurückzuführen, 8

Vgl. die Nachw. in Fn. 5. BVerfGE 35,79(114). 10 Vgl. BVerfGE 48, 376 zur Industrieforschung. 11 So auch die Kritik von E. Schmidt-Aßmann, Wissenschaftsfreiheit im Ordnungsrahmen des öffentlichen Rechts, JZ 1989, S. 207 und T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991 (im folgenden "Naturwissenschaften"), S. 301; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994 (im folgenden "Wissenschaftsfreiheit"), S. 8 ff.; vgl. aber E.-J. Meusel, Außeruniversitäre Forschung 9

I. Problemstellung: Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht "Jedermanns"

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daß außeruniversitäre Wissenschaftsfreiheit bis dahin eher ein "Nebenprodukt" der Beschäftigung mit der Wissenschaftsfreiheit innerhalb der Hochschule gewesen ist.12 Diese nur ausschnitthafte Beschäftigung mit der Wissenschaftsfreiheit ist in verfassungsrechtlichen Untersuchungen aus jüngerer Zeit stets aufgegriffen und zum Teil ausführlich problematisiert worden. Im Ergebnis wird das Verständnis als klassisches Abwehrrecht jedermanns gleichwohl nahezu einhellig bestätigt. Diese Bestätigung erfolgt jedoch mit einer wesentlichen Variation. Der Gewährleistungsgehalt von Art. 5 Abs. 3 GG wird nicht mehr an dem Gegensatz von Wissenschaftsfreiheit innerhalb und außerhalb der Institution Hochschule, sondern zu recht aus einer differenzierteren Perspektive entwickelt.13 Außeruniversitäre Wissenschaft ist nämlich ein viel zu allgemeines Abgrenzungskriterium, um die ganz unterschiedlichen Facetten des Lebensbereichs zu erfasssen. Hiermit ist ein neuer Maßstab gesetzt, an dem sich die zukünftigen Überlegungen zur Auslegung von Art. 5 Abs. 3 GG orientieren müssen. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß sich im Verständnis universitärer Wissenschaftsfreiheit selbst aufsehenerregende Interpretationsbrüche vollzogen haben, die ganz erheblichen Einfluß auch auf das Verständnis außeruniversitärer Wissenschaftsfreiheit haben. Gerade die Interpretationsgeschichte von Art. 5 Abs. 3 GG aus universitärer Perspektive zeigt, daß die Auseinandersetzung zwischen institutioneller und individueller Auslegung bis hin zu einem (vorläufigen?) Nebeneinander beider Dimensionen immer bestimmt und geprägt waren von ganz konkreten gesellschaftlichen und politischen Konflikten. 14 Nicht nur die Heterogenität der Wissenschaftslandschaft mit ihren ganz unterschiedlichen Voraussetzungen der Verwirklichung freier Wissenschaft

in der Verfassung, in: HdbWissR, Bd. 2, 1982, S. 1255 ff. und bereits H.-P. Bull, Staatlich geförderte Forschung in privatrechtlichen Institutionen, WissR 4 (1971), S. 49 ff. 12 Zur bisherigen Fixierung der Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG auf den Hochschulbereich zutreffend C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 8 ff. 13 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, unterscheidet zwischen privaten (S. 139 ff.) und staatlichen (S. 212 ff.) Einrichtungen: Im Ergebnis (s. S. 360) seien private Einrichtungen als solche in ihrer Tätigkeit durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt und damit in der Ausgestaltung ihrer Wissenschaftspolitik frei. Dem einzelnen Wissenschaftler, der an einer solchen Einrichtung tätig ist bzw. von ihr gefördert wird, komme nur ein eingeschränkter Freiraum zu. Bei staatlichen Instituten seien die Gewichte genau umgekehrt verteilt. Hier seien die einzelnen Wissenschaftler die primär maßgeblichen Grundrechtsträger. Die Einrichtung als solche habe dagegen im Verhältnis zum Forscher vor allem eine dienende Funktion. Ihre Hauptaufgabe bestehe in der Schaffung von Rahmenbedingungen, die dem einzelnen ein an seinen Vorstellungen orientiertes, effizientes wissenschaftliches Arbeiten ermöglichen. 14 R. Kleindiek, Wissenschaftsfreiheit in der Hochschule zwischen kritischer Öffentlichkeit und Disziplinarordnung, JZ 1993, S. 997.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

und Forschung, sondern auch die Risiken, die von den modernen Naturwissenschaften, ihrer Anwendung und industriellen Verwertung ausgehen, haben die Frage nach Umfang und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit neu gestellt. Beide Aspekte haben die Zweifel an der Auffassung gemehrt, der gesamte Lebensbereich Wissenschaft sei der in Art. 5 Abs. 3 GG garantierten Wissenschaftsfreiheit zu subsumieren.15 Zweifel sind gleichwohl auch dann nicht beseitigt, wenn man zu einer anderen Zuordnung grundrechtlich geschützter Wissenschaftsfreiheiten gelangt. Classen hat deshalb zu recht daraufhingewiesen, daß, auch wenn die angewandte Forschung einschließlich der Industrieforschung dem Schutz durch Art. 5 Abs. 3 GG zugeordnet wird, mit dieser Feststellung die entscheidenden Probleme erst anfangen. 16 Erst recht muß dies gelten, wenn man zu dem Ergebnis gelangt, daß mit einer Ausdifferenzierung des Lebensbereichs Wissenschaft auch eine differenzierte Zuordnung unter verschiedene Grundrechte und vor allem Grundrechtsfunktionen einhergehen muß. Der Vorzug dieser Lösung muß sich nicht nur in ihrer Anwendung bewähren; es müssen auch die theoretischen und dogmatischen Folgen dieser Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten berücksichtigt werden, um ihren "Wert" zu erfassen. Vor allem hieran fehlt es bisher. Dies kann ein Grund dafür sein, daß in der Literatur oftmals ohne nähere Begründimg davon ausgegangen wird, daß der Schutz der Wissenschaftsfreiheit ausschließlich in Art. 5 Abs. 3 GG zu verorten sei und dieser seine Funktion vorrangig als Abwehrrecht entfalte, obwohl dies wegen der mittlerweile anerkannten Ausdifferenzierung und der A. Blankenagel, Bspr. v. J. v. Kirchbach, Wissenschaftsfreiheit und Arzneimittelkontrolle, AöR 1991, S. 495.; vorsichtig K. Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Staat 30 (1991), S. 47, 49, der den Schutz privater Forschung durch Art. 12 Abs. 1 GG als Abwehrrecht gesichert sieht; bereits früher B. Schlink, Das Grundgesetz und die Wissenschaftsfreiheit, Staat 10 (1971), S. 248 ff., wonach nur die staatliche universitäre Wissenschaft durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt ist: "Hat nämlich Wissenschaft eine objektive Aufgabe und kann sie dieser nur als freie genügen, dann kann der an der Aufgabenerfüllung interessierte Staat ihr in den Universitäten einen eigenen Bereich einräumen und die dort tätigen Wissenschaftler privilegieren, mag Wissenschaft auch andernorts zur Erreichung anderer Aufgaben anders gepflegt werden." Im Ergebnis ebenso G. Roellecke, Wissenschaftsfreiheit als institutionelle Garantie?, JZ 1969, S. 726, der die Freiheit von Kunst und Wissenschaft als besondere Meinungsfreiheit der Beamten und Angestellten begreift, die den öffentlich-rechtlichen Auftrag haben, Wissenschaft und Kunst zu betreiben. (Hierzu aber nun ders., Wissenschaftsfreiheit als Rechtfertigung von Relevanzansprüchen - Eine Selbstkorrektur -, FS Thieme, 1993, S. 685 ff., 695.) Vgl. nun auch H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionaliserung, 1994 (im folgenden "Forschung"), S. 106 f.: "Wo die ökonomischen Imperative die Tätigkeit regulieren, ist die einschlägige Freiheitsgarantie nicht die auf besondere Sachstrukturen und Schutzanforderungen ausgerichtete Forschungsfreiheitsgarantie, sondern das dogmatische Gerüst der auf wirtschaftliche Tätigkeiten zugeschnittenen Art. 12, 2 Abs. 1 GG. Hier wird nicht Wissen erzeugt und valdiert, sondern die Herstellung von Produkten optimiert." 16 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 10.

I. Problemstellung: Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht "Jedermanns"

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hieraus folgenden Probleme, wissenschaftliche Freiheit einerseits wirksam zu schützen und andererseits notwendig zu beschränken, nur unter Inkaufnahme immer größer werdender verfassungsrechtlicher Widersprüche möglich ist. Dies hat gravierende Folgen auch für das in Rechtsprechung und Literatur bisher entwickelte Verständnis des Normbereichs der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG. Es ist deshalb in einem ersten Schritt zu untersuchen, inwiefern die bisher entwickelten Auffassungen in der Lage sind, den im ersten Kapitel beschriebenen Entwicklungen und Veränderungen des Lebensbereichs Wissenschaft durch eine adäquate dogmatische Konzeption der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG zu entsprechen. Wissenschaftsfreiheit als verfassungsrechtliches Problem stellt zunächst und vor allem die Frage nach ihrem Grundrechtsschutz. Dieser hat im deutschen Verfassungsrecht eine Tradition, die bis zum Beginn der verfassungsrechtlichen Kodifizierung von Grundrechten ab 1848 zurückgeht. Nicht nur die gewachsenen Strukturen des Lebensbereichs Wissenschaft, die das Verständnis des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG beeinflußt haben, sondern auch die in ihrem Kern nahezu unverändert gebliebene Formulierung in § 152 der Paulskirchenverfassung von 1852, in Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung und Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes führen zu der Frage, welchen Einfluß die Vorläuferregelungen auf das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als "Jedermanns"-Grundrecht haben, ob diese Genese zu wesentlichen Interpretationsbrüchen oder zu einem aufeinander aufbauenden und historisch gewachsenen Verständnis der Wissenschaftsfreiheit führt. Hierbei wird zu berücksichtigen sein, daß die Materialien zur Verfassunggebung, abgesehen von den Beratungen zur Paulskirche, verhältnismäßig knapp gehalten sind. Damit tritt deren Rezeption durch die verfassungsrechtliche Literatur stärker in den Vordergrund. Die folgende Darstellung wirft deshalb die Frage auf, inwiefern sich das tatsächliche Verständnis der Wissenschaften in seinen unterschiedlichen Facetten und Ausdifferenzierungen in der Verfassunggebung widerspiegelt. Ihre Beantwortung muß den Kontext berücksichtigen, in dem sich die Konfliktlinien im Prozeß der jeweiligen Verfassunggebungen entwickelt haben, denn nur so läßt sich verläßlich feststellen, inwiefern sich die jeweiligen Materialien zur Verfassunggebung sowie ihre verfassungsrechtliche Rezeption aufeinander beziehen lassen. Schließlich ist der Bedeutungsgehalt eines Grundrechts nur in seinem grundrechtstheoretischen und -dogmatischen Kontext zu erschließen. Nun gibt es zwar weder im Hinblick auf die jeweilige Verfassunggebung noch gar ein die verfassungshistorischen Epochen übergreifendes,

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

allgemeingültiges Grundrechtsverständnis, 17 die sichtbaren Prämissen vermitteln jedoch den Hintergrund der jeweiligen Grundrechtsauslegung und sind so in der Lage, die vertretenen Auffassungen präziser zuzuordnen.

II. Wissenschaftsfreiheit in den Verfassunggebungen bis zur Weimarer Reichsverfassung Die erstmalige Kodifizierung der Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht fuhrt sehr schnell zu der im wesentlichen gleich gebliebenen und 1949 lediglich um den Begriff der Forschung ergänzten Formulierung. "Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" lautet § 22 des von der Nationalversammlung 1848 verabschiedeten Grundrechtsgesetzes; dieser Wortlaut wird unverändert in § 152 der Reichsverfassung der Paulskirche (FRV) von 1849 und Art. 20 der preußischen Verfassung übernommen. 1. Wissenschaftsfreiheit als Mitteilungsfreiheit Ein wesentliches Motiv für die Aufnahme der Wissenschaftsfreiheit in den Grundrechtskatalog waren die Erfahrungen in der Restaurationszeit. Die Diskussionen um das Grundrechtsgesetz von 1848 und die Paulskirchenverfassung von 1849 zeigen, daß die politische Verfolgung von Professoren und Studenten, die mit den Karlsbader Beschlüssen von 181918 begonnen hatte, noch sehr präsent war. Dies belegt sehr deutlich ein (abgelehnter) Antrag zur Ergänzung von § 22 des Grundrechtsgesetzes von 1848 um folgende Formulierung: "Niemand darf wegen Mitteilung seiner wissenschaftlichen Überzeugungen verfolgt oder belästigt werden; die Mitteilung von Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchung durch Druck, Rede und Lehre darf in keiner Weise beschränkt werden."19 Dieser Antrag wurde nicht abgelehnt, weil er für sachlich 17 Zu den Grenzen der Verfassungsexegese im allgemeinen treffend Rudolf Smend: "Wenn zwei Verfassungen dasselbe sagen, ist es deswegen noch lange nicht dasselbe", ZevKRl (1951), S. 4. 18 Die Karlsbader Beschlüsse sahen zur Kontrolle der Universitäten vor, "den Geist, in welchem die akademischen Lehrer bei ihren öffentlichen und privaten Vorträgen verfahren, sorgfältig zu beobachten und demselben, jedoch ohne unmittelbare Einmischung in das Wissenschaftliche und die Lehrmethoden, eine heilsame (...) Richtung zu geben"; s. Klüber-Welcker, Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation, S. 163. 19 Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Nationalversammlung (1848), S. 2226,4140 (Antrag Rösler).

II. Verfassunggebungen bis zur Weimarer Reichsverfassung

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unzutreffend gehalten wurde, sondern weil man davon ausging, die inhaltliche Aussage komme bereits genügend in der Formulierung "Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" zum Ausdruck.20 Wissenschaftsfreiheit wurde demnach als Mitteilungsfreiheit 21 geschützt und als besonders gefährdet angesehen; im Vordergrund stand insofern nicht die Freiheit des Erkenntnisprozesses selbst, sondern die repressive Beeinträchtigung der Kommunikation seiner Ergebnisse, etwa durch Bedrohung und Überwachung der "politischen" Professoren in den Geisteswissenschaften wegen "verderblicher Lehren" und die über alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen verhängte Zensur.22 Die Restauration bedeutete neben der Beeinträchtigimg der Geistesfreiheit im allgemeinen für die Wissenschaft im besonderen als weiteren Aspekt den Versuch, sie wieder auf christliche Gehalte und Fundamente zu verpflichten. 23 Dieser Aspekt des Konfliktes zwischen den Kräften der Restauration und der freien Wissenschaft, den Zwirner treffend als "Konflikt mit der Aufklärung" charakterisiert, 24 richtet sich gegen das moderne Wissenschaftsbild als solches. Im Zuge der Karlsbader Beschlüsse wurde nicht nur versucht, politisch oder weltanschaulich unliebsame Professoren zu disziplinieren, sondern der restaurative Charakter der damaligen Politik bestand im Hinblick auf die Wissenschaft darin, ihre Emanzipation vom christlichen Weltbild, von der beschränkten Vorstellung auf nur göttliche Naturgesetze, zu revidieren. Dies hat, wie im

20 Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Nationalversammlung (1848), S. 2226. 21 H.-H. Trute, Forschung, S. 19. 22 Ob sich die Karlsbader Beschlüsse, wie A. Kluge, Die Universitäts-Selbstverwaltung, 1958, S. 83, meint, in Preußen "nie in ihrer ganzen Härte ausgewirkt" haben, wird unterschiedlich behandelt. Wie Kluge bereits R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 60 und später E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, 1975 S. 740; jüngst auch H.-H. Trute, Forschung, S. 19, Fn. 17; vgl. aber auch D. Sterzel, Wissenschaftsfreiheit und Hochschulorganisation, 1973, S. 19 f. Hierzu auch H. Zwimer, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 318; A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 50 ff. 23 Hierzu H.-H. Trute, Forschung, S. 19; H. Zwimer, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 318 f.; J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 510. Zur konkreten politischen Umsetzung sei nur angeführt, daß die preußische Regierung 1847 noch einmal bekräftigt hat, daß Juden nur zu den medizinischen und nicht zu den geisteswissenschaftlichen Lehrämtern zugelassen werden dürften, weil es schon fraglich sei, ob die Geisteswissenschaften im allgemeinen und die Philosophie im besonderen "die Grundlehren des Christentums nicht als gegeben anzusehen habe"; "doch wichtiger als der Ausgangspunkt der Philosophie ist das Resultat, zu dem sie gelangt", nämlich ihre Übereinstimmung mit den christlichen Wahrheiten und diese lasse sich nur vom christlichen Wissenschaftler erwarten, so daß der "Geist des Christentums die Wissenschaft überall durchdringen muß"; zit. b. H. Zwimer, a.a.O. 24 H. Zwimer, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 318. 10 Kleindiek

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

ersten Kapitel näher dargelegt wurde, 25 ein wesentliches Element aus dem Verständnis moderner Wissenschaft herausgebrochen. Gustav Mevissen etwa, ein rheinischer Liberaler, hat die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die "freie Wissenschaft" 1847 sehr klar erkannt: "Es war einer der größten Akte der neueren Weltgeschichte, als die Trennung von Religion und Wissenschaft stattgefunden, sich die Wissenschaft aus eigenem Recht fiir absolut frei erklärt hat. Leider ist man in den letzten Jahren im Begriff, wieder zu dem überwundenen konfessionellen Standpunkt vergangener Jahrhunderte überzugehen."26 Betrachtet man diesen Hintergrund, dann wird verständlich, daß die Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht neben der Mitteilungsfreiheit auch einen von der Glaubensfreiheit zu unterscheidenden Bereich der Denkfreiheit schützen sollte.27 Dies wird etwa in den Beratungen der Paulskirchenverfassung deutlich, wenn der Rechtsliberale Bassermann darauf hinweist, er würde nie fiir volle Religionsfreiheit gestimmt haben, "wenn nicht die Freiheit der Wissenschaft vollständig demgegenüber gewahrt sei".28 Bis zur Gegenwart umstritten geblieben ist die personelle Reichweite des Grundrechts. In sachlicher Hinsicht war (und ist) man sich für die Verfassunggebungen bis zur Weimarer Reichsverfassung im wesentlichen einig, daß "die Wissenschaft und ihre Ausübung (...) - im Rahmen der Strafgesetze - keine anderen Schranken kennen (soll), als ihre eigene Wahrheit". 29 Für die Frage, wer durch das eigenständige Grundrecht geschützt sein sollte, sind zwei Argumentationsebenen zu unterscheiden: Zum einen wird zwischen der Wissenschaft innerhalb und außerhalb des staatlichen Bereichs und der staatlichen Einflußnahme unterschieden und daran anschließend die Frage behandelt, ob sich der Grundrechtsschutz auch auf beide Bereiche bezieht. Als Beispiel für den Wissenschaftsbereich außerhalb staatlicher Bindungen wird, den Verhältnissen in der Mitte des 19. Jahrhunderts angemessen, die verfassungsrechtliche Stellung des Privatgelehrten problematisiert; zum anderen wird diskutiert, ob sich innerhalb des staatlichen Bereichs Wissenschaft nur in den Universitäten

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Vgl. oben, 1. Kapitel, "Experiment, Gesetz Fortschritt", S. 32 ff. G. Mevissen, Sitzung der Ständekurie am 17.6.1847, Protokolle, Tl. 4, S. 1884; zit. auch bei H. Zwimer, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 319 f. 27 So auch J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 513. 28 Zitiert bei J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 513. 29 So die Formulierung in den Erläuterungen, die Bestimmungen der Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 über Religion, Religionsgesellschaften und Unterrichtswesen betreffend, S. 17. 26

II. Verfassunggebungen bis zur Weimarer Reichsverfassung

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oder auch in den (höheren) Schulen entfaltet, so daß für die zu schützende Freiheit ggf. hiernach zu unterscheiden sei.30 2. Wissenschaftsfreiheit als Verwirklichung des Humboldtschen Bildungsideals Vor allem in den Beratungen zur Paulskirchenverfassung kommt der Versuch zum Ausdruck, die Wissenschaftsfreiheit in dem spezifischen Kontext des Humboldtschen Bildungsideals zu formulieren; die Denk- und Mitteilungsfreiheit sollte sich in ihr als dem "großen Prinzip" verwirklichen. 31 Wissenschaft entfaltet sich in dieser Hinsicht als die von Humboldt formulierte und umgesetzte Idee eines sozialen Zusammenhangs, in dem nach der Wahrheit "als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" gesucht wird. 32 Insofern überrascht es, daß für § 152 FRV ein Anwendungsbereich auch außerhalb der Universitäten gesehen wurde, etwa wenn in den oberen Klassen der Gymnasien eine ambitionierte Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte erfolge. 33 Auch wenn dieses Verständnis der Wissenschaftsfreiheit für sich das systematische Argument in Anspruch nehmen kann, daß § 152 FRV am Anfang des Kapitels über "Unterricht und Erziehung" steht, würde es sich doch in Widerspruch zu den allgemein anerkannten Motiven der Verfassunggebung setzen, die in der Überwindung und Verhinderung der in der Restaurationszeit erfolgten Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit lag und zu diesem Zweck an das Bildimgsideal des deutschen Idealismus anknüpfen wollte.34 Dies vorausgesetzt, hätte eine gewollte Abkehr von der Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit auf den akademischen Bereich deutlicher zum Ausdruck kommen müssen, denn Humboldt ist in seiner Umsetzung des Wissenschaftsund Bildungsideals ganz im Gegenteil davon ausgegangen, daß in den Schulen "fertige Kenntnisse" vermittelt werden.35 Die Frage, ob auch die Denk- und Mitteilungsfreiheit innerhalb allgemeinbildender Schulen von der Wissen-

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Hierzu m. w. N. J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 511 ff. J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 512; die Formulierung "Wissenschaftsfreiheit als das große Prinzip" stammt von Schierenberg, 80. Sitzg. am 18.9.1848, W 3, 2177. 32 Vgl. hierzu oben, 1. Kap., S. 63 ff. 33 Hierzu m. w. N. J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 511 ff. 34 Hierzu ausführlich A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 42 ff.; wie hier auch E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, 1988, S. 119. 35 Hierzu oben, 1. Kap., S. 76 ff. 31

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

schaftsfreiheit erfaßt ist, trat in der Folgezeit in den Hintergrund und ist vereinzelt erst wieder im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG aufgeworfen worden. 36 3. Die Verfassunggebungen in der wissenschaftlichen Rezeption In der wissenschaftlichen Rezeption der Verfassungen des 19. Jahrhunderts stand es außer Frage, daß die Freiheitsgarantien auch die Forschung und Lehre an den Universitäten umfaßt. 37 Angesichts der, wenn auch nicht einheitlichen, so doch nachweisbaren Bezüge zur Restauration, die vor allem die Universitäten getroffen hat, kann dies überraschen. Die ganz überwiegende Auffassung geht deshalb auch davon aus, daß zwar zwischen der Wissenschaftsfreiheit im allgemeinen und den akademischen Freiheiten im besonderen zu unterscheiden sei, die Freiheitsentfaltung innerhalb der Universitäten jedoch den wichtigsten, jedenfalls aber auch geschützten Unterfall des Grundrechts bilde.38 Dieses weite Verständnis der Wissenschaftsfreiheit kann sich darauf stützen, daß die konservativen Fraktionen der ersten und zweiten preußischen Kammer in den Beratungen zur Revision der oktroyierten preußischen Verfassung vom 5.12.1848 36

Die Anwendung der Lehrfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG auf Lehrer an Schulen befürworten B.-O. Bryde, Anforderungen an ein rechtsstaatliches Schulbuchgenehmigungsverfahren, 1984, S. 44 ff.; ders., Die Einheit der Verwaltung als Rechtsproblem, WDStRL 46 (1988), S. 194, 195; I. Staff, Schulaufsicht und pädagogische Freiheit des Lehrers, DÖV 1969, S. 627 ff.; G. Roellecke, Wissenschaftsfreiheit als institutionelle Garantie?, JZ 1969, S. 729; U. Kollatz, Freiheit des Lehrers vom Grundgesetz?, DÖV 1970, S. 594; W. Perschel, Die Lehrfreiheit des Lehrers, DÖV 1970, S. 38; dagegen I. Richter, Bildungsverfassungsrecht, 1973, S. 210 f.; E. Beck, Die Geltung der Lehrfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG für die Lehrer an Schulen, vor allem S. 174 zur Abgrenzung von Schulen und Hochschulen vgl. auch BVerfGE 37,313 (321). 37 Vgl. A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 54 ff. m.w.N. und die Nachw. sogleich in Fn. 38. 38 Vgl. insbes. R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 58: "Nur auf diese [gemeint ist die akademische Freiheit] oder jedenfalls vor allem auf diese bezieht sich der Satz in der preußischen Verfassung von 1848 und 1850 (...)." Ebenso H. Zwimer, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 326; A. Köttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1968, S. 292: "Lehre im Sinne der gnindrechtlichen Garantie ist demnach zwar gewiß nicht allein, aber doch auch 'akademische Lehre1; H.-H. Trute, Forschung, S. 19: "Wissenschaftsfreiheit wurde als Mitteilungsfreiheit kodifiziert, die selbstverständlich die akademische Lehrfreiheit umfaßte." Für die Preuß. Verf. auch A. Arndt, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, 1904, S. 124. Anders W. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 1956, S. 45: "Wenn die Verfassungsgeber von 1848 'Wissenschaft' sagen, so denken sie allein an die Universität." Diese ausschließliche Zuordnung wird von Thieme in der 2. Aufl. (1986) aufgegeben, vgl. Rn. 117; ähnlich aber auch W. Α. E. Schmidt, Die Freiheit der Wissenschaft, 1929, S. 19: "Man sagte Wissenschaft und meinte Universität" u. S. 77: "(...) ein Beweis mehr dafür, daß das Grundrecht der Freiheit der Wissenschaft im wesentlichen nur zugunsten der Universitäten gedacht und geschaffen wurde." Etwas relativierend aber auf S. 52 ff.

II. Verfassunggebungen bis zur Weimarer Reichsverfassung

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beantragt haben, das Grundrecht zu streichen, weil einerseits die Meinungsund Pressefreiheit im nichtstaatlichen Bereich das Gleiche gewährleisten, andererseits der Regierung gegenüber den Professoren das Recht disziplinarischen Einschreitens gegen ihre Lehren gewahrt bleiben müsse.39 Hieraus wird ersichtlich, daß auch die verfassunggebende Gewalt zwischen "privater" und "akademischer" Wissenschaftsfreiheit unterschieden hat und im Falle einer ausdrücklichen Kodifizierung von einem Schutz der beiden Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft ausgegangen wäre; der Antrag auf Streichung folgte dann der systematischen Erwägung, daß die nichtuniversitäre Wissenschaft bereits durch die allgemeinen Mitteilungs- und Kommunikationsfreiheiten geschützt sei und der besondere Schutz der Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrer nicht gewollt war. Daß sich dieser Antrag nicht durchsetzen konnte, bestätigt die Einschätzung, daß von der Mehrheit sowohl die Wissenschaft innerhalb als auch außerhalb der Universität gemeint war. Eine gänzlich andere Konzeption vertritt dagegen Anschütz. In der 1912 erschienen Kommentierung zu Art. 20 der preußischen Verfassimg unterscheidet er ausdrücklich zwischen der Wissenschaft innerhalb und deijenigen außerhalb der Universität, denn "der Forscher als Privatgelehrter, der wissenschaftliche Schriftsteller, überhaupt jeder, der die Wissenschaft nicht kraft Lehramtes pflegt und verbreitet, kann sich im Streitfalle heute schon auf den Artikel stützen".40 In Auseinandersetzung mit Arndt, der Art. 20 die "Directive" entnehmen will, "die Vorlesungen der Professoren nicht zu überwachen",41 begründet und präzisiert Anschütz seine Auffassung: "Eine solche 'Directive' würde dem Staate zumuten, auf die Aufsichtsgewalt gegenüber seiner Anstalt, ja auf das Recht, auch nur Kenntnis zu nehmen von dem, was an und in dieser Anstalt geschieht, restlos zu verzichten. Davon kann nicht die Rede sein. Die Frage, inwieweit die bei den Hochschulen angestellten und zugelassenen Lehrer (Professoren und Privatdozenten) in ihrer amtlichen und privaten, forschenden und lehrenden Berufstätigkeit frei oder unfrei sind, entscheidet sich (...) nach dem Beamtenrecht".42 Gegen dieses enge Grundrechtsverständnis 39 I. Kammer, Sitzg. am 6.10.1849, Stenogr. Bericht, S. 1037 ff.; II. Kammer, Sitzg. am 16. und 19.11. 1849, Stenogr. Bericht, S. 1195 ff.; 1216 ff.; vgl. auch H. Zwimer, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 326. 40 G. Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850, 1912, S. 372; die letzte Passage des Zitates ("kann sich im Streitfall heute schon ...) bezieht sich auf die Suspension einiger Grundrechte bis zum Erlaß eines Unterrichtsgesetzes; letztlich ist dies jedoch ohne Belang, weil Anschütz seine Auffassung auch für die WRV (s. dazu unten S. 158), also ohne Suspension, aufrecht erhält. 41 A. Arndt, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, 1904, S. 124. 42 G. Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850, 1912, S. 375 f.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

spricht zwar der nachweisbare Wille, den Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts in der Verfassunggebung zu berücksichtigen; wesentliche Prämissen, über die bei den Verfassungsberatungen immerhin ein weitgehender Konsens bestand, würden sich in den Grundrechten jedoch nicht wiederfinden, wenn die universitäre Wissenschaftsfreiheit ausgenommen würde. Ihre Plausibilität gewinnt diese Auffassung jedoch, wenn man sie im Kontext des staatsrechtlichen Positivismus sieht, der sich seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts durchsetzt und zu der nahezu allgemein anerkannten Lehre fuhrt, daß die Grundrechte den ohnehin bestehenden und gewährleisteten rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung für bestimmte Lebensbereiche besonders betonen, mit der Folge, daß sie ein subjektives Recht auf freie Entfaltung in den Grenzen des positiven Rechts garantieren. 43 Insofern ist es konsequent, Wissenschaft, die sich in "allgemeinen Gewaltverhältnissen", d. h. durch den "Forscher als Privatgelehrten, den wissenschaftlichen Schriftsteller" entfaltet, in den positivrechtlichen Grenzen etwa des Strafrechts grundrechtlich zu schützen, wohingegen der Universitätslehrer dem "besonderen Gewaltverhältnis" des Beamtenrechts unterliegt, das ihm eine nur beschränkte Wahrnehmung der Grundrechte ermöglicht und eine ausdrückliche Ausnahme für die Wissenschaftsfreiheit nicht vorsieht.44 4. Ergebnis Die Verfassunggebungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ihre verfassungsrechtliche Rezeption ergeben kein einheitliches Bild. Der Grund hierfür liegt darin, daß der Prozeß der Verfassunggebung offensichtlich nicht zu einem Konsens über die Funktion und Reichweite des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit geführt hat. Zwar wird der Versuch deutlich, die Phase der Restauration zu überwinden und eine Besinnung der Universitäten auf das Bildungsideal des 19. Jahrhunderts herbeizuführen; hiergegen sprachen jedoch gerade in Preußen und für dessen oktroyierte Verfassung die konkreten politischen Machtver-

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H. Zwimer, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 326 f.; A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 55 f.; A. v. Brünneck, Die Freiheit der Wissenschaft und Forschung, JA 1989, S. 165 f. 44 "Aus dieser Beamten- bzw. Quasibeamtenstellung folgt, daß die Hochschullehrer in ihrem gesamten Tun und Lassen nicht nur die allgemeinen Rechtsschranken zu beachten haben, welche dem freien Belieben eines jeden Staatsbürgers, sondern auch die besonderen, welche der Freiheit des Staatsdieners gesetzt sind. (...) Eine Vorzugsstellung gegenüber anderen Beamten in bezug auf die Freiheit der Meinungsäußerung ist den Hochschullehrern rechtlich nicht eingeräumt"; G. Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850,1912, S. 376.

II. Verfassunggebungen bis zur Weimarer Reichsverfassung

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hältnisse, die einer strukturellen Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Staat und "seinen" Universitäten im Wege standen.45 Zum einen ist es auf die konkreten gesellschaftliche und politischen Machtverhältnisse zurückzuführen, daß es zu keiner wesentlichen Stärkung der Autonomie der Universität gekommen ist; zum anderen, und dies läßt sich den Materialien zu den Verfassunggebungen deutlich entnehmen, ist eine in sich konsistente Reformulierung des humanistischen Bildungsideals, die auch verfassungsrechtlich hätte wirksam werden können, nicht gelungen. Voraussetzung hierfür wäre nämlich eine konkrete Beurteilung der Frage gewesen, inwiefern die Verwirklichung der idealistischen Wissenschafts- und Bildungsvorstellungen eine verfassungsrechtliche Absicherung in einem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit verlangt. Diese hätte zu dem Problem geführt, daß der Idealismus selbst die konkreten Anforderungen an die Wissenschaftsfreiheit innerhalb der Universität unterschiedlich bewertet. Während Schleiermacher die Universität im Sinne eines wissenschaftlichen Vereins und als "Bollwerk gegen den Staat" begriffen hat,46 war von Humboldt ein entschiedener Befürworter der kameralistischen Staatsverwaltung der Universitäten;47 demzufolge besaß auch die "Reformuniversität" Berlin weder Satzungsautonomie noch echte Selbstverwaltung. Stattdessen fügt sich auch die Interpretation des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit dem allgemeinen Wandel des Grundrechtsverständnisses, der die Vorstellungen des Vormärzes von einer stärkeren Geltungskraft der Grundrechte in den Hintergrund drängt und so verhindert, daß die universitäre Wissenschaft aus dem besonderen Gewaltverhältnis staatlicher Ingerenz herausgelöst wird. 48 Ein gesichertes oder gar traditionelles Fundament für das Verständnis der Wissenschaftsfreiheit läßt sich den Verfassunggebungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts und der darauffolgenden Entwicklung deshalb nicht entnehmen. Immerhin zeichneten sich während der Kaiserzeit und dort unterhalb der verfassungsrechtlichen Ebene schärfere Konturen einer universitären 45 Hierauf stützt sich auch Anschütz, indem er seine Kommentierung von Art. 20 mit der Stellungnahme der preuß. Regierung einleitet: "Die Regierung hat mit dem Satze nur sagen wollen und können: "Insoweit es mit ihren Zwecken vereinbar sei, wolle sie die Wissenschaft frei sein lassen"; so der preuß. Unterrichtsminister in der Sitzg. der I. Kammer am 6.10.1849, Stenogr. Bericht, S. 1039. 46 F. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über die Universität (1808), S. 232. 47 W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), S. 380. 48 Zu der anderen Konzeption L. v. Rönne, Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie, Bd. 2, Verfassungsrecht, 1882, S. 452 ff.; A. Arndt, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, 1904, S. 124.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Selbstverwaltung ab, die, unter staatlicher Rechtsaufsicht, zur Wahrnehmung einer Reihe von Selbstverwaltungsaufgaben durch die Universitäten führte. 49 Darüber hinaus wurde ζ. B. 1908 auf dem zweiten Hochschullehrertag vehement die absolute Lehrfreiheit an Universitäten gefordert, die etwa auch von Max Weber unterstützt wurde; 50 für die Zeit bis zum ersten Weltkrieg ist jedoch festzustellen, daß weder die Gedanken des Idealismus noch die verfassungsrechtliche Verankerung der Wissenschaftsfreiheit wesentliche Veränderungen gegenüber dem bestehenden Rechtszustand zwischen Universitäten und Staat herbeiführen konnten.51

ΠΙ. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 142 und Art. 118 WRV Die Bedeutung der Weimarer Verfassunggebung auch für die Wissenschaftsfreiheit illustriert Thieme mit dem Hinweis, daß die Anknüpfung an die Paulskirchenverfassung, die etwa Smend in der Diskussion um Art. 142 WRV herzustellen versuchte, nur formal sein konnte; die Problemlage habe sich so verschoben, daß eine völlige Neukonstruktion erforderlich wurde. 52 Dieser Bewertung entsprechen für den außeruniversitären Bereich die im ersten Kapitel beschriebenen, radikalen Veränderungen des Lebensbereichs Wissenschaft. Dessen zunehmende institutionelle Ausdifferenzierung, die einhergeht mit dem Übergang von der technisch-industriellen zu einer wissenschaftlich-industriellen Entwicklung, ist mit der Einbindung der synthetischen Chemie in den großindustriellen Produktionsprozeß und den militärischen Bereich identifiziert worden.53 Für den universitären Bereich der Wissenschaftsfreiheit ist darüber hinaus besonders zu beachten, daß die Weimarer Reichsverfassung eine neue Staatsform postuliert, der eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse zugrundeliegt. Es bleibt nun zu fragen, inwiefern die so

49 A. Kluge, Die Universitätsselbstverwaltung, 1958, S. 229; s. auch die Aufzählung der Selbstverwaltungsaufgaben bei G. Reiß, Die Rechtsetzungsbefugnis der Universität, 1979, S. 17. 50 Vgl. den Bericht über den II. Deutschen Hochschullehrertag im Sept. 1908 in Jena, Hochschulnachrichten, 1909, S. 10 f. und M. Weber, Die Lehrfreiheit der Universitäten, Hochschulnachrichten, 1909, S. 89 ff. 51 A. Gallas, Die Staatsaufsicht über die wissenschaftlichen Hochschulen, 1976, S. 61, G. Reiß, Die Rechtsetzungsbefugnis der Universität, 1979, S. 16. 52 W. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 2. Aufl., 1986, Rn. 117. 53 S. oben, 1. Kap., S. 86 ff.

III. Die Diskussion um Art. 142 und Art. 118 WRV

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veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit in dem Prozeß der Verfassunggebung wirksam geworden ist. 1. Verfassunggebung: Die Beratungen zu Art. 142 W R V In der Bewertung der Beratungen zu Art. 142 WRV ist man sich nahezu einig, daß der traditionelle Gehalt der Wissenschaftsfreiheit ganz im Vordergrund gestanden habe, wozu auch der Bereich akademischer Lehr- und Forschungsfreiheit als gesicherter Rechtsbestand gehöre.54 Die bisherige Darstellung hat jedoch gezeigt, daß ein einheitliches, überkommenes Leitbild für die verfassungsrechtlich zu garantierende Freiheit der Wissenschaft nicht nachweisbar ist. In den Beratungen der Weimarer Reichsverfassung wird nämlich der Versuch deutlich, an die Ideen der Frankfurter Paulskirchenverfassung anzuknüpfen und deshalb in Art. 142 WRV auch den Bereich universitärer Wissenschaft mit einzubeziehen. Dieser ist deshalb vor allem ihr Gegenstand; diskutiert wurde, welche Formulierung des Grundrechts die Freiheit der verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen am besten gewährleisten könne. Hintergrund dieser Debatte sind offenkundig die Erfahrungen während der Kaiserzeit unter dem Eindruck der 1878 verabschiedeten "Sozialistengesetze".55 Charakteristisch ist die Begründung Katzensteins zu einem Antrag, der den unstrittigen Satz 1 ("Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.") ergänzen sollte:56 "Wir wünschen keinerlei Unterdrückung, insbesondere nicht auf denjenigen Gebieten, die mit Weltanschauungsfragen im Zusammenhang stehen, wie Nationalökonomie, Medizin, Theologie. Bisher hat der Sozialismus unter einer gehässigen Ausschließung von den Lehrstühlen schwer leiden müs54 W. Α. E. Schmidt, Freiheit der Wissenschaft, 1929, S. 83 ff, 109; H. Zwimer, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 327 ff.; E. Denninger, in: AKGG, 2. Aufl., 1989, Art. 5 Abs. 3 (I), Rn. 8; H.-H. Trute, Forschung, S. 36. Anders A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 58, die davon ausgeht, daß Art. 142 WRV (zunächst) das auf den außeruniversitären Bereich beschränkte Grundrechtsverständnis perpetuieren sollte. 55 Die Gründe hierfür finden sich bei W. Α. E. Schmidt, Freiheit der Wissenschaft, 1929, S. 77 ff., der die Auswirkungen der Konflikte des Staates mit Teilen der Kirche und der Sozialdemokratie bzw. des "Kathedersozialismus" auf die Wissenschaftsfreiheit, hier vor allem die Lehrfreiheit an den Hochschulen, beschreibt. Zwar kam es nur im Fall des Privatdozenten für Physik, Arons, zu einer Amtsenthebung wegen "außerdienstlicher Werbung für die sozialdemokratische Partei"; weitreichender waren jedoch die Disziplinierungen durch NichtbefÖrderungen und eine rigide Berufungspolitik. 56 Der Ergänzungsantrag lautet: "Die deutschen Hochschulen sind als eine geistige Gemeinschaft zu behandeln, in der die verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen zur Geltung kommen." Protokoll, S. 219., zit. bei W.A.E. Schmidt, Freiheit der Wissenschaft, 1929, S. 87. Die unterschiedlichen Formulierungsvorschläge für Satz 1 unterscheiden sich nur in Nuancen, vgl. hierzu ders., a.a.O., S. 85 ff.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

sen, wir wollen das weder für uns noch für andere."57 Tatsächlich kam es zu dem Zusatz "Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil." Der Kontext zu den Universitäten ist damit hergestellt.58 Erstmals führen die in diesem Sinne verfassungsrechtlich geforderten und geforderten realen Bedingungen von Freiheit zu konkreten Überlegungen im Hinblick auf die organisatorische Ausgestaltung der Wissenschaftsfreiheit innerhalb staatlicher Bindungen. So wird "volle" oder sogar "vollste" Selbstverwaltung der Hochschulen verlangt, da, im Sinne einer "Kulturautonomie der Wissenschaft", die "Freiheit der Forschung und ihrer Lehre maßgebend geworden ist für den inneren und äußeren Universitätsbetrieb." 59 Hiermit ist nicht nur die den Vorstellungen des Wissenschafts- und Bildungsidealismus zugrundeliegende Kontroverse um die konkrete Organisation der Universität zugunsten Schleiermachers und zu Lasten v. Humboldts entschieden worden, obwohl v. Humboldt aus den dargestellten Gründen, insofern zu Unrecht, als der Protagonist des deutschen Idealismus und der "Urvorstellung" deutscher universitärer Wissenschaftsfreiheit schlechthin angesehen wird; 60 es wird darüberhinaus die eindeutige Entscheidung für ein universitätszentriertes Verständnis der in Art. 142 WRV geschützten Wissenschaftsfreiheit getroffen. 61 Dies belegt auch die Tatsache, 57

S. 87. 58

Protokolle, S. 215, zit. bei W.A.E. Schmidt, Freiheit der Wissenschaft, 1929,

So auch H. Zwirner, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 328. 59 Zitiert bei W.A.E. Schmidt, Freiheit der Wissenschaft, 1929, S. 88 bzw. 89. Daß mit Art. 142 WRV ein als Kulturautonomie der Wissenschaft bezeichnetes Prinzip verfassungskräftig gesichert werden sollte, hebt auch das BVerfG hervor, E 35, 79 (119). 60 Es wird die Notwendigkeit immer vordringlicher, die überkommene Berufung auf v. Humboldt stark zu relativieren; nachdem bereits die soziale Dimension der Idee der "Einsamkeit und Freiheit" entfallen ist (hierzu eindringlich H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 115 ff.; vgl. hierzu oben, 1. Kap., S. 63 ff.), wird nun übersehen, daß die Gefährdungen der universitären Freiheit für v. Humboldt nicht nur von einer Ingerenz des Staates, sondern auch von der Universität selbst ausgehen: "Der Freiheit droht aber nicht bloß Gefahr von ihm [dem Staat], sondern auch von der Anstalt selbst, die wie sie beginnen, einen gewissen Geist annehmen und gem das Aufkommen eines anderen ersticken. Auch den hieraus möglicherweise entstammenden Nachtheilen muß er vorbeugen"; W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), S. 380. 61 Unzutreffend deshalb die Bewertungen von A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 58, die unter Berufung auf G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl., 1933, Art. 142, Anm. 1 (S. 658), annimmt, das beschränkte (den universitären Bereich nicht umfassende) Grundrechtsverständnis sei perpetuiert worden, und E. Denninger, in: AK-GG, 2. Aufl., 1989, Art. 5 Abs. 3 (I), Rn. 8, der davon ausgeht, daß die universitäre Lehrfreiheit in den Beratungen nicht thematisiert, sondern als traditionell gesicherter Rechtsbestand allseits vorausgesetzt und akzeptiert wurde. Dies trifft nur insofern zu, als in der Plenardebatte keine Aussprache über Art. 142 WRV erfolgte, nachdem der Berichterstatter Weiß erklärte, daß die

III. Die Diskussion um Art. 142 und Art. 118 WRV

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daß in den Beratungen zu Art. 142 WRV keinerlei Überlegungen angestellt wurden, inwiefern dieser die Wissenschaft und Forschung außerhalb staatlicher Bindungen umfassen soll. 2. Die Staatsrechtslehrertagung 1927: Das Grundrecht der deutschen Universität Von diesem durch Verfassunggebung gewollten Wandel des Grundrechtsverständnisses blieb die Verfassungsrechtslehre zunächst unbeeindruckt. Sowohl Anschütz als auch Thoma hielten an der Unterscheidung zwischen besonderem und allgemeinem Gewaltverhältnis fest, mit der Folge, daß Art. 142 WRV zwar für "jedermann", nur nicht für den Hochschullehrer gelte.62 Der erste Beratungsgegenstand der Staatsrechtslehrertagung 1927, "Das Recht der freien Meinungsäußerung", hat nicht nur die entscheidende Weichenstellung zu der Frage formuliert, was unter "allgemeinen Gesetzen" im Sinne des Art. 118 WRV bzw. Art. 5 Abs. 1 GG zu verstehen ist,63 sondern sowohl die beiden Berichterstatter Rothenbücher und Smend als auch die Diskussionsteilnehmer der Aussprache setzten sich eingehend mit der Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit auseinander. Es kann deshalb als anerkannt gelten, daß die Interpretation der "allgemeinen Gesetze" durch Rothenbücher für die Dogmatik der (allgemeinen) Meinungsfreiheit ebenso bedeutend ist wie das Postulat des "Grundrechts der deutschen Universität" durch Rudolf Smend für die Wissenschaftsfreiheit. 64 Dies zeigt sich bereits daran, daß alle späteren, entscheidenden Weichenstellungen in der Interpretationsgeschichte der Wissenschaftsfreiheit unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Diskussion von 1927 erfolgen. Hiermit kann jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, nicht die Feststellung einhergehen, daß deren Rezeption immer zutreffend erfolgt. Dies gilt sowohl für die Staatsrechtslehrertagung 1968, die sich unter dem Titel "Die Stellung der Studenten in der Universität" ausführlich der universitären - und damit nicht

"Freiheit der Forschung und Lehre maßgebend geworden ist für den inneren und äußeren Universitätsbetrieb", Stenogr. Bericht, S. 1673. 62 So G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 142, Anm. 1, bis zur 10. Aufl. 1929; F. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 5. Aufl., 1923, Berlin, S. 328; R. Thoma, Grundrechte und Polizeigewalt, Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, 1925, S. 183 ff.; 216 f. Ablehnend etwa A. v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924, S. 353. 63 Hierzu instruktiv B. Hoppe, Die "allgemeinen Gesetze" als Schranke der Meinungsfreiheit, JuS 1991, S. 734 ff. 64 Zum "Meinungsumschwung auf der Staatsrechtslehrertagung" deshalb ausführlich A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1980, S. 58 ff.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

nur der studentischen - Wissenschaftsfreiheit widmete, als auch für die sich an das Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 anschließende Diskussion. Vor allem die Staatsrechtslehrertagung 1968 erbrachte eine deutliche Abkehr von den 1927 (vermeintlich) gewonnenen und bis dahin auch noch unter der Geltung des Grundgesetzes als verbindlich angesehenen Auffassung. Es ist deshalb erforderlich, auch die etwas verdeckter liegenden, in der Diskussion um Gegenstand und Reichweite der Wissenschaftsfreiheit in Art. 142 WRV und Art. 5 Abs. 3 GG nicht so offen zu Tage tretenden Argumentationsschichten freizulegen, um den 1927 vertretenen Auffassungen auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG gerecht zu werden. Rothenbücher geht in seiner Entwicklung der grundrechtlichen Aspekte der Meinungsfreiheit von der Mitteilung und Äußerung geistiger Inhalte in einem umfassenden Sinne aus. Anschließend präzisiert er diesen "weiteren Kreis von Äußerungen geistigen Inhalts"65 für die Bereiche der Wissenschaft, der Staats-, Gesellschafts- und Weltanschauung sowie der Kunst. Dieser Präzisierung "als engerer Kreis innerhalb jenes weiteren Kreises von Äußerungen geistigen Inhalts"66 entspricht der Grundrechtsschutz, der sich für den Bereich der Meinungsfreiheit zunächst und vor allem in Art. 118 Abs. 1 WRV verwirklicht. Die Bedeutung von Art. 142 WRV folgt für Rothenbücher aus einer Differenzierung innerhalb der für den Lebensbereich Wissenschaft maßgeblichen Zuordnung grundrechtlicher Freiheit: "Ebenso wie der Staat im Bereich der Religion und Weltanschauung überhaupt die Meinungsbildung durchaus freigegeben hat, ebenso gibt er die Meinungsbildung im Gebiete der Wissenschaft frei. Dies gilt für die Wissenschaft der Privatgelehrten im wesentlichen schon auf Grund des Art. 118, Abs. 1 RV. Es gilt aber auch, und hierin liegt die verfassungsrechtliche Bedeutung des Art. 142, auch für den Lehrer an den staatlichen Hochschulen."67 Rothenbücher geht also, erstmals in dieser Ausdrücklichkeit, Wissenschaftsfreiheiten aus: Der von grundrechtlich zu differenzierenden grundrechtlich verbürgte Gegenstand "Wissenschaft" wird sowohl innerhalb als auch außerhalb der Hochschule verwirklicht; die grundrechtliche Zuordnung erfolgt dem entsprechend zwischen der Wissenschaftsfreiheit als Unterfall der allgemeinen Meinungsfreiheit (Art. 118 WRV) und als besondere Freiheit des Hochschullehrers.68 Den Grund hierfür sieht Rothenbücher in der besonderen 65

S. 16. 66

S. 17. 67

S. 37.

K. Rothenbücher, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), K. Rothenbücher, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), K. Rothenbücher, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928),

68 Mißverständlich H. Zwirner, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 98 (1973), S. 329, der annimmt, infolge der Staatsrechtslehrertagung 1927 und in der

III. Die Diskussion um Art. 142 und Art. 118 WRV

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Situation des deutschen Hochschulsystems, das durch v. Humboldts Ideen universitärer Bildungspolitik geprägt sei. Im Vergleich zu anderen Ländern (etwa Italien und England) gebe es in Deutschland nur staatliche Hochschulen, die der Pflege der Wissenschaft dienen, indem sie der Einheit von Forschung und Lehre verpflichtet seien.69 Wie auch bei Rothenbücher erfolgt die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten zwischen Art. 118 und 142 WRV bei Smend als Ergebnis grundrechtsdogmatischer und -theoretischer Überlegungen. Darüber hinaus bezieht Smend sich ausdrücklich und positiv auf den deutschen Idealismus, den er als den geistesgeschichtlichen Hintergrund auch der verfassungsrechtlich geschützten Wissenschaftsfreiheit ansieht; eine Kontextualiserung, der Rothenbücher sehr viel skeptischer gegenübersteht.70 Smend kommt am Ende seines Vortrages zu dem häufig zitierten Ergebnis, daß Art. 142 WRV "das Grundrecht der deutschen Universität" sei.71 Insofern stimmt er mit der Zuordnung grundrechtlicher Freiheit durch Rothenbücher überein; wichtig auch für die weitere Diskussion um die Wissenschaftsfreiheit ist jedoch Smends Begründung im einzelnen. Kerngedanke des Grundrechts ist für ihn die Anerkennung der Eigengesetzlichkeit des wissenschaftlichen Lebens.72 Diese Feststellung allein kann jedoch die ausschließliche Geltung des Art. 142 WRV für den Hochschullehrer (bzw. den universitären Bereich) nicht begründen, denn die Eigengesetzlichkeit wissenschaftlichen Lebens entfaltet sich nach der Zuordnung Rothenbüchers auch außerhalb der Universität, ist dort jedoch durch Art. 118 WRV geschützt. Smend sieht den Grund für die notwendige Differenzierung darin, daß Art. 142 WRV kein liberales Grundrecht im Sinne der übrigen Freiheitsrechte sei,73 sondern ein Grundrecht mit institutionellem Charakter, dessen Aufgabe in der "Sicherung eines als wichtig anerkannten und privilegierten Stücks des geistigen Lebens" liege.74 Trotz des Postulates vom "Grundrecht der deutschen Universität" erwecken die Formulierungen Smends darüber hinaus jedoch den

Auseinandersetzung mit dem Positivismus sei das Grundrecht erneut auch auf den Hochschullehrer erstreckt worden (Hervorh. R. K.); jedenfalls Rothenbücher erstreckt Art. 142 WRV nur auf den Hochschullehrer. 69 K. Rothenbücher, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 33. 70 R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 56 f.; K. Rothenbücher, ebda., S. 94 f. 71 R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 73. 72 R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 61. 73 R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 62. 74 R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 71, vgl. auch S. 64.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Eindruck, als wolle er die differenzierende Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten zwischen Art. 142 und 118 WRV nicht mit der Ausschließlichkeit Rothenbüchers vornehmen.75 Die Bezugnahme auf den Humboldtschen Idealismus, die bei Smend sehr viel stärker erfolgt als bei Rothenbücher, spricht jedoch gegen eine Ausweitung des Art. 142 WRV auf den außeruniversitären Bereich.76 Seine Überlegungen zur konkreten Ausgestaltung beziehen sich dann auch ausschließlich auf die Universität: "Der Gegenstand dieser Freiheit ist die Forschungs- und Lehrtätigkeit, also nicht die amtliche Tätigkeit in Selbstverwaltungs- und Auftragsangelegenheiten und nicht das außeramtliche Verhalten, das nicht Forschung und Lehre ist. (...) Was sich als ernsthafter Versuch zur Ermittlung oder zur Lehre der wissenschaftlichen Wahrheit darstellt, ist Forschung und Lehre im Sinne des Art. 142. Diese Abgrenzung ist maßgebend für den Grundrechtsschutz gegenüber dem Gesetzgeber, vor allem aber gegenüber der Verwaltung, insbesondere der Hochschulverwaltung."77 Smend nimmt hier eine Differenzierung vor, die zu einem eher restriktiven Verständnis universitärer Wissenschaftsfreiheit führt; geschützt ist nur der Prozeß der Wahrheitsermittlung und -Vermittlung, mit ihr einher geht nicht eine grundrechtlich wirksame Absicherung konkreter individueller Rechte oder organisatorischer Strukturen im Sinne einer bestimmten Form universitärer Selbstverwaltung.78 Die Diskussion der beiden Referate ergibt eine überwiegend zustimmende Rezeption der Auffassungen Rothenbüchers und Smends,79 die sich in der Folgezeit weiter durchsetzt.80 75

71.

R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 66; S.

76 "Es ist das Grundrecht W. v. Humboldts und der Göttinger Sieben, das nach Art. 142 WRV auch ein konstituierendes Element des Reichs der Weimarer Verfassung sein soll." R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 64. 77 R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 67. 78 Diese Interpretation Smends auch in BVerfGE 35, 79 (119) und K. Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Staat 30 (1991), S. 20, der mit der Auslegung Smends eine Verbreiterung der sozialen Basis der Wissenschaftsfreiheit verbindet. 79 Ablehnend weiterhin G. Anschütz, S. 74: "Ich fühle mich als Konservator einer Anschauung, die lange Zeit für richtig galt und nie angefochten wurde. (...) Nun soll plötzlich das Meiste davon falsch sein." "Schwankend" R. Thoma, S. 85: "Wenn nun die beiden Referenten mit bemerkenswerten, dogmengeschichtlichen und exegetischen Gründen darzutun suchen, daß gerade die akademische Lehrfreiheit des beamteten Professors durch Art. 142 geschützt werde, so tragen sie eine Lehre vor, die wir wohl alle gerne akzeptieren, wenn es uns gelingt, sie nach nochmaliger Durchdenkung des Problems für juristisch richtig zu halten." Thoma sieht die Schwierigkeit "darin, daß Art. 142 die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre ganz schrankenlos proklamiert." Dem will Nawiasky, S. 91, abhelfen, indem auch die unbeschränkte Freiheit der Wissenschaft und Kunst "selbstverständlichen Beschränkungen im Sinne des Gemeinwohls" unterliegen; zustimmend auch Marschall v. Bieberstein, S. 88, und Kaufmann, S. 80, der die Bedeutung des Art. 142 WRV für die Verwirklichung des Humboldtschen Idealismus vertieft.

III. Die Diskussion um Art. 142 und Art. 118 WRV

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3. Ergebnis Auch wenn aus der Retrospektive und für die Grundrechte unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung bis 1933 insgesamt festgestellt werden kann, daß sie "nur im Rahmen der Gesetze"81 ihre Wirkung entfaltet haben,82 ist die Staatsrechtslehrertagung 1927 von dem Versuch geprägt, den Grundrechtsschutz der freien Meinungsäußerung im allgemeinen und den der Wissenschaftsfreiheit im besonderen zu entwickeln und zu verstärken. Es ist bemerkenswert und für die weiteren Überlegungen festzuhalten, daß dieser Versuch davon ausging, daß die Wissenschaft sowohl in Art. 118 als auch in Art. 142 WRV grundrechtlich geschützt und danach zu differenzieren ist, in welchem Kontext staatliche Ingerenz der Wissenschaft begegnet. Im Vordergrund der Diskussionen stand die universitäre Lehrfreiheit. Der Grund hierfür ist darin zu sehen, daß die mögliche Gefährdung in diesem Bereich als gegenwärtig und konkret angesehen wurde.83 Daß die Wissenschaftsfreiheit hiermit zur akademischen Lehrfreiheit reduziert wird, ist so jedoch nicht zutreffend; 84 ganz im Gegenteil wird der Begriff der Forschung fast selbstverständlich in die Überlegungen miteinbezogen, ohne daß der Wortlaut des Art. 142 WRV hierfür zwingenden Anlaß hätte geben müssen.85 Während Rothenbücher den personalen Bezug der Wissenschaftsfreiheit im Hinblick auf den Hochschullehrer stärkt, stellt Smend die korporative Garantie der Universität als solcher in den Vordergrund.

Auch G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, ab der 11. Aufl. 1929, S. 569, gibt seine bisherige Auffassung auf; in diesem Sinne auch für seine eigene Person rückblickend R. Thoma, Die Lehrfreiheit der Hochschullehrer, 1952, S. 8; wie hier auch E. Friesenhahn, Staatsrechtslehrer und Verfassung, 1950, S. 11. 81 So die Formulierung von H. Krüger, Die Einschränkung von Grundrechten nach dem Grundgesetz, DVB1. 1950, S. 626. 82 Zu der Auseinandersetzung um die Bedeutung der Grundrechte innerhalb der deutschen Staatsrechtslehre K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte (§ 5), in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994,, Rn. 5, der daraufhinweist, daß sich die Auffassungen Smends, aber auch E. Kaufmanns (Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, WDStRL 3 (1927), S. 2 ff. und C. Schmitts (Verfassungslehre, 1928, S. 163 ff.) nicht durchzusetzen vermochten. 83 Dies wird etwa in dem Bericht Marschall v. Biebersteins über das gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Dienstenthebung deutlich, WDStRL 4 (1928), S. 87. 84 So aber K. Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979, S. 34. 85 R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 67; in diesem Sinne auch A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 39; K. Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Staat 30 (1991), S. 20.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Smends Ansatz einer korporativen Dimension der Wissenschaftsfreiheit ist, im Kontext seiner staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Prämissen, konsequent: Der Integrationslehre ist der korporative Gedanke zum einen wesensimmanent, und zum anderen bezieht sie sich nicht nur auf den Staat als ganzen, sondern auch auf die Schaffung gegliederter Teileinheiten ("Subsysteme"),86 d. h. auch auf den Lebensbereich Wissenschaft. Nicht nur das Entstehen von korporativen Teileinheiten, sondern auch ihr Verhältnis zum Staat und zu anderen vergemeinschafteten Zusammenhängen definiert Smend über die Integrationslehre bzw. die Organismuslehre (die mit dieser ζ. T. identifiziert wird), indem er zwischen der funktionalen Verfolgung von Eigenzwecken und Gemeinzwecken unterscheidet und die sich hieraus ergebenden Konflikte zu lösen sucht.87 Der in diesem Zusammenhang an Smend gerichtete Vorwurf, er habe hinter der Wissenschaftsfreiheit als institutioneller Garantie den politisch motivierten Herrschaftsanspruch auf eine privilegierte Stellung der Hochschullehrer verbergen wollen,88 ist so zu eindimensional und deshalb nicht haltbar. Zwar mag es auf den ersten Blick plausibel erscheinen, von der besonderen Befangenheit der Hochschullehrer in Fragen der universitären Wissenschaftsfreiheit auf eine bestimmte verfassungsrechtliche Interpretation zu schließen; bei näherem Hinsehen muß jedoch berücksichtigt werden, daß sowohl die Integrationslehre Smends als auch die grundrechtsdogmatische Figur der institutionellen Garantie als allgemeingültige Prinzipien entwickelt und demnach auf die Wissenschaftsfreiheit übertragen wurden.89 Hinzu kommt, daß Smend konsequent die universitäre Selbstverwaltung - der Bereich, in dem sich politisch motivierte Herrschaftsverhältnisse am ehesten manifestieren können - gerade nicht vom Freiheitsbereich des Art. 142 WRV erfaßt sieht.90 86

Vgl. hierzu R. Smend, Integrationslehre (1956), S. 475 f.; A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, S. 61, Fn. 158. 87 R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 71 f., nennt als Beispiel die eigene Disziplinar- und Strafgewalt der Universitäten; auch K. Rennert, Die "geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatslehre der Weimarer Republik, 1987, S. 254, nennt als Beispiel ausdrücklich die Universitäten. 88 R. Schmidt, Fehldeutungen der Wissenschaftsfreiheit. Vorläufige Bedenken zum Grundrecht der deutschen Universität, 1970, S. 141 ff. 89 So auch A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 61. 90 R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 67; H.-H. Trute, Forschung, S. 273, Fn. 161; B. Schlink, Das Grundgesetz und die Wissenschaftsfreiheit, Staat 10 (1971), S. 266; in diesem Sinne auch BVerfGE 35, 79 (119): "Doch auch von den Vertretern dieser Auffassung [gemeint ist das Verständnis vom 'Grundrecht der deutschen Universität1] wurde die Verfassungsverbürgung nicht in dem Sinne verstanden, daß über die Personalstruktur der akademischen Selbstverwaltung eine Aussage gemacht werde." Α. A. etwa W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1970), S. 124, der Smend für den Wandel des Grundrechtsverständnisses hin zur "Garantie einer organisatorisch gegen den Staat abgeschirmten Selbstverwaltungsstruktur der Universität" in Anspruch nimmt.

III. Die Diskussion um Art. 142 und Art. 118 WRV

161

Gleichwohl fuhrt bereits in der Zeit zwischen 1927 und 1933 die stärkere Akzentuierung der institutionellen Garantie der Universität durch Art. 142 WRV zu konkreten Folgerungen für und Anforderungen an die universitäre Selbstverwaltung.91 Die Rezeption vor allem Smends auch im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG verlangt ein eigenes Wort. Smend wird nach überwiegender Ansicht zweierlei entnommen: Zum einen die verfassungsrechtliche Verwirklichung der Humboldtschen Vorstellungen, zum anderen die Erweiterung der Wissenschaftsfreiheit in Art. 142 WRV auf den außeruniversitären Bereich.92 Dies ist ein nicht heilbarer Widerspruch, denn die Verwirklichung der Humboldtschen Vorstellungen kann sich nur auf die Universitäten, noch nicht einmal auf Akademien oder andere Forschungseinrichtungen innerhalb staatlicher Bindungen beziehen. Entweder Smend selbst ist diesem Widerspruch erlegen oder, wofür angesichts der obigen Ausführungen alles spricht, unabhängig davon, welche konkreten Folgerungen aus der Auffassung Smends gezogen werden, ist es jedenfalls unzutreffend, ihn für die Ideen Humboldts und die Erweiterung der Freiheitsgarantie in Art. 142 WRV über die Universität hinaus in Anspruch zu nehmen. Dieses Mißverständnis hat weitreichende Folgen, denn es führt zu einer Interpretation von Humboldts "Einsamkeit und Freiheit", die nicht nur den geistesgeschichtlichen Kontext dieser Forderung vernachlässigt, sondern auch meint, Wissenschaft als einen homogenen Lebensbereich diesem Prinzip subsumieren zu können mit der Folge, daß auch die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit einheitlich erfolgt. Rothenbücher und Smend sind in ihren Überlegungen von dem zentralen Konflikt geleitet, vor dem auch die Universitätsreform Humboldts 1810 gestanden hat und an dem sie letzlich gescheitert ist: Freie Wissenschaft in staatlichen Bindungen erfordert einen staatlich organisierten Bereich von Freiheit innerhalb des Staates. Dies zu gewährleisten soll nun Aufgabe der Grundrechte, d. h. des Art. 142 WRV sein. Für die konkrete Ausgestaltung universitärer

91 Vgl. nur A. Köttgen, Deutsches Universitätsrecht, 1933, S. 50 ff., der sich kritisch von der Auffassung Smends absetzt (S. 3, Fn. 1 a.E.). 92 So wohl K. Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979, S. 34; T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 164 m.w.N. 11 Kleindiek

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Wissenschaft ist seitdem das Verhältnis zwischen der individuellen und der korporativen Dimension der Wissenschaftsfreiheit bestimmend; freilich mit einer wechselnden Akzentuierung bis zu einem (vorläufigen?) Nebeneinander beider Dimensionen in Art. 5 Abs. 3 GG. 93

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG Auch wenn sich, wie oben skizziert, die Diskussion um die Wissenschaftsfreiheit im wesentlichen auf den Bereich der Universität beschränkt, gibt die Interpretationsgeschichte Aufschluß darüber, daß diese durchaus wechselvoll und keineswegs so stringent verlaufen ist, wie dies in der Literatur, aber auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mitunter angedeutet wird und wie es angesichts des nahezu gleichbleibenden Wortlautes in den deutschen Verfassungen den Anschein haben könnte. 1. Die Begründung der Wissenschaftsfreiheitsgarantie in Art. 5 Abs. 3 G G als Grundrecht "Jedermanns" Inwiefern das sich so entwickelnde Grundrechtsverständnis rezipiert, interpretiert und in dem notwendigen Umfang den modernen Problemen angepaßt wurde, soll Maßstab fur die folgenden Überlegungen sein. In Anbetracht des oben skizzierten Diskussionsstandes wird vor allem zu untersuchen sein, ob die Vorstellung von grundrechtlich zu differenzierenden Wissenschaftsfreiheiten unter der Geltung des Grundgesetzes weiterentwickelt wurden. a) Verfassunggebung Die parlamentarischen Beratungen zu Art. 5 Abs. 3 GG sind verhältnismäßig knapp ausgefallen. 94 Eingehender diskutiert wurde eine von der Mehrheit geforderte, besondere Verpflichtung der Lehrfreiheit zur Verfassungstreue. Hierbei wurden ζ. T. überkommene Streifragen erneut aufgeworfen, ohne über diese Einigkeit zu erzielen;95 darüberhinaus wurde die Treuepflicht jedoch auch 93 R. Kleindiek, Wissenschaftsfreiheit in der Hochschule zwischen kritischer Öffentlichkeit und Disziplinarordnung, JZ 1993, S. 997. 94 Der Parlamentarische Rat, 1948-49, Akten und Protokolle, Bd. 5 I/II, Ausschuß für Grundsatzfragen, S. 23 f., 54 f., 120,370, 680 f., 934 f. 95 Vor allem der Streit um die Frage, ob sich die Lehrfreiheit und deren Treuepflicht nur auf den Hochschullehrer oder auch den Lehrer an Schulen beziehe und ob es

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

163

mit den Erfahrungen des Nationalsozialismus identifiziert. 96 Neben dem Wegfall der Schutz- und Pflegepflicht des Staates unterscheidet sich Art. 5 Abs. 3 GG von Art. 142 WRV des weiteren vor allem durch eine Erweiterung um den Begriff der Forschung. Die Gründe hierfür werden in der Literatur, auch weil eindeutige Interpretationshilfen in den Motiven fehlen, unterschiedlich beurteilt. Darüberhinaus ist die Kontroverse um den Begriff der Forschung symptomatisch für die erste wesentliche Weichenstellung, die in der Interpretationsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG erfolgt und die in den unterschiedlichen Ansätzen bis zur Gegenwart nachwirkt. Hintergrund dieser Diskussion ist nämlich die Frage, ob Art. 5 Abs. 3 GG als Fortsetzung des oben beschriebenen Verständnisses des Art. 142 WRV zu sehen ist und dieses durch den neuen Wortlaut noch verstärkt wird oder ob sich der Bedeutungsgehalt gewandelt hat und dieser Wandel auch in der Änderung der Formulierung zum Ausdruck kommt. b) Die Fortschreibung als Grundrecht der Universität Es kann nicht überraschen, daß auch für die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 GG die zu Art. 142 WRV entwickelten Vorstellungen zugrunde gelegt werden. In Fortschreibung des vor allem zwischen 1927 und 1933 entwickelten Verständnisses wird davon ausgegangen, daß Art. 5 Abs. 3 GG im Sinne einer institutionellen Garantie ausschließlich den universitären Bereich erfaßt. Bestärkt fühlt sich diese Auffassung durch die Ergänzung um den Begriff der Forschimg in dem Sinne, daß hierdurch die Einheit von Forschung und Lehre, durch die sich universitäre Wissenschaft erst verwirkliche, auch verfassungskräftig deutlicher zum Ausdruck komme, als in der Weimarer Verfassung. 97

darüber hinaus eines besonderen Schutzes für die Lehre an Hochschulen bedarf; vgl. hierzu den Antrag von Thoma, zit. in: Der Parlamentarische Rat, 1948-49, Akten und Protokolle, Bd. 5 I, S. 370. Zu den unterschiedlichen Formulierungsvorschlägen im Allg. Redaktionsausschuß, in den Fachausschüssen, im Hauptausschuß und schließlich im Änderungsausschuß des Fünferausschusses vgl. Der Parlamentarische Rat, 1948-49, Akten und Protokolle, Bd. 7, Entwürfe zum Grundgesetz, S. 39, 93, 137, 298. 96 In diesem Sinne C. Schmid, nach dem die Bestimmung verhindern solle, "daß unter dem Vorwand wissenschaftlicher Kritik vom Katheder aus eine hinterhältige Politik betrieben wird, die die Demokratie und ihre Einrichtungen nicht kritisiert, sondern verächtlich macht." Dagegen T. Heuss, der das an sich berechtigte Mißtrauen nicht gegen einen Berufsstand verfassungsmäßig verankert sehen will. Zit. aus den Plenarberatungen bei W. Matz, JöR N.F., Bd. 1 (1951), S. 92; vgl. hierzu auch die Beschreibung bei E. Friesenhahn, Staatsrechtslehrer und Verfassung, 1950, S. 8 f. 97 A. Köttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1968, S. 296: "(...) um so die der deutschen Universität essentielle Einheit von 'Forschung und Lehre' nachdrücklich zu bekunden; zur institutionellen Garantie S. 301.; ders., Das Grundrecht der Deutschen Universität, S. 26, 29; ; W. Weber, Die Rechtsstellung des deutschen Hochschullehrers, 1952, S. 28, der "in diesem institutionellen

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Vor allem Röttgen hat die Konsequenzen dieser Auffassung deutlich herausgearbeitet, indem er jede Form der zweck- oder anwendungsorientierten Forschung, d. h. vor allem der Auftragsforschimg, vom Schutz durch Art. 5 Abs. 3 GG ausschließt.98 Röttgen blendet hierbei die sich mit zunehmender Radikalität wandelnden tatsächlichen Bedingungen des Lebensbereichs Wissenschaft zwar nicht aus,99 beschränkt aber den Schutz durch Art. 5 Abs. 3 GG auf den sich voraussetzungslos vollziehenden Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung, der nicht politischen, ökonomischen oder anderen außerwissenschaftlichen Zielsetzungen verschrieben sei und den er innerhalb der Universität verwirklicht sieht.100 Der Grund hierfür liegt darin, daß universitäre Forschung und Lehre in dieser Lesart (wieder) als Bildungsaufgabe geschützt ist:101 Neben den institutionellen tritt der individuelle Aspekt der Freiheitsgarantie, der sich für die Freiheit von Forschung und Lehre in der Person des Hochschullehrers und durch den Studenten in dessen Lernfreiheit verwirklicht. 102 Hiermit wird zugleich die institutionelle Verstärkung der Wissenschaftsfreiheit, die

Ganzen" die verfassungsrechtlich gesicherte Rechtsposition des Hochschullehrers bereits besonders hervorhebt; H. Wehrhahn, Lehrfreiheit und Verfassungstreue, 1955, S. 46 ff.; L. Raiser, Die Universität im Staat, 1958, S. 14 ff., insbes. S. 17, wo die (autonome) universitäre von staatlicher und industrieller Forschung unterschieden wird, um die Geltung von Art. 5 Abs. 3 GG nur für diese zu begründen; H. Gerber, Grundlinien des deutschen Hochschulwesens, um 1962, S. 4 f.; H. v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, S. 67 ff., der Art. 5 Abs. 3 GG einerseits in der Tradition der Auslegung von Art. 142 WRV sieht und die Ergänzung um den Begriff der Forschung als Sicherung der so verstandenen geschützten Rechte in ihren Grundlagen versteht (S. 68), andererseits jedoch die besatzungsrechtlichen Beschränkungen als Eingriff in Art. 5 Abs. 3 GG ansieht, obwohl, wie oben näher ausgeführt (1. Kap., S. 95 f.), der Arbeitsausschuß Forschungskontrolle auf die Beschränkung der Forschungsfreiheit in Wissenschaft und Wirtschaft hingewiesen hat. Konsequent wäre es deshalb gewesen, hier entsprechend zu differenzieren und die Forschungsfreiheit der Wirtschaft nicht bei Art. 5 Abs. 3 GG zu verorten. 98 A. Röttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1968, S. 301,306. 99 Aufschlußreich ist allerdings die Auseinandersetzung Röttgens (Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1968, S. 294) mit den Auffassungen, die "die erstmalige ausdrückliche Erwähnung der Forschung als einen Beweis der Aufgeschlossenheit des Verfassungsrechts für aktuelle Zeitbedürfnisse" werten: "Man wird sich weitmehr fragen müssen, ob sich hierin vielleicht bereits eine gewisse Umdeutung der Wissenschaft anbahnt, die pragmatischen Ansprüchen des technischen Zeitalters willfährig entgegenkommt." 100 A. Röttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1968, S. 304 f.; H. Gerber, Grundlinien des deutschen Hochschulwesens, um 1962, S. 4. 101 A. Röttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1968, S. 301. 102 Zu dieser Einheit von Status und Institution A. Röttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1968, S. 311; ders., Das Grundrecht der deutschen Universität, 1959, S. 19, 20.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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nach der Staatsrechtslehrertagung 1927 tendenziell zu einem Bestandsschutz der Universität um ihrer selbst willen führte, zugunsten eines partikularen Schutzes des Lebensbereichs Wissenschaft um seiner selbst willen zurückgenommen.103 c) Art. 5 Abs. 3 GG als Jedermanns-Grundrecht Hiergegen wendet sich die Konzeption des Art. 5 Abs. 3 GG als "Jedermanns"-Grandrecht, die eine institutionelle, auf die Universität beschränkte Auslegung ablehnt. Der Schutz für universitäre Forschung und Lehre wird hiermit jedoch nicht eingeschränkt, sondern der Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 3 GG erweitert: Nach F. Klein garantiert Art. 5 Abs. 3 GG neben der Rechtseinrichtung der universitären Selbstverwaltung den gesellschaftlichen Sachverhalt Wissenschaft und enthält ein subjektiv öffentliches Recht auf Freiheit der Betätigung in Wissenschaft, Forschung und Lehre. 104 Während sich die Garantie des gesellschaftlichen Sachverhaltes ("Einrichtungen im natürlichen Sinne") in Verbindung mit der garantierten Rechtseinrichtung Universität entfaltet, 105 kommt in dem subjektiv öffentlichen Recht die Freiheit "Jedermanns" zum Ausdruck, zu forschen und zu lehren. 106 Das sich im Schrifttum nahezu einhellig durchsetzende Grundrechtsverständnis ist so in seinen wesentlichen Linien vorgezeichnet.107 Dennoch hat sich in der Folgezeit die Diskussion vor allem auf den Bereich universitärer Wissenschaft konzentriert. Der Grund hierfür liegt darin, daß vor allem ab Mitte der 103

In diesem Sinne auch T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 261. F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., 1957, S. 253; H. Gerber, Hochschule und Staat, 1953, S. 313 f. 105 F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., 1957, S. 85. 106 W. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 1. Aufl., 1956 S. 49 f.; F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., 1957, S. 253. 107 Aus der jüngeren Kommentar- und Handbuchliteratur: T. Oppermann, Freiheit von Forschung und Lehre, HdbStR VI, 1989, § 145, Rn. 18 ff.; R. Scholz, in M/D/H/Sch, Bd. 1, Art. 5 III, Rnrn. 4, 138 f.; K. Stem, Staatsrecht, Bd. III/l, 1988, S. 803 ff., 811 ff; U. Karpen, Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverwertung, 1990,S. 77; H. Schulze-Fielitz, Wissenschaftsfreiheit, HdbVerfR, 2. Aufl., 1994, § 27, Rn. 6 ff.; R. Wendt, in: v. Münch/Kunig, GrundgesetzKommentar, 4. Aufl., 1992, Rn. 103; E.-J. Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 1992, Rn. 155; H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 3. Aufl., 1995, Art. 5, Rn 79; H. Bethge, in: M. Sachs, Grundgesetz, 1996, Rn. 209; bereits differenzierend E. Denninger, in: AK-GG, 2. Aufl. 1989, Art. 5 Abs. 3 I, Rn. 27, wonach die Interpretation als Jedermannsgrundrecht nicht bedeute, daß der maximale Schutz- und Gewährleistungsauftrag "jedermann" einschränkungslos in gleicher Weise zustehe. 104

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

sechziger Jahre die gesellschaftlichen und politischen Kontroversen, die (zunächst) vor allem innerhalb der Universitäten ausgetragen wurden, zwangsläufig mit dem überkommenen Verständnis der Freiheit von Forschung und Lehre, das in der Universität als Institution und nicht durch individuelle Rechtspositionen begründet wurde, in Konflikt geraten mußten: "Die Gruppenuniversität hat hier besondere Aspekte aufkommen lassen. Bejaht man nämlich die Lehre, nach der die Universität selbst Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit ist, so ist sie berechtigt, im Namen der Wissenschaftsfreiheit Entscheidungen gegenüber ihren Mitgliedern zu treffen, die diese binden und damit die Wissenschaftsfreiheit einschränken. Der in dieser Antagonie von Universität und Universitätsmitglied liegende Konflikt wurde solange nicht problematisert, als die universitären Entscheidungen durch die 'Gelehrtenrepublik', d. h. die am Entscheidungsprozeß beteiligten Kollegen getroffen wurden. In dem Augenblick allerdings, in dem auch Vertreter anderer Gruppen als der Professoren auf den Entscheidungsprozeß Einfluß nahmen, also insb. an zahlreichen Hochschulen die Gruppe der Professoren sogar in die Minderheit gedrängt wurden und Entscheidungen über wissenschaftliche Gegenstände in starkem Maße durch die Studenten und das nichtwissenschaftliche Personal beeinflußt wurden, lag das Problem offen zutage."108 d) Die Staatsrechtslehrertagung 1968: Die Repersonalisierung des Art. 5 Abs. 3 GG Die Reaktion der Verfassungsrechtslehre auf diese Situation spiegelt die Staatsrechtslehrertagung 1968 wider, deren zweiter Beratungsgegenstand "Die Stellung des Studenten in der Universität" war. 109 Während sich das Referat von Geck mit den konkreten Möglichkeiten und Grenzen studentischer Mitbestimmung befaßt, 110 zeichnet Rupp die hierfür aus verfassungsrechtlicher Sicht notwendigen grundrechtsdogmatischen Voraussetzungen in Art. 5 Abs. 3 GG nach. In deutlich ablehnender Auseinandersetzung des nur institutionellen Verständnisses von Rudolf Smend und Carl Schmitt kommt er zu dem Ergebnis, daß Art. 5 Abs. 3 GG - im Gegensatz zu der Auslegung von Art. 142 WRV - sowohl den institutionellen als auch den subjektivrechtlichen Aspekt grundrechtlicher Freiheit verbürgt. 111 Die Freiheit der Wissenschaft setze deshalb nicht nur im grundrechtlichen Verhältnis zum Staat, sondern rundum eine gesi108

W. Thieme, Wissenschaftsfreiheit und Hochschulrahmengesetz, in: Hamburg Deutschland - Europa, FS H. P. Ipsen, 1977, S. 190 f. 109 Die Stellung der Studenten in der Universität, WDStRL 27 (1969), H. H. Rupp (1. Bericht, S. 113 ff.) u. W. K. Geck (2. Mitbericht, S. 143 ff.) 110 W. K. Geck, WDStRL 27 (1969), S. 143 ff. 111 H. H. Rupp, WDStRL 27 (1969), S. 116 f.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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cherte Sphäre freier Entfaltung voraus.112 Die Sicherung dieser Sphäre freier Entfaltung fuhrt bei Rupp, und dies ist als Befund für die weiteren Überlegungen festzuhalten, zu einem Vorrang des Individualrechtlichen vor dem institutionellen Aspekt der Wissenschaftsfreiheit, indem er fordert, daß die institutionellen Umhegungen - umhegt wird der subjektivrechtliche Anspruch des Hochschullehrers auf Abwehr von Fremdbestimmung, die weniger in einer staatlichen Ingerenz denn durch die Mitbestimmung der anderen Universitätsgruppen gesehen wurde - ihren organisationsrechtlichen Ausdruck finden müssen.113 Der so begründete Vorrang des individualrechtlichen vor dem institutionellen Aspekt der Wissenschaftsfreiheit ist bereits in der Aussprache zu den Referaten treffend als "Repersonalisierung"114 der Wissenschaftsfreiheit bezeichnet worden und hat nahezu einhellige Zustimmung gefunden. 115 Die Staatsrechtslehrertagung 1968 markiert insofern einen wesentlichen Bruch in der Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG, der von dem Bemühen geprägt ist, den von Thieme beschriebenen Folgen einer Veränderung binnenuniversitärer Organisationsstrukturen durch den einfachen Gesetzgeber mit Hilfe des Verfassungsrechts auszuweichen. Dieses Anliegen als "Repersonalisierung" zu bezeichnen, ist jedoch mißverständlich. Es erweckt nämlich den Eindruck, als sei dieser individualrechtliche Aspekt der universitären Wissenschaftsfreiheit im Sinne einer genetischen Konstante bereits in dem Verständnis von Art. 142 WRV angelegt gewesen.116 Von den Vorstellungen Smends kann jedoch nicht auf bestimmte Anforderungen an die Ausgestaltung universitärer Selbstverwaltung geschlossen werden, denn Smend hat, wie oben näher ausgeführt, diese Form der Autonomie gerade abgelehnt; es mag andere verfassungsrechtlich wirksame Gründe für eine bestimmte Form der universitären Selbstverwaltung geben,

112

H. H. Rupp, WDStRL 27 (1969), S. 119. H. H. Rupp, WDStRL 27 (1969), S. 121. E. Stein bezeichnet Rupps Auslegung von Art. 5 Abs. 3 GG in der Aussprache (S. 198) als "eine 'Transformation' der eigentlich auf das Verhältnis zum Staat bezogenen Wissenschaftsfreiheit zu einer Rundumfreiheitssphäre der Hochschullehrer." Wie Rupp dagegen W. Weber, S. 194: "Das Institutionelle an diesem Grundrecht hat mehr akzessorischen Charakter oder hat mehr den Charakter einer institutionellen Komplementärgarantie, während das Entscheidende nach wie vor das subjektive Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre ist." 114 H. P. Ipsen, WDStRL 27 (1969), S. 199. 115 Anders G. Roellecke (S. 211) u. E. Stein (S. 198), die in Art. 5 Abs. 3 GG einen nur gegen den Staat gerichteten Abwehranspruch sehen, der deshalb das Verhältnis zwischen Professoren und Studenten nicht regelt. 116 Dies wird besonders deutlich in dem Diskussionsbeitrag von W. Weber, WDStRL 27 (1968), S. 194/195, der daraufhinweist, daß Smend die Formulierung "Grundrecht der deutschen Universität" von Paulsen übernommen und der Gehalt im verfassungsrechtlichen Sinne zu relativieren sei, weil Paulsen kein Jurist war. 113

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

eine historische Konstante von Wilhelm v. Humboldt über Smend bis zu Art. 5 Abs. 3 GG kann jedoch gerade nicht zu einem Anspruch des Hochschullehrers auf Abwehr von Fremdbestimmung, sondern eher zum Gegenteil fuhren. Diese Repersonalisierung hat sich in der Interpretationsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG nicht nur auf das Verständnis der universitären Wissenschaftsfreiheit entscheidend ausgewirkt. Insofern läßt sich feststellen, daß die durch die Staatsrechtslehrertagung 1968 erfolgte "Repersonalisierung" das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG über den Bereich der Universität hinaus determiniert hat. Spätestens nachdem das Bundesverfassungsgericht in seinem Hochschulurteil 1973 wiederholt festgestellt hat, daß das in Art. 5 Abs. 3 GG enthaltene Abwehrrecht jedem zusteht, der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will, 117 gilt das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als "Jedermannsff-Grundrecht als nahezu allgemein anerkannt. Für die Frage der Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten innerhalb des Lebensbereichs Wissenschaft ist es deshalb von erheblicher Bedeutung, ob die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und deren Rezeption im Schrifttum diese weithin unangefochtene Auffassung tatsächlich zu tragen vermag. e) Das Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29.5.1973 zum Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz118 muß für die Interpretation der Wissenschaftsfreiheit in mehrerlei Hinsicht als Kristallisationspunkt angesehen werden. Konkreter Anlaß war die Frage, ob das durch das Vorschaltgesetz konstituierte Modell der Gruppenuniversität mit der Wissenschaftsfreiheit vor allem der Hochschullehrer vereinbar ist. Das Gericht hat das organisatorische System der Gruppenuniversität zwar für mit Art. 5 Abs. 3 GG vereinbar erklärt; gleichwohl sei hierfür Voraussetzung, daß der Gruppe der Hochschullehrer bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung und Lehre bzw. Berufungen betreffen, ein ausschlaggebender Einfluß vorbehalten bleiben müsse.119 Diese Entscheidung hat nicht nur deshalb, weil sie eine der umstrittensten hochschulpolitischen Fragen betrifft, eine kaum überschaubare Reaktion im rechtswissenschaftlichen Schrifttum hervorgerufen; für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist darüberhinaus von Bedeutung, daß das Bundesverfassungsgericht trotz einer Reihe vorhergehender, ebenso ein-

117 118 119

BVerfGE 35,79(112). BVerfGE 35, 79 ff. BVerfGE 35, 79 f. - Leitsätze 5 u. 8.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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schlägiger Judikate120 zu den Voraussetzungen der Wahrnehmung der in Art. 5 Abs. 3 GG geschützten Wissenschaftsfreiheit und den verfassungsdogmatischen Problemen des Gewährleistungsbereichs Wissenschaft erstmals eingehend Stellung genommen hat. Vor allem die Gewährleistungsfunktionen des Art. 5 Abs. 3 GG, die weder vor noch nach dieser Entscheidung außer Streit geraten sind, sollen ausgehend von den Ausführungen des Gerichts deshalb zu weiteren Überlegungen führen. Bevor das Gericht die konkreten (verfassungsrechtlichen) Anforderungen an die Ausgestaltung der Gruppenuniversität formuliert, entwickelt und begründet es den bipolaren Charakter des Grundrechts auf Wissenschaftsfreiheit. Der individualrechtliche Gehalt besteht demnach darin, daß das in Art. 5 Abs. 3 GG enthaltene Freiheitsrecht als Abwehrrecht die wissenschaftliche Betätigung gegen staatliche Eingriffe schützt und "jedem" zusteht, "der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will", 121 Diesem Individualrechtsgehalt fügt das Bundesverfassungsgericht einen objektivrechtlichen Aspekt hinzu. Danach verstärkt die objektivrechtliche Weitentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG dessen individuellen Geltungsaspekt in Richtung auf Teilhabeberechtigungen.122 Konkret bedeutet dies vor allem in dem technisch hochspezialisierten Bereich der Naturwissenschaften, daß Wissenschaftsfreiheit "nur durch Beteiligung an einem vom Staat bereitgestellten und umfassenden Leistungsapparat, d. h. hier durch personelle Eingliederung in den Wissenschaftsbetrieb der Hochschule, wirksam genutzt werden kann, die den Einzelnen offenstehenden Möglichkeiten zur Verwirklichung des Grundrechts von Organisationsformen jenes Apparats unmittelbar abhängen."123 Die besondere Stellung des staatlichen Wissenschaftsbetriebes führt das Bundesverfassungsgericht auf die Bedingungen für die Freiheit wissenschaftlichen Arbeitens zurück: "Der Staat hat die Pflege der freien Wissenschaft und ihre Vermittlung an die nachfolgende Generation durch Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln zu ermöglichen und zu fordern. Das bedeutet, daß er funktionsfähige Institutionen für einen freien Wissenschaftsbetrieb zur Verfügung zu stellen hat. Diesem Gebot kommt deswegen besondere Bedeutung zu, weil ohne eine geeignete Organisation und ohne entsprechende finanzielle Mittel, über die im wesentlichen nur noch der Staat verfügt, heute in weiten Bereichen der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, keine unabhängige Forschung und wissenschaftliche Lehre mehr betrieben werden kann. Der Staat besitzt

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BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

3, 58; 5, 85; 15, 256; 21, 362; 25, 44; 29, 318. 35, 79 (112); so bereits in E 15, 256 (263 f.). 35,79(115). 35, 79 (120 f.).

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

hinsichtlich dieses Wissenschaftsbetriebs heute weithin ein faktisches Monopol; eine Ausübung der Grundfreiheiten aus Art. 5 Abs. 3 GG ist hier notwendig mit der Teilhabe an staatlichen Leistungen verbunden."124 f) Folgerungen Angesichts der zitierten Begründungen des Bundesverfassungsgerichts kann es nur überraschen, daß sich in der Folgezeit die Auslegung des Art. 5 Abs. 3 GG als "Jedermanns"-Grundrecht nahezu einhellig in dem Sinne durchgesetzt hat, daß diesem der gesamte Lebensbereich Wissenschaft als grundrechtlich zu schützendes und zu gewährleistendes Gut subsumiert wird. Hiergegen spricht zum einen das Argument, daß staatliche, aber außeruniversitäre, und nichtstaatliche (private, industrielle) Wissenschaftseinrichtungen nicht Gegenstand der Entscheidung gewesen sind;125 hieraus keine Aussagekraft für die außeruniversitären Wissenschaftsbereiche zu folgern, ist insofern plausibel, als es im Hochschulurteil um die Anforderungen geht, die Art. 5 Abs. 3 GG an die Organisation universitärer Selbstverwaltung stellt. Wenn das Bundesverfassungsgericht nun die Entscheidungsgründe mit der Feststellung einleitet, Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht "steht jedem zu, der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will", 126 dann bedeutet dies im Kontext des Entscheidungsgegenstandes, daß sich der Schutz von Art. 5 Abs. 3 GG nicht auf die Hochschullehrer beschränkt; diese Lesart wird durch die weitere Begründung bestätigt, indem das Gericht die Organisationsstruktur der Gruppenuniversität unter bestimmten Voraussetzungen als mit der Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrer vereinbar ansieht.127 Diese Argumentation ist jedoch in dem Maße zu relativieren, in dem bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch davon ausgegangen werden kann, daß mit den Entscheidungsgründen zu einem bestimmten Sachverhalt - hier der universitären Wissenschaft - auch darüber hinausgehende, verallgemeinerungsfähige Aussagen getroffen werden sollen. Abgesehen hiervon sind deshalb vielmehr die konkreten Anforderungen entscheidend, die das Gericht der Ausübung der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 124

BVerfGE 35, 79 (114 f.). Hierauf weist O. Kimminich, Grundgesetz und Gruppenuniversität, WissR 6 (1973), S. 200 hin. Auch Kimminich erstreckt in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Art. 5 Abs. 3 GG jedoch auf den staatlichen und nichtstaatlichen Wissenschaftsbereich. 126 BVerfGE 35, 79 (112). Auch die Entscheidung 15, 256 (263), auf die sich das Gericht bezieht, betrifft den inneruniversitären Bereich (Universität Gießen). 127 Hierfür spricht auch die Dynamik, die das Bundesverfassungsgericht dem Schutz durch Art. 5 Abs. 3 GG mit der Formulierung "tätig ist oder tätig werden will" verleiht, denn ausschließlich auf die Professoren bezogen wäre ein Hinweis auf eine angestrebte wissenschaftliche Tätigkeit entbehrlich. 125

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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Abs. 3 GG und der grundrechtsdogmatischen Konstruktion zugrundelegt, in der es das Verhältnis der subjektiv- und objektivrechlichen Wirkungsebenen von Art. 5 Abs. 3 GG zueinander entwickelt. aa) Gewährleistung freier Wissenschaft des Einzelnen Mit der Formulierung, daß die Ausübung der Grundfreiheiten aus Art. 5 Abs. 3 GG notwendig mit der Teilhabe an staatlichen Leistungen verbunden ist, macht das Bundesverfasssungsgericht deutlich, daß diese die soziale Bedingung für freies wissenschaftliches Arbeiten ist; nicht trotz der Teilhabe an staatlichen Leistungen, sondern wegen dieser ist dem Einzelnen freies wissenschaftliches Arbeiten möglich.128 Dem Bundesverfassungsgericht kommt es entscheidend auf die Unabhängigkeit der Forschung und der aus ihr erwachsenden Lehre an. Nicht anders kann die Formulierung zu verstehen sein, daß für den Wissenschaftsbereich, in dem unabhängige Forschimg und wissenschaftliche Lehre möglich ist, der Staat heute weithin ein faktisches Monopol besitzt, weil nur der Staat die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel und die geeignete Organisation zur Verfügung stellt. Wäre das Gericht davon ausgegangen, daß der gesamte Lebensbereich Wissenschaft die Anforderungen an unabhängige Forschung erfüllt, diese sich also auch in industriell betriebenen naturwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen verwirklicht, dann wäre es nicht plausibel, daß im wesentlichen nur noch der Staat über eine geeignete Organisation und entsprechende finanzielle Mittel verfügt, denn bereits 1971 war der staatliche Anteil an den Forschungsausgaben deutlich kleiner als der Anteil der Wirtschaft. 129 Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG verwirklicht sich demnach nicht von selbst. Damit ist jedoch noch nichts darüber ausgesagt, daß sich diese Realisierungsbedingungen von Freiheit nur auf die Universität beziehen. Ob in Art. 5 Abs. 3 GG "ein (oder: das) 'Grundrecht der deutschen Universität' zu erblicken sei", wird im Hochschulurteil ausdrücklich offengelassen. 130 Deutlich wird jedoch, daß die Organisation einer wissenschaftlichen Einrichtung den Anforderungen an die Unabhängigkeit von Forschung (und Lehre) folgen muß, damit sich hier freie Wissenschaft im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GG verwirklichen kann; das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß diese "nur durch 128

R. Kleindiek, Wissenschaftsfreiheit in der Hochschule zwischen kritischer Öffentlichkeit und Disziplinarordnung, JZ 1993, S. 997. 129 Bundesbericht Forschung 1974, S. 65: 55% Wirtschaftssektor; 44% staatlicher Sektor; 1969 betrug das Verhältnis 60% zu 39%; im Vergleich hierzu betrug 1987 der Anteil von Bund und Ländern 38% und der Anteil der Wirtschaft 61% (Bundesbericht Forschung 1988, S. 60, 351; BMFT-Journal 5/1988, S. 2). 130 BVerfGE 35, 79 (116); ebenso offengelassen in E 15, 256 (264).

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Beteiligung an einem vom Staat bereitgestellten umfassenden Leistungsapparat, d. h. hier durch personelle Eingliederung in den Wissenschaftsbetrieb der Hochschule, wirksam genutzt werden kann."131 Ein Grundrecht, dessen Freiheitsgehalt nur durch Teilhabe an staatlichen Leistungen wirksam zu verwirklichen ist, kann demnach nicht auf die Funktion als subjektives Abwehrrecht, das gegen staatliche Ingerenz schützt, beschränkt werden. Allein äus der Formulierung, Art. 5 Abs. 3 GG schützt "jeden", der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will, können deshalb keine Schlußfolgerungen über den Gewährleistungsumfang gezogen werden, den das Bundesverfassungsgericht Art. 5 Abs. 3 GG beimißt. bb) Organisation freier Wissenschaft Ausgehend von diesen Prämissen muß deshalb zudem berücksichtigt werden, daß das Bundesverfassungsgericht die Zuordnung der Wirkungsebenen von Art. 5 Abs. 3 GG in dem Sinne vornimmt, daß die objektivrechtliche Wertentscheidung den individuellen Geltungsaspekt in Richtung auf Teilhabeberechtigungen verstärkt. 132 Freie Wissenschaft entfaltet sich für den Einzelnen durch Partizipation an dem Prozeß organisierter unabhängiger und ungehinderter wissenschaftlicher Kommunikation. Die objektive Wertordnung formuliert somit ein von Verfassungs wegen zu verwirklichendes Ziel; im Falle des Art. 5 Abs. 3 GG verlangt sie "das Einstehen des Staates für die Idee einer freien Wissenschaft und ihrer Verwirklichung, die positive Handlungspflichten begründet".133 Hiermit geht eine folgenreiche Veränderung des Freiheitsbegriffs einher. 134 Das Bundesverfassungsgericht bedient sich der objektiven Wertentscheidung als grundrechtstheoretischer Figur, um die vorgefundenen Strukturen des Lebensbereichs Wissenschaft der grundrechtlichen Freiheitsentfaltung innerhalb der Universität zuzuordnen. Zu den Anforderungen an das Erreichen dieses Zieles legt es den status quo, d. h. die bestehende soziale Wirklichkeit des Lebensbereichs Wissenschaft zugrunde. Diese grundrechtstheoretische Herangehensweise ermöglicht eine Reflexion über Funktion, normative Zielrichtung und Inhalt des Grundrechts unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen. Die Offenheit der Verfassung "in die Zeit hinein"135 kann so die 131

BVerfGE 35, 79 (120 f.). So auch W. Schmitt-Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1974), S. 130. 133 H.-H. Trute, Forschung, S. 259. Vgl. auch BVerfGE 35, 79 (114 f.); E 81, 108 (116): "einfreiheitliches Wissenschaftsleben zu erhalten und zu fordern"; C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 , Rn. 179; Scholz, Rn 2, 81; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 125. 134 Grundlegend E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 187 ff.; für die Wissenschaftsfreiheit H.-H. Trute, Forschung, S. 254 ff. 135 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 276, unter Berufung auf R. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 15; D. Grimm, Rückkehr zum liberalen 132

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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sich wandelnden Bedingungen von Freiheit berücksichtigen. Deshalb kann dem Hochschulurteil auch nicht entnommen werden, freie Wissenschaft sei ausschließlich und denknotwendig nur innerhalb staatlicher Bindungen realisierbar. Für die Lösimg dieses Problems sind dessen Begründungen allein nicht aussagekräftig genug; erforderlich ist hierfür eine grundrechtstheoretisch abgesicherte Begründung der Wissenschaftsfreiheit, die die objektivrechtliche Wertentscheidung in ihrer Struktur und ihren Anforderungen konkretisiert und dann überprüft, ob sie geeignet ist, den gesamten Lebensbereich Wissenschaft angemessen zu berücksichtigen. Hierfür bietet sich die oben eingeführte Dreiteilung an, die zwischen universitärer und nichtuniversitärer Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen sowie der Wissenschaft in privater Trägerschaft, also vor allem der Industriewissenschaft, unterscheidet. Hiervon ausgehend kann die Frage beantwortet werden, ob sich die Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG nur innerhalb staatlicher Bindungen verwirklichen kann. g) Industrieforschung

in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Die Analyse des Hochschulurteils hat ergeben, daß der dort entwickelte Gewährleistungsbereich nicht die Auffassung erhärten kann, bei Art. 5 Abs. 3 GG handele es sich um ein llJedermanns"-Grundrecht in dem Sinne, daß Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen in den Normbereich fällt. 136 Auch (bzw. gerade) eine der ganz herrschenden Auffassung widersprechende Interpretation muß sich jedoch fragen, ob dieses Ergebnis ggf. mit der Rechtsprechung zur Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen zu vereinbaren ist. Soweit ersichtlich hat das Bundesverfassungsgericht bisher erst einmal über den Grundrechtsschutz für einen Wissenschaftler, der in der privaten Wirtschaft tätig ist, entschieden.137 Dem Vorlagebeschluß lag folgender Sachverhalt zugrunde: Einem promovierten Biologen, der als Pharmakologe bei einem Arzneimittelhersteller im Bereich der medizinischen Forschung tätig ist, wird zur Last gelegt, im Rahmen seiner Tätigkeit als Biologe gegen das Tierschutzgesetz verstoßen zu haben, weil er Tierversuche mit operativem Eingriff durch-

Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 240: "Wie sich gezeigt hat, ist es die objektivrechtliche Komponente der Grundrechte, die als ein in die Rechtsordnung eingebautes dynamisches Prinzip das Recht für den sozialen Wandel offen hält und auf eine Optimierung von Freiheit angesichts wechselnder Lagen drängt." Für die Wissenschaftsfreiheit im Besonderen H.-H. Trute, Forschung, S. 248. 136 So aber E. Meusel; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 107 ff., 119; T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 152 ff.; R. Scholz, in: M/D/H/Sch, Art. 5 Abs. 3, Rn. 98. 137 BVerfGE 48, 376.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

führte. Dieser Sachverhalt ist unstreitig, denn zu seinen Aufgaben in dem Forschungslabor des Arzneimittelherstellers gehört das Prüfen von Substanzen im Tierversuch, die eine therapeutische Wirkung am Menschen erhoffen lassen. Das vorlegende Amtsgericht hielt § 8 Abs. 2 Satz 1 TierSchG, der die materiell-rechtliche Grundlage für das verhängte Bußgeld war, für verfassungswidrig und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, "ob § 8 Abs. 2 Satz 1 TierSchG gegen das Grundgesetz verstößt, als danach Biologen Versuche an Wirbeltieren mit operativen Eingriffen selbständig nur dann durchführen dürfen, wenn sie an Hochschulen oder staatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen tätig sind."138 In der Begründung führt das Amtsgericht aus, die beanstandete Vorschrift 139 habe zur Folge, daß Biologen Tierversuche mit operativen Eingriffen an privaten wissenschaftlichen Einrichtungen nur mit einer Ausnahmegenehmigung und unter Aufsicht, an Hochschulen oder staatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen jedoch selbständig durchführen dürfen. Diese Beschränkung der Biologen auf die Tätigkeit in staatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen sei ein nicht zu rechtfertigender Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 Satz 2 und Art. 3 Abs. 1 GG. 140 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Argumentation aufgegriffen und hierin eine Beschränkung der Berufsausübung gesehen, die durch keinen sachlichen Grund gerechtfertigt ist;141 der verfassungsrechtliche Mangel in § 8 Abs. 2 Satz 1 TierSchG wurde durch die Anordnung beseitigt, daß das Wort "staatlichen" entfallt. 142 In dem hier interessierenden Zusammenhang sind nicht die tierschutzrechtlichen Probleme im einzelnen von Bedeutung,143 sondern die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit, die sowohl von Seiten des Betroffenen, des Amtsgerichts als auch des Bundesverfassungsgerichts vorgenommen wurde. Legt man die in der verfassungsrechtlichen Literatur entwickelte Figur des "Jedermanns"Grundrechts zugrunde, so kann die Zuordnung in diesem konkreten Fall nur überraschen: Art. 5 Abs. 3 GG wird mit keinem Wort erwähnt. Nun wird man 138

BVerfGE 48, 376 (381), Hervorh. im Orig. § 8 Abs. 2 Satz 1 TierSchG i.d.F. vom 24.7.1972 lautet: "Tierversuche mit operativen Eingriffen dürfen nur von Personen mit abgeschlossener Hochschulbildung der Veterinärmedizin oder der Medizin, die die erforderlichen Fachkenntnisse haben, sowie von Personen mit abgeschlossener Hochschulbildung der Biologie an Hochschulen oder staatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen, soweit diese Personen die erforderlichen Fachkenntnisse haben, durchgeführt werden." 140 S. die Sachverhaltsschilderung in BVerfGE 48, 376 (381 f.). 141 BVerfGE 48, 376,388 f. 142 BVerfGE 48, 376 (393). Eine § 8 Abs. 2 TierSchG a.F. entsprechende Regelung der Durchführung von Tierversuchen enthält nun § 9 Abs. 1 i.d.F. vom 18.8.1986 (BGBl. I, S. 1320). 143 Hierzu S. Mädrich, Forschungsfreiheit und Tierschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, 1988. 139

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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auch hier einräumen müssen, daß diese Nichtbefassung mit der in Art. 5 Abs. 3 GG garantierten Wissenschaftsfreiheit allein noch kein Beleg dafür sein kann, daß das Bundesverfassungsgericht Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen offensichtlich nicht durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt sehen will; 144 mit der Prüfung nur an Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG beläßt es das Gericht vielmehr bei dem durch den Betroffenen und die Vorlageinstanz vorgegebenen verfassungsrechtlichen Rahmen, der für die Beantwortung der Vorlagefrage auch genügt - abgesehen davon, daß auch Art. 3 Abs. 1 GG allein als Prüfungsmaßstab genügt hätte, um die Verfassungswidrigkeit des § 8 Abs. 2 Satz 1 TierSchG festzustellen. Andererseits wäre das Bundesverfassungsgericht, gerade angesichts seiner eigenen Praxis, nicht daran gehindert gewesen, Grundrechtsverstöße umfassend zu prüfen. 145 Demnach läßt sich, nachdem dies bereits aus der Sicht der universitären Wissenschaft festgestellt wurde, auch aus der Perspektive der Industriewissenschaft nur zu dem Ergebnis gelangen, daß das Bundesverfassungsgericht die Frage noch nicht entschieden hat, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen auch Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen von Art. 5 Abs. 3 GG erfaßt ist. Damit erweist sich die Auffassung, das Bundesverfassungsgericht interpretiere Art. 5 Abs. 3 GG als "Jedermanns"-Grundrecht, einmal mehr als nicht haltbar; die Tierschutzentscheidung spricht eher für das Gegenteil. Dabei hätte die Entscheidung zu § 8 Abs. 2 Satz 1 TierSchG, ohne sie in ihrem Gehalt und in ihren Folgewirkungen überbewerten zu wollen, allen Anlaß geben müssen, die verfassungsrechtliche Stellung der Industriewissenschaft als Problem gerade dann aufzuwerfen, wenn man von Art. 5 Abs. 3 GG als "Jedermanns"-Grundrecht ausgeht. Die Entscheidung betrifft nämlich eine Variante wissenschaftlichen Handelns, die in den klassischen Bereich wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften fällt; eine Handlungsvariante, die weder eine Vorbereitungshandlung darstellt noch etwa in den "Wirkbereich" 146 fällt und demnach unzweifelhaft als Wissenschaft im überkommenen und schützenswerten Sinne zu verstehen ist.147 Eine Prüfung an Art. 5 Abs. 3 GG hätte sich hiernach also geradezu aufgedrängt. 144

In diese Richtung wohl K. Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Staat 30 (1991), S. 33, indem er daraufhinweist, daß sich das Gericht mit der Prüfung nur an Art. 12 GG die schwierige Behandlung des Verhältnisses von Tierschutz und Forschungsfreiheit ersparen wollte. 145 So in BVerfGE 4, 294 (295); 7, 63 (70); 13, 1 (17); 17, 252 (258); 42, 312 (325 f.); 48,64(79). 146 Hierzu unten, S. 199. 147 So auch W. Heyde, Der Regelungsspielraum des Gesetzgebers bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten, in: FS Zeidler II, 1987, S. 1441.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Daß das Bundesverfassungsgericht dies unterläßt, hätte zu weiteren Überlegungen Anlaß geben müssen. Stattdessen wird die Entscheidung im Schrifttum, sofern sie als Problem der Wissenschaftsfreiheit erkannt wird, überwiegend mißverständlich rezipiert; 148 dies zeigt einmal mehr, daß das Problembewußtsein für eine Zuordnung grundrechtlich geschützter Forschungsfreiheit außerhalb von Art. 5 Abs. 3 GG nur rudimentär ausgeprägt ist. Besonders offenkundig wird dies in den Abhandlungen, die sich ausschließlich mit außeruniversitärer bzw. industrieller Wissenschaft beschäftigen. Diese nehmen die Tierschutzentscheidung nicht zur Kenntnis und stützen die Behauptung von Art. 5 Abs. 3 GG als "Jedermanns"-Grundrecht lediglich auf das Hochschulurteil.149 h) Ergebnis Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß die Entwicklung des Verständnisses von Art. 5 Abs. 3 GG, das sich auf den gesamten Lebensbereich Wissenschaft erstreckt und vorrangig die Funktion als subjektives Abwehrrecht gegen den Staat erfüllt, mit erheblichen Inkonsistenzen einhergeht. Verglichen hiermit hat die Staatsrechtslehrertagung 1927 zu Art. 142 WRV ein wesentlich differenzierteres Bild gezeichnet. Demnach ist der Vorwurf zwar berechtigt, daß die Auslegung des Art. 5 Abs. 3 GG bisher auf die Universität fixiert war, 150 wenn 148

Eine zutreffende Einordnung der Entscheidung nimmt K. Hailbronner, Forschungsreglementierung und Grundgesetz, WissR 13 (1980), S. 221 f. vor, der sieht, daß das BVerfG die Schranken anderer Grundrechte auf Forschungstätigkeiten angewandt hat und deshalb "der in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährte besondere Schutz nur einem Teil der Forschung zuteil würde." (Hervorh. R.K.) Hailbronner lehnt diese Lösung i. E. dann ab und will daran festhalten, daß für Forschungstätigkeiten ausschließlich die Schranken von Art. 5 Abs. 3 GG gelten. Dem Problemgehalt nicht angemessen B. Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschafts Verantwortung, S. 41 und C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 9, Fn. 40, S. 135 f.; eingehender T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 52, der das Problem erkennt, sich dann aber mit dem Hinweis begnügt, das Bundesverfassungsgericht habe Art. 5 Abs. 3 GG als Prüfungsmaßstab nicht heranziehen müssen. Konsequent R. Dreier, Forschungsbegrenzung als verfassungsrechtliches Problem, DVB1. 1980, S. 473, der eine Prüfung an Art. 5 Abs. 3 GG fordert und dann die Schrankendivergenz zwischen Art. 12 Abs. 1 und 5 Abs. 3 GG problematisiert; eingehender auch S. Mädrich, Forschungsfreiheit und Tierschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, 1988, S. 83 f., die zu dem Schluß gelangt, daß das BVerfG das TierSchG, soweit es um die Wissenschaftsfreiheit ging, für verfassungsgemäß hält. Für Mädrich bleibt es dann allerdings "unklar", weshalb das BVerfG zu diesem Ergebnis kommen konnte, wenn nur Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter die uneinschränkbare Wissenschaftsfreiheit begrenzen können. 149 So E.-J. Meusel, Außeruniversitäre Forschung in der Verfassung, in: HdbWissR, 1982, S. 1255 ff. Etwas differenzierender nun ders., Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 1992, S. 178; auch dort wird jedoch der Eindruck erweckt, das BVerfG habe eine Entscheidung zu Art. 5 Abs. 3 GG getroffen. 150 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 8 f.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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als Prämisse davon ausgegangen wird, daß sich die Freiheit der Wissenschaft nur in Art. 5 Abs. 3 GG grundrechtlich verwirklichen kann. Plausibel wird die Kritik an der Auffassung, daß sich Art. 5 Abs. 3 GG im Sinne einer institutionellen Garantie ausschließlich auf den Hochschulbereich beschränkt, freilich erst dann, wenn diese Zuordnung grundrechtlicher Freiheit mit der Frage konfrontiert wird, ob und ggf. durch welche Grundrechte die außeruniversitäre Wissenschaft geschützt ist. Dies betrifft sowohl die außeruniversitäre Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen als auch die private, d. h. vor allem industrielle Forschung. Vor allem die Vertreter eines institutionellen Verständnisses bleiben die Antwort hierauf schuldig und deshalb "auf halbem Wege" stehen.151 Kimminich weist deshalb zurecht daraufhin, daß es vor dem Hochschulurteil durchaus "herrschende Meinung" war, daß außeruniversitäre Forschung nicht an der institutionellen Freiheit teilnimmt.152 Für die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit ist also nicht nur Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Universität, sondern zumindest ebenso Wissenschaftsfreiheit außerhalb von Art. 5 Abs. 3 GG das Problem. Auch die Überwindung des institutionellen Verständnisses mußte ihrerseits die Frage aufwerfen, inwiefern Art. 5 Abs. 3 GG auch die Wissenschaft außerhalb der Universität bzw. außerhalb staatlicher Bindungen erfaßt; dies ist mit einer beträchtlichen zeitlichen Verzögerung auch geschehen und in dem Sinne beantwortet worden, daß sich der Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 3 GG erweitert. Hiermit haben sich auch die Problembereiche des Art. 5 Abs. 3 GG erweitert; dies schon deshalb, weil, wie im ersten Kapitel dargelegt, der Lebensbereich Wissenschaft unter den Bedingungen der Risikogesellschaft zunehmend heterogener geworden ist. Dieser Heterogenität gemeinsam ist die Wahrnehmung von Gefahren, die vor allem von den experimentellen Naturwissenschaften ausgehen. Die Verursachung von Gefahren für Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit durch das Experiment wirft für die grundrechtliche Garantie von Wissenschaft und Forschung neue Fragen auf. Die verfassungsrechtliche Rezeption dieser Entwicklung erfolgt vor allem für den Bereich Mit Ausnahme der Andeutung von A. Köttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1.968, S. 301: "Die Möglichkeit, daß es vielleicht auch außerhalb dieses so abgegrenzten Bereichs "Wissenschaft" gibt, kann und soll dabei nicht bestritten werden." Sehr viel klarer G. Roellecke, Forschungsförderung für die Industrie. Zwischen Wissenschaftsfreiheit und Forschungsfreiheit, BB 1981, S. 1906 f. Ausführlich zur verfassungsrechtlichen Zuordnung der Industrieforschung B. Schlink, Das Grundgesetz und die Wissenschaftsfreiheit, Staat 10 (1971), S. 250 f., sofern man das institutionelle Verständnis (zutreffend) weit und deshalb anders als in der überkommenen Weise versteht. Vgl. hierzu auch G. Roellecke, Wissenschaftsfreiheit als institutionelle Garantie?, JZ 1969, S. 726 ff. zu den Unterschieden zwischen Roellecke und Schlink vgl. B. Schlink, a.a.O., S. 244 ff. 152 O. Kimminich, Grundgesetz und Gruppenuniversität, WissR 6 (1973), S. 200. 12 Kleindiek

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

der Genforschung. Das erste Kapitel hat jedoch gezeigt, daß strukturelle Gemeinsamkeiten der Wissenschaften in der Risikogesellschaft zudem für die synthetische Chemie und die Kernenergieforschung nachweisbar sind. Von Interesse ist deshalb nun die verfassungsrechtliche Reaktion auf diesen wissenschaftssoziologischen Befund. 2. Die Begrenzung der Wissenschaftsfreiheitsgarantie in Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht Die verfassungsrechtliche Reaktion auf die eben nur kurz und im ersten Kapitel ausführlicher geschilderten Entwicklungen153 ist in der Interpretation des Art. 5 Abs. 3 GG als eine Zäsur auszumachen, die zur Folge hat, daß sich mehr der Frage zugewandt wird, inwiefern der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG Grenzen gesetzt sind.154 Die hierfür entwickelten Konzepte zeigen ein facettenreiches Bild, in dem der Versuch deutlich wird, vor allem die naturwissenschaftliche Forschung in der Risikogesellschaft als Problem grundrechtlicher Freiheit zu bewältigen. Nahezu allen Auffassungen ist gemeinsam, daß sie Art. 5 Abs. 3 GG unter - nicht gerechtfertigter - Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als subjektives Abwehrrecht "Jedermanns" ansehen, mit der Folge, daß diese Freiheitsgarantie ohne Rücksicht auf den konkreten Kontext, in dem sich der Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung vollzieht, allen zusteht, die in Wissenschaft, Forschung oder Lehre tätig sind oder sein wollen. Es wird also davon ausgegangen, daß sich die Gewährleistung durch Art. 5 Abs. 3 GG auf den gesamten Lebensbereich Wissenschaft erstreckt; 155 insofern setzt sich die mit der Staatsrechtslehrertagung 1968 eingeleitete Personalisierung der Wissenschaftsfreiheit als Abwehrrecht "Jedermanns" fort. Die Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers. Die Grundrechte geben ihm Maßstäbe vor, an denen sich die Mög153

Vgl. S. 85 ff., 92 ff., 109 ff., 118 ff. So auch R. Dreier, Forschungsbegrenzung als verfassungsrechtliches Problem, DVB1. 1980, S. 471; A. Eser, Der Forscher als "Täter" und "Opfer", FS Lackner, 1987, S. 925 ff.; R. Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, Freiburger Universitätsblätter 1987, S. 19: „Die Argumentationsfronten haben sich also umgekehrt." 155 Nur dort, wo im Zuge einer präziseren Normbereichsbestimmung und dem Bemühen um differenzierte Lösungen Art. 5 Abs. 3 GG als nicht betroffen angesehen wird, erfolgt mitunter ein Verweis auf die dann u. U. einschlägigen Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1, 14 bzw. 5 Abs. 1 GG, ohne daß auf diese näher eingegangen wird, vgl. T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 355; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 143, 144, 153; vorrangiger Maßstab ist jedoch auch hier Art. 5 Abs. 3 GG. 154

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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lichkeiten der Freiheitsbegrenzung orientieren müssen. Die grundrechtsdogmatischen Probleme, die eine Bestimmung der Grenzen der Wissenschaftsfreiheit aufwirft, müssen deshalb zunächst den im Grundrecht selbst formulierten Maßstab der Einschränkbarkeit berücksichtigen: Art. 5 Abs. 3 GG ist ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Eingriffe in den Normbereich eines vorbehaltlosen Grundrechts müssen sich durch kollidierende Verfassungswerte rechtfertigen lassen, womit der Bedeutung eines Grundrechts, für das der Verfassunggeber weder einen einfachen noch einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt vorgesehen hat, Rechnung getragen wird. 156 Die Gemeinsamkeiten der Problemlösungsansätze zu Art. 5 Abs. 3 GG haben hiermit gleichwohl ihr Bewenden. Die danach zu verzeichnenden wesentlichen Unterschiede gehen auf die grundlegende und für alle Freiheitsrechte gleichermaßen bedeutsame Kontroverse um ein weites oder ein enges Normbereichsverständnis zurück. 157 Das Verständnis weiter Normbereiche geht von einer "prima facie-Erlaubtheit der Grundrechtsbetätigung"158 aus; erst andere, entgegenstehende Rechtsgüter - konfligierende Individual- oder Gemeinschaftsinteressen 159 - können die Wahrnehmung der Grundrechtsfreiheit einschränken. Bevor die Abwägimg den Konflikt entscheidet, ist zunächst die Ausprägung des Gesetzesvorbehaltes der Maßstab für die Einschränkbarkeit. 160 Das enge Normbereichsverständnis dagegen versucht diese Abwägung - soweit es möglich ist - zu umgehen und eröffnet dem Gesetzgeber deshalb Regelungsmöglichkeiten, ohne diese verfassungsrechtlich rechtfertigen zu müs-

156 W. Heyde, Der Regelungsspielraum des Gesetzgebers bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten, in: FS Zeidler II, 1987, S. 1441. 157 Vgl. einerseits R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 278 ff.; andererseits F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1990, S. 40 ff. u. passim. 158 So treffend W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 176; ders., Grundrechtstatbestand - Grundrechtsschranken - Grundrechtsschrankenschranken, Jura 1994, S. 170; ebenso und ausführlicher R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 272 ff. 159 W. Höfling, Grundrechtstatbestand - Grundrechtsschranken - Grundrechtsschrankenschranken, Jura 1994, S. 169 f. 160 Das Erlaubtsein der Grundrechtsausübung prima facie kann deshalb auch keinen Aufschluß darüber geben, wie weit sich die grundrechtlich geschützte Freiheit letztlich durchsetzt. Die Grundrechtsausübung prima facie bestimmt lediglich das, was die Grundrechtsnorm ohne Berücksichtigung von Schranken gewährt. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 273; W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 176 f.; ders., Grundrechtstatbestand - Grundrechtsschranken - Grundrechtsschrankenschranken, Jura 1994, S. 170. 161 "Die primäre dogmatische Frage ist überhaupt nicht die, wodurch ein Grundrecht eingeschränkt werden kann, sondern: wie weit sein aus der Analyse des Normbereichs

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Zweck einer Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit - sei es auf der Normbereichsebene, sei es in einem Abwägungsmodell - ist die Berücksichtigung konfligierender Individual- oder Gemeinschaftsinteressen, die durch eine unbegrenzte Wahrnehmung der Wissenschaftsfreiheit gefährdet sind. Von dieser Prämisse ausgehend werden die unterschiedlichen Konsequenzen enger und weiter Normbereichsverständnisse deutlich; enge Normbereichsverständnisse wollen Kollisionen zwischen Wissenschaftsfreiheit und durch sie gefährdete Rechtsgüter von vornherein verhindern, weite Normbereichsverständnisse sehen gerade in dem aufzulösenden Konflikt entgegenstehender Rechtsgüter die grundrechtsadäquate Form möglichst weitgehender Freiheitsverwirklichung. Für Art. 5 Abs. 3 GG als ein Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt zeigen sich die Unterschiede zwischen engem und weitem Normbereichsverständnis in aller Schärfe: Folgt man dem weiten Normbereichsverständnis, dann müssen die entgegenstehenden Rechtsgüter ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestattet sein, um die Wissenschaftsfreiheit begrenzen zu können; folgt man dem engen Verständnis, dann ist es denkbar, daß sich für die entsprechende Fallkonstellation der Grundrechtsschutz durch Art. 5 Abs. 3 GG überhaupt nicht entfaltet. a) Grenzen der Wissenschaftsfreiheit

als Problem der Abwägung

Ein weites Normbereichsverständnis und die Entscheidimg von Grundrechtskonflikten durch Abwägung bedingen einander.162 Der tiefere Grund für das Konzept der Abwägung zur Bewältigung grundrechtlicher Konflikte liegt nämlich darin, Freiheit nicht "ohne Not", also ohne daß diese Freiheit andere Individual- oder Gemeinschaftsinteressen beeinträchtigen könnte, zu beschränken. Das weite Normbereichsverständnis beruht deshalb auf einer weiten Tatbestandstheorie, die alles das, für dessen Schutz das jeweilige grundrechtliche Prinzip spricht, in den Schutzbereich fallen läßt.163 Dem Grundrechtsschutz sind hiermit denkbar weite Möglichkeiten eröffnet. Letztlich kann die Frage nach dem definitiven grundrechtlichen Schutz deshalb nur beantwortet werden,

und ihrer Vermittlung mit dem grundrechtlichen Normprogramm zu entwickelnder Geltungsgehalt reicht." So F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1990, S. 87; vgl. auch W. Rüfher, Grundrechtskonflikte, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 2, 1976, S. 457 f. 162 Vgl. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 290 f. 163 R Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 291. Alexy weist daraufhin, daß Normbereich (bei Alexy Schutzbereich) und Tatbestand zwar unterschiedlich zu bestimmen sind, sich als Gemeinsamkeit aber darauf beziehen, was durch Grundrechtsnormen prima facie, also ohne Berücksichtigung von Schranken gewährt wird, a.a.O., S. 273.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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wenn das Verhältnis zwischen einem Grund für den grundrechtlichen Schutz und einem ihm gegenüber zulässigen Gegengrund bestimmt worden ist.164 aa) Weite Normbereiche als grundrechtsdogmatische Prämisse - Lebensbereich Wissenschaft als Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG Dementsprechend geht die ganz überwiegende Auffassung davon aus, daß sich der Lebensbereich Wissenschaft, der alles umfaßt, was nach Inhalt und Form als planmäßiger Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen sei, mit dem Normbereich des Art. 5 Abs. 3 GG deckt. Dieses der weiten Tatbestandslehre folgende Verständnis führt zu einer grundsätzlichen Vermutung zugunsten des Erlaubtseins wissenschaftlicher Betätigung.165 Dann auftretende Konflikte werden nach den überkommenen Regeln der Beschränkbarkeit vorbehaltloser Grundrechte gelöst, die das Bundesverfassungsgericht für die Wissenschaftsfreiheit in dem Beschluß zu § 6 hess. Universitätsgesetz konkretisiert hat. Demnach sei auch die Wissenschaftsfreiheit nicht grenzenlos gewährleistet; ein Forscher dürfe sich ζ. B. bei seiner Tätigkeit, insbesondere bei etwaigen Versuchen, nicht über die Rechte seiner Mitbürger auf Leben, Gesundheit oder Eigentum hinwegsetzen.166 Aus der Feststellung, daß Einschränkungen der vorbehaltlos gewährleisteten Wissenschaftsfreiheit nur aus der Verfassung selbst herzuleiten sind, folgt dann, daß die Konflikte zwischen der Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit und dem Schutz anderer verfassungsrechtlich garantierter Rechtsgüter "nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigimg der Einheit dieses Wertsystems gelöst werden. In diesem Spannungsverhältnis kommt der Wissenschaftsfreiheit gegenüber den mit ihr kollidierenden, gleichfalls verfassungsrechtlich geschützten Werten nicht schlechthin Vorrang zu. Auch ohne Vorbehalt gewährleistete Freiheitsrechte müssen im Rahmen gemeinschaftsgebundener Verantwortung gesehen werden. Die durch die Rücksichtnahme auf kollidierende Verfassungswerte notwendig werdende Grenzziehung oder Inhaltsbestimmung kann nicht generell, sondern nur im Einzelfall durch Güterabwägung vorgenommen werden. Dabei muß die Abwägung den Wertprinzipien der Verfas-

164 W. Höfling, Grundrechtstatbestand - Grundrechtsschranken - Grundrechtsschrankenschranken, Jura 1994, S. 171. Alexy bezeichnet diese Abwägung als "Spiel von Grund und Gegengrund", Theorie der Grundrechte, 1986, S. 290. 165 W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1974), S. 108 ff., der plastisch einen "vorgegebenen 'natürlichen' Wissenschafts- und Forschungsbegriff' zugrundelegt; Ε. H. Riedel, Gentechnologie und Embryonenschutz als Verfassungs- und Regelungsproblem, EuGRZ 1986, S. 472; H. Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation - Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, JZ 1986, S. 255, 256; ebenso schon BVerfGE 47, 327 (368 ff.), 166 BVerfGE 47, 327 (369).

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2. Kap. : Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

sung, insbesondere der Bedeutung der miteinander kollidierenden Grundrechte, und dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unter der Wahrung der Einheit des Grundgesetzes Rechnung tragen."167 An dieser für das Abwägungsmodell zentralen Schnittstelle zwischen grundrechtsdogmatischer Prämisse und konkreter Anwendung auf den Einzelfall will ein Teil der herrschenden Meinung eine wesentliche Modifizierung vornehmen. Bei Forschung am Menschen soll sich das Verhältnis von grundsätzlicher Freiheit und verfassungsrechtlich begründungsbedürftiger Beschränkung umkehren: Dort, wo in die körperliche Integrität des Menschen eingegriffen wird, bedarf der Wissenschaftler, anders als in allen anderen Bereichen, eines besonderen Rechtfertigungsgrundes für sein Handeln.168 Im Ergebnis wird hiermit nicht der Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG begrenzt, sondern die Abwägung prima facie zulasten der Forschungsfreiheit determiniert. Der Vorzug dieses von einem weiten Normbereich ausgehenden Abwägungsmodells, in dem der verfassungsrechtliche Konflikt auf der Schrankenebene zu bewältigen ist, wird vor allem in der Konzentration auf die Einzelfallentscheidung gesehen, der nach den eben zitierten Maßstäben zu lösen ist. 169 Auch die sich permanent und immer schneller verändernden Gefährdungen in den und durch die modernen Naturwissenschaften können so berücksichtigt und in Abwägimg mit ihnen entgegenstehenden (durch die Verfassung hervorgehobenen) Rechtsgütern zur Geltung gebracht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in dem Beschluß zu § 6 hess. UnivG die Bereiche naturwissenschaftlicher Forschung und die hierdurch betroffenen Rechtsgüter benannt und hervorgehoben, daß der Wissenschaftsfreiheit in diesem Spannungsverhältnis nur nach einer Entscheidung des Einzelfalls der Vorrang so weit eingeräumt werden kann, daß auch die entgegenstehenden, mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgüter angemessen zur Geltung kommen.170

167 BVerfGE 47, 327 (369 f.). Diese Dogmatik vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte wurde vom BVerfG in der Kriegsdienstverweigerungsentscheidung entwickelt (E 28, 243 [261]) und seitdem in etwas unterschiedlichen Formulierungen der Rechtsprechung zur Einschränkbarkeit vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte zugrundegelegt; so in E 30, 173 (193); 32, 98 (108); 33, 23 (29); 49, 25 (56). 168 H. Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation - Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, JZ 1986, S. 256; A. Eser, Das Human-Experiment, GS H. Schröder, 1978, S. 191 ff. (207). 169 So für die Dogmatik vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte im allgemeinen R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 107 ff.; W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987; für die Wissenschaftsfreiheit im besonderen R. Dreier, Forschungsbegrenzung als verfassungsrechtliches Problem, DVB1. 1980, S. 474. 170 BVerfGE 47, 327 (369 f.) - § 6 HUG.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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Die Vorteile dieser Auffassung, die davon ausgeht, daß sich Lebensbereich und Normbereich decken, offenbart andererseits in besonders eindringlicher Weise das Dilemma, in dem sich die gegenwärtig herrschende Grundrechtsdogmatik befindet. Vielleicht etwas überspitzt, aber im Kern zutreffend hat Wahl die Vorstellung als "nicht nachvollziehbar" kritisiert, "daß das Grundgesetz eine Ansammlung von über 100 oder 150 Verfassungsgütern ist, die in zahllosen Kollisionen zu einander stehen, über die dann nicht mehr zu sagen wäre, als daß sie gegeneinander abzuwägen sind."171 Die Folge wäre dann in der Tat, daß die Verfassung keinen rational aufklärbaren Gehalt, kein Entscheidungsprogramm mehr enthielte und damit "praktisch normativ leer" wäre. 172 Hinter dieser Kritik steht die Skepsis gegenüber der Überzeugung, daß erst die Abwägung zu einer rationalen Auflösung von Grundrechtskonflikten führen könne;173 ihr wird entgegengehalten, im Einzelfall werde eine Begrenzung grundrechtlicher Freiheit von dem betroffenen Grundrechtsträger eher akzeptiert, wenn diese mit den entgegenstehenden und nach erfolgter Abwägung überwiegenden Rechten Dritter oder der Allgemeinheit begründet und nicht die Betroffenheit des Normbereichs von vornherein abgelehnt werde. 174 Läßt man sich auf diesen, für die Bewältigung von Grundrechtskonflikten wichtigen Gesichtspunkt ein, dann bleibt für die Wissenschaftsfreiheit als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht zu fragen, ob ein solch weites Normbereichsverständnis in der Lage ist, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. "Vorbehaltlos statuierte Grundrechte gewähren, nimmt man sie wörtlich, zuviel." 175 Alexy hat hiermit die Probleme angedeutet, die sich aus einem weiten Normbereichsverständnis vor allem für Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt ergeben.176 Vor einer Abwägung etwa zwischen der Forschungsfreiheit und durch sie gefährdeter Rechtsgütern ist nämlich zu entscheiden, ob es sich hierbei um ein Rechtsgut mit Verfassungsrang handelt. Faßt man die konkreten Anwendungsfälle zusammen, auf die sich die oben dargestellten Auffassungen beziehen, dann stehen die Gefahren modemer Genforschung, der Embryonenforschung, 177 aber auch immer wieder Forschung, deren Methode auf der Erkenntnisgewinnung durch Tierversuche beruht, im Vordergrund.

171 172 173

237 f.

174

R. Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, 1987, S. 25. R. Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, 1987, S. 25. So etwa H.-H. Trute, Forschung, S. 144 f.; T. Dickert, Naturwissenschaften, S.

W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 181. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 112. 176 Hierzu R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 292 und im folgenden vor allem seine Entgegnung. 177 C. Flämig, Die genetische Manipulation des Menschen, 1985; E. Benda, Humangenetik und Recht - Eine Zwischenbilanz, NJW 1985, S. 1730 ff.; H. Hofmann, Bio175

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Die eben nachgezeichnete Kontroverse um das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als weiten Normbereich soll im folgenden anhand der Frage erprobt werden, ob die Wissenschaftsfreiheit zugunsten von Belangen des Tierschutzes eingeschränkt werden kann. In grundrechtsdogmatischer Hinsicht ist dieses Beispiel interessant, weil sich der Tierschutz als Rechtsgüterschutz im Hinblick auf seinen Verfassungsrang zumindest in einer kritischen Situation befindet. Insofern unterscheidet er sich von den unbestritten mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern des Menschen, die durch die Gen- bzw. Embryonenforschung gefährdet werden können und damit andere, auch grundrechtsdogmatische Probleme aufwerfen. 178 bb) Die Einschränkbarkeit von Art. 5 Abs. 3 GG zugunsten des Tierschutzes als Anwendungsfall Das Tierschutzgesetz reglementiert Tierversuche zu Forschungs- und Lehrzwecken bis hin zur Beschränkung der freien Methodenwahl.179 Dem Verständnis weiter Normbereiche vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte folgend liegt demnach ein Eingriff in Art. 5 Abs. 3 GG vor, der nur zur Verwirk-

technik, Gentherapie, Genmanipulation - Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, JZ 1986, S. 253 ff.; C. Enders, Die Menschenwürde und ihr Schutz vor gentechnologischer Gefährdung, EuGRZ 1986, S. 241 ff.; ders., Probleme der Gentechnologie in grundrechtsdogmatischer Sicht, 1988, S. 157 ff.; Ε. H. Riedel, Gentechnologie und Embryonenschutz als Verfassungs- und Rechtsproblem, EuGRZ 1986, S. 469 ff.; zur pränatalen Humanforschung B. Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung, 1993, S. 293 ff. 178 Die im weiteren zu verfolgenden grundrechtsdogmatischen Fragen am Beispiel des Tierschutzes dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß nirgends sonst die Ambivalenz wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Risikogesellschaft als gesellschaftliches und als Grundrechtsproblem so offenkundig wird, wie in dem Konflikt zwischen der Wissenschaftsfreiheit und der Menschenwürde. Schon in tatsächlicher Hinsicht liegen die Behauptungen, Forschung sei unabdingbar, um ein menschenwürdiges Leben weiterhin zu gewährleisten oder erst zu ermöglichen, und Forschung vor allem am Menschen beeinträchtige dessen Würde, denkbar eng beieinander. Die dogmatische Bewältigung durch Abwägung liegt deshalb sehr nahe. Sie wird für diesen Problembereich letztlich immer das Mittel sein, um akzeptable, konsensstiftende Lösungen zu finden. Die Kosten, die auf dem von der herrschenden Grundrechtsdogmatik eingeschlagenen Weg entstehen, sind jedoch auf beiden Seiten zu hoch. Die Menschenwürde soll einerseits unantastbar sein, andererseits wird ihre effektive Garantie der Abwägung mit entgegenstehenden Rechten und damit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ausgesetzt. Bezeichnet hierfür ist der dann gewählte Ausweg, Art. 1 Abs. 1 GG zunehmend als Grundrecht "in Verbindung mit" zu begreifen und so die Möglichkeit der Abwägung zu eröffnen. Diese knappe und insofern möglicherweise unzureichende Bemerkung sollte deutlich machen, daß der Konflikt zwischen Menschenwürde und Wissenschaftsfreiheit im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiter verfolgt werden kann. Er würde eine Auseinandersetzung mit dem Normbereich von Art. 1 Abs. 1 GG verlangen, die hier nicht leistbar ist. 179 G. Frankenberg, Tierschutz oder Wissenschaftsfreiheit?, KJ 1994, S. 431.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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lichung kollidierenden Verfassungsrechts zu rechtfertigen ist. Ob bzw. mit welcher Begründimg dem Tierschutz Verfassungsrang zukommt, ist heftig umstritten. Die Kontroverse um das Verhältnis von Wissenschaftsfreiheit und Tierschutz, die mit einer schon bemerkenswerten Leidenschaft geführt wird, 180 konzentriert sich deshalb auch weniger auf Fragen konkreter Abwägung, sondern auf Begründungsversuche, die dazu dienen sollen, Tierschutz verfassungskräftig zu verankern. Ein wesentlicher Argumentationsstrang begründet den Verfassungsrang des Tierschutzes mit der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gemäß Art. 74 Nr. 20 GG. 181 Dieser auch vom Bundesverfassungsgericht 182 vorgenommene Rückschluß von einer Kompetenzzuweisung auf eine materiellrechtliche Ermächtigung zur Einschränkung vorbehaltlos garantierter Grundrechte verkennt jedoch, daß es sich bei Art. 74 Nr. 20 GG um eine Aufgabenzuweisung zwischen Bund und Ländern handelt, die die föderalistische Struktur der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck bringt. Eher zurückhaltende Stimmen in der Literatur geben deshalb zu bedenken, daß Kompetenzzuweisungen nur ausnahmsweise materiell-rechtliche Folgen haben können, wenn der Verfassunggeber bzw. verfassungsändernde Gesetzgeber davon ausging, die betreffende Kompetenznorm könne nur bei gleichzeitiger Einschränkung eines Grundrechts verwirklicht werden oder den Gesetzgeber zu einem bestimmten Handeln verpflichten. 183 In der Tat enthalten verschiedene Kompetenznormen ergänzende Wertungen (ζ. B. Erzeugung und Nutzung der Kernenergie gem. Art. 74 Nr. I I a GG; Förderung der wissenschaftlichen Forschung gem. Art. 74 Nr. 13; Tierschutz)', hierdurch wird jedoch der Auftrag des 180 Vgl. hierzu die Illustration von G. Frankenberg, Tierschutz oder Wissenschaftsfreiheit?, KJ 1994, S. 421 f. 181 H.-G. Kluge, Vorbehaltlose Grundrechte am Beispiel des Schächtens, ZRP 1992, S. 144; K. Brandhuber, Das neue Tierschutzgesetz - ein grundlegender Fortschritt für den Tierschutz?, NJW 1991, S. 728; differenzierend C. Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1971), S. 171. 182 BVerfGE 28, 243 (256 ff.) u. 69, 1 (21 ff.) - Verfassungsrechtlicher Rang der Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr aus Art. 12a, 73 Nr. 1, 87a, 115b GG; diese Auslegung war auch innerhalb des Gerichts umstritten; die Richter Mahrenholz und Böckenförde haben in ihrer abweichenden Meinung (E 69, 1 [59 f.]) auf die Gefahr hingewiesen, daß mit der Anerkennung von Kompetenznormen als Grundrechtsbegrenzungen ein breites und unbestimmtes Arsenal möglicher Grundrechtsbeschränkungen geschaffen wird. 183 B. Pieroth, Materiale Rechtsfolgen grundgesetzlicher Organisations- und Kompetenznormen, AöR 1989, S. 422, 447; C. Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1971), S. 171; noch zurückhaltender H.-J. Papier, Genehmigung von Tierversuchen, NuR 1991, S. 164; G. Frankenberg, Tierschutz oder Wissenschaftsfreiheit?, KJ 1994, S. 436 ff. nimmt dies unter Berufung auf Art. 74 Nr. 13 GG an; für Art. 74 Nr. 20 GG wird dies i. E. durchweg abgelehnt.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

einfachen Gesetzgebers konkretisiert und ggf. begrenzt, die Kompetenznorm selbst wird so nicht zum Verfassungsgut. 184 Hiervon zu unterscheidende Auffassungen begründen den Verfassungsrang des Tierschutzes über dessen Grundrechtsbezug, der dann Art. 5 Abs. 3 GG beschränken könne. Vom positiven Befund, der Bedeutung und Funktion der Grundrechte am weitesten entfernt ist die hierzu vertretene Ansicht, Tiere selbst seien mit Rechten ausgestattet und diesen komme als "Rechte anderer" i. S. von Art. 2 Abs. 1 GG Verfassungsrang zu. 185 Grundrechte sind Rechte der Menschen, und nur als solche können sie andere Grundrechte begrenzen. Diese Einsicht berücksichtigen jene Auffassungen, die Verfassungsrang für Tiere "über den grundrechtsfähigen Menschen als Mittler" 186 begründen. Sie unterscheiden sich dogmatisch insofern, als einerseits entgegenstehende Grundrechte (Menschenwürde, Recht auf körperliche Unversehrtheit), andererseits Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG ("Sittengesetz" bzw. "Rechte anderer") als Ausgangspunkt für eine Abwägung zwischen Tierschutz und Wissenschaftsfreiheit zugrundegelegt werden. Auch diese Auffassungen können nicht überzeugen. Die Tatsache, daß Tiere (sinnlos) gequält bzw. den menschlichen Bedürfnissen in einer Weise nutzbar gemacht werden, an denen auch das Tierschutzgesetz keinen Anstoß nimmt, beeinträchtigt sicher das Wohlbefinden mancher Menschen. Dies allein kann jedoch nicht genügen, um das Recht auf körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG als betroffen anzusehen. Körperliche Unversehrtheit als grundrechtlich geschütztes Gut darf nach wohl einhelliger Auffasssung zwar nicht zu eng verstanden werden und umfaßt demnach die biologisch-physiologische Gesundheit im weiten Sinne.187 Außerhalb der Tierschutzproblematik wird jedoch hervorgehoben, daß hierzu nicht das soziale Wohlbefinden gehöre, weil sonst nahezu jede staatliche Maßnahme

Vgl. aber jüngst die Überlegungen von M. Jestaedt, Zuständigkeitsüberschießende Gehalte bundesstaatlicher Kompetenzvorschriften - Plädoyer für eine allgemeine Normgehaltslehre, in: Aulehner u.a. (Hrsg.), Föderalismus - Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, 1997, S. 331, der eine strikte Trennung zwischen (bloßer) Kompetenznorm und (grundrechtsbegrenzender) Verfassungsbestimmung mit der Begründung ablehnt, der Verfassunggeber sei bei der Bestimmung, welcher Gehalt einer Grundgesetznorm zukommt, "weder verfassungstheoretisch begründetem Typenzwang noch Zwang zu systemimmanenter Folgerichtigkeit unterworfen." 185 G. Müller, Das Tier im Verwaltungsrecht, 1975; E. v. Loeper/W. Reyer, ZRP 1984, S. 205; Κ. M. Meyer-Abich, Das Recht der Tiere, in: Händel (Hrsg.), Tierschutz Testfall unserer Menschlichkeit, 1991, S. 23 ff. 186 M. Kriele, Gesetzliche Regelung von Tierversuchen und Wissenschaftsfreiheit, in: Händel (Hrsg.), Tierschutz - Testfall unserer Menschlichkeit, 1991, S. 113 ff. m.w.N. 187 BVerfGE 56, 54 (73 f.).

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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(oder ihr Unterlassen) als Beeinträchtigung individueller Befindlichkeit des Betroffenen einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bedeuten würde. 188 Auch die Menschenwürde soll dem Tierschutz Verfassungsrang vermitteln. Ein "ethisch ausgerichteter Tierschutz i. S. einer Mitverantwortung des Menschen für das seiner Obhut anheimgegebene Lebewesen"189 sei Ausdruck der in Art. 1 Abs. 1 GG getroffenen Wertentscheidung und könne sich deshalb im Zuge von Abwägungen begrenzend auf die Berufs- oder Wissenschaftsfreiheit auswirken.190 Dieser Auffassung ist zunächst entgegenzuhalten, daß sich die Garantie der Menschenwürde auf Menschen und nicht auf bestimmte moralische Vorstellungen vom Menschen bezieht, die als Chiffre für ethische Standards benutzt werden und deren Herkunft im Dunkeln bleibt.191 Welchen darüber hinausgehenden Gehalt die Wertenscheidung in Art. 1 Abs. 1 GG haben soll, kann nicht deutlich werden, wenn Art. 1 Abs. 1 GG gleichzeitig betroffen und Raum für eine Abwägimg gegeben sein soll, obwohl jeder Eingriff in den Schutzbereich "verfassungswidrig, die Frage nach seiner ausnahmsweisen Legitimation falsch gestellt" ist.192 Die Gefahr, Menschenwürde "in kleiner Münze" 193 einzusetzen und deren Bedeutung so zu banalisieren, wird offenkundig. 194 Läßt sich die Gewährleistungsgarantie anderer Grundrechte nicht mobilisieren, sollen Tierversuche zum Zwecke der Forschung zumindest an den für alle Grundrechte geltenden immanenten Schranken gemessen werden können. Da auch das "Sittengesetz" zu diesen Grundrechtsvorbehalten gehöre, sei eine 188 C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 130. 189 BVerfGE 47, 376 (389). 190 P. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, 4. Aufl., 1992, Art. 1, Rn. 16; C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3 GG, Rn. 269. 191 Vgl. die schwer nachvollziehbare Konstruktion von Mädrich, die eine Analogie zu dem in der Völkerrechtslehre entwickelten Gedanken herstellt, wonach bei der Ausbeutung anderer Völker die eigene Menschenwürde des Ausbeuters verletzt werde, S. Mädrich, Forschungsfreiheit und Tierschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, 1988, S. 97 ff. Wie hier H.-G. Kluge, Vorbehaltlose Grundrechte am Beispiel des Schächtens, ZRP 1992, S. 144; G. Frankenberg, Tierschutz oder Wissenschaftsfreiheit?, KJ 1994, S. 434. 192 P. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GGK, 4. Aufl., 1992, Art. 1 Rn. 4; i. E. ähnlich Starck, der eine Abwägung erlaubt, wenn "die Menschenwürde des einzelnen nur durch Eingriff in die Menschenwürde des anderen geschützt werden kann", in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 28. 193 G. Dürig, in: M/D/Sch, Art. 1 Abs. 1, Rn. 29. 194 W. Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 1996, Art. 1 GG, Rn. 9, spricht im Zusammenhang mit der Unantastbarkeitsformel treffend von einem "Konkretisierungsdilemma".

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. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als rundrecht

Reglementierung von Tierversuchen zur Verwirklichung ethischer Mindeststandards verfassungsrechtlich gerechtfertigt. 195 Daß das Sittengesetz als allen Grundrechten immanente und nicht nur als ausdrückliche Schranke in Art. 2 Abs. 1 GG herangezogen wird, trägt der Erkenntnis Rechnung, daß für die Beschränkung anderer Grundrechte die Schrankentrias in Art. 2 Abs. 1 GG keine Bedeutung haben darf, 196 weil dann alle - auch die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte - faktisch unter einfachem Gesetzesvorbehalt stünden. Ihr grundrechtsdogmatischer Ertrag ist jedoch eher rhetorischer Natur. Letztlich führt hier wie dort ein die differenzierte Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten überwölbendes ethisches Minimum zu einer Abwägung, deren rationaler Gehalt sich auf die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips beschränkt. Es ist dann fast konsequent, das Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst mit Verfassungsrang auszustatten und auf die Notwendigkeit entgegenstehender Verfassungsgüter ganz zu verzichten.197 cc) Ergebnis Die hier referierten Begründungsversuche können durchweg nicht überzeugen. Tierschutz hat keinen Verfassungsrang. Dieses Ergebnis hat nicht zuletzt 195

M. Kriele, M. Kriele, Gesetzliche Regelung von Tierversuchen und Wissenschaftsfreiheit, in: Händel (Hrsg.), Tierschutz - Testfall unserer Menschlichkeit, 1991, S. 120; H.-G. Kluge, Vorbehaltlose Grundrechte am Beispiel des Schächtens, ZRP 1992, S.; H.-J. Papier, Genehmigung von Tierversuchen, NuR 1991, S. 164; mit Einschränkungen auch M. Kloepfer, Tierversuchsbeschränkungen und Verfassungsrecht, JZ 1986, S. 209 ff. 196 Für Art. 5 Abs. 3 GG hat das Bundesverfassungsgericht dies ausdrücklich bestätigt, BVerfGE 67, 213 (228). Zu der früher vertretenen Übertragung der Schrankentrias des "Muttergrundrechts" aus Art. 2 Abs. 1 GG auf die spezielleren "Tochtergrundrechte" v. Mangoldt/Klein, Art. 5, Anm. X 6; zur Kritik hieran G. Frankenberg, Tierschutz oder Wissenschaftsfreiheit?, KJ 1994, S. 434. 197 So ausdrücklich R. Dreier, Forschungsbegrenzung als verfassungsrechtliches Problem, DVB1. 1980, S. 473, zu dem Vorzug seiner Lösung: "Die Konsequenz ist, daß die Rechtsgüter, die durch Forschungsmaßnahmen gefährdet oder verletzt werden, nicht mehr als solche mit Verfassungsrang ausgewiesen zu werden brauchen, da der Gesichtspunkt des Verfassungsrangs für das grundrechtsbeschränkende Verhältnismäßigkeitsprinzip in Anspruch genommen wird." Dreier verkennt, daß die Funktion des Verhältnismäßigkeitsprinzips als "Schranken-Schranke" die Beschränkung von Eingriffen in Grundrechte und nicht die Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit selbst ist. Diesen auch von ihm eingeräumten Einwand stellt er zugunsten einer flexiblen Kollisionslösung zurück: „Je intensiver eine hoheitliche Maßnahme in den Schutzbereich der Forschungsfreiheit eingreift, desto größer muß das Gewicht der sie legitimierenden Gründe sein, wobei sich diese Gründe auch darauf stützen können, daß Forschungsmaßnahmen ihrerseits nicht unverhältnismäßig in andere Rechtsgüter eingreifen dürfen." Hiergegen zutr. M. Kloepfer, Tierversuchsbeschränkungen und Verfassungsrecht, JZ 1986, S. 211: "Das freiheitssichemde Übermaßverbot darf nicht zur Eingriffsmaximierung des Staates mißbraucht werden." Ebenso Grimm: Das Verhältnismäßigkeitsprinzip versagt hier seinen Dienst; D. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, 1991, S. 388.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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auch der verfassungsändernde Gesetzgeber im Zuge der durch die Wiedervereinigung veranlaßten Grundgesetzänderungen bestätigt. In den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat zur Aufnahme eines Staatsziels Umweltschutz in das Grundgesetz wird das Bemühen um eine Formulierung deutlich, die nicht den Schutz des einzelnen Tieres erfaßt. 198 Dies ist mit dem Passus "schützt (...) die natürlichen Lebensgrundlagen" in Art. 20a GG auch gelungen. Demnach wurde die Aufnahme eines besonderen Staatsziels Tierschutz kontrovers diskutiert und mit der Begründung abgelehnt, daß dem Tierschutz sonst durch Art. 20a GG Verfassungsrang verliehen werden würde. 199 Ein weites Normbereichsverständnis von Art. 5 Abs. 3 GG zugrundegelegt, das alle Formen und Bereiche wissenschaftlichen Handelns im Sinne eines Abwehrrechts erfaßt, kann deshalb zugunsten des Tierschutzes nicht eingeschränkt werden. Die einschlägigen Regelungen des Tierschutzgesetzes, die demnach einen Eingriff in Art. 5 Abs. 3 GG darstellen würden, wären verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. In grundrechtsdogmatischer Perspektive bestätigt das Beispiel des Tierschutzes auf eindringliche Weise Wahls Kritik am Verständnis weiter Normbereiche. Sie führen - jedenfalls bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt - unweigerlich dazu, daß sich die mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgüter in dem Maße erweitern, in dem die Normbereiche weit ausgelegt werden. Auch wenn dies keine theoretische Aussage und Alexy zuzugeben ist, daß er das weite Normbereichsverständnis als Konstruktionstheorie und nicht als ergebnisorientierte normative Theorie versteht,200 so läßt sich gleichwohl nicht verkennen, daß nicht nur der prima facie-Schutz expandiert,201 sondern das Abwägungsmodell bei vorbehaltlosen Grundrechten, will es sein Ziel erreichen und die von ihm selbst als solche postulierten Konflikte auflösen, diesem 198 BT-Drs. 12/6000, S. 68 ff. Zu Art. 20a GG vgl. auch R. Kleindiek, Die Bäume werden trotzdem nicht in den Himmel wachsen - Zum neuen Staatsziel Umweltschutz, in: Müller-Heidelberg u.a. (Hrsg.), Grundrechte-Report, 1997, S. 165 ff. 199 Dies wurde dann mehrheitlich abgelehnt. Die Befürworter eines Staatsziels Tierschutz hielten dies für erforderlich, "um in der Gesetzesanwendung und in der Rechtsprechung die erforderliche Abwägung mit anderen, auch verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern, etwa der Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, auch im Einzelfall zu erreichen. Sonst gäben die Gerichte von vornherein diesen anderen Rechtsgütern im Konfliktfall den Vorrang, was dem gehobenen Stellenwert des Tierschutzes nicht entspreche." (BT-Drs. 12/6000, S. 70) Die Gegner einer gesonderten Staatszielbestimmung gehen dagegen davon aus, dieser werde "am besten durch den einfachen Gesetzgeber gewährleistet. Das breit akzeptierte Tierschutzgesetz verfolge die konkreten Ziele des Tierschutzes in einer sachkundigen und sachgerechten Abwägung mit jeweils definierten anderen Rechtsgütem, zum Beispiel der Forschungsfreiheit." (a.a.O.). 200 Hierzu R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 279,294. 201 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 294.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

Schutz entgegenstehende Rechtsgüter mit Verfassungsrang ausstatten muß, um nicht die Bedeutung vorbehaltloser Grundrechte zu nivellieren oder das Spiel von "Grund und Gegengrund" nicht zum Ende bringen zu können. Stattdessen muß die Tatsache vorbehaltloser Grundrechtsgarantien einen stets zu beachtenden Ansatzpunkt der Grundrechtsdogmatik bilden. (Verfassungs-)Rechtsfolge eines schrankenlos gewährleisteten Grundrechts ist zwar nicht sein unbegrenzter Geltungsbereich und auch nicht eine in jedem Fall höhere Dignität gegenüber Grundrechten mit qualifiziertem oder einfachem Gesetzesvorbehalt.202 Der Unbegrenztheit einer Gewährleistung steht jedoch vor allem die sachliche Begrenztheit ihres Normbereichs entgegen.203 Das von Höfling zugunsten weiter Normbereiche angeführte Argument intellektueller Redlichkeit, Transparenz und Kontrollierbarkeit, das davon ausgeht, ein Betroffener werde die Beschränkung seiner grundrechtlichen Freiheit eher akzeptieren, wenn sein denkbar weitgehender Grundrechtsschutz nach erfolgter Abwägung mit entgegenstehenden Rechten anderer weichen muß, 204 erhält so tatsächlich eine umgekehrte Wirkung: Wem von der herrschenden Meinung ein vorbehaltloses Grundrecht als seine Freiheitsgarantie zugewiesen wird, dem wird man nur wenig Verständnis dafür abverlangen dürfen, daß es auf die präzise Bestimmung entgegenstehender Verfassungsrechte letztlich überhaupt nicht ankommt. Wenn hierzu das Bundesverfassungsgericht bemüht wird, um von der Konzeption "eines ethisch ausgerichteten Tierschutzes im Sinne der Mitverantwortung des Menschen für das seiner Obhut anheimgegegebene Lebewesen"205 auf den Verfassungsrang des Tierschutzes zu schließen,206 dann muß aus grundrechtsdogmatischer Sicht noch einmal darauf hingewiesen werden, daß das Gericht diesen Maßstab zugrunde gelegt hat, um die Reglementierung von Tierversuchen vor Art. 12 Abs. 1 GG zu rechtfertigen; es ging zwar um wissenschaftlich begründete Tierversuche, aber eben nicht um einen Eingriff in Art. 5 Abs. 3 GG. 207

202

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rn. 316. 203 F. Müller, Positivität der Grundrechte, 1990, S. 55. 204 W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 180 ff. Genau umgekehrt argumentiert J. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 311: Ein weites Normbereichsverständnis sei unredlich, weil es über Schranken entziehe, was es vorher durch den Tatbestand gewährt habe. 205 BVerfGE 48, 376 (389). 206 S. nur C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3, Rn. 269. 207 Vgl. hierzu bereits oben, S. 177 ff.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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Tierversuche sind, auch wenn die Fülle an verfassungsrechtlicher Literatur diesen Eindruck erwecken könnte, nicht das zentrale Problem moderner naturwissenschaftlicher Forschung. Die Versuche, ihre Beschränkung unter Hinweis auf den Tierschutz zu begründen, erweisen sich jedoch als Lehrstück, um die fehlende Stringenz herrschender Grundrechtsdogmatik zu verdeutlichen. Daß das Recht des Menschen seine Grenze am Recht anderer Menschen findet, 208 ist zwar in dieser Allgemeinheit zutreffend und findet seinen grundrechtlichen Niederschlag in Art. 2 Abs. 1 GG; wenn hieraus jedoch, auf welchem der oben skizzierten Wege auch immer, immanente Grundrechtsschranken konzipiert werden, die (vermeintliche) ethische Mindeststandards in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes transportieren, dann bleibt für eine Grundrechtsdogmatik, die ihre Plausibilität in den durch die Verfassung vorgegebenen Normen sucht, kein Raum. Angesichts der Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit als vorbehaltloses Grundrecht ist es nicht hinnehmbar, daß vermeintlich entgegenstehende Verfassungsgüter - fast schon strategisch - immer dort begründet werden, wo es opportun erscheint. Hinzu kommt ein spezifisches Problem, das mit den Besonderheiten des Prozesses wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung zusammenhängt. Der Vorgang der Abwägung benötigt in dem "Spiel von Grund und Gegengrund" 209 Kriterien relativer Prognosezugänglichkeit; zugunsten der Forschung hat sie aber nur Kriterien relativer Prognoseunzugänglichkeit zur Hand. Falls etwa die Forschung am Menschen nach einer Abwägung mit der Menschenwürde grundrechtlich geschützt sein soll, wenn es sich um besonders wichtige, für die menschliche Gesundheit insgesamt notwendige Erkenntnisse (etwa auf dem Gebiet der Krebsforschung) handelt, dann mag dies zutreffend sein; die Feststellung, daß dies so ist, kann jedoch erst am Ende des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses getroffen werden; die für die Abwägung ganz zentralen Prämissen können erst benannt werden, nachdem der Prozeß, über den die Abwägung erfolgt, zu wissenschaftlichen Erkenntnissen geführt hat. b) Begrenzung als Problem des Normbereichs Demgegenüber versucht ein enges Normbereichsverständnis, die Abwägung - soweit es möglich ist - zu umgehen und eröffnet dem Gesetzgeber hierdurch Regelungsmöglichkeiten, ohne diese verfassungsrechtlich rechtfertigen zu müssen. In diesem Ansatz liegt die Gefahr, Normbereiche - ohne letztlich 208 Im Zusammenhang mit der hier behandelten Problematik M. Kriele, Gesetzliche Regelung von Tierversuchen und Wissenschaftsfreiheit, S. 113 ff. 20 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 2 9 .

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. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als rundrecht

rational aufklärbare Gründe hierfür aufweisen zu können - vorschnell zu minimieren und es auf einen Grundrechtskonflikt gerade nicht "ankommen" zu lassen.210 Es wird deutlich, daß sich enge Normbereiche und ein Konfliktlösungsmodell der Abwägung nicht ausschließen, sondern ergänzen müssen: Die schiere Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips kann nicht die präzise Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten ersetzen; die bloße Normbereichspräzisierung wird nicht jeden Konflikt widerstreitender Verfassungsgüter verhindern können. Dem entsprechend sollen im folgenden die Ansätze zur Begrenzung des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG dargestellt und im Hinblick darauf kritisch überprüft werden, ob sie den Lebensbereich Wissenschaft und die durch die Realisierung der Wissenschaftsfreiheitsgarantie entstehenden Konflikte zutreffend erfassen. Im wesentlichen haben sich drei Begründungsansätze herausgebildet, die eine Begrenzung vor allem der Forschungsfreiheit bereits auf der Normbereichsebene vornehmen. Zum einen soll Forschung dann, wenn sie Rechte anderer beeinträchtigen kann, nicht von der Grundrechtsprivilegierung des Art. 5 Abs. 3 GG erfaßt sein. Alternativ hierzu wird vorgeschlagen, den Prozeß der Erkenntnisgewinnung in den experimentellen Naturwissenschaften in einen Werk- und einen Wirkbereich zu unterteilen und für den Normbereich des Art. 5 Abs. 3 GG dementsprechend zu differenzieren. Ergebnis neuerer Untersuchungen ist schließlich die Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit aufgrund einer allgemeinen Verantwortung des Wissenschaftlers. aa) Begrenzung des Forschungsprivilegs durch die allgemeine Rechtsordnung als immanente Nichtstörungsschranke Unter Heranziehung und Weiterentwicklung älterer Ansätze, die den Normbereich des Art. 5 Abs. 3 GG auf den geistigen Prozeß der Erkenntnisgewinnung beschränken,211 kommt Lerche zu dem Ergebnis, daß Forschung mit oder an fremden Rechtsgütern nicht vom Normbereich erfaßt sei: "Es kann doch aber nicht so sein, daß sich das Forschungsprivileg tatbestandlich auch auf die 210

Vgl. hierzu umfassend R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 278 ff. R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, WDStRL 4 (1928), S. 66; W. Α. E. Schmidt, Freiheit der Wissenschaft, 1929, S. 102; A. Röttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1968, S. 297 f.; ablehnend hierzu W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1974); als Begründungsansatz für eine Einschränkung des Normbereichs befürwortend K. Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Staat 30 (1991), S. 44 f., der auch darauf hinweist, daß ein nicht als Beratungsgrundlage dienender Entwurf zum Herrenchiemseer Entwurf des GG für "die Benutzung wissenschaftlicher Erfindungen und technischer Einrichtungen" einen Gesetzesvorbehalt vorsah (vgl. auch JöR 1 [1951], S. 89), wodurch die Überzeugung von einer geringeren Schutzwürdigkeit dieses Bereichs zum Ausdruck komme. 211

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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Wahl der materiellen Möglichkeiten und Handhabungen fremder Rechtsgüter bezieht, mit deren Potential irgendwelche Forschung betrieben werden soll. Ebensowenig wie es der Tatbestand der Kunstfreiheit etwa rechtfertigt, fremdes Eigentum zu künstlerischen Zwecken zu beanspruchen, ebensowenig kann es in den privilegierenden Tatbestand der Forschungsfreiheit fallen, die Substanz irgendwelcher sonstiger Rechtsgüter zu Forschungszwecken zu beanspruchen."212 Maßstab für die Reichweite des Normbereichs sei die spezifische wissenschaftliche Betätigimg erlaubten Verhaltens. Hierunter sei nicht die "überflüssige zusätzliche Erlaubnis des ohnehin schon Erlaubten" zu verstehen, denn Wissenschaft könne, ebenso wie Kunst, mit ihrem kritischen und der Wahrheit verpflichteten Anspruch von einer Anstößigkeit und Provokation sein, die spezifischen Schutzes bedürfe. 213 Aus diesem Befund, der deutliche Parallelen zur Kunstfreiheit sucht, folgert Lerche, daß Forschung, auch wenn sie nicht vom Normbereich des Art. 5 Abs. 3 GG erfaßt wird, gleichwohl nicht verboten, sondern lediglich nicht privilegiert ist und sich der Spielraum des Gesetzgebers dementsprechend erweitert. 214 bb) Begrenzung des Wirkbereichs der Wissenschaft Noch deutlicher an der überkommenen Normbereichsdogmatik zur Kunstfreiheit orientiert sich die Unterscheidung zwischen einem Werkbereich und dem Wirkbereich der Wissenschaftsfreiheit. Solange sich die Forschung oder Gewinnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die geeignet ist, mit anderen Rechtsgütern in Konflikt zu geraten, im privaten bzw. individual-persönlichen "Werkbereich" hält, sei die Wissenschaftsfreiheit grundsätzlich unbeschränkbar. Sobald wissenschaftliche Erkenntnisse oder bestimmte Forschungsergebnisse jedoch in konfliktträchtiger Weise angewandt, vermittelt oder verbreitet werden, erreiche der Normbereich die schrankenintensivere Zone des "Wirkbereichs" bzw. der sozialen Freiheitssphäre. 215 Wahl greift die Unterscheidung zwischen Werk- und Wirkbereich auf und gelangt zu einer BeP. Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, 1986, S. 91; in diesem Sinne auch D. Lorenz, Wissenschaft darf nicht alles! Zur Bedeutung der Rechte anderer als Grenze grundrechtlicher Gewährleistung, FS Lerche, 1993, S. 274 f.: "Werden hierbei Rechte von Mitbürgern auf Leben, Gesundheit oder Eigentum in Anspruch genommen, so bleibt für eine grundrechtliche Abwägung auf Verfassungsebene kein Raum. Der Forscher bewegt sich vielmehr außerhalb des Schutzbereichs der Wissenschaftsfreiheit", s. auch S. 277 am Beispiel von Gentechnik und Tierschutz; B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, 1995, Rn. 684 ff.; K. Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Staat 30 (1991), S. 44 ff., der deutlich die Konsequenzen für die Schrankenproblematik herausarbeitet. 213 B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, 1994, Rn. 686. 214 P. Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, 1986, S. 91. 215 R. Scholz, in: M/D/H/Sch, Grundgesetz, Art. 5 Abs. III, Rn. 186 f. 13 Kleindiek

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. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als rundrecht

reichsdogmatik, die die Begrenzung von Art. 5 Abs. 3 GG in drei Schritten ermöglicht. Als Kern der Gewährleistung einer freien Wissenschaft sei von der Garantie der Freiheit der Fragestellung und Methodenwahl auszugehen. Von dieser sei die Durchführung von Versuchen zu unterscheiden, die immer unter Inanspruchnahme von Gegenständen und Rechtsgütern vor sich gehe und für deren Inanspruchnahme die Wissenschaftsfreiheit deshalb nicht privilegiert sei. Insofern kommt Wahl aufgrund dieser Unterscheidung ebenfalls zu einer Nichtprivilegierung der (experimentellen) Wissenschaftsfreiheit gegenüber der allgemeinen Rechtsordnung. In einem dritten Schritt soll dann geprüft werden, ob der Prozeß experimenteller Erkenntnisgewinnung immittelbar mit der Fragestellung zusammenhängt, d. h. auf diese zurückwirkt; 216 ist dies zu bejahen, dann ist der Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG betroffen und es bedarf einer Konfliktlösung, die dem dogmatischen Regime vorbehaltloser Grundrechte folgt. 217 cc) Begrenzung durch die allgemeine Verantwortung des Wissenschaftlers Den bisher dargestellten Konzepten zur Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit ist eine Reduktion des Normbereichs gemeinsam, der zur Folge hat, daß bestimmte wissenschaftliche Handlungsvarianten nicht durch Art. 5 Abs. 3 GG privilegiert sind, so daß es im Falle einer Reglementierung (durch den Gesetzgeber) einer Kollisionslösung auf der Rechtfertigungsebene nicht bedarf. Hiervon abweichend ist in jüngeren Untersuchungen der Frage nachgegangen worden, inwiefern die Verantwortung des Wissenschaftlers und der Wissenschaft für das gegenständlich an sich nicht begrenzte Handeln auf den Normbereich einwirkt. 218 Die Beschäftigung mit der Verantwortung der Wissenschaft als Verfassungsrechtsproblem erscheint nach einem Blick in die Nachbarwissenschaften unausweichlich. Vor allem Philosophie und Soziologie haben den Befund, daß sich das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft unter den Bedingungen der Risikogesellschaft, im Vergleich mit der Epoche der Industrialisierung, noch schneller und grundlegender verändert, als ein Problem der Wissenschaftsethik rezipiert. Hans Jonas' Prinzip Verantwortung ist der hierfür grundlegende "Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation" und hat

216

So T. Dickert, Naturwissenschaften, 1991, S. 253, zu der Darstellung der Konzeption Wahls. 217 R. Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, 1987, S. 33 f. 218 T. Dickert, Naturwissenschaften, 1991; B. Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung, 1993.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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einen nunmehr kaum noch überschaubaren wissenschaftlichen Diskurs ausgelöst.219 Auch die Verantwortung des Wissenschaftlers fiir sein Handeln wird als verfassungsrechtlich wirksame Pflicht und somit als Begrenzung von Art. 5 Abs. 3 GG begründet. Als negativer Bestandteil des Normbereichs begriffen soll so der verfassungsrechtliche Wissenschaftsbegriff "ethisch limitiert" sein.220 Als Folge dieser normbereichsimmanenten Verantwortung seien "alle schlechthin menschenverachtenden Handlungen" von der Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG ausgeschlossen.221 Hierzu gehören nicht nur gezielte Manipulationen am Menschenbild, sondern auch eine dem ethisch-rechtlichen Minimalkonsens verpflichtete Verantwortung für die "nichtmenschliche Umwelt". Dies eröffne etwa die gesetzliche Reglementierung von Tierversuchen. Schließlich sei auch das Mitbedenken der Folgen wissenschaftlichen Handelns und der wissenschaftliche Diskurs Bestandteil der Forscherverantwortlichkeit, so daß eine völlige Verweigerung wissenschaftlicher Kommunikationsprozesse zum Verlust der Privilegierung durch Art. 5 Abs. 3 GG führe. 222 Im Gegensatz zu der dogmatischen Einordnimg als negatives Normbereichsmerkmal soll sich Verantwortung nach anderer Ansicht als Begleitpflicht der Wissenschaftsfreiheit verwirklichen. 223 Diese Lösung, mit der Art. 5 Abs. 3 GG als objektivrechtliche Verfahrensgarantie konkretisiert werden soll, um die "Allgemeinbedingungen der Grundrechtswahrnehmung" rechtlich zu vermitteln, 224 soll zu Beratungspflichten, der Einrichtung von Ethikkommissionen und der Teilnahme an Informations· und Diskussionsgremien führen. 225 dd) Ergebnis Wissenschaftliche Erkenntnis in der Risikogesellschaft wirft für die Grundrechtsgarantie der Wissenschaftsfreiheit neue Fragen auf. Grundrechtsdogma219 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1984, zum Fortschritt von Wissenschaft und Technik als ethisches Problem vor allem S. 289 ff.; vgl. auch H. Lenk, Wissenschaft und Ethik, 1991, mit einer umfangreichen Bibliographie. 220 T. Dickert, Naturwissenschaften, 1991, S. 407. 221 T. Dickert, a.a.O., S. 408. 222 T. Dickert, a.a.O., S. 409 f. 223 B. Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung, 1993; ders., Verantwortung der Wissenschaft als Rechtsproblem, NVwZ 1993, S. 628. 224 B. Losch, Verantwortung der Wissenschaft als Rechtsproblem, NVwZ 1993, S. 628 (Fn. 32). 225 B. Losch, Verantwortung der Wissenschaft als Rechtsproblem, NVwZ 1993, S. 629.

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2. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem

tisch ist hiermit auch die Frage gestellt, ob Wissenschaft, die fremde Rechtsgüter beeinträchtigen kann, durch Art. 5 Abs. 3 GG (oder andere Grundrechte) geschützt ist. Weite Normbereiche, nach deren Selbstverständnis Freiheitsbegrenzungen an der Kollision mit fremden Rechtsgütern zu messen sind, sehen die Lösung in einer Abwägung zwischen der Wissenschaftsfreiheit und entgegenstehenden Rechtsgütern. Die vorgestellten Ansätze zur Begrenzung des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG weisen dagegen trotz der Unterschiede im einzelnen die Gemeinsamkeit auf, daß sie einen bestimmten Ausschnitt des Lebensbereichs Wissenschaft nicht durch Art. 5 Abs. 3 GG privilegieren wollen; dessen Freiheitsgarantie soll sich nicht entfalten, wenn wissenschaftliche Handlungen durch die Anwendung ihrer Mittel bzw. die Wahl ihres Gegenstandes auf fremde Rechtsgüter übergreifen. Das Verständnis eines begrenzten Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG bestätigt insofern die eingangs formulierte These, daß Kollisionen zwischen Wissenschaftsfreiheit und durch sie gefährdete Rechtsgüter von vornherein verhindert werden sollen. Die Privilegierung durch Grundrechtsschutz von dem Rechtsgüterschutz für Dritte abhängig zu machen, wirft das Problem der immanenten Nichtstörungsschranke als Grenze grundrechtlicher Freiheit auf. 226 Diese grundrechtsdogmatische Figur, die am Beispiel der Kunstfreiheit immer wieder konkretisiert wird und die das Bundesverfassungsgericht etwa im Nägeli-Beschluß zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat,227 sollte auf den ersten Blick, trotz der Unterschiede zwischen Wissenschaft und Kunst, auch für die Wissenschaftsfreiheit gelten können. Dies erfordert dann jedoch umso mehr eine präzise Bestimmung des Normbereichs, die so nicht nur die Begrenzung von Freiheit, sondern ebenso die Herausarbeitung des spezifisch Erlaubten und Geschützten im Blick haben muß. So wird das Verständnis enger Normbereiche plausibel und kann sich dem gewichtigen Gegenargument stellen, Freiheitsausübimg verliere ihren grundrechtlich geschützten Charakter auch nicht dadurch, daß zugleich die Freiheitsausübung anderer beeinträchtigt wird. 228 Die Normbereichsbestimmung muß mit der Bestimmung des Gegenstandes beginnen, auf den sich die Norm bezieht. Dem muß die Präzisierung dessen folgen, was der Normbereich als Ausschnitt der Lebenswirklichkeit erfaßt; normbereichsimmanente 226

H.-H. Trute, Forschung, S. 149, 151; C. Enders, Probleme der Gentechnologie in grundrechtsdogmatischer Sicht, in: MellinghofïïTrute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 195 ff. 227 BVerfG NJW 1984, S. 1294: Die Reichweite der vorbehaltlosen Kunstfreiheit erstreckt sich von vornherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung. Die Parallelen zu F. Müller, Positivität der Grundrechte, 1990, S. 113 ff., wo die Kunstfreiheit als Anwendungsfall einer praktischen Grundrechtsdogmatik exemplifiziert wird, sind unübersehbar. 228 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 280 ff.

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

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Nichtstörangsschranken kommen hier zur Geltung. Naturwissenschaftliche Forschung, die Konflikte am ehesten auszulösen vermag und auf die sich Lösungsvorschläge deshalb zu recht beziehen, wurde in ihren strukturellen Eigenschaften am Beispiel der anorganischen Chemie, der Atomenergie und der Gentechnik nachgezeichnet. Das erste Kapitel hat ergeben, daß moderne Naturwissenschaft, etwa in der Gen- oder Atomenergieforschung, Forschung mit oder an fremden Rechtsgütern ist, weil sich der Prozeß der Erkenntnisgewinnung selbst nicht als konsequenzentlastetes Probehandeln begreifen läßt. 229 Riskante wissenschaftliche Handlungen in diesem Sinne zeichnen sich dadurch aus, daß sie durch die Wahl ihres Gegenstandes und ihrer Methode bzw. die Anwendung ihrer Mittel auf fremde Rechtsgüter übergreifen. Gefährdungen für Mensch und Umwelt entstehen nicht erst dadurch, daß die Grundlagen einer bestimmten Technik unter ungefährlichen Bedingungen wissenschaftlich entwickelt und erprobt wird und diese danach unter Hinnahme eines Restrisikos angewendet wird. Die Gefährdung fremder Rechtsgüter bereits durch den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß hat sich vielmehr als Strukturprinzip naturwissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft erwiesen.230 Das Problem verschärft sich, erprobt man den Lösungsansatz für den Bereich der Forschung am Menschen. Lerche wäre uneingeschränkt zuzustimmen, wenn das von ihm zugrundegelegte Argument der Kontrolle von Kontrollierbarem und die Vermeidung von Unkontrollierbarem 231 zu einem für die Forschung am Menschen isoliert bewertungsfähigem Kriterium würde, sich also sagen ließe, daß etwa die Gentechnik dann, wenn sie den Menschen selbst zum Gegenstand hat, nicht durch Art. 5 Abs. 3 GG privilegiert sein darf. 232 Zum einen ist, um bei dem Beispiel der Gentechnik zu bleiben, Forschung am Menschen kein (uneingeschränkt) gültiges Kriterium für die Zuordnimg besonderer Gefährdungslagen; zum anderen zeichnet sich die Wissenschaft in der Risikogesellschaft gerade dadurch aus, daß sie Chance und Bedrohung zugleich darstellen kann und daß gegenwärtige Bedrohungen unter Umständen nur durch weitere Forschungen bewältigt werden können.233

229

Vgl. hierzu oben 1. Kap., S. 121 ff. In diesem Sinne auch P. Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, 1986, S. 93. 231 P. Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, 1986, S. 95. 232 Lerche deutet diese Differenzierung an, indem er für den Bereich der "grünen Gentechnik" andere Maßstäbe zugrunde legen will, P. Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, 1986, S. 95. 233 U. Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 265 ff.; B.-O. Bryde, Aufgabe und Aufbau der Universität, 1991, S. 4: Wissenschaft muß gegen Wissenschaft in Stellung gebracht werden. Auch die Forderung von Moratorien muß diesen Kontext berücksichtigen. 230

198

. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als rundrecht

Diese Einwände muß auch die Unterscheidung zwischen einem Werkbereich und einem Wirkbereich der Wissenschaftsfreiheit gegen sich gelten lassen. Auch diese geht zutreffend von der Tatsache aus, daß moderne Naturwissenschaft experimentelle Wissenschaft ist; die Unterscheidung zwischen Werkund Wirkbereich hat ihre Rechtfertigung bei wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen unter experimentellen Realbedingungen, die keine Gefährdung darstellen. In dem Maße, in dem die Umwelt selbst zum Labor wird, 234 verflüchtigt sich jedoch die Möglichkeit, zwischen einem wissenschaftlichen Werk und seiner Wirkung zu unterscheiden. Diese Erkenntnis hat die Wissenschaftssoziologie zwar erst erbracht, nachdem die Unterscheidung als verfassungsrechtlich relevante Normbereichsbestimmung entwickelt wurde, 235 aber auch ungeachtet dieser (neueren) wissenschaftssoziologischen Erkenntnisse, die auf die spezifische Gefährlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse in der Risikogesellschaft adäquat reagieren, hätte berücksichtigt werden müssen, daß auch die bereits sehr viel früher einsetzende Verbindung von Wissenschaft und Technik dazu führt, daß mit der Unterscheidung zwischen Werk- und Wirkbereich ein einheitlicher wissenschaftlicher Kommunikationsprozeß durchtrennt wird. 236 Im Ergebnis läßt sich demnach feststellen, daß die Unterscheidung zwischen Werk- und Wirkbereich dort, wo sie sinnvoll wäre, nicht mehr möglich ist, weil die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis über sie hinweggegangen sind; dort, wo sie noch möglich ist, würde sie die Wissenschaftsfreiheit grundlos verkürzen. Wenn es nicht gelingt, den Normbereich als Ausschnitt des Lebensbereichs durch Herausnahme bestimmter wissenschaftlicher Handlungsformen zu begrenzen, dann liegt es nahe, diese Begrenzung an Maßstäben zu konkretisieren, die außerhalb des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses liegen, sich aber auf diesen auswirken. Ein bisher entwickelter Maßstab ist die Verantwortung des Wissenschaftlers. Dieses Konzept ist nicht neu; bereits in der Auseinandersetzung um § 6 HUG ging es im wesentlichen um die Frage, inwiefern Verantwortung - das Mitbedenken der Folgen - als verfassungsrechtlich wirksame Pflicht begründbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat § 6 HUG seinerzeit verfassungskonform ausgelegt und sich für das Abwägungsmodell als Lösungsweg entschieden.237 Dickert plädiert demgegenüber für eine präzise Normbereichsbestimmung, die es ermöglichen soll, unverantwortliches Han234

Hierzu oben, 1. Kap., S. 121 ff. Grundlegend W. Krohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, Soziale Welt 40 (1989), S. 438 ff. 236 K. Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Staat 30 (1991), S. 33; H.-H. Trute, Forschung, S. 145 f. 237 BVerfGE 47, 327 (369 f.); vgl. auch oben, S. 184 ff., 194 f. 235

IV. Die verfassungsrechtliche Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG

199

dein von vornherein aus dem Normbereich auszuschließen.238 Da Verantwortung auch als negatives Normbereichsmerkmal die konkreten wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse nur mittelbar betrifft, also der Normbereich selbst um eine die grundrechtliche Freiheit determinierende Ebene erweitert wird, ist es kaum zu erwarten, daß diese Lösung zu anderen Ergebnissen fuhrt, als die Abwägung entgegenstehender (Verfassungs)Rechtsgüter. 239 Bedeutender sind jedoch die grundrechtsdogmatischen Zweifel an den bisher entwickelten Verantwortungslösungen. Um die Wirkung der Verantwortung auch als negatives Normbereichsmerkmal zu realisieren, sind letztlich doch positive Handlungspflichten zur Verantwortungswahrnehmung zu benennen, schon um für den einzelnen Wissenschaftler zu präzisieren, unter welchen Voraussetzungen sein Verhalten den Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG verläßt. Demnach erscheint es aber mehr als schwierig, dies alles in einem - auch von Dickert pointiert vertretenen 240 - vorrangig abwehrrechtlichen Konzept unterzubringen. Besonders deutlich wird dieses Dilemma bei Losch, weil die Handlungspflichten weder auf der Normbereichs- noch auf der Schrankenebene zu einer verbindlichen Rechtspflicht führen dürfen, "die auf die Wahrnehmung einer besonderen Wissenschaftsverantwortung gerichtet ist"241 Die verfassungsrechtliche Wirkung dieser Pflichten bleibt deshalb unklar; dem einzelnen Wissenschaftler kann nicht die Freiheit von jeglicher Ingerenz garantiert und zugleich der Vorbehalt einer Genehmigung seiner Forschungen durch eine Ethikkommission auferlegt werden. Zurückzuführen ist dies darauf, daß die Organisation von Handlungspflichten eine sehr viel stärkere Ablösung vom abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnis voraussetzt. Verantwortung als autonome Selbstbeschränkung der Wissenschaft 242 scheint nur unter diesen Bedingungen zu verwirklichen zu sein. Schließlich enthält Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG einen besonderen Verantwortungsvorbehalt, der für die Wahrnehmimg der grundrechtlich geschützten Lehrfreiheit Verfassungstreue verlangt. In den hier kritisierten Untersuchungen werden die berechtigten Zweifel, ob Art. 5 Abs. 3

238 T. Dickert, Naturwissenschaften, 1991, zur präzisen Normbereichsbestimmmung s. S. 231 ff, zur Verwirklichung der Verantwortungspflicht in Dickerts eigenem Konzept s. S. 401. 239 In diesem Sinne auch H.-H. Trute, Forschung, S. 159. 240 T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 152 f. 241 B. Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung, 1993; ders., Verantwortung der Wissenschaft als Rechtsproblem, NVwZ 1993, S. 628. 242 H. Schulze-Fielitz, Freiheit der Wissenschaft, in: HdbVerfR, 1994, § 27, Rn. 31.

200

. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als rundrecht

Satz 2 GG die Verantwortung als Normbereichsmerkmal abschließend regelt, nicht ausgeräumt.243

243

T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 403, 410; B. Losch, Wissenschaftsfreiheit, 1993, S. 278 ff.

Drittes Kapitel

Vom Lebensbereich Wissenschaft zum Normbereich der Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht I. Problemstellung: Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit Das Problem der Wissenschaftsfreiheit in der Risikogesellschaft ist als Herausforderung erkannt, aber noch nicht zufriedenstellend gelöst. Dies hat vor allem zwei Gründe. Zum einen wird nach ganz überwiegend vertretener und lange Zeit gefestigter Auffassung davon ausgegangen, daß sich der Schutz für den Lebensbereich Wissenschaft durch Art. 5 Abs. 3 GG als "Jedermanns"Grundrecht verwirklicht. Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß diese Auffassung weder die verfassungshistorische Genese der Wissenschaftsfreiheit noch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für sich in Anspruch nehmen kann. Zum anderen wird auch das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG ausgehend von der als "klassisch" begriffenen Funktion der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte entwickelt, mit der Folge, daß sich die objektivrechtlichen Erweiterungen im Sinne einer dennoch subjektivrechtlichen Dominanz entwickelt haben. Diesen beiden Auffassungen soll ein anderes grundrechtsdogmatisches Verständnis entgegengesetzt werden. Vor allem die Überlegungen des ersten Kapitels haben gezeigt, daß sich der Lebensbereich Wissenschaft zunehmend ausdifferenziert hat. Als verfassungsrechtliche Konsequenz hieraus wird die These zu begründen sein, daß auch dessen adäquate grundrechtliche Abbildung wesentlich differenzierter erfolgen muß, um freie Wissenschaft zu ermöglichen und Konflikte sowie Risiken durch wissenschaftliches Handeln zu bewältigen. Die Wissenschaftsfreiheit bedarf unter den Bedingungen der Risikogesellschaft nicht nur einer neuen Legitimation, 1 sondern, als deren verfassungsrechtliche Voraussetzung bedarf der Lebensbereich Wissenschaft einer anderen Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten. Häberle stellt deshalb zu recht die Frage, ob 1

R. Pitschas, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, DÖV 1989, S. 785 ff.; U. K. Preuß, Risiko als Staatsaufgabe, 1994, S. 543.

202

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

der Verfassungsstaat angesichts der Folgen des beschleunigten Fortschritts die Bedingungen schaffen muß, "in denen Wissenschaft als in Raum und Zeit offener Prozeß kooperativ in Konkurrenz optimal 'laufen' kann."2 Die Entwicklung des Normbereichs der Wissenschaftsfreiheit aus einem ausdifferenzierten Lebensbereich Wissenschaft wird auf die im ersten Kapitel herausgearbeiteten Differenzierungen zurückgreifen können; neben der universitären Wissenschaft, Forschung und Lehre, die das Grundrechtsverständnis freier Wissenschaft bis in die achtziger Jahre dominierte, haben sich mit der Industriewissenschaft bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts und der Großforschung, der Gründung der Max-Planck-Gesellschaft als Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft sowie der zunehmenden Bedeutung der Ressortforschung vor allem nach dem zweiten Weltkrieg weitere Typen herausgebildet, die den Lebensbereich Wissenschaft ebenso prägen. Auf dieser Grundlage läßt sich herausarbeiten, nach welchen Kriterien die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit zu erfolgen hat, um sowohl dem Lebensbereich Wissenschaft als auch der zu gewährleistenden Wissenschaftsfreiheit gerecht zu werden. Wissenschaft ist kein durch das Recht hervorgebrachter, erzeugter Lebensbereich. Er hat sich, bedingt durch den jeweiligen sozial- und geistesgeschichtlichen Kontext, entwickelt und ausdifferenziert; die Ausführungen des ersten Kapitels sollten einen Beitrag dazu leisten, die für die Wissenschaft in der Risikogesellschaft bedeutenden Entwicklungslinien und Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis nachzuzeichnen. Über die Freiheit der Wissenschaft ist hiermit noch nichts ausgesagt.3 Auch die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Smendsche Formel, wonach Wissenschaft als der ernsthafte und planmäßige Versuch zur Wahrheitsermittlung verstanden wird, ist im Hinblick auf die Frage nach der Freiheit neutral. Diese, in ihrer Bedeutung zentrale Unterscheidung zwischen dem durch die soziale Wirklichkeit erzeugten Lebensbereich Wissenschaft und dem durch die (Verfassungs-)Rechtsordnung erzeugten Bereich grundrechtlich verbürgter Freiheit4 wird jedoch bedeutungs2 P. Häberle, Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 332 f. (Hervorh. i. Orig.) 3 P. Häberle, Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 333, verwendet die treffende Formulierung, daß "im Verfassungsstaat ein kulturanthropologisches Verhältnis zwischen Wissenschaft und Freiheit der Wissenschaft besteht", das jeder Verfassungsjurist als stilles Vorverständnis zugrunde zu legen habe. Die Frage ist gerade, ob und in welchen unterschiedlichen Erscheinungsformen dieses Verhältnis besteht. 4 Zu dieser Unterscheidung C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, 1994, S. 72; für die Grundrechte allgemein W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 88 ff; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1990, S. 41.

I. Problemstellung: Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit

203

los, indem Wissenschaft und die in Art. 5 Abs. 3 GG garantierte Wissenschaftsfreiheit gleichgesetzt werden. So ist etwa für Scholz die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Wissenschaftlers die wesensgemäße Bedingung für wissenschaftliche Betätigung. Zum Begriff der Wissenschaft gehöre deshalb auch die spezifisch wissenschaftliche Eigenverantwortung, die nicht mit rechtlicher, wirtschaftlicher oder politischer Verantwortung zu verwechseln sei.5 Wissenschaftliche Verantwortung im verfassungsrechtlich maßgebenden Sinne bedeute deshalb "Selbständigkeit und Freiheit in der erkenntnistheoretischen Fragestellung, im thematischen Untersuchungsgang und in der Bestimmung der erkenntnisvermittelnden Methoden";6 als Wissenschaft sei "der autonome geistige Prozeß planmäßiger, methodischer und eigenverantwortlicher Suche nach Erkenntnissen sachbezogen-objektiver Wahrheit sowie kommunikativer Vermittlung solcher Erkenntnisse" zu verstehen.7 In ganz ähnlicher Weise hat jüngst Classen Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit miteinander verbunden, indem er betont, daß "Tendenzwissenschaft" keine Wissenschaft sei; als Beispiel führt er einen Forscher an, der Forschungsergebnisse produziert, die zwar den Interessen seines Arbeitgebers, nicht aber seinen eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen entsprechen.8 Das für die verfassungsrechtliche Beurteilung gravierende Mißverständnis liegt darin, daß der Lebensbereich Wissenschaft auch Segmente enthält, in denen sich wissenschaftliche Erkenntnisprozesse "unfrei" entfalten; deshalb handelt es sich aber trotzdem um Wissenschaft, und zu unterscheiden ist hiervon die Frage, ob diese Form der Wissenschaft durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt ist. Unterstellt man die Auffassungen von Scholz und Classen als zutreffend, dann liegen die sich hieran anschließenden Fragen auf der Hand. Wenn dem für 5

R. Scholz, in: M/D/H/Sch, Art. 5 Abs. 3 GG, Rn. 99. R. Scholz, in: M/D/H/Sch, Art. 5 Abs. 3 GG, Rn. 100. 7 R. Scholz, in: M/D/H/Sch, Art. 5 Abs. 3 GG, Rn. 101. 8 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, 1994, S. 158; in diesem Sinne auch auf die "Tendenzuniversitäten", die sich schon institutionell mit bestimmten gesellschaftlichen Interessen oder gesellschaftspolitischen Zielsetzungen identifizieren. R. Scholz, in: M/D/H/Sch, Art. 5 Abs. 3 GG, Rn. 97; P. Kirchhof, Kooperationsvereinbarungen zwischen Hochschulen und Verbänden, ZRP 1976, S. 238 ff. Unter dem Begriff "Tendenzuniversität" wurden vor allem in siebziger Jahren Kooperationsverträge zwischen Universitäten und gesellschaftlich bzw. politischen Interessengruppen, vor allem Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände diskutiert. Scholz kommt zu dem Ergebnis, daß "der Verfassungsverstoß evident" sei, wenn sich die Universitäten den Interessen des Kooperationspartners unterordnen. Dies kann schon deshalb nicht zutreffend sein, wenn man, wie auch Scholz (a.a.O., Rn. 4), die Universitäten als institutionelle Garantie von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt ansieht; eine nicht mit Art. 5 Abs. 3 GG zu vereinbarende Wahrnehmung universitärer Selbstverwaltungsaufgaben kann disziplinarische bzw. aufsichtsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, jedoch nicht als Verfassungsverstoß begriffen werden. 6

204

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

die verfassungsrechtliche Beurteilung allein relevanten Wissenschaftsbegriff bestimmte Voraussetzungen von Freiheit und Autonomie immanent sind, muß entschieden werden, ob diese Voraussetzungen im gesamten Lebensbereich Wissenschaft gleichermaßen vorzufinden sind und wie ggf. die Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft in grundrechtlicher Hinsicht einzuordnen sind, die diese Anforderungen nicht erfüllen. Exemplarisch hierfür ist die Subsumtion der Industrieforschung. Nach der Auffassung von Scholz ist diese uneingeschränkt von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt; "den Rahmen verfassungsgeschützter Wissenschaft verlassen 'finale' Forschungsaktivitäten dieser und ähnlicher Art erst dann, wenn sie die Gesetze wissenschaftlich-methodischer Reflexion oder erkenntnistheoretisch-unabhängiger Untersuchung mißachten. Das gleiche würde gelten, wenn wissenschaftliche Finalität die Pluralität einer wissenschaftlichen Thematik oder wissenschaftlichen Disziplin in Frage stellte."9 Etwas überspitzt läßt sich dies dahingehend zusammenfassen, daß Wissenschaft nicht als freie Wissenschaft geschützt ist, wenn sie sich nicht den Bedingungen freier Wissenschaft fügt. Das ist sicher zutreffend; die verfassungsrechtliche Beurteilung setzt voraus, daß die Bedingungen freier Wissenschaft normativ-verfassungsrechtlich bestimmt werden. Entscheidend ist dann jedoch, ob diese Bedingungen für den (nahezu) gesamten Lebensbereich Wissenschaft nachweisbar sind. Nach ganz überwiegender Auffassung ist dies der Fall. Dieses Ergebnis wird jedoch kaum aus einer Analyse der unterschiedlichen Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft gewonnen,10 sondern aus dem Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als subjektivem Abwehrrecht "Jedermanns". Der hierfür erforderliche "Kunstgriff' liegt darin, die Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft von ihrem Kontext konkreter Verwirklichung zu isolieren. Hierin bestätigen sich bereits angesprochene methodische Unterschiede. Während ganz überwiegend die Verwirklichungsbedingungen von Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit faktisch außer acht gelassen werden, wird für die folgende grundrechtsdogmatische Untersuchung als methodische Grundlage bekräftigt, daß der Wirklichkeitsbezug von Normen gleichsam zum Normbestandteil werden muß. Damit ist zwar der Dualismus von Sein und Sollen nicht aufgehoben, für die Grundrechtsinterpretation folgt hieraus jedoch, daß die

9

R. Scholz, in: M/D/H/Sch, Art. 5 Abs. 3 GG, Rn. 98. Vgl. aber die Teilanalyse für die außeruniversitäre staatliche Forschung bei E.-J. Meusel, Außeruniversitäre Forschung in der Verfassung, HdbWissR, 1982, S 1255 ff; ders., Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 1992; V. Grellert, Industrielle Forschung, HdbWissR, 1982, S. 1235 ff. 10

I. Problemstellung: Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit

205

vorzufindende soziale Wirklichkeit bereits die Bestimmung des Gewährleistungsbereichs eines Grundrechts beeinflussen muß.11 Die Verwirklichungsbedingungen von Wissenschaft waren das Thema des ersten Kapitels. Das zweite Kapitel hat die Genese der Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht bis in die jüngere Vergangenheit nachgezeichnet und den Nachweis erbracht, daß ein auf Art. 5 Abs. 3 GG konzentriertes Grundrechtsverständnis, in dessen Mittelpunkt die Funktion als Abwehrrecht des Einzelnen steht, weder zu einer konsistenten Gewährleistung grundrechtlicher Freiheit noch zu einer angemessenen Bewältigung der mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt einhergehenden Konflikte fuhren kann. In dem nun folgenden Kapitel soll eine Grundrechtsinterpretation entwickelt werden, die den Verwirklichungsbedingungen von Freiheit in den relevanten Ausschnitten des Lebensbereichs Wissenschaft Rechnung trägt. Voraussetzung fur die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten ist die Entwicklung eines spezifisch verfassungsrechtlichen und grundrechtsdogmatischen Freiheitsverständnisses. Es wird zu berücksichtigen sein, daß grundrechtliche Freiheitsgewährungen und Verfassungsaufträge, grundrechtlich gewährleistete Freiheit durch Leistungs- und Teilhaberechte, durch Schutzpflichten, Verfahren und Organisation, unterschiedliche Konkretisierungen des Verfassungsprinzips der Freiheit sind.12 Hierbei kann, jenseits der geäußerten Kritik, auch auf fundierte Ansätze und eine teils fruchtbare Diskussion unterschiedlicher Auffassungen zurückgegriffen werden. Ließ sich bis zu Beginn der neunziger Jahre feststellen, daß es sich bei der abwehrrechtlichen Konzeption von Art. 5 Abs. 3 GG um eine nahezu uneingeschränkt und ohne Abweichungen vertretene Auffassung handelt, so hat sich dies vor allem durch die Arbeiten von Trute, Classen und Dickert 13 geändert. Diesen gemeinsam ist das Bemühen um eine differenzierte Analyse des Lebensbereichs Wissenschaft und des Gewährleistungsbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG. Auch wenn Classen und Dickert im wesentlichen die überkommene Interpretation bestätigen, so erfolgt dies auf Grundlage eines wesentlich differenzierteren Verständnisses von Art. 5 Abs. 3 GG als subjektivem Abwehrrecht, das zwar "Jedermann" zustehe, deren konkrete Freiheitsverbürgungen in 11 Zu dieser methodischen Prämisse B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 23, 259 f.; D. Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 44; s. auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rn. 60 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, 5. Aufl. 1993, S. 141; in deutlicherer Abkehr von Kelsen auch schon H. Heller, Staatslehre, S. 313. 12 E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 254, Fn. 217. 13 H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994; T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991.

206

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

ihrem jeweiligen Kontext jedoch unterschiedlich ausgeprägt sind, so daß dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 GG eine unterschiedliche Reichweite zukomme.14 Im Gegensatz zu diesem individualrechtlich dominierten Zugang begreift Trute Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht. Hiernach ist die Wahrnehmimg der grundrechtlich geschützten Freiheit von organisatorischen Leistungen abhängig, die die Entfaltung individueller Freiheit zum Ziel haben und hierfür Voraussetzung sind. Die organisatorischen Vorleistungen werden so zur Bedingung für individuelle Freiheit, die nicht als vorstaatliche Freiheit begriffen werden kann, weil sie ohne staatliches Handeln nicht realisierbar ist.15 Hiermit ist, wie im folgenden näher zu begründen sein wird, die zutreffende Perspektive zur Interpretation des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG eröffnet und zugleich eine Reihe von grundrechtsdogmatischen Problemen aufgeworfen. Diese betreffen zunächst das Verhältnis von abwehrrechtlicher und leistungsrechtlicher Grundrechtsfunktion. Auch in dem überkommenen abwehrrechtlichen Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG sind objektivrechtliche Gewährleistungen im Sinne einer Wertentscheidung anerkannt, aus der die Pflicht des Staates folgt, freie Wissenschaft zu fördern und zu ermöglichen.16 Die objektivrechtliche Funktion unterstützt insofern das subjektive Recht auf Freiheit. Diese Konstante wird auch für Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht aufrechterhalten. 17 Statt dessen wird im folgenden die These zu begründen sein, daß sich mit der Konzeption des Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht ein Paradigmenwechsel in der Dogmatik zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit vollzieht. Es sind nicht mehr primär subjektive Abwehrrechte, an denen sekundär 14 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 120 f.; T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 152: "Vorrang des Individuellen: (...) Im Vordergrund steht die individuelle Wissenschaftsfreiheit des einzelnen Forschers und Lehrers". Das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als subjektives Abwehrrecht ist für Dickerts Konzeption einer normbereichsimmanenten Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers unabdingbar; vgl. hierzu bereits oben, 2. Kap., S. 194 ff. 15 H.-H. Trute, Forschung, zu den grundrechtsdogmatischen Fragen vor allem S. 245 ff., 253 ff., 276. Vgl. aber auch E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, in: FS W. Thieme, 1994, S. 697 ff. 16 Vgl. hierzu 2. Kap., S. 168 ff. 17 In diesem Sinne geht auch E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, in: FS W. Thieme, 1994, S. 697 ff., weiterhin von einem Vorrang personaler Freiheit aus, a.a.O., S. 703. Nicht ganz eindeutig wohl H.-H. Trute, Forschung, S. 262, indem er das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts (E 50, 290 [337]; hierzu sogleich, S.207, Fn. 19) positiv rezipiert: "Die Aufgabe objektiv-rechtlicher Dimensionen besteht also darin, die vom abwehrrechtlichen Kem der Freiheitsgarantien geschützten Freiheitsausübungsmöglichkeiten auch unter den Bedingungen vergesellschafteter und institutionalisierter Freiheit Wirklichkeit werden zu lassen."

I. Problemstellung: Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit

207

organisatorische Vorkehrungen zur Verwirklichung freier Wissenschaft gemessen werden, d. h. es besteht kein aus einer vorstaatlichen Freiheit resultierendes Recht des Einzelnen, an dem sich staatliche Regelungen, gleichsam immer als Eingriff in diese Freiheit, rechtfertigen müssen.18 Diese Kontroverse um den ab wehr- oder organisationsgrundrechtlichen Vorrang von Art. 5 Abs. 3 GG ist weder auf die Wissenschaftsfreiheit beschränkt noch trifft sie den Diskurs über die Bedeutung der Grundrechte unvorbereitet an. Sie stößt vielmehr ins Mark der Diskussion, die um das "richtige" theoretische und dogmatische Verständnis der Grundrechte ringt. Die Konzeption von der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht muß sich deshalb zunächst seiner theoretischen und dogmatischen Voraussetzungen sowie des sich verändernden Grundrechtsverständnisses, das vor allem auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückzufuhren ist, vergewissern. Sofern aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorschnell ein genereller und für alle Grundrechte geltender "Vorrang des Individuellen" abgeleitet wird, kann dem nicht gefolgt werden, auch wenn das Mitbestimmungsurteil von 1979 zu dieser Annahme verleiten könnte.19 Das Problem besteht gerade darin, daß auch innerhalb des Bundesverfassungsgerichts - was nicht überraschen kann - Konsens über ein grundrechtsdogmatisches Vorverständnis nicht nachweisbar ist. 20 Hieran schließt sich die Frage an, wie Grundrechtstheorie und -dogmatik auf die zunehmende gesellschaftliche Diversität und Pluralität angemessen reagieren kann.21 18 Zu recht kritisch zum Verständnis vorstaatlicher Freiheit als Maßstab für die Normbereichsinterpretation von Grundrechten dann auch H.-H. Trute, Forschung, S. 254 ff. 19 So aber T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 152 f. unter Berufung auf BVerfGE 50, 290 (337)-Mitbestimmung: "Nach ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind sie [gemeint sind die Grundrechte] in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben. Die Funktion der Grundrechte als objektiver Prinzipien besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft, hat jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung. Sie läßt sich deshalb nicht vom eigentlichen Kern lösen und zu einem Gefuge objektiver Normen verselbständigen, in dem der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktritt." Hierzu auch R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und objektive Normen, Staat 29 (1990), S. 61. 20 Vgl. hierzu (exemplarisch) H. H. Klein, Grundrechte im demokratischen Staat, 2. Aufl., 1974, vor allem S. 65 einerseits, D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, vor allem S. 232. E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1991, S. 180 ff. führt das Mitbestimmungsurteil deshalb als Nachweis für eine von drei Möglichkeiten an, das Verhältnis von subjektivrechtlichem und objektivrechtlichem Grundrechtsgehalt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen. 21 Vgl. hierzu K.-H. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie. Selbstreferenz - Selbstorganisation - Prozeduralisierung, 1992, S. 183 ff., 208 f.; T. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, 1994, S. 9 ff.

208

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Π. Grundrechtstheoretischer und grundrechtsdogmatischer Zugang Grundrechte sollen die vielfältigen Formen individueller Freiheit und Gleichheit schützen oder ermöglichen. Grundrechtsfreiheit ist somit auch die durch das Verfassungsrecht erzeugte Freiheit. Diese Freiheitserzeugung muß auf einem verläßlichen grundrechtstheoretischen und -dogmatischen Konzept beruhen. Dies bedeutet gerade keine Reduktion auf nur eine Grundrechtstheorie oder ein dogmatisches (Vor-) Verständnis, das dem Grundrechtsteil der Verfassung vorgelagert ist. Das Grundgesetz kann die ihm zugewiesene Aufgabe der Freiheitsverwirklichung gerade deshalb erfüllen, weil es eine Stabilität und Dynamik gleichermaßen verpflichtete Verfassung ist22 und deshalb das erforderliche Potential an Sensibilität besitzt, um auf sich verändernde gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren. Die Verbindung zwischen dem Freiheitsziel der Grundrechte und ihren jeweiligen Realisierungsbedingungen stellt die GrundrechtsfAeone her, indem sie die generelle Bedeutung der Grundrechte herausarbeitet und damit der Auslegung und Anwendimg einzelner Grundrechte im konkreten Fall erst die Richtung weist.23 Grundrechtstheorien präzisieren mögliche Interpretationen über Ziel, Art und Richtung grundrechtlicher Freiheits- und Gleichheitsgarantien, die in dogmatische Aussagen umgeformt werden und den einzelnen Normtexten der Grundrechte in methodisch korrekter Weise zurechenbar sein müssen; ihre Funktion liegt darin, die Menge zulässiger Argumente der Grundrechtskonkretisierung über die anerkannten methodischen Argumente hinaus zu limitieren und den Rahmen abzustecken, in dem die Grundrechte aktualisiert werden können.24

22 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung - Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 19. 23 D. Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 53. 24 D. Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, S. 51 f.; E.- W. Böckenforde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, 1991, S. 222; vgl. auch F. Müller, Juristische Methodik, 1993, S. 230 ff.

II. Grundrechtstheoretischer und grundrechtsdogmatischer Zugang

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Verwiesen ist damit auf eine Bereichsdogmatik der einzelnen Grundrechte, die ihre Fragerichtungen und Lösungsmöglichkeiten von der Grundrechtstheorie empfangen kann und diese anreichert. Die Vermittlung von Grundrechten und ihren gewandelten Realisierungsbedingungen erfolgt daher nicht unmittelbar, sondern über die Zwischenform einer Grundrechtstheorie. 25 Die Rechtsdogmatik und damit auch die Grundrechtsdogmatik ist in diesem Vermittlungsvorgang ein wichtiges Instrument der Kontrolle und Vergewisserung. Ihre Verarbeitungsregeln verkörpern den Versuch, auf Wertungsfragen, die von dem autoritativ vorgegebenen Material offengelassen werden, rational begründete Antworten zu geben.26 Grundrechtstheorie und -dogmatik bedingen einander somit. Plausibel wird dies, indem man sich die dogmatischen Verarbeitungsregeln von Freiheitsrechten in einem bestimmten theoretischen Verständnis vergegenwärtigt. Für die weiteren Überlegungen genügt der Hinweis auf zwei unterschiedliche Ansätze. Die Abwehrrechte sind Ausdruck eines Grundrechtsverständnisses, dessen dogmatische Verarbeitungsregeln in dem Verhältnis von Schutzbereich und Eingriff umgesetzt werden; die Leistungsrechte hingegen fugen sich dem Schema Gewährleistung - Leistungsverweigerung.27

25 D. Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 51 ff. Zum Verhältnis von Grundrechtstheorie- und dogmatik auch H. D. Jarass, Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, AöR 120 (1995), S. 346 f., der daraufhinweist, daß der Begriff der Grundrechtsdogmatik die erforderliche Anwendungsorientierung besser zur Geltung bringt (S. 346, Fn. 2). 26 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 25. 27 So H.-U. Gallwas, Grundrechte, 2. Aufl., 1995, S. 158 ff. Zu dem notwendig zu formulierenden Gegensatz zwischen liberalem und postindustriellem Grundrechtsverständnis T. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, 1994, S. 9 ff., 19 ff.; K.-H. Ladeur, Klassische Grundrechtsfunktion und 'postmoderne' Grundrechtstheorie, KJ 1986, S. 197 ff,; ders., Postmoderne Rechtstheorie, 1992, S. 183 ff, 208 ff. 14 Kleindiek

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3. Kap. : Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

ΠΙ. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion Das Verständnis der Grundrechte als leistungsrechtliche oder abwehrrechtliche Verbürgungen bezieht sich auf die Funktion der Freiheitsrechte. Wandel und Ausdifferenzierung der Grundrechtsfunktionen sind und waren vor allem bedingt durch ihre Anwendung in der Rechtsprechimg des Bundesverfassungsgerichts. An dieser läßt sich ablesen, inwiefern ihre Auslegung und Anwendung auf die sich verändernde gesellschaftliche Wirklichkeit reagiert. Der oben als These formulierte Paradigmenwechsel des Grundrechtsverständnisses müßte hierin seine Ursache haben, soll er sich als zutreffend erweisen. Eine schlüssige Begründung setzt eine - wenn auch skizzenhafte - Darstellung der objektivrechtlichen Grundrechtsfunktionen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, die auch notwendig ist, weil das Verhältnis zwischen subjektivrechtlichen und objektivrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen - trotz (oder wegen) einer die Grundrechtsfunktionen beträchtlich ausdifferenzierenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - nach wie vor heftig umstritten ist. Die wohl überwiegende Auffassung geht davon aus, daß Ausgangspunkt jeder Grundrechtsgewährleistung der subjektive Abwehranspruch auf Freiheit vom Staat ist; dem entspricht es, die Abwehrrechte als klassische Grundrechtsfunktion zu verstehen.28 Objektivrechtliche Funktionen dienen in dieser Lesart lediglich der Unterstützung subjektiver Abwehrrechte; inwiefern der "Doppelcharakter", 29 die "Doppelfunktion" 30 oder die

28 So etwa H. Steiger, Entwicklungen im Grundrechtsverständnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, 1979, S. 256, 257; B. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, S. 457 ff.; K. Stern, Staatsrecht III/l, 1988, S. 558 ff., 620 ff.; M. Kriele, Grundrechte und staatlicher Gestaltungsspielraum, HStR V, 1992, § 110, Rn. 52; S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541; A. Pietrzak, Die Schutzpflicht im verfassungsrechtlichen Kontext - Überblick und neue Aspekte, JuS 1994, S. 748. Anders D. Grimm, Rückkehr zum liberalem Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 224 ff.; T. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, 1994, S. 11; H. Hofmann, Die Grundrechte 1789-1949-1989, NJW 1989, S. 3181. Vgl. auch H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 27 f., 29 ff., 36 ff. u. ders., Subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, Jura 1994, S. 505 ff., der in den Abwehrrechten nicht die klassische und auch nicht die einzige, aber die zentrale Grundrechtsdimension sieht. Zur zentralen Bedeutung der Abwehrrechte bereits J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HStR V, 1992, § 111, Rn. 22. Zu den Gründen hierfür auch ders., Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 33, wo staatliche Schutzpflichten als "vergessene Seite" der Grundrechte bezeichnet werden. 29 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rn. 279.

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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"Doppelgestalt"31 der Grundrechte der objektivrechtlichen Funktion ein eigenständiges theoretisches und dogmatisches Gerüst verleihen soll, scheint unbeantwortet bzw. noch nicht entschieden zu sein. Dabei ist die weitere Klärung dieser grundrechtsdogmatischen (Vor-)Frage mit weitreichenden Konsequenzen verbunden: Ist der Abwehranspruch der objektiven Gewährleistung als durchgängiges grundrechtsdogmatisches Muster vorgelagert, dann richtet sich der Abwehranspruch auch gegen staatliches Handeln, das der Erfüllung einer objektiven Gewährleistung dient; ist die Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit hingegen von der staatlichen Vorleistung abhängig, um Freiheit überhaupt erst zu erzeugen, dann kann auch ein Abwehranspruch nur innerhalb der durch den Staat erzeugten Freiheit geltend gemacht werden. 1· Freiheitsrechte in ihrer Abwehrfunktion Freiheitsrechte in ihrer Abwehrfunktion verbürgen Freiheit von staatlichen Eingriffen. Ihnen liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Einzelne den grundrechtlich geschützten Lebensbereich ungehindert wahrnehmen kann, wobei es für die Verwirklichung der grundrechtlich garantierten Freiheit genügt, daß eine Beeinträchtigung durch staatliches Handeln unterbleibt. Diese als status negativus begriffene Grundrechtsfunktion 32 läßt die Grundrechte als rechtliche Umhegimg vorstaatlicher, natürlicher Freiheit erscheinen, die als "staatsfreie Sphäre" des Individuums gegen den Raum staatlicher Herrschaft abgehoben wird; 33 sie wird deshalb kurz als "Freiheit vom Staat" bezeichnet:34 So etwa das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. Abs. 2 Satz 1 GG), die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) oder der Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 Abs. 1 GG); die Freizügigkeit (Art. 11 GG), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG), die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG), Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) und die Versammlungsfreiheit (Art. 8 As. 1 GG).

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J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HStR V, 1992, § 111, Rn. 113. 31 E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1991, S. 182. 32 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., 1919, S. 87, 94 ff. 33 So treffend F.-W. Steinmeier, Bürger ohne Obdach - Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum, 1992, S. 176. 34 Vgl. nur B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, 11. Aufl. 1995, Rn. 61. Skeptisch gegenüber den dogmatischen Folgen dieses "vorstaatlichen" Freiheitsverständnisses aber B. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, S. 467.

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3. Kap. : Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

2. Die Genese der Freiheitsrechte in ihrer Leistungsfunktion Sieht man den Grundrechtsteil des Grundgesetzes auf ausdrücklich normierte Ansprüche durch, die positive Leistungsansprüche auf staatliches Handeln begründen, so bilden diese eher die Ausnahme.35 Wird der aktuellen Entwicklungsstand und die Bedeutung des objektivrechtlichen Gehaltes der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt, so muß dieser verfassungspositive Befund jedoch als überholt gelten. Mit dem Lüth-Urteil aus dem Jahr 1958 hat das Bundesverfassungsgericht den ersten entscheidenden Schritt zur Entwicklung dieser Grundrechtsfunktion getan.36 Dort wird zunächst die (bekannte und oben skizzierte) Bedeutung der Grundrechte in ihrer subjektivrechlichen Abwehrdimension herausgestellt, wonach Grundrechte in erster Linie die Funktion haben, "die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat"; um dann zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit die hinzutretende objektivrechtliche Bedeutung der Grundrechte zu formulieren: "Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechimg empfangen von ihm Richtlinien und Impulse."37 Aus dem Verständnis der Grundrechte (auch) als objektive Wertordnung ergeben sich im Unterschied zu den Abwehrrechten zunächst zwei Konsequenzen: Zum einen werden die Grundrechte aus dem unmittelbaren Staat-BürgerVerhältnis herausgelöst, indem sie nicht nur dort wirksam sind, wo der Staat unmittelbar an Rechtsbeziehungen beteiligt ist, sondern universell, d. h. in jede Richtung und in allen Rechtsbereichen gelten.38 Für den jeweiligen Lebens35

Sie beschränken sich im Grunde auf den Anspruch der Mutter auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft aus Art. 6 Abs. 4 GG, sehr naheliegend ist der Rechtsschutz durch gerichtliches Verfahren aus Art. 19 Abs. 4 GG, zu dem das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) und der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gehört. Explizit formulierte Ansprüche auf Schutz durch den Staat lassen sich noch der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und Art. 6 Abs. 1 GG für Ehe und Familie entnehmen. 36 So E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1991, S. 159 ff., 163. 37 BVerfGE 7, 198 (205 ff.). 38 So E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1991, S. 159 ff., 167.

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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Sachverhalt treffen sie damit eine verbindliche Wertentscheidung im Sinne einer wertentscheidenden Grundsatznorm. 39 Zum anderen setzt die Verwirklichung der Grundrechte als objektive Wertordnung ein anderes Verständnis von Freiheit voraus. Erschöpft sich die Funktion der Abwehrrechte in der rechtlichen Umhegung vorstaatlicher, natürlicher Freiheit durch die bloße Abwesenheit gesetzwidrigen Zwanges durch die öffentliche Gewalt,40 wirken grundrechtliche Freiheiten in ihrer Funktion als wertentscheidende Grundsatznormen als ein Komplex von sozialgestaltenden und -regulierenden Normen, 41 die so staatliches Handeln erfordern, um "Freiheit durch den Staat" zu ermöglichen.42 Der status positivus in diesem weit verstandenen Sinne43 ist als zusätzliche Grundrechtsdimension mittlerweile weitgehend anerkannt,44 so daß sich in der folgenden Entwicklung aus dem Charakter der Grundrechte als objektive Grundsatznormen eine Reihe von Ausdifferenzierungen ergeben haben: Mit der Entfaltung des objektivrechtlichen Gehalts der Grundrechte begründen die Freiheitsrechte auch Leistungs- oder Teilhaberechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, Schutzpflichten des Staates für grundrechtlich gesicherte Freiheiten, sie wirken sich auf die Ausgestaltung von Privatrechtsverhältnissen aus Drittwirkung"), verlangen für staatliche Entscheidungsprozesse bestimmte Verfahrensgarantien und Organisationsprinzipien für öffentliche und private Einrichtungen.45 Den Freiheitsrechten in ihrer objektivrechtlichen Leistungs39

Das BVerfG hat die Grundrechte als "verbindliche Wertentscheidung" erstmals in der Entscheidung zur Ehegattenbesteuerung für Art. 6 Abs. 1 GG entwickelt, BVerfGE 6, 55, 72. Im Elfes-Urteil wird für Art. 2 Abs. 1 GG die Formel "wertentscheidende Grundsatznorm" verwendet, BVerfGE 6, 32,40 f. 40 Grundlegend hierzu die Formulierung "Freiheit von gesetzwidrigem Zwange" von G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., 1919, S. 103. 41 U. K. Preuß, Die Internalisierung des Subjekts, 1979, S. 150 f. 42 B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, 11. Aufl. 1995, Rn. 63 verwenden die Formulierung von der Freiheit, die der einzelne "nicht ohne den Staat haben kann". 43 Mit R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 180, 395 ff, 402 ff. sollen die auf positives Handeln des Staates gerichteten Rechte als "Leistungsrechte im weiteren Sinne" bezeichnet werden. 44 Zur grundsätzlichen Kritik aus jüngerer Zeit F.-W. Steinmeier, Bürger ohne Obdach - Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum, 1992, S. 170 ff, vor allem S. 181 ff, 201 ff.; sehr zurückhaltend auch J. P. Müller, Zur sog. subjektiv- und objektiv-rechtlichen Bedeutung der Grundrechte, Staat 29 (1990), S. 33 ff. 45 S. den Problemaufriß bei D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 221 und E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1991, S. 181; R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Staat 29 (1990), S. 49 ff.; vgl. auch H. Dreier, Subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, Jura 1994, S. 509 ff, der zwischen Drittwirkung, Organisation und Verfahren, Schutzpflichten unterscheidet. So auch schon R. Alexy, Theorie der

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3. Kap. : Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

funktion liegt trotz aller Unterschiede im einzelnen als wesentliche Gemeinsamkeit eine dreistellige Relation zwischen einem Grundrechtsträger, dem Staat und einer positiven Handlung des Staates zugrunde.46 Grundrechtliche Freiheiten entfalten sich nicht durch die Abwesenheit staatlichen Handelns, sondern sie erfordern ein bestimmtes Handeln, das der objektiven Wertentscheidung entspricht, die durch das jeweilige Grundrecht getroffen wird. Im folgenden sind die aus der objektiven Wertentscheidung entwickelten Grundrechtsfunktionen in der gebotenen Kürze darzustellen. Anschließend sollen die zur grundrechtstheoretischen und -dogmatischen Einordnung der Leistungsansprüche erforderlichen Folgerungen gezogen werden. In diesem Zusammenhang wird schließlich zu problematisieren sein, inwiefern objektive Grundrechtsfunktionen Freiheitsverbürgungen unabhängig von den Abwehrrechten als eigenständige subjektive Rechtspositionen begründen. a) Teilhaberechte Im Numerus-clausus-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht den Wandel der Grundrechte von bloßen Abwehrrechten hin (auch) zur Teilhabe an staatliche Leistungen (die auch als Leistungsrechte im engeren Sinne bezeichnet werden) entwickelt. Es war zu entscheiden, ob Zulassungsbeschränkungen für bestimmte Studiengänge, in denen die Anzahl der Bewerber die vorhandene Kapazität überschreitet und somit einem Teil von ihnen der Studienwunsch nicht erfüllt werden kann, mit dem in Art. 12 Abs. 1 GG verbürgten Recht, die Ausbildungsstätte frei zu wählen, vereinbar ist. Auch hier weist das Bundesverfassungsgericht zunächst auf die Abwehrfunktion des Art. 12 Abs. 1 GG hin, der vor Freiheitsbeschränkungen im Bereich der Ausbildung schützen soll (für den konkreten Fall des Studiums die freie Wahl zwischen den Universitäten),47 um dann die für die Lösung des Problems von Zulassungsbeschränkungen entscheidende Grundrechtsfunktion herauszuarbeiten: "Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ur-

Grundrechte, 1986, S. 405, der die Leistungsrechte im weiteren Sinne in Rechte auf Schutz, Rechte auf Organisation bzw. Verfahren und Rechte auf Leistungen im engeren Sinne unterscheidet; vgl. bereits auch D. Suhr, Freiheit durch Geselligkeit - Institution, Teilhabe, Verfahren und Organisation im systematischen Raster eines neuen Paradigmas, EuGRZ 1984, S. 520 ff. 46 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 406. 47 BVerfGE 33, 303 (329). Daß sich der Parlamentarische Rat zu der Frage, inwieweit Art. 12 GG eine über die liberal-rechtsstaatliche Abwehr hinausgehende Funktion zukommen solle, auf die "Politik der Nichtentscheidung" zurückzog, weist B.-O. Bryde (Art. 12 Grundgesetz - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, NJW 1984, S. 2178 f.) nach.

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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sprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen."48 Für das Studium als einem Unterfall der "Ausbildung" in Art. 12 Abs. 1 GG ist dieser Teilhabeaspekt von besonderer Bedeutung, weil hier "die Beteiligung an staatlichen Leistungen die notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten darstellt."49 Damit folgt aus dem Gewährleistungsbereich von Art. 12 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Zulassung zum Studium. b) Schutzpflichten Wohl keine andere Grundrechtsfunktion ist bereits in ihren Prämissen so umstritten, wie die grundrechtliche Schutzpflicht. Dies liegt zum einen daran, daß sie sich, betrachtet man die Begründungen grundrechtlicher Schutzpflichten in der verfassungsrechtlichen Literatur, auf der grundrechtsdogmatischen Schnittstelle von subjektivrechtlicher Abwehr- und objektivrechtlicher Leistungsfunktion befindet. 50 Zum anderen sind insbesondere die konstruierbaren Erweiterungen der Schutzpflichtenkonzeption dazu angetan, das Verständnis grundrechtlicher Freiheit jenseits der Diskussion um objektivrechtliche und subjektivrechtliche Grundrechtsfunktionen zu verfremden. In ihren wesentlichen Konturen entwickelt wurden die grundrechtlichen Schutzpflichten zunächst in dem ersten Urteil des Bundesverfassungsgericht zur Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen unter dem Fristenlösungsmodell (1975). Das Gericht leitet hier den Schutz des ungeborenen Lebens unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) ab, indem es dessen normative Reichweite über seine Funktion als Abwehrrecht ausdehnt: "Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur - selbstverständlich - unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fordernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren."51 Dogmatische Prämisse ist das Verständnis der Grundrechte auch als objektive Wertordnung, was ihre Herauslösung aus dem Kontext bloßer

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BVerfGE 33, 303 (330). BVerfGE 33, 303 (337). 50 Im Erg. ganz ähnlich H. Dreier, Subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, Jura 1994, S. 512, der in den Schutzpflichten "das Gravitationszentrum der aktuellen Diskussion um objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte" sieht, weil hier aus vorgeblich negativen positive Kompetenznormen werden. Dies ist jedoch, wie noch vollständig zu zeigen sein wird, nicht nur bei den Schutzpflichten, sondern bei allen Leistungsrechten im weiten Sinne der Fall. BVerfGE 3 , (). 49

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3. Kap. : Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Abwehrfunktion zur Konsequenz hat.52 Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung erstreckt die Pflicht zu staatlichem Schutz auch auf andere Lebensbereiche, die ihre grundrechtliche Verankerung im Schutz von Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG haben53 und sich dahingehend zusammenfassen lassen, daß die Schutzpflicht dort zum Tragen kommt, wo etwa Leben und Gesundheit nicht von staatlicher, sondern von nichtstaatlicher Seite bedroht oder verletzt werden, sei es durch ein unmittelbares Handeln Dritter oder die Gefährdung ζ. B. durch technische Anlagen.54 Das Schutzpflichtenkonzept des Bundesverfassungsgericht, das in der zweiten Entscheidung zum Unrechtsgehalt von Schwangerschaftsabbrüchen (1993) bestätigt wurde 55, ist in der Literatur nicht unwidersprochen geblieben. Die Kritik richtet sich jedoch weniger gegen das Ergebnis, als vielmehr gegen die dogmatische Konstruktion. Diese Kontroverse ist von Bedeutung, weil sie den Blick auf die unterschiedlichen dogmatischen Vorverständnisse schärft. Die Kritik geht nämlich davon aus, daß Schutzpflichten der abwehrrechtlichen und nicht der (im weiten Sinne) leistungsrechtlichen Grundrechtsfunktion zuzuordnen sind, da die Rechtsordnung moderner Staaten bereits traditionell dem Schutz vor Dritten zu dienen bestimmt sei; dies finde seine grundgesetzliche Geltung in Art. 20 Abs. 1 GG, so daß auch die Pflicht zum Schutz vor Beeinträchtigungen durch Dritte mit Verfassungsrang ausgestattet sei.56 Das so entwickelte "allgemeine Gewaltverbot" verpflichte den Staat, Beeinträchtigungen zwischen Privaten zu verhindern; der Gehorsamspflicht des Bürgers entspreche die Schutzpflicht des Staates,57 denn der Staat sei für alles verantwortlich, was er nicht verbiete, mit der Folge, daß ein staatlicher Grundrechtseingriff in Abwehrrechte durch Unterlassen an den gleichen Kriterien zu messen sei wie ein Eingriff durch 52 BVerfGE 39, 1 (41). Kritisch hierzu die abweichende Meinung von Rupp-v. Brünneck, S. 68 (71 ff.), vor allem zu der von der Senatsmehrheit hergeleiteten Verpflichtung des Gesetzgebers zum Erlaß von Strafnormen zur Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten aus der objektiven Wertordnung, S. 73 ff. 53 Vgl. die Analyse der Leitentscheidungen BVerfGE 39, 1 - Fristenlösung; E 46, 160 - Schleyer; E 49, 24 - Kontaktsperre; E 49, 89 - Kalkar; 53, 30 - Mülheim-Kärlich; 56, 54 - Fluglärm bei G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 43 ff. 54 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 1. 55 BVerfGE 88, 203 (251). 56 D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1988, 102 ff.; ähnlich J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 223 f., 238; J. Pietzcker, Drittwirkung - Schutzpflicht - Eingriff, FS Dürig, 1990, S. 345 (355, 357, 359). 57 Zu dieser Komplementärfunktion etwa J. Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 23 f.; Zur Gleichsetzung von grundrechtlichen Schutzansprüchen und Abwehrrechten vgl. auch die Darstellung bei A. Pietrzak, Die Schutzpflicht im verfassungsrechtlichen Kontext - Überblick und neue Aspekte, JuS 1994, S. 749.

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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aktives Tun. 58 Dieses Verständnis der Schutzpflichten als bloße Modifikation der Abwehrrechte kann nicht überzeugen. Für die Bestimmung des Gewährleistungsbereichs ist nämlich entscheidend, daß die Schutzpflichten nur durch eine konkrete (grundrechtsrelevante) Gefährdungslage und nicht durch eine abstrakte Gefahrenvermeidungspflicht des Staates ausgelöst werden können. Erforderlich ist deshalb die Begründung der Umstände, die in dem zu prüfenden Lebenssachverhalt die (abstrakte) Schutzpflicht des Staates auslösen, d. h. ein Handeln von nichtstaatlicher Seite, das die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit beeinträchtigt.59 Ausgangspunkt der Schutzpflicht ist damit immer die Gefährdung eines durch ein Grundrecht geschützten Gutes (das Recht auf Leben des Ungeborenen, die Rechte von Mietern, die Rechte von Bewohnern in der Umgebung einer technischen Anlage); daß der dann konkret erfolgende Schutz durch den Staat wiederum Grundrechte anderer beeinträchtigt (die der schwangeren Frau, der Wohnungseigentümer, der Betreiber von technischen Anlagen), ist bloßer Reflex jener Schutzpflicht. Für die Bestimmung des Gewährleistungsbereichs ist deshalb entscheidend, daß die konkrete Gefährdungslage und nicht eine abstrakte Gefahrenvermeidungspflicht des Staates herausgearbeitet wird. Folge einer nicht hinreichenden Unterscheidung zwischen abstrakter Gefahrenvermeidungspflicht und konkreter Gefährdungslage sind die Erweiterungen der Schutzpflichtenkonzeption zu einem "Grundrecht auf Sicherheit" oder den "Grundrechtsschutz des Menschen vor sich selbst".60 Dogmatisch werden sie sowohl als Konsequenz der objektivrechtlichen Leistungsfunktion 61 als auch als Erweiterung der Abwehrrechte begriffen. 62 Gemeinsam ist diesen Ansätzen, daß im Ergebnis nicht mehr die Beschränkung, sondern die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit rechtfertigungsbedürftig wird. Dieses um58 D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung fur die Risiken der Technik, 1988, S. 65, 109 f. 59 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 220 f. 60 Vgl. J. Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 33; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 220 ff.; M. Sachs, in: K. Stem, Staatsrecht III/l, S. 736. 61 H. Steiger, Entwicklungen im Grundrechtsverständnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, 1979, S. 262 f.; ders. Verfassungsrechtliche Grundlagen, 1982, S. 32 f.: Der objektivrechtliche Gehalt und nicht Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. 1 Abs. 1 als subjektiv-öffentliches Recht wird zur Grundlage der Schutzpflicht; J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, vor allem S. 33. 49. 62 D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 61 ff, 88 ff, 102 ff. Nicht ganz zutreffend ist deshalb auch die Kritik von F.-W. Steinmeier, Bürger ohne Obdach, 1992, S. 206 ff, der in dem Grundrecht auf Sicherheit den "Kulminationspunkt der Schutzpflichtendiskussion" als letzten Schritt auf dem Wendekreis der Grundrechte hin zu einem objektiven Wertordnungsverständnis sieht.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

fassende Grundrechtsverständnis muß sich der Gefahr gegenwärtig sein, daß Grundrechte so in ihr Gegenteil verkehrt werden können.63 Die so erfolgende Erweiterung der Schutzpflichten ist allerdings nicht zwingend; für den Schutz des Menschen vor sich selbst wird dies offenkundig, wenn man etwa zutreffend davon ausgeht, daß die Durchsetzung (vermeintlicher) individueller Freiheit gegen den Willen des Grundrechtsträgers bereits tatbestandlich die Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit verfehlt. 64 c) Drittwirkung Schutzpflichten und Teilhaberechten ist gemeinsam, daß sie das Verhältnis zwischen Bürger und Staat über die bloße Eingriffsabwehr hinaus um weitere Grundrechtsfunktionen erweitern. Die sog. Drittwirkung modifiziert diese Perspektive und problematisiert, ob (1) Grundrechte ihre Wirkung auch in den Rechtsbeziehungen entfalten, die nicht zwischen Bürger und Staat bestehen und ob (2) sich diese Entfaltung auf den abwehrrechtlichen Bereich beschränkt. Abstrakter formuliert würde hier nicht nur das vertikale Verhältnis zwischen Staat und Bürger um eine weitere Funktion ergänzt, sondern die Grundrechtswirkung würde sich auch auf das horizontale Verhältnis zwischen Privaten erstrecken.65 Die Folge ist ein Dreiecksverhältnis, das aus den Beziehungen zwischen zwei Bürgern und jedem dieser Bürger zum Staat entsteht.66 Wie und in welchem Umfang die Grundrechte in diesem Dreieck wirken, ist dann die (umstrittene) Frage der mittelbaren, unmittelbaren oder durch Rechte gegenüber dem Staat vermittelten Drittwirkung. 67 (1) Zu den sich hieraus ergebenden dogmatischen Problemen hat das Bundesverfassungsgericht erstmals in seinem Lüth-Urteil Stellung genommen.68 Die Konstellation der Drittwirkung stellt sich, weil das Urteil des Landgerichts den Schutzbereich eines Grundrechts, hier das der freien Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG, nur verletzen kann, wenn das Grundrecht bei der Ur63 J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 230; F.W. Steinmeier, Bürger ohne Obdach - Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum, 1992, S. 206 ff. 64 Überzeugend C. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 145 ff; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 199, 228 ff. 65 Hierzu H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 90 ff; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 475 ff. 66 J. Pietzcker, Drittwirkung - Schutzpflicht - Eingriff, in: H. Maurer (Hrsg.), Das akzeptierte Grundgesetz, FS f. G. Dürig, 1990, S. 345. 67 Hierzu R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 480 ff. 68 BVerfGE 7, 198.

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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teilsfindung zu beachten ist,69 wenn sich der Beklagte Lüth also auf seine Meinungsäußerungsfreiheit berufen kann und diese deshalb bei einer Verurteilung wegen sittenwidriger Schädigung durch eine Meinungsäußerung gemäß § 826 BGB zu berücksichtigen war: "Die grundsätzliche Frage, ob Grundrechtsnormen auf das bürgerliche Recht einwirken und wie diese Wirkung im einzelnen gedacht werden müsse, ist umstritten. Die äußersten Positionen in diesem Streit liegen einerseits in der These, daß die Grundrechte ausschließlich gegen den Staat gerichtet seien, andererseits in der Auffassung, daß die Grundrechte oder doch einige und jedenfalls die wichtigsten von ihnen auch im Privatrechtsverkehr gegen jedermann gälten."70 Die Lösimg findet das Bundesverfassungsgericht über die oben schon beschriebene universelle Geltung des Wertsystems der Grundrechte als Grundsatznormen, mit der Folge, daß diese "als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten".71 Damit ist der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG betroffen, weil der Beschwerdeführer nach der Untersagung des Boykottaufrufs seine Meinung nicht mehr frei äußern kann und die Rechtsprechung geltendes (Zivil-)Recht auch im Lichte der Grundrechte auszulegen und anzuwenden hat. (2) Die dogmatische Einordnung der Drittwirkung kann hiernach noch nicht abschließend erfolgen, denn das Lüth-Urteil hat lediglich die Verbindung zwischen Drittwirkung und Grundrechtsschutz in seiner abwehrrechtlichen Funktion hergestellt; die als vorstaatlich gedachte Freiheit von Lüth wurde durch das Verbot der Meinungsäußerung verkürzt. Würde sich die Grundrechtswirkung zwischen Privaten auf diese Funktion beschränken,72 wäre das Verständnis der Drittwirkung als objektivrechtliche Leistungsfunktion widersprüchlich und eine Erweiterung der Abwehrfunktion naheliegend.73 Mit dem Blinkfüer-Beschluß hat das Bundesverfassungsgericht demgegenüber auch die Verbindung zwischen Drittwirkung und Grundrechtsgewährleistung in seiner leistungsrechtlichen Funktion hergestellt.74 Eine Betroffenheit des Schutzbereichs läßt sich bei dieser Fallkonstellation nicht mehr durch die Freiheit von staatlicher Ingerenz vermeiden, sondern nur durch positives Handeln, das dem Blinkfüer-Herausgeber staatlichen Schutz gegen eine ihn beeinträchtigende 69

BVerfGE 7, 198 (203). BVerfGE 7, 198 (204). 71 BVerfGE 7, 198 (205). 72 So etwa J. Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 141 ff. 73 In diese Richtung H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 85 ff; J. P. Müller, Zur sog. subjektiv- und objektiv-rechtlichen Bedeutung der Grundrechte, Staat 29 (1990), S. 38 f. BVerfGE 5, 5 . 70

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Handlung gewährt:75 "Das Ziel der Pressefreiheit, die Bildung einer freien öffentlichen Meinung zu erleichtern und zu gewährleisten, erfordert deshalb den Schutz der Presse gegenüber Versuchen, den Wettbewerb der Meinungen durch wirtschaftliche Druckmittel auszuschalten."76 Es wird deutlich, daß zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat differenziert werden muß: Geht es um Gebote oder Verbote, dann entfaltet sich die Drittwirkung in der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte; verlangt die Verwirklichimg grundrechtlicher Freiheit staatliches Handeln, etwa durch Schutz, dann entfaltet sich die Drittwirkung in der leistungsrechtlichen Funktion. Diese beiden Möglichkeiten betreffen im Dreieck der Drittwirkung das jeweilige Staat-BürgerVerhältnis, das den Grundrechtskonflikt unmittelbar auslöst und damit Anlaß für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist, in den Beispielsfällen also die Verfassungsbeschwerden von Lüth und dem Herausgeber von "Blinkfüer". Nur die Ausgestaltung dieser Seite (die als zweite Seite des Dreiecks bezeichnet werden soll) ist für die dogmatische Zuordnung zwischen Schutz- oder Gewährleistungsfunktion relevant; ihr zugrunde liegt die erste Seite des Dreiecks, die das Bürger-Bürger-Verhältnis rechtlich verarbeitet, also die Boykottaufrufe von Lüth und dem Springer-Verlag. Das Dreieck wird komplett durch das weitere Staat-Bürger-Verhältnis, hier zwischen Staat und Harlan bzw. dem Springer-Verlag. 77 d) Verfahrensgrundrechte Unter dem Stichwort "Grundrechtsschutz durch Verfahren" wird das Problem der Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtssicherung durch Verfahren diskutiert.78 Die Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes, d. h. nach der hier vorgenommenen Unterscheidung besser der Grundrechtsgewähr-

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So auch E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, Verhandlungen d. 50. DJT, Bd. II, 1974, S. G 27; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 480. 76 BVerfGE 25, 256 (268); Hervorh. R.K. 77 Dieses Verhältnis ist jedoch erst bei der Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Eingriffe in die Grundrechte von Lüth und dem Herausgeber von "Blinkfüer" relevant, denn erst hier kann es zur Auflösung der Kollision widerstreitender Grundrechte kommen. 78 Auch hier sollen zunächst wieder die im Grundgesetz ausdrücklich als (ausschließlich justizielle) Grundrechte normierten Verfahrensrechte vergegenwärtigt werden - der Anspruch auf ein gerichtliches Verfahren und eine gerichtliche Entscheidung (Art. 19 Abs. 4 GG), auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2) und rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), - um dann zu fragen, welche darüber hinausgehenden verfahrensrechtlichen Anforderungen sich aus den materiellen Grundrechten ergeben.

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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leistung durch Verfahren jenseits der justiziellen Grundrechte 79 wurde zunächst für den Schutzbereich von Art. 14 GG entwickelt und dann auf andere Grundrechte übertragen. So hat das Bundesverfassungsgericht bei drohendem Eigentumsverlust durch Zwangsversteigerung eine sich unmittelbar aus Art. 14 GG ergebende Handhabung der Verfahrensrechte verlangt, die den Schuldner vor einer drohenden unverhältnismäßigen Verschleuderung (d. h. einer Versteigerung weit unter dem tatsächlichen Wert) bewahren.80 In dem Mülheim-KärlichBeschluß des Bundesverfassungsgericht ging es in verfahrensrechtlicher Hinsicht um die Frage, inwiefern die sich aus Art. 2 Abs. 2 GG ergebende Pflicht des Staates, Leben und Gesundheit zu schützen, auch in dem atomrechtlichen Genehmigungsverfahren ihren Niederschlag findet. Dies war insofern problematisch, als die vorinstanzlichen Verwaltungsgerichte die atomrechtlich vorgesehene Öffentlichkeitsbeteiligung ( § 1 2 AtomG) nicht als Begründung subjektiver Rechtspositionen, sondern lediglich als der Verwaltung vorgeschriebenes Mittel angesehen haben, sich möglichst umfassend über die entscheidungserheblichen Sachverhalte zu unterrichten. 81 Die vorgesehene Öffentlichkeitsbeteiligung wurde zwar im Verwaltungsverfahren zur Teilerrichtungsgenehmigung eingehalten, später wurde jedoch ohne erneute Anhörung der Drittbetroffenen 82 eine erheblich abweichende Bauweise zugelassen. Entscheidend ist demnach, ob die Öffentlichkeitsbeteiligung Schutzfunktionen für Drittbetroffene entfaltet, so daß Verfahrensfehler auch subjektive Rechte verletzen können. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, welche Anforderungen an eine (letztlich durch einfaches Recht begründete) subjektive Betroffenheit zu stellen sind, um eine Grundrechtsverletzung durch Verfahrensverstöße zu begründen, geht das Bundesverfassungsgericht zunächst davon aus, "daß Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und daß die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist."83 Ausgestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts müssen also dort, wo es erforderlich ist, an der Effektuierung der Grundrechte ausgerichtet sein. Für das atomrechtliche 79

Hierzu grundlegend P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: WDStRL 30 (1972), S. 86 ff. und K. Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427 ff. 80 BVerfGE 46, 325 (333 ff.). Hierzu m. Nachw. B.-O. Bryde, in: v. Münch/Kunig, GGK, Bd. 1, 4. Aufl. 1992, Art. 14, Rn. 37 ff. 81 Vgl. die Schilderung und die Nachw. in BVerfGE 53, 30 (62 ff.). 82 In dem konkreten Fall ging es darum, ob sieben Kilometer entfernte Bewohner in ihren Rechten verletzt sind, weil die Genehmigungsbehörde eine Gebäudeanordnung des Kraftwerks zum Bau freigibt, die von der in der ersten Teilgenehmigung vorgesehenen abweicht. 83 BVerfGE 53, 30 (65).

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Genehmigungsverfahren hat das Bundesverfassungsgericht dies bejaht und im Fall Mülheim-Kärlich die Folgen fehlerhafter Gesetzesanwendung durch die Verwaltung korrigiert. 84 Die so entwickelte Grundrechtsgewährleistung durch Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht jüngst für die Festsetzung der Gebühren für den öffentlichrechtlichen Rundfunk fortgeschrieben und hervorgehoben, daß prozeduraler Grundrechtsschutz dann besonders wichtig ist, wenn die Grundrechte ihre materielle Schutzfunktion nicht hinlänglich erfüllen können.85 Im Fall der Rundfunkgebühren sah sich das Gericht zu dieser Feststellung veranlaßt, da eine nachträgliche Kontrolle der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Entscheidung, die - wie die Organisation des Rundfunks insgesamt an Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen ist - anhand der Höhe der Gebühren kaum möglich sei.86 e) Organisationsgrundrechte Der prozedurale Grundrechtsschutz im Bereich der Rundfunkfreiheit wird allerdings nur verständlich, wenn man sich die grundrechtsdogmatische Entwicklung der Gewährleistung der Rundfunkfreiheit näher betrachtet. Diese ist nämlich zugleich ein wichtiges Beispiel für die Bedeutung der Grundrechte in komplexen Lebenssachverhalten, die eine organisatorische Ausgestaltung erfordern, um grundrechtliche Freiheit überhaupt zu ermöglichen. Für die Entwicklung der Rundfimkfreiheit durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht wohl entscheidend ist das Urteil zum saarländischen Rundfimkgesetz. Ausgangspunkt der konkreten Normenkontrolle war der Antrag eines (im Entstehen befindlichen) privaten Rundfimkveranstalters auf Erteilung einer Konzession. Diese wurde aufgrund der einschlägigen Vorschriften von der Landesregierung abgelehnt.87 Das Bundesverfassungsgericht hat die für diese Ablehnung erheblichen Regelungen für mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG unvereinbar und damit nichtig erklärt, weil sie den Anforderungen an die organisatorische Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit in grundrechtlicher und staatsorganisationsrechtlicher Hinsicht nicht genügen. Diesen Anforderungen liegt die Überlegung zugrunde, daß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG in seiner abwehrrechtlichen Dimension das, was durch die Rundfunkfreiheit zu gewährleisten ist, nämlich einen von staatlicher Ingerenz freien Rundfunk, noch nicht sicherstellt.88 Zwar 84 85 86 87 88

D. Grimm, Verfahrensfehler als Grundrechtsverstöße, NVwZ 1985, S. 868. BVerfG NJW 1994, S. 1942, 1946. BVerfG NJW 1994, S. 1942, 1945 f. Zum Sachverhalt s. BVerfGE 57, 295 (296 ff.). BVerfGE 57, 295 (320).

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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erfordert Rundfunkfreiheit auch Freiheit vom Staat, doch damit ist die dienende Funktion der Rundfunkfreiheit im Sinne freier und umfassender Meinungsbildung nicht gewährleistet. Kommunikation durch Rundfunk entsteht nämlich, anders als die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Individualkommunikation, nicht von selbst.89 Dies ergibt sich schon aus ihrem Charakter als technisch und organisatorisch höchst voraussetzungsreiches Massenmedium, also als Kommunikationsmittel, dessen Zugangsbarrieren auf der Anbieterseite in der Regel nur von denen überwunden werden können, die ohnehin über relevanten gesellschaftlichen Einfluß verfugen. 90 Deshalb bedarf es einer "positiven Ordnung, welche sicherstellt, daß die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet und daß auf diese Weise umfassende Information geboten wird. Um dies zu erreichen, sind materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen erforderlich, die an der Aufgabe der Rundfunkfreiheit orientiert und deshalb geeignet sind zu bewirken, was Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisten will." 9 1 Konsequenz dieser Anforderungen ist das duale Rundfunksystem (also das Nebeneinander von öffentlich-rechtlichem Integrationsfunk und privatrechtlichem Marktfunk), unter den gegenwärtigen Bedingungen allerdings mit einer Bestands- und Entwicklungssicherung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. 92 Aus alldem folgt kein subjektiv-öffentliches Recht "auf freien Rundfunk" im Sinne eines vorstaatlich gedachten Rechts, denn der Freiheitsbereich Rundfunk nimmt erst durch die positive Ordnung selbst Gestalt an. Auch etwaige subjektive Rechte entstehen also erst durch Ausgestaltung und sind demnach auch von vornherein durch diese begrenzt. 93

89 H. Rossen, Freie Meinungsbildung durch den Rundfunk, 1988, S. 75 ff.; S. Ruck, Zur Unterscheidung von Ausgestaltungs- und Schrankengesetzen im Bereich der Rundfunkfreiheit, AöR 117 (1992), S. 546. 90 S. Ruck, Zur Unterscheidung von Ausgestaltungs- und Schrankengesetzen im Bereich der Rundfunkfreiheit, AöR 117 (1992), S. 546 m.w.N. Trotz einer sich rasch vollziehenden Entwicklung wird man nach wie vor von dem Befund des BVerfG von 1981 [E 57, 295 (322)] ausgehen können, wonach sich die Rundfunkfreiheit aufgrund knapper Sendefrequenzen und dem hohen Aufwand für die Veranstaltung von Rundfunkdarbietungen in einer Sondersituation befindet. 91 BVerfGE 57, 295 (320). 92 BVerfGE 73, 118 (158 f.); 74, 297 (325 ff.). Vgl. auch die Darstellung bei W. Hoffmann-Riem, in: AK-GG, 2. Aufl., 1989, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 186 ff.; dort auch die Nachw. für die Kritik an dieser Form des dualen Systems. 93 Zum Ganzen W. Hoffmann-Riem in: AK-GG, 2. Aufl., 1989, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 143; S. Ruck, Zur Unterscheidung von Ausgestaltungs- und Schrankengesetzen im Bereich der Rundfunkfreiheit, AöR 117 (1992), S. 548.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

3. Grundrechtstheoretische und -dogmatische Folgerungen Die Unterscheidung zwischen Abwesenheit staatlichen Handelns als Voraussetzung für die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit und dessen Anwesenheit als Freiheitsverkürzung hat für die Grundrechte in ihrer objektiven Leistungsfunktion keine Gültigkeit mehr. Die Prüfung, ob ein "Eingriff 1 in grundrechtlich verbürgte Freiheit vorliegt, muß hier vielmehr von der umgekehrten Konstellation ausgehen: Wenn festgestellt wurde, daß die Gewährleistungsfunktion staatliches Handeln verlangt, um die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit zu ermöglichen, dann liegt die Beeinträchtigung von Freiheit gerade darin, daß der Staat nicht gehandelt hat.94 An die Vorstellung vorstaatlicher Freiheit tritt ein Verständnis konstituierter Freiheit, deren Verwirklichung eine leistende Ausgestaltung des grundrechtlich zu gewährleistenden Lebensbereichs durch den Staat voraussetzt.95 Dies belegen auch die konkreten grundrechtsdogmatischen Folgen in den skizzierten Schlüsselentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. a) Teilhaberechte In dem Beispielsfall zum Numerus clausus hat die Analyse des Gewährleistungsbereichs ergeben, daß aus Art. 12 Abs. 1 GG ein unbeschränkter Anspruch auf Zulassung zum Studium besteht. Die Leistungsverweigerung liegt darin, daß die Zulassung aufgrund der fehlenden Kapazitäten nicht erfolgte. Für die Teilhaberechte bestätigt sich also, daß ein "Eingriff in den Gewährleistungsbereich vorliegt, wenn der Staat nicht gehandelt hat. Das Nichthandeln bedarf jedoch einer Präzisierung, denn genau genommen liegt ja auch in der Zulassungsablehnung ein staatliches Handeln. Dieses kann jedoch nicht das dogmatische Bindeglied zwischen Gewährleistungsbereich und vom Einzelnen hinzunehmender Freiheitsverkürzung - der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Leistungsverweigerung - bilden, denn die bloße Beseitigung der Ablehnung erreicht nicht die leistungsrechtliche Pflicht des Staates und der Bewerber bekommt keinen Studienplatz.96 Die Leistungsverweigerung liegt viel-

94

Vgl. hierzu die Darstellung bei G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 72 f.; auch R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 402 ff., 415 ff. 95 So auch G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 75 ff.; D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 232. 96 So auch D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 236. Es ergibt sich hier eine ganz ähnliche Situation wie im Verwaltungsrecht: Auch dort hilft die Anfechtungsklage nicht weiter, wenn um eine Leistung gestritten wird, weil mit dieser lediglich entschieden wäre, daß die Ablehnung rechtswidrig ist, aber nicht, ob ein

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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mehr darin, daß ein staatliches Handeln unterblieben ist, das die Gewährleistungsverpflichtung des Teilhabegrundrechts erfüllen würde. b) Schutzpflichten Die pointierte Aussage, bei den Schutzpflichten erfolge staatlicher Schutz durch Eingriffe in Grundrechte, soll die dogmatische Nähe zu den Abwehrrechten bestärken.97 Sofern es sich um den Konflikt zwischen zwei Grundrechten handelt, ist zutreffend erkannt, daß es um den Schutz der einen grundrechtlichen Freiheit durch Freiheitsbeeinträchtigungen auf der anderen Seite in einer Dreieckskonstellation geht.98 Die hiermit zum Ausdruck gebrachte Grundrechtskollision ist jedoch keine Konstellation, die nur in Verbindung mit den Grundrechten als Schutzpflichten auszumachen ist. So ist der Eingriff in vorbehaltlos gewährleistete Abwehrrrechte überhaupt nur zur Verwirklichung eines anderen, verfassungsrechtlich verbürgten Rechtes gerechtfertigt und die Grundrechtskollision damit (neben anderem Verfassungsrecht) einer der beiden Anwendungsfälle : In das vorbehaltlos garantierte Grundrecht wird eingegriffen, um die Freiheitsentfaltung eines anderen Grundrechts zu ermöglichen. Dieser Vergleich macht deutlich, daß auch bei den Schutzpflichten Ursache und Wirkung verwechselt werden. Wie oben bereits näher erläutert, erfolgt bei ihnen staatliches Handeln, um grundrechtliche Freiheit zu gewährleisten. Daß hierbei - jedenfalls in den Fällen, die zu einem verfassungsrechtlichen (und verfassungsgerichtlichen) Konflikt führen - in Grundrechte anderer eingegriffen wurde, mag die Regel sein, ist jedoch "bloß" Folge der Schutzpflichtenverwirklichung. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Drittwirkung, denn auch hier ist ein Dreiecksverhältnis die Grundkonstellation, in der, "spätestens" mit Hilfe des denkbar weiten Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 GG in der Auslegung von herrschender Lehre und Bundesverfassungsgericht, in der Regel widerstreitende Grundrechte miteinander kollidieren, so daß die GrundrechtsAnspruch auf die Leistung besteht. Diese Feststellung kann nur durch eine Verpflichtungs- bzw. Leistungsklage erreicht werden. 97 R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553 ff.; ähnlich bereits G. Dürig, M/D/H/Sch, Art. 1 Abs. 1, Rn. 3; J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213 ff.; dezidiert a. A. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 415 f , der zutreffend zwischen Abwehrrecht und Recht auf Schutz unterscheidet: "Ersteres ist ein Recht gegenüber dem Staat darauf, daß dieser Eingriffe unterläßt, letzteres ein Recht gegenüber dem Staat darauf, daß dieser dafür sorgt, daß Dritte Eingriffe unterlassen. Der Unterschied zwischen der Pflicht, Eingriffe zu unterlassen, und der Pflicht, dafür zu sorgen, daß Dritte Eingriffe unterlassen, ist so fundamental und folgenreich, daß sich, jedenfalls unter dogmatischen Gesichtspunkten, jede Relativierung der Unterscheidung verbietet." 98 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 199 ff.; R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553 ff. 15 Kleindiek

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

kollision nicht nur zur "Dauerfigur des öffentlichen Rechts",99 sondern auch des Privatrechts wird. Es wird deutlich, daß die am "Schutz durch Eingriff 1 entwickelte Kritik ein Problem der Grundrechtsdogmatik der Freiheitsrechte überhaupt ist. c) Drittwirkung Auch bei der Drittwirkung ist die Zuordnung der dogmatischen Figur des Eingriffs von der Unterscheidung zwischen Abwehr- und Gewährleistungsfunktion abhängig. In der Lüth-Entscheidung liegt die Freiheitsbeeinträchtigimg in dem Verbot, zum Boykott aufzurufen; hätte das Landgericht der Klage von Harlan nicht stattgegeben, wäre Lüth in seiner Meinungsfreiheit nicht beeinträchtigt worden. Der Eingriff liegt hier in der beeinträchtigenden Ingerenz durch positives staatliches Handeln. Nur auf den ersten Blick ist die Konstellation in der Blinkfüer-Entscheidung gleich gelagert. Zwar hat auch hier ein Gerichtsurteil als Akt der öffentlichen Gewalt (§ 90 BVerfGG) in die Pressefreiheit des "Blinkfüer"-Herausgebers eingegriffen, dies sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob der Staat durch positives Handeln im Sinne der Eingriffsabwehrdogmatik gehandelt hat. Die Beantwortung dieser Frage muß bei näherem Hinsehen nämlich der Analyse des Normbereichs folgen; zu dessen Bestimmung das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, daß das Grundrecht auf Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zur Verwirklichung der freien Presse Schutz "gegenüber Versuchen, den Wettbewerb der Meinungen durch wirtschaftliche Mittel auszuschalten", verlangt. 100 Die Freiheitsverkürzung liegt also darin, daß die auf staatlichen Normsetzungsleistungen beruhende Rechtsposition grandrechtlich nicht abgesichert wurde: Der Bundesgerichtshof hat dem "Blinkfüer"-Herausgeber durch die Abweisung seiner Klage auf Schadensersatz keinen staatlichen Schutz gegen eine ihn beeinträchtigende private Handlung gewährt. 101 d) Verfahrensgrundrechte Die Realisierung der Verfahrensgrundrechte erfolgt nicht durch die Unterlassung von Eingriffen, sondern durch die Gewährung von staatlichen Normsetzungsleistungen und deren grundrechtsadäquater Anwendung durch Rechtsprechung und vollziehender Gewalt. Der angestrebte Erfolg liegt also im Bei99

R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 556. BVerfGE 25, 256 (268). 101 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 487 (Hervorh. dort); so auch G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 174 f. 100

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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spiel Mülheim-Kärlich nicht schon in der Folge staatlichen Nichtstuns, sondern in der Anhörung als staatlicher Leistung. Dem entspricht es, daß die unterlassene Anhörung nicht auf dem dogmatischen Wege des negatorischen Grundrechtsschutzes erlangt werden konnte; diese könnte nur zu der Feststellung gelangen, daß die fehlende Anhörung rechtswidrig gewesen ist, einen positiven Anspruch auf deren Durchführung kann sie nicht begründen.102 Nur durch diese Unterscheidung kann die Subjektivierung objektiver Grundrechtsgehalte in Form von Verfahrensrechten 103 dogmatisch bewältigt werden. Hiermit wird einmal mehr deutlich, daß die objektiven Grundrechtsgehalte subjektive Rechte gerade dort begründen können, wo die abwehrrechtliche Konzeption nicht hinreicht. e) Organisationsgrundrechte Besonderheiten ergeben sich zunächst bei der Grundrechtsgewährleistung durch Organisation. Wenn man der hier vetretenen Interpretation der Rundfunkfreiheit als Organisationsgrundrecht folgt, dann ist die Aussage des Bundesverfassungsgerichts nicht haltbar, die aus Art. 5 Abs. 1 GG folgende Aufgabe, Rundfunkfreiheit rechtlich auszugestalten, berechtige nicht zu einer Beschränkung des Grundrechts, denn eine solche sei nur gemäß Art. 5 Abs. 2 GG zulässig.104 Übersetzt in die dogmatischen Verarbeitungsregeln bedeutet dies, Grundrechtsausgestaltung berechtige nicht zu einem "Eingriff 1 in die grundrechtliche Freiheit. Dies ist jedoch problematisch, denn Ausgestaltungsgesetze können erhebliche Belastungen enthalten, die in ihrer Intensität einem Eingriff gleichkommen.105 Dogmatisch konsequent läßt sich dieser Widerspruch auf-

D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 237. Daß auch die Verletzung einfachgesetzlich konstituierter Verfahrensvorschriften nicht über die Eingriffsabwehrklage erreicht werden kann, weist G. Lübbe-Wolff (Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 105 ff.) am Beispiel des Mülheim-Kärlich-Beschlusses nach. Auch hier ergibt sich, wie bei den Leistungsrechten, eine ganz ähnliche Situation wie im Verwaltungsrecht: Die Anfechtungsklage hilft nicht weiter, wenn um eine Leistung gestritten wird, weil mit dieser lediglich entschieden wäre, daß die Ablehnung rechtswidrig ist, aber nicht, ob ein Anspruch auf die Leistung besteht. Diese Feststellung kann nur durch eine Verpflichtungs- bzw. Leistungsklage erreicht werden. 103 In diesem Sinne R. Schmidt-De Caluwe, in: H. Sodan/J. Ziekow (Hrsg.), NomosKommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 1. Lfrg., 1996, § 44a, Rn. 268. Vgl. allg. G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 282 ff. u. jüngst H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 1996, Vorb. v. Art. 1, Rn. 50, 62 ff. 104 BVerfGE 57, 295 (321). 105 Bei der Rundfunkfreiheit etwa Vielfalts- und Sorgfaltsanforderungen an die Veranstalter oder vor der Einführung des dualen Systems der Ausschluß Privater; s. zum ganzen S. Ruck, Zur Unterscheidung von Ausgestaltungs- und Schrankengesetzen im Bereich der Rundfunkfreiheit, AöR 117 (1992), S. 547 ff.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

lösen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Rundfunkfreiheit kein Bereich vorstaatlicher Freiheit ist, sondern erst durch den Gesetzgeber organisiert und ausgestaltet werden muß. Auch Individualrechte entstehen erst innerhalb der Ausgestaltung und sind somit durch diese von vornherein begrenzt. 106 Über die Verfassungsmäßigkeit der Ausgestaltung ist hiermit jedoch noch nichts gesagt; diese kann sich, wie bei allen Freiheitsrechten, letztlich erst im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung erweisen. Fraglich bleibt, ob von der so zu lösenden erstmaligen Ausgestaltung die Umgestaltung107 zu unterscheiden ist, denn nach erfolgter Ausgestaltung können subjektive Rechte einzelner begründet worden sein, die von der nun erfolgenden Umgestaltung betroffen sind. Ein solches Umgestaltungsgesetz hätte dann freiheitsverkürzenden Charakter; 108 die sich im Vergleich zu einem Ausgestaltungsgesetz andeutenden Unterschiede im Prüfungsmaßstab sind dann bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zu berücksichtigen. f) Ergebnis Die Schutzbereich-Abwehr-Dogmatik ist auf die objektivrechtlichen Leistungsansprüche nicht anwendbar. Sollen die dogmatischen Verarbeitungsregeln diese Grundrechtsfunktionen in die Lage versetzen, die auf staatlichen Leistungen beruhenden Rechtspositionen grundrechtlich abzusichern, dann müssen sie berücksichtigen, daß sich die Bedeutung des Eingriffsbegriffs nicht nur umgekehrt hat; negative Eingriffsabwehr und positive Leistungsgewährung entwickeln sich auch in der weiteren verfassungsrechtlichen Beurteilung zunehmend auseinander. Denn die der Eingriffsabwehr eigene, eindeutige Trennung von entweder Handeln oder Nichthandeln läßt sich bei den Leistungsrechten nicht aufrechterhalten, weil angesichts der vielfältigen staatlichen Handlungsmöglichkeiten eine Leistungsverweigerung auch darin liegen kann, daß der Staat nicht ausreichend gehandelt hat. 109 Deutlich wird dies, wenn man sich die ratio der grundrechtsdogmatischen Unterscheidung von Tun und

106 W. Hoffmann-Riem, AöR 109 (1984), S. 315 f.; H. Rossen, Freie Meinungsbildung durch den Rundfunk, 1988, S. 305 ff.; S. Ruck, Zur Unterscheidung von Ausgestaltungs- und Schrankengesetzen im Bereich der Rundfunkfreiheit, AöR 117 (1992), S. 548. 107 So die Differenzierung etwa bei S. Ruck, Zur Unterscheidung von Ausgestaltungs· und Schrankengesetzen im Bereich der Rundfunkfreiheit, AöR 117 (1992), S. 547 und S. 550. 108 W. Hoffmann-Riem, Rundfunkrecht neben Wirtschaftsrecht, 1991, S. 74. 109 G. Hermes bezeichnet dies für die Schutzpflichten treffend als "Schlechterfüllung", Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 220; ebenso W. Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 55.

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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Unterlassen vergegenwärtigt: 110 Jedem staatlichen Handeln im abwehrrechtlichen Sinne kann ein bestimmtes (definites) verfassungsmäßiges Gegenteil, nämlich das Unterlassen staatlicher Ingerenz, zugeordnet werden; grundrechtsverletzendes Unterlassen dagegen hat kein definites verfassungsmäßiges Gegenteil, sondern nur eine indefinite Anzahl von verfassungsmäßigen Alternativen. Dies fuhrt im Gegensatz zu den Abwehrrechten bei den Leistungsrechten zu einer größeren Einschätzungsprärogative und damit einer weiteren Gestaltungsfreiheit durch den Gesetzgeber.111 4. Objektive Leistungsansprüche als eigenständige Grundrechtsfunktion Das Festhalten an einem liberalen Grundrechtskonzept geht von zwei entscheidenden Prämissen aus, die paradigmatisch für das Ringen um die "richtige" Grundrechtsdogmatik sind. Zum einen wird angenommen, daß sich die Aufgabe der Grundrechte darin erschöpft, einen liberalen Staat zu bändigen, um so die Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft und ihrer Subsysteme zu garantieren. Zum anderen wird davon ausgegangen, daß die Wirkkraft der Grundrechte individualisierbar 112 und grundsätzlich auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat beschränkt ist und alle darüber hinausgehenden Funktionen rechtfertigungsbedürftige Ausnahmen sind. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß beide Annahmen nicht (mehr) zutreffen. Das Instrumentarium des klassisch-liberalen Grundrechtsverständnisses allein erweist sich für die Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Grundrechtskonflikte als nicht mehr geeignet; eine Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis wird deshalb unter den Bedingungen einer postindustriellen Gesellschaft kaum mehr möglich sein, der vor zehn Jahren noch bezweifelte Paradigmenwechsel113 110

So und für das Folgende G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 37 ff, vor allem S. 40 f. Vgl. auch D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders. Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 236. 111 D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 238 ff; in diesem Sinne auch H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektive Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), S. 366: "Die objektivrechtliche oder Wertentscheidungsseite der Grundrechte ist damit zwangsläufig weniger präzise als die Abwehrseite, gleichzeitig aber auch erheblich entwicklungsfähiger und offener." 112 Zum Argument des Grundrechtsindividualismus R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Staat 29 (1990), S. 61, wonach "der Zweck und damit der Grund für die Grundrechte der Schutz des einzelnen ist und nicht die Garantie objektiver Ordnungen oder kollektiver Güter." 113 B. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, S. 466 f. (Fn. 60); hierzu auch D. Suhr, Freiheit durch Geselligkeit - Institution, Teilhabe, Verfahren und Organisation im systematischen Raster eines neuen Paradigmas, EuGRZ 1984, S. 538.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

hat sich vollzogen: Die Notwendigkeit objektivrechtlicher Grundrechtsfunktionen macht vielmehr deutlich, daß Freiheit nicht ohne staatliches Handeln, mithin "von selbst" zu verwirklichen ist. "Das Versagen des liberalen Sozialmodells und die Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts haben zu einer Umorientierung der Staatstätigkeit von status quo-orientierter Ordnungsbewahrung zu zukunftsgerichteter Ordnungsgestaltung gefuhrt." 114 Konnte sich der Staat unter der liberalen Prämisse von der Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft darauf beschränken, die vorgegebene Ordnung vor Störungen zu bewahren oder nach eingetretener Störung wiederherzustellen, so ist dem modernen Wohlfahrtsstaat die Aufgabe aktiver Vorsorge zugewachsen. Diese wurde bisher mit den Problemen und Folgen einer industrialisierten Massengesellschaft identifiziert; im Vordergrund standen die grundrechtliche Absicherung des Sozialstaates und die Fremdsteuerungsfähigkeit makroökonomischer Prozesse durch den Staat. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt der Risikogesellschaft hat diesen Aufgabenbereich um eine wesentliche Facette erweitert; staatliche Vorsorge bezieht sich nicht mehr nur auf ökonomische Absicherung der Lebensverhältnisse, sondern auch auf die Bewältigung existentieller Bedrohungen durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung selbst. Die Strukturen wissenschaftlich-technischer Erkenntnis in der Risikogesellschaft (Gesellschaft als Labor, Wissenschaftliches Wissen durch Erfahrung und die hieraus erwachsenden Aufgaben der Wissenschaft) 115 verwehren es dem Staat, sich auf bloßes Eingriffsunterlassen zu beschränken. Staatliches Handeln kann sich nicht auf Ordnungsbewahrung beschränken, sondern muß der postindustriellen Entwicklung ordnungsgestaltend begegnen.116

114

D. Grimm, Der Wandel der Staatsaufgabe und die Zukunft der Verfassung, 1994, S. 613. Treffend auch A. Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994); S. 56: "Freiheitssicherung ist heute, in einer modernen Welt, ohne ein abgestuftes System von Verfahrenssicherungen, Organisation und staatlichen Leistungs- und Schutzpflichten kaum mehr denkbar." In diesem Sinne bereits H. Steiger, Entwicklungen im Grundrechtsverständnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, 1979, S. 255: "Es scheint notwendig zu werden, neue Wege zu gehen." 115 Hierzu oben, 1. Kap., S. 118 ff. 116 Vgl. hierzu auch D. Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, 1991, S. 197 ff., vor allem S. 220: "Die Verfassung war eine bürgerliche Erfindung, die unter der Prämisse von der Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft den Staat auf Garantiefunktionen für Individualfreiheit beschränken und in der Erfüllung dieser begrenzten Funktion an die Interessen der von ihm getrennten autonomen Gesellschaft binden sollte." In diesem Sinne auch K. Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, S. 271, der hieraus für die Grundrechte folgert, daß deren Bedeutung "heute weit über diejenige individueller Abwehrrechte gegen den Staat hinausgewachsen sind."

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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In der Entwicklung von der liberalen Grundrechtstheorie der bürgerlichen Gesellschaft hin zur pluralen Theorie der postindustriellen Risikogesellschaft sind die leistungsrechtlichen Funktionen keine bloßen Ergänzungen des abwehrrechtlichen Konzeptes, sondern sie eröffnen vielmehr ganz neue Möglichkeiten grundrechtlicher Freiheitsgewährung. Hinter dieser These steht die Überlegung, daß die Entwicklung vom klassisch-liberalen Verständnis hin zu pluralen Grundrechtsfunktionen 117 zur Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte keine so monokausale ist, wie es auch angesichts der hier angeführten Begründungen des Bundesverfassungsgerichts angenommen wird. In der Tat spricht vieles dafür, daß die Eingriffsabwehr bereits nicht die klassische Grundrechtsfunktion gewesen ist, sondern alle hier beschriebenen Funktionen in den Grundrechten angelegt sind und ihre Geltung von den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen abhängt.118 Der Vorstellung vorstaatlicher, natürlicher Freiheit liegt die Überzeugung zugrunde, daß ihre Wahrnehmung dem einzelnen Träger möglich sei, ohne daß dazu bestimmte Vorleistungen von dritter Seite erforderlich wären. Streng genommen gibt es eine solche voraussetzungslose Freiheit nicht.119 Auch die Abwehrrechte entfalten ihre Freiheit in der Verfassungswirklichkeit nicht "von selbst", sondern in einem Geflecht von Regelungen, das zunehmend grundrechtlich durchwirkt ist. "Vorstaatlich gedacht" bedeutet deshalb, wie Isensee zutreffend festgestellt hat, "hier - unphilosophisch und unemphatisch - die tatbestandlich umschriebene Rechtsposition vor der Veränderung durch den aktuellen staatlichen Eingriff." 120 Bei pragmatischer Betrachtungsweise kann man jedoch sehr wohl zwischen Freiheiten unterscheiden, deren Gebrauch allein vom Willensentschluß des Einzelnen abhängt, und solchen, die nur im Rahmen gesellschaftlicher oder staatlicher Institutionen wahrgenommen werden können.121

117 T. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, in: Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, 1994, S. 9 ff, 20 ff. 118 D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 224 ff. m.w.N.; T. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, 1994, S. 10 ff. Nähert man sich den Grundrechten historisch und verfassungsvergleichend, dann werden zwei Traditionen erkennbar. Die amerikanische Grundrechtstradition basiert auf einem Eingriffsabwehrverständnis, in der französischen Verfassungstradition fungieren sie als Leitprinzipien der Sozialordnung, anhand derer der Handlungsauftrag zur Schaffung von gleichen Lebenschancen und gerechten sozialen Verhältnissen verwirklicht werden sollte. Vgl. auch H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 1996, Vorb. v. Art. 1, Rn. 46, der daraufhinweist, daß die Einstufung der abwehrrechtlichen Funktion als "klassische" Grundrechtsfunktion kein exakt historisches, sondern ein systematisches Urteil sei. 119 D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 232. 120 J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, HdbStR V, § 111, S. 169. 121 D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 232.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Hiermit entfällt, wie es Grabitz zutreffend als Absage an dogmatische Einseitigkeit formuliert hat, die Notwendigkeit, Freiheit vom Staat gegen Freiheit im Staat, negative gegen positive Freiheit, Freiheit als Teilhabe gegen Freiheit als individuelle Beliebigkeit auszuspielen.122 Die Kritik von Böckenforde, der den objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte für die Entwicklung hin zum "verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" verantwortlich macht,123 hinterläßt dagegen eher Ratlosigkeit, weil sie zugleich die möglichen Alternativen (judicial self-restraint, funktionellrechtliche Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit, Rücknahme verfassungsrechtlicher Kontrolldichte im Sinne einer Unterscheidung zwischen Bindungs- und Kontrollnorm) als nicht tragfähig verwirft. 124 Diese Kritik trifft jedoch nur insofern zu, als nicht allein die Grundrechte in ihrer Leistungsfunktion für die von Böckenforde beschriebene Entwicklung verantwortlich sind, denn die umfassende Kontrollbefugnis hat sich das Bundesverfassungsgericht auch über die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion angeeignet; eine Aneignung, die in der Auslegung von Art. 2 Abs. 1 GG mit allen Folgeproblemen gipfelt. 125 Stattdessen überwiegen die Vorteile eines dogmatischen Regimes, das die unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen deutlich hervortreten läßt. Um Freiheit angesichts vielfältiger gesellschaftlicher Konfliktlagen zu schützen und zu ermöglichen, ist ein vereinheitlichendes grundrechtsdogmatisches Eingriffsabwehrverständnis nicht angemessen. Vielmehr stehen in der Grundrechtsdogmatik der Freiheitsrechte Abwehrrechte und Leistungsrechte selbständig nebeneinander. Nur diese Sichtweise wird der Tatsache gerecht, daß hinter der 122

E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 244. Überzogen im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 GG deshalb die Kritik von T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 153. 123 E. W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1991, S. 159 ff. 124 E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 191 ff. Mit der Kritik Böckenfördes an der Wertordnungsrechtsprechung des BVerfG setzt sich H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 51 ff, auseinander. Daß der Weg des judicial (self-)restraint ein durchaus praktikabler sein kann, zeigt die abweichende Meinung des Richters Böckenförde zur zweiten Entscheidung des BVerfG zum Unwertgehalt von Schwangerschaftsabbrüchen (BVerfGE 88, 203 [359 ff.]), die zwar die Schutzpflichten des Staates und damit die objektivrechtliche Leistungsfunktion anerkennt, die konkrete Ausgestaltung dieser Schutzpflicht aberrichtigerweise dem Gesetzgeber überläßt. Zum judicial (self-)restraint B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 309 ff. als Problem der Entscheidung von "political questions" bzw. als Problem des Verhältnisses von Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber umfassend S. 325 ff. 125 S. hierzu BVerfGE 80, 137 - Reiten im Walde; insbes. das Sondervotum von Grimm, S. 164 ff; dem entgegnend B. Pieroth, Der Wert der Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG. Zu einem bundesverfassungsgerichtsinternen Streit um die allgemeine Handlungsfreiheit, AöR 115 (1990), S. 33 ff. Zudem hat sich, worauf H. Dreier, Dimensiofien der Grundrechte, 1993, S. 60 ff., hinweist, das Verhältnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber gerade bei den objektivrechtlichen Grundrechtsfunktionen zugunsten einer weiteren Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers entwickelt.

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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Kontroverse um das Verhältnis zwischen abwehr- und leistungsrechtlicher Grundrechtsfunktion zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe stehen, die an die ursprüngliche Differenzierung zwischen Grundrechten als Abwehrrechte und wertentscheidende Grundsatznormen anknüpfen. Während die durch das Abwehrrecht zu verwirklichende Freiheit die bloße Abwesenheit gesetzwidrigen Zwanges durch die öffentliche Gewalt verlangt, setzt die Verwirklichimg des in der wertentscheidenden Grundsatznorm als Grundrecht verbindlich formulierten Freiheitsziels einen Komplex von sozialgestaltenden und -regulierenden Normen und Leistungen voraus, der dem jeweiligen Lebensbereich erst eine freiheitsadäquate Struktur verschafft. 126 Ziel dieser freiheitsadäquaten Strukturen ist, dem Selbstverständnis und der Aufgabe der Grundrechte entsprechend,127 die Verwirklichung individueller Freiheit. 5. Subjektivrechtliche Folgen objektiver Grundrechtsfunktionen Die Funktion der Grundrechte, individuelle Freiheit zu schützen und zu gewährleisten, kann nur dann wirksam verwirklicht werden, wenn der Einzelne seinen Anspruch auf individuelle Freiheit auch durchzusetzen vermag. Eine eigenständige und gleichberechtigte Bedeutung der aus der objektiven Wertordnung entwickelten Grundrechtsfunktionen setzt deshalb den Nachweis voraus, daß auch die Leistungsrechte Rechtspositionen begründen, auf die sich der Einzelne berufen kann. Daß dies der Fall ist, kann jedenfalls auf Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr bestritten werden; denn in den eben dargestellten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ging es durchweg um die Ableitung subjektivrechtlicher Konsequenzen aus den objektiven Wertentscheidungen der Grundrechte. 128 Die Kontroverse darüber, ob Grundrechte einerseits als objektive Ordnungsvorstellungen bzw. oberste Leitprinzipien der Sozialordnung fungieren, 129 die nicht zu einer subjektivrechtlichen Gewährleistung fuhren, 130 wohingegen 126 Vgl. hierzu auch E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 210 f.; U. K. Preuß, Die Internalisierung des Subjekts, 1979, S. 150. 127 Vgl. oben, S. 208 ff. 128 S. oben, S. 212 ff.; H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), S. 367 ff, 394 f.; G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 283 ff. 129 So D. Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 28 ff.; ders, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, 1991, S. 221 ff. 130 Hierzu etwa G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 281 f.; R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Staat 29(1990), S. 50.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

andererseits subjektiven Abwehrrechten die individualrechtliche Durchsetzungsmacht immanent sei, läßt sich aufhellen, indem fur die Herleitung der Grundrechtsfiinktionen zwischen der Begründung einerseits und der Geltung andererseits unterschieden wird. Diese Unterscheidung kann verdeutlichen, daß die Begriffe "objektiv" und "subjektiv" doppeldeutig verwendet werden. Indem das Bundesverfassungsgericht auf die objektive Wertordnung oder, allgemeiner formuliert, auf die Bedeutung der Grundrechte jenseits der Eingriffsabwehrfunktion rekurriert, begründet es die zusätzliche Funktion der Grundrechte, die hier, insoweit Alexy folgend, als Leistungsrechte im weiteren Sinne bezeichnet werden. 131 Für die Begründung dieser zusätzlichen Grundrechtsfunktion hat sich die Bezeichnung "objektiv-rechtlich" etabliert, um den Unterschied zu den Abwehrrechten hervorzuheben. Hieraus darf jedoch für ihre Geltung nicht geschlossen werden, daß sie keine subjektiv-rechtlichen Ansprüche zur Folge haben können. Die Begründung der Grundrechtsfunktion sagt nämlich noch nichts darüber aus, inwiefern diese auch subjektive, und das heißt für die Grundrechte vor allem, letztlich mit Hilfe einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einklagbare Rechtspositionen zur Folge hat. Dies ergibt sich auch für die Grundrechte aus der überkommenen Unterscheidung zwischen objektiv geltendem Recht und subjektiver Berechtigung. Alle Grundrechte sind demnach objektiv geltendes Recht. Für die subjektive Geltung ist entscheidend, ob dem Einzelnen die Rechtsmacht zur Durchsetzung zusteht. Diese Rechtsmacht ist jedem Grundrecht in jedem seiner Funktionen immanent.132 Denn es wäre - angesichts der erreichten Ausdifferenzierung der Grundrechtsfunktionen - nun begründungsbedürftig, daß ein Grundrecht zwar das Verhältnis zwischen Bürger und Staat in einem bestimmten Lebensbereich ausgestaltet und so individuelle Freiheit normiert, ein Verstoß gegen die Grundrechtsnorm jedoch rechtsfolgenlos bleiben soll. Durchsetzbaren, eigenständigen leistungsrechtlichen Verbürgungen kann auch nicht mit dem Einwand begegnet werden, hierin liege ein Verstoß gegen die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im allgemeinen und die Haushaltskompetenz im besonderen.133 Der wesentliche Unterschied zwischen 131

Vgl. oben, S. 213 (Fn. 43). Vgl. E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1991, S. 179; R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Staat 29 (1990), S. 60 ff. 133 So aber H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), S. 389; G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 15, 17; kritisch wegen der sich verändernden Balance zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit auch K. Hesse, Die Bedeutung der Grundrechte, in: HdbVerfR, 132

III. Abwehrrechtliche und leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion

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den Abwehrrechten und den Leistungsrechten liegt, wie oben näher ausgeführt, 134 vielmehr darin, daß dem Gesetzgeber eine indefinite Anzahl von Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet ist, um den Grundrechten als Leistungsrechte Wirksamkeit zu verleihen. Der größere Gestaltungsspielraum, der dem Gesetzgeber eröffnet sein muß, um den Leistungsrechten Geltung zu verschaffen, ist also von der grundrechtstheoretischen Herleitung zu unterscheiden. Diese beruht darauf, daß Grundrechte Freiheit nicht nur durch die Ausgrenzung staatlicher Macht schützen, sondern Grundrechte bilden ebenso die konstitutive Grundlage des Staates, die ihn legitimieren, indem sie ihm ihre Verwirklichung zur Aufgabe setzen.135 In dieser Auffassung von der Funktion der Grundrechte als Grundlage staatlichen Handelns hat die Begründung der Leistungsrechte aus der objektiven Wertordnung der Grundrechte ihren eigentlichen Ausgangspunkt. Den Leistungsrechten als eigenständige Grundrechtsfunktion zur Gewährleistung individueller Freiheit ist demnach ebenso eine objektive und eine subjektive Komponente zu eigen, wie den Abwehrrechten. Die Freiheitsrechte enthalten somit eine subjektiv-abwehrrechtliche und eine subjektiv-leistungsrechtliche Geltung. Hiervon zu unterscheiden ist die Subjektivierung der aus der objektiven Wertordnung entwickelten Grundrechtsgewährleistungen. Diese als Resubjektivierung136 zu bezeichnen, ist dann mißverständlich, wenn auch die Geltung der Grundrechte als Leistungsrechte im weiteren Sinne als originäre und von den Abwehrrechten zu unterscheidende Grundrechtsfunktion verstanden wird. Hiermit ist allen Versuchen entgegengetreten, den Leistungsrechten im Vergleich zu den Abwehrrechten eine geringere Dignität zuzuschreiben, weil sie aus dem nur objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte zu entwickeln sind und "bloß objektiven Schutz"137 bieten.

2. Aufl., 1994, § 5, Rn. 30; zu beiden Aspekten jüngst H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Vorb. v. Art. 1, Rn. 51. 134 S. oben, S. 210 ff. 135 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 192 f , 194. 136 So H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Vorb. v. Art. 1, Rn. 56, der daraufhinweist, daß die als Resubjektivierung zu bezeichnende Frage, ob den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten subjektive, einklagbare Rechtsansprüche korrespondieren, habe noch keine abschließende Antwort gefunden. 137 R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Staat 29 (1990), S. 50.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

IV. Folgen für die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG Für die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG stellt sich die Frage, ob es sich bei dieser Grundrechtsverbürgung um ein Abwehrrecht oder ein Leistungsrecht handelt, in ganzer Schärfe. Classen kommt nach eingehender Analyse des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG zu dem Ergebnis, daß dieser als "Abwehrrecht auch die Freiheit schützt, ohne staatliche Ausgestaltung die relevanten Fragen selbst zu entscheiden. Demgegenüber stellt eine Grundrechtsausübung durch Organisation und Verfahren ein Minus dar. Selbst wenn solche Maßnahmen grundsätzlich der Freiheitssicherung dienen, so entfalten sie im Einzelfall auch beschränkende Wirkung und sind daher insoweit an Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht zu messen."138 Betont wird hierdurch der individualrechtliche Vorrang von Art. 5 Abs. 3 GG, der durch Organisationsleistungen verstärkt werden kann. Die Parallele zu der Kontroverse um die Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ist unübersehbar; sie bietet sich, trotz aller bestehenden Unterschiede, zudem als anschaulicher Vergleich an, weil der Vorrang abwehrrechtlicher oder objektivrechtlicher Rundfunkfreiheit eine in Rechtsprechung und Wissenschaft weit vorangetriebene verfassungsrechtliche Frage ist, die zu einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen dem objektivrechtlichen Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, das dieses in seiner Rechtsprechung zur Rundfunkfreiheit stetig fortentwickelt hat, und Teilen der Literatur geführt hat, die eine primär abwehrrechtliche Auslegung verfolgen. 139 Die Vergleichbarkeit von Wissenschafts- und Rundfunkfreiheit richtet sich demnach auch danach, ob ein vorrangig subjektiv- oder objektivrechtliches Verständnis für beide Grundrechtsgewährleistungen angenommen wird. 140

138 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 121; ebenso T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 152 f.; noch deutlicher C. Starck, Freiheit und Organisation, 1976, S. 484: "Repräsentation ist Repression". 139 H. H. Klein, Die Rundfunkfreiheit, 1978, S. 41 ff.; C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 6 ff., 68; W. Rudolf, Über die Zulässigkeit privaten Rundfunks, 1971, S. 21 ff; U. Scheuner, Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit, 1982, S. 22 ff. 140 Anders dagegen C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 129, 246, 263 f., der eine Vergleichbarkeit mit der Rundfunkfreiheit weitgehend verneint; dies ist insofern konsequent, als er auch den organisationsrechtlichen Vorrang von Art. 5 Abs. 3 GG ablehnt. H.-H. Trute, Forschung, S. 283 f., 288 f., 428, dagegen hebt die vergleichbare Organisationsbezogenheit als Verwirklichungsbedingung von Rundfunk- und Wissenschaftsfreiheit hervor, ohne jedoch die Unterschiede und vor allem die verschiedenen Funktionen von Rundfunk und Wissenschaft zu verkennen.

IV. Folgen fiir die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG

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Wissenschaftsfreiheit hat mit der Rundfunkfreiheit gemeinsam, daß sie sich für den Einzelnen - sieht man einmal vom Privatgelehrten ab - nicht durch Freiheit von staatlicher Ingerenz "von selbst" verwirklichen kann. Sie ist ebenso wie die Rundfunkfreiheit von hochkomplexen organisatorischen und finanziellen Vorleistungen abhängig. Für den Rundfunk haben sich hieraus zwei Konsequenzen ergeben. Die technische und gesellschaftliche Entwicklung hat zum einen gezeigt, daß sich Rundfunk auch durch ein "freies Spiel" der ökonomischen Kräfte entwickelt hätte. Gleichwohl würde andererseits die hieraus resultierende Medienstruktur jedenfalls nicht der Interpretation der Rundfunkfreiheit als dienende Freiheit entsprechen; Rundfunkfreiheit wäre Freiheit Dies ist der entscheidende dann im wesentlichen wirtschaftliche Grund dafür, daß Rundfunkfreiheit nicht als vorrangig subjektives Abwehrrecht auf Freiheit von staatlicher Ingerenz begriffen werden kann. Das Verständnis der Rundfunkfreiheit als Organisationsgrundrecht folgt insofern auch den vorzufindenden Realisierungsbedingungen grundrechtlicher Freiheit. Fraglich bleibt nun, inwiefern dieses Ergebnis - trotz aller Unterschiede - für die Wissenschaftsfreiheit fruchtbar gemacht werden kann. Der Vergleich mit der Rundfunkfreiheit läßt an einem vorrangig subjektivrechtlichen Abwehrrecht auf die Entfaltung freier Wissenschaft zumindest zweifeln. Gleichwohl ist Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, wie alle Grundrechte, auf die Entfaltung individueller Freiheit ausgerichtet. Alexy hat dies für die objektivrechtlichen Grundrechtsfunktionen im allgemeinen dahingehend präzisiert, daß kollektive grundrechtliche Güter niemals den Charakter eines eigenständigen Schutzzwecks, sonders stets nur den eines Mittels zum Zweck des Einzelnen haben können.141 Hieran kann auch der inpersonal formulierter Wortlaut eines Grundrechts - wie auch Art. 5 Abs. 3 GG - nichts ändern; die "Zuteilung" personaler und inpersonaler Grundrechtsgarantien durch den Verfassunggeber ist zu heterogen, als daß sich hieraus systematisierende oder grundrechtstheoretische Schlußfolgerungen ziehen ließen.142 Die

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R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Staat 29 (1990), S. 61. 142 Dies zeigt bereits der abwehrrechtliche Vorrang der Kunstfreiheit als "Nachbargrundrecht" der Wissenschaftsfreiheit und der Religionsfreiheit. Aus der inpersonalen Formulierung allein Schlußfolgerungen zu ziehen, ist demnach nicht möglich; so aber H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 134 f.; U. K. Preuß, Die Internalisierung des Subjekts, 1979, S. 92 ff.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG darf deshalb jedoch nicht mit der Option für ein individualzentriertes Wissenschaftsverständnis verwechselt werden. 143 Dieser Aspekt ist in der bisherigen Diskussion im Schrifttum deutlich vernachlässigt worden; so hat sich die überkommene Auseinandersetzung um die Entpersonalisierung und Repersonalisierung der Wissenschaftsfreiheit mit dem Vorrang individual- oder organisationsrechtlicher Voraussetzungen nur im Hinblick darauf befaßt, inwiefern Individualrechte durch eine institutionelle Garantie universitärer Wissenschaft überlagert werden und wie diese Individualrechte weiterhin aufrecht zu erhalten sind, nachdem die institutionelle Garantie nicht mehr ausschließlich bestimmten Partikularinteressen zu dienen bestimmt ist.144 Im folgenden soll dagegen der Nachweis erbracht werden, daß die Wahrnehmung freier Wissenschaft, Forschung und Lehre gemäß Art. 5 Abs. 3 GG organisatorische Vorleistungen durch den Staat voraussetzt. Im Zentrum dieser organisatorischen Vorleistungen steht die Wissenschafts/re/Ae/f, d. h. autonome, also die den Eigengesetzlichkeiten des Lebensbereichs Wissenschaft folgende Entfaltungsmöglichkeit. Freie Wissenschaft in dem so verstandenen Sinne ist von anderen Verwirklichungszusammenhängen für Wissenschaft zu unterscheiden; auch das wissenschaftliche Handeln des Industrieforschers ist von Organisationsstrukturen abhängig, die an Komplexität denen innerhalb staatlicher Bindungen sicher in nichts nachstehen. Für die Wissenschaftsfreiheit als Grundrechtsproblem bedeutet dies vor allem: Die Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG, aber auch der anderen, die Wissenschaft nach bisher ganz überwiegend vertretener Auffassung nur am Rande ihrer Bedeutung betreffenden Grundrechte, muß die Eigengesetzlichkeiten wissenschaftlichen Handelns bei der Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten berücksichtigen.145

143 E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, FS Thieme, 1993, S. 703. So aber T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 153. 144 Vgl. hierzu oben, 2. Kap., S. 166 ff. 145 In diesem Sinne auch A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), S. 48.

V. Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsauftrag an den Staat

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V. Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsauftrag an den Staat Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, d. h. als grundrechtlich gewährleisteter Auftrag zur Einrichtung freier Wissenschaft, Forschung und Lehre, hat vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Wissenschaftsfreiheit innerhalb der Universität greifbare Konturen erhalten. So hat das Gericht den Organisationsbezug von Art. 5 Abs. 3 GG bereits im Hochschulurteil deutlich zum Ausdruck gebracht: "Der Staat hat die Pflege der freien Wissenschaft und ihre Vermittlung an die nachfolgende Generation durch Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln zu ermöglichen und zu fordern. Das bedeutet, daß er funktionsfähige Institutionen fur einen freien Wissenschaftsbetrieb zur Verfügung zu stellen hat. Diesem Gebot kommt deswegen besondere Bedeutung zu, weil ohne eine geeignete Organisation und ohne entsprechende finanzielle Mittel, über die im wesentlichen nur noch der Staat verfügt, heute in weiten Bereichen der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, keine unabhängige Forschung und wissenschaftliche Lehre mehr betrieben werden kann. Der Staat besitzt hinsichtlich dieses Wissenschaftsbetriebs heute weithin ein faktisches Monopol; eine Ausübung der Grundfreiheiten aus Art. 5 Abs. 3 GG ist hier notwendig mit einer Teilhabe an staatlichen Leistungen verbunden."146 Diese Formulierung war im zweiten Kapitel dieser Untersuchung Ausgangspunkt für den Nachweis, daß sich die bisher zu Art. 5 Abs. 3 GG ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls nicht auf die Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen - also vor allem der Industriewissenschaft - erweitern läßt.147 Sie soll nun Anknüpfungspunkt sein, um die Organisationsbezogenheit von Art. 5 Abs. 3 GG zu verdeutlichen. Art. 5 Abs. 3 GG ist, dies macht die zitierte Formel des Bundesverfassungsgerichts und ihre Rezeption in der verfassungsrechtlichen Literatur deutlich,148

146

BVerfGE 35, 79 (114 f.); in diesem Sinne auch E 85, 360 (384). S. oben, 2. Kap, S. 168 ff, 173 ff. 148 Grundlegend E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, FS Thieme, 1993, S. 697 ff, der jedoch den Vorrang personaler Freiheit mit der Begründung betont, Funktionalisierungen der Wissenschaftsfreiheit entgegenzuwirken, S. 703 ff. Hierin zeigen sich deutliche Unterschiede zu dem hier vertretenen Ansatz. Schmidt-Aßmann bezieht sich zur weiteren Begründung auf die Diskussion um die Personalisierung/Repersonalisierung auf der Staatsrechtslehrertagung 1969 (a.a.O., S. 705). Zum Stellenwert dieser Diskussion bereits oben, 2. Kap, S. 166 ff. Dezidiert anders als Schmidt-Aßmann auch B. Schlink, Das Grundgesetz und die Wissenschaftsfreiheit, Staat 10 (1971), S. 244 ff, vor allem S. 249 ff. 147

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

auf die Entfaltung organisierter Freiheit ausgerichtet. Organisation als eine grundrechtsadäquate Form der Freiheitsverwirklichung durch staatliche Leistung ist die dauerhafte Institutionalisierung von Zwecken, Rollen und Beziehungen zwischen Individuen, die auf die freie Entfaltung der individuellen Persönlichkeiten nicht reduzierbar und die in ihrem Zusammenspiel deshalb als eigenständiges System zu gewährleisten sind.149 Sie verwirklicht sich in Wissenschaftseinrichtungen, die in den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 GG adäquater Weise organisiert sind. Die Verwirklichung von Freiheit setzt hiernach Bedingungen voraus, für die die Begründung individueller Rechtspositionen allein nicht ausreicht. Es sind nicht mehr primär subjektive Abwehrrechte, an denen sekundär organisatorische Vorkehrungen zur Verwirklichung freier Wissenschaft gemessen werden, d. h. es besteht kein aus einer vorstaatlichen Freiheit resultierendes Recht des Einzelnen, an dem sich staatliche Regelungen, gleichsam immer als Eingriff in diese Freiheit, rechtfertigen müssen. Die organisatorischen Vorleistungen sind umgekehrt Bedingung für individuelle Freiheit, die nicht als vorstaatliche Freiheit begriffen werden kann, weil sie ohne staatliches Handeln nicht realisierbar ist. Nur die objektivrechtliche Funktion des Art. 5 Abs. 3 GG ermöglicht es deshalb, die Verantwortung des Staates für die Verwirklichungsvoraussetzungen von Wissenschaftsfreiheit grundrechtlich zu erfassen. 150 Die abwehrrechtliche Dimension dagegen würde das, was die Wissenschaftsfreiheit zu gewährleisten hat, allein nicht sicherstellen, denn für den Wissenschaftler ist die Teilhabe an staatlichen Leistungen die soziale Bedingung für freies wissenschaftliches Arbeiten; 151 nicht trotz seiner Bindung an die Wissenschaftseinrichtung, sondern wegen dieser ist ihm freies wissenschaftliches Arbeiten möglich.152 Der Grund hierfür liegt vor allem darin, daß sich freie Wissenschaft, gerade im Gegensatz zu abhängiger Wissenschaft, nicht ohne staatliches Handeln entfaltet. Das Bundesverfassungsgericht hat auch dies bereits in seinem Hochschulurteil hervorgehoben: "Dem einzelnen Träger des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG erwächst aus der Wertentscheidung ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerläßlich sind, weil sie ihm freie wissenschaft149 Vgl. H.-H. Trute, Forschung, S. 359 unter Bezugnahme auf H.-H. Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976), S. 193 und K.-H. Ladeur, AK-GG, 1989, Art. 19 Abs. 3, Rn. 22. 150 In diesem Sinne auch H.-H. Trute, Forschung, S. 190. 151 K. Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979, S. 64. 152 Für die Wissenschaftsfreiheit innerhalb der Universität R. Kleindiek, Wissenschaftsfreiheit in der Hochschule zwischen kritischer Öffentlichkeit und Disziplinarordnung, JZ 1993, S. 997.

V. Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsauftrag an den Staat

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liehe Betätigung überhaupt erst ermöglichen."153 Auch das Bundesverfassungsgericht geht somit davon aus, daß kein vorstaatlicher Bereich freier universitärer Wissenschaft besteht, in den der Staat "eingreifen" kann, sondern der Staat ist gefordert und verpflichtet, die Bedingungen für die Realisierung von Wissenschaftsfreiheit für den Einzelnen zu schaffen und zu organisieren. Nur in diesem Kontext werden die Präzisierungen individueller Rechtspositionen des Bundesverfassungsgerichts verständlich.154 Insofern ist Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, als grundrechtlich geschützte Gewährleistung des Lebensbereichs Wissenschaft durch den Staat der Weg, um das Ziel individuell realisierbarer Freiheit zu erreichen. Hieraus ergeben sich im folgenden näher zu konkretisierende Organisationsmaximen.155 Die Organisation freier Wissenschaft muß so erfolgen, daß staatliche Organisationsleistung und Staatsfreiheit der Wissenschaftseinrichtung kein Widerspruch sind. Dies ergibt sich daraus, daß die Verwirklichung der Gewährleistung in Art. 5 Abs. 3 GG Autonomie auch gegenüber dem Staat verlangt. Hiermit ist der Maßstab für entsprechende organisationsrechtliche Optimierungsregeln 156 festgelegt. Diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe gelten gleichermaßen für die "äußere" Wissenschaftsfreiheit der Einrichtung und die "innere" Freiheit ihrer wissenschaftsadäquaten Binnenstrukturen, so daß in der konkreten Ausgestaltung ein untrennbarer Zusammenhang zwischen beiden besteht.157 Zweck der Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Wissenschaftsfreiheit ist jedoch die eigenverantwortliche Bewahrung wissenschafts-

153

BVerfGE 35, 79(116). So in BVerfGE 35, 79 (112): "Das in Art. 5 Abs. 3 GG enthaltene Freiheitsrecht schützt als Abwehrrecht die wissenschaftliche Betätigung und steht jedem zu, der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will." Dementsprechend E 47, 327 (367): "Danach wird jedem, der im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist, ein individuelles Freiheitsrecht gewährt, das als Abwehrrecht die wissenschaftliche Betätigung gegen staatliche Eingriffe schützt." Und E 85, 360 (381): "Die Tätigkeit des Forschens genießt den Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG." 155 Zum Begriff der Grundrechte als Organisationsmaximen H.-H. Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976), S. 187 ff. 156 E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgnindrecht, FS Thieme, 1993, S. 701; für die Hochschulen vgl. auch I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 48. 157 C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 5 Abs. 3, Rn. 253; T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 316 f.; E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, S. 707. 154

16 Kleindiek

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

adäquater Strukturen durch die Einrichtung, in der sich diese Freiheit entfaltet. 158 Gerade hierfür unterscheidet sich die Pflicht des Staates, Wissenschaftsfreiheit zu organisieren, von der Pflicht der Wissenschaftseinrichtung, Wissenschaftsfreiheit innerhalb der geschaffenen Organisationsstrukturen umzusetzen. Die Entfaltung der Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht hat demnach zwei Voraussetzungen, für deren Verständnis zwischen den Aufgaben des Staates und den Aufgaben freier Wissenschaftseinrichtungen selbst unterschieden werden muß. 1. Der äußere Aspekt der Wissenschaftsfreiheit: Pflicht des Staates zur Organisation autonomer Wissenschaftseinrichtungen Die Pflicht des Staates zur Organisation freier Wissenschaft erscheint vordergründig als Widerspruch: Dem Staat kommt von Grundrechts wegen einerseits die Aufgabe zu, freie Wissenschaft zu organisieren, weil er auf diesem Gebiet "ein faktisches Monopol besitzt";159 gleichzeitig setzt Art. 5 Abs. 3 GG jedoch andererseits "freiheitliche Strukturen voraus, die in einem von unmittelbaren staatlichen Eingriffen geschützten Bereich Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen." 160 Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn berücksichtigt wird, daß wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird - freie Wissenschaft im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GG nur innerhalb staatlicher Bindungen zu verwirklichen ist; hierauf bezieht sich auch die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts zum "faktischen Monopol" des Staates. Deshalb wäre es auch höchst mißverständlich, Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen lediglich als eine Form der Organisation freier Wissenschaft zu begreifen; freie Wissenschaft ist eine öffentliche Aufgabe. 161 Auch diesen Gesichtspunkt hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zur universitären Wissenschaft deutlich hervorgehoben. Diese ist demnach "nicht für eine von Staat und Gesellschaft isolierte, sondern für eine letztlich dem Wohle des Einzelnen und der Gemeinschaft dienende Wissenschaft verfassungsrechtlich garantiert." 162 Vor allem die 158

Vgl. auch BVerfGE 85, 360 (385). BVerfGE 35, 79 (115). 160 BVerfGE 85, 360 (385). 161 Anders T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 153; ablehnend auch W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1974), S. 127 f., der am Beispiel der Pressefreiheit vor der "Zauberformel 'öffentliche Aufgabe' in Verbindung mit der objektivrechtlichen Sicht" der Grundrechte und einer entsprechenden Entwicklung für die Wissenschaftsfreiheit warnt. 162 BVerfGE 47, 327 (370). 159

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Universitäten sind "nicht nur der Raum fur die sich in wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit vollziehenden einzelnen Forschungs- und Bildungsprozesse, sondern Gegenstand und Mittel einer öffentlich kontrollierten Bildungsund Forschungspolitik."163 Für die universitäre Forschung und Lehre, aber vor allem für die anderen Wissenschaftsbereiche innerhalb staatlicher Bindungen ist dieser Befund zu verifizieren. Eine Umstrukturierung, die die zum Ausdruck kommende Verantwortung des Staates für die Organisation freier Wissenschaft zurücknehmen würde, ist zwar denkbar und einer Ergänzung oder Ersetzung durch andere Träger dieser Verantwortung möglich,164 sie würde jedoch eine Veränderung der Wissenschaftslandschaft als solche voraussetzen und damit die tatsächlichen Verwirklichungsbedingungen freier Wissenschaft völlig neu definieren. Organisationsrechtliche Optimierungsleistungen müssen sich demgegenüber auf die vorhandenen Strukturen stützen. Sie begründen nicht, wie Schmidt-Aßmann zu recht betont, die Pflicht oder den Anspruch auf optimale wissenschaftliche Partizipation, sondern sie sind an regelhaften, normalen Verhaltensweisen auszurichten, so daß ein Organisationsmodell, das im Gewährleistungsbereich von Art. 5 Abs. 3 GG eingesetzt werden soll, typischerweise geeignet sein muß, freie Wissenschaft zu fordern. 165 Insofern bestätigt sich hierin die im Unterschied zu subjektiven Abwehrrechten weitergehende Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung objektivrechtlicher Grundrechtsfunktionen. 166 Zu verlangen ist allerdings, daß sich die Wahrnehmung staatlicher Verantwortung für freie Wissenschaft durch staatliche Leistung an dem verfassungsrechtlich wirksamen Postulat der aufgabenadäquaten Organisation orientiert. Verwiesen ist damit auf die Wissenschaftstypen und ihre unterschiedliche Aufgabenstellung.167

163 BVerfGE 35, 79 (122). Diese Ambivalenz wird deutlich, wenn zugleich beachtet wird, daß zugunsten der Wissenschaftsfreiheit "stets der diesem Freiheitsrecht zugrundeliegende Gedanke mitzuberücksichtigen (ist), daß gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am besten dient." 164 Für das Beispiel von Privatuniversitäten A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), S. 71 ff. Zu dem System staatlicher und privater Universitäten in den USA instruktiv P. Weingart, Die amerikanische Wissenschaftslobby, 1970, S. 195 ff. 165 E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, FS Thieme, 1993, S. 701. 166 Vgl. hierzu auch oben, S. 229 ff., 234 ff. 167 Vgl. auch H.-H. Trute, Forschung, S. 341.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

a) Staatliche Organisationsleistung

als Vermittlungsfiinktion

Soll der Staat seiner Pflicht zur Organisation freier Wissenschaft nachkommen, so werden Vermittlungsebenen erforderlich, die in der Wissenschaftseinrichtung die notwendige Distanz zwischen staatlicher Organisationspflicht und Freiheit von staatlicher Ingerenz schaffen. An diese Vermittlung ist die anspruchsvolle Aufgabe gestellt, ihre Steuerungsfähigkeit sowohl zur Sicherung staatlicher Verantwortung als auch zur Gewährleistung individueller Freiheit wirksam zu entfalten. Das Konzept weitgehender staatlicher Enthaltsamkeit im Sinne einer bloßen Globalsteuerung über finanzielle Zuwendungen ist hierfür sicher nicht ausreichend - weder, um die Erfüllung spezifischer gesellschaftlicher Aufgaben durch autonome Wissenschaftsstrukturen noch, um die hierauf gerichteten autonomen Strukturen selbst zu gewährleisten. Entscheidend ist vielmehr, daß die Autonomie wissenschaftlichen Handelns und die Erfüllung spezifischer gesellschaftlicher Aufgaben nicht nebeneinander oder gegeneinander stehende Bedingungen der äußeren Organisationsgestalt der Wissenschaftseinrichtungen sind, denn Aufgabenstellung und Aufgabenerfüllung unterliegen staatlicher Verantwortung und, erst in diesem Rahmen entfaltet sich die auf die Verwirklichung der Wissenschaftsfreiheit hinzielende Autonomie.168 Trute hat die Mechanismen in Vermittlungs- und Steuerungsstrukturen als Element der Wissenschaftsorganisation innerhalb staatlicher Bindungen eingehend untersucht und für die Dogmatik von Art. 5 Abs. 3 GG fruchtbar gemacht. Grundlage hierfür ist zwar die Unterscheidung zwischen Forschungsebene und der auf sie bezogenen Trägerschicht; 169 entscheidend ist jedoch, daß die Realisierungsbedingungen von Autonomie bereits auf der Trägerebene angelegt sind, indem wissenschaftlicher Einfluß dort zur Geltung kommt.170 Denn die Autonomie der Wissenschaft hängt nicht nur davon ab, ob sie die wissenschaftsrelevanten Entscheidungen selbstbestimmt treffen kann und so die erforderliche "innere" Freiheit nachweisbar ist, sondern auch, ob hinreichender, d. h. freiheitsadäquater Einfluß auf die Umsetzung der organisatorischen Vorleistungen durch den Staat besteht. Der notwendige Einfluß der Wissenschaftler ist somit abhängig von dem externen Einfluß auf die Einrichtung, also deren Autonomie, deren Aufgabenstellung und Forschungstyp. Ge-

168

Vgl. auch H.-H. Trute, Forschung, S. 561. Allgemein zu Trägerschicht und Forschungsebene in Wissenschaftseinrichtungen, S. 345 ff, bei den GFE im besonderen S. 545 ff. 170 H.-H. Trute, Forschung, S.572. 169

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245

rade die Steuerungsdimension markiert damit einen wichtigen Baustein wissenschaftlicher Autonomie unter den Bedingungen organisierter Wissenschaft. 171 Die Unterscheidung zwischen Forschungsebene und Trägerebene kann demnach als Folie dienen, um die vorhandenen Organisationsformen der Wissenschaft darauf hin zu überprüfen, ob ihre Organisationsstrukturen die Entfaltung freier Wissenschaft ermöglichen. Der Grund hierfür liegt darin, daß trotz aller Unterschiede in Aufgabenstellung, Funktion, historischer Gewachsenheit und Selbstverständnis als Gemeinsamkeit aller Wissenschaftsformen festgehalten werden kann, daß die Kernaufgaben der Forschung in abgeschlossenen Einrichtungen, in Instituten oder Abteilungen wahrgenommen werden, während die Steuerung durch die Trägereinrichtungen bzw. die ihnen funktional entsprechenden administrativen Schichten der jeweiligen Organisation erfolgt. 172 Diese Vorstellung erlaubt es, eine Organisationsform adäquat abzubilden, bei der zwar Aufgabenstellung an und Aufgabenerfüllung durch die Wissenschaft staatlicher Verantwortung unterliegen, jedoch zugleich organisatorische Vorkehrungen institutionalisiert sein müssen, die eine Entfaltung des Wissenschaftsprozesses frei von unmittelbarer staatlicher Ingerenz ermöglichen. Eine mögliche Ausgestaltung dieser Vermittlungsebene ist die Selbstverwaltung; sie kann dezentral erfolgen, wie die Universitäten zeigen, oder zentral, z. B. in der Max-Planck-Gesellschaft. Variationsmöglichkeiten eröffnen sich ergänzend oder alternativ durch die Wahl der zur Verfügung stehenden Rechtsformen. Sie erstrecken sich von der Anstalt öffentlichen Rechts über gemeinnützige Vereine bis hin zu anderen privatrechtlichen Gesellschaftsformen, in denen der Staat ausschlaggebenden Einfluß auf die Gewährleistung organisatorischer Optimierung hat. b) Äußere Grenzen der Wissenschaftsfreiheit In diesem Rahmen besteht ein Entscheidungsspielraum, der nicht vorschnell eingeschränkt werden darf. Gleichwohl müssen die äußeren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit vergegenwärtigt werden, bei denen zwischen einer tatsächlichen (a) und einer verfassungsrechtlich wirksamen (b) Dimension unterschieden werden kann, die jedoch letztlich eng zusammenhängen.

171 172

H.-H. Trute, Forschung, S. 348. H.-H. Trute, Forschung, S. 347.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

(a) Die organisatorische Ausgestaltung von Strukturen, die Wissenschaftsfreiheit erst ermöglichen, setzt eine möglichst großzügige, gleichmäßige und zweckfreie Grundfinanzierung durch den Staat voraus.173 Hiermit sind erhebliche staatliche Einflußmöglichkeiten vor allem durch die Entscheidung über die Vergabe von (immer knapper werdenden) Ressourcen eröffnet, die sich jedenfalls mittelbar auf die Tätigkeit und die Wahl der konkreten Forschungsvorhaben des einzelnen Wissenschaftlers auswirken können.174 Die Finanzierung ist insofern die "Achillesverse"175 jeder wissenschafts- und forschungspolitischen Entscheidung, unabhängig davon, ob sie innerhalb staatlicher Bindungen oder der Industrieforschung getroffen wird. Ihre konkreten Auswirkungen richten sich danach, ob die staatlichen Finanzleistungen etwa im Sinne einer haushälterischen Globalzuweisung erfolgen oder durch punktuelle Projektforderung. Hinzu kommt mit der Drittmittelfinanzierung ein weiteres Strukturmerkmal öffentlicher Forschungspolitik. Für jede Form der Forschungsfinanzierung gilt - trotz aller Unterschiede -, daß die Finanzierung Abhängigkeiten schafft und den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß selbst determiniert. (b) Diesem Befund kann jedoch nicht mit dem Hinweis auf abwehrrechtliche Ansprüche des einzelnen Wissenschaftlers bzw. der Wissenschaftseinrichtung begegnet werden, denn die Finanzierungsleistung des Staates ist Bedingung für freie Wissenschaft. Daß das Bundesverfassungsgericht betont, Art. 5 Abs. 3 GG schütze vor unmittelbaren staatlichen Eingriffen, 176 kann eine plausible Erklärung darin haben, daß sich auch die organisatorische Ausgestaltung und hierin vor allem die Entscheidung über Förderung oder Nichtforderung von Forschungsprojekten als allerdings nur mittelbarer "Eingriff' erweist. Art. 5 Abs. 3 GG entfaltet demnach für den mittelbaren Einfluß durch die Vergabe finanzieller Mittel keine Wirkung. Dies ergibt sich aus dem Gesichtspunkt, daß Autonomie nur im Rahmen der zugewiesenen Aufgaben und abhängig von deren Fortbestand zu verwirklichen ist. In der Entscheidung zur Akademie der Wissenschaften der DDR hat das Bundesverfassungsgericht diesen Aspekt deutlich hervorgehoben: "Einrichtungen, die Zwecken der Wissenschaft dienen, ist Autonomie nur im Rahmen der ihnen zugewiesenen Aufgaben ver173

So etwa der Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Forschung und Mitteleinsatz in den Hochschulen, 1979, S. 21 ff.; vgl. auch BVerfGE 35, 79 (115); E 85, 360 (384). 174 Ein Beispiel ist der Wissenschaftsrat selbst, wenn dieser im Auftrag des Staates einzelne Forschungsbereiche oder ganze Universitäten evaluiert; vgl. hierzu H.-H. Trute, Forschung, S. 711 ff, der die Tätigkeit des Wissenschaftsrates mindestens im Hinblick auf Finanzierungsentscheidungen des Staates als besonders wirkungsvoll ansieht. Hierzu auch H. C. Röhl, Der Wissenschaftsrat, 1994. 175 So die treffende Formulierung von H.-H. Trute, Forschung, S. 412; zur Industrieforschung im besonderen s. unten, 4. Kap, S. 318 ff. 176 BVerfGE 85, 360 (385).

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liehen. Diese Aufgabe setzt freiheitliche Strukturen voraus, die in einem von unmittelbaren staatlichen Eingriffen geschützten Bereich Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen. Die eigenverantwortliche Bewahrung dieser Strukturen gehört zur Aufgabe wissenschaftlicher Einrichtungen. Ihre Autonomie ist auf die funktionsgerechte Wahrnehmung dieser Aufgaben beschränkt und von deren Fortbestand abhängig. Sie kann deshalb nicht die Aufrechterhaltung der Aufgabenzuweisung selbst sichern."177 In dem Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht sind diese äußeren Grenzen der Wissenschaftsfreiheit konsequent und zutreffend bestimmt. Einem abwehrrechtlichen Anspruch auf Fortbestand einer Wissenschaftseinrichtung in ihrer konkreten Organisationsgestalt und Aufgabenstellung wird somit deutlich entgegengetreten.178 Auch wenn sich das "Ob" einer staatlichen Organisationsleistung nicht auf die Gewährleistung durch Art. 5 Abs. 3 GG berufen kann und eine zu dem Zweck der Verwirklichung freier Wissenschaft geschaffene Einrichtung in ihrer Zwecksetzung auch wieder umgestaltet werden kann, so hat staatliches Handeln als verfassungsrechtliche Grenze gleichwohl zu beachten, daß eine Pflicht zu in sich konsequentem und widerspruchsfreiem Verhalten im Hinblick auf die freiheitsadäquate Organisation besteht. Hieraus folgt, daß es nicht zu einer schleichenden Veränderung der Bedingungen für Freiheit kommen darf, ohne daß hiermit eine "Umwidmung" der jeweiligen Wissenschaftseinrichtung erfolgt. Dies ergibt sich daraus, daß die Verwirklichung freier Wissenschaft autonome Strukturen in den Wissenschaftsemrichtungen voraussetzt. 2. Der innere Aspekt der Wissenschaftsfreiheit: Verfassungsrechtliche Anforderungen an autonome Binnenstrukturen Wissenschaft entfaltet sich in organisierter Form. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß nur über freiheitsadäquate Bedingungen von Wissenschaftseinrichtungen das den Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft fol177

BVerfGE 85, 360 (385); diesen Aspekt heben auch E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, FS Thieme, 1993, S. 710 u. H. Bethge, Art. 5 GG, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Rn. 215 ("kein Existenzgewährleistungsanspruch") hervor. 178 Anders E.-J. Meusel, Außeruniversitäre Forschung in der Verfassung, HdbWissR, Bd. 2, 1982, S. 1274; ders., Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 1992, Rn. 323 f., der aus der staatlichen Grundpflicht zur Forschungsförderung eine allgemeine Bestandsgarantie für bestehende Wissenschaftseinrichtungen annimmt: "Im Ergebnis darf der Staat deshalb DFG, MPG oder FhG zwar aus sachlichen Gründen schrumpfen, soweit sich das im Rahmen der Satzung vollziehen läßt, ganz darf er sie jedoch nicht auflösen, denn sie leben aus eigener wissenschaftlicher Funktion und Tradition, im weltweiten wissenschaftlichen Verbund."

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

gende Handeln des einzelnen Wissenschaftlers und damit Wissenschaftsfreiheit im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG realisiert werden kann. Deshalb lassen sich die Verwirklichungsbedingungen von Wissenschaftsfreiheit auch nicht vom einzelnen Wissenschaftler her begreifen; sie entfalten sich nur unter bestimmten Voraussetzungen und zur Erfüllung bestimmter Aufgaben und können deshalb auch nur in diesen Grenzen die Gewährleistung durch Art. 5 Abs. 3 GG beanspruchen. Dieses Zwischenergebnis der grundrechtsdogmatischen Herleitung muß sich fragen lassen, ob es das Recht auf individuelle Beliebigkeit,179 zumindest aber den personalen Vorrang 180 nicht vorschnell beseitigt, bevor der Schutz- bzw. Gewährleistungsbereich des Art. 5 Abs. 3 GG überhaupt bei dem einzelnen Wissenschaftler angelangt ist. Ob nicht Wissenschaftsfreiheit zwar durch den objektivrechtlichen Gehalt von Art. 5 Abs. 3 GG garantiert, aufrechterhalten und gefördert wird, aber "das, was Freiheit ist, in letzter Instanz nur derjenige entscheiden kann, der frei sein soll."181 Auch wenn man auf den ersten Blick diesem fast emphatischen Freiheitsverständnis den Vorrang einräumen möchte, so offenbaren sich doch die Schwierigkeiten bei näherem Hinsehen. So bezieht Carl Schmitt die von Schmitt Glaeser nahezu wörtlich übernommene Formulierung ausdrücklich und mehrfach auf die "klassischen Freiheitsrechte im bürgerlichen Rechtsstaat";182 eine Prämisse, die für die Interpretation der Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes gerade keine Geltung mehr beanspruchen kann.

179

So W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, in: Eser/Schumann, Forschung im Konflikt mit Recht und Ethik, 1976, S. 84; F. Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1976, S. 2104; E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, 50. DJT, 1974, S. G 26; T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 153; zur Kritik s. nur P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 (1962), 3. Aufl., 1983, S. 152. 180 E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsrecht, S. 703 ff.; in diesem Sinne bereits W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1974), S. 129 f. 181 So W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1974), S. 130; das Zitat geht zurück auf eine Formulierung von C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantie, 1931, in: ders. Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 167; s. bei Schmitt Glaeser, a.a.O., Fn. 90. 182 C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantie, 1931, in: ders. Verfassungsrechtliche Aufsätze, 3. Aufl., Berlin 1958, Nachdr. 1985, S. 143, 154, 167, 168, 169. Die institutionellen Garantien, um die es in dem Aufsatz von Schmitt geht, bezeichnet dieser in Abgrenzung zu den klassischen Grundrechten des bürgerlichen Rechtsstaates als "andere Art(en) verfassungsrechtlicher Sicherung(en)", a.a.O., S. 143. In diesem Zusammenhang sei nochmals darauf hingewiesen, daß auch Schmitt die Wissenschaftsfreiheit in Art. 142 WRV als institutionelle Garantie versteht, a.a.O., S. 151 f.; zur Diskussion um Art. 142 WRV ausf. oben, 2. Kap, S. 152 ff.

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Der Unterschied zwischen dem Verständnis von Freiheit als voraussetzungsreiche Gewährleistung und von Freiheit nach der Theorie des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates ist evident; Freiheit ist hiernach etwas prinzipiell Unbegrenztes, während rechtlich gewährleistete Freiheit notwendig nur ein prinzipiell begrenztes Maß sozialer Entfaltungschancen des Individuums eröffnet. 183 Gleichwohl müssen sich alle Interpretationen der Wissenschaftsfreiheit, unabhängig davon, wie sie das Verhältnis zwischen objektivrechtlicher und subjektivrechtlicher Grundrechtsfunktion letztlich verstehen, die Frage stellen, was unter individueller Wissenschaftsfreiheit zu verstehen ist, ob und welchen lebenswirklichen Voraussetzungen sie unterliegt. Diese Notwendigkeit zu verneinen würde bedeuten, Wissenschaft als einen Lebensbereich mit quasi ontologischer Autonomie zu begreifen. 184 Sie würde dann nicht Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit sein und deshalb auch keiner rechtlichen Regelung bedürfen, sei es zu ihrer Begrenzung, sei es zu ihrer Verwirklichimg. Für das hier vertretene Verständnis, wonach es eine öffentliche Aufgabe ist, Wissenschaftsfreiheit zu organisieren, um einen "von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers" 185 zu gewährleisten, gelten die eben beschriebenen Anforderungen allemal. Die staatliche Organisationsleistung muß die realen Bedingungen autonomer Wissenschaft rezipieren, um hieraus die verfassungsrechtlichen Anforderungen an autonome wissenschaftsadäquate Binnenstrukturen abzuleiten. a) Die sozialen Normen autonomer Wissenschaft Hiermit ist sie an die Wissenschaftssoziologie verwiesen. Soziologische Implikationen über die Bedingungen autonomer Wissenschaft finden, ausdrücklich oder konkludent, Eingang in nahezu jede Untersuchung zur Wissenschaftsfreiheit. 186 Ausgangspunkt ist durchweg die Wissenschaftssoziologie 183 K. Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem, in: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt, 1968, S. (557 ff.), 575; P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 (1962), 3. Aufl., 1983, S. 150 ff.; E. Grabitz, Freiheit als Verfassungsprinzip, 1976, S. 237. 184 So die treffende Formulierung von T. Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im Rechtsvergleich, 1992, S. 21. 185 BVerfGE 35, 79 (113). 186 Vgl. etwa C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 22 ff.; H.-H. Trute, Forschung, S. 72 ff.; A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), S. 38 ff., 53 ff; des., Wissenschaft und Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, 1986, S. 144 ff.; W. Vitzthum, Das Forschungsprivileg im Gentechnikgesetz, FS Lerche, 1993, S. 347; P. Häberle, Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. (329 ff.) 349 ff.; T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 278 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, S. 698 f.

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Robert Mertons; dies ist berechtigt, denn Mertons zentrales Erkenntnisinteresse richtet sich auf die gemeinsamen Werte von Wissenschaft und Gesellschaft, auf die Beziehungen, die hierdurch entstehen und soziale Bedingungen für eine ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgende, autonome Wissenschaft sind. Hierfür legt Merton ein Normensystem zugrunde, das er als Voraussetzung für eine vor den Ansprüchen von Staat und Gesellschaft geschützte, ihren eigenen Gesetzen folgende Wissenschaft begreift und das zugleich die ethischen Anforderungen an wissenschaftliches Handeln verdeutlichen soll. aa) Die Mertonschen Normen Die vier grundlegenden sozialen Normen der Wissenschaft sieht Merton in dem Universalismus, dem organisierten Skeptizismus, dem Kommunismus und der Desinteressiertheit. 187 Universalismus bezeichnet den unbegrenzten Geltungsanspruch der Wahrheit für die Wissenschaft. In einem denkbar umfassenden Sinne versteht Merton hierunter die von individuellen und sozialen Interessen abgehobene Objektivität. Wissenschaft muß international und unpersönlich sein, um allen den freien Zugang zur wissenschaftlichen Betätigung zu ermöglichen und wissenschaftliche Karrieren nur nach dem jeweiligen Talent zu fordern. 188 Die Norm des Kommunismus 189 verpflichtet den Wissenschaftler, seine Erkenntnisse anderen Wissenschaftlern frei und ohne Begünstigimg zugänglich zu machen: "Mit der institutionellen Konzeption von Wissenschaft als eines Teils der öffentlichen Sphäre, des public domain, verbindet sich der Imperativ, neue Erkenntnisse anderen mitzuteilen."190 Wissen, das nicht an die Öffentlichkeit gelangt, kann nicht Teil des anerkannten Wissens sein, an dem Kreativität gemessen wird und auf das sich andere Wissenschaftler in ihrer Arbeit beziehen.191 Uneigennützigkeit verlangt Distanz zu den eigenen wissenschaftlichen Erkenntnissen insofern, als sich deren Gewinnung nur an dem Selbstzweck der Wissenschaft orientieren soll. Zur Einhaltung dieser Norm 187 R. K. Merton, Die normative Struktur der Wissenschaft, 1985, S. 90 ff. Der Text entstand 1942. 188 R. K. Merton, Die normative Struktur der Wissenschaft (1942), S. 90 ff. 189 Merton versteht diesen Begriff in einem umfassenden Sinne; daß sich in der Rezeption der (politisch weniger verfängliche) Begriff Kommunalität oder Kommunalismus etabliert hat (wohl zuerst bei Bernard Barber, Science and the Social Order, 1952, S. 130; vgl. etwa auch N. W. Storer, Das soziale System der Wissenschaft, 1972, S. 63; A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), S. 63; H.-H. Trute, Forschung, S. 73; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 24), begründet Zuckermann mit einer Umformulierung während der McCarthy-Ära in den USA, H. Zuckermann, The Sociology of Science, in: Neil J. Smelser, Handbook of Sociology, 1988, S. S. 515. 190 R. K. Merton, Die normative Struktur der Wissenschaft (1942), S. 94. 191 Ν. W. Storer, Das soziale System der Wissenschaft, 1972, S. 64 f.

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verpflichtet Merton nicht nur den einzelnen Wissenschaftler, sondern die scientific community, die hierzu aufgrund des Kommunalismus in der Lage ist: "Die Aktivitäten von Wissenschaftlern sind einer strengen Überwachung unterworfen, wie man sie in diesem Maße vielleicht in keinem anderen Handlungsbereich findet. Die Forderung nach Uneigennützigkeit hat eine feste Basis im öffentlichen, nachprüfbaren Charakter von Wissenschaft, und dieser Umstand hat, so darf man annehmen, zur Integrität der Wissenschaftler nicht wenig beigetragen."192 Die Norm des organisierten Skeptizismus konzentriert die übrigen Normen als ein "methodologisches" und "institutionelles Gebot", indem der einzelne Wissenschaftler die Kritik der scientific community angemessen beachtet und die eigenen Forschungen immer wieder selbstverantwortlich auf ihre Richtigkeit hin überprüft. 193 bb) Ihre Kritik und Fortentwicklung Die Mertonschen Normen bilden eine wesentliche Grundlage der Wissenschaftssoziologie; sie sind umfassend rezipiert, kritisiert und weiterentwickelt worden. 194 Für die sozialen Bedingungen autonomer Wissenschaft ist vor allem die kritisierte Diskrepanz zwischen Geltung und Erfüllung der sozialen Normen, deren Auswirkungen auf das Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftssoziologie sowie die Finalisierung als wissenschaftssoziologisches Konzept von Bedeutung.

Ebendort, S. 97: "Die Umsetzung der Norm der Uneigennützigkeit in die Praxis wird sehr wirkungsvoll dadurch unterstützt, daß die Wissenschaftler letztlich ihren Standesgenossen rechenschaftspflichtig sind." 193 Die Anforderungen des organisierten Skeptizismus werden in der verfassungsrechtlichen Rezeption auch treffend als Kritikzugänglichkeit zusammengefaßt, die die dialogische Struktur des wissenschaftlichen Prozesses zwingend voraussetzt; E. Denninger, Das Hochschulrahmengesetz - Kernstück einer Bildungsreform, 1972, S. 76; T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 279; E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, FS Thieme, 1993, S. 698; für die universitäre Wissenschaft in diesem Sinne auch B.-O. Bryde, Aufgabe und Aufbau der Universität, 1991, S. 4; vgl. auch R. Kleindiek, Wissenschaftsfreiheit in der Hochschule zwischen kritischer Öffentlichkeit und Disziplinarordnung, JZ 1993, S. 987: Wissenschaftsfreiheit darf nicht mit der Freiheit von Kritik verwechselt werden. 194 Vgl. etwaN. Storer, Das soziale System der Wissenschaft, S. 60 ff; S. B. Barnes/ R. G. A. Dolby, Das wissenschaftliche Ethos: Ein abweichender Standpunkt, S. 263 ff.; zusammenfassend P. Weingart, Wissenschaftsforschung und wissenschaftssoziologische Analyse, S. 29 ff., alle Beiträge in: Weingart (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie 1. Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozeß, 1972.

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(1) Diskrepanz zwischen Geltung und Erfüllung Die Kritik richtet sich zum einen an die offenkundige Diskrepanz zwischen Geltung und Erfüllung, subsumiert man Mertons Normen dem gesamten Lebensbereich Wissenschaft, also neben der akademischen Wissenschaft auch der übrigen Forschung innerhalb staatlicher Bindungen und der Industrieforschung.195 Barnes und Dolby haben diese Kritik dahingehend zusammengefaßt, daß Merton seine Normen vor allem an der akademischen Wissenschaft entwickle und hierfür das deutschen Universitätssystem als Vorbild zugrunde lege; dort wurde eine autonome Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die sich uneigennütziger Forschung widmeten und Kommunalismus und Uneigennützigkeit zu ihren Normen erklärten, zum Charakteristikum der Wissenschaft. 196 Bezugspunkt sei nicht nur eine bestimmte historische Phase der Wissenschaftsorganisation, sondern auch eine (verkürzende) Konzentration auf den Bereich der akademischen Forschung. Stattdessen habe das Anwachsen der ökonomisch attraktiven Anwendungsgebiete das dauernde Wachstum der Wissenschaft mit sich gebracht; die akademische Wissenschaft habe an Bedeutung verloren, indem andere Organisationsformen in Erscheinimg treten. Hiermit einher gehe der Verlust an Autonomie auch im Bereich der akademischen Wissenschaft; auch sie sei eingebunden in ein organisatorisches und finanzielles Geflecht, das individuelle Prioritätsrechte und die Entfaltung von Autonomie nachhaltig beeinflusse. 197 Akzeptiert man eine jedenfalls gewisse historische Konstanz der Mertonschen Normen, dann erklärt sich hieraus die im ersten Kapitel dargestellte Dominanz des idealistischen Wissenschaftssystems über Deutschland hinaus. Barnes und Dolby weisen jedoch ebenso zu recht darauf hin, daß die Entwicklung der synthetischen Chemie in Deutschland aus wissenschaftssoziologischer Perspektive belegt, daß die Norm der Uneigennützigkeit dort nicht verwirklicht wurde. Im Gegenteil wurde der Fortschritt von Chemikern vorangetrieben, die neue und profitable Farbstoffe suchten; diese zusätzliche Begeisterung durch eine neue Motivation sei von wesentlicher Bedeutung gewesen.198 Auch Merton selbst betont die Relativität der von ihm formulierten Normen; nicht ohne Grund spricht er von den "institutionellen Imperativen", die das

195 Hierzu auch A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), S. 44 f , 64 f. u. H.-H. Trute, Forschung, S. 73 f. 196 S. B. Barnes/R. G. A. Dolby, Das wissenschaftliche Ethos, 1972, S. 276. 197 S. B. Barnes/R. G. A. Dolby, Das wissenschaftliche Ethos, 1972, S. 277. 198 S. B. Barnes/R. G. A. Dolby, Das wissenschaftliche Ethos, 1972, S. 276.

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Ethos der modernen Wissenschaft begründen.199 Als Beispiel für einen Verstoß gegen die Norm des Universalismus führt er das Verhalten deutscher Wissenschaftler im ersten Weltkrieg an. 200 Die ökonomische Verwertung wissenschaftlichen Wissens, deren Voraussetzung (in einer kapitalistischen Gesellschaft) die Zuordnimg von Erkenntnis als "Privateigentum" ist, sieht er als strukturell unvereinbar mit der Norm des Kommunalismus an. 201 Mertons Wissenschaftssoziologie wird verständlich, wenn man berücksichtigt, daß er von zwei theoretischen Annahmen ausgeht. Zum einen sei menschliches Handeln in den Kategorien manifester und latenter Funktionen zu erklären; zudem sei jeder erfaßbare und abgrenzbare Lebensbereich in der Lage, seine Bedürfnisse durch die Sozialisierung entsprechender Normen zu befriedigen. 202 Die normative Struktur der Wissenschaft dient somit nicht nur dem Aufbau eines Ethos als wissenschaftsimmanenten Verhaltenskodex, der Redlichkeit, Transparenz, Kommunikationsbereitschaft und Verantwortung zur Verwirklichung bringen soll, sondern auch der Schaffung und Aufrechterhaltung von Stabilität, die die Wissenschaft zur Verwirklichung ihres Ziels benötigt. Das Ziel des Lebensbereichs Wissenschaft ist die Erweiterung abgesicherten Wissens. Wissenschaft ist hierbei auf gesellschaftliche Strukturen ganz spezifischer Art angewiesen,203 Wissenschaft und die Tätigkeit von Forschern unterliegt bestimmten sozialen Bedingungen;204 gerade deshalb dient Merton das Normensystem auch (und wohl vor allem) als Schutz der Wissenschaft vor den Ansprüchen, die Staat und Gesellschaft an sie stellen. (2) Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftssoziologie Der wissenschaftssoziologische Ansatz Mertons und vor allem die kritische Auseinandersetzung hiermit haben dazu geführt, daß Eigengesetzlichkeiten des Lebensbereichs Wissenschaft als System von Werten und Normen rezipiert und ihre Verwirklichung in Beziehung zu den gesellschaftlichen Bedingungen für Wissenschaft analysiert wird. Hierdurch wird die Wissenschaftssoziologie als von der Wissenschaftstheorie eigenständige Disziplin etabliert,205 indem sie die 199 R K. Merton, Die normative Struktur der Wissenschaft (1942), S. 89, 90. Hervorh. R. K. 200 R K. Merton, a.a.O., S. 91. S. hierzu oben S. 86 f. 201 Ebendort, S. 95. Aus wissenschaftssoziologischer Perspektive dann die Vergesellschaftung des wissenschaftlichen Wissens in einer sozialistischen Ordnung zu fordern, etwa durch J. D. Bemal, The Social Function of Science, 1939, vor allem S. 155 ff. tut, lehnt Merton ebenfalls ab. 202 So P. Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur, 1976, S. 29. 203 R. K. Merton, Die normative Struktur der Wissenschaft, S. 86. 204 P. Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur, 1976, S. 26. 205 S. hierzu P. Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur, S. 26 f.; zutreffend H.-H. Trute, Forschung, S. 72, der in der Wissenschaftssoziologie Mertons das

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Relevanz auch externer Determinanten für die Wissenschaft thematisiert.206 Die streng wissenschaftstheoretisch angeleitete Auffassung etwa Poppers, wonach Wissenschaft jene "ahistorische" und "asoziale" "Dritte Welt des objektiven Wissens" sei, deren innere Struktur und Entwicklung allein den rationalen Kriterien der Logik unterliegen und sich deshalb auch nur über diese erschließen lasse,207 kann sich die Frage nach den externen Bedingungen von Wissenschaft nicht stellen. Die Besonderheit der Position Mertons dagegen liegt in dessen konkreten Schlußfolgerungen: Merton bezieht zwar die gesellschaftlichen Bedingungen in die normative Ordnung des Lebensbereichs Wissenschaft ein, die Normen selbst in ihrem konkreten Aussagegehalt immunisieren jedoch die Wissenschaft gegen die Anforderungen durch Staat und Gesellschaft, so daß abweichendes Verhalten auf Seiten der Wissenschaftler und des Staates bzw. der Gesellschaft als Normverstoß identifiziert wird. Jedenfalls in der neueren Wissenschaftssoziologie gilt die Ausschließlichkeit interner und externer Bedingungen als überwunden.208 Stattdessen wird die immanente Beziehung zwischen kognitiven und sozialen Strukturen, d. h. zwischen erkenntnisgeleiteten Prozessen und Handlungszusammenhängen problematisiert, in ihrer Bedeutung anerkannt und zur Basis eines einheitlichen theoretischen Interpretationsrahmens: "Die relativ kruden Ausgangspostulate des soziologische Gegenstück zum methodologischen Rationalismus der Wissenschaftstheorie Poppers sieht; hierzu Karl R. Popper, Logik der Forschung, 7. Aufl., 1982, S. 154 ff. 206 Der Extemalismus geht davon aus, daß die Wissenschaftsentwicklung von gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Faktoren entscheidend beeinflußt ist; sie geht von der Interdependenz des wissenschaftlichen Sozialsystems mit dem ökonomischen, sozialen und politischen Umweltsystem aus und versucht, wissenschaftliche Tätigkeit und ihre Ergebnisse aufgrund dieser außerwissenschaftlichen Faktoren zu erklären. Dem Internalismus liegt die Vorstellung zugrunde, daß sich Wissenschaft aus eigenem Antrieb entwickelt, eine rein intellektuelle Beschäftigung ohne Anwendungsziel darstellt und weder manipulierbar noch planbar ist, so daß der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß nach eigener Gesetzmäßigkeit verläuft und weitgehend vom Forscherund Erfindergeist des individuellen Wissenschaftlers bestimmt wird; s. F. R. Pfestsch, Die Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1870-1914, Berlin, 1974, S. 20 f. 207 K. R. Popper, Logik der Forschung, 7. Aufl., 1982, S. 10. 208 Hierzu P. Weingart, Wissenschaftsforschung und wissenschaftssoziologische Analyse, 1972, S. 21, 38; Frank R. Pfestsch, Die Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1870-1914, 1974, S. 21 ff.; vgl. auch H. Zuckermann, The Sociology of Science, in: Neil J. Smelser, Handbook of Sociology, 1988, S. 514 f f ; auch W. Krohn/G. Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft, 1989, gehen hiervon aus; R. Breithecker-Amend, Big Science und das Ende des exponentiellen Wachstums. Zur Wissenschaftsforschung de Solla Prices, 1988, S. 158 ff. Anders selbstverständlich N. Luhmanns autopoietische Systemtheorie; zum Subsystem Wissenschaft etwa N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1990, S. 150 ff, ders, Soziologie des Risikos, 1991, S. 217 ff.

V. Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsauftrag an den Staat

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ursprünglichen Konflikts zwischen idealistischen und materialistischen Deutungen der Wissenschaftsentwicklung, wonach diese entweder als ein bloßer Reflex externer Faktoren wie der Herrschaftsstruktur oder aber umgekehrt als durch die Geltung ahistorischer Standards ausschließlich intern induzierter Prozeß verstanden wurde, müssen über eine 'intervenierende Variable' miteinander verknüpft und in ihren sehr komplexen Beziehungen untersucht werden. Diese 'intervenierende Variable' ist die Organisation der Wissenschaft, ihre Strukturen, Regeln und prozessualen Mechanismen. Über sie findet die Übersetzung sozialer Bedingungen und Einflüsse in wissenschaftliche (d. h. kognitive) Prozesse statt, wie umgekehrt deren Resultate über die spezifische Organisation der Wissenschaft in die Gesellschaft hineinvermittelt werden und auf sie einwirken." 209 (3) Finalisierung der Wissenschaft Unterstützung findet dieser Ansatz auch durch die Finalisierung der Wissenschaft als soziologische Kategorie. Auch sie hat das Verhältnis von Wissenschaft und sozialer Umwelt zum Gegenstand und begreift dieses als einen Prozeß, in dem externe Zwecksetzungen gegenüber der Wissenschaft zum Leitfaden der Theorie werden. 210 Diese Ausrichtung der Theoriebildung an externen Zwecken sei als dynamischer Prozeß zu begreifen, in dem eine wissenschaftliche Entwicklung verschiedene Phasen durchläuft, in denen sie unterschiedlich offen für Zweckorientierungen sei: So bedürfe angewandte Forschung eines im wesentlichen "fertigen" theoretischen Unterbaus, um eine Zweckorientierung überhaupt zu ermöglichen. Die Diskrepanz zu Kuhn und Popper wird hier offenkundig. Kuhn hat die Vorstellung eines kumulativen Wissenschaftsfortschritts in Frage gestellt, indem er an wissenschaftshistorischen Fällen aufweist, wie Perioden der "normalen Wissenschaft" von denen "revolutionärer Wissenschaft" abgelöst werden, die ihrerseits wieder Phasen "normaler Wissenschaft" einleiten.211 Die Finalisierung geht davon aus, daß dann eine neue Theorie entsteht. Poppers wissenschaftstheoretischer Fallibilismus dagegen verneint gerade die Möglichkeit "fertiger" Theorien, weil wissenschaftliche Theorien immer unter dem Vorbehalt ihrer Widerlegung entwickelt werden. 212 Auch das Finalisierungsmodell muß unter den Bedingungen der Wissenschaften in der Risikogesellschaft jedoch zumindest erweitert werden. 209 P. Weingart, Wissenschaftsforschung und wissenschaftssoziologische Analyse, 1972, S. 38 (Hervorh. R. K.). 210 G. Böhme/W. v. d. Daele/W. Krohn, Die Finalisierung der Wissenschaft, ZfS 1973, S. 129. 211 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1967; hierzu P. Weingart, Wissenschaftsforschung und wissenschaftssoziologische Analyse, 1972, S. 23. 212 K. R. Popper, Logik der Forschung, 7. Aufl., 1982, S. 10 ff.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Berücksichtigt man nämlich die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft, so muß ein wesentlicher Bestandteil der ursprünglichen Konstruktion, nämlich die Annahme, wissenschaftliche Erkenntnis entwickle sich in Phasen und aufeinander aufbauend von der Theorie zur Anwendung,213 als überholt gelten. Die Beispiele Gen- und Kernenergieforschung im ersten Kapitel belegen, daß angewandte Forschung in diesen Bereichen gerade keinen fundamentalen theoretischen Unterbau aufweist, sondern die theoretischen Erkenntnisse vielmehr in einem dynamischen und reflexiven Prozeß kontinuierlich den praktischen Erfahrungen angepaßt werden, so daß Erfahrungen nicht aufgrund eines theoretischen Designs gemacht werden, sondern die Erfahrungen selbst erst Bedingimg für das theoretische Design sind.214 Das Konzept der Finalisierung der Wissenschaft ist ein Versuch zu beschreiben, welche Eigenschaften der gegenwärtigen Wissenschaftsstruktur die Voraussetzung dafür schaffen, daß eine von wissenschaftlichen Interessen und sozialen Bedürfnissen gleichermaßen getragene Forschungsplanung (im weitesten Sinne) möglich ist. "Eine finalisierte Wissenschaft ist definiert durch einen für sie spezifischen Alternativenspielraum: die Offenheit für soziale und politische Determinierung ihrer Entwicklungsrichtung. Das Bestehen eines solchen Spielraums ist wesentliches Datum für alle Versuche, Folgen und Nutzen der Wissenschaft zu steuern."215 Hiermit wird deutlich, daß die Finalisierung das Verhältnis von autonomen Strukturen zur Umwelt auch unter der Perspektive untersucht, welchen Steuerungsmechanismen die Wissenschaft in der sozialen Wirklichkeit ausgesetzt ist. Indem Weingart in diesem Zusammenhang die interne Organisation und Funktionalität bzw. Disfunktionalität gesellschaftlicher Bedingungen für die Wissenschaft hervorhebt, 216 wird deutlich, daß diese Feststellungen nicht ohne Rücksicht auf die (unterschiedlichen) organisatorischen Verwirklichungsbedingungen von Autonomie getroffen werden können. b) Folgen für den verfassungsrechtlichen

Wissenschaftsbegriff

Daß die eben skizzierten wissenschaftssoziologischen Befunde den Lebensbereich Wissenschaft zutreffend zu erfassen versuchen, wird auch in der verfassungsrechtlichen Diskussion nicht bezweifelt. Ganz im Gegenteil läßt sich 213 G. Böhme/W. v. d. Daele/W. Krohn, Die Finalisierung der Wissenschaft, ZfS 1973, vor allem S. 134. 214 Vgl. hierzu oben, 1. Kap, S. 125 ff. 215 G. Böhme/W. v. d. Daele/W. Krohn, Die Finalisierung der Wissenschaft, ZfS 1973, S. 133. 216 P. Weingart, Wissenschaftsforschung und wissenschaftssoziologische Analyse, 1972, S. 30.

V. Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsauftrag an den Staat

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feststellen, daß die wissenschaftssoziologische Kontroverse um die Bedeutung kognitiver und sozialer Strukturmerkmale der Wissenschaft und ihr Verhältnis zueinander im Grunde auch die Diskussion um den verfassungsrechtlichen Wissenschaftsbegriff prägt. Dennoch entscheidet über Umfang und Grenzen der Gewährleistung individueller Wissenschaftsfreiheit letztlich nicht das soziologische, sondern das verfassungsrechtliche Verständnis des Begriffs Wissenschaft. aa) Die Relevanz der sozialen Normen autonomer Wissenschaft für das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht Die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 GG als individuelles Abwehrrecht muß der kognitiven Komponente konsequent die entscheidende Bedeutung beimessen; im Vordergrund steht der Prozeß der Erkenntnisgewinnung, von nur sekundärer Bedeutung ist der Organisationszusammenhang, in dem sich dieser Prozeß vollzieht. Vitzthum hat die Relevanz der sozialen Normen autonomer Wissenschaft für das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG am Beispiel der gentechnischen Forschung pointiert nachgezeichnet.217 Die Genforschung eignet sich hierfür besonders gut, weil sie eine Querschnittdisziplin durch nahezu alle Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft bildet, also in der Industrieforschung ebenso betrieben wird wie in Großforschungseinrichtungen oder Universitäten. Vitzthum rezipiert die sozialen Normen Mertons und hebt auch hervor, daß die Normen autonomer Wissenschaft für die einzelnen Wissenschaftsbereiche nicht gleichermaßen gelten; er unterscheidet hierfür zutreffend zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung, zwischen Industrie-, Ressort- und Universitätsforschimg. 218 Verfassungsrechtlich seien diese 217

341 ff.

W. Vitzthum, Das Forschungsprivileg im Gentechnikgesetz, FS Lerche, 1993, S.

218 Dies ist bei dem Thema seines Beitrages auch notwendig, denn das Forschungsprivileg im GenTG ist abhängig vom dort verwendeten Forschungsbegriff. Dieser ist - aufgrund einer sehr unklaren gesetzlichen Regelung - alles andere als eindeutig. Gentechnische Forschung im Sinne einer wissenschaftlich-technischen Erkenntnisoperation läßt sich dem Gentechnikgesetz als abgrenzbare Handlungsvariante gentechnischer Arbeiten nicht ohne weiteres entnehmen. Das Gentechnikgesetz unterscheidet in § 3 Nr. 5 und 6 GenTG zwar zwischen gentechnischen Arbeiten zu "Forschungszwecken" und zu "gewerblichen Zwecken" (§ 3 Nr. 5 und 6 GenTG lauten: "Im Sinne dieses Gesetzes sind [...] 5. gentechnische Arbeit zu Forschungszwecken eine Arbeit für Lehr-, Forschungs- oder Entwicklungszwecke oder eine Arbeit für nichtindustrielle beziehungsweise nichtkommerzielle Zwecke in kleinem Maßstab, 6. gentechnische Arbeit zu gewerblichen Zwecken jede andere Arbeit als die in Nr. 5 beschriebene." Diese Unterscheidung hat auch weitreichende Folgen vor allem für die Anforderungen an die Genehmigung gentechnischer Anlagen und Versuche; so sieht das Gesetz für Forschungszwecke eine teilweise Freistellung von der Genehmigungs- oder Anmeldepflicht gentechnischer Anlagen bzw. Arbeiten, die Befreiung vom öffentlichen Anhörungsverfahren und eine Erleichterung des Verkehrs mit gentechnisch veränderten Organismen vor (vgl. §§8 Abs. 2, 9 Abs. 1, 18 Abs. 1, 14 Abs. 2 GenTG. Hinzu 17 Kleindiek

258

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Erwägungen jedoch irrelevant: "Aus verfassungsrechtlicher Sicht verlagert die wissenschaftstheoretische Reduktion des Normbereichs des Art. 5 Abs. 3 GG noch dazu in einer Epoche vermehrter Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen "reiner" und "interessengeleiteter" Forschung - die Definitionskompetenz für Gegenstand und Inhalt von Forschung unzulässigerweise auf den Staat. Gegenüber diesem Forschungsrichter soll der Wissenschaftler, wie Art. 5 Abs. 3 GG gebietet, gerade nicht das Vorhandensein der Voraussetzungen der Privilegierung zu beweisen haben. Dabei muß es im Interesse der Funktionswahrung der Forschungsfreiheit bleiben. Der Staat darf von der Argumentationslast für das etwaige Fehlen der Privilegierungsvoraussetzungen nicht befreit werden. Nicht die Ausübung, sondern die Einschränkung der Freiheit bedarf der Legitimation."219 Der Bezug zu dem Popperschen Verständnis von Wissenschaft als jener "asozialen dritten Welt" wird in diesen Formulierungen sehr deutlich; Abgrenzungsschwierigkeiten innerhalb des Lebensbereichs Wissenschaft soll durch ein denkbar weites Normbereichsverständnis umgangen werden, eine Vorgehensweise, die die aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Probleme nicht bewältigt, sondern bestenfalls in die dann auf der Schrankenebene erforderliche Abwägung verschiebt.220 Fast noch folgenreicher ist jedoch die Tatsache, daß in dieser Auslegung von Art. 5 Abs. 3 GG soziale Normen der Wissenschaft verfassungsrechtlich irrelevant sind. So wird verkannt, daß Wissenschaft ihre kognitiven Leistungen immer nur als soziales System erbringen kann,221 dessen Analyse ergibt, wel-

kommt, daß sowohl der Genehmigungsantrag als auch die Dokumentation der Forschungsarbeit selbst weniger Angaben enthalten muß, vgl. § 2 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 GenTAufzV). Wann eine gentechnische Arbeit dem Bereich der Forschung zuzurechnen ist, hierfür enthält das Gesetz jedoch keine ausdrücklich genannten Abgrenzungskriterien; so auch T. Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Vergleich, 1992, S. 39. Der Gesetzgeber hat für die Privilegierung von Forschungszwecken lediglich auf verfassungsrechtliche Gründe verwiesen, ohne hierauf näher einzugehen; s. BTDrs. 11/6778, S. 22. Deshalb ist es, so das offensichtliche Anliegen von Vitzthum, notwendig, die vom Gesetzgeber offenbar gewollte, aber mißlungene Unterscheidung zwischen gentechnischer Forschung und gentechnischem Gewerbe mit dem Hinweis einzuebnen, daß Art. 5 Abs. 3 GG jedenfalls keine Beschränkung gentechnischer Arbeiten zu gewerblichen Zwecken verbiete; vgl. zu diesem Versuch auch W. Vitzthum/T. Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, 1992, S. 71; G. Hirsch/A. Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz, § 3, Rn. 36 f. 219 W. Vitzthum, Das Forschungsprivileg im Gentechnikgesetz, FS Lerche, 1993, S. 347 (Hervorh. i. Orig.). 220 Zu den Schwierigkeiten, die sich hieraus ergeben, schon oben, 2. Kap, S. 180 ff. 221 Dies betont auch P. Häberle, Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110(1985), S. 354.

V. Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsauftrag an den Staat

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eher konkreten Funktion, welchen Aufgaben und welchem Zweck wissenschaftliches Handeln jeweils dient. Wissenschaft ist demnach nie zweckfrei; sei es, daß sie in der Universität der Bildimg und Ausbildung, in der Industrie der Profitmaximierung, in der Ressortforschung der Erweiterung staatlichen Wissens dient. Indem die Handlungszusammenhänge wissenschaftlicher Erkenntnis für die verfassungsrechtliche Beurteilung außer acht gelassen werden, können auch die dort bestehenden erheblichen Unterschiede nicht gewürdigt werden. Dies ist jedoch der "Preis", um Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht auf den gesamten Lebensbereich Wissenschaft zu erstrecken und so jede Form wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung, und sei sie auch noch so weit von den sozialen Normen autonomer Wissenschaft entfernt, Art. 5 Abs. 3 GG subsumieren zu wollen.

bb) Die Relevanz der sozialen Normen autonomer Wissenschaft für Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht Das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsauftrag an den Staat muß andere Akzente setzen. Der organisationsbezogene Ansatz ist am besten geeignet, um die Unterschiede innerhalb des Lebensbereichs Wissenschaft herauszuarbeiten und hieraus die angemessenen verfassungsrechtlichen Folgerungen zu ziehen. Auch ein organisationsbezogenes Grundrechtsverständnis muß jedoch immer auf die Entfaltung individueller Freiheit ausgerichtet sein; Recht regelt, auch indem es bestimmte organisatorische Vorkehrungen trifft, immer menschliches Verhalten. Entscheidend ist nur, daß die individuelle Entfaltung grundrechtlicher Freiheit bestimmte Organisationsformen voraussetzt. Dies hat zur Folge, daß grundrechtliche Freiheit - jedenfalls die durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährleistete - nur dort zu verwirklichen ist, wo entsprechende freiheitsadäquate Organisationsstrukturen vorhanden sind. Freiheitsadäquat sind Organisationsstrukturen, indem sie die durch den Lebensbereich Wissenschaft vorgegebenen Bedingungen von Autonomie verwirklichen. Der vermeintliche Widerspruch zwischen staatlichem Handeln und individueller Freiheitsentfaltung wird dann auch für den inneren Aspekt der Wissenschaftsfreiheit aufgelöst, indem die staatliche Organisationsleistung die Bedingungen autonomer Wissenschaft rezipiert und zum Maßstab ihres Handelns macht. Die Organisationsleistung kann diese Aufgabe nur sinnvoll erfüllen, wenn die Aufgaben und Funktionen des jeweiligen Wissenschaftsbereichs und die autonomen Strukuren als Voraussetzung freier Wissenschaft in die Organisation des

260

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Wissenschaftsbereichs einbezogen werden. Hiermit ist eine handhabbare Grundlage geschaffen, um Wissenschaft in ihrem jeweiligen Verwirklichungskontext angemessen zu würdigen. Ausgangspunkt hierfür ist, wie oben bereits näher ausgeführt, die eigenständige Steuerungskompetenz der Trägerebene einer Wissenschaftseinrichtung als Schnittstelle zwischen Staat und Wissenschaft. 222 Indem diese durch Art. 5 Abs. 3 GG grundrechtlich gewährleistet ist, sind die Voraussetzungen geschaffen, damit die Wissenschaftseinrichtung die Organisationsleistung des Staates in freiheitsadäquate Binnenstrukturen umsetzen kann. Die Verantwortung des Staates beschränkt sich dann darauf, sicherzustellen, daß seine organisatorische Vorleistung auch in entsprechende Verwirklichungsmöglichkeiten für den einzelnen Wissenschaftler münden. Hiermit ist innerhalb der Organisationsstruktur die Ebene des einzelnen Wissenschaftlers erreicht. Dessen Freiheit läßt sich freilich nicht verwirklichen, indem ihm die Funktion eines "Abnehmers" des zwischen Staat und Wissenschaftseinrichtung "ausgehandelten" Verständnisses von Autonomie zugewiesen wird. Seine Freiheit hängt vielmehr davon ab, ob er selbst hinreichenden Einfluß auf die Verwirklichung der sozialen und kognitiven Normen autonomer Wissenschaft in dem jeweiligen Aufgabenkontext der Wissenschaftseinrichtung hat. Erforderlich ist hierfür eine angemessene Partizipation der Wissenschaftler an der Entscheidung wissenschaftsrelevanter Fragen auf der Trägerebene der jeweiligen Wissenschaftseinrichtung.

222

S. hierzu oben, S. 244 ff.

VI. Autonomie als Parameter

261

VI. Die Verwirklichung autonomer Wissenschaft als Parameter für die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten Dementsprechend wird im folgenden anhand einer näheren Analyse ausgewählter Wissenschaftsbereiche zu überprüfen sein, ob Funktion und Autonomie, d. h. in verfassungsrechtlicher Hinsicht Aufgabe und Freiheit, in den verschiedenen Organisationsformen so kompatibilisiert wird, daß sich individuelle Freiheit im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG entfalten kann. Diese Feststellung ermöglicht dann die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten diesseits und jenseits von Art. 5 Abs. 3 GG. In einem weiteren Schritt ist dann zu klären, wie der Grundrechtsschutz für die Wissenschaftsbereiche auszugestalten ist, die nicht Art. 5 Abs. 3 GG zu subsumieren sind. Die enge Verbindung zwischen der Aufgabe eines Wissenschaftsbereichs und den sich hieraus ergebenden Folgen für die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit läßt sich nur erhellen, indem dessen Binnenstrukturen analysiert werden. Grundlage hierfür ist die oben näher erläuterte staatliche Organisationsleistung als Vermittlungsfunktion, durch die in der Wissenschaftseinrichtung die notwendige Distanz zwischen staatlicher Organisationspflicht und Freiheit von staatlicher Ingerenz geschaffen werden soll.223 Auch wenn sich Aufgabe und konkrete Organisationsform der einzelnen Wissenschaftsbereiche zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, so lassen sich dennoch anhand der Aufgaben, der äußeren Organisationsbedingungen und der inneren Organisationsstruktur vergleichbare Bedingungen autonomer Wissenschaft herleiten. Da die innere Organisationsstruktur die Vermittlung zwischen staatlicher Ingerenz und individueller Wissenschaftsfreiheit leisten muß, soll das sich hieraus unvermeidlich ergebende Spannungsverhältnis anhand der Kriterien Geschäftsführung, wissenschaftliche Partizipation und staatliche Aufsicht aufgeschlüsselt werden. Organisierte Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen läßt sich nach den Ausführungen im ersten Kapitel in die Bereiche universitäre Forschung und Lehre, außeruniversitäre Forschung in besonderer Trägerschaft der MaxPlanck-Gesellschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft, Großforschung und schließlich Ressortforschung unterteilen.

223

S. oben, S. 244 ff.

262

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

1. Universitäre Forschung und Lehre Universitäre Wissenschaft zeichnet sich im Unterschied zu den anderen Wissenschaftsbereichen innerhalb staatlicher Bindungen vor allem dadurch aus, daß ihre Struktur (mittlerweile) sehr viel stärker von gesetzgeberischen Organisationsleistungen abhängig ist. Diese Form staatlicher Steuerungsversuche auf verfassungs- und einfachrechtlicher Ebene224 ist insofern als Reaktion auf die Krise der deutschen Hochschulen seit den sechziger Jahren anzusehen.225 Dies bedeutet nicht unbedingt ein höheres Maß, sondern eine andere Form der Wahrnehmung staatlicher Verantwortung. Ebenso wie bei den übrigen Wissenschaftstypen ist dies auf die eigenartigen Aufgaben universitärer Wissenschaft zurückzuführen. Diese ist nicht nur von den Wissenschaftstypen außerhalb der Hochschulen, sondern auch von der Forschung und Lehre in den anderen Hochschulformen abzugrenzen. § 1 HRG nennt neben der Universität die Pädagogischen Hochschulen, die Kunsthochschulen und die Fachhochschulen.226 Die Kunsthochschulen (künstlerischen Hochschulen) dienen der Pflege der Künste durch die Vermittlung und Entwicklung künstlerischer Fähigkeiten; Pädagogische Hochschulen dienen der Lehrerbildung; in Fachhochschulen verwirklicht sich die Form der anwendungsbezogenen Lehre, die zu selbständiger Anwendung wissenschaftlicher Methoden und künstlerischer Tätigkeiten in der Berufspraxis befähigt. 227 Das Fachhochschulstudium dient damit unmittelbar der Vorbereitung für eine bestimmte berufliche Tätigkeit.228 Universitäten (wissenschaftliche Hochschulen) dienen dagegen der wissenschaftsbezogenen Ausbildung durch die Verbindung von Forschung und Lehre; sie sollen eine umfassende, vertiefte wissenschaftliche Ausbildung vermitteln, die den Studenten befähigt, einen Beruf seiner Wahl auszuüben.229 Die unterDie Aufnahme der Rahmenkompetenz des Bundes für die Regelung der allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens gem. Art. 75 Abs. 1 Nr. la von 1969 sowie das Inkrafttreten des Hochschulrahmengesetzes (HRG) am 26.1.1976 (BGBl. I, S. 185), zu dem bereits 1970 der erste Entwurf der Bundesregierung in den Bundestag eingebracht wurde, BT-Drs. VI/1873. 225 Zu den Gründen BVerfGE 35, 79 (109 ff.); Wissenschaftsrat (Hrsg.), Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen bis 1970, Tübingen 1967; T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 292 ff. 226 Diese Differenzierung tritt auf landesrechtlicher Ebene noch deutlicher hervor; so richtet sich die Rechtslage in Hessen nach einem für alle Hochschulformen geltenden Hess. Hochschulgesetz, um dann den jeweiligen Besonderheiten in einem Universitätsgesetz, einem Fachhochschulgesetz sowie einem Kunsthochschulgesetz Rechnung zu tragen. 227 Vgl. z. B. § 3 Abs. 1 FHG-NRW; hierzu BVerfGE 61,210 (243). 228 BVerfGE 64, 323 (355). 229 BVerfGE 64, 323 (355); zum Ganzen auch A. Reich, Hochschulrahmengesetz, 1986, § 1, Rn. 2 ff.

VI. Autonomie als Parameter

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schiedliche Aufgabenstellung dieser Hochschulformen bestimmt die Organisationsstruktur der Einrichtungen, die Rechtsstellung ihrer Mitglieder und das Verhältnis zum Staat und somit auch die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Konsequenzen im Hinblick auf die Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 3 GG. a) Aufgaben Die Aufgaben universitärer Wissenschaft sind den Aufgaben der Universität untergeordnet. Diese dient gemäß § 2 Abs. 1 HRG "der Pflege und Entwicklung der Wissenschaften und der Künste durch Forschimg, Lehre und Studium. Sie bereiten auf berufliche Tätigkeiten vor, die die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und wissenschaftlicher Methoden oder die Fähigkeit zu künstlerischer Gestaltung erfordern." 230 Bereits diese Beschreibung macht deutlich, daß sich Wissenschaft durch die beiden Handlungsmodalitäten Forschung und Lehre verwirklicht. Grundlage universitärer Forschung und Lehre ist die Entscheidung für eine akademisch-disziplinäre Organisation, in der sich die Rechte und Pflichten des einzelnen Wissenschaftlers entfalten. 231 Charakteristisch hierfür ist die Beschreibung der dienstlichen Aufgaben der Professoren; sie nehmen gemäß § 43 HRG "die ihrer Hochschule jeweils obliegenden Aufgaben in Wissenschaft und Kunst, Forschung und Lehre in ihren Fächern nach näherer Ausgestaltung ihres Dienstverhältnisses selbständig wahr." aa) Forschung Forschung in den Hochschulen dient gemäß § 22 Satz 1 HRG "der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie der wissenschaftlichen Grundlegung und Weiterentwicklung von Lehre und Studium." Gegenstand der Forschung können gemäß § 22 Satz 2 HRG "unter Berücksichtigung der Aufgabenstellung der Hochschule alle wissenschaftlichen Bereiche sowie die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis einschließlich der Folgen sein, die sich aus der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse ergeben können." Das HRG weist der Forschung somit eine doppelte Aufgabe zu; sie soll zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und als Fundament und beständige Erneuerung wissenschaftlich angeleiteter Lehre dienen.232

230

Zu den Annexaufgaben der Universitäten, die sich auf die in § 2 Abs. 1 vorgegebene Hauptaufgabe beziehen und zu denen vor allem die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gehört (§ 2 Abs. 3 HRG) s. § 2 Abs. 2 bis 7 HRG. 231 Vgl. auch H.-H. Trute, Forschung, S. 385. 232 E. Denninger, in: ders. (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 22, Rn. 2; in diesem Sinne auch das BVerfG (E 35, 79 [113]) bereits vor Inkrafttreten des HRG

264

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

bb) Lehre Gemäß § 7 HRG soll die Lehre "den Studenten auf ein berufliches Tätigkeitsfeld vorbereiten und ihm die dafür erforderlichen fachlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden dem jeweiligen Studiengang entsprechend so vermitteln, daß er zu wissenschaftlicher oder künstlerischer Arbeit und zu verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat befähigt wird." Dieses besondere Verhältnis zur Lehre unterscheidet die Hochschulforschung von anderen Wissenschaftstypen innerhalb staatlicher Bindungen; in diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß etwa die MPG (und bereits ihre Vorgängerin, die KWG) gerade als von den Verpflichtungen akademischer Lehre losgelöste Forschungseinrichtung gegründet wurde. Indem Forschung auch auf die Lehre ausgerichtet sein muß, kann sie sich nicht derart spezialisieren, wie etwa in den Einrichtungen der MPG, der Großforschungseinrichtungen oder auch der Forschungsabteilungen in der Industrie.233 cc) Einheit von Forschung und Lehre Die Aufgabe universitärer Forschung liegt demnach darin, die für sie konstitutive Verbindung zur Lehre herzustellen.234 Wird diese Aufgabenzuweisung auf der Akteursebene nachvollzogen, so ergeben sich gleichwohl Unterschiede. Für die Studierenden erschöpft sich die Funktion ihrer Forschung in der unmittelbaren Verbindimg zur Lehre bzw. zum Studium, indem angeleitete und selbständige Forschung einer wissenschaftlich vertieften Ausbildung dient. Hiervon zu unterscheiden ist der wissenschaftliche Nachwuchs, dessen Forschung einerseits der Lehre, andererseits der eigenen wissenschaftlichen Weiterbildung und Qualifikation dient. Diese doppelte Aufgabenstellung ist für die Universität

(jedoch unter Berücksichtigung des entsprechenden Gesetzentwurfs, vgl. die Hinw. in E 35, 79 [111, 114]) und der daraufhin ergangenen Landesgesetze: Auch universitäre Forschung bewirke angesichts immer neuer Fragestellungen den Fortschritt der Wissenschaft; "zugleich ist sie die notwendige Voraussetzung, um den Charakter der Lehre als der wissenschaftlich fundierten Übermittlung der durch die Forschung gewonnenen Erkenntnisse zu gewährleisten." 233 So auch B.-O. Bryde, Aufgabe und Aufbau der Universität, 1991, S. 3: "Dabei ist es die Verbindung der drei Begriffe, mit denen Art. 5 III GG den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit umschreibt ('Wissenschaft, Forschung und Lehre'), die das Wesen der Universität ausmacht. Wissenschaft und Forschung gibt es außerhalb der Universität ebenso wie Lehre. Eine Spezialisierung auf entweder Lehre oder Forschung könnte diese Teilfunktionen möglicherweise sogar effektiver erfüllen: als bloße Berufsausbildung ist ein betriebliches trainee-Programm wahrscheinlich der Universität ebenso überlegen, wie hochspezialisierte Industrieforschungslabors universitären Instituten." 234 B.-O. Bryde, Aufgabe und Aufbau der Universität, 1991, S. 4; A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 15 ff.

VI. Autonomie als Parameter

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wichtig, weil sie (und im Gegensatz zu anderen Hochschultypen nur sie) ihren eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs ausbildet. Für die Hochschullehrer besteht eine dem wissenschaftlichen Mittelbau entsprechende, doppelte Aufgabenstellung. Forschung dient hier ebenfalls der wissenschaftlichen Qualifikation, da die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse - trotz der zunehmenden Bedeutung der Lehre - etwa bei Berufungen entscheidend ist. Abgesehen hiervon ist die Kommunikation von Forschungsergebnissen entscheidende Voraussetzung für wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. dd) Drittmittelforschung Zunehmende Bedeutung erlangt darüberhinaus die Drittmittelforschung als eigenständige Form der Forschungsfinanzierung. Als Forschung mit Mitteln Dritter wird jede von Hochschulmitgliedern hauptamtlich ausgeführte Forschungstätigkeit bezeichnet, die nicht aus Mitteln des ordentlichen Hochschulhaushalts finanziert wird. 235 Unter dieser negativen Abgrenzung sind ganz unterschiedliche Forschungszusammenhänge zu fassen, denen ein fehlender unmittelbarer Zusammenhang mit der universitären Lehre gemeinsam ist. Drittmittelforschung ist in der Regel befristet, projektbezogen und antragsabhängig.236 "Dritte" in diesem Sinne können entweder die öffentlichen Hände oder private Einrichtungen sein. Für 1990 hat eine Erhebung des Wissenschaftsrates ergeben, daß 15% der Drittmittel aus der Wirtschaft und von Verbänden, rund 10% von Stiftungen bzw. Fördergesellschaften und 75% aus öffentlichen Mitteln (vor allem überregionale Förderinstitutionen wie ζ. B. die DFG; aber auch Bund u. Länder) stammen. Während 1980 die ordentlichen Haushaltsmittel noch sechsmal so hoch waren wie die Drittmittel, betrugen sie 1990 nur noch das Viereinhalbfache. 237 Drittmittelforschung durch die Hochschulforscher muß sich "im Rahmen ihrer dienstlichen Aufgaben" bewegen (§ 25 Satz 1 HRG). Bereits vor der Ergänzung um § 25 Satz 2 HRG 2 3 8 wurde

235 E. Denninger, in: ders. (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 25, Rn. 2; § 25 Abs. 1 HRG lautet: "Die in der Forschung tätigen Hochschulmitglieder können im Rahmen ihrer dienstlichen Aufgaben auch solche Forschungsvorhaben durchführen, die nicht aus den der Hochschule zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln finanziert werden." Hiervon sind, was § 25 Abs, 5 noch einmal klarstellt, Nebentätigkeiten nicht erfaßt; hierzu P. Dallinger, Hochschulrahmengesetz, 1978, § 25, Rn. 4 ff. 236 Wissenschaftsrat, Drittmittel der Hochschulen 1970 bis 1990,1993. 237 Wissenschaftsrat, Drittmittel der Hochschulen 1970 bis 1990, 1993; Bundesbericht Forschung 1993, S. 86. 238 "Die Durchführung von Vorhaben nach Satz 1 ist Teil der Hochschulforschung." Eingefügt durch Änderungsgesetz v. 14.11.1985 (BGBl. I, S. 2090).

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

hiermit zum Ausdruck gebracht, daß auch die von Dritten finanzierte Forschung zu den Aufgaben universitärer Wissenschaft gehört. 239 b) Äußere Organisationsbedingungen Gemäß § 3 Abs. 1 HRG haben die Länder und die Hochschulen sicherzustellen, daß die Mitglieder der Hochschule die durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleisteten Rechte wahrnehmen können. Für die Hochschulen fordert der Gesetzgeber somit ausdrücklich , daß sich die Strukturen autonomer Wissenschaft in ihnen verwirklichen. Dieser Forderung entspricht die Pflicht des Staates zur Organisation freier Wissenschaft, die sich in den äußeren Organisationsbedingungen und den inneren Organisationsstrukturen der Universität widerspiegeln muß. Gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 HRG sind die Hochschulen "Körperschaften des öffentlichen Rechts und zugleich staatliche Einrichtungen". Körperschaften sind rechtsfähige, organisierte Vereinigungen natürlicher Personen, deren wesentliches Merkmal somit darin liegt, daß sie von Mitgliedern getragen werden. 240 Die Körperschaft Universität dient jedoch nicht der gemeinsamen Wahrnehmung von Standes- oder Berufsinteressen, 241 sondern Zweck ihres körperschaftlichen Status ist die Verwirklichung autonomer Forschung und Lehre. Die Ergänzung um die Organisationsform als staatliche Einrichtung soll nach der Auffassung des Gesetzgebers deutlich machen, "daß die Hochschulen Teile des staatlichen Organisationsgefüges sind" und "der Staat als Träger dieser Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen für deren Funktionsfähigkeit verantwortlich ist."242 Hiermit nimmt staatliches Handeln nicht nur für sich in Anspruch, Einfluß auf die wissenschaftliche Bildung und Ausbildung als öffentliche Aufgabe zu nehmen, sondern es wird zugleich die Verpflichtung eingegangen, wissenschaftliche Forschung und Lehre zu ermöglichen, indem die erforderlichen finanziellen Mittel zur sachlichen und personellen Ausstat-

239 In diesem Sinne auch P. Dallinger, Hochschulrahmengesetz, 1978, § 25, Rn. 3, der von den übrigen dienstlichen Aufgaben spricht. 240 T. Oppermann, Selbstverwaltung und staatliche Verwaltung, HdbWissR, Bd. 1, 1982, S. 253; A. Reich, Hochschulrahmengesetz, 1986, § 58, Rn. 2. Gemäß § 36 Abs. 1 HRG sind Mitglieder der Hochschule die an ihr hauptberuflich tätigen Angehörigen des öffentlichen Dienstes und die eingeschriebenen Studenten. 241 T. Oppermann, Selbstverwaltung und staatliche Verwaltung, Hdb WissR, Bd. 1, 1982, S. 253. 242 BT-Drs. 7/1328, S. 72.

VI. Autonomie als Parameter

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tung zur Verfügung gestellt werden. 243 Zu recht wird deshalb auch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Hochschulfinanzierung und den Bedingungen von Autonomie betont.244 Die darüber hinausgehende Kontroverse um die konkreten rechtlichen Folgen der Formulierung "zugleich staatliche Einrichtungen"245 wird man am ehesten auflösen können, indem hierin nicht sofort eine Bedrohung für die Freiheit von Forschung und Lehre durch eine anstaltsrechtliche Überformung der Universität erblickt, 246 sondern berücksichtigt wird, daß den Universitäten Aufgaben übertragen wurden, die zwar nicht oder nicht nur Forschung und Lehre betreffen, aber sinnvollerweise von der Universität mitwahrgenommen werden. 247 Gemäß § 59 Abs. 2 HRG sind dies vor allem die Personal-, Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzverwaltung sowie ggf. die Krankenversorgung und die Ermittlung von Ausbildungskapazitäten und entsprechenden Zulassungszahlen. c) Innere Organisationsstruktur Durch die verfassungsrechtliche Garantie freier Wissenschaft, Forschung und Lehre ist eine Grundsatzentscheidung getroffen, die im Bereich der Universität als Selbstverwaltungaufgabe verwirklicht werden soll. Hierdurch kommt die Konzeption zum Ausdruck, Universitäten nicht, wie andere staatliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge, unmittelbarer staatlicher Ingerenz auszusetzen, sondern bewußt von dieser zu distanzieren,248 um so die durch § 3 Abs. 1 HRG verlangte Wahrnehmung der grundrechtlichen Gewährleistung aus Art. 5 Abs. 3 GG organisatorisch zu ermöglichen.

243 O. Kimminich, Wissenschaft, in: v. Münch (Hrsg.), Bes. VerwR, 8. Aufl., 1988, S. 749, 767; U. Karpen, Die Finanzverfassung der Hochschulen angesichts der gegenwärtigen Haushaltslage, VerwArchiv 1982, S. (405 ff) 407. 244 W. Zeh, Finanzverfassung und Autonomie der Hochschulen, 1973, S. 87, 101; F.L. Knemeyer, Hochschulautonomie, in: HdbWissR, 1982, Bd. 1, S. 163; C. Starck, Freiheit und Organisation, 1976, S. 18 ff. 245 Vgl. hierzu die Zusammenfassung m. w. N. bei J. Lüthje, in: E. Denninger (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 58, Rn. 24 ff. 246 Vgl. hierzu die differenzierten Darstellungen bei W. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 2. Aufl., 1986, S. 108 ff. u. T. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 322 ff. jew. m. zahlr. Nachw. 247 So auch I. Staff, Schul- und Hochschulrecht, in: Meyer/Stolleis (Hrsg.), Hessisches Staats- und Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1986, S. 442; J. Lüthje, in: E. Denninger (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 58, Rn. 26. 248 Vgl. R. Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, S. 212; F.-L. Knemeyer, Hochschulautonomie, in: HdbWissR, Bd. 1, S. 155; B.-O. Bryde, Die Einheit der Verwaltung als Rechtsproblem, VVDStRL 46 (1988), S. 194 f.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Als allgemeinen Organisationsgrundsatz hat sich das deutsche Hochschulrecht für eine Ansiedlung von Kompetenzen auf zwei Ebenen entschieden. Gemäß § 61 Abs. 1 Satz 1 HRG sind diese Kompetenzen zentralen Organen und den Fachbereichen zugewiesen. Die Fachbereiche sind die organisatorische Grundeinheit249 für Forschung und Lehre; sie sind verantwortlich für die Pflege der Wissenschaften in Forschung und Lehre; 250 die Organisationsleistungen zur Verwirklichung von Autonomie müssen sich deshalb vor allem auf der Trägerebene daran orientieren, daß diese Aufgabe von den Fachbereichen zu erfüllen ist. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Fachbereiche autonome Strukturen nicht "von selbst" entfalten können; sie sind vielmehr von einer Trägerebene abhängig, die staatliche Leistungen als Bedingung freier Wissenschaft und die Wahrnehmung staatlicher Verantwortung zur Gewährleistung universitärer Aufgabenerfüllung durch eine Zusammenspiel von Geschäftsführung, wissenschaftlicher Partizipation und staatlicher Aufsicht grundrechtsadäquat vermittelt. aa) Geschäftsführung Das geltende Hochschulrecht legt für die "Geschäftsführung" auf der Zentralebene das Amt des Rektors bzw. Präsidenten nahe. Ausgehend von der Aufgabe, die Universität in eigener Zuständigkeit zu leiten, entfaltet das HRG als Regelfall die Präsidialverfassung. 251 Die Aufgaben des Präsidenten, der auf Zeit (mindestens vier Jahre) zu wählen ist, sind, abgesehen von der allgemein gehaltenen Formulierung in § 62 Abs. 1 HRG, in den Landeshochschulgesetzen geregelt.252 Gemäß § 10 HessUnivG ζ. B. repräsentiert und vertritt der Präsident die Universität; er steht an der Spitze der Selbstverwaltung und erledigt die Aufgaben der Staatsverwaltung. Das Rahmenrecht läßt offen, ob der Präsident selbst Wissenschaftler sein muß; das HessUnivG enthält seit 1987 eine Präferenz für die Bewerbung von Professoren der eigenen Universität. 253 Die Leitung der Verwaltung, d. h. vor allem die Besorgung der Geschäfte der laufenden Verwaltung, obliegt dem Kanzler. Dieser ist zudem Beauftragter für den 249

H. Schrimpf in: E. Denninger (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 61, Rn. 3. Das Zwei-Ebenen-Modell ist Ergebnis der Hochschulreform und hat das bisherige Modell (Lehrstuhl, Institut, Fakultät, Universität) insofern abgelöst, als die Kompetenzen von Lehrstuhl, Institut und Fakultät im Rahmen der Selbstverwaltung nun im Fachbereich zusammengefaßt sind. 250 S. z. B. § 22 HUG. 251 J. Lüthje, in: E. Denninger (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 62, Rn. 5; W. Thieme, Organisationsstrukturen der Hochschulen, Hdb WissR, 1982, Bd. 1, S. 186 ff.; zur organisationsrechtlichen Struktur der Hochschule auch H. Maurer, Zur Rechtsnatur der Fachbereiche, WissR 10 (1977), S. (193), 205 ff. 252 Vgl. etwa §§ 10 -13 HUG. 253 S. § 11 Abs. 1 Satz 2 HUG.

VI. Autonomie als Parameter

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Haushalt und den Weisungen des Präsidenten unterstellt (§ 13 HessUnivG). Gemäß § 62 Abs. 6 bilden der Präsident, der oder die Stellvertreter sowie der leitende Verwaltungsbeamte (Kanzler) das Präsidium. bb) Wissenschaftliche Partizipation Wissenschaftliche Partizipation auf der Trägerebene verwirklicht sich in den zentralen Kollegialorganen. In der Regel treffen zwei Gremien alle wichtigen Entscheidungen oberhalb der Fachbereichsebene. Nach dem hessischen Universitätsrecht etwa ist der Konvent vor allem für die hochschulpolitischen Grundsatzfragen, die Wahl des Präsidenten und des bzw. der Vizepräsidenten sowie den Erlaß der Grund- und Wahlordnung zuständig.254 Der Senat ist insbesondere für fachbereichsübergreifende Fragen zuständig, wirkt (in schwacher Form) bei der Wahl des Präsidenten und der Ernennung des Kanzlers mit und nimmt Stellung zu den auf Fachbereichsebene verabschiedeten Berufungslisten.255 Neben Konvent und Senat sind für die wichtigen Aufgaben, die alle mehr oder weniger eng mit der universitären Forschung und Lehre zusammenhängen, zudem fünf Ständige Ausschüsse vorgesehen.256 Diese Gremien setzen sich ausschließlich aus Mitgliedern der Universität zusammen;257 § 63 HRG sieht seit der Gesetzesänderung vom 14.11.1985 zudem vor, daß die Professoren über die absolute Mehrheit verfügen müssen.258 Hierdurch werden zwei wesentliche Aspekte erfüllt, die das Konzept universitärer Selbstverwaltung zur Verwirklichung von Autonomie einlösen: Die korporative Struktur universitärer Selbstverwaltung und ein ausschlaggebender Einfluß verwirklichen die grundrechtsadäquate wissenschaftliche Partizipation. cc) Staatliche Aufsicht Die staatliche Aufsicht richtet sich nach den Aufgaben, die die Universität wahrzunehmen hat. Dort, wo ihre körperschaftliche Organisationsstruktur die Verwirklichung autonomer Forschung und Lehre bezweckt, ist die staatliche Ingerenz gemäß § 59 Abs. 1 HRG auf die Rechtsaufsicht beschränkt. Eine weitergehende Aufsicht ist vorzusehen, soweit die Hochschulen darüberhinaus 254

S. § 14 Abs. 1 HUG. S. § 16 HUG; zur Zusammensetzung § 17 HUG. 256 Gem. § 18 Abs. 2 HUG sind einzurichten: Der Ständige Ausschuß I für Lehr- u. Studienangelegenheiten, der Ständige Ausschuß II für Organisationsfragen, Angelegenheiten der Forschung u. d. wiss. Nachwuchses; der Ständige Ausschuß III für Haushaltsangelegenheiten u. Hochschulentwicklungsplanung; der Ständige Ausschuß IV für d. Bibliothekswesen und der Ständige Ausschuß V für Datenverarbeitung. Die Ständigen Ausschüsse setzen sich gem. § 19 HUG zusammen. 257 Zu den Mitgliedern der Universität s. oben, S. 266. 258 BGBl. I, S. 2090. Zur Vorgeschichte BVerfGE 61, 260 (289). 255

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

andere staatliche Aufgaben in ihrer Funktion als staatliche Einrichtung wahrnehmen (§ 59 Abs. 2 HRG). 259 Im Gegensatz zu den anderen Wissenschaftstypen innerhalb staatlicher Bindungen nimmt sich der Staat durch das der kommunalen Selbstverwaltung in vielerlei Hinsicht vergleichbare Aufsichtsmodell sehr stark zurück, indem er auf unmittelbare Beteiligung auf der Trägerebene verzichtet. Dies entspricht den überkommenen Vorstellungen von der Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip. 260 Gerade deshalb ist auch die Universität den strukturellen Gefahren aller Selbstverwaltungseinrichtungen ausgesetzt, die weniger von den Möglichkeiten der Rechts- und Fachaufsicht als von der Knappheit finanzieller Mittel ausgehen. Wie für alle Wissenschaftstypen innerhalb staatlicher Bindungen gilt auch für die Universität, daß sie (jedenfalls ganz überwiegend) von staatlichen Leistungen abhängig ist,261 weil sie eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt. Über diese finanzielle Abhängigkeit ergeben sich politische Einfluß- und Steuerungsmöglichkeiten. Auch ihre möglichen konkreten Auswirkungen hängen von entsprechenden Organisationsentscheidungen ab. So ist prima facie zu erwarten, daß die Einflußmöglichkeiten der Länder bei der Finanzierung der Universitäten durch einen Globalhaushalt im Gegensatz zum nicht programmbudgetierten Haushalt262 strukturell geringer sind.

Zu der Unterscheidung zwischen Körperschaft und staatlicher Einrichtung s. oben, S. 261 ff. Zur Aufsicht über die Universität als Körperschaft umfassend A. Gallas, Die Staatsaufsicht über die wissenschaftlichen Hochschulen, 1976; Gallas läßt die Aufsicht über die Erfüllung "staatlicher Angelegenheiten" weitgehend außer Acht, vgl. nur S. 104 f.; 160. Die konkrete Ausgestaltung der Aufsicht über die Universität als staatliche Einrichtung liegt im Ermessen des Landesgesetzgebers; er kann sich zwischen einer umfassenden Rechts- und Fachaufsicht und einer nur eingeschränkten Fachaufsicht entscheiden; vgl. J. Lüthje, in: E. Denninger (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 59, Rn. 44. Maßstab wird jedenfalls eine adäquate Aufgabenerfüllung durch die Universitäten sein. 260 R. Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, zur Selbstverwaltung im kommunalen Bereich S. 191 ff, im Hochschulbereich S. 208 ff. Im Hinblick auf die Selbstverwaltung als eine Form der Verwirklichung von Autonomie ergibt sich die Vergleichbarkeit zwischen universitärem und kommunalem Bereich auch dann, wenn man Autonomie im strengen staats- und verwaltungsrechtlichen Sinne als die auf gesetzlicher Ermächtigung beruhende Befugnis von organisatorisch verselbständigten Hoheitsträgem zur Setzung objektiven Rechts in Form von Satzungen versteht, s. R. Hendler, a.a.O., S. 293. Zum Verständnis der Autonomie in diesem Sinne auch K. Lange, Die öffentlichrechtliche Anstalt, WDStRL 44 (1986), S. 189, der Autonomisierung als die Verschaffung von Selbständigkeit durch Abkopplung von externen Einflußnahmen definiert. 261 W. v. Humboldt hat noch eine auch in finanzieller Hinsicht autonome Universität gefordert, um auch in dieser Hinsicht dem staatlichen Einfluß entzogen zu sein; vgl. hierzu oben 1. Kap, S. 74 f. 262 Vgl. zu dieser Unterscheidung im allgemeinen G. F. Schuppert, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, VVDStRL 42 (1984), S. (216 ff.) 242 f. m.w.N. Jüngst auch L. Zechlin, Globalhaushalte und Pro-

VI. Autonomie als Parameter

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d) Folgerungen fiir die Bedingungen autonomer Wissenschaft Die fiir die Universitäten konstitutive Verbindung von Forschung und Lehre hebt sie aus den übrigen Wissenschaftstypen hervor. Organisierter Pluralismus führt dazu, daß die Universität auf Kommunikation und Widerspruch angelegt ist; zum einen unter den Wissenschaftlern selbst, aber auch und vor allem zwischen den Wissenschaftlern und den Studenten.263 Diese Form des organisierten Pluralismus von Forschung und Lehre verwirklicht sich innerhalb der Universität vor allem auf Fachbereichsebene bzw. durch ein interdisziplinäres Zusammenwirken verschiedener Fachbereiche. Die Fachbereiche sind für die ihre Forschung und Lehre betreffenden Angelegenheiten allein zuständig, unbeschadet einer Gesamtverantwortung der Universität, die sich auf der Zentralebene konkretisiert. 264 Zwar besteht, zumal in Angelegenheiten der Forschung und Lehre, kein Subordinationsverhältnis zwischen Zentralebene und Fachbereichen, gleichwohl bestehen eine Reihe von Beanstandungs-, Genehmigungs- und Berichtspflichten der Fachbereiche.265 Diese sind notwendig, weil die Zentralebene die Vermittlungsebene zwischen Staat und Fachbereich darstellt, die dem einzelnen Wissenschaftler die Wahrnehmung seiner Freiheit erst ermöglicht.

duktinformation an Hochschulen, KJ 1996, S. 68 ff.; H. H. Seidler, Globalhaushalte und ihre rechtlichen Schranken, KJ 1996, S. 75 ff. Zechlin (S. 69 ff., 74) unterscheidet zwischen der "Input-Steuerung" der Universitäten aufgrund des überkommenen haushaltsrechtlichen Prinzips der Brutto Veranschlagung und der "Output-Steuerung" als neuem Steuerungsmodell. Mit dem Prinzip der Brutto Veranschlagung werden dem Staat weitreichende Möglichkeiten eröffnet, auf die Hochschulen über den Staatshaushalt bis ins Detail Einfluß zu nehmen. Die Globalbudgetierung erhöht dementsprechend die Autonomie der Hochschulen; das "Neue Steuerungsmodell" heißt zwar "weniger Staat", macht die Hochschulen jedoch zugleich anfälliger gegenüber Ressourcenkürzungen, da die (politische) Verantwortung für die konkrete Entscheidung über Kürzungen auf die Universität übergehe. Gleichwohl läßt sich feststellen, daß diese Verlagerung auch ohne eine Globalbudgetierung zunehmend zu beobachten ist. Seidler (S. 76 ff.) stützt seine Analyse auf die hessischen Modellversuche eines Globalhaushaltes der TH Darmstadt, FH Wiesbaden und GH Kassel. Er sieht einen wesentlichen Vorteil in der Überwindung des haushälterischen Prinzips der zeitlichen (jährlichen) Bindung, was zu einem flexibleren und effektiveren Ressourceneinsatz führt. 263 B.-O. Bryde, Aufgabe und Aufbau der Universität, 1991, S. 4. 264 H.-H. Trute, Forschung, S. 352; W. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 1986, Rn. 239; zu den rechtlichen Möglichkeiten der Umgehung bzw. Umstrukturierung des Zwei-Ebenen-Modells Schrimpf, in: E. Denninger (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 61, Rn. 9 ff.; W. Thieme, a.a.O., Rn. 210 ff.; U. Karpen, in: Hailbronner, (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, § 61, Rn. 9 ff., 35 ff., 50 ff. 265 H. Schrimpf, in: E. Denninger (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 61, Rn. 3.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Die Aufgabe universitärer Wissenschaft liegt darin, die für sie konstitutive Verbindung von Forschung und Lehre herzustellen.266 Diese Verbindung ist auch der zutreffende Ausgangspunkt von Hailbronners Unterscheidung zwischen universitärer Wissenschaft, die in Art. 5 Abs. 3 GG durch das Normbereichsmerkmal "Forschung und Lehre" geschützt sei und den übrigen Wissenschaftstypen, die der "Wissenschaft" zu subsumieren seien.267 Der Eigenheit universitärer Wissenschaft ist sicher besser Ausdruck verliehen, indem auch auf verfassungsrechtlicher Ebene Interpretationsmöglichkeiten wahrgenommen werden, die die Verbindung zwischen Forschung und Lehre zum Ausdruck bringen, statt darauf hinzuweisen, daß es sich bei dem Normbereichsmerkmal "Wissenschaft" um den Oberbegriff von Forschung und Lehre handele.268 Hailbronners Untersuchung gelangt dann auch für die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit zu dem Ergebnis, daß die allgemeine Wissenschaftsfreiheit für "jedermann" ("Wissenschaft") von der Forschungs- und Lehrfreiheit ("Forschung und Lehre") zu trennen ist; die Freiheit von Forschung und Lehre sei deshalb nicht nur eine Betätigungsmodalität der Wissenschaftsfreiheit, sondern regele eigenständige Normbereiche. 269 Diese Differenzierung eröffnet dann die Möglichkeit, der universitären Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht besonderen Grundrechtsschutz zuzuschreiben.270 Die Kontroverse um eine eigenständige funktionale Bedeutung von Forschung und Lehre entschärft sich jedoch, wenn Art. 5 Abs. 3 GG zutreffend als Organisationsgrundrecht interpretiert wird. Ob die Lehre nur in Verbindung mit Forschung durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt ist oder außerhalb von Universitäten, etwa an anderen Hochschulen oder allgemeinbildenden Schulen durch Art. 5 Abs. 3 GG grundrechtlich erfaßt wird, hängt dann weder von den überkommenen Hochschulstrukturen noch einem außerhalb der grundgesetzlichen 266 B.-O. Bryde, Aufgabe und Aufbau der Universität, 1991, S. 4; A. Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 15 ff. 267 K. Hailbronner, Die Freiheit von Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979. 268 BVerfGE 35, 79 (113); und nahezu einhellig das Schrifttum, vgl. nur A. Röttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, 1968, S. 296; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 75; T. Oppermann, Freiheit von Forschung und Lehre, HdbStR VI, 1989, Rn. 37; Dickert, Schulze-Fielitz, Starck, R. Scholz, M/D/H/Sch, Art. 5 Abs. 3, Rn. 9, 85; W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1974), S. 108; T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 162; aber auch H.-H. Trute, Forschung, S. 132 f , der zu recht betont, daß die Bezeichnung der Wissenschaft als Oberbegriff unproblematisch ist, so lange hieraus keine dogmatischen Folgerungen gezogen werden. 26 K. Hailbronner, Die Freiheit von Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979, S. 74. 270 K. Hailbronner, Die Freiheit von Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979, S. 74 ff.

VI. Autonomie als Parameter

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Zuordnimg entwickelten Verständnis von wissenschaftlicher Lehre ab, sondern davon, ob die staatliche Organisationsleistung Autonomie im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG vermittelt. Für die allgemeinbildenden Schulen etwa ist dies zu verneinen, weil autonome Strukturen weder im Hinblick auf die Lehre noch auf die Forschung vorhanden sind, obwohl dort gelehrt wird und die Vorbereitung hierauf durchaus den Charakter des Forschens annehmen kann.271 Auch für die anderen, ebenfalls vom HRG erfaßten Hochschulen ist zu differenzieren. Entscheidend ist die unterschiedliche Aufgabenstellung der Hochschulen, an der sich Forschung und Lehre und deren Verhältnis zueinander zu orientieren hat.272 Eine Zuordnung - auch in "Mischformen" wie den integrierten Gesamthochschulen - ist hiernach möglich.273 Weder auf der einen noch auf der anderen Seite bestehen vorstaatliche subjektivrechtliche Ansprüche aus Art. 5 Abs. 3 GG, sondern die Wahrnehmung des Grundrechts hängt auch hier von den geschaffenen Bedingungen von Autonomie ab und ist durch diese begrenzt. 274 Für die Forschung hat die Bewertung entsprechend zu erfolgen; auch deren Gewährleistung innerhalb der Universität ist nicht auf die mit der Lehre verbundene Forschung beschränkt. Auch Drittmittelforschung gehört zu den Aufgaben universitärer Wissenschaft. 275 Hieraus ergibt sich aber auch, daß sich diese Form der Forschungsfinanzierung in den universitären Organisationszusammenhang einfügen muß. Sie muß sich - wie alle dienstlichen Aufgaben - an den Zielen des § 22 HRG orientieren; dies führt, der Universitätsstruktur entsprechend, zu einer disziplinär und damit auf das jeweilige Fach des Hochschulforschers beschränkten "Zuständigkeit" auch auf dem Gebiet der Drittmittelforschung. Zum anderen darf diese nicht die anderen dienstlichen Aufgaben beeinträchtigen. Wie nahezu alle Wissenschaftseinrichtungen innerhalb staatlicher Bindungen ist auch die Universität nicht nur von organisatorischen, sondern auch von finanziellen Leistungen des Staates abhängig; Autonomie setzt deshalb auch voraus, daß der Staat über die Finanzierung keinen unmittelbaren Einfluß auf die universitäre Forschung und Lehre nimmt. Das Konzept der Globalfinanzierung und die Vermittlungsfunktion der Trägerebene dient deshalb auch dazu, staatliche Ingerenz durch Finanzmittelvergabe abzumildern. Vor diesem 271 272 273 274 275

Vgl. hierzu oben, 2. Kap., S. 147 f. BVerfGE 61, (243 ff.). BVerfGE 61, (249 ff.). BVerfGE 85, 360 (385); s. hierzu auch oben, S. 247 ff. S. oben, S. 265 f.

18 Kleindiek

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Hintergrund darf auch die Drittmittelfinanzierung die so verstandene Autonomie nicht stören. Forschung mit Mitteln Dritter ist deshalb nur dann durch Art. 5 Abs. 3 GG grundrechtlich gewährleistet, wenn sie diese Anforderungen an Autonomie antizipiert. Drittmittel unterscheiden sich von der Globalzuweisung dadurch, daß sie projektbezogen vergeben werden. Diese Zweckorientierung allein kann jedoch kein Kriterium für die Entscheidung über die Zuweisimg grundrechtlicher Freiheit sein. Deshalb ist zu entscheiden, ob Drittmittel vergeben werden, um einen Freiraum wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung auf einem bestimmten Forschungsgebiet zu eröffnen. 276 Die Universitäten sind dezentrale Selbstverwaltungseinrichtungen. Der ausschlaggebende Einfluß von Wissenschaftlern ist im Rahmen der wissenschaftlichen Partizipation auf der Trägerebene unabdingbar erforderlich, wenn die Universität ihre Aufgabe gem. § 3 Abs. 1 HRG erfüllen soll, ihren Mitgliedern die Wahrnehmung der durch Art. 5 Abs. 3 GG verbürgten Rechte sicherzustellen. Darüber hinaus ergeben sich aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG keine zwingend erforderlichen Mindestbeteiligungen von Wissenschaftlern an den Entscheidungen.277 Hiermit ist jedoch nicht entschieden, daß nur der ausschlaggebende Einfluß von Professoren die grundrechtsadäquate wissenschaftliche Partizipation verwirklichen kann; es wird vielmehr eine Hierarchisierung deutlich, die, wie noch zu zeigen sein wird, auch in den anderen Wissenschaftstypen innerhalb staatlicher Bindungen nachweisbar ist. Diese Hierarchisierung stellt eine mögliche Form grundrechtsadäquater wissenschaftlicher Partizipation dar; sie ist jedoch nicht die einzige, und sie ergibt sich schon gar nicht aus einem subjektivrechtlichen Anspruch der Professoren aus Art. 5 Abs. 3 GG. 2. Max-Planck-Gesellschaft als Trägerorganisation In der vielfältig institutionalisierten Wissenschaftsinfrastruktur innerhalb staatlicher Bindungen repräsentieren die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. (MPG) und die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V. (FhG) Trägerorganisationen als eine Form organisierter Wissenschaft zur Erfüllung spezifischer Aufgaben. Gemeinsam ist den Universitäten, der MPG und der FhG die Organisationsform der Selbstverwaltung; im Unterschied zu den Universitäten handelt es

276 Bsp. Sonderforschungsprogramme der DFG, zu diesen ausführlich H.-H. Trute, Forschung, S. 493 ff, zur Finanzierung insbes. S. 510 f. 277 Anders insofern BVerfGE 35, 79.

VI. Autonomie als Parameter

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sich bei den Trägerorganisationen jedoch um zentrale Selbstverwaltungseinrichtungen. a) Aufgaben Aufgabe der MPG ist die Förderung der Wissenschaften durch die Gründung und Unterhaltung von Forschungsinstituten, die wissenschaftliche Forschung frei und unabhängig betreiben.278 Die Einrichtungen der MPG sollen sich der Grundlagenforschung in ausgewählten Bereichen der Natur-, Geistesund Sozialwissenschaften widmen, die als wissenschaftlich besonders wichtig und zukunftsträchtig angesehen werden. So kann die MPG das Erschließen neuer Forschungsgebiete fordern und damit die Forschung an den Hochschulen ergänzen, die durch ihre umfassend-disziplinäre, an den Aufgaben von Lehre und Studium orientierte Ausrichtung hierbei naturgemäß gehemmt ist. Die Forschung in den Instituten und Arbeitsgruppen der MPG erfolgt deshalb ohne die Vermittlung ihrer Ergebnisse durch die Lehre; auch enge Kooperationen mit den Hochschulen beschränken sich auf den Bereich der Forschung, etwa indem teure und von der Hochschule wegen ihrer anderen Aufgabenstruktur nicht finanzierbare Großgeräte auch der universitären Forschung zur Verfügung gestellt werden. 279 b) Äußere Organisationsbedingungen Die MPG ist eine Trägerorganisation für derzeit 71 Institute, 26 Arbeitsgruppen an Universitäten in den neuen Bundesländern sowie einer Förderungsgesellschaft für Wissenschaftliche Neuvorhaben.280 Anfang 1995 waren rund 3000 Wissenschaftler in den Einrichtungen der MPG beschäftigt (hinzu kommen 6000 Stipendiaten und Gastwissenschaftler); der allgemeine Haushalt 1995 hatte ein Volumen von rund 1,5 Milliarden DM. 2 8 1 Die MPG ist zwar als gemeinnütziger Verein rechtlich eine private Trägerorganisation, materiell handelt es sich jedoch um staatlich finanzierte Wissenschaft; die Grundfinan-

278

S. § 1 Abs. 1 u. 2 der Satzung der MPG i. d. F. v. 4.6.1992. MPG (Hrsg.), Die MPG und ihre Institute, 1983, S. 16 f.; Bundesbericht Forschung 1993, S. 30, 399. 280 Dies ist der Stand im März 1996, Quelle: MPG; eine (fast) aktuelle Übersicht enthält das Jahrbuch 1995 der MPG, S. 109 - 810. 281 Jahrbuch 1995 der MPG, S. 822 f. 279

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

zierung, die sich Bund und Länder zu je 50% teilen, nimmt rund 85% des Haushaltsvolumens ein. 282 Die MPG soll im Rahmen der staatlich finanzierten Forschungsinfrastruktur als freie und nur der wissenschaftlichen Leistung verpflichtete Trägerorganisation ihre besonderen Fähigkeiten zur Geltung bringen; wesentlicher Bestandteil der Konzeption ist es deshalb, in der Form der Selbstverwaltung organisiert, ihren leitenden Wissenschaftlern freie Hand bei der Wahl der Forschungsthemen und der Durchführung der Forschungsarbeiten zu gewähren.283 Auch von staatlicher Seite werden die Bedingungen autonomer Wissenschaft positiv rezipiert: Die Organisation der MPG soll Eigengesetzlichkeit und Selbstbestimmimg der Wissenschaft berücksichtigen, weil der innovative Nutzen der Wissenschaft so am besten zur Geltung kommt.284 c) Innere Organisationsstruktur Die positive Rezeption autonomer Bedingungen auch durch den (finanzierenden) Staat genügt jedoch nicht, um einen Nachweis freier und den Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft verpflichteter Strukturen zu erbringen. Dies ist nur dort möglich, wo auch Wissenschaft verwirklicht wird; im Falle der MPG geschieht dies durch ihre Institute und Arbeitsgruppen. Für diese sieht § 1 Abs. 2 der Satzung der MPG vor: "Die Institute der Gesellschaft betreiben die wissenschaftliche Forschung frei und unabhängig." Voraussetzung hierfür ist eine entsprechende Organisationsstruktur auf der Trägerebene. Die Binnenstruktur der MPG muß demnach so organisiert sein, daß Freiheit und Unabhängigkeit der Institute sowohl gegenüber der MPG als Trägerorganisation als auch gegenüber dem Staat, der seinen Einfluß und seine Verantwortung zumindest als Geldgeber wahrnehmen könnte, zu verwirklichen ist. Auch die Trägerebene der MPG läßt sich, den Universitäten entsprechend, als ein Dreiecksverhältnis zwischen Geschäftsführung, wissenschaftlicher Partizipation und staatlicher Aufsicht veranschaulichen.

282

Bundesbericht Forschung 1993, S. 399. Die übrigen 15% stammen aus privaten Zuwendungen und aus Mitteln der direkten Projektförderung. Hierbei handelt es sich im Falle der MPG um gezielte Förderung programmübergreifender Grundlagenforschung durch das BMFT; 1992 bezog sich diese vor allem auf Großgeräte der Grundlagenforschung (135 Mio. DM) u. zu einem sehr geringen Anteil (2,5 Mio. DM) auf institutionelle Förderung und Umstrukturierung in den neuen Bundesländern; Bundesbericht, S. 97. Vgl. auch Jahrbuch 1995 der MPG, S. 818 f. 283 Jahrbuch 1995 der MPG, S. 811 f.; Bundesbericht Forschung 1993, S. 25, 399. 284 Bundesbericht Forschung 1993, S. 25, 399.; BT-Drs. 10/1327, S. 20.

VI. Autonomie als Parameter

277

aa) Geschäftsführung Die Geschäftsführung liegt vor allem beim Präsidenten, der satzungsgemäß Wissenschaftler sein muß, zugleich Vorsitzender fast aller wichtigen Organe der MPG ist und diese nach innen und nach außen vertritt. 285 Zusammen mit den übrigen Mitgliedern des Verwaltungsrates und den (beiden) Generalsekretären bildet er den Vereinsvorstand, durch den alle wichtigen nichtwissenschaftlichen Entscheidungen vorbereitet werden. 286 bb) Wissenschaftliche Partizipation Der Präsident entwirft auch die Grundzüge der Wissenschaftspolitik. 287 Die hierfür wissenschaftsrelevanten Entscheidungen werden im wissenschaftlichen Rat vorbereitet. Dieser besteht aus den wissenschaftlichen Mitgliedern der Institute und gewählten wissenschaftlichen Mitarbeitern. 288 Der wissenschaftliche Rat ist für seine konkrete Arbeit in drei Sektionen gegliedert, die sich nach den Aufgaben der Einrichtungen bestimmen.289 In den Sektionen sollen die Institute und Arbeitsgruppen ihre gemeinsamen wissenschaftspolitischen Angelegenheiten erörtern und den Senat in wissenschaftsrelevanten Fragen beraten;290 die Sektionen sind somit für den wissenschaftsrelevanten Bereich auf der Trägerebene das wichtigste Organ der MPG. In formaler Hinsicht ist jedoch auch für wissenschaftliche Angelegenheiten der Senat das beschlußfassende Organ. Der Senat wählt den Präsidenten, die Mitglieder des Verwaltungsrates, die Generalsekretäre, beschließt über die Gründung, Schließung oder Neuorientierung der Institute und Arbeitgsgruppen, beschließt deren Satzungen, bestimmt die Leiter und wissenschaftlichen Mitglieder der Einrichtungen, beschließt über den Gesamthaushalt und die Globalzuweisungen an die einzelnen Einrichtungen.291 Im Senat sollen Wissenschaftler, die nicht den MPI angehören 285 286

519 f.

287

§ 11 der Satzung der MPG. §§ 15 bis 19 der Satzung der MPG; vgl. hierzu auch H.-H. Trute, Forschung, S.

§ 11 Abs. 2 der Satzung der MPG. Wissenschaftliche Mitglieder eines Instituts werden aufgrund besonderer wissenschaftlicher Leistungen vom Senat berufen; sie müssen im Institut als ständige Mitglieder tätig sein; für ihre Berufung und Ernennung ist zwar der Senat auf Vorschlag des Institutsdirektors zuständig; ihre Ernennung soll jedoch nicht gegen den Willen der jeweiligen Sektion im Wissenschaftlichen Rat (hierzu s. sogleich) erfolgen, § 5 Abs. 2, Abs. 4 der Satzung der MPG. Aus jedem MPI wird ein dort angestellter wissenschaftlicher Mitarbeiter auf drei Jahre in den wissenschaftlichen Rat gewählt, § 23 Abs. 3. 289 Gem. § 23 Abs. 2 der Satzung der MPG gliedert sich der Wissenschaftliche Rat in eine Biologisch-Medizinische, eine Chemisch-Physikalisch-Technische und eine Geisteswissenschaftliche Sektion. 290 §§ 23 bis 25 der Satzung der MPG. 291 S. §§ 12 u. 14 Satzung der MPG. 288

278

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

müssen, angemessen berücksichtigt werden. Hinzu kommen die Sektionsvorsitzenden des wissenschaftlichen Rates, der Generalsekretär, zwei Mitglieder der Bundesregierung und drei aus den Landesregierungen. Schließlich ist die nicht zu unterschätzende Wahl von Ehrensenatoren vorgesehen, durch die Sachverstand aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung in die MPG hereingeholt werden kann.292 Durch seine Zusammensetzung erreicht der Senat jedoch eine Größe, mit der konzeptionelle forschungspolitische Arbeit kaum mehr möglich ist.293 Hierdurch gewinnt der wissenschaftliche Rat, der ausschließlich aus Angehörigen der MPI besteht und der vom Senat eingesetzte Ständige Ausschuß zur Beratung in Fragen der Forschungspolitik und -planung, in dem die Wissenschaftler der MPG über die ausschlaggebende Mehrheit verfügen, 294 den entscheidenden Einfluß. cc) Staatliche Aufsicht Die staatliche Aufsicht über die MPG ist auf die Wahrnehmung von Rahmenverantwortung beschränkt.295 Dies entspricht ihrer auf die Verwirklichung von Autonomie ausgerichteten Selbstverwaltungsstruktur. Der staatliche Einfluß im Senat ist jedenfalls quantitativ sehr begrenzt;296 entsprechendes gilt für die ohnehin eher einflußlose Mitgliederversammlung. Direkter staatlicher Einfluß beschränkt sich vielmehr auf eine verhältnismäßig untergeordnete Mitwirkung an den Vermittlungs- und Steuerungsleistungen der Trägerebene. Was verbleibt, ist eine - freilich stark vermittelte - politische Einflußmöglichkeit über die Finanzierung der MPG. d) Folgerungen fiir die Bedingungen autonomer Wissenschaft Die MPG ist eine staatlich finanzierte Trägereinrichtung, die aus Gründen der Eigengesetzlichkeit des Lebensbereichs Wissenschaft einer weitgehenden wissenschaftlichen Selbstbestimmung Raum läßt und damit ein qualitatives Forschungsniveau ermöglicht, dessen Voraussetzung vor allem in dem fehlenden (ökonomischen) Verwertungsdruck der Erkenntnisse liegt, sei es im 292

Hierzu MPG (Hrsg.), Die MPG und ihre Institute, 1983, S. 18,24. H.-H. Trute, Forschung, S. 519, weist daraufhin, daß der Senat 1989 rund 60 ständige Mitglieder hatte. 294 § 13 Satzung der MPG. 295 So treffend H.-H. Trute, Forschung, S. 523; vgl. auch MPG (Hrsg.), Die MPG und ihre Institute, 1983, S. 18. 296 S. oben, S. 277. 293

VI. Autonomie als Parameter

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Rahmen von Auftragsforschung oder industriell eingebundener Wissenschaft. Die MPG organisiert freie Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen, indem sie als fast-staatliche Organisation zwar von staatlicher Finanzierung abhängig ist, aus Gründen ihrer eigenen Funktionsgesetzlichkeit jedoch nicht (über den beschriebenen, der Allgemeinheit nützenden Rahmen hinaus) staatlich instrumentalisierbar wäre, ohne daß sie ihre Funktion als Vermittlerin freier Wissenschaft i. S. von Art. 5 Abs. 3 GG verlieren würde. 297 Ein solcher Verlust wäre nicht verfassungswidrig, weil er weder gegen Art. 5 Abs. 3 GG oder eine andere Vorschrift des GG verstoßen würde - weder die MPG als Trägerorganisation noch ihre Einrichtungen oder die dort beschäftigten Wissenschaftler haben einen in Art. 5 Abs. 3 GG verbürgten Anspruch auf die Aufrechterhaltung der staatlichen Bindungen in der bisherigen Form, von denen die MPG in ihrer bestehenden Gestalt existentiell abhängig ist.298 Als Folge einer anderen Aufgaben- und damit Organisationsstruktur, die etwa nicht mehr die unabhängig durchführbare Grundlagenforschung, sondern die gewerblich betriebene Auftragsforschung in den Mittelpunkt stellt, würde die Grundrechtsgewährleistung durch Art. 5 Abs. 3 GG nicht mehr verwirklicht. Dort, wo der Staat seiner Verpflichtung zur Organisation freier Wissenschaft nachkommt, geht hiermit jedoch andererseits die (Mit-)Verantwortung des Staates für die Gewährleistung freiheitsadäquater 199 Strukturen der Wissenschaftseinrichtung einher, die auch die Freiheitsentfaltung für den einzelnen Wissenschaftler umfaßt. Die MPG ist eine zentrale Selbstverwaltungseinrichtung. Die freie Entfaltung des einzelnen Wissenschaftlers innerhalb der Institute und Arbeitsgruppen der MPG wird durch die Organisation der Trägerebene ermöglicht. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Selbstverwaltung die Selbstorganisation der in ihr beschäftigten Wissenschaftler ermöglichen soll. Für die Strukturen autonomer Wissenschaft ist vielmehr von Bedeutung, daß sich der für die wissenschaftsrelevanten Entscheidungen zentrale Wissenschaftliche Rat ausschließlich aus Wissenschaftlern der MPG zusammensetzt, der Einfluß der betroffenen Wissenschaftler auf der Trägerebene ist somit institutionalisiert.

Die Kennzeichnung als fast-staatliche Organisation folgt der Konzeption von G. F. Schupperts, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, 1981, S. 180 ff. 298 Eindringlich zu dieser Abhängigkeit der Präsident der MPG, H. F. Zacher, Forschung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, in: Jahrbuch 1995 der MPG, S. 28 f. 299 Zu allgemein dagegen H.-H. Trute, Forschung, S. 528, der von wissenschaftsadäquaten Organisations- und Entscheidungsstrukuren ausgeht (Hervorh. R. K.); daß Strukturen wissenschaftsadäquat sind, sagt jedoch allein noch nichts über die Zu-

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Weitere Voraussetzung für die Selbstverwirklichung der einzelnen Wissenschaftler unter autonomen Bedingungen ist die freiheitsadäquate Umsetzung der zwischen Geschäftsführung, wissenschaftlicher Partizipation und staatlicher Aufsicht entwickelten Struktur auf der Trägerebene. Eine unter diesen Voraussetzungen freiheitsadäquate Wissenschaftsausübung wird in den Grundeinheiten der MPG, den Instituten und Arbeitsgruppen verwirklicht. Diese sind zwar insofern hierarchisch organisiert, als die wesentlichen Kompetenzen beim Institutsleiter konzentriert sind, der, auf Zeit bestellt,300 Wahl, Reihenfolge und Ausführung der wissenschaftlichen Arbeiten bestimmt und über die Einstellung der wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Beschäftigten entscheidet.301 In diesem Rahmen haben jedoch auch die anderen wissenschaftlichen Mitglieder des Instituts eine durch die Satzung verbürgte, weitgehende Freiheit in ihren wissenschaftlichen Angelegenheiten;302 gegenüber den wissenschaftlichen Mitarbeitern hat der Institutsleiter die Pflicht, für deren wissenschaftliche und berufliche Entfaltung Sorge zu tragen.303 Insgesamt soll ein kooperatives Miteinander wesentlicher Akzent der Arbeit in den Instituten sein.304 Hinzu kommen ausdifferenzierte Mechanismen zur Konfliktbewältigung auf Institutsebene in wissenschaftsrelevanten Fragen: Gegen die Entscheidung der Institutsleitung kann sich jeder Mitarbeiter in einer ihm wichtig erscheinenden wissenschaftlichen Angelegenheit an die zuständige Sektion wenden; außerdem kann er seine abweichende Meinung dem Institutsbericht beifügen. 305 Hinzu kommt ein Schlichtungsverfahren, das auf den behutsamen und gleichberechtigten Ausgleich widerstreitender Interessen ausgerichtet ist.306 Die MPG als außeruniversitäre Wissenschaftseinrichtung verwirklicht die durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährleistete Wissenschaftsfreiheit. Das hierzu erforderliche, anspruchsvolle Repertoire an Organisationsleistungen dieser

Ordnung grundrechtlicher Freiheit aus; zu dem Verhältnis von Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit vgl. bereits oben, S. 201 ff. 300 § 28 Abs. 3 u. 4 Satzung der MPG. 301 § 28 Abs. 3d) Satzung der MPG. 302 § 28 Abs. 6 Satzung der MPG. 303 § 28 Abs. 3e) Satzung der MPG. 304 Dies wird durch § 28 Abs. 7 Satz 1 der Satzung der MPG zum Ausdruck gebracht: "Eine sachgerechte Mitwirkung aller im wissenschaftlich-technischen Bereich der Institute tätigen Mitarbeiter an Entscheidungen in den Instituten durch rechtzeitige und ausreichende Information aller Betroffenen und die regelmäßige gemeinsame Beratung über allgemeine Zielsetzung, Methoden und Durchführung von Forschungsvorhaben ist in den Institutssatzungen sicherzustellen." 305 § 28 Abs. 7 Satz 2 Satzung der MPG. 306 S. hierzu § 30 Satzung der MPG und die vom Senat beschlossene Schlichtungsordnung.

VI. Autonomie als Parameter

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Trägerorganisation und die notwendige Unabhängigkeit durch eine staatliche Globalfinanzierung machen einmal mehr deutlich, daß autonome Strukturen, die zu einer freien Entfaltung von wissenschaftlichen Eigengesetzlichkeiten folgenden Handlungszusammenhängen fuhren, von Organisationsentscheidungen innerhalb staatlicher Bindungen abhängig sind. 3. Fraunhofer-Gesellschaft als Trägerorganisation Nach der einhelligen Auffassung in der verfassungsrechtlichen Literatur wird, ebenso wie die Max-Planck-Gesellschaft, auch die Fraunhofer-Gesellschaft vom Gewährleistungsbereich des Art. 5 Abs. 3 GG erfaßt. 307 Dies erscheint plausibel, weil es sich jeweils um Trägerorganisationen zur Förderung der Wissenschaft handelt. Zu entscheiden ist die grundrechtliche Zuordnung jedoch nur danach, ob die Aufgaben, die äußeren Organisationsbedingungen und die innere Organisationsstruktur der FhG Bedingungen autonomer Wissenschaft vermitteln. a) Aufgaben Aufgabe der Fraunhofer-Gesellschaft ist die Förderung der angewandten Forschung.308 Die Einrichtungen der FhG "stehen Unternehmen der Wirtschaft fiir Auftragsforschung und dem Staat fiir Projektforschung im Rahmen seiner Forschungsprogramme zur Verfugimg." 309 Innerhalb der organisierten Wissenschaftsinfrastruktur ist die Fraunhofer-Gesellschaft somit zuständig "für die Entwicklung und Durchsetzung neuer Technologien durch zielorientierte Grundlagenforschung und durch angewandte Forschung."310 Zu diesem Zweck führt sie frei gewählte Forschungsvorhaben, Vertragsforschung und von Bund und Ländern übertragene Aufgaben durch. 311 Die Tätigkeitsfelder sind vor allem Auftragsforschung für die Wirtschaft, Projektforschung für staatliche Stellen, Verbundprojektforschung für Wirtschaftsunternehmen und staatliche Institutionen, Forschungs- und Entwicklungsvorhaben für kleinere und mittlere 307 H.-H. Trute, Forschung, S. 438 f.; E.-J. Meusel, Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Einflußnahme auf die außeruniversitäre Forschung, in: Hdb WissR, 1982, Bd. 2, S. 1286, 1288; differenzierend aber C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 142 einerseits und S. 242 ff, 356 f. andererseits, wo der Schutz durch Art. 5 Abs. 3 GG für den Bereich der Staats- bzw. Ressortforschung abgelehnt wird. 308 § 1 Abs. 1 der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft v. 24.10.1992. 309 Bundesbericht Forschung VI (1979), S. 297. 310 Fraunhofer-Gesellschaft (Hrsg.), Die Fraunhofer-Gesellschaft im Profil, München 1995, S. 6. 311 § 1 Abs. 1 der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Unternehmen; als weiterer wichtiger Forschungszweig kommt die Verteidigungsforschung hinzu, die zu 100% als Ressortforschung für das Bundesverteidigungsministerium eingerichtet ist.312 b) Äußere Organisationsbedingungen Die FhG ist als gemeinnütziger Verein eine private Trägerorganisation für derzeit 46 Forschungsinstitute, die an 31 Standorten in regionale Wirtschaftsräume integriert sind und dort als selbständige "Profit-Center" arbeiten.313 1992 waren rund 2400 Wissenschaftler in den Einrichtungen der FhG beschäftigt. 314 Trotz der eher heterogenen Aufgabenstellung liegt der größte Leistungsbereich der Fraunhofer-Gesellschaft in der Vertragsforschimg. Bei einem Finanzvolumen von insgesamt 997 Mio. D M in 1993 haben die 46 Institute der Fraunhofer-Gesellschaft 828 Mio. D M durch Vertragsforschung erwirtschaftet. Rund 70% dieser Einnahmen stammen aus Forschungsaufträgen und -projekten bei Industrie- und Dienstleistungsunternehmen sowie der öffentlichen Hand, um die sich die Fraunhofer-Gesellschaft im Wettbewerb mit anderen Forschungseinrichtungen innerhalb und außerhalb staatlicher Bindungen bewirbt. Die übrigen 30% im Bereich der Vertragsforschung erhält die Fraunhofer-Gesellschaft als erfolgsabhängige institutionelle Förderung von Bund (90%) und Ländern (10%). Auch die frei gewählte, strategische Eigenforschung wird als institutionelle Förderung finanziert. Sie dient der Erhaltung wissenschaftlicher Qualität, der Sicherung von Marktchancen und der Erschließung neuer Forschungsbereiche. Das Volumen der gesamten institutionellen Förderung wird jährlich in Relation zu den eigenen Erträgen festgelegt: Steigen die eigenen Erträge, so wächst auch die institutionelle Förderung (Grundfinanzierung) durch die öffentlichen Hände dementsprechend, so daß mehr Spielraum für die Eigenforschung geschaffen werden kann.315 c) Innere Organisationsstruktur Forschung in den Einrichtungen der FhG ist ganz überwiegend an der Herstellung, Optimierung und ökonomischen Verwertbarkeit von wissenschaftli-

312

Bundesbericht Forschung 1993, S. 420. So die Formulierung in Fraunhofer-Gesellschaft (Hrsg.), Die Fraunhofer-Gesellschaft im Profil, 1995, S. 7. 314 Bundesbericht Forschung 1993, S. 421. 315 Fraunhofer-Gesellschaft (Hrsg.), Die Fraunhofer-Gesellschaft im Profil, 1995, S. 7; Bundesbericht Forschung 1993, S. 420. 313

VI. Autonomie als Parameter

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eher Erkenntnis orientiert. 316 Gleichwohl ist die FhG nicht ohne weiteres mit der Industrieforschung vergleichbar. Hinzu kommt, daß aufgrund der gemischten Finanzierungsform, der auch satzungsgemäß festgelegten Möglichkeiten einer freien, d. h. von konkreten Aufträgen unabhängigen Forschung und der Einbindung in staatliche Verantwortungszusammenhänge die Bedingungen autonomer Wissenschaft positiv rezipiert werden. 317 Demnach müßte die Trägerebene der FhG eine Organisationsstruktur aufweisen, die diese Annahme rechtfertigt und auf der Forschungsebene müßte sich diese als autonome Bedingungen für den einzelnen Wissenschaftler fortsetzen. aa) Geschäftsführung Die Geschäftsführung der FhG liegt bei ihrem Vorstand. Dieser setzt sich aus dem Präsidenten, der die Gesellschaft nach Innen und nach Außen repräsentiert,318 und zwei weiteren hauptamtlichen Mitgliedern zusammen; mindestens ein Vorstandsmitglied muß Natur- oder Ingenieurwissenschaftler sein, ein weiteres Mitglied muß über besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der kaufmännischen Geschäftsführung verfügen. 319 Der Vorstand erarbeitet (im Zusammenwirken mit dem Wissenschaftlich-Technischen Rat) die Grundzüge der Wissenschafts- und Forschungspolitik, er betreut die Institute und Arbeitsgruppen, sorgt für eine vorausschauende Personalplanung und -politik, fordert die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter, bereitet die Beschlüsse der Mitgliederversammlung sowie des Senates vor und vollzieht diese.320 bb) Wissenschaftliche Partizipation Wissenschaftliche Partizipation auf der Trägerebene ist durch den Wissenschaftlich-Technischen Rat verwirklicht. Ihm gehören die Mitglieder der Institutsleitungen und in den Instituten gewählte Vertreter der wissenschaftlichen und technischen Mitarbeiter an. 321 Er hat keine Entscheidungskompetenzen, sondern lediglich eine beratende und unterstützende Funktion in wissenschaft-

316 "Wir entwickeln für Sie Verfahren und Produkte bis zur Marktreife. Wir optimieren Ihren Produktionsprozeß, damit sich Ihre Chancen am Markt verbessern." so die Selbstdarstellung der FhG, Fraunhofer-Gesellschaft (Hrsg.), Die Fraunhofer-Gesellschaft im Profil, 1995, S. 35. 317 Vor allem H.-H. Trute, S. 439; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 298 f.; E.J. Meusel, Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Einflußnahme auf die außeruniversitäre Forschung, in: Hdb WissR, 1982, Bd. 2, S. 1286, 1288. 318 § 17 Abs. 1 Nr. a) der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft. 319 § 15 Abs. 1 bzw. 16 Abs. 1 der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft. 320 § 16 Abs. 2 der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft. 321 § 18 Abs. 1 der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

lich-technischen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung.322 Somit besteht auf den ersten Blick eine der MPG entsprechende Struktur; der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, daß die wissenschaftsrelevanten Entscheidungen im Wissenschaftlichen Rat der MPG selbst vorbereitet werden, 323 wohingegen der Wissenschaftlich-Technische Rat der FhG lediglich beratende Funktion hat.324 Über die Grundzüge der Wissenschafts- und Forschungspolitik, die Forschungs- und Ausbauplanung entscheidet der Senat. Des weiteren ist er für die Institutsstrukuturen (Errichtung, Ein- und Ausgliederung, Zusammenlegung, Auflösung), die allgemeinen Bestimmungen der Institutssatzungen, und die mittel- bzw. langfristige Finanzplanung zuständig. Andere wichtige Entscheidungen sind von seiner Zustimmung abhängig.325 Gemäß § 10 der Satzung der FhG gehören dem Senat 18 Mitglieder aus Wissenschaft, Wirtschaft und öffentlichem Leben, jeweils drei Vertreter des Bundes und der Länder sowie drei Mitglieder des Wissenschaftlich-Technischen Rates an. cc) Staatliche Aufsicht Staatliche Aufsicht über die FhG ist entsprechend ihrer Aufgabenstruktur nur rudimentär ausgeprägt. Der Einfluß im Senat ist eher begrenzt; dies liegt jedoch nicht daran, daß hierdurch autonome Wissenschaftsstrukturen gesichert werden sollen, wie dies bei der MPG der Fall ist, sondern der Einfluß des Staates ist gering, weil die Organisation der FhG vor allem darauf ausgerichtet sein muß, eine Zusammenarbeit mit den privaten Auftraggebern für wissenschaftliche Projekte zu sichern. Die auf Vertrags- und Auftragsforschung ausgerichtete Funktion der FhG schlägt sich auch in der staatlichen Beteiligung an der Finanzierung nieder. Der Möglichkeit einer zumindest vermittelten politischen Einflußnahme begibt sich staatliche Ingerenz insofern, als der Umfang staatlicher Finanzleistungen von dem (ökonomischen) Erfolg der Vertrags- und Auftragsforschung abhängig ist.326

322

§ 19 Abs. 1 der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft. S. hierzu oben, S. 277 f. 324 Zu den Möglichkeiten des Wissenschaftlich-Technischen Rates, Empfehlungen auszusprechen, vgl. § 19 Abs. 3 der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft. 325 Vgl. § 12 der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft. 326 Zum Finanzierungsmodell s. oben, S. 282 ff. 323

VI. Autonomie als Parameter

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d) Folgerungen fiir die Bedingungen autonomer Wissenschaft Die Trägerebene der Fraunhofer-Gesellschaft weist keine wissenschaftliche Partizipation auf, die die Bedingungen von Autonomie gewährleisten und sichern kann. Hierin unterscheidet sie sich ganz wesentlich von der MaxPlanck-Gesellschaft als andere Trägerorganisation von Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen. Zurückzuführen ist dies auf die unterschiedliche Aufgabenstellung für beide Einrichtungen; während sich die Institute der MPG auf die Grundlagenforschung konzentrieren, sind die Einrichtungen der FhG auf die Anwendung und industrielle Verwertung wissenschaftlich-technischer Erkenntnis ausgerichtet. Für die Organisation der FhG ist es deshalb entscheidend, eine Zusammenarbeit mit den Auftraggebern für wissenschaftliche Projekte zu sichern, die vor allem auf die ökonomische, aber auch etwa militärische (und damit geheimhaltungsbedürftige) Verwertbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis ausgerichtet ist. Ohne eine enge Anbindung vor allem an die Industrie als Abnehmer ist diese Ausrichtung nicht realisierbar. Die Orientierung an Produkt- und Gewinnmaximierung wirkt sich dabei auch auf die Bedingungen wissenschaftlich-technischer Erkenntnis aus; dies verdeutlicht besonders die Finanzierung der FhG: "Dieses Finanzierungsmodell ist für eine Forschungsorganisation einzigartig und stimuliert die Leistungsfähigkeit. Die Erfolgskontrolle wird permanent durch den Markt ausgeübt."327 Die strukturelle Nähe zur industriellen Forschimg ergibt sich noch aus einem anderen Gesichtspunkt: Ob ein Industrieunternehmen selbst eine Forschungsabteilung aufbaut oder die notwendigen Erkenntnisse über Vertragsforschung erwirbt, hängt auch davon ab, ob Vertragsforschung im ökonomischen Sinne erfolgreich ist; indem die Fraunhofer-Gesellschaft darauf hinweist, daß sie Verfahren und Produkte bis zur Marktreife entwickelt,328 stellt sie vor allem ihren Nutzen im Sinne ökonomischer Verwertbarkeit in den Vordergrund. Dies kommt auch auf der konkreten Organisation der Institutsebene zum Ausdruck. Während die Satzung der MPG vorsieht, daß die Institute der Gesellschaft die wissenschaftliche Forschung frei und unabhängig betreiben (§ 1 Abs. 2 der Satzung der MPG) und diese Freiheit durch umfangreiche Partizipationsmöglichkeiten der Wissenschaftler gesichert ist, räumt die Satzung der FhG den Mitarbeitern des Instituts lediglich "angemessene funktionsbezogene 327

Fraunhofer-Gesellschaft (Hrsg.), Die Fraunhofer-Gesellschaft im Profil, München 1995, S. 7. Die FhG ist deshalb auch nicht, wie H.-H. Trute, Forschung, S. 438, meint, exemplarisch für diese Finanzierungsform. 328 Fraunhofer-Gesellschaft (Hrsg.), Die Fraunhofer-Gesellschaft im Profil, 1995, S. 35. Aus betriebswirtschaftswissenschaftlicher Perspektive B. Nuhn, Eigen- und/oder Fremdforschung und -entwicklung als strategisches Entscheidungsproblem, 1987.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Informations- und Mitwirkungsrechte" ein, "die geeignet sind, die Leistungsfähigkeit des Instituts zu gewährleisten. Die Fähigkeit der Institutsleitung zu raschen Entscheidungen, insbesondere im Rahmen der Vertragsforschung, darf nicht beeinträchtigt werden." 329 Die FhG ist zwar "ein exzellentes Beispiel dafür, wie der Marktmechanismus als Kontrollinstrument der Aufgabenerfüllung eingesetzt werden kann, indem er zusammen mit den Finanzierungsanreizen des Staates die Einrichtung auf den Rahmen der Aufgabenstellung ohne wesentliche bürokratische Kontrollmechanismen festlegt", diese Form der Forschungsforderung ist jedoch nicht geeignet, "damit ein hohes Maß an Autonomie" zu sichern,330 wenn diese Form der Autonomie als Subsumtionskriterium für Art. 5 Abs. 3 GG angesehen werden soll. Die in der FhG zutage tretenden Autonomiestrukturen entsprechen wegen der nur rudimentär ausgeprägten wissenschaftlichen Partizipation auf der Trägerebene nicht denen der MPG. 331 4. Großforschung Der Bereich der Großforschung charakterisiert in eindringlicher Weise die Bedeutung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Risikogesellschaft. 332 Die ökonomische Bedeutung von Wissenschaft, ihre gesellschaftlichen Auswirkungen durch die von ihr hervorgebrachten Chancen und Risiken, die Notwendigkeit gesellschaftlicher bzw. staatlicher Steuerung von Wissenschaft trifft hier gleichsam in einem Kristallisationspunkt zusammen.

329 § 20 Abs. 5 der Satzung der FhG. Hieran ändert auch § 21 Abs. 2 Nr. c) nichts, denn die dort eingeräumte Freiheit bei der Wahl, Reihenfolge und Ausführung der wissenschaftlichen Arbeiten des Instituts unterliegt nicht nur der vom Senat zu verabschiedenden Forschungs- und Ausbauplanung, sondern auch den "eingegange(n) Verpflichtungen zur Durchführung von Forschungsvorhaben." Anders als hier E.-J. Meusel, Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Einflußnahme auf die außeruniversitäre Forschung, in: HdbWissR, 1982, Bd. 2, S. 1286, der unter Berufung auf § 21 Abs. 2 Nr. c) die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Wissenschaftlers betont und hieraus letztlich ableitet, daß die Forschung innerhalb der FhG dem Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG zu subsumieren sei, a.a.O., S. 1288. 330 So aber H.-H. Trute, Forschung, S. 439. 331 Anders H.-H. Trute, Forschung, S. 700 u. 712, wo die Vergleichbarkeit von MPG und FhG betont wird. Trute gelangt zu diesem Ergebnis, ohne seine Unterscheidung zwischen Träger- und Forschungsebene auch auf die FhG anzuwenden. 332 Zu seinem Entstehungszusammenhang vgl. bereits oben, 1. Kap., S. 105 ff.

VI. Autonomie als Parameter

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a) Aufgaben In diesem Spannungsfeld sollen die Großforschungseinrichtungen ihre gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben als wichtigen Bestandteil der wissenschaftlichen Forschungs- und Entwicklungslandschaft der Bundesrepublik Deutschland erfüllen. 333 Großforschungseinrichtungen sollen wissenschaftliche Aufgaben im gesamtgesellschaftlichen Interesse wahrnehmen und bewältigen. Sie bearbeiten entsprechend ihrer Gründungsidee langfristig angelegte und komplexe Forschungs- und Entwicklungsvorhaben von überregionaler bzw. volkswirtschaftlicher Bedeutung im Bereich der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung, die mit erheblichen technischen und ökonomischen Risiken behaftet sind und einen hohen Planungs- und Managementaufwand sowie eine kontinuierliche Bearbeitung erfordern. 334 Hinzu kommt die Befriedigung des Bedarfs an wissenschaftlich-technischen Problemlösungen für die staatliche Daseins- und Zukunftsvorsorge. 335 In der Regel ist hierfür multidisziplinäre und interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die Nutzung einer komplexen und vielseitigen Infrastruktur notwendig. Die Einrichtungen sollen einerseits Kontakte und Kooperationsformen zu den anderen Wissenschaftsbereichen, also der universitären Forschung und Lehre, der Industrieforschung, der Ressortforschung und Max Planck-Gesellschaft bzw. Fraunhofer-Gesellschaft entwickeln und ausbauen; andererseits unterliegt die Großforschung dem Subsidiäritätsprinzip, d. h. ihre Einrichtungen sollen nur solche Aufgaben übernehmen, die von anderen Wissenschaftsbereichen nicht oder nicht in adäquater Weise wahrgenommen werden können. 336 Diese Aufgabenbeschreibung, die dem 1984 von der Bundesregierung zusammen mit den Großforschungseinrichtungen erarbeiteten Konzept zu gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben, der Struktur und Organisation der Großforschungseinrichtungen entnommenen wurde und die auch Aufschluß über das Verhältnis von politisch verantwortlicher Exekutive zu den Einrichtungen gibt, veranschaulicht die vielfältigen und heterogenen Aufgaben der Großfoschungseinrichtungen, zu deren Verwirklichung eine hochkomplexe Organisation, sowohl im Hinblick auf die äußere Gestalt als auch die inneren Strukturen, erforderlich ist.

333 334 335 336

Zu den Aufgaben der GFE im einzelnen oben, 1. Kap, S. 106 ff. BT-Drs. 10/1327, S. 5, 19. BT-Drs. 10/1327, S. 19. BT-Drs. 10/1327, S. 19.

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b) Außere Organisationsbedingungen Die Großforschungseinrichtungen sind zwar überwiegend als Gesellschaften (mit beschränkter Haftung), 337 seltener als Stiftungen 338 und in einem Fall als gemeinnütziger Verein 339 organisiert; die unterschiedlichen Rechtsformen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Grundfinanzierung durchweg zu 90% vom Bund und zu 10% von den jeweiligen Sitzländern erfolgt. Großforschung ist somit materiell eine Einrichtung des Staates und unterliegt deshalb staatlicher Organisationsverantwortung, die aufgrund der Finanzierungskonstellation entscheidend vom Bund wahrgenommen wird. 340 Aus der Sicht der Bundesregierung lassen sich sowohl die gesamtgesellschaftlichen Ziele als auch die wissenschaftspolitischen Ansprüche an die GFE am besten durch das Prinzip der Globalsteuerung verwirklichen. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, daß sich der Einfluß des Staates auf die grundsätzlichen, forschungs- und technologiepolitischen Zielvorgaben und Entscheidungen zu konzentrieren habe, während deren Ausfüllung grundsätzlich in die Verantwortung der GFE, insbesondere ihrer Leitung fällt. 341 Zur Umsetzung dieses Konzeptes sei die Stärkung von Flexibilität und Autonomie wissenschaftlicher Selbstverwaltung erforderlich; ein forschungsfreundliches Klima erfordere 337 Gesellschaft für biotechnologische Forschung mbH (GBF, 1976 hervorgegangen aus der von der Stiftung Volkswagenwerk getragenen Gesellschaft für Molekularbiologische Forschung mbH); GKSS-Forschungszentrum Geesthacht GmbH [vormals Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt, gegr. 1956 als GmbH] (GKSS); Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung mbH (GMD, gegr. 1968); GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit GmbH (GSF, vormals Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung, gegr. 1960); Gesellschaft für Schwerionenforschung mbH (GSI, gegr. 1969); Hahn-Meitner-Institut Berlin GmbH (HMI, gegr. 1959 als Ressortforschungseinrichtung des Landes Berlin, 1971 Umwandlung in GmbH m. Bundesbeteiligung); Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP, gegr. 1960 als GmbH von der MPG und W. Heisenberg, 1971 eingegliedert in die MPG); Forschungszentrum Jülich GmbH [vormals Kernforschungsanlage Jülich] (KFA, gegr. 1956 durch das Land NRW, ab 1961 als eingetr. Verein, seit 1967 GmbH); Kernforschungszentrum Karlsruhe GmbH (KfK, gegr. 1956); UFZ-Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle GmbH (UFZ, gegr. 1991). 338 Stiftung Alfred Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI, gegründet 1980 als Stiftung d. öfftl. Rechts); Stiftung Deutsches Elektronen-Synchroton (DESY, gegr. 1959 als Stiftung d. priv. Rechts); Stiftung Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ, gegr. 1964 als Stiftung d. öfftl. Rechts); Stiftung GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ, gegründet 1992 als Stiftung d. öfftl. Rechts); Stiftung Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC, gegr. 1992 als Stiftung d. öfftl. Rechts). 339 Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR, gegr. 1969). 340 H.-H. Trute, Forschung, S. 556; zum Entstehungszusammenhang oben, 1. Kap., S. 105 f. Zu dem vermeintlichen Gegensatz zwischen privatrechtlicher Organisationsform und staatlicher Organisationsverantwortung zutreffend C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 32, 139 ff. 341 BT-Drs. 10/1327, S. 33.

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entsprechend flexible Rahmenbedingungen und eine Stärkung der Eigeninitiative der Forschungseinrichtungen.342 Ein besonderes Maß an Handlungsfreiheit sei erforderlich, um u. a. die enge Zusammenarbeit mit der Industrie zu ermöglichen. Für alle Aufgabenbereiche lasse sich feststellen, daß den GFE ein behördenmäßiger Aufbau und eine strenge Bindung an die haushalts- und personalrechtlichen Vorschriften nicht gerecht werden könne. Deshalb seien die GFE auch in privatrechtlichen Formen organisiert; 343 die Freiheit der Wissenschaftler, so die Bundesregierung, sei im satzungsgemäßen Rahmen der GFE bei der Wahl von Themen in der reinen Grundlagenforschung wesentlich, programmgebundene anwendungsorientierte Grundlagenforschung habe sich demgegenüber auch an den Programmzielen zu orientieren. 344 Bereits diese knappen Bemerkungen machen deutlich, daß die Bundesregierung bei der Formulierung der äußeren Organisationsbedingungen fur die 16 Großforschungseinrichtungen zwischen grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung345 sorgsam unterscheidet und die Bedingungen autonomer Wissenschaft jedenfalls für den Bereich der Grundlagenforschung positiv rezipiert: Ihre äußeren Organisationbedingungen sollen Eigengesetzlichkeit und Selbstbestimmimg der Wissenschaft berücksichtigen, weil der innovative Nutzen der Wissenschaft so am besten zur Geltung komme. c) Innere Organisationsstruktur Inwiefern diese positive Rezeption auch durch die innere Organisationsstruktur zum Ausdruck kommt, wird im folgenden näher zu untersuchen sein; die Unterscheidung zwischen grundlagen- und anwendungsorientierter Aufgabenstellung ist hierbei zu berücksichtigen. Auf dieser Grundlage hat die Bundesregierung Leitlinien für die Organisationsstruktur von Großforschungseinrichtungen entwickelt.346 Ihre konkrete Umsetzung erfolgt in den Gesellschaftsverträgen bzw. Satzungen der Großforschungseinrichtungen. 347

342

BT-Drs. 10/1327, S.31 f. BT-Drs. 10/1327, S.31. 344 BT-Drs. 10/1327, S. 20 Zu den unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen reine und programmorientierte Grundlagen- sowie Auftrags- und Anwendungsforschung im Rahmen der GFE s. oben, 1. Kap, S. 107 ff. 345 BT-Drs. 10/1327, S. 20 f. 346 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Leitlinien des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft zu Grundsatz-, Struktur- und Organisationsfragen von rechtlich selbständigen Forschungseinrichtungen an denen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, überwiegend beteiligt ist, 1971. 347 Beispiele m. Nachw. bei H.-H. Trute, Forschung, S. 545 ff.; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 53 ff. 343

19 Kleindiek

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

aa) Geschäftsführung Die Leitung der Einrichtungen nach innen und nach außen liegt bei der Geschäftsführung, die wissenschaftlich-technische und kaufmännisch-administrative Kompetenz bündelt. Sie ist für die laufenden Geschäfte zuständig, schließt die Arbeitsverträge ab, erarbeitet das Forschungs- und Entwicklungsprogramm und den Haushaltsentwurf. 348 Hierbei zeigen sich erste Unterschiede zwischen grundlagen- und anwendungsbezogener Orientierung, denn in den Grundlagenforschungseinrichtungen ist der Einfluß der Wissenschaft in der Geschäftsführung stärker ausgeprägt.349 bb) Wissenschaftliche Partizipation Die wissenschaftlichen Ausschüsse (bei grundlagenorientierten Einrichtungen) bzw. wissenschaftlich-technischen Räte (bei anwendungsorientierten Einrichtungen) sind die Organe, in denen der Einfluß der Wissenschaft und der in den Einrichtungen beschäftigten Wissenschaftler am deutlichsten repräsentiert werden soll. Die Leitlinien unterscheiden hier ebenfalls zwischen Einrichtungen mit grundlagen- bzw. anwendungsorientierten Aufgaben und sehen eine echte Mitbestimmung in allen wichtigen Angelegenheiten wissenschaftlichtechnischer Art nur bei den anwendungsorientierten Einrichtungen vor, 350 wohingegen den wissenschaftlichen Ausschüssen in Grundlagenforschungszentren lediglich beratende Funktion zukommen soll.351 Der Grund für diese auf den ersten Blick überraschende Unterscheidung liegt wohl darin, daß bei den anwendungsorientierten Einrichtungen der geringere wissenschaftliche Einfluß auf der Geschäftsführungsebene etwas ausgeglichen werden soll.352 Die exemplarische Untersuchung typischer Großforschungseinrichtungen durch Trute hat jedoch ergeben, daß die Unterscheidung zwischen Grundlagen- und 348

C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 54. In den anwendungsorientierten Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen wird diese Bündelung durch mindestens zwei Geschäftsführer mit wissenschaftlichen bzw. kaufmännischen Aufgaben verwirklicht; die Einrichtungen mit Grundlagenaufgaben werden von einem wissenschaftlichen Leitungsgremium geführt, dem mehrere Wissenschaftler und die Geschäftsführer (wissenschaftlich und kaufmännisch) angehören. Der Stiftungsvorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums, das eine immanente Verknüpfung von grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung zur Aufgabe hat, besteht ebenfalls aus mindestens einem wissenschaftlichen und einem administrativen Mitglied. Vgl. hierzu auch H.-H. Trute, Forschung, S. 543 f.; zum DKFZ S. 554 f. 350 Leitlinien (oben Fn. 346), Tz. 1.1. Die dann kaum vermeidbaren Konflikte zwischen Geschäftsführung und wissenschaftlich-technischem Rat sollen durch die Entscheidung des Aufsichtsorgans aufgelöst werden. 351 Leitlinien, Tz. 1.2. 352 H.-H. Trute, Forschung, S. 544 mit dem zutreffenden Hinweis, daß eine solche Kompensation wegen der unterschiedlichen Aufgabenstellung der Einrichtungen weder sinnvoll noch geboten ist. 349

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Anwendungsorientierung im Falle der wissenschaftlichen Partizipation von den Großforschungseinrichtungen nicht im Sinne der Leitlinien umgesetzt wurde. 353 Auch bei den anwendungsorientierten Einrichtungen scheint sich die Funktion bloßer Beratung durchzusetzen. Zudem darf die repräsentativ-partizipatorische Funktion der wissenschaftlichen Ausschüsse nicht im Sinne einer betrieblichen Mitbestimmung auf der Trägerebene mißverstanden werden; so sehen die Leitlinien und eine Reihe von Satzungen vor, daß auch externe Wissenschaftler in den Ausschuß gewählt oder (zusätzliche) Beratungsgremien mit ausschließlich externen Wissenschaftlern eingerichtet werden. 354 cc) Staatliche Aufsicht Die staatliche Verantwortung kommt bei beiden Großforschungstypen vor allem durch die Aufsichtsorgane zum Tragen. Je nach Rechtsform der Einrichtung wird die Aufsicht durch Kuratorien bzw. Verwaltungsräte bei gemeinnützigen Vereinen oder Stiftungen und den Aufsichtsrat bei Gesellschaften ausgeübt. Sie sind mit Vertretern des Staates, von anderen Organen der GFE (etwa der Gesellschafterversammlung) und Wissenschaftlern, die zumeist aus der Einrichtung selbst kommen, besetzt. Die Aufsichtsorgane überwachen die Rechtmäßigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Geschäftsführung; sie entscheiden über die allgemeinen Forschungsziele und beschließen Grundsätze der Erfolgskontrolle, indem sie gegenüber der Geschäftsführung und den wissenschaftlichen Ausschüssen in wichtigen forschungspolitischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten ein Weisungsrecht haben. Dort, wo das Aufsichtsorgan nicht selbst entscheidet, besteht ein umfassendes Zustimmungserfordernis in wichtigen Angelegenheiten, so u. a. bei der Übernahme neuer, der Weiterführung bzw. Einstellung bestehender Aufgaben im Rahmen der von der Geschäftsführung erarbeiteten Forschungs- und Entwicklungsprogramme, sowie personelle Entscheidungen auf der wissenschaftlichen Leitungsebene.355 Erheblich ist hierbei das Erfordernis und die Sicherung eines ausschlaggebenden staatlichen Einflusses, denn nur hierdurch ist die Umsetzung der öffentlichen wissenschaftspolitischen Ziele gewährleistet.356 Diese Ziele unterschei353

Hierzu und zum folgenden ausf. H.-H. Trute, Forschung, S. 545 ff. Leitlinien, Tz. 3.5; s. hierzu im einzelnen auch C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 54 f.; H.-H. Trute, Forschung, S. 543, 545 ff. 355 So am Beispiel der KFA Jülich F. Graf Stenbock-Fermor, Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, Hdb WissR, 1982, Bd. 2, S. 1169; vgl. auch H.-H. Trute, Forschung, S. 542. 356 Hierzu H.-H. Trute, Forschung, S. 565 ff. und vor allem S. 568: "Die Rückbildung an die forschungspolitischen Grundentscheidungen kann nur dann über den Aufsichtsrat erfolgen, wenn die staatlichen Vertreter im Aufsichtsrat über die hinreichende Stimmenzahl verfügen, staatliche Entscheidungen auch durchzusetzen." Die Mechanismen hierfür sind vielfältig und ähneln ζ. T. der Mehrheitssicherung der Professoren in 354

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

den sich je nach Aufgabe der Großforschungseinrichtung voneinander und wirken sich entsprechend unterschiedlich auf die Ausgestaltung des staatlichen Rahmens, in dem sich autonome Wissenschaftsstrukturen entfalten können, aus. d) Folgerungen fiir die Bedingungen autonomer Wissenschaft Autonome Bedingungen für die Wissenschaft sind in den Großforschungseinrichtungen nicht, auch nicht durch Art. 5 Abs. 3 GG, vorgegeben, sondern folgen der spezifischen Aufgabe der Einrichtungen. Nur dieses Verständnis entspricht dem maßgeblichen staatlichen Einfluß auf die Großforschungseinrichtungen. Wissenschaftsfreiheit in GFE ist daher auch nicht vom einzelnen Wissenschaftler, sondern nur vom Aufgabenkontext her zu entwickeln. Die Beteiligung von Wissenschaftlern in den Aufsichtsgremien und den wissenschaftlichen Ausschüssen erfolgt um des wissenschaftlichen Sachverstandes willen, der der spezifischen Aufgabenerfüllung dienen soll, und nicht, um den in den Einrichtungen beschäftigten Wissenschaftlern bestimmte Mitbestimmungsrechte einzuräumen, die sich aus der Beschäftigimg in der jeweiligen Einrichtung ergeben und ihnen bestimmte Bedingungen autonomer Wissenschaft sichern sollen - Großforschungseinrichtungen sind keine Selbstverwaltungseinrichtungen.357 Selbstverwaltung als eine Verwirklichungsmöglichkeit von Autonomie bedeutet die Regelung eigener Angelegenheiten durch einen abgrenzbaren Kreis von Betroffenen nach selbstgesetzten Maßstäben.358 Organisatorische Voraussetzungen für autonome Wissenschaftsstrukturen werden in den Großforschungseinrichtungen dagegen in Ausübung staatlicher Organisati-

den Gremien universitärer Selbstverwaltung: So ist neben der (ggf. ausschlaggebenden) Stimme des Vorsitzenden für wesentliche Fragen vorgesehen, daß eine Entscheidung nicht gegen die Mehrheit der staatlichen Vertreter getroffen werden kann. 357 Zu den Unterschieden zur universitären Selbstverwaltung als Realisierungsbedingung autonomer Wissenschaftsstrukturen s. S. 288 f. Mißverständlich insofern BTDrs., S. 32. An diesem Befund müssen alle Versuche ihre Grenze finden, eine strukturelle Identität von Universitäten und Großforschungseinrichtungen nachzuweisen, so aber E.-J. Meusel, Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Einflußnahme auf die außeruniversitäre Forschung, HdbWissR, 1982, Bd. 2, S. 1281 ff., ders., Grundprobleme, des Rechts der außeruniversitären "staatlichen" Forschung, 1982, S. 43 ff.; unter dem Eindruck von Trute nun aber differenzierend ders., Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 1992, S. 22 ff. 358 Vgl. eine umfassende und anspruchsvolle Begriffsbestimmung bei R. Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, S. 284.

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onsverantwortung geschaffen, um wissenschaftlichen Sachverstand und die (individuellen) Fähigkeiten der Wissenschaftler sachgerecht einzusetzen.359 Für eine genauere Untersuchimg der Autonomiebedingungen geht Trute von der zutreffenden Unterscheidung zwischen grundlagen- und anwendungsorientierten Einrichtungen aus.360 Seine Analyse zu der oben beschriebenen Vermittlungsfunktion der Trägerschicht als Schnittstelle zwischen Staat und Wissenschaft 361 gelangt zu dem überzeugenden Ergebnis, daß sich die Intensität staatlicher Ingerenz danach richtet, inwiefern die Einrichtungen der Grundlagenforschung und der disziplinaren Eigenentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis gewidmet sind. Je intensiver die Aufgaben der Einrichtungen hieran orientiert sind, desto deutlicher kommt der wissenschaftliche Einfluß zur Geltung; je mehr sie umgekehrt an der Erfüllung staatlicher Programme oder sonstiger externer Nutzerorientierungen angebunden sind, umso weniger ist die Verwirklichung wissenschaftlichen Einflusses und autonomer Wissenschaftsstrukturen geboten.362 Die nähere Untersuchung der Großforschungseinrichtungen hat ergeben, daß anhand der Unterscheidung zwischen grundlagen- und anwendungsorientierten Einrichtungen unterschiedliche Bedingungen von Autonomie nachweisbar sind. Zumindest für diesen Forschungstyp hat die Unterscheidung zwischen (reiner) Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung Auswirkungen auf die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten. Dem entspricht es auch, daß die für die staatlichen Organisationsentscheidungen verantwortliche Bundesregierung davon ausgeht, "daß im satzungsgemäßen Rahmen der GFE die Freiheit der Wissenschaftler bei der Wahl von Themen in der reinen Grundlagenforschung wesentlich ist. Programmgebundene anwendungsorientierte Grundlagenforschung hat sich demgegenüber auch an Programmzielen zu orientieren." 363 Hieraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß sich der Staat im Bereich der Grundlagenforschung jeder inhaltlichen Ingerenz enthält und 359 Die Beteiligung der "eigenen" Wissenschaftler zur Gewährleistung des erforderlichen wissenschaftlichen Sachverstandes in den Aufsichtsgremien kann darüber hinaus vor allem bei anwendungsorientierten Einrichtungen problematisch werden. Trute fordert - wohl zur verdeutlichenden Abgrenzung von Selbstverwaltungsformen - deshalb (für alle GFE), daß wissenschaftlich fundierte Partizipation vorzugsweise durch externe Wissenschaftler sichergestellt werden sollte, H.-H. Trute, Forschung, S. 572. 360 S. die Darstellung anhand exemplarischer Einrichtungen der grundlagen- und der anwendungsorientierten GFE bei H.-H. Trute, Forschung, S. 545 ff. und zu den Unterschieden bei der Sicherung staatlichen Einflusses auf das Aufsichtsorgan, S. 566 ff. Vgl. auch bereits oben, 1. Kap, S. 107 ff. 361 S. hierzu oben, S. 244 ff. 362 H.-H. Trute, Forschung, S. 566 ff, 572. 363 BT-Drs. 10/1327, S. 20 (Hervorh. i. Orig.).

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

das Konzept der Globalsteuerung mit der bloßen Finanzierung verwirklicht. Dies würde zum einen voraussetzen, daß Forschungsfinanzierung durch den Staat inhaltsneutral erfolgen könne; gerade die Großforschung zeigt, daß das Gegenteil der Fall ist: Notwendige Schwerpunktsetzung oder die Finanzierung von Forschung an einem Großgerät ist immer auch eine forschungspolitische Entscheidung, die sich auf die wissenschaftlichen Inhalte auswirkt. Die Freiheit der Themenwahl und oftmals die freie Wahl der wissenschaftlich-technischen Methode ist so determiniert. Die Bundesregierung geht deshalb für den gesamten Bereich der Großforschung zutreffend davon aus, daß ein unverzichtbares Maß an Regelungen "der 'Preis1 (ist), den auch die Wissenschaft dafür zu entrichten hat, daß sie öffentliche Mittel erhält." 364 Darüberhinaus erfolgt die Organisation autonomer Strukturen, um den Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis offen zu gestalten. Dies ist notwendig, damit die Großforschung ihre Aufgabe als Querschnittsforschung, als Forschung in Bereichen mit wissenschaftlich-technisch bzw. ökonomisch ungewissem Ausgang, als Parallelforschung zu gesellschaftlich aussichtsreichen oderrisikoträchtigen wissenschaftlich-industriellen Entwicklungen erfüllen kann. Hieran wird deutlich, daß sich die Konzeption der Großforschung als subsidiärer Forschungstyp auch auf die Bedingungen autonomer Wissenschaft auswirkt, denn sie wurde gegründet und wird betrieben, um im staatlichen bzw. gesellschaftlichen Interesse Aufgaben von überregionaler bzw. besonderer volkswirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung wahrzunehmen, die durch die anderen Forschungstypen nicht oder nicht in angemessener Weise durchgeführt werden können.365 Diese strukturelle Verbindung von Subsidiarität und Autonomie relativiert sich jedoch dort, wo durch die staatliche Organisationsverantwortung für die Großforschung andere Schwerpunkte gesetzt werden. Staatliche Ingerenz entfaltet sich dort unmittelbar, wo die GFE ressortforschungsähnliche> 366 Aufgaben wahrnehmen sollen. Zudem soll die Auftragsforschung sowie der Transfer von Neben- und Zwischenergebnissen auch innerhalb der Großforschungseinrichtungen intensiviert werden. 367 Diese Entwicklungsperspektiven haben erhebliche Auswirkungen auf die Verwirklichungsbedingungen für autonome Wissenschaft. Nicht nur die Übernahme ressortforschungsähnlicher Aufgaben verringern die Distanz zu staatlicher Ingerenz, indem zwangsläufig die Bedingungen der Ressortforschung rezipiert werden; durch die Auftragsforschung, die entweder für die öffentliche Hand oder gewerbliche Unter364

BT-Drs. 10/1327, S. 32. BT-Drs. 10/1327, S. 5; W. Cartellieri, Die Großforschung und der Staat, Bd. I, 1967, S. 53; vgl. hierzu auch oben, 1. Kap., S. 106 ff. 366 So die Formulierung in BT-Drs. 10/1327, S. 29. 367 BT-Drs. 10/1327, S. 27. 365

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nehmen durchgeführt wird, nähert sich die Großforschung den marktorientierten Gesetzmäßigkeiten der Industrieforschung an, womit die sogleich zu erläuternden Bedingungen von wissenschaftlicher Autonomie innerhalb der Industrieforschung rezipiert werden. 368 Diese Entwicklung ist nicht etwa verfassungswidrig, weil sie gegen Art. 5 Abs. 3 GG oder eine andere Vorschrift des Grundgesetzes verstoßen würde die beabsichtigten und deutlich werdenden Verlagerungstendenzen wirken sich vielmehr auf die Verwirklichungsbedingungen autonomer Wissenschaft aus. Indem die durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährleistete Wissenschaftsfreiheit auch im Bereich der Großforschung von den entsprechenden Organisationsleistungen des Staates abhängig ist, verwirklicht sich diese Grundrechtsgewährleistung dort nicht, wo in Großforschungseinrichtungen die Bedingungen von Autonomie zugunsten anderer Zwecke, d. h. solcher der Ressort- bzw. Auftragsforschung vernachlässigt werden. Die Großforschung kann im Hinblick auf die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit zwischen Art. 5 Abs. 3 GG und anderen Grundrechtsgewährleistungen demnach nicht einheitlich, sondern muß ihrer heterogenen Aufgaben gemäß beurteilt werden. 5. Ressortforschung a) Aufgaben Wissenschaftliches Handeln im Bereich der Ressortforschung unterstützt die sachgemäße Erfüllung wissenschaftsfremder politisch-administrativer Aufgaben; sie ist Forschung, die der Politikformulierung und -entscheidung dienen soll.369 Bereits der Begriff der Äewortforschung macht deutlich, daß die Funktion dieses Forschungstyps im Kontext von Regierungsressorts, d. h. von Ministerien angesiedelt ist. Ihre Aufgabe besteht darin, "für die Bundesregierung wissenschaftliche Grundlagen für ihre politischen und administrativen Aufgaben zu erarbeiten. Den Ressortforschungseinrichtungen ist ein bestimmtes, auf die Ziele bzw. Aufgaben der sie tragenden Bundesressorts ausgerichtetes Aufgabenfeld zugewiesen. Die Ergebnisse dienen der politischen Entscheidungsfindung, tragen auch zur Erweiterung des allgemeinen wissenschaftlichen Kenntnisstandes bei und kommen auch den Zielgruppen der jeweiligen

368

Hierzu unten, 4. Kap, S. 318 ff. T. Maunz, in: M/D/H/Sch, Art. 91b, Rn. 31; W. Jakob, Forschungsfinanzierung durch den Bund, Staat 24 (1985), S. 527. 369

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Bundesministerien zugute. Die Forschung vollzieht sich immer im Rahmen eines bestimmten Ressortauftrags." 370 Mit dieser Beschreibung am Beispiel der Ressortforschung auf Bundesebene ist bereits die Vielfalt ihrer Aufgaben angedeutet. Zu deren Erfüllung unterhält der Bund entweder Forschungseinrichtungen in eigener Trägerschaft; hierbei handelt es sich um unselbständige Anstalten (Bundesforschungsanstalten) oder Forschungsabteilungen in den Ministerien, die beide in die Hierarchie der unmittelbaren Staatsverwaltung eingegliedert sind.371 Als Alternative hierzu kommt die Vergabe von Forschungsaufträgen an unabhängige wissenschaftliche Institute in Betracht oder die (dauerhafte) Schaffung von Ressortforschungseinrichtungen außerhalb der Verwaltungshierarchie. 372 Unabhängig von der jeweiligen Trägerschaft, der Organisationsform und der Dauerhaftigkeit des jeweiligen Forschungsprojektes besteht die Gemeinsamkeit in einem Forschungsauftrag, der der jeweiligen ministeriellen Ressortpolitik unmittelbar dient: "Die Ressortforschungseinrichtungen haben sich stets den aktuellen Erfordernissen der Bundespolitik anzupassen."373 Ordnet man sie in ihren jeweiligen Funktionskontext ein, so läßt sich zwischen wissenschaftlicher Beratung und der gesetzlich vorgegebenen Umsetzung von Aufsicht und Kontrolle unterscheiden.374 Im Folgenden wird zu erörtern sein, inwiefern diese Aufgabenstrukturierung Bedingungen autonomer Wissenschaft zuläßt. aa) Wissenschaftliche Beratung Die wissenschaftliche Beratung ist die älteste Form staatlicher Ressortforschung.375 Sie soll die für das staatliche Handeln unabdingbare Versorgung mit Wissen gewährleisten. Da nicht allein wissenschaftliches Wissen hierfür ausschlaggebend sein kann, tritt die wissenschaftliche Beratung insofern neben

370

Bundesbericht Forschung 1984, S. 37 f. BT-Drs. V/4335, Tz. 1.3. 372 V. Ronge, "Ressortforschung als Modus der Verwendung (sozial)wissenschaftlichen Wissens, ZfRSoz 1988, S. 165 f.; Bundesbericht Forschung; W. Jakob, Forschungsfinanzierung durch den Bund, Staat 24 (1985), S. 527. Vgl. auch die Unterscheidung zwischen staatsintemer und staatsextemer Ressortforschung mit Bsp. bei T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 82. 373 Bundesbericht Forschung 1984, S. 38. 374 Diese Unterteilung nehmen auch P. Lundgreen/B. Horn/W. Krohn/G. Küppers/R. Paslack, Staatliche Forschung in Deutschland 1870-1980,1986, S. 179 ff., vor. 375 Zur historischen Entwicklung seit der 1807 durch Freiherrn vom Stein angeregten Einrichtung "Wissenschaftlicher und technischer Deputationen" P. Lundgreen/B. Horn/W. Krohn/G. Küppers/R. Paslack, Staatliche Forschung in Deutschland 18701980, 1986, S. 181. 371

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andere Beratungstypen.376 Veranschaulichen läßt sich die Beratung durch Wissenschaft am Beispiel der gesetzesvorbereitenden und -begleitenden Forschung. Hierbei handelt es sich in der Regel um empirische Forschung, die für den Prozeß der Gesetzgebung die zu normierende soziale Wirklichkeit aufbereiten soll.377 Daß sich diese Form der wissenschaftlichen Fundierung der Gesetzgebung innerhalb der Exekutive vollzieht, obwohl in einer parlamentarischen Demokratie die Gesetzgebungszuständigkeit bei der Volksvertretung liegt, erklärt auch aus dieser Perspektive den in der Verfassungswirklichkeit nachweisbaren Befund, daß im wesentlichen die Regierung die vom Parlament verabschiedeten Gesetze inhaltlich vorbereitet, weil nur die Ministerialbürokratie über die notwendige Struktur verfügt, um auch externen wissenschaftlichen Sachverstand heranzuziehen.378 Der Einsatz wissenschaftlichen Sachverstandes folgt insofern der politisch-administrativen Dominanz der Regierung. Auch wenn der Bundestag durch die Einsetzung von Enquete-Kommissionen gerade zu den wissenschaftlich-technischen Fragestellungen der Gegenwart zunehmend selbst wissenschaftlichen Sachverstand heranzieht,379 kann gleichwohl nur konstatiert werden, daß sich das Verhältnis zwischen exekutivem Wissen und legislativer Entscheidung im Wandel befindet. Die Regierung könnte sich zur Verwirklichung empirischer Rechtsforschung im Grunde aller oben aufgeführten Formen der Ressortforschung bedienen. 3 6 Am Beispiel wirtschaftspolitischer Beratung unterscheidet Bryde zwischen der Beratung durch Wissenschaftler einerseits und durch Interessenvertreter andererseits; B.-O. Bryde, Zentrale Wirtschaftspolitische Beratungsgremien in der Parlamentarischen Verfassungsordnung, 1972, S. 46 ff. Des weiteren kommen Mischformen in Betracht, in denen Interessenvertreter und Wissenschaftler in dem jeweiligen Gremium vertreten sind; vgl. M. Böhm, Der Normmensch, 1996, S. 232, zu der Bedeutung von Beratungsgremien in den Verfahren der Grenzwertfindung am Beispiel der Zusammensetzung des gem. § 52 GefStoffVO gebildeten Ausschuß für Gefahrstoffe, in dem neben Wissenschaftlern u. a. Gewerkschaftsvertreter und ein Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher Mitglied ist. 377 Vgl. hierzu D. Strempel, Empirische Rechtsforschung als Ressortforschung im Bundesministerium der Justiz, ZfRSoz 1988, S. 191. 378 B.-O. Bryde, Zentrale Wirtschaftspolitische Beratungsgremien in der Parlamentarischen Verfassungsordnung, 1972, S. 30 f. m.w.N.; ders, in: v. Münch (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, 1983, Art. 76 GG, Rn. 9 m.w. N. und statistischen Angaben (S. 188); ders, Stationen, Entscheidungen und Beteiligte im Gesetzgebungsverfahren, in: HdbParlR, § 30, Rn. 9 f. Zu optimistisch im Hinblick auf die Bedeutung des Bundestages im Gesetzgebungsverfahren M. Krautzberger/H. Wollmann, Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens im Gesetzgebungsverfahren. Zur Gesetzgebungsarbeit des Bundesbauministeriums, ZfRSoz 1988, S. 178 f. Zur Bedeutung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages P. Schindler, Die Verwaltung des Bundestages, HdbParlR, § 29, Rn. 89 ff.; W. Steffani, Formen, Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle, a.a.O., § 49, Rn. 46, 51 f. 379 So die Enquete-Kommission "Zukünftige Kernergie-Politik", BT-Drs. 8/4341; Enquete-Kommission "Chancen und Risiken der Gentechnologie, BT-Drs. 10/6775.

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Tatsächlich ist jedoch der Anteil eigener Forschung durch die Ministerien zu vernachlässigen; stattdessen vollzieht sich gesetzesvorbereitende und »begleitende Forschung zumeist, indem Forschungsaufträge an wissenschaftliche Einrichtungen vergeben werden. 380 Hierbei wird in für die Auftragsforschung charakteristischer Weise der Forschungsgegenstand, d. h. der Inhalt der Fragestellung und das Forschungsdesign vorgegeben.381 bb) Wissenschaftliche Aufsicht und Kontrolle Die mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt und seiner industriellen Verwirklichung einhergehenden Risiken verlangen (vom Staat) intervenierende Aufsichts- und Kontrollmechanismen, um den Schutz von Leben und Gesundheit der Menschen und der Umwelt zu gewährleisten. In dem Maße, in dem existentielle Risiken durch Wissenschaft hervorgebracht und identifiziert werden, 382 bedürfen die durch den Gesetzgeber geschaffenen Aufsichts- und Kontrollmechanismen einer adäquaten wissenschaftlich-technischen Fundierung, um mit der beschriebenen Entwicklung Schritt zu halten und so den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden. 383 Ein wesentlicher Teilbereich der Ressortforschung dient deshalb der Gewährleistung und Unterstützung staatlichen Aufsichtshandelns, soweit dieses sich dabei auf Erkenntnisse der Wissenschaft stützen muß. Die Notwendigkeit, staatliches wissenschaftliches Wissen zu erlangen, entspricht insofern dem Zweck der wissenschaftlichen 380

Hierzu D. Strempel, Empirische Rechtsforschung als Ressortforschung im Bundesministerium der Justiz, ZfRSoz 1988, S. 192, wonach das BMJ eigene Forschung "in bescheidenem Umfang" durchführt. 381 Vgl. hierzu aus der Sicht des Auftraggebers D. Strempel, Empirische Rechtsforschung als Ressortforschung im Bundesministerium der Justiz, ZfRSoz 1988, S. 191. Der empirischen Rechtsforschung für das BMJ liegen folgende Fragestellungen zugrunde, nachdem der Forschungsgegenstand bestimmt wurde: 1) Ob und ggf. welcher Regelungsbedarf besteht (Beschreibung des Ist-Zustandes). 2) Wie sich ein Gesetzgebungsvorhaben voraussichtlich auswirken soll und wird (Beschreibung des SollZustandes). 3) Wie sich ein bestimmtes Gesetz tatsächlich ausgewirkt hat (Erfolgskontrolle/Evaluation). Aus der Sicht einer beteiligten Wissenschaftlerin K. Plett, Gesetzesvorbereitende Forschung zu Sozialplänen im Konkurs, ZfRSoz 1988, S. 202 ff., S. 211. Plett sieht in der Ministerialbürokratie die das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik bestimmende intermediäre Instanz: Dort wird entschieden, welche Fragen für bestimmte Zwecke wissenschaftlich erforscht werden sollen, dort besteht der erste und unmittelbare Zugriff auf die Forschungsergebnisse und dort wird deshalb auch über deren Verwendung (zumindest vor)entschieden. 382 Vgl. hierzu oben, 1. Kap., S. 134 ff. 383 Zur wachsenden Notwendigkeit staatlicher Aufsicht und Kontrolle auch W. Brötz, Struktur und Inhalt der Aussagen wissenschaftlich-technischer Sachverständiger bei der Bewertung des sicherheitstechnischen Gesamtkonzepts technischer Anlagen, in: F. Nicklisch/D. Schottelius/H. Wagner (Hrsg.), Die Rolle des wissenschaftlich-technischen Sachverstandes bei der Genehmigung chemische und kemtechnischer Anlagen, 1982, S. 101 f.

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Beratung, was sich auch in den Überschneidungen beider Ressortforschungstypen, etwa am Beispiel des Sachverständigen, zeigt. Von der wissenschaftlichen Beratung im allgemeinen unterscheidet sich wissenschaftlich fundierte Aufsicht und Kontrolle jedoch durch ihre Einbindung in rechtliches Aufsichts- und Kontrollhandeln, für das sich der Staat typischerweise des Mittels der Genehmigung bedient. Veranschaulichen läßt sich dieser Typ der Ressortforschimg überall dort, wo sich staatliche Aufsicht und Kontrolle in Genehmigungsverfahren auf den Erkenntnisstand von Wissenschaft und Technik bezieht. So darf eine atomrechtliche Genehmigung gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG nur dann erteilt werden, wenn "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist". Eine entsprechende Regelung findet sich in § 6 Abs. 1 Satz 1 GentG als Voraussetzung für die Genehmigung gentechnischer Anlagen. Diese Regelungen sind, auch wegen ihrer Natur als unbestimmte Rechtsbegriffe, vor allem aber aufgrund der Tatsache, daß hiermit juristische Entscheidungen aufgrund außeijuristischer Parameter zu treffen sind, und dies die Frage nach deren Verhältnis zueinander aufwirft, sowohl im Atomrecht als auch im Gentechnikrecht Gegenstand ausführlicher Diskussionen.384 Von Interesse sind hier die Auswirkungen auf den wissenschaftlich-technischen Erkenntnisprozeß durch die Einbeziehung wissenschaftlichen Sachverstandes in die rechtliche Aufsicht und Kontrolle. Aufgabe und Zweck wissenschaftlichen Sachverstandes ist es, den Stand von Wissenschaft und Technik als (unbestimmten) Rechtsbegriff wissenschaftlich zu fundieren. Dieser Funktionskontext wirkt sich auch auf das wissenschaftliche Handeln selbst aus. Atomrechtliche Gefahrenvorsorge gem. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG verlangt nicht nur ein wissenschaftlich fundiertes Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren, das die Einhaltung des Standes von Wissenschaft und Technik zum Gegenstand hat, wofür das Atomgesetz in § 20 AtomG vorsieht, daß von den zuständigen Behörden Sachverständige hinzugezogen werden können, sondern der Stand von Wissenschaft und Technik selbst kann nur wissenschaftlich fundiert festgestellt werden. Hierfür sind im Falle des Atomrechts eine Reihe von Regelwerken durch außerhalb der Behördenorganisation angesiedelte wissenschaftliche Einrichtungen aufgestellt worden. 384

Vgl. nur M. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, 1983, S. 212 ff.; C. Degenhart, Kernenergierecht, 1981, S. 129 ff.; U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 65 ff. zum atomrechtlichen und S. 119 ff. zum gentechnikrechtlichen Genehmigungsverfahren; zum letzteren auch D. Brocks/A. Pohlmann/M. Senft, Das neue Gentechnikgesetz, 1991, S. 79 ff.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Hierzu zählen vor allem die Leitlinien und Empfehlungen der Reaktorsicherheitskommission, der Strahlenschutzkommission oder des Kerntechnischen Ausschusses, DIN-Normen und die in der Strahlenschutzverordnung festgelegten Werte. 385 Unabhängig vom Grad der von ihnen beanspruchten rechtlichen Verbindlichkeit bringen sie den Stand von Wissenschaft und Technik entsprechend der regelbildenden Behörde zum Ausdruck. 386 Nur aufgrund dieser Regelwerke und Erfahrungssätze ist die sich dann anschließende Sachverständigenbegutachtung im Rahmen der in einem konkreten Genehmigungsverfahren notwendigen Aufsicht und Kontrolle möglich.387 Die Sachverständigenbegutachtung erfolgt durch Einzelsachverständige, öffentlichrechtliche Institutionen oder privatwirtschaftliche Sachverständigenorganisationen. Als solche werden vor allem die Technischen Überwachungsvereine (TÜV) oder die Gesellschaft für Reaktorsicherheit mbH (GRS) beauftragt. 388 Sowohl die wissenschaftliche Formulierung der Regelwerke und Erfahrungssätze als auch ihre Anwendung im Sachverständigengutachten können jedoch nur dann ihren vorgegebenen Zweck erfüllen, wenn die hierfür erforderlichen wissenschaftlich-technischen Erkenntnisoperationen in eine hinreichende normative Grundlage und eine zweckgerechte rechtliche Verfahrens- und Organisationsstruktur eingebunden sind, die sich an den rechtlichen Vorgaben des Atomgesetzes orientieren muß; zu diesen rechtlichen Rahmenbedingungen

Hierzu Bericht der Bundesregierung über Grundlagen und Praxis der Sachverständigentätigkeit im Rahmen atomrechtlicher Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren, 1979, S. 24 ff.; ausführlich m. Nachw. C. Degenhart, Kernenergierecht, 1981, S. 136 ff. 386 K. Lange, Fehler und Fehlerfolgen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, 1994, S. 86; C. Degenhart, Kernenergierecht, 1981, S. 136. 387 Zu der Bedeutung von Erfahrungssätzen und Tatsachenbasis bei der Sachverständigenbegutachtung instruktiv K. Lange, Fehler und Fehlerfolgen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, 1994, S. 84 ff. 388 Die GRS, deren Mehrheitsgesellschafter der Bund und die Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen sind, nimmt hierbei eine doppelfunktionale Stellung ein, da sie bei der Schaffung der Regelwerke beratend und gutachterlich im Sinne des § 20 AtomG tätig ist. Mit Gutachten auf dem Gebiet der Sicherung kerntechnischer Anlagen wird aus Gründen des Geheimschutzes auf Weisung des BMI allein die GRS beauftragt; Bericht der Bundesregierung über Grundlagen und Praxis der Sachverständigentätigkeit im Rahmen atomrechtlicher Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren, 1979, S. 30. Zur Auswahl der Sachverständigen s. auch R. Lukes, Grundlagen und Praxis der Sachverständigentätigkeit im Rahmen atomrechtlicher Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren, in: Bericht der Bundesregierung über Grundlagen und Praxis der Sachverständigentätigkeit im Rahmen atomrechtlicher Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren, 1979, 148 ff.

VI. Autonomie als Parameter

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gehört vor allem die Präzisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, wie etwa der der erforderlichen Schadensvorsorge gem. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG. 389 Neben der Bindung an rechtlich verbindliche Vorgaben besteht bei der Sachverständigenbegutachtung jedoch auch eine Bindung an die naturwissenschaftlich-technischen Regelwerke und den in den Leitlinien zum Ausdruck kommenden Erfahrungssätze. Diese werden üblicherweise im Rahmen der vertraglich begründeten Auftragserteilung zwischen dem Sachverständigen und der Genehmigungsbehörde durch diese für verbindlich erklärt. 390 Hiermit wird deutlich, daß wissenschaftliche Aufsicht und Kontrolle nicht nur von den entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen abhängt, sondern auch die Auswahl und Anwendimg naturwissenschaftlich-technischer Grundlagen administrativ-politisch determiniert ist. Eine gänzlich andere Konzeption vertritt Lohse, der sich mit dem Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht eingehend auseinandergesetzt hat.391 Ausgehend von dem überkommenen Verständnis des Art. 5 Abs. 3 GG als subjektive Garantie "Jedermanns" auf Autonomie durch Freiheit von staatlicher Ingerenz 392 bestimmt Lohse nach dieser verfassungsrechtlichen Maßgabe auch den Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" im anlagenrechtlichen Sinne. Hiernach verstoßen die Aufsichts- und Genehmigungsbehörden gegen die grundgesetzlich garantierte Autonomie der Wissenschaft, indem sie zu Sachverständigengutachten Stellung nehmen und ggf. eine aufgrund unterschiedlicher Gutachtenergebnisse auftretende wissenschaftliche Kontroverse entscheiden. Der behördlich festgelegte "Stand der Wissenschaft" könne demnach im anlagenrechtlichen Sinne nicht maßgeblich werden, da es sich nicht um einen Stand der Wissenschaft im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GG und insofern auch des Anlagenrechts handele. Das Anlagenrecht erkläre das Wissen einer bestimmbaren Gruppe, der Wissenschaftler, deren Tätigkeit zudem grundrechtlich insbesondere vor staatlichen Eingriffen geschützt sei, als maßgeblich für staatliches Handeln. "Wissenschaftliche Streitfragen werden", so 389 Hierzu K. Lange, Fehler und Fehlerfolgen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, 1994, S. 80 f. 390 R. Lukes, Grundlagen und Praxis der Sachverständigentätigkeit im Rahmen atomrechtlicher Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren, S. 168 f.; vgl. hierzu auch K. Lange, Fehler und Fehlerfolgen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, 1994, S. 86, der darauf hinweist, daß die Bindung des Sachverständigen an die naturwissenschaftlich-technischen Aussagen in den vorhandenen Regelwerken von einer vertraglichen Vereinbarung abhängt. 391 D. Lohse, Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht, 1994. 392 D. Lohse, a.a.O., S. 104.

302

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Lohse, "innerhalb des 'Systems Wissenschaft' nach den von diesem autonom definierten Regeln geklärt, nicht jedoch durch den Staat, etwa durch die Genehmigungsbehörde."393 Die Annahmen Lohses gehen sowohl in einfachgesetzlicher als auch verfassungsrechtlicher Hinsicht fehl. Obwohl er zutreffend davon ausgeht, daß es sich bei dem "Stand der Wissenschaft" bzw. dem "Stand von Wissenschaft und Technik" um Rechtsbegriffe handelt, verkennt Lohse, daß für deren Subsumtion im anlagenrechtlichen Sinne die alleinige Zuständigkeit und Verantwortung bei der Genehmigungsbehörde bzw. ggf. den Gerichten liegt;394 indem die Sachverständigengutachten der freien Beweiswürdigung durch die entscheidende Behörde unterliegen, werden die naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnisse in den rechtlichen Entscheidungsprozeß transformiert. Der Stand von Wissenschaft und Technik als Begriff des Anlagenrechts wird somit nicht durch vom Wissenschaftssystem autonom definierte Regeln bestimmt. Den einfachgesetzlichen Folgerungen Lohses liegt die verfassungsrechtliche Annahme zugrunde, es handele sich auch bei der wissenschaftlichen Aufsicht und Kontrolle im Rahmen staatlicher Ressortforschung um ein Segment der durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützten Autonomie der Wissenschaft. Diese Annahme ist bereits in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend; wissenschaftlich-technischen Erkenntnisoperationen in dem hier untersuchten Zusammenhang sind nicht nur die rechtlichen Rahmenbedingungen vorgegeben, sondern auch die naturwissenschaftlichen und methodischen Prämissen der Durchführung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse, soweit und wo dies aus politisch-administrativen oder rechtlichen Erwägungen opportun erscheint.395

393 D. Lohse, Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht, 1994, S. 105. 394 So K. Lange, Fehler und Fehlerfolgen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, 1994, S. 81, in zutreffender Entgegnung auf C. Degenhart, Kernenergierecht, S. 130, der in der Verbindlicherklärung der auf der Sachverständigenebene ausgeformten Sicherheitskonzeption die "eigentliche Entscheidung der Behörde" sieht; vgl. auch R. Kleindiek, Die Verantwortung für Entscheidungen über den Stand von "Wissenschaft und Technik" im Atom- und Gentechnikrecht, in: K. Lange (Hrsg.), Gesamtyerantwortung statt Verantwortungsparzellierung im Umweltrecht, 1997, S. 119 ff. Ähnlich auch U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 83 ff., der im Hinblick auf die Beteiligung wissenschaftlich-technischer Sachverständiger im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren ein Regelungsdefizit feststellt. Dies ist jedoch nur dann ein Problem, wenn man Sachverständigen Verantwortung für Entscheidungen jenseits des demokratisch und rechtsstaatlich Zulässigen zuschreibt. Wesentlich differenzierter dann die Analyse des Zusammenhangs zwischen außerrechtlichen Wissensbeständen und rechtlichen Entscheidungen (so treffend ders., S. 72) am Beispiel der Arzneimittelforschung (S. 267 ff.). 395 Ausf. hierzu R. Kleindiek, Die Verantwortung für Entscheidungen über den Stand von "Wissenschaft und Technik" im Atom- und Gentechnikrecht, in: K. Lange (Hrsg.),

VI. Autonomie als Parameter

303

b) Folgerungen fur die Bedingungen autonomer Wissenschaft Die Vorstellung ist also verfehlt, der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" ließe sich aus erkenntnistheoretischer Sicht als ein autonomer, in und nach den Eigengesetzlichkeiten des Lebensbereichs Wissenschaft bestimmen. Möglich ist dieser Irrtum nur, das zeigen die Überlegungen Lohses, indem ein verfehltes Verständnis von Wissenschaftsautonomie gemäß Art. 5 Abs. 3 GG auch für die hier thematisierte Aufgabe der Wissenschaft, den Rechtsbegriff "Stand von Wissenschaft und Technik" wissenschaftlich zu fundieren, zugrunde gelegt wird. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, daß Lohses Ergebnis in der Konsequenz des ganz überwiegend vertretenen Verständnisses von Art. 5 Abs. 3 GG als subjektives Abwehrrecht Jedermanns liegt.396 Für diese Annahme fehlt es im gesamten Bereich der Ressortforschung jedoch bereits an der Grundkonstellation autonomer Wissenschaft, die ein emanzipatorisches Verhältnis der Wissenschaft zum Staat voraussetzt.397 In dem Funktionskontext einer autonomen Wissenschaft läßt sich die Ressortforschung nicht ansiedeln; ihr Zweck liegt darin, den politisch-administrativen Bereich in Richtung Wissenschaft zu erweitern. In dieser Perspektive wird die funktionale Ergänzungsrolle der Ressortforschung für die Politik deutlich und kein unzutreffender Gegensatz zwischen Politik und Wissenschaft konstruiert. 398 Gleichwohl weist auch die Ressortforschung Strukturen autonomer Wissenschaft auf; die Möglichkeit, Methodenwahl und die zugrunde zu legenden wissenschaftlichen Prämissen vertraglich zu bestimmen, impliziert auch, daß der einzelne Wissenschaftler im Rahmen wissenschaftlicher Beratung oder Sachverständigentätigkeit die Grundlagen seines Handelns selbstbestimmt entwickelt. Diese autonomen Strukturen bedürfen organisatorischer Vorkehrungen zur Verselbständigung; mit der Auslagerung und Verselbständigung von Ressortforschungsaufgaben soll wissenschaftliche Kompetenz und Reflexion in politisch-administrative Entscheidungszusammenhänge hereingeholt

Gesamtverantwortung statt Verantwortungsparzellierung im Umweltrecht, 1997, S. 119 ff. 396 Vgl. hierzu die Nachw. bei D. Lohse, Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht, 1994, S. 104, auf R. Scholz, M/D/H/Sch, Art. 5 Abs. 3, Rn. 87, 105 ff., 119; E. Denninger, AK-GG, Art. 5 Abs. 3 I, Rn. 15,18,27. 397 Anders H.-H. Trute, Forschung, S. 103, der Ressortforschung als Teil des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG ansieht. Wie hier C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 350. 398 V. Ronge, "Ressortforschung als Modus der Verwendung (sozial)wissenschaftlichen Wissens, ZfRSoz 1988, S. 164.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

werden. 399 Hiermit kann der Zweck erfüllt werden, zu bewältigende Probleme und Aufgaben kritisch und unvoreingenommen, jedenfalls aber distanziert von den hierarchischen Strukturen der Exekutive wissenschaftlich aufzubereiten. Vor allem für die wissenschaftliche Fundierung dessen, was als Stand von Wissenschaft und Technik der rechtlichen Entscheidung unterliegt, ist diese Distanz erforderlich, da, ζ. B. für die Beurteilung von Sicherheitskonzepten kerntechnischer Anlagen, die größtmögliche Bandbreite wissenschaftlichtechnischer Aussagen erforderlich ist. 400 Autonomie wird jedoch, ähnlich wie bei der Industrieforschung, dort instrumentalisiert, wo der Staat als Auftraggeber an einem ergebnisoffenen Erkenntnisprozeß interessiert ist. Sie ist weder ein Strukturmerkmal der Ressortforschung noch ließe sich ihre Beachtung unter Berufung auf die Wissenschaftsfreiheit einfordern - Ressortforschung bildet zwar ein wichtiges Segment des Lebensbereichs Wissenschaft, nachweisbar sind jedoch weder eigene, ihr typische äußere Organisationsbedingungen noch eine innere Organisationsstruktur, in der staatliches Handeln möglich wäre, das auf die Verwirklichung freier Wissenschaft ausgerichtet ist. Ressortforschung ist als wissenschaftliche Beratung sowie als wissenschaftliche Aufsicht und Kontrolle vielmehr eingebunden in komplexe Entscheidungsmechanismen, die ihrerseits hochgradige Organisationsstrukturen voraussetzen. Diese verarbeiten die erforderliche wissenschaftliche Erkenntnis jedoch nur mittelbar in wissenschaftsfremden Entscheidimgsprozessen. Daß sich Wissenschaft im Bereich der Ressortforschung der Politik (bzw. den Anforderungen exekutiver Aufsicht und justizieller Kontrolle) unterordnet, kann deshalb auch nicht als ein Verlust an Glaubwürdigkeit und Reputation beklagt werden, 401 wenn diese zutreffend als weitgehend fremdbestimmte wissenschaftliche Tätigkeit eingeordnet wird, die sich den Eigengesetzlichkeiten überkommener Normen freier Wissenschaft nicht fügen kann, weil sie anderen Zwecksetzungen dient. 6. Ergebnis Die Untersuchung der unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche innerhalb staatlicher Bindungen hat ergeben, daß sich wissenschaftliche Erkenntnisprozesse zumeist in anspruchsvollen organisatorischen Strukturen verwirklichen, und zwar unabhängig davon, ob diese geschaffen und geeignet sind, die erforderliche Autonomie zur Verwirklichung der in Art. 5 Abs. 3 GG gewährleisteten Wissenschaftsfreiheit zu vermitteln. Wissenschaft innerhalb staatlicher 399 V. Ronge, "Ressortforschung als Modus der Verwendung (sozial)wissenschaftlichen Wissens, ZfRSoz 1988, S. 165. 400 BVerwG NVwZ 1989, S. 1168 - Hochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop. 401 Dies beklagt etwa T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 82.

VI. Autonomie als Parameter

305

Bindungen weist hierbei ein differenziertes Bild auf; wesentliche Unterschiede ergeben sich zunächst aus den unterschiedlichen Aufgabenstellungen. Die Universitäten (und Fachhochschulen) bilden den wissenschaftlichen Nachwuchs aus, wobei die Verbindung von Forschung und Lehre Pluralität, Praxisbezug und Aktualität sichern. Die Max-Planck-Gesellschaft fördert den Erkenntnisfortschritt durch Grundlagenforschung und repräsentiert einen Wissenschaftsbereich außerhalb der Universität, der der Gesellschaft Wissen über die wissenschaftlich-technische Entwicklung an die Hand gibt, das die Universitäten nicht erbringen können, weil die dortige Aufgabenstellung andere Schwerpunkte hat. Die Fraunhofer-Gesellschaft ist für die Entwicklung und Durchsetzung neuer Technologien durch zielorientierte Grundlagen- und angewandte Forschung zuständig, die auf die rasche praktische Umsetzung und ökonomische Verwertung ihrer Ergebnisse ausgerichtet ist. Die als Großforschung organisierte Wissenschaft hat zwei sorgfältig voneinander zu unterscheidende Aufgabenbereiche: Die anwendungsorientierten Einrichtungen sollen Perspektiven ökonomischer Verwertbarkeit von wissenschaftlich-technischem Erkenntnisfortschritt eröffnen. Auf dem Gebiet der Grundlagenforschung sollen durch staatliche Förderung wissenschaftlich-technische Entwicklungen initiiert werden, die als gesellschaftlich sinnvoll angesehen, im Bereich der Industrieforschung zumeist aus ökonomischen Gründen aber nicht realisiert werden; zugleich sollen aber auch Risiken durch die industrielle Nutzung wissenschaftlich-technischer Entwicklungen identifiziert werden, um die Möglichkeiten gesellschaftlicher Reaktionen hierauf zu eröffnen. Ressortforschung schließlich weist die am wenigsten ausgeprägte eigenständige Organisationsstruktur auf; sie ist Forschung mit fest umschriebenen Aufgaben, die der politischen Opportunität unterliegt und entspricht insofern strukturell der an ökonomischer Verwertbarkeit ausgerichteten anwendungsorientierten Forschung (in der FhG und den GFE). Schwierigkeiten bei der Unterscheidimg nach der jeweiligen Aufgabenstellung ergeben sich gleichwohl daraus, daß die Wissenschaftsbereiche nicht immer deutlich voneinander zu trennen sind und so ein beträchtliches Maß an Überschneidungen aufweisen. Dieser Befund kann jedoch nur positiv bewertet werden, denn wissenschaftlicher Fortschritt bedarf sowohl zur Wahrnehmung seiner Chancen als auch zur Bewältigung seiner Risiken der Verbindung von Theorie und Praxis, von Grundlagen- und Anwendungsforschung, von auf kurzfristige Ergebnisse und langfristige Erkenntnisse ausgerichteter Wissenschaft. Staatliche Organisationsleistungen müssen dieser anspruchsvollen und verflochtenen Struktur gewachsen sein. Die Vorstellung bloßen repressivstaatlichen Handelns zur Bewältigung der industriell erzeugten Gefährdungen 20 Kleindiek

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

und im übrigen der Organisation ernes isolierten akademischen Wissenschaftsbereichs sind nicht das probate Mittel, um den Lebensbereich Wissenschaft in der Risikogesellschaft angemessen zu erfassen. Dieser Befund erklärt etwas die Neigung, die unterschiedlichen Ausprägungen der Wissenschaft auch im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Folgerungen einheitlich zu behandeln und Art. 5 Abs. 3 GG zu subsumieren. Dennoch darf, das hat die Entwicklung der Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht gezeigt, für die grundrechtliche Zuordnung von Freiheit der unterschiedliche Funktionskontext nicht vernachlässigt werden. Die Wissenschaftsbereiche, die Art. 5 Abs. 3 GG zu subsumieren sind (Universitäre Forschung und Lehre, grundlagenorientierte Großforschung, Einrichtungen der MPG), weisen spezifische, freiheitsadäquate Organisationsstrukturen auf, denen neben der erforderlichen distanzierten Finanzierung die Wahrnehmimg staatlicher Gesamt- bzw. Rahmenverantwortung auf der Trägerebene gemeinsam ist. Diese ist wiederum durchaus unterschiedlich ausgestaltet. In den privatrechtlich organisierten Wissenschaftseinrichtungen bestimmt sich die rechtliche und tatsächliche Ausgestaltung der Binnenstrukturen, innerhalb derer die staatliche Verantwortung wahrgenommen wird, nach dem Willen der für die Einrichtungen handelnden Organe; insofern fügt sich staatliche Ingerenz den vorgegebenen gesellschaftsrechtlichen Strukturen. Universitäre Wissenschaft entfaltet sich dagegen in anderen Strukturen. Ihre Verwirklichung ist sehr viel stärker von gesetzgeberischen Organisationsleistungen abhängig und erst in diesem Rahmen kann sich in der Universität die vom Staat zu gewährleistende freie Wissenschaft, Forschung und Lehre entfalten. Dies bedeutet nicht unbedingt ein höheres Maß, sondern eine andere Form der Wahrnehmung staatlicher Verantwortung. Sie würde sich wandeln, wenn sich auch die organisatorische Eingebundenheit verändere, sich also etwa ein System privater Universitäten etablieren würde. 7. Folgen für die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten Die Bedingungen von Autonomie bestimmen sich hingegen nach den sozialen und kognitiven Normen des Lebensbereichs Wissenschaft. Diese sind dem staatlichen Organisationsauftrag vorgegeben; zur Verwirklichung freier Wissenschaft hat er diese im Kontext konkreter Aufgaben zu fordern und zu kräftigen. Ziel der grundrechtlichen Subsumtion war es deshalb festzustellen, in welchen Wissenschaftsbereichen staatliches Handeln eine Organisationsleistung erbracht hat, die Wissenschaftsfreihei^ermöglicht und deshalb zu einer Gewährleistung grundrechtlicher Freiheit durch Art. 5 Abs. 3 GG führt. Für die

VI. Autonomie als Parameter

307

universitäre Forschung und Lehre, die Forschung in den Instituten der MaxPlanck-Gesellschaft und in den grundlagenorientierten Großforschungseinrichtungen trifft dies zu. Die Pflicht des Staates zur Organisation autonomer Wissenschaftseinrichtungen ist damit erfüllt. Für die Einrichtungen der Fraunhofergesellschaft, die anwendungsorientierten Großforschungseinrichtungen und die Ressortforschung vermittelt Art. 5 Abs. 3 GG nicht die adäquate Grundrechtsgewährleistung. Hierin kann kein Defizit staatlicher Organisationsleistung erblickt werden. Obwohl Art. 5 Abs. 3 GG die zu gewährleistende Freiheit als Organisationsgrundrecht verwirklicht, besteht keine grundrechtlich herzuleitende Pflicht, Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen in ihrer Gesamtheit den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 GG gemäß zu organisieren. Der Entscheidungsspielraum staatlichen Handelns unterliegt vielmehr solange keinen Einschränkungen, wie wesentliche Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft diesen Anforderungen genügen. Daß sich staatliches Handeln darauf beschränkt, Art. 5 Abs. 3 GG im Bereich der Grundlagenforschung und durch die Verbindung von Forschung und Lehre zur wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung zu verwirklichen, begegnet deshalb keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Grund für diese Differenzierung ergibt sich vielmehr aus der spezifischen Aufgabenzuweisung für die einzelnen Wissenschaftsbereiche. Hieraus folgt zugleich, daß auch die Freiheit, Wissenschaft jenseits der kognitiven und sozialen Normen autonomer Wissenschaft zu organisieren, Anspruch auf Grundrechtsschutz hat. Die nicht Art. 5 Abs. 3 GG zu subsumierenden Wissenschaftsbereiche sind daher den ihnen adäquaten Grundrechten zuzuweisen. Dies ist schon deshalb erforderlich, damit die Organisation der Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft, für deren Aufgabenerfüllung an der Verwirklichung autonomer Wissenschaftsstrukturen nicht gelegen ist, die erweisen würde, ein adäquater sich ganz im Gegenteil als kontraproduktiv Grundrechtsschutz gesichert ist. a) Ressortforschung

als wissenschaftliche

Aufsicht und Kontrolle

Ressortforschung als wissenschaftliche Aufsicht und Kontrolle dient unmittelbar Staatsaufgaben. Es fehlt deshalb schon an der Grundkonstellation autonomer Wissenschaft, die ein emanzipatorisches Verhältnis zum Staat voraussetzt. Wissenschaft ist in diesem Bereich der Ressortforschung den Anforderungen exekutiver Aufsicht und justizieller Kontrolle untergeordnet. Als eigener Wissenschaftstyp organisierte Ressortforschung genießt deshalb keinen Grundrechtsschutz. Je nachdem, wie die Ressortforschungstätigkeit in die

308

3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

staatliche Aufgabenerfüllung eingebunden ist, kann der Grundrechtsschutz für den Einzelnen vom Amtsträger bis hin zum durch privatrechtlichen Vertrag Beauftragten reichen und sich deshalb in Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1, 5 Abs. 1 bzw. 2 Abs. 1 GG jeweils in der Funktion als Abwehrrecht verwirklichen. b) Ressortforschung

als wissenschaftliche

Beratung

Ressortforschung als wissenschaftliche Beratung ist Auftragsforschung und deshalb der abhängigen universitären Drittmittelforschung und der ebenfalls auf ökonomische Verwertung ausgerichteten angewandten Forschung strukturell vergleichbar. Der Staat als Auftraggeber unterscheidet sich insofern nicht von dem Privaten, der sich wissenschaftlich beraten lassen will. Gleichwohl hat die Untersuchung zur Ressortforschung ergeben, daß gerade bei der wissenschaftlichen Beratung danach zu unterscheiden ist, ob die Auftragsgestaltung den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess im Hinblick auf Methodenwahl, Forschungsdesign und Ergebnis offen gestaltet. Ist dies zu bejahen, dann entfaltet sich auch das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Wissenschaftlers; hierfür bedarf es keiner organisatorischen Absicherung - weder durch den Staat noch durch Dritte, - die über das übliche Maß für privatautonome Rechtsverhältnisse hinausgeht. Insofern ist der Grundrechtsschutz durch Art. 12 Abs. 1, 5 Abs. 1 bzw. 2 Abs. 1 GG völlig ausreichend. In diesem Kontext ist im übrigen auch der Privatforscher oder -gelehrte einzuordnen, der vor staatlicher Ingerenz durch Art. 5 Abs. 1 GG als Abwehrrecht geschützt ist. Der Bereich der Ressortforschung als wissenschaftliche Beratung zeigt überdies, daß die Grenze zwischen Wissenschaft innerhalb und außerhalb staatlicher Bindungen hier notwendig fließend verläuft. c) Wissenschaft im Kontext ökonomischer Verwertung Dieser fließende Übergang zeigt sich in den Forschungsbereichen, in denen wissenschaftliche Erkenntnisse im Kontext ökonomischer Verwertbarkeit gewonnen werden. Die Fraunhofer-Gesellschaft ist hierfür charakteristisch, indem sie dem Staat für die Lösimg öffentlicher Aufgaben von volkswirtschaftlicher Bedeutung und der Industrie zur Bewältigimg technischer Probleme zur Produkt» und Produktionsverbesserung als Vertragsforschungspartner zur Verfügung steht.402 Für die anwendungsorientierte Großforschung hat sich dieser Befund ebenfalls bestätigt. Deutlich wird hierin eine forschungspolitische Konzeption, die eine enge Bindung zur ökonomischen Verwertung von Erkenntnis 402

Vgl. hierzu oben, S. 281 f.

VII. Subjektivrechtliche Folgen von Art. 5 Abs. 3 GG

309

im industriellen Kontext voraussetzt. Die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit für Wissenschaft in diesem Verwirklichungszusammenhang kann deshalb nur unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Verortung der Industrieforschung als wichtigsten Bereich von Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen vollständig erfolgen. 403

VIL Subjektivrechtliche Folgen von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht Die vorausgegangene Darstellung hat gezeigt, daß die Organisationsleistungen des Staates und ihre Umsetzung in den Wissenschaftseinrichtungen in unterschiedlicher Weise dazu angetan sind, Autonomie und damit die Voraussetzung freier Wissenschaft, Forschung und Lehre zu vermitteln und zu verwirklichen. Der Befund, wonach Art. 5 Abs. 3 GG auf die Entfaltung organisierter Freiheit ausgerichtet ist,404 hat sich auch durch die Untersuchung der ausgewählten Wissenschaftsbereiche bestätigt. Die Verwirklichimg von Freiheit setzt hiernach Bedingungen voraus, für die die Begründung individueller Rechtspositionen allein nicht ausreicht. Der Staat muß die Verantwortung für von Wissenschaftsfreiheit so wahrdie Verwirklichungsvoraussetzungen nehmen, daß sich staatliche Organisationsleistung und Staatsfreiheit der Wissenschaftseinrichtung aufeinander beziehen und gegenseitig ergänzen. Dies ergibt sich daraus, daß die Verwirklichung der Gewährleistung in Art. 5 Abs. 3 GG Autonomie auch gegenüber dem Staat verlangt. Hiermit war der Maßstab für entsprechende organisationsrechtliche Optimierungsregeln 40S gefunden. Seine Anwendbarkeit hat sich in der Untersuchung der einzelnen Wissenschaftsbereiche als tauglich erwiesen. Mit der Feststellung, daß Freiheit im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG in wesentlichen Segmenten des Lebensbereichs Wissenschaft durch staatliche Organisationsleistung erfüllt ist, kann es jedoch nicht sein Bewenden haben, ohne zumindest einen kurzen Blick auf die subjektivrechtlichen Folgen von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht zu werfen. Es wurde bereits hervorgehoben, daß die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur Optimierung von freier Wissenschaft sowohl für die äußere Wissenschaftsfreiheit der Einrichtung als auch die innere Freiheit ihrer wissenschaftsadäquaten Binnenstrukturen gleichermaßen 403 404 405

Hierzu sogleich unten, 4. Kapitel, S. 315 ff. Vgl. oben, S. 244 ff. Vgl. oben, S. 246.

310

3. Kap. : Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

gelten und in der konkreten Ausgestaltung ein untrennbarer Zusammenhang zwischen beiden besteht.406 Zweck der Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Wissenschaftsfreiheit ist die eigenverantwortliche Bewahrung wissenschaftsadäquater Strukturen durch die Einrichtung, in der sich diese Freiheit entfaltet. 407 Ihr Ziel ist es, der Funktion der Grundrechte entsprechend, individuelle Freiheit des einzelnen Wissenschaftlers zu verwirklichen. Im Hinblick auf die subjektivrechtlichen Folgen dieser Konzeption sind demnach zwei unterschiedliche Aspekte zu berücksichtigen. Zum einen ist zu fragen, inwieweit die Wissenschaftseinrichtung selbst in einem Verständnis des Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht notwendig Grundrechtsträgerin sein muß. Hiermit ist die korporative Dimension der Wissenschaftsfreiheit angesprochen. Hieran schließt sich das Problem der verfassungsrechtlichen Stellung des einzelnen Wissenschaftlers, also die individuelle Dimension der Wissenschaftsfreiheit in einem Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, an: Inwiefern sind dem einzelnen Wissenschaftler subjektive, grundrechtlich gewährleistete Rechtspositionen vermittelt. Diese Frage richtet sich sowohl an das Verhältnis zwischen einzelnem Wissenschaftler und Staat, als auch an das zwischen dem einzelnen Wissenschaftler und der Einrichtung, der er angehört. 1. Die Wissenschaftseinrichtung als Grundrechtsträgerin Die Grundrechtsberechtigung der einzelnen Wissenschaftseinrichtung hängt demnach von ihrer Funktion ab, zwischen der staatlichen Organisationsleistung, die auf die Entfaltung individueller Freiheit ausgerichtet ist, und der Freiheit der Wissenschaftler zu vermitteln. Diese Vermittlungsfunktion verlangt, daß die Wissenschaftseinrichtungen Grundrechtsträger sind, soweit durch sie die wissenschaftliche Tätigkeit der sie konstitutierenden Personen ermöglicht und effektiviert wird. 408 Während in der Literatur diese korporative Dimension in unterschiedlichen Ausprägungen bereits anerkannt war, 409 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals in der Entscheidung über den Fortbestand 406

Vgl. oben, S. 247 ff. Vgl. auch BVerfGE 85, 360 (385). 408 1. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 29. 409 Vor allem P. Häberle, Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 358: "status corporati vus"; die Diskussion, die sich vor allem auf die universitäre Selbstverwaltung beschränkt, ist m. zahlr. Nachw. zusammengefaßt bei I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 29. 407

VII. Subjektivrechtliche Folgen von Art. 5 Abs. 3 GG

311

der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik festgestellt, daß mit öffentlichen Mitteln eigerichtete und unterhaltene Wissenschaftseinrichtungen "grundsätzlich Eingriffe in ihre organisatorischen Strukturen abwehren (können), die einer freien wissenschaftlichen Betätigung abträglich sind."410 Ein solcher Abwehranspruch der Wissenschaftseinrichtung gegen staatliche Ingerenz ist jedoch von dem leistungsrechtlichen Gehalt des Art. 5 Abs. 3 GG abhängig, so daß er durch diesen von vornherein begrenzt ist. Die einzelnen Wissenschaftschaftseinrichtungen haben demnach kein subjektives Abwehrrecht im Sinne einer vorstaatlich gedachten Freiheit. Diese Begrenzung kommt in dem weiten Ermessensspielraum des Gesetzgebers für die Organisation freier Wissenschaft zum Ausdruck. Hiernach kann der Gesetzgeber entscheiden, welche Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft so organisiert sind, daß sie den Anforderungen an Autonomie und Freiheit gerecht werden. Abwehrrechte der Wissenschaftseinrichtung stehen somit unter dem Vorbehalt staatlicher Organisationsleistung. Dieser Gedanke kommt auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Akademie der Wissenschaften zum Ausdruck, indem das Gericht den Bestandsschutz für eine Wissenschaftseinrichtung ablehnt und die Grundrechtsberechtigimg aus Art. 5 Abs. 3 GG davon abhängig macht, daß der Staat die aufgabenspezifischen Bedingungen von Autonomie schafft: "Einrichtungen, die Zwecken der Wissenschaft dienen, ist Autonomie nur im Rahmen ihrer Aufgaben verliehen. Diese Aufgabe setzt freiheitliche Strukturen voraus, die in einem von unmittelbaren staatlichen Eingriffen geschützten Bereich Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen. Die eigenverantwortliche Bewahrung dieser Strukturen gehört zur Aufgabe wissenschaftlicher Einrichtungen. Ihre Autonomie ist auf die funktionsgerechte Wahrnehmung dieser Aufgabe beschränkt und von deren Bestand abhängig. Sie kann deshalb nicht die Aufgabenzuweisung selbst sichern."411 Gleichwohl besteht für den Staat eine unterschiedlich starke Bindungswirkung, die auch die konkrete Organisationsleistung determiniert. Für die Universitäten etwa sind diese Determinanten verhältnismäßig stark ausgeprägt, weil dieser Wissenschaftsbereich einer intensiven Regelung durch den Gesetzgeber unterliegt. Zwar folgt aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG kein Grundrecht auf akademische Selbstverwaltung,412 die Garantie dieser Organisationsform ist jedoch in den meisten Länderverfassungen erfolgt, indem dort das Recht auf

410

BVerfGE 85, 360 (384). BVerfGE 85, 369 (385). 412 So aber I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 29. 411

312

3. Kap. : Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Selbstverwaltung positiv normiert ist.413 Indem Selbstverwaltung so als eine mögliche Organisationsform zur Verwirklichung von Autonomie auf verfassungsrechtlicher Ebene garantiert wird, ist der Gesetzgeber an diese einmal gewählte Organisationsform stärker gebunden als durch einfaches Recht. Auch wenn weder für die Universität noch für andere Wissenschaftseinrichtungen ein Bestandsschutz aus einer abwehrrechtlichen Grundrechtsposition heraus besteht, ist der Staat in seinem Handeln nicht völlig frei. Der Staat hat vielmehr die verfassungsrechtlich wirksame Pflicht zu konsequentem Organisationshandeln. Dieser Pflicht korrespondiert ein subjektivrechtlicher und damit gerichtlich durchsetzbarer Anspruch der Wissenschaftseinrichtung gegen den Staat.414 Die Pflicht des Staates, die Verwirklichungsvoraussetzungen für freie Wissenschaft zu schaffen, indem er Wissenschaft einrichtet und unterhält, Organisation, Verfahren, Berufsrollen und Geld zur Verfügung stellt,415 trifft hier mit den subjektiven Rechten der Wissenschaftseinrichtungen zusammen; mit anderen Worten entfaltet das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Verantwortung und grundrechtlicher Freiheit 416 hier seine Wirkung. Hieraus folgt, daß der Staat durch organisatorische Leistungen ein Mindestmaß an aufgabenbezogener Effizienz und widerspruchsfreier Umsetzung ermöglichen muß. Der konkrete Leistungsumfang für freie Wissenschaft unterliegt jedoch, wie bei allen Leistungsgrundrechten, dem ökonomisch Möglichen und politisch Gewollten.417

413 So etwa Art. 60 Abs. 1 Verf. Hessen: "Die Universitäten und staatlichen Hochschulen genießen den Schutz des Staates und stehen unter seiner Aufsicht. Sie haben das Recht der Selbstverwaltung, an der die Studenten zu beteiligen sind." S. auch Art. 20 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg, Art. 138 Abs. 2 Verf. Bayern, Art. 32 Abs. 1 Verf. Brandenburg, Art. 5 Abs. 3 Verf. Niedersachsen, Art. 16 Verf. Nordrhein-Westfalen, Art. 39 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 33 Abs. 1 Verf. Saarland, Art. 107 Abs. 2 Verf. Sachsen, Art. 31 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt, Art. 28 Abs. 2 Verf. Thüringen. 414 Vgl. hierzu für den Hochschulbereich I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 48: Optimierung des Freiheitsanspruchs der Mitglieder und Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Hochschulen; in diesem Sinne bereits H. Sendler, Teilhaberechte in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, DÖV 1978, S. 587: verfassungsrechtliche Pflicht zur Konsequenz; und den Hinweis bei C. Starck, Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung als Hilfen zu Grundrechtsverwirklichungen?, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Bd. II, S. 524, Fn. 253: verfassungsrechtliche Pflicht konsequenter Planung. 415 H.-H. Trute, Forschung, S. 178. 416 P. Kirchhof, Wissenschaft in verfaßter Freiheit, 1986, S. 4. 417 Vgl. bereits das BVerfG zur Erfüllbarkeit des Anspruchs auf einen Studienplatz, BVerfGE 36, 321 (331 f.). Vgl. hierzu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, WDStRL 30 (1972), S. 114 ff.: "Maßgabevorbehält".

VII. Subjektivrechtliche Folgen von Art. 5 Abs. 3 GG

313

Die Folgen der so zu umschreibenden verfassungsrechtlich wirksamen Pflicht zu konsequentem Organisationshandeln läßt sich am Beispiel der Großforschungseinrichtungen illustrieren. Deren Organisation ist erklärtermaßen einerseits an den sozialen Normen autonomer Wissenschaft ausgerichtet.418 Die Untersuchung der GFE hat jedoch andererseits ergeben, daß für die anwendungsorientierten Forschungseinrichtungen durch die vorgegebene Aufgabenstellung Verlagerungstendenzen hin zu ressortforschungsähnlichen Aufgaben deutlich werden, die erhebliche Auswirkungen auf die Verwirklichungsbedingungen für Autonomie haben.419 Diese Entwicklung ist, wie bereits festgestellt, als solche zwar nicht verfassungswidrig; 420 der Staat verstößt jedoch gegen seine Pflicht zu konsequentem Organisationshandeln, indem er auch durch die anwendungsorientierten Großforschungseinrichtungen zwar seine Pflicht zur Organisation freier Wissenschaft erfüllen will, Aufgabenstellung und Organisationsstruktur tatsächlich jedoch autonomiefeindliche Bedingungen konstituieren. 2. Der einzelne Wissenschaftler als Grundrechtsträger Die korporative und die individuelle Dimension der Wissenschaftsfreiheit bedingen einander. Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht ist deshalb die Voraussetzung für die Entfaltung der korporativen und der individuellen Dimension der Wissenschaftsfreiheit. Denn Freiheit kann letztlich immer nur durch den Einzelnen verwirklicht werden. Auf ihn ist die Organisation freier Wissenschaft deshalb gerichtet. Freie Wissenschaft verlangt demnach zugleich staatliche Leistung und Staatsferne; beides wird durch die freiheitsvermittelnde Funktion der Wissenschaftseinrichtungen für den einzelnen Wissenschaftler gewährleistet. Für die Grundrechtsträgerschaft des einzelnen Wissenschaftlers gilt deshalb im Grunde nichts anderes, als für die Wissenschaftseinrichtung auch. Auch gegenüber dem einzelnen Wissenschaftler hat der Staat die verfassungsrechtlich wirksame Pflicht zu konsequentem Organisationshandeln, der eine subjektive Rechtsposition des Wissenschaftlers gegenüber dem Staat korrespondiert. Diese Rechtsstellung ist jedoch sehr stark dadurch geprägt, daß der einzelne Wissenschaftler in die Wissenschaftseinrichtung eingegliedert ist. Bereits im 418 S. hierzu die Leitlinien der Bundesregierung für die Organisationsstruktur von Großforschungseinrichtungen, 1971; i. e. oben, S. 313 f. und den Großforschungsbericht der Bundesregierung, BT-Drs. 10/1327; i. e. oben S. 292 ff. 419 Vgl. oben, S. 298 f. 420 Vgl. oben, S. 300.

314

3. Kap. : Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

Hochschulurteil hat das Bundesverfassungsgericht auf das Bestehen konkurrierender Interessen und darauf hingewiesen, daß sich die Grenzen individueller Rechte aus dem Zusammentreffen der berechtigten Anliegen mehrerer Grundrechtsträger und aus der Rücksicht auf andere gewichtige Gemeinschaftsinteressen ergeben.421 In der jüngsten Entscheidung zur Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG hat das Bundesverfassungsgericht noch stärker als bisher die Abhängigkeit individueller Freiheitsentfaltung des einzelnen Wissenschaftlers von organisatorischen Vorleistungen des Staates durch die Schaffung einer die Freiheit des Einzelnen erst ermöglichenden Wissenschaftseinrichtung betont: "Der Staat muß danach für funktionsfähige Institutionen eines freien Wissenschaftsbetriebes sorgen und durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherstellen, daß das individuelle Grundrecht der freien wissenschaftliche Betätigung so weit unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtugung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich ist."422 Hierbei hat der Gesetzgeber zu gewährleisten, daß ein Kernbereich wissenschaftlicher Betätigung der Selbstbestimmung des einzelnen Grundrechtsträgers vorbehalten bleibt;423 darüber hinaus ist ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet. 424 Die Pflicht zu konsequentem Organisationshandeln hat diesen Kernbereich individueller Selbstbestimmung des einzelnen Wissenschaftler aus Art. 5 Abs. 3 GG von Verfassungs wegen zu beachten. Gleichwohl können die individualrechtlichen Ansprüche nicht über das hinaus gehen, was die Wissenschaftseinrichtung, der der einzelne Wissenschaftler angehört, im Rahmen einer aufgabenadäquaten Organisationsstruktur zur Verwirklichung von Autonomie bereithält. Zu recht besteht deshalb große Zurückhaltung gegenüber einem Recht auf Mindestausstattung, das sich aus einem abwehrrechtlichen, vorstaatlichen Anspruch aus Art. 5 Abs. 3 GG ergeben soll.425 Wesentlich bedeutsamer ist mittlerweile die Frage, inwiefern der einzelne Wissenschaftler seine Grundrechtsberechtigung aus Art. 5 Abs. 3 GG gegen die staatliche Organisationsleistungen als solche und ihre Vermittlung durch die Wissenschaftseinrichtungen geltend machen kann. Hierbei ist zunächst zu beachten, daß sowohl dem Staat als auch der Wissenschaftseinrichtung die sozialen Normen autonomer Wissenschaft vorgegeben sind. Ihre Verwirklichung in organisierter Wissenschaft könnte demnach bedeuten, daß jede Ein421

BVerfGE 35, 79 (122). BVerfGE 93, 85 (95) - UniversitätsG NRW. 423 BVerfGE 35, 79 (115 ff.); 93, 85 (95). 424 So für den Bereich der universitären Selbstverwaltung BVerfGE 93, 85 (95). 425 Vgl. BVerwGE 52, 339 (344); zur Diskussion H. Sendler, Teilhaberechte in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, DÖV 1978, S. 587. 422

VII. Subjektivrechtliche Folgen von Art. 5 Abs. 3 GG

315

flußnahme des Staates oder der Einrichtung auf Fragestellung, Methode, Durchführung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse als Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit anzusehen ist.426 Ein solches Verständnis von Freiheit ist unter den heutigen Bedingungen hochentwickelter, komplex organisierter Wissenschaft jedoch bereits faktisch nicht zu verwirklichen. Nahezu jede Entscheidimg, sei es des Staates, sei es der Wissenschaftseinrichtung, wirkt sich zumindest mittelbar auch auf den Inhalt von Wissenschaft, Forschung oder Lehre aus, weil sie die Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Freiheit erst schafft. Die Ausrichtung der institutionellen und finanziellen Förderung und damit auch der Wissenschaftspolitik an der Leitidee des Art. 5 Abs. 3 GG ist demnach nicht auf eine (potentielle) Beeinträchtigung durch wissenschafts- und forschungspolitische Entscheidungen zurückzuführen, 427 sondern darauf, daß der Staat seine Pflicht zur Organisation freier Wissenschaft hierdurch erst erfüllt. Die Vermittlungsfunktion der Wissenschaftseinrichtung zwischen organisierendem Staat und der staatsfernen Verwirklichung autonomer Wissenschaft durch den Einzelnen erlangt somit einmal mehr ihre Bedeutung. Staatsferne darf jedoch dort, wo es die Verwirklichung grundrechtlich gewährleisteter Freiheit verlangt, daß staatliche Verantwortung und Kontrolle zurückgedrängt werden, nicht zu einem Vakuum führen: Mit der Selbstveranwortung muß Selbstkontrolle einhergehen. Diese Selbstkontrolle muß sich ihrerseits wiederum an den Rechten des einzelnen Wissenschaftlers aus Art. 5 Abs. 3 GG messen lassen.428 Zur Erfüllung dieser anspruchsvollen Aufgabe hat sich mittlerweile ein taugliches, die Rechte der Betroffenen hinreichend berücksichtigendes Repertoire an Möglichkeiten herausgebildet. Auf einfachgesetzlicher Ebene schafft etwa § 6 Hessisches Universitätsgesetz (HUG) ein entsprechendes Instrument, indem diese Regelung den an Forschung und Lehre beteiligten Mitgliedern und Angehörigen der Universität aufgibt, "die gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis mitzubedenken."429 Aus einem streng abwehrrecht426 Für den staatlichen Einfluß in diesem Sinne I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1,1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 32. 427 So aber I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 32. 428 Für die universitäre Selbstverwaltung R. Kleindiek, Wissenschaftsfreiheit in der Hochschule zwischen kritischer Öffentlichkeit und Disziplinarordnung, JZ 1993, S. 997. 429 Vgl. nun auch § 27 Satz 2 Niedersächsisches Hochschulgesetz, wonach ein "Zusammenwirken mit der Öffentlichkeit, mit wissenschaftlich Tätigen anderer Fachrichtungen und mit der beruflichen Praxis" verlangt wird.

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3. Kap.: Wissenschaftsfreiheit als Organisationsgrundrecht

liehen Verständnis der Wissenschaftsfreiheit hat die Regelung in § 6 HUG heftige Kritik erfahren, 430 sie ist gleichwohl vom Bundesverfassungsgericht zu recht für verfassungskonform anwendbar erklärt worden, weil § 6 HUG lediglich das Mibedenken gesellschaftlicher Folgen verlangt und darüber hinaus Eingriffe in die schrankenlos gewährleistete Wissenschaftsfreiheit ohnehin nur zu Verwirklichung ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter Güter zulässig sind.431 Ebenso können die Wissenschaftseinrichtungen selbst Regelungen schaffen, die sich unmittelbar auf die Forschung des einzelnen Wissenschaftlers beziehen.432 Bekannteste und weitgehend etablierte Beispiele sind Ehtikkommissionen, die seit einigen Jahren nicht unerheblichen Einfluß auf die medizinische Forschung haben. Diese äußern sich über ethische und rechtliche Aspekte von zumeist medizinischen Forschungsvorhaben, wenn diese Versuche mit Menschen einschließen und den Grenzbereich zwischen Humanität und medizinisch-wissenschaftlich Machbarem betreffen. Hierzu gehört u. a. die Begutachtung von epidemiologischen Forschungen mit personenbezogenen Daten und von Forschung mit vitalen menschlichen Gameten und lebendem embryonalen Gewebe.433 Über die Verfassungsmäßigkeit von Ethikkommissionen besteht keine Einigkeit.434 Soweit verlangt wird, daß für eine verpflichtende Teilnahme etwa an Ethikkommissionen oder anderen Gremien von Wissenschaftseinrichtungen zu Gegenstand und Inhalt von (geplanten) Forschungsvorhaben eine über die bestehenden Regelungen hinausgehende aus-

430

Etwa R. Scholz, in M/D/H/Sch, Art. 5 III, Rn. 99; W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1970), S. 113 f. 431 BVerfGE 47, 327 (370 f.). 432 Hierzu etwa das Beispiel bei T. Oppermann, Verteidigungsforschung und Wissenschaftsfreiheit, FS Thieme, 1994, S. 673, wonach in der Strukturkommission des Senates der Universität Tübingen der Antrag auf Beschluß folgender Empfehlung gestellt wurde: "Die Strukturkommission des Senates empfiehlt den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Tübingen sowie den Fakultäten und Gremien der Hochschule, daß in Kooperationsvereinbarungen und -Verträgen zwischen der Universität bzw. den Universitätsangehörigen und den außeruniversitären Einrichtungen bzw. Kooperationspartnerinnen der vertragliche Passus 'nur zur zivilen Nutzung' als grundsätzliche Beschreibung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit aufgenommen werden soll." 433 Vgl. K. Sobota, Die Ethik-Kommission - Ein Instrument des Verwaltungsrechts? AöR 121 (1996), S. 230 f. 434 Vgl. etwa H. H. Rupp, Ethik-Kommissionen und Verfassungsrecht, in Jahrbuch UTR 1990, S. 23 ff, der aus einem abwehrrechtlichen Verständnis zu einem Verstoß auch gegen die Wissenschaftsfreiheit gelangt; und andererseits H. H. Trute, Forschung, S. 166 ff., der aufgrund seines organisationsgrundrechtlichen Ansatzes zur Verfassungsmäßigkeit gelangt. Vgl. auch R. Bork, Das Verfahren vor den Ethik-Kommissionen der medizinischen Fachbereiche, 1994; U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 232 ff; C. D. Classen, Ethikkommissionen zur Beurteilung von Versuchen an Menschen: Neuer Rahmen, neue Rolle, MedR 1995, S. 148 ff.

VII. Subjektivrechtliche Folgen von Art. 5 Abs. 3 GG

317

drückliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage geschaffen werden muß, 435 so kann dies sicher zu verfassungsrechtlicher und politischer Klarheit über die bestehenden Handlungsmöglichkeiten beitragen.436 Andererseits muß sich in einem Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht die kritische, wissenschaftliche Auseinandersetzung der Wissenschaftseinrichtung mit dem Forschungsgebaren einzelner Wissenschaftler nicht auf mögliche Beeinträchtigungen ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter beschränken; hier bestehen weitergehende Möglichkeiten, solange auch die Rechte des Einzelnen aus Art. 5 Abs. 3 GG beachtet werden. Denn die individuelle Dimension der Wissenschaftsfreiheit beinhaltet keine Freiheit von Kritik. 437 Insofern sind auch alle eben genannten Fallbeispiele durchweg unproblematisch, weil sie lediglich appellierenden Charakter haben und sich an die Nichtbefolgung keine Rechtsfolgen knüpfen.

435

So H. Schulze-Fielitz, Freiheit der Wissenschaft, HdbWissR, 1994, § 27, Rn. 31. Vgl. in diesem Sinne etwa den Vorschlag zu einer Neuformulierung des § 6 HUG von H. H. Seidler, Recht von gestern im Licht neuer politischer Anforderungen, FS Podlech, 1994, S. 352: § 6 Informationsverpflichtung, Kommission für Folgenabschätzung. (1) Alle an Forschung und Lehre beteiligten Mitglieder und Angehörigen der Universitäten haben die gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis mitzubedenken. Werden ihnen Ergebnisse der Forschung, vor allem in ihrem Fachgebiet, bekannt, die bei verantwortungsloser Verwendung erhebliche Gefahr für die Gesundheit, das Leben oder das friedliche Zusammenleben der Menschen herbeiführen können, sollen sie den zuständigen Fachbereichsrat oder ein zentrales Organ der Universität davon unterrichten. (2) Die Universitäten können durch Grundordnung eine Kommission einsetzen, die die Aufgabe hat, Stellungnahmen oder Empfehlungen abzugeben zu den Folgen, die sich aus der wissenschaftlichen Entwicklung oder aus einzelnen Forschungsprojekten für die in Absatz 1 genannten Rechtsgüter ergeben können. (3) Die Zusammensetzung der Kommission wird in der Grundordnung geregelt, wobei auch geeignete Mitglieder berücksichtigt werden sollen, die nicht Mitglieder oder Angehörige der Universität sind." 437 R. Kleindiek, Wissenschaftsfreiheit in der Hochschule zwischen kritischer Öffentlichkeit und Disziplinarordnung, JZ 1993, S. 997. 436

Viertes Kapitel

Vom Lebensbereich Wissenschaft zum Normbereich der Wirtschaftsfreiheit I . Problemstellung: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit Die Überlegungen im dritten Kapitel haben gezeigt, daß Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen eine differenzierte Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten verlangt. Maßstab fur diese Differenzierung ist die Organisation von Strukturen autonomer Wissenschaft als Voraussetzung für die Wahrnehmung individueller Freiheit im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG. Als weitere wichtige Erkenntnis hat sich ergeben, daß der Aufgabenbezug von Wissenschaft mit den Bedingungen von Autonomie korreliert: Jedenfalls für die Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen schließen sich Strukturen autonomer Wissenschaft und die unmittelbare Orientierung an der ökonomischen Verwertung wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse aus. Im folgenden ist deshalb zu untersuchen, ob sich dieser Befund auch für die Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen bestätigt; dies ist nicht nur erforderlich, um den Lebensbereich Wissenschaft für die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten vollständig zu erfassen, sondern auch, um das Ergebnis des dritten Kapitels zu stützen, wonach sich Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht in dem gegenwärtigen Wissenschaftsgefüge ausschließlich innerhalb staatlicher Bindungen verwirklichen kann. Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen ist vor allem ein Wirtschaftsfaktor. Überdies dominiert die private Wirtschaft jedenfalls in quantitativer Hinsicht den gesamten Lebensbereich Wissenschaft; 1 diese Aussage läßt sich aufrecht erhalten, auch wenn ihr Anteil am Gesamtbudget Forschung und Entwicklung - dieses Begriffspaar wird dem Frascati-Handbuch 2 folgend 1

Zur Entwicklung s. 1. Kap., S. 81 ff., 88 ff., 95 f. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hrsg.), Allgemeine Richtlinien für statistische Übersichten in Forschung und experimenteller Entwicklung, Frascati-Handbuch II, Arbeitsschrift des Stifterverbandes C, 1971, S. 11. Die wichtigste Grundlage für Begriff und Messung der Forschung und Entwicklung ist nach wie vor das FrascatiHandbuch. Es ist Resultat jahrelanger Bemühungen, allgemeine Richtlinien für Be2

I. Problemstellung: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

319

definiert als "systematische, schöpferische Arbeit zur Erweiterung wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse und deren Verwendung mit dem Ziel, neue Anwendungsmöglichkeiten zu finden" - seit 1987 kontinuierlich abnimmt und fur 1992 bei rund 66% liegt.3 Von den rund 200 000 Wissenschaftlern in Deutschland sind 1992 64% in der Wirtschaft, 22% an den Hochschulen und 14% in den übrigen Forschungseinrichtungen beschäftigt. 4 Wissenschaft im in verhältnisprivatwirtschaftlichen Bereich ist vor allem Industrieforschung mäßig großem Umfang; forschungsstatistische Erhebungen zeigen, daß 1981/82 über 90% des in Industrieunternehmen tätigen wissenschaftlichen Personals in Betrieben mit mehr als 1000 Mitarbeitern beschäftigt sind.5 Industrieforschung ist deshalb als das Referenzgebiet von Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen anzusehen, so daß sich die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten vor allem an diesem Segment des Lebensbereichs Wissenschaft zu orientieren hat. Wissenschaftliches Handeln in der Industrie ist an der Herstellung, Optimierung und ökonomischen Verwertung von Produkten orientiert. Dieser Befund ist auch in der verfassungsrechtlichen Rezeption unbestritten.6 Auch Industrie-

griffsbildung, Messung und Erstellung statistischer Übersichten für Forschung und Entwicklung bereitzustellen. Sie ist mit ihren ausfuhrlichen Definitionen (zu den Begriffen Grundlagenforschung, angewandte Forschung, experimentelle Entwicklung s. unten S. 334, Fn. 34), Klassifikationen, Konventionen und Empfehlungen sehr schnell nach ihrem Erscheinen die wichtigste Unterlage für die Forschungs- und Entwicklungsdaten erhebenden Stellen in fast allen Ländern der OECD geworden. Hierzu und zu einer gleichwohl kritischen Rezeption des Frascati-Handbuchs H. Majer, Industrieforschung in der Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 9 ff.; K. Brockhoff, Forschung und Entwicklung. Planung und Kontrolle, 2. Aufl., 1989,S. 18 ff. 3 Bundesbericht Forschung 1993, S. 61; insofern überholt T. Dickert, Naturwissenschaften, 1991, S. 83, der bis 1987 noch von einer stetigen Zunahme ausgehen konnte. In dem Rückgang des Anteils der Wirtschaft zwischen 1987 und 1992 um (geschätzte) 4,5% sieht der Bundesbericht Forschung (1993, S. 59) eine Strukturveränderung. 4 Bundesbericht Forschung 1993, S. 64, 67. Die veröffentlichte Datenlage beruht, worauf auch der Bundesbericht Forschung hinweist (S. 64), seit der Wiedervereinigung ζ. T. auf Schätzungen, weil vollständige quantitative Erhebungen über den Forschungsund Entwicklungsbereich in den neuen Bundesländern erst 1993 erfolgen sollten. 5 W. Kern/H.-H. Schröder, Forschung und Unternehmung, 1977, S. 314; Stifterverband fiir die Deutsche Wissenschaft (Hrsg.), Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft, 1980, S. 98; T. J. Gerpott, Personale Strukturen und organisationale Innenstrukturen industrieller F&E-Einheiten - empirische Bestandsaufnahme in der Bundesrepublik, Strukturdependenzen und deren Implikationen fiir das F&E-Personal-Management 1984, S. 28 ff. 6 G. Roellecke, Forschungsförderung für die Industrie, BB 1981, S. 1906; M.-J. Seibert, Industrielle Forschung und Projektförderung, WissR 16 (1983), S. (130 ff.) 140; U. Karpen, Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverwertung, in: Schuster (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftstransfers, 1990, S. 73; H.H. Trute, Forschung S. 104 ff.; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 33 ff.; T.

320

4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

forschung ist Wissenschaft. Innerhalb wie außerhalb staatlicher Bindungen ist wissenschaftliches Handeln als eine Erkenntnisoperation zu verstehen, die dem reflexiven Gehalt von Gesetz, Experiment und Fortschritt folgt. Dieser soziologische Befund orientiert sich an den vorzufindenden, lebenswirklichen Strukturen und nicht an verfassungsrechtlichen Parametern. Auch für die Industriewissenschaft ist das im ersten Kapitel in einem umfassenderen Kontext erläuterte Verhältnis von Wissenschaft und Technik der entstehungsgeschichtliche Ausgangspunkt.7 Nicht eine lineare Ursache-Wirkung-Beziehung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Innovationen, sondern die Annahme eines komplexeren Verhältnisses seit dem 17. und vor allem 18. Jahrhunderts wird deshalb in den wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen zur Industrieforschung zurecht zugrunde gelegt.8 Mit der Ausrichtung an der ökonomischen Verwertung wissenschaftlich-technischer Erkenntnis ist die Bedeutung der Industrieforschung als anwendungsorientierte Forschung determiniert; dies gilt unabhängig davon, ob das Industrieunternehmen die Grundlagen hierfür erst selbst erforschen muß oder auf Kenntnisse aufbauen kann, die andernorts bzw. in anderen Wissenschaftsbereichen erbracht wurden. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist hiermit der Rahmen abgesteckt. Wissenschaft, die der unmittelbaren ökonomischen Verwertung untergeordnet ist, bleibt zwar Wissenschaft, sie ist jedoch dem Grundrecht zu subsumieren, das die Entfaltung wirtschaftlicher Freiheit schützt. Trute gelangt deshalb - eher am Rande und ohne diesen Gedanken weiter zu verfolgen - zu dem Ergebnis, daß dort, wo die ökonomischen Imperative die Tätigkeit regulieren, nicht die auf besondere Sachstrukturen und Schutzanforderungen ausgerichtete Forschungsfreiheitsgarantie, sondern das dogmatische Gerüst der auf wirtschaftliche Tätigkeiten zugeschnittenen Art. 12, 14, 2 Abs. 1 GG den einschlägigen Grundrechtsschutz garantiere. 10 Demgegenüber repräsentieren Classen und Dickert die ganz überwiegend vertretene Auffassung, wonach Art.

Dickert, Naturwissenschaften, S. 263 ff; V. Grellert, Industrielle Forschung, in: HdbWissR, Bd. 2, 1982, S. 1235 f. 7 S. hierzu oben, 1. Kap., S. 52 ff. 8 P. Mathias, Wer entfesselte Prometheus? Naturwissenschaft und technischer Wandel von 1600 bis 1800, 1973, S. 74; H. Majer, Industrieforschung in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 70 f.; s. auch Ch. Freeman, The Economics of Industrial Innovation, 1974, S. 30; D.-M. Harmsen/U. Niederwemmer, Der nationale Forschungs- und Innovationsverbund. Institutionelle Situation, instrumentale Möglichkeiten und strukturelle Vorschläge, in: Wirtschaft und Wissenschaft 1976, S. 15 ff. (15). 9 Die Industrieforschung berührt den Gegenstand der Untersuchung, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, auch nur am Rande. 10 H.-H. Trute, Forschung, S. 106 f.

I. Problemstellung: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

321

5 Abs. 3 GG als subjektives Abwehrrecht "Jedermanns" die Wissenschaft in einem umfassenden Sinne schütze; zum Normbereich gehöre deshalb auch die Industrieforschung. 11 Hiermit sei jedoch anderweitiger Grundrechtsschutz nicht ausgeschlossen. Wissenschaft im Kontext unmittelbarer ökonomischer Verwertung sei vielmehr nicht allein durch Art. 5 Abs. 3 GG, sondern auch durch die Grundrechte der Berufs- und Gewerbefreiheit aus Art. 12 GG und der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG geschützt, so daß zwischen der Wissenschafts- und Berufsfreiheit "Idealkonkurrenz" bestehe.12 Die sich hieraus ergebenden Probleme der Grundrechtskonkurrenz müssen hier nur angedeutet werden: Wenn die Berufsausübung des Wissenschaftlers durch die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG "maßgebend" bestimmt wird, 13 dann bedarf der über Art. 12 Abs. 1 GG hinausgehende "Schutz" durch Art. 5 Abs. 3 GG wegen der unterschiedlichen Maßstäbe fiir die Einschränkbarkeit der beiden Grundrechte eines "Schrankenwechsels" mit der Folge, daß Art. 12 Abs. 1 GG durch Art. 5 Abs. 3 GG verdrängt würde. 14 Der stärkere Schutz durch Art. 5 Abs. 3 kann sich also auch nach dieser Lösung nicht aus einem spezifischen Funktionszusammenhang zwischen Art. 5 Abs. 3 GG und Art. 12 Abs. 1 GG ergeben,15 sondern nur durch den Nachweis, daß Art. 5 Abs. 3 GG auch für die Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen einen adäquaten Grundrechtsschutz ermöglicht, der allein durch Art. 12 Abs. 1 GG nicht zu erreichen ist. Konkurrenzen zwischen Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG und Wirtschaftsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG sind freilich nur dann problematisch, wenn sich beide Normbereiche auf die Industrieforschung erstrecken. Daß Art. 5 Abs. 3 GG seine Freiheit gewährleistende Wirkung nur als Organisationsgrundrecht entfaltet, kann eine Differenzierung zwischen Wissenschaft innerhalb und außerhalb staatlicher Bindungen allein nicht rechtfertigen. Denn auch 11 Dickert, Naturwissenschaften, S. 259 ff.; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 139 ff, 156 ff.; so auch bereits M.-J. Seibert, Industrielle Forschung und Projektforderung, WissR 16 (1983), S. (130 ff.)139 ff. ; U. Karpen, Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverwertung, 1990, S. 77 f.; R. Scholz, M/D/H, Art. 5 Abs. 3, Rn. 180. 12 R. Scholz, M/D/H, Art. 5 Abs. 3, Rn. 180; T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 411 ff. 13 So R. Scholz, M/D/H, Art. 5 Abs. 3, Rn. 180. 14 Zu dem Problem der Grundrechtskonkurrenzen W. Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, 1968. 15 So aber R. Scholz, M/D/H, Art. 5 Abs. 3, Rn. 172; differenzierend aber T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 419, der eine Lösung anhand der abstrakten, schrankenbedingten "Stärke" bzw. "Schwäche" der Grundrechte ablehnt und eine differenzierte Lösung anhand konkret zu beurteilender Sachverhalte bevorzugt; in diesem Sinne auch R. Herzog, in: M/D/H, Art. 5 Abs. 1 GG, Rn. 37. 21 Kleindiek

322

4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen entfaltet sich, sieht man einmal von dem Privatgelehrten ab, nicht von selbst. Sie verlangt ebenso organisatorische Vorkehrungen und eine materielle Grundlage, die der Forscher als Einzelner in der Regel nicht zur Verfugung hat. Für die Industrieforschung stellt sich dieses Problem in aller Schärfe: Da Forschung und Entwicklung nicht unmittelbar produktiv ist, d. h. keine zurechenbaren Gewinne erwirtschaften und sich somit nicht selbst finanzieren kann, ist sie von den produktiven Unternehmensbereichen abhängig.16 Entscheidend ist jedoch, daß Art. 5 Abs. 3 GG die Organisation von Autonomie ermöglichenden Strukturen verlangt. Welche Folgen dies für die verfassungsrechtliche Zuordnung der Organisation industrieller Forschung und Entwicklung hat, wird im einzelnen zu zeigen sein.

I I . Industrieforschung als Referenzgebiet von Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen Forschungs- und Entwicklungsprozesse in der Industrie werden unter Einsatz einer Vielzahl von Wissenschaftlern und Ingenieuren17 im Rahmen komplexer Prozeßabläufe realisiert. Ihre Organisationsstruktur unterliegt hierbei keinen der Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen vergleichbaren externen Einflüssen und Ingerenzen. Organisationsmaximen sind vielmehr die intern definierten, an der ökonomischen Verwertbarkeit der wissenschaftlich-technischen Produkte ausgerichteten und in vielfältiger Weise zu verwirklichenden Unternehmensziele. Dementsprechend ist die Organisation industrieller Forschungs· und Entwicklungseinheiten in die Organisationsentscheidungen für das gesamte Unternehmen eingebunden. Industrieforschung als Segment des Lebensbereichs Wissenschaft ist deshalb nur sinnvoll zu analysieren, indem diese unmittelbare Eingebundenheit in das jeweilige Unternehmen zugrundegelegt wird.

16

L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie. Organisationsstrukturen und Entscheidungsprozesse betrieblicher Forschung und Entwicklung, 1982, S. 264; zur Finanzierung der Industrieforschung auch H. Majer, Industrieforschung in der Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 148 ff. 17 Die erste umfassende empirische Studie über personale Strukturen und organisational Innenstrukturen industrieller Forschungs- und Entwicklungseinheiten hat ergeben, daß rund 65% des wissenschaftlichen Personals eine Ingenieurqualifikation, etwa 35% eine andere naturwissenschaftliche Hochschulausbildung besitzen, T. J. Gerpott, Personale Strukturen und organisationale Innenstrukturen industrieller F&E-Einheiten, 1984, S. 34.

II. Industrieforschung als Referenzgebiet

323

Ist Wissenschaft an der Herstellung, Optimierung und ökonomischen Verwertung von Produkten ausgerichtet, dann stehen der wissenschaftlich-technische Fortschritt und der wirtschaftliche Wettbewerb, an dem sich die Unternehmensziele orientieren, in einem ambivalenten Verhältnis zueinander: Wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen determinieren Inhalt und Laufzeit von Forschungsprogrammen; freie, wissenschaftsimmanente Prioritätensetzung wird durch die ökonomische Ausrichtung industrieller Forschungsentscheidungen überlagert. 18 Die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sind im allgemeinen und zum weitaus größten Teil aus der Wertschöpfung der aktiven Unternehmungen heraus finanziert und auf die Konstruktion absetzbarer und gewinnbringender Produkte und Verfahren gerichtet.19 In der Regel sind Entscheidungen über Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in die verschiedenen Ebenen der Unternehmenshierarchie eingebunden; nachdem Geschäftsführung bzw. Vorstand das Forschungsprogramm genehmigt haben, muß der zuständige Ressortleiter, der aufgrund der erzielten Zwischenergebnisse weitere Entscheidungen ggf. in eigener Verantwortung fällt, die Unternehmensleitung über Fortgang und Abweichungen vom Forschungsziel informieren, damit dort ggf. entsprechend reagiert werden kann. Große Unternehmen haben deshalb ein eigenes Vorstandsressort, dessen Aufgabe in der Betreuung der Forschungsaktivitäten liegt.20 Diese organisatorische Einbindung in die gesamtunternehmerische Zielsetzung wirkt sich auch unmittelbar auf den Prozeß wissenschaftlich-technischer Erkenntnis aus. Grellert weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Wettbewerb und allgemeiner technischer Fortschritt dazu führen, daß oftmals Produkte mit zu geringer Ausreifungszeit auf den Markt kommen; häufig bleibt kaum Zeit, die Produkte vor der eigentlichen Markteinführung einem umfangreichen Belastungstest auszusetzen, weil zwischenzeitlich die weitere technische Entwicklung den Entwicklungsstand dieser Produkte überholt hat.21

18

L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 30, bezeichnen das "Wirtschaftlichkeitsprinzip" als "oberste Norm" der Industrieforschung; in diesem Sinne auch J. Pietzcker, Staatliche Förderung industrieller Forschung und Entwicklung öffentlichrechtlich betrachtet, ZHR 146 (1982), S. 404; zur betriebswirtschaftlichen Bedeutung der Forschung im allgemeinen auch V. Grellert, Industrielle Forschung, in: HdbWissR, Bd. 2,1982, S. 1241 f. 19 L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 31. 20 V. Grellert, Industrielle Forschung, a.a.O., S. 1239. 21 V. Grellert, Industrielle Forschung, a.a.O., S. 1241.

324

4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

1. Die Organisation wissenschaftsrelevanter Binnenstrukturen der industriellen Forschung und Entwicklung Aufgabe der Organisation wissenschaftsrelevanter Binnenstrukturen der industriellen Forschimg und Entwicklung ist es, die Verbindung zwischen wissenschaftlicher Innovation und marktwirtschaftlichen Zwängen herzustellen. Betriebswirtschaftliche Untersuchungen identifizieren dementsprechend im wesentlichen vier Ziele, an denen sich die Organisation der wissenschaftsrelevanten Binnenstrukturen orientieren soll. (1) Zum einen müssen die Forschungs· und Entwicklungsaktivitäten auf die Marktbedürfnisse und die Strategie des Unternehmens ausgerichtet sein; (2) der jeweilige Projekterfolg muß sichergestellt sein; (3) die Zusammenarbeit mit anderen relevanten Bereichen des Unternehmens, insbesondere mit Marketing und Produktion, muß möglichst möglichst frei von "Reibungsverlusten" funktionieren; (4) schließlich müssen die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten flexibel gestaltet werden, um auf aktuelle Anforderungen des Marktes reagieren zu können. Hiernach hat die Schaffung der organisatorischen Voraussetzungen zu berücksichtigen, ob die Wahl der Grundstruktur des Forschungs- und Entwicklungsbereichs, die Projektorganisation der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, das Verhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung der Forschungs- und Entwicklungskapazitäten und die Einbettung der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in den Strategieprozeß den konkreten Anforderungen des Unternehmens entspricht.22 Vor allem die Betriebswirtschaftswissenschaft und die Industriesoziologie haben anhand systematisch und empirisch gewonnener Erkenntnisse Typisierungen herausgearbeitet, die die Organisationsmöglichkeiten der wissenschaftsrelevanten Binnenstrukuren beschreiben.23 Den identifizierten Organisationsaufgaben und den Organisationszielen entsprechend werden von Kieser drei Möglichkeiten der Organisation einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung vorgeschlagen und auf ihre Tauglichkeit hin überprüft. Der Bereich Forschung und Entwicklung kann entweder (a) aufgrund der Unterscheidung zwischen

22 Zum Ganzen A. Kieser, Organisation der industriellen Forschung und Entwicklung, 1984 S. 53 ff.; W. Kern/H.-H. Schröder, Forschung und Entwicklung in der Unternehmung, 1977; dies., Organisation der Forschung und Entwicklung, 1980, S. 707 ff; E. Grochla, Betriebswirtschaftlich-organisatorische Voraussetzungen technologischer Innovationen, Zeitschr. f. betriebswirtschaftl. Forschung, Sonderheft 11, 1980, S. 30 ff. 23 Grundlegend hierzu L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982; A. Kieser, Organisation der industriellen Forschung und Entwicklung, 1984, S. 48 ff, S. 50 ff.

II. Industrieforschung als Referenzgebiet

325

technisch-wissenschaftlichen Disziplinen (ζ. B. Pharmakologie, Chemie, Mikrobiologie, Toxikologie, Endokrinologie), (b) nach den Phasen wissenschaftlicher Erkenntnisoperationen in Grundlagenforschung, angewandte Forschung und experimentelle Entwicklung oder (c) aufgrund der Unterscheidung von Produkten oder Produktgruppen (ζ. B. Elektrotechnik und Bauelemente, Meßtechnische Geräte, Steuerungs- und Regelungssysteme, Weitverkehrstechnik, Funk-, Phono- und Fernsehtechnik, Fernsprech- und Fernschreibtechnik, Datenverarbeitung) organisiert werden.24 Welches dieser Gliederungsmodelle zur Binnenstrukturierung industrieller Forschung und Entwicklung vorrangig zur Anwendung kommt, wird in der betriebswirtschaftlichen Literatur unterschiedlich beurteilt undrichtetsich nach der jeweiligen Gewichtung.25 In dem im Rahmen dieser Untersuchung interessierenden Zusammenhang ist die Organisation der wissenschaftsrelevanten Binnenstrukturen auf die jeweils vorherrschenden Bedingungen von Autonomie zu überprüfen, die nach dem hier vertretenen methodischen Ansatz die Parameter für die grundrechtliche Zuordnung des Lebensbereichs Wissenschaft bilden. Demnach ist zu entscheiden, in welchem Ausmaß Binnenstrukturen autonomes wissenschaftliches Handeln, d. h. die freie Entfaltung der Eigengesetzlichkeiten der Wissenserzeugung, einbeziehen und zulassen. a) Die Organisation des Forschungs- und Entwicklungsbereichs nach technisch-wissenschaftlichen

Disziplinen

Die Organisation nach technisch-wissenschaftlichen Disziplinen ist im Hinblick auf die innere Strukturierung am ehesten der universitären Forschung vergleichbar. 26 Sie eignet sich deshalb auch vorrangig für Produkte mit langfristigen und stabilen Nachfrageverläufen auf hohem wissenschaftlichem Standard. Eine Gliederung nach technisch-wissenschaftlichen Disziplinen kann Spezialisierungsvorteile ausnutzen, indem die Konzentration von Fachwissen organisatorisch forciert wird; zudem werden, weil die Wissenschaftler den gleichen fachlichen Hintergrund haben, günstige Sozialisierungsbedingungen und stabile soziale Beziehungen als Vorteil gesehen.27

24

A. Kieser, Organisation der industriellen Forschung und Entwicklung, 1984, S. 54. Nachw. bei T. J. Gerpott, Personale Strukturen und organisationale Innenstrukturen industrieller F&E-Einheiten, 1984, S. 37 f. mit dem Hinweis auf (bisher) fehlende empirische Grundlagen. 26 S. oben, 3. Kap., S. 263. 27 A. Kieser, Organisation der industriellen Forschung und Entwicklung, 1984, S. 55. 25

326

4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

Die qualitative Studie von Zündorf und Grünt, die die nähere Untersuchung von vier ausgewählten industriellen Forschungsbereichen anhand der betriebswirtschaftlichen Organisationsstruktur und Interviews mit den dort beschäftigten Forschern zum Gegenstand hatte,28 bestätigt diese These. Der Forschungsbereich erfüllt in diesem Gliederungsmodell Dienstleistungen für den Produktionsbereich, der auf das Grundlagenwissen als Basis seiner Entwicklungstätigkeit angewiesen ist. Die Forschungsabteilung besitzt so eine "beträchtliche Autonomie".29 Trotz des nicht spannungsfreien Verhältnisses zwischen Forschung und Produktion kommt diese Eigenständigkeit auch organisatorisch zum Ausdruck, indem der Forschungsbereich distanziert von der Produktion selbständig eingerichtet, dem Konzernvorstand direkt unterstellt und innerhalb des Vorstands als eigenes Ressort vertreten ist. Obwohl in der zentralen Finanzierung des Forschungs- und Entwicklungsbereichs ein weiteres wichtiges Instrument zur Sicherung der Unabhängigkeit von kurzfristiger Gewinnorientierung gesehen wird, dürfen diese Gesichtspunkte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Forschung auch in diesem Gliederungsmodell nicht unmittelbar produktiv ist, sich also nicht selbst finanzieren kann und damit zumindest indirekt - auf die Finanzierung durch den Produktionsbereich angewiesen ist und ständig in Gefahr gerät, von dessen Interessen vereinnahmt zu werden.30 Innerhalb dieser Rahmenbedingungen wird der Kontakt zur scientific community als sehr eng und sehr wichtig beschrieben. Neben der Teilnahme an Fachtagungen und der Veröffentlichung von Fachzeitschriften bestehen intensive Kommunikationsbeziehungen zu den Forschungseinrichtungen der Universitäten, Fachhochschulen und technischen Akademien. Die inhaltliche Ausrichtung der unternehmensexternen Kontakte orientiert sich demnach zumeist an den für die einzelnen Projekte maßgeblichen technisch-wissenschaftlichen Disziplinen. Aus ihnen ergeben sich nicht nur Anregungen für neue Projekte, sondern auch Möglichkeiten zur Rekrutierung neuer Mitarbeiter und - entgegengesetzt - zur Übernahme von Lehraufträgen durch die Industrieforscher und ggf. die Promotion oder Habilitation als Erwerb akademischer Qualifikationen.31

28

L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982. Die Organisation des Forschungsbereichs der "Labor-GmbH" ist durch die Erarbeitung von Grundlagenwissen ohne direkte Produktorientierung gekennzeichnet, a.a.O., S. 45, 51 ff. 29 L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 54. 30 L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 55. 31 L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 76 f. Die empirische Studie der Forschungsgruppe Hamburg bestätigt dies insofern, als in einer disziplinar organisierten Binnenstruktur im Vergleich zu den anderen Gliederungsmodellen nicht

II. Industrieforschung als Referenzgebiet

327

Die Entfaltung wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeiten durch und die enge Bindung der Wissenschaftler an die Standards der scientific community werden unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten gleichwohl als Nachteil gesehen: "Die Forscher orientieren sich eher an professionellen Normen der jeweiligen Fachgebiete als an den Unternehmenszielen".32 b) Die Organisation des Forschungs- und Entwicklungsbereichs wissenschaftlich-technischer

nach Phasen

Erkenntnisoperationen

Die Organisation nach den Phasen wissenschaftlich-technischer Erkenntnisoperationen (Grundlagenforschung, angewandte Forschung, experimentelle Entwicklung)33 eignet sich ebenfalls für langfristige Produktionsprogramme in den Bereichen hohen wissenschaftlichen Standards, weil hier eine stärkere Ausdifferenzierung der Erkenntnisprozesse erforderlich ist.34 Die von Zündorf und Grünt untersuchte "Faser-AG" entspricht diesem Organisationsmodell, indem dort zwischen Forschungsabteilung und Entwicklungsinstitut unterschieden wird, wobei letzteres im Mittelpunkt der betrieblichen Organisation steht und sich insofern von der Gliederung nach wissen-

nur (erwartungsgemäß) Wissenschaftler aus einer größeren Anzahl von Fachrichtungen beschäftigt sind, sondern diese eine größere Qualifikationstiefe und -komplexität besitzen und relativ häufiger promoviert sind, T. J. Gerpott, Personale Strukturen und organisationale Innenstrukturen industrieller F&E-Einheiten, 1984, S. 41. 32 A. Kieser, Organisation der industriellen Forschung und Entwicklung, 1984, S. 55. 33 Das Frascati-Handbuch (Stifterverband Deutsche Wissenschaft [Hrsg.], Allgemeine Richtlinien für statistische Übersichten in Forschung und experimenteller Entwicklung, Frascati-Handbuch II, Arbeitsschrift des Stifterverbandes C, Essen, 1971, S. 11, hierzu oben Fn. 2) definiert Grundlagenforschung, angewandte Forschung und experimentelle Entwicklung folgendermaßen: "Grundlagenforschung sind alle Forschungsarbeiten, die ausschließlich auf die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse gerichtet sind, ohne überwiegend an dem Ziel einer praktischen Anwendbarkeit orientiert zu sein. Angewandte Forschung umfaßt ebenfalls alle Anstrengungen, die ausschließlich auf die Gewinnung neuer wissenschaftlicher oder technischer Erkenntnisse gerichtet sind. Sie bezieht sich jedoch vornehmlich auf eine spezifische praktische Zielsetzung oder Anwendung. Experimentelle Entwicklung ist die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse, um zu neuen oder wesentlich verbesserten Materialien, Geräten, Produkten, Verfahren, Systemen oder Dienstleistungen zu gelangen." Auch die Formulierung in § 51 Abs. 1 Nr. 2 u) Satz 4 Einkommensteuergesetz entspricht der Begriffsbestimmung des Frascati-Handbuchs : "Die Wirtschaftsgüter dienen der Forschung und Entwicklung, wenn sie verwendet werden aa) zur Gewinnung von neuen wissenschaftlichen Kenntnissen und Erfahrungen allgemeiner Art (Grundlagenforschung oder bb) zur Neuentwicklung von Erzeugnissen oder Herstellungsverfahren oder cc) zur Weiterentwicklung von Erzeugnissen oder Herstellungsverfahren, soweit wesentliche Änderungen dieser Erzeugnisse oder Verfahren entwickelt werden." 34 A. Kieser, Organisation der industriellen Forschung und Entwicklung, 1984, S. 55.

328

4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

schaftlich-technischen Disziplinen unterscheidet.35 Aus den gewonnenen empirischen Erkenntnissen läßt sich als verallgemeinerungsfähige These folgern, daß die Gliederung industrieller Forschung und Entwicklung nach Phasen die aus der akademischen Wissenschaft bekannte Abfolge wissenschaftlich-technischer Erkenntnisoperationen von der Grundlagenforschung über die angewandte Forschung zur experimentellen Entwicklung nur bedingt verwirklicht. Es gibt zwar auch hier einen Bereich der "freien Forschung", in dem Projekte unterschiedlicher Größe bearbeitet werden, die sich entweder mit Fragen von wissenschaftlichem Interesse oder mit solchen Produkten oder Prozessen befassen, die gegenwärtig noch keine Marktchancen haben, am Beispiel der Faser-AG also die gezielte Suche nach Fasertypen mit bisher noch nicht vorhandenen Eigenschaften. Der innovative "output" dieses Bereichs wird jedoch als relativ gering eingeschätzt.36 Stattdessen konzentriert sich auch der Forschungsbereich darauf, die Entwicklung und Produktion bekannter Fasertypen zu analysieren und aus nicht vorhergesehenen Reaktionsverläufen oder der fehlerhaften Bearbeitung einer Faser auf neue und interessante Kombinationen von Eigenschaften zu schließen.37 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß eine vor allem in betriebswirtschaftlicher Hinsicht besonders erfolgreiche Innovation des Unternehmens die Entdeckung einer bereits seit Jahrzehnten bekannten und wegen Erfolglosigkeit vom Markt genommenen Faser in einem ganz neuen Verwendungszusammenhang gewesen ist; die Entdeckung dieser Verwendungsmöglichkeit ist Ergebnis eigener Forschung.38 Die Bindungen zur scientific community sind in diesen Strukturen spürbar weniger stark ausgeprägt als bei der Gliederung des Forschungs- und Entwicklungsbereichs nach technisch-wissenschaftlichen Disziplinen. Zudem ist, worauf Majer hinweist, im Bereich der Chemie das Verhältnis zwischen industrieller Forschung und akademischer Wissenschaft weniger stark an den Standards der scientific community orientiert: Wichtiger als etwa Veröffentlichungen in Fachzeitschriften ist der persönliche Kontakt, der zu einem wechselseitigen Austausch von Mitarbeitern, einer Beratertätigkeit der Hochschulwissen-

35

L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 91, 93 u. vor allem Schaubild S. 94: In dem Entwicklungsinstitut mit den Aufgaben Entwicklung u. Anwendungstechnik "laufen" die Bereiche Forschung, Produktion, Marketing/V erkauf zusammen. 36 L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 109,117. 37 L. Zündorf/M. Grünt, a.a.O., S. 116 f. 38 L. Zündorf/M. Grünt, a.a.O., S. 117.

II. Industrieforschung als Referenzgebiet

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schaftler oder der Wahrnehmung von Lehraufträgen durch die Industriewissenschaftler fuhrt. 39 Als tendenzielle Nachteile dieses Modells einer betrieblichen Organisation wird deshalb nicht etwa eine zu starke Orientierung der Forscher an den professionellen Normen ihres jeweiligen Fachgebietes befürchtet, sondern Verselbständigungstendenzen innerhalb der einzelnen Phasen, die zu Kommunikationsproblemen innerhalb des Forschungs- und Entwicklungsbereichs führen können; "die Forscher orientieren sich eher an der Lösung der spezifischen Forschungsprobleme ihres Bereichs und nicht an den Unternehmenszielen".40 Auch aus diesem Grund wird die von Zündorf und Grünt untersuchte Faser-AG eine entwicklungszentrierte Binnenstruktur aufgebaut haben, um so die Entscheidungsabläufe dort zu koordinieren. c) Die Organisation des Forschungs- und Entwicklungsbereichs nach Produkten bzw. Produktgruppen Die Organisation nach Produktgruppen setzt ein heterogenes Produktionsprogramm und eine Unternehmensstrategie voraus, dessen Schwerpunkt auf einer marktnahen und deshalb tendenziell flexiblen Produktentwicklung liegt. Die Vorteile dieser Gliederungsform liegen dementsprechend in einer verhältnismäßig engen Orientierung an den Markterfordernissen und günstigen Kommunikationsbedingungen zwischen dem Forschungs- und Entwicklungsbereich und den jeweiligen Marketingbereichen. Als Nachteile werden die Vernachlässigung neuer, langfristiger Projekte und der Verlust von Spezialisierungsvorteilen gesehen, weil bestimmtes Fachwissen auf die unterschiedlichen Produktgruppen verteilt ist. Die jüngste und - soweit ersichtlich - bisher umfassendste empirische Bestandsaufnahme der personellen Strukturen und organisatorischen Binnenstrukturen industrieller Forschungs- und Entwicklungseinheiten durch die Forschungsgruppe Hamburg aus 1981/82 hat ergeben, daß der Gliederung nach Produkten und Produktgruppen in der industriellen Forschung "herausragende Bedeutung zukommt."41 Dieser quantitative Gesichtspunkt wirkt sich auch auf 39 H. Majer, Industrieforschung in der Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 87. Insofern erweist sich der im ersten Kapitel (s. S. 88 ff.) näher begründete Befund, daß die Chemie als akademische Wissenschaft bereits in ihrer Entstehung stärker von den Möglichkeiten ökonomischer Verwertung als von den überkommenen Standards der scientific community geprägt war, als kontinuierlich. 40 A. Kieser, Organisation der industriellen Forschung und Entwicklung, 1984, S. 55. 41 T. J. Gerpott, Personale Strukturen und organisationale Innenstrukturen industrieller F&E-Einheiten, 1984, S. 39. So auch schon K. Brockhoff, 1974, S. 1538: Eine

330

4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

die autonomen Bedingungen wissenschaftlicher Forschung aus; so stützt die Fallstudie von Zündorf und Grünt die These, daß die Distanz zwischen scientific community und Industrie desto größer ist, je produktorientierter und marktnäher der Forschungs- und Entwicklungsbereich organisiert ist.42 Die Organisation nach Produktgruppen läßt die These zu, daß sich auch Forschung und Entwicklung stark an bereits vom Unternehmen betriebenen Produktlinien orientieren. 43 Durch die so erfolgende, unmittelbare Einbindung in die Unternehmensstrategie sind die Innovationsprozesse in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen noch weniger offen gestaltet als in den bisher dargestellten Gliederungsmodellen. Die Kontakte zu den Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen innerhalb staatlicher Bindungen werden deshalb auch weniger gepflegt, um über wissenschaftlich-technische Problemlösungen zu diskutieren, sondern vielmehr aus Gründen der Rekrutierung qualifizierter Mitarbeiter und der Imagepflege. Die in den anderen Forschungsgliederungen stärker nachweisbare Einbindung in die Kommunikationsformen der scientific community, also vor allem die Teilnahme an Fachtagungen und das Publizieren in Fachzeitschriften, kommt in diesem Bereich nicht zur Geltung. Ein Grund hierfür wird auch darin gesehen, daß die Notwendigkeit der Geheimhaltung wegen des starken Konkurrenzdrucks und der geringen wissenschaftlich-tech-

Gliederung nach Projekten (gemeint ist eine den Produkten und Produktgruppen entsprechende, objektzentralisierende Gliederung) ist "von hervorragender praktischer Bedeutung". Anders, jedoch ohne empirischen Hintergrund H. F. Kolodny, Organisationsformen und erfolgreiche Produktinnovationen: der spezielle Beitrag der MatrixOrganisation, Die Betriebswirtschaft 45 (1983), S. 448, der überwiegend eine Arbeitsteilung nach Fachwissen und -ausbildung, also nach technisch-wissenschaftlichen Disziplinen annimmt bzw. W. Kern/H.-H. Schröder, Forschung und Entwicklung in der Unternehmung, 1977, S. 321, die in der Phasengliederung das dominierende Zuordnungskriterium sehen. 42 L. Zündorf/W. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 153, 172, 238 f. Das Fallbeispiel "Motoren-AG", dessen Forschungs- und Entwicklungsbereich weniger produktnah und marktorientiert ist als die "Maschinen-AG" weist 10% des Forschungsbudgets für "freie Entwicklung über Zukunftstechnologien" aus; zudem kommt eine gewisse Anbindung der Wissenschaftler an die scientific community zum Ausdruck, indem diese "halblegal" und aus eigenem Antrieb projektungebunden forschen ("das soll nicht sein, kommt aber vor"), die Forschungsergebnisse von den Unternehmen im Erfolgsfalle jedoch genutzt werden (S. 172). Weder der eine noch der andere Gesichtspunkt kommt im Falle der sehr eindeutig marktnah und produktorientierten Forschungsorganisation der "Motoren-AG" zum Tragen. 43 Vgl. T. J. Gerpott, Personale Strukturen und organisational Innenstrukturen industrieller F&E-Einheiten, 1984, S. 39; vgl. hierzu auch O. H. Poensgen/H. Hort, F & EAufwand, Firmensituation und Firmenerfolg, Zeitschr. f. betriebswirtsch. Forschung 35 (1983), S. 82 f.

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nischen Entwicklungsabstände auf dem Markt eine besonders große Rolle spielt.44 2. Folgerungen für die Bedingungen autonomer Wissenschaft Wissenschaftliches Handeln in der Industrie ist an der Herstellung, Optimierung und ökonomischen Verwertung von Produkten orientiert. Auch die Organisation der wissenschaftsrelevanten Binnenstrukturen der industriellen Forschung und Entwicklung folgt diesen Gesetzmäßigkeiten, die sich von den wissenschaftsimmanenten Gesetzmäßigkeiten strukturell unterscheiden und diese überlagern. 45 Indem sich industrielle Forschung auf wissenschaftlichtechnisches Neuland begibt, folgt hieraus zunächst für das produzierende Unternehmen ein, gemessen an der Umsetzung erprobter wissenschaftlichtechnischer Erkenntnisse, verhältnismäßig großes Anwendungsrisiko. Die Darstellung der betriebswirtschaftlichen Organisationsmodelle industrieller Forschung und Entwicklung hat ergeben, daß die Unterscheidung zwischen Forschung und Entwicklung einerseits und industrieller Anwendung und Nutzung andererseits aus ökonomischer Sicht nur von randständiger Bedeutung ist; auch an die Forschungsabteilungen wird der Anspruch gerichtet, das wirtschaftliche Risiko eines neuen Produktes einzuschätzen und so gering wie möglich zu halten.46 Deshalb ist die erfolgreiche Organisation und Nutzung personeller Forschungs- und Entwicklungsressourcen ebenso in die an ökonomischem Erfolg orientierte Unternehmensstrategie eingebunden wie ein erfolgreiches Marketing oder eine erfolgreiche Produktion. Auch oder vor allem in der Industrieforschung ist Wissenschaft deshalb nicht als Selbstzweck oder als von der Unternehmensstrategie isolierbarer Lebensbereich konstruierbar. 47 Teil dieser Unternehmensstrategie kann es sein, die Organisation des Forschungs- und Entwicklungsbereichs den Standards der scientific community anzugleichen. Freie wissenschaftliche Methodenwahl, das Einräumen kreativer Freiräume, die Organisation von Arbeitszusammenhängen, die den Eigengesetzlichkeiten wissenschaftlichen Handelns folgen können, kann auch innerhalb 44

L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 239. In diesem Sinne auch H.-H. Trute, Forschung, S. 106: "Hier ist die Eigengesetzlichkeit marktvermittelter Operationen an die Stelle der Eigengesetzlichkeit der Wissenserzeugung getreten"; vgl. auch C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 144, der Industrieforschung treffend als "integralen Bestandteil der Unternehmenstätigkeit" bezeichnet. 46 Vgl. hierzu auch L. Zündorf/M. Grünt, Innovation in der Industrie, 1982, S. 82. 47 So aber U. Karpen, Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverwertung, 1990, S. 71 ff. 45

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4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

eines marktwirtschaftlich ausgerichteten Wissenschaftstyps sinnvoll sein. Die empirischen Untersuchungen zu den Gliederungsmodellen zeigen, daß Autonomie in dieser Organisationsform eine, wenn auch in quantitativer Hinsicht nachgeordnete, Facette wissenschaftsrelevanter Binnenstrukturen bildet. Die Entscheidung zwischen autonomen und heteronomen Bedingungen von Freiheit kann nicht einseitig erfolgen, sondern die Übergänge können fließend verlaufen und eine Grenzziehung deshalb nur schwer möglich sein. Insofern sind auch die hier zugrunde gelegten Gliederungsmodelle idealtypisch und können eine gewisse Unschärfe an den "Rändern" aufweisen. Als verallgemeinerungsfähiges Charakteristikum ist jedoch festzustellen, daß sich die Bewertung der organisatorischen Binnenstrukturen industrieller Forschung sowohl durch die Unternehmensleitung als auch durch die beschäftigten Wissenschaftler an den Standards der scientific community orientiert, die entscheidend durch die akademische Wissenschaft geprägt sind. Nähe bzw. Distanz zur scientific community ist ein wesentlicher Indikator fur die Organisation des Forschungs- und Entwicklungsbereichs. Dies ändert jedoch nichts daran, daß die konkrete Entscheidung von betriebswirtschaftlichen Kriterien motiviert ist. Vor allem die Gliederungsmodelle, die eine Organisation tendenziell autonomer Forschung favorisieren, vergegenwärtigen deshalb, daß sich die Wissenschaftler eher an den Standards "ihrer" scientific community orientieren als an den Zielen des Unternehmens und reagieren mit entsprechenden organisatorischen Gegenmaßnahmen. Jedes Organisationsmodell hat tendenzielle Vorteile und Nachteile und die Entscheidimg für eines der Modelle hängt von den Voraussetzungen ab, die von den Marktbedürfnissen und der Strategie des Unternehmens bestimmt sind. Insofern gibt es keine ökonomisch ideale, d. h. unter allen Bedingungen vorteilhafte Gliederung des Forschungs- und Entwicklungsbereichs, denn die Vorund Nachteile müssen im Hinblick auf die spezifischen Bedingungen des Unternehmens gewichtet und den gemachten Erfahrungen angepaßt werden. Das marktwirtschaftliche Risiko spiegelt so auch ein organisatorisches Risiko wider: In den verschiedenen Branchen der Industrieforschung haben sich "bewährte" Lösungen herausgebildet; wenn sich das einzelne Unternehmen an diesen orientiert, vermindert es das organisatorische Risiko, aber auch die Chance, durch eine besonders effiziente Gliederung, die von der Lösung der anderen Marktbewerber abweicht, einen Konkurrenzvorteil zu erzielen.48

48 A. Kieser, Organisation der industriellen Forschung und Entwicklung, 1984, S. 53. Vgl. hierzu bereits Ch. Freeman, The Economics of Industrial Innovation, 1974, S. 255 ff., der zwischen offensiven, defensiven, imitativen, traditionellen und opportunistischen Forschungsstrategien von Unternehmen unterscheidet.

III. Grundrechtsschutz fiir die Industrieforschung

333

In diese Strategieentscheidungen ist die Organisation des Forschungs- und Entwicklungsbereichs im Hinblick auf die dort geschaffenen Bedingungen von Autonomie eingebunden. Auch sie unterliegt deshalb den marktwirtschaftlichen Risikoentscheidungen der Unternehmensplanung. Die Organisation von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen unter diesen Bedingungen ist folgerichtig Gegenstand wirtschaftswissenschaftlicher Überlegungen. Industriewissenschaft als ein Segment des Lebensbereichs Wissenschaft ist nur dann vollständig erfaßt, wenn berücksichtigt wird, daß die Gesetzmäßigkeiten der ökonomischen Verwertbarkeit erzeugten Wissens auch die wissenschaftsrelevanten Binnenstrukturen dominieren. Autonome Wissenschaftsstrukturen werden im Bereich der Industrieforschung dort eingesetzt, wo die Nähe zur scientific community eher ökonomisch verwertbare Erfolge verspricht als die in der Regel vorzufindende Distanz. Auch in dieser Konstellation wird die zu enge Orientierung der beschäftigten Wissenschaftler an autonomen Wissenschaftsstrukturen jedoch als potentielle Gefährdung der unternehmerischen Interessen angesehen.

Ι Π . Grundrechtsschutz für die Industrieforschung Industrieforschung kann nicht Bestandteil des Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht sein. Die Freiheit industrieller Forschung ist eine wirtschaftliche Freiheit und zwar nicht nur im Hinblick auf die Möglichkeiten ökonomischer Verwertbarkeit, sondern auch im Hinblick auf den Prozeß wissenschaftlich-technischer Erkenntnisgewinnung. Die Annahme, der Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG sei auf den gesamten Lebensbereich Wissenschaft zu erstrecken, führt für die Industrieforschung dazu, daß sich diese in einem für sie inadäquaten Kontext grundrechtlicher Freiheitsentfaltung wiederfindet. Bedingungen von autonomer Wissenschaft, die es in und durch Art. 5 Abs. 3 GG zu entfalten und zu schützen gilt, unterliegen hier der Disposition durch die ökonomische Ausrichtung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse. Insofern entspricht dies dem Ergebnis zu den Wissenschaftseinrichtungen innerhalb staatlicher Bindungen, die von der Gewährleistung durch Art. 5 Abs. 3 GG ebenfalls nicht erfaßt werden.49 Auch für die Industrieforschung gilt deshalb, daß auch die Freiheit, Wissenschaft jenseits der kognitiven und sozialen Normen autonomer Wissenschaft zu organisieren, Anspruch auf Grundrechtsschutz hat. Dies ist schon deshalb erforderlich, damit für die Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft, denen an der Verwirklichung auto49

S. oben, S. 306 ff.

334

4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

nomer Wissenschaftsstrukturen nicht gelegen ist, die diese ganz im Gegenteil als für ihre Aufgabenstellung kontraproduktiv begreifen, ein ihren Vorstellungen von Freiheit adäquater Grundrechtsschutz zu eröffnen ist.50 Industrieforschung verwirklicht sich innerhalb der Organisationsstrukturen und -maximen des jeweiligen Unternehmens. Grundrechtliche Freiheiten und sich hieraus ggf. ergebende Binnenkonflikte zwischen den beteiligten Grundrechtsträgern dem Unternehmen als Arbeitgeber und dem Wissenschaftler als Arbeitnehmer lassen sich deshalb nur dieser hierarchischen Struktur entsprechend benennen. Daß sich Art. 5 Abs. 3 GG außerhalb staatlicher Bindungen nicht als Organisationsgrundrecht entfalten kann, beläßt immerhin die Möglichkeit eines abwehrrechtlichen Verständnisses, das die im zweiten Kapitel offengelegten Inkonsistenzen auszuräumen versucht, die im wesentlichen einer zu starken Konzentration der Diskussion um Art. 5 Abs. 3 GG auf den Bereich universitärer Wissenschaft geschuldet sind.51 Deshalb sollen im folgenden die neueren Ansätze einer abwehrrechtlichen Konzeption für Art. 5 Abs. 3 GG zumindest berücksichtigt werden. 1. Kein Schutz der Industrieforschung durch Art. 5 Abs. 3 GG als Abwehrrecht Die vorrangig abwehrrechtliche Konzeption von Art. 5 Abs. 3 GG gelangt in neueren, den Bereich der Industrieforschung eingehender analysierenden Untersuchungen zu einer im Vergleich zur Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen beschränkenden Normbereichsinterpretation. Diese beschränkende Auslegung bezieht sich vor allem auf die Freiheit des einzelnen Forschers als 50 Wenn dies berücksichtigt wird, dann ist es unverständlich, aber Konsequenz der herrschenden Lehre, wie U. Karpen, Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverwertung, 1990, S. 77, annehmen kann, die Wissenschaftsfreiheitsgarantie sei "in erster Linie ein Individualrecht, und zwar ein Jedermannsgrundrecht. Auf die Wissenschaftsfreiheit kann sich jeder berufen, der wissenschaftlich tätig ist. Sie hat besondere Bedeutung für Hochschullehrer, weil diesen Forschung und Lehre als Dienstaufgabe zugewiesen sind. Artikel 5 Absatz 3 GG ist aber auch eine das Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und Lehre zum Staat und - mittelbar - zur Wirtschaft regelnde wertentscheidende Grundsatznorm, eine institutionelle Garantie des Sachbereichs Wissenschaft. Sie schützt dessen Unabhängigkeit von gesellschaftlichen, auch wirtschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen." (Hervorh. i. Orig.) Indem dieses dogmengeschichtliche Potpourri auf den Bereich der Industrieforschung übertragen und angewandt und diesem so Wissenschaft in einer bestimmten Form, zu bestimmten Zielen und unter bestimmten Bedingungen vorgeschrieben wird, liegt hierin ein massiver Verstoß gegen fundamentale Selbstbestimmungsrechte, vor denen die Grundrechte gerade schützen sollen. 51 S. hierzu oben, S. 137 ff., 176 f.

III. Grundrechtsschutz für die Industrieforschung

335

Arbeitnehmer. Der Grund hierfür wird in einer nur beschränkten Entscheidungsfreiheit aufgrund der Einbindung in die Organisationsstruktur des Industrieunternehmens gesehen.52 Zutreffend ist hieran hervorgehoben, daß die Organisation von Wissenschaft in Industrieunternehmen nicht auf die Entfaltung individueller Wissenschaftsfreiheit des einzelnen Forschers ausgerichtet ist. Die abwehrrechtliche Konzeption von Art. 5 Abs. 3 GG konzentriert sich demnach auf die Frage, wie das Unternehmen in seiner Gesamtheit den Anspruch auf Freiheit von staatlicher Ingerenz verwirklichen kann. Die Entwicklung der Wissenschaftfreiheitsgarantie in Art. 5 Abs. 3 GG zwischen staatlicher Ingerenz, den Rechten der privaten Einrichtung und des einzelnen Wissenschaftlers ist wesentliches Thema der Untersuchung von Classen. Nach eingehender Begründung dieses Problembereichs kommt er zu dem Ergebnis, daß private Einrichtungen als solche - Forschungslabors in der Industrie und private Forschungsforderungseinrichtungen 53 - in ihrer Tätigkeit durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt und damit in der Ausgestaltung ihrer Wissenschaftspolitik frei sind. Dem einzelnen Wissenschaftler, der an einer solchen Einrichtung tätig ist bzw. von ihr gefördert wird, kommt nur ein eingeschränkter Freiraum zu. Diese Einschränkungen werden dann anhand der für den wissenschaftsrelevanten Bereich problematischen Fragen, der Auswahl der Forschungsprojekte, der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen sowie der Personalentscheidungen konkretisiert. 54 Die letztlich nur sehr schwach ausgeprägte Rechtsstellung des einzelnen Wissenschaftlers in privaten Wissenschaftseinrichtungen ist im Ergebnis insofern zutreffend, als sie auch durch andere Grundrechte nicht zu stärken wäre. Classen zeigt deutlich und zu recht, daß das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als subjektives Abwehrrecht "jedermanns" nur mit beträchtlichen Einschränkungen bereits auf der Normbereichsebene aufrecht zu erhalten ist. Hiermit erfolgt eine faktische Annäherung an die zutreffende Ansicht, nach der dieser Wissenschaftsbereich überhaupt nicht von Art. 5 Abs. 3 GG erfaßt ist und es erweist sich einmal mehr, daß Grundrechtsinterpretationen, die von der Prämisse individueller Beliebigkeit55 ausgehen, letztlich weniger halten als 52 So geht etwa T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 355, davon aus, daß der einzelne Wissenschaftler, der sich durch vertragliche Abreden seiner Unabhängigkeit begibt, den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 GG verlasse. 53 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 33 ff. 54 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 156 ff., 183 ff. u. Zusammenfassung, S. 360 f. So bereits V. Grellert, Industrielle Forschung, in: HdbWissR, Bd. 2, 1982, S. 1246. 55 W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, in: Eser/Schumann, Forschung im Konflikt mit Recht und Ethik, 1976, S. (77 ff.) 84; F. Ossenbühl, Die Interpretation der

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4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

sie zu versprechen scheinen. Für die Zuordnung grundrechtlicher Freiheit ist jedoch entscheidend, daß die Beschränkungen auf der Normbereichsebene dazu fuhren, daß die Rechte des einzelnen Wissenschaftlers stark relativiert, die der Industrieunternehmen jedoch als dann eigentlichen Trägern der Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG erhalten bleiben.56 2. Kein Grundrechtsschutz für Industrieunternehmen aus Art. 5 Abs. 3 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 G G Der Grundrechtsschutz für Industrieunternehmen als juristische Personen könnte sich nur aus Art. 5 Abs. 3 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG ergeben. Gemäß Art. 19 Abs. 3 GG gelten Grundrechte auch für inländische juristische Personen, "soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind." Trotz unterschiedlicher Auffassungen im einzelnen57 kann als gesichert angesehen werden, daß Art. 19 Abs. 3 GG den juristischen Personen einen eigenständigen Grundrechtsschutz eröffnet. 58 Dies gilt auch für die hier einschlägige Fallkonstellation, in der die juristische Person die grundrechtlich geschützte Freiheit durch hinter ihr stehende natürliche Personen wahrnehmen läßt.59 Zu klären ist demnach das Verhältnis zwischen den Freiheiten der juristischen und der natürlichen Person. Angesichts der Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten, wie sie jüngst von Classen vorgenommen wurde, ist demnach entscheidend, ob sich durch Zuweisung von Grundrechtsschutz an die juristische Person die fehlende Freiheit beim Einzelnen ersetzen läßt. Für die hier vorliegende Konstellation muß als Maxime gelten, daß die Anwendung eines Grundrechts auf eine juristische Person jedoch nur dann ge-

Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1976, S. 2104; E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, 50. DJT, 1974, S. G (1 ff.) 26; T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 153; vgl. hierzu auch oben, 2. Kap., S. 178 ff. 56 Diese Konsequenz zeichnet sich auch deutlich ab bei V. Grellert, Industrielle Forschung, in: HdbWissR, Bd. 2, 1982, S. 1246. 57 Vgl. hierzu mit umf. Nachw. K. Stern, Staatsrecht III/l, 1988, S. 1116 ff. 58 H. H. Trute, Forschung, S. 362; C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 116. 59 Treffend die Formulierung von C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, wonach das Industrieunternehmen Forschung "machen" läßt, S. 143, Anführungszeichen auch dort; in diesem Sinne auch T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 315 f.; kritisch zu diesem Individualbezug H.-H. Trute, Forschung, S. 359 f. Trutes Kritik ist berechtigt, soweit sich auf den "Durchblick" als Maßstab beschränkt und nicht die Möglichkeit eröffnet wird, in hochkomplexen Organisationsformen den Kontext wissenschaftlicher Prozesse grundrechtlich zu erfassen, obwohl sich dieser individualgrundrechtlich nicht konstituieren läßt; hierzu sogleich.

III. Grundrechtsschutz für die Industrieforschung

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rechtfertigt ist, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der hinter ihr stehenden natürlichen Person ist.60 Hieraus folgt, daß durch die Organisation von Wissenschaft in juristischen Personen der Schutz durch Art. 5 Abs. 3 GG nur dann realisierbar ist, wenn hierdurch Voraussetzungen geschaffen werden, die die Normbereichsanforderungen an die hinter ihr stehenden natürlichen Personen vermitteln. Dann sind jedoch Freiheitsbeeinträchtigungen i. S. eines nur sehr eingeschränkten Schutzes durch Art. 5 Abs. 3 GG nicht hinnehmbar.61 Die Subsumtion wäre zumindest in sich schlüssig, wenn festgestellt werden könnte, daß innerhalb der Wissenschaftseinrichtung Bedingungen von Freiheit verwirklicht werden, die den Anforderungen an Art. 5 Abs. 3 GG genügen.62 Dies ist jedoch, wie oben gezeigt, nicht nachweisbar; somit kann es nicht genügen, daß sich im Ergebnis lediglich ein Mindestmaß an "innerer" Freiheit beim einzelnen Forscher verwirklicht. 63 Die Eigenständigkeit des Grundrechtsschutzes für juristische Personen ist hierdurch freilich nicht relativiert. Die Wissenschaftsfreiheit gehört vielmehr zu den Grundrechten, denen eine unmittelbare Beziehung zwischen natürlicher und juristischer Person eigen ist; deshalb bietet sie ein Beispiel dafür, daß sich über diese enge Verknüpfung zwischen juristischer und natürlicher Person hinaus Freiheitsentfaltungen durch Art. 19 Abs. 3 GG eröffnen; gerade in hochkomplexen Organisationsformen ist es erforderlich, den Kontext wissenschaftlicher Prozesse grundrechtlich zu erfassen, obwohl sich dieser individualgrundrechtlich nicht konstituieren läßt.64 Dies kann jedoch nicht dazu führen, daß fehlende Freiheit der natürlichen Person, die auf die Ingerenz der juristischen Person zurückzuführen ist, durch eine entsprechende Zuschreibung von Freiheit für die juristische Person kompensiert wird. Für die Wissenschaftsfreiheit bedeutet dies: Das Industrieunternehmen kann seinen Grundrechtsschutz aus Art. 5 Abs. 3 GG nicht dadurch ableiten, daß es Wissenschaft organisiert und Wissenschaftler beschäftigt, diesen jedoch ein 60

BVerfGE 21, 362 (369); 61, 82 (101). So auch C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 115. 61 So aber C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 143. 62 Dies bejaht Dickert insofern, als die Wissenschaftsbereiche nach seiner Lösung nicht ohnehin aus dem Normbereich fallen, weil es sich um nicht auf Kommunikation ausgerichtete Wissenschaft handelt. 63 T. Dickert, Naturwissenschaften, S. 318, Anführungszeichen dort. C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 34 ff., kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, indem er die Bedingungen von Autonomie in der Industrieforschung eher einseitig darstellt und die Bereiche hervorhebt, in denen die Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft als betriebswirtschaftlich opportun erscheinen; vgl. hierzu oben, S. 309 ff. Wie Classen und Dickert auch V. Grellert, Industrielle Forschung, in: HdbWissR, Bd. 2, 1982, S. 1242, 1246. 64 E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, FS Thieme, 1993, S. 707; H.-H. Trute, Forschung, S. 359 ff. 22 Kleindiek

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4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

lediglich eingeschränkter Freiraum zukommt. Die Anforderungen an grundrechtliche Freiheitsentfaltung durch die juristische Person läßt sich nur dann von den Anforderungen an die natürliche Person lösen, wenn hiermit eine Erweiterung individueller Freiheit einhergeht, nicht jedoch, um dort Freiheitsverkürzungen abzugleichen. 3. Wirtschaftsfreiheit des Unternehmens aus Art. 12 Abs. 1 GG als Abwehrrecht Trotz aller notwendigen Kontroversen um die grundrechtliche Verankerung wirtschaftlicher Freiheiten kann es mittlerweile als anerkannt gelten, daß der Normbereich von Art. 12 Abs. 1 GG auch die selbständige, gewerbliche, d. h. auf Gewinnerzielung gerichtete Tätigkeit umfaßt. 65 Hieraus eine besondere Wirtschaftsfreiheit der Unternehmen abzuleiten, ist angesichts der Entstehungsgeschichte von Art. 12 GG zumindest zweifelhaft; 66 das Problem entschärft sich jedoch in dem hier interessierenden Zusammenhang, indem das Recht, ein Unternehmen zu gründen und nach selbst gesetzten Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu fuhren, im einzelnen bereits durch die Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet ist.67 Diesen Grundrechtsschutz im Sinne einer über die individuelle Entfaltungsmöglichkeit hinausgehende Wirtschaftsfreiheit zu verstehen, ist freilich vor allem geeignet, um die hochkomplexe Organisationsform gerade von Industrieunternehmen zu erfassen. Die Berufsfreiheit der Träger von Großunternehmen, die gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch juristischen Personen zusteht,68 kann nämlich nur im Zusammenwirken mit anderen Grundrechtsträgern realisiert werden. Zudem sind die gesamtwirtschaftlichen Implikationen dieser 65 BVerfGE 7, 377 (397 ff.); W. Hoffmann-Riem, Freiheit der arbeitsteiligen Berufsausübung, FS Ipsen, 1977, S. (385 ff.) 390;, H.-J. Papier, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, WDStRL 35 (1977), S. 58 m.w.N. Zu dem spannungsreichen Verhältnis der unterschiedlichen Gewährleistungen in Art. 12 Abs. 1 GG instruktiv B.-O. Bryde, Artikel 12 Grundgesetz - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, NJW 1984, S. 2177 ff.; zu Art. 12 GG als Wirtschaftsfreiheit insbes. S. 2179 ff. 66 Hierzu B.-O. Bryde, a.a.O., S. 2178 m. w. N., der die Beratungen im Parlamentarischen Rat treffend als "Politik der Nichtentscheidung" charakterisiert. 67 BVerfGE 50, 290, (363); H.-J. Papier, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, WDStRL 35 (1977), S. 99; ders., Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: HdbVerfR, 2. Aufl, 1994, § 18, Rn. 48, 75. 68 BVerfGE 30, 292 (312); 50, 290 (363). Bei Unternehmen, die nicht von Einzelpersonen getragen werden, ist die juristisch verfaßte Willenseinheit, die die Entscheidungen für das Unternehmen trifft, Grundrechtsträger.

III. Grundrechtsschutz für die Industrieforschung

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Grundrechtswahrnehmung weitaus intensiver als bei kleinen oder mittleren Unternehmen; einem solchermaßen erhöhten sozialen Bezug und einer erhöhten sozialen Funktion der Grundrechtswahrnehmung entsprechen gesteigerte Möglichkeiten des Gesetzgebers, die Bedingungen dafür zu gewährleisten, daß die im Grundsatz privatnützige Grundrechtsausübung mit dem Gemeinwohl und den Grundrechten Dritter vereinbar bleiben kann.69 Dem hier skizzierten Grundrechtsgefüge für Wirtschaftsunternehmen entspricht auch die Industrieforschung. Von der Wirtschaftsfreiheit umfaßt ist somit auch die Freiheit, die Organisation der Industrieforschung an den Normen der Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft zu orientieren. Für die Wissenschaft außerhalb staatlicher Bindungen ist somit Art. 12 Abs. 1 GG Maßstab für grundrechtlichen Schutz und die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen. Insofern ist es zutreffend, daß Classen kartell- und wettbewerbsrechtliche Fragestellungen für die Industrieforschung an den hierfür allgemeingültigen Vorschriften problematisiert und zu dem Ergebnis gelangt, daß sich für den Bereich der Industrieforschung keine Besonderheiten gegenüber der Industrie in anderen Wirtschaftsbereichen ergeben.70

4. Berufsfreiheit des Industriewissenschaftlers aus Art. 12 Abs. 1 G G Auch der einzelne Wissenschaftler in der Industrie kann sich nicht auf Art. 5 Abs. 3 GG berufen. Sein Grundrechtsschutz entfaltet sich vielmehr nach den allgemeinen Maßstäben für Arbeitnehmer. Die Rechte des einzelnen Wissenschaftlers auf Freiheit von staatlicher Ingerenz sind deshalb auch in den unmittelbar wissenschaftsrelevanten Bereichen an den allgemeinen Maßstäben des Art. 12 Abs. 1 GG zu beurteilen.71

69 H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: HdbVerfR, 2. Aufl, 1994, § 18, Rn. 49. Die Folge, daß Art. 12 GG somit sehr unterschiedliche wirtschaftliche Sachverhalte erfaßt, nimmt auch das BVerfG (E 50, 290 [363 ff.] - Mitbestimmung) als Ausgangspunkt, um einen weitergehenden gesetzgeberischen Spielraum anzunehmen, als in den Konstellationen, in denen die Berufsfreiheit eines einzelnen Unternehmers zugleich Ausdruck individueller Persönlichkeitsentfaltung ist. 70 C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 201 ff. 71 Für die Einschränkung wissenschaftlicher Erkenntnisoperationen durch den Gesetzgeber am Beispiel von Tierversuchen auch BVerfGE 48, 376 (388 f.); vgl. hierzu ausfuhrl. oben, 2. Kap., S. 173 ff.

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4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

Das Binnenverhältnis zwischen Wissenschaftler und Industrieunternehmen richtet sich ebenfalls nach den für den Wirtschaftsbereich allgemein geltenden Maßstäben. Dies bestätigt auch die eingehende Untersuchung von Classen anhand der relevanten Konfliktbereiche. 72 Für die Rechtsfolgen der Einbindung in einen Tendenzbetrieb, Probleme der Gewissensfreiheit, des Arbeitnehmerurheberrechts als wichtigsten Fall des Rechts auf Veröffentlichung der eigenen Forschungsergebnisse, die berufliche Absicherung und den Kündigungsschutz sowie das Nebentätigkeitsrecht gelangt Classen im wesentlichen zu einer Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses zwischen dem einzelnen Wissenschaftler und dem Industrieunternehmen, das vergleichbaren Konstellationen im außerwissenschaftlichen Bereich entspricht. Deutliche Abweichungen ergeben sich jedoch in der Frage, ob der Begriff "wissenschaftlichen" in § 118 BetrVG (Geltung des Betriebesverfassungsgesetzes für Tendenzbetriebe und Religionsgemeinschaften) im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG zu interpretieren ist.73 Die Beantwortung dieser Frage richtet sich eben danach, ob Art. 5 Abs. 3 GG der gesamte Lebensbereich Wissenschaft subsumierbar ist.

I V . Folgen für die Auslegung einfachen Rechts: Die Besteuerung von Großforschungseinrichtungen als Fallbeispiel Das Beispiel der Auslegung von § 118 BetrVG hat bereits illustriert, daß sich die konkreten Folgen der Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten naturgemäß auf einfachgesetzlicher, denn auf verfassungsrechtlicher Ebene zeigen, weil dem einfachen Recht die Aufgabe zukommt, die Verfassungsvorgaben durch die Regelung konkreter Lebenssachverhalte umzusetzen. Während eine differenzierte Auslegung und Anwendung etwa des Betriebsverfassungsrechts noch aussteht,74 sind hierfür im Steuerrecht erste wichtige Anzeichen erkennbar. So hatte der Bundesfinanzhof jüngst über die Besteuerung einer ingenieurwissenschaftlichen Großforschungseinrichtung zu ent72

C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 156 ff., 184 ff. Dies bejaht Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 186 und mit ihm das BAG (E 62, 156 (162) und die ganz überwiegende Auffassung in der arbeits- und wissenschaftsrechtlichen Literatur, vgl. nur R. Dietz/R. Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 1982, § 118, Rn. 118; O. Kimminich, Das Veröffentlichungsrecht des Wissenschaftlers, WissR 18 (1985), S. 131 f.; zutreffend dagegen bereits U. Wendeling-Schröder, Wissenschaftsfreiheit und Tendenzschutz, AuR 1984, S. (328 ff.) 331. 74 Vgl. hierzu aber schon U. Wendeling-Schröder, Wissenschaftsfreiheit und Tendenzschutz, AuR 1984, S. 331. 73

IV. Besteuerung von Großforschungseinrichtungen als Fallbeispiel

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scheiden.75 Der Wissenschaftsbereich Großforschung ist geradezu ideal, um die konkreten Folgen einer differenzierten Grundrechtssubsumtion zu veranschaulichen, weil nach dem in dieser Untersuchung gefundenen Ergebnis die Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten zwischen Art. 5 Abs. 3 und 12 Abs. 1 GG quer durch den Wissenschaftsbereich Großforschung verläuft und alle anderen Bereiche jenseits dieser Sollbruchstelle anzusiedeln sind.76 Das Aufgabenspektrum der als gemeinnütziger Verein eingetragenen Großforschungseinrichtung - es kann sich demnach nur um die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) handeln77- erstreckt sich auf drei Tätigkeitsfelder. Zum einen übernimmt sie Projektträgerschaften für den Bundesminister für Forschung und Technologie, wobei ihr die fachliche und verwaltungsmäßige Betreuung und Abwicklung der Förderung des Bundes für bestimmte Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen Dritter obliegt. Für diese Tätigkeit erhält die Einrichtung vom BMFT ein Entgelt in Höhe der verursachten Selbstkosten. Des weiteren führt die Einrichtung von Dritten, d. h. von gewerblichen Unternehmen oder der öffentlichen Hand in Auftrag gegebene Forschungsvorhaben durch.78 Die Auftraggeber zahlen hierfür ein Entgelt, das ebenfalls nach den durch die Aufträge entstandenen Selbstkosten bemessen ist.79 Schließlich betreibt die Einrichtung Eigenforschung, wobei sie Gegenstand, Inhalt und Methode im Rahmen der der Großforschungseinrichtung vorgegebenen Aufgabe frei bestimmt.

75

BFH, Urt. v. 30.11.95, Az. V R 29/91, nicht veröffentlicht. Das Urteil bezieht sich auf das Steueijahr 1983. 76 Zu den Großforschungseinrichtungen oben, S. 286 ff. 77 Die DLR ist die einzige als gemeinnütziger Verein organisierte GFE, Vgl. hierzu oben, S. 288 ff. und 1. Kap., S. 107, Fn. 292. 78 Um das Verhältnis der unterschiedlichen Bereiche zueinander zu verdeutlichen, sei auf die (im Urt. des BFH nicht veröffentlichten) Angaben für die DLR aus dem Bundesbericht Forschung 1993, S. 438, verwiesen: Demnach beträgt der Gesamthaushalt der DLR für 1991 731,2 Mio. DM. Die Grundfinanzierung durch Bund u. Länder beläuft sich auf einen Anteil von 414,7 Mio. DM (56,7%), die Einkünfte aus Projektträgerschaften auf 29,4 Mio. DM (4,0%), aus Auftragsforschung auf 287,1 Mio. DM (39,3%). Die DLR ist damit 1991 hinter dem Kernforschungszentrum Karlsruhe die GFE mit dem zweitgrößten Gesamthaushalt und dem proportional zweithöchsten Einkünften aus Auftragsforschung. 79 Die im Rahmen der Forschung gewonnenen Ergebnisse werden grundsätzlich dokumentiert und jedem anderen Dritten gegen eine geringe Gebühr zugänglich gemacht; zwischen der GFE und den Auftraggebern kann jedoch auch vereinbart werden, daß die Forschungsergebnisse für einen bestimmten Zeitraum nicht veröffentlicht bzw. Dritten nicht zugänglich gemacht werden dürfen. Zudem besteht für den Auftraggeber die Möglichkeit, die Exklusivrechte an den Forschungsergebnissen zu erwerben. Zum Ganzen BFH, S. 1 f.

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4. Kap.: Wissenschaft und Wirtschaftsfreiheit

Anlaß für den steuerrechtlichen Streit war eine Umsatzsteuer-Erklärung, in der die Großforschungseinrichtung die Entgelte für die Übernahme von Projektträgerschaften und die Durchführung der Auftragsforschungen dem gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 8 UStG für die Verfolgung gemeinnütziger Zwecke geltenden, von 15% auf 7% ermäßigten Steuersatz unterwarf. Der Bundesfinanzhof hat die vom zuständigen Finanzamt vorgenommene Festsetzung des regelmäßigen Steuersatzes als rechtmäßig bestätigt und die Klage der Großforschungseinrichtung hiergegen abgewiesen. Die Begründung stellt entscheidend und zutreffend darauf ab, daß es sich bei den Projektträgerschaften und der Auftragsforschung um gewerbliche Unternehmungen handelt, die auch nicht als (steuerlich unschädlicher) Zweckbetrieb den gemeinnützigen satzungsgemäßen Zielen der Großforschungseinrichtung dient.80 Diese sei in steuerlicher Hinsicht von der Eigenforschung zu unterscheiden; die Annahme einer von der Einrichtung geltend gemachten Einheit von Auftrags- und Eigenforschung 81 ist der Bundesfinanzhof nicht gefolgt, weil die Durchführung von Auftragsforschung gegen Entgelt in erster Linie den Zwecksetzungen der Auftraggeber dient und es sich nicht um die Förderung von Wissenschaft und Forschung handelt, die der Allgemeinheit dient. Darüberhinaus verlangt der Bundesfinanzhof die strikte Trennung von Auftrags- und Eigenforschung: "Sollten Auftragsforschung und Eigenforschung nach Satzung und tatsächlicher Übung so sehr miteinander verwoben sein, daß beide nicht voneinander abgrenzbar sind und die Ausübung der einen Tätigkeit nicht ohne die andere möglich ist, läge ein einheitliches gewerbliches Unternehmen vor." 82 Der Bundesfinanzhof hat eine zutreffende Differenzierung zwischen selbstbestimmter Eigen- und fremdbestimmter Auftragsforschung vorgenommen. Die Tätigkeit im Bereich der Projektträgerschaft ist im Hinblick auf die Folgen für den Grundrechtsschutz durch Art. 5 Abs. 3 GG von vornherein zu vernachlässigen, weil es sich hier nicht um Wissenschaft, sondern um Wissenschafts-

80

BFH, Urt. v. 30.11.95, Az. V R 29/91, S. 8 f. BFH, Urt. v. 30.11.95, Az. V R 29/91, S. 4. Für die Großforschungseinrichtung folgt die Einheit von Auftrags- und Eigenforschung daraus, daß sie ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke verfolge, so daß auch die Auftragsforschung nur im Rahmen der gemeinnützigen Zwecke liege. Zudem lasse sich die Eigenforschung von der Auftragsforschung weder funktionell noch ihrem Wesen nach abgrenzen. Eine organisatorische Trennung von Eigen- und Auftragsforschung sei nicht möglich; die jeweiligen Forscher seien in beiden Bereichen tätig. Auftragsforschung und Eigenforschung bedingen einander, da die Erkenntnisse aus der Auftragsforschung auch in der Eigenforschung verwendet werden; die Auftragsforschung gebe überdies notwendige Anstöße für die Eigenforschung, "so daß sich diese nicht im Nutzlosen verliere." 82 BFH, Urt. v. 30.11.95, Az. V R 29/91, S. 11. 81

IV. Besteuerung von Großforschungseinrichtungen als F a l l b e i s p i e l 3 4 3 forderung, also die Ermöglichung von Wissenschaft handelt.83 Die herausgearbeiteten organisatorischen Anforderungen an autonome Wissenschaftsstrukturen bestätigt diese Differenzierung. Die gegenteilige Ansicht84 müßte für den Fall, daß die beschriebene Forschungsförderung nicht als Projektträgerschaft durch die Großforschungseinrichtungen, sondern vom Bundesministerium selbst durchgeführt wird, diesem konsequenterweise ebenfalls die Gewährleistungen aus Art. 5 Abs. 3 GG zuschreiben. Dieses Ergebnis, das allerdings in der Logik eines undifferenzierten Verständnisses von Art. 5 Abs. 3 GG liegt, verkennt, daß sich die Aufgabe des Staates zur Verwirklichung grundrechtlicher Freiheiten aus Art. 5 Abs. 3 GG darauf zu beschränken hat, autonome Wissenschaftsstrukturen zu organisieren. Der Bundesfinanzhof hatte zwar eine Steuer- und keine verfassungsrechtliche Entscheidung zu treffen. Die Unterscheidung zwischen anwendungsorienterter Auftragsforschung und grundlagenorientierter Eigenforschung wird jedoch zutreffend an dem Kriterium der gewerblichen Zwecksetzung vorgenommen, für die sich der Grundrechtsschutz auf die Freiheit wirtschaftlichen und nicht auf die Freiheit wissenschaftlichen Handelns beziehen muß. 8 5 Ohne die verfassungsrechtliche Ebene ausdrücklich zu thematisieren ist der Bundesfinanzhof, dies wird in der Auslegung und Anwendung der steuerrechtlichen Bestimmungen deutlich, von einer zutreffenden Zuordnung grundrechtlicher Freiheiten ausgegangen.

83 Bei den Projektträgem des BMFT handelt es sich um GFE oder sonstige fachlich qualifizierte Einrichtungen, die für den BMFT wissenschaftlich-technische und administrative Managementaufgaben wahrnehmen. Im Rahmen direkter oder indirekt-spezifischer Projektforderung liegt der Schwerpunkt der Projektträger-Tätigkeit in der fachlichen und administrativen Beratung der Antragsteller, der Vorbereitung von Förderentscheidungen sowie der Projektbegleitung und Erfolgskontrolle; Bundesbericht Forschung 1993, S. 531 f., mit einer Ubersicht der 14 Projektträgerschaften, die 1992 bestanden; zu den Aufgaben der Projektträger auch H.-H. Trute, Forschung, S. 621 ff. 84 So etwa E.-J. Meusel, Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Einflußnahme auf die außeruniversitäre Forschung, in: HdbWissR, Bd. 2, 1982, S. 1281 ff.; ders., Grundprobleme der außeruniversitären "staatlichen" Forschung, Darmstadt 1982, S. 41 ff, ders. Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 1992, S. 156 ff. 85 Anders C. D. Classen, Wissenschaftsfreiheit, S. 62, 136, der keine Veranlassung sieht, bei der anwendungsorientierten Auftragsforschung andere Rechtsfolgen für die Besteuerung eintreten zu lassen als bei der grundlagenorientierten Eigenforschung.

Zusammenfassung Diese Untersuchung hat sich die Aufgabe gestellt, der Wissenschaftsfreiheit in der Risikogesellschaft als Grundrechtsproblem nachzugehen. Hierbei hat sich erwiesen, daß das Verständnis von Wissenschaft als grundrechtlich gesicherter Freiheit in zwei wesentlichen Punkten abweichend von der überkommenen, zumindest aber in der verfassungsrechtlichen Literatur ganz überwiegend vertretenen Auffassung zu interpretieren ist: I. Die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG entfaltet ihre vorrangige Wirkung als Organisationsgrundrecht und nicht als Abwehrrecht gegenüber staatlicher Ingerenz. Nur so sind die Voraussetzungen von Freiheit und - unter den Bedingungen der Risikogesellschaft notwendiger denn je - von wirksamer Selbstkontrolle gewährleistet. II. Nur die Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft, in denen die sozialen Normen autonomer Wissenschaft, Forschung und Lehre verwirklicht werden, können der Freiheitsgarantie durch Art. 5 Abs. 3 GG subsumiert werden. Beide Thesen folgen daraus, daß sich moderne Wissenschaft im wesentlichen nur in organisierter Form verwirklichen kann. Dies gilt vor allem für die Naturwissenschaften, in denen ohne erheblichen finanziellen und technischen Aufwand wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt nicht mehr denkbar ist. Gleichwohl ist Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG auf die Freiheitsentfaltung des einzelnen Wissenschaftlers ausgerichtet; so wie Grundrechte immer die vielfältigen Formen individueller Freiheit und Gleichheit schützen oder ermöglichen sollen. Dort, wo sich individuelle Freiheit jedoch nicht "von selbst", d. h. als Freiheit in einem vorstaatlich gedachten Sinne entfaltet, ist das vorrangig abwehrrechtliche Grundrechtsverständnis nicht hinreichend, um Funktion und Aufgabe der Grundrechte zu erfüllen. I. Bei der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG handelt es sich um ein Organisationsgrundrecht. Hieraus resultierende Leistungsansprüche konn-

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ten aus dem objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte als eigenständige Grundrechtsfunktion entwickelt werden. Hierbei hat sich in grundrechtsdogmatischer Perspektive die Notwendigkeit einer strikten Trennung zwischen abwehrrechtlicher und leistungsrechtlicher Grundrechtsfunktion erwiesen. Denn die Schutzbereich-Abwehr-Dogmatik ist auf die objektivrechtlichen Leistungsansprüche nicht anwendbar. Sollen die dogmatischen Verarbeitungsregeln die leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion in die Lage versetzen, die auf staatlichem Handeln beruhenden Rechtspositionen grundrechtlich abzusichern, dann müssen sie berücksichtigen, daß sich die Bedeutung des Eingriffsbegriffs umgekehrt hat; nicht die Abwesenheit, sondern die Anwesenheit staatlichen Handelns ist die Voraussetzung für Freiheit. Negative Eingriffsabwehr und positive Leistungsgewährung stehen sich somit gegenüber. Der Grund hierfür liegt darin, daß die der Eingriffsabwehr eigene, eindeutige Trennung von entweder Handeln oder Nichthandeln bei den Leistungsrechten nicht aufrecht zu erhalten ist. Deutlich wird dies, wenn man sich die ratio der grundrechtsdogmatischen Unterscheidung von Tun und Unterlassen vergegenwärtigt: Jedem staatlichen Handeln im abwehrrechtlichen Sinne kann ein bestimmtes (definites) verfassungsmäßiges Gegenteil, nämlich das Unterlassen staatlicher Ingerenz, zugeordnet werden; grundrechtsverletzendes Unterlassen dagegen hat kein definites verfassungsmäßiges Gegenteil, sondern nur eine indefinite Anzahl von verfassungsmäßigen Alternativen. Dies führt im Gegensatz zu den Abwehrrechten bei den Leistungsrechten zu einer größeren Einschätzungsprärogative für den Gesetzgeber. Der hieraus resultierende erheblich weitere Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ändert jedoch nichts daran, daß auch die leistungsrechtliche Grundrechtsfunktion subjektiv-rechtliche Ansprüche auf ihre Durchsetzung zu begründen vermag. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist demnach von der grundrechtstheoretischen Herleitung der Geltung der Leistungsgrundrechte zu unterscheiden. Diese beruht darauf, daß Grundrechte Freiheit nicht nur durch die Ausgrenzung staatlicher Macht schützen, sondern Grundrechte bilden ebenso die konstitutive Grundlage des Staates, die ihn legitimieren, indem sie ihm ihre Verwirklichung zur Aufgabe setzen. Art. 5 Abs. 3 GG formuliert demnach als Organisationsgrundrecht den Auftrag zur Einrichtung freier Wissenschaft, Forschung und Lehre. Freiheit in diesem, für den verfassungsrechtlichen Wissenschaftsbegriff verbindlichen Sinne hat sich an den sozialen Normen autonomer, also den Eigengesetzlichkeiten des Lebensbereichs Wissenschaft folgender Entfaltungsmöglichkeiten (Universalismus, Kommunismus, organisierter Skeptizismus) zu orientieren.

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Die historisch gewachsene Wissenschaftslandschaft in Deutschland hat entscheidend dazu beigetragen, daß freie Wissenschaft in diesem Sinne nur durch öffentliche Mittel und damit innerhalb staatlicher Bindungen gewährleistet ist. Die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft (Umwelt als Labor, Wissenschaftliches Wissen zwischen Gesetzmäßigkeit und Erfahrung, Die Ambivalenz von Chancen und Risiken durch wissenschaftlichen Fortschritt) sind zudem dafür verantwortlich, daß wissenschaftlich-technischer Fortschritt einer besonderen Zwiespältigkeit ausgesetzt ist: Einerseits ist der wissenschaftlich-technische Fortschritt aufgrund der mit ihm einhergehenden Gefahren zunehmender Skepsis und Ablehnung ausgesetzt, andererseits steigt der Erwartungsdruck an die Wissenschaften, Fortschritte zu erzielen, um Zivilisationsgefahren wirksam bekämpfen und Wohlstand dauerhaft sichern zu können. Hinzu kommt, daß die zivilisatorische Selbstgefährdung in der Risikogesellschaft nicht zu bewältigen sein wird, indem der Staat gegen Wissenschaft, sondern nur, indem Wissenschaft gegen Wissenschaft in Stellung gebracht wird. Nur freie Wissenschaft ist demnach in der Lage, diesen komplexen Anforderungen gerecht zu werden. Hinreichend hierfür ist jedoch kein Grundrechtsverständnis, das die Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG als Recht zu individueller Beliebigkeit und vorrangig als Abwehr von staatlicher Ingerenz begreift. Dieses Verständnis, das vor allem von der "Repersonalisierung" des Art. 5 Abs. 3 GG seit der Staatsrechtslehrertagung 1968 motiviert ist, läßt sich auch nicht verfassungshistorisch stützen. Ein gesichertes oder gar traditionelles Fundament für das Verständnis der Wissenschaftsfreiheit kann den Verfassunggebungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und der darauffolgenden Entwicklung bis zur Weimarer Reichsverfassung nicht entnommen werden. Auch wenn aus der Retrospektive und für die Grundrechte unter der Geltung der Weimarer Verfassung bis 1933 insgesamt festgestellt werden kann, daß sie nur im Rahmen der Gesetze ihre Wirkung entfaltet haben, ist die Staatsrechtslehrertagung 1927, die bereits die damalige Diskussion um Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit entscheidend beeinflußt hat, für das Verständnis von Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht von erheblicher Bedeutung. Die Referate von Rothenbücher und Smend und ihre Diskussion ist zunächst von dem Versuch geprägt, den Grundrechtsschutz der freien Meinungsäußerung im allgemeinen und den der Wissenschaftsfreiheit im besonderen zu entwickeln und zu verstärken. Es ist bemerkenswert, daß dieser Versuch davon ausging, daß die Wissenschaft sowohl in Art. 118 als auch in Art. 142 WRV grundrechtlich geschützt und danach zu differenzieren ist, in welchem Kontext staatliche Ingerenz der Wissenschaft begegnet. Während Rothenbücher den personalen Bezug

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der Wissenschaftsfreiheit im Hinblick auf den Hochschullehrer stärkt, stellt Smend die korporative Garantie der Universität als solcher in den Vordergrund. Smends Ansatz einer korporativen Dimension der Wissenschaftsfreiheit ist, im Kontext seiner staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Prämissen, konsequent: Der Integrationslehre ist der korporative Gedanke zum einen wesensimmanent und zum anderen bezieht sie sich nicht nur auf den Staat als ganzes, sondern auch auf die Schaffung gegliederter Teileinheiten ("Subsysteme"), d. h. auch auf den Lebensbereich Wissenschaft. Nicht nur das Entstehen von korporativen Teileinheiten, sondern auch ihr Verhältnis zum Staat und zu anderen vergemeinschafteten Zusammenhängen definiert Smend über die Integrationslehre, indem er zwischen der funktionalen Verfolgung von Eigenzwecken und Gemeinzwecken unterscheidet und die sich hieraus ergebenden Konflikte zu lösen sucht. Der in diesem Zusammenhang an Smend gerichtete Vorwurf, er habe hinter der Wissenschaftsfreiheit als institutioneller Garantie den politisch motivierten Herrschaftsanspruch auf eine privilegierte Stellung der Hochschullehrer verbergen wollen, ist so zu eindimensional und deshalb nicht haltbar. Zwar mag es auf den ersten Blick plausibel erscheinen, von der besonderen Befangenheit der Hochschullehrer in Fragen der universitären Wissenschaftsfreiheit auf eine bestimmte verfassungsrechtliche Interpretation zu schließen; bei näherem Hinsehen muß jedoch berücksichtigt werden, daß sowohl die Integrationslehre Smends als auch die grundrechtsdogmatische Figur der institutionellen Garantie als allgemeingültige Prinzipien entwickelt und demnach auf die Wissenschaftsfreiheit übertragen wurden. Hinzu kommt, daß Smend konsequent die universitäre Selbstverwaltung - der Bereich, in dem sich politisch motivierte Herrschaftsverhältnisse am ehesten manifestieren können - gerade nicht vom Freiheitsbereich des Art. 142 WRV erfaßt sieht. Gleichwohl führt bereits in der Zeit zwischen 1927 und 1933 die stärkere Akzentuierung der instituionellen Garantie der Universität durch Art. 142 WRV zu konkreten Folgerungen für und Anforderungen an die universitäre Selbstverwaltung. Den Überlegungen Smends wird zur Interpretation von Art. 5 Abs. 3 GG vor allem zweierlei entnommen: Zum einen die verfassungsrechtliche Verwirklichung der Humboldtschen Vorstellungen, zum anderen die Erweiterung der Wissenschaftsfreiheit in Art. 142 WRV auf den außeruniversitären Bereich. Dies ist ein nicht heilbarer Widerspruch, denn die Verwirklichung der Humboldtschen Vorstellungen kann sich nur auf die Universitäten, noch nicht einmal auf Akademien oder andere Forschungseinrichtungen innerhalb staatlicher Bindungen beziehen. Entweder Smend selbst ist diesem Widerspruch erlegen oder, wofür alles spricht, unabhängig davon, welche konkreten Folgerungen

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aus der Auffassung Smends gezogen werden, ist es jedenfalls unzutreffend, ihn für die Ideen Humboldts und die Erweiterung der Freiheitsgarantie in Art. 142 WRV über die Universität hinaus in Anspruch zu nehmen. Dieses Mißverständnis hat weitreichende Folgen, denn es führt zu einer Interpretation von Humboldts "Einsamkeit und Freiheit", die nicht nur den geistesgeschichtlichen Kontext dieser Forderung vernachlässigt, sondern auch meint, Wissenschaft als einen homogenen Lebensbereich diesem Prinzip subsumieren zu können mit der Folge, daß auch die Zuordnimg grundrechtlicher Freiheit einheitlich erfolgen könne. Es ließ sich aber auch nachweisen, daß das Bundesverfassungsgericht - entgegen der nahezu einhelligen Interpretation des Hochschulurteils in der Literatur - diesem Mißverständnis nicht erlegen ist. Stattdessen ist zu betonen, daß das Humboldtsche Wissenschaftsverständnis vom neuhumanistischen Idealismus geprägt ist, in dem die Begriffe Wissenschaft und Bildung konvergent sind. Bildung durch Wissenschaft ist für Humboldt die Voraussetzung dafür, daß die Universität "Geburtsstätte einer neuen Gesellschaft" wird. Hiermit verbindet sich eine für die Universitätsidee des Neuhumanismus und Idealismus charakteristische Kritik an der Stellung der Universität in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Krititk richtet sich gegen die auf Pragmatismus und Utilitarismus ausgerichtete Politik der Berufsausbildung an den Universitäten, die ebenso ein Konzept zur Überwindung des überkommenen Universitätssystems darstellt. Die Idee der "Einsamkeit und Freiheit" war für Humboldt nicht nur die philosophische Grundlage, sondern auch Organisationsmaxime für die Universität. Einsamkeit und Freiheit sind hiernach soziale Normen, deren Verwirklichung eine adäquate Organisation verlangt, in der die Suche nach Erkenntnis unter Gleichgesinnten und frei von zweckfremder Ingerenz erfolgen kann. Für diese philosophisch angeleitete Form der Erkenntnisgewinnung ist das Suchen entscheidend. Das Verständnis von Wissenschaft "als etwas noch nicht Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" belegt dies. Die Organisation von Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit verlangt jedoch nicht - jedenfalls nicht in dem Konzept v. Humboldts - eine uneingeschränkte Emanzipation der Universitäten von staatlicher Herrschaft und Obrigkeit, die in ein Selbstverwaltungsrecht der Universitäten münden sollte. Die im Idealismus vertretenen Auffassungen waren polemisch und auch so gemeint. Vieles an Idealvorstellungen ist nicht zur Umsetzung gelangt, vieles ist in der Phase der Restauration bereits ab 1815 revidiert worden. Was dennoch geistes- und philosophiegeschichtlich verbleibt, ist die enge Verbindung zwischen Bildung und Wissenschaft, die ihre vollendete Ausprägung in der Universität finden sollte.

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In diesem Kontext muß der Blick auf ein sehr viel umfassenderes Wissenschaftsverständnis gerichtet werden. Reine Wissenschaft war seit dem Entstehen moderner Wissenschaft nämlich nur eine Variante, denn als zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Baconische Ideal von utilitaristischer Erkenntnis und Wahrheit, von Wissenschaft als Macht und der Vorstellung der unbegrenzten Verfügbarkeit der Natur zerfällt, hatte sich das Konzept einer streng experimentellen Wissenschaft als die anerkannte und geförderte Form des Erkenntnisfortschritts außerhalb der Universitäten bereits etabliert. Es kommt mit dem "deutschen Sonderweg" des Idealismus jedoch zu einer Differenzierung, die zunächst für alle diejenigen verbindlich sein müßte, die sich auf das Humboldtsche Ideal berufen: Dieses hatte niemals im Sinn, die Wissenschaft außerhalb der Universität zu schützen oder zu fordern. Rothenbücher und Smend sind in ihren Überlegungen von dem zentralen Konflikt geleitet, vor dem auch die Universitätsreform Humboldts 1810 gestanden hat und an der sie letzlich gescheitert ist: Freie Wissenschaft in staatlichen Bindungen erfordert einen staatlich organisierten Bereich von Freiheit innerhalb des Staates. Dies zu gewährleisten sollte nun Aufgabe der Grundrechte, d. h. des Art. 142 WRV sein. Für die konkrete Ausgestaltung universitärer Wissenschaft ist seitdem das Verhältnis zwischen der individuellen und der korporativen Dimension der Wissenschaftsfreiheit bestimmend; freilich mit einer wechselnden Akzentuierung bis zu einem Nebeneinander beider Dimensionen in Art. 5 Abs. 3 GG. Wissenschaftliche Erkenntnis in der Risikogesellschaft stellt an die Grundrechtsgarantie der Wissenschaftsfreiheit darüberhinaus neue Fragen. Jenseits der auch verfassungsrechtlich wirksamen theoretischen Vorstellungen entwickeln sich vor allem die Naturwissenschaften mit zunehmender Geschwindigkeit zu einem der dominierenden Wirtschafts- und Fortschrittsfaktoren. Die synthetische Chemie in der Spätphase der industriellen Revolution, die Kernenergieforschung in der Hochzeit der Industriegesellschaft und die Genforschung gegen deren Ende illustrieren diese Entwicklung, in der sich die Notwendigkeit von Freiheit und Begrenzung der Wissenschaft mit aller Eindringlichkeit gegenüberstehen. Grundrechtsdogmatisch ist hiermit das Problem aufgeworfen, ob Wissenschaft, die fremde Rechtsgüter beeinträchtigen kann, durch Art. 5 Abs. 3 GG (oder andere Grundrechte) geschützt ist. Weite Normbereiche, nach deren Selbstverständnis Freiheitsbegrenzungen an der Kollision mit fremden Rechtsgütern zu messen sind, sehen die Lösung in einer Abwägung zwischen der Wissenschaftsfreiheit und entgegenstehenden Rechtsgütern. In grundrechts-

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dogmatischer Perspektive bestätigt das Beispiel des Tierschutzes auf eindringliche Weise die Kritik am Verständnis weiter Normbereiche. Sie fuhren - jedenfalls bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt - unweigerlich dazu, daß sich die mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgüter in dem Maße erweitern, in dem die Normbereiche weit ausgelegt werden. Im Ergebnis läßt sich nicht verkennen, daß durch ein weites Normbereichsverständnis nicht nur der prima facie-Schutz expandiert, sondern das Abwägungsmodell bei vorbehaltlosen Grundrechten, will es sein Ziel erreichen und die von ihm selbst als solche postulierten Grundrechtskonflikte auflösen, diesem Schutz entgegenstehende Rechtsgüter mit Verfassungsrang ausstatten muß, um nicht die Bedeutung vorbehaltloser Grundrechte zu nivellieren oder das Spiel von "Grund und Gegengrund" nicht zum Ende bringen zu können. Stattdessen muß die Tatsache vorbehaltloser Grundrechtsgarantien einen stets zu beachtenden Ansatzpunkt der Grundrechtsdogmatik bilden. (Verfassungs-)Rechtsfolge eines schrankenlos gewährleisteten Grundrechts ist zwar nicht sein unbegrenzter Geltungsbereich und auch nicht eine in jedem Fall höhere Dignität gegenüber Grundrechten mit qualifiziertem oder einfachem Gesetzesvorbehalt. Der Unbegrenztheit einer Gewährleistung steht jedoch vor allem die sachliche Begrenztheit ihres Normbereichs entgegen. Das zugunsten weiter Normbereiche angeführte Argument intellektueller Redlichkeit, Transparenz und Kontrollierbarkeit, das davon ausgeht, ein Betroffener werde die Beschränkung seiner grundrechtlichen Freiheit eher akzeptieren, wenn sein denkbar weitgehender Grundrechtsschutz nach erfolgter Abwägung mit entgegenstehenden Rechten anderer weichen muß, erhält so tatsächlich eine umgekehrte Wirkung: Wem von der herrschenden Meinung ein vorbehaltloses Grundrecht als seine Freiheitsgarantie zugewiesen wird, dem wird man nur wenig Verständnis dafür abverlangen dürfen, daß es auf die präzise Bestimmung entgegenstehender Verfassungsrechte letztlich überhaupt nicht ankommt. Hinzu kommt ein spezifisches Problem, das mit den Besonderheiten des Prozesses wissenschaftlicher Erkenntnis zusammenhängt. Der Vorgang der Abwägung benötigt Kriterien relativer Prognosezugänglichkeit; zugunsten der Forschung hat sie aber nur Kriterien relativer Prognoseunzugänglichkeit zur Hand. Falls etwa die Forschung am Menschen nach einer Abwägung mit der Menschenwürde grundrechtlich geschützt sein soll, wenn es sich um besonders wichtige, für die menschliche Gesundheit insgesamt notwendige Erkenntnisse (etwa auf dem Gebiet der Krebsforschung) handelt, dann mag dies zutreffend sein; die Feststellung, daß dies so ist, kann jedoch erst am Ende des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses getroffen werden; die für die Abwägung ganz zentralen Prämissen können erst benannt werden, nachdem der Prozeß, über den die Abwägung erfolgt, zu wissenschaftlichen Erkenntnissen geführt hat.

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Die vorgestellten Ansätze zur Begründung eines engen Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG weisen dagegen trotz der Unterschiede im einzelnen die Gemeinsamkeit auf, daß sie einen bestimmten Ausschnitt des Lebensbereichs Wissenschaft nicht durch Art. 5 Abs. 3 GG privilegieren wollen; dessen Freiheitsgarantie soll sich nicht entfalten, wenn wissenschaftliche Handlungen durch die Anwendung ihrer Mittel bzw. die Wahl ihres Gegenstandes auf fremde Rechtsgüter übergreifen. Das Verständnis eines begrenzten Normbereichs von Art. 5 Abs. 3 GG bestätigt insofern die These, daß Kollisionen zwischen Wissenschaftsfreiheit und durch sie gefährdete Rechtsgüter von vornherein verhindert werden sollen. Die Privilegierung durch Grundrechtsschutz von dem Rechtsgüterschutz für Dritte abhängig zu machen, wirft das Problem der immanenten Nichtstörungsschranke als Grenze grundrechtlicher Freiheit auf. Dies erfordert dann jedoch umso mehr eine präzise Bestimmung des Normbereichs, die so nicht nur die Begrenzung von Freiheit, sondern ebenso die Herausarbeitung des spezifisch Erlaubten und Geschützten im Blick haben muß. So wird das Verständnis enger Normbereiche plausibel und kann sich dem gewichtigen Gegenargument stellen, Freiheitsausübung verliere ihren grundrechtlich geschützten Charakter auch nicht dadurch, daß zugleich die Freiheitsausübung anderer beeinträchtigt wird. Die Normbereichsbestimmung muß mit der Bestimmung des Gegenstandes beginnen, auf den sich die Norm bezieht. Dem muß die Präzisierung dessen folgen, was der Normbereich als Ausschnitt der Lebenswirklichkeit erfaßt; normbereichsimmanente Nichtstörungsschranken kommen hier zur Geltung. Naturwissenschaftliche Forschung, die Konflikte am ehesten auszulösen vermag und auf die sich Lösungsvorschläge deshalb zu recht beziehen, wurde in ihren strukturellen Eigenschaften am Beispiel der anorganischen Chemie, der Atomenergie und der Gentechnik nachgezeichnet. Hierbei hat sich ergeben, daß moderne Naturwissenschaft, etwa in der Gen- oder Atomenergieforschung, Forschung mit oder an fremden Rechtsgütern ist, weil sich der Prozeß der Erkenntnisgewinnung selbst nicht als konsequenzentlastetes Probehandeln begreifen läßt. Riskante wissenschaftliche Handlungen in diesem Sinne zeichnen sich dadurch aus, daß sie durch die Wahl ihres Gegenstandes bzw. die Anwendung ihrer Mittel auf fremde Rechtsgüter übergreifen. Gefährdungen für Mensch und Umwelt entstehen nicht erst dadurch, daß die Grundlagen einer bestimmten Technik unter ungefährlichen Bedingungen wissenschaftlich entwickelt und erprobt wird und diese danach unter Hinnahme eines Restrisikos angewendet wird. Die Gefährdung fremder Rechtsgüter bereits durch den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß selbst hat sich vielmehr als Strukturprinzip naturwissenschaftlicher Erkenntnis in der Risikogesellschaft erwiesen. Wissenschaft in der Risikogesellschaft zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie Chance und Bedrohung zu-

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gleich darstellen kann und daß gegenwärtige Bedrohungen unter Umständen nur durch weitere Forschungen bewältigt werden können. Diese Einwände muß auch die Unterscheidung zwischen einem Werkbereich und einem Wirkbereich der Wissenschaftsfreiheit gegen sich gelten lassen. Auch diese geht zutreffend von der Tatsache aus, daß moderne Naturwissenschaft experimentelle Wissenschaft ist; die Unterscheidung zwischen Werkund Wirkbereich hat ihre Rechtfertigung bei wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen unter experimentellen Realbedingungen, die eine Gefährdung darstellen. In dem Maße, in dem die Umwelt selbst zum Labor wird, verflüchtigt sich jedoch die Möglichkeit, zwischen einem wissenschaftlichen Werk und seiner Wirkung zu unterscheiden. Diese Erkenntnis hat die Wissenschaftssoziologie zwar erst erbracht, nachdem die Unterscheidung als verfassungsrechtlich relevante Normbereichsbestimmung entwickelt wurde, aber auch ungeachtet dieser (neueren) wissenschaftssoziologischen Erkenntnisse, die auf die spezifische Gefährlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse in der Risikogesellschaft adäquat reagieren, hätte berücksichtigt werden müssen, daß auch die bereits sehr viel früher einsetzende Verbindung von Wissenschaft und Technik dazu führt, daß mit der Unterscheidung zwischen Werk- und Wirkbereich ein einheitlicher wissenschaftlicher Kommunikationsprozeß durchtrennt wird. Im Ergebnis läßt sich demnach feststellen, daß die Unterscheidung zwischen Werk- und Wirkbereich dort, wo sie sinnvoll wäre, nicht mehr möglich ist, weil die Strukturen wissenschaftlicher Erkenntnis über sie hinweggegangen sind; dort, wo sie noch möglich ist, würde sie die Wissenschaftsfreiheit grundlos verkürzen. Wenn es nicht gelingt, den Normbereich als Ausschnitt des Lebensbereichs durch Herausnahme bestimmter wissenschaftlicher Handlungsformen zu begrenzen, dann liegt es nahe, diese Begrenzung an Maßstäben zu konkretisieren, die außerhalb des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses liegen, sich aber auf diesen auswirken. Ein bisher entwickelter Maßstab ist die Verantwortung des Wissenschaftlers. Dieses Konzept ist nicht neu; bereits in der Auseinandersetzung um § 6 Hess UnivG ging es im wesentlichen um die Frage, inwiefern Verantwortung - das Mitbedenken der Folgen - als verfassungsrechtlich wirksame Pflicht begründbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat § 6 Hess UnivG seinerzeit verfassungskonform ausgelegt und sich für das Abwägungsmodell als Lösungsweg entschieden. Neuere Ansätze plädieren demgegenüber für eine präzise Normbereichsbestimmung, die es ermöglichen soll, unverantwortliches Handeln von vornherein aus dem Normbereich auszuschließen. Da Verantwortung auch als negatives Normbereichsmerkmal die konkreten wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse nur mittelbar betrifft, also der Normbereich selbst

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um eine die grundrechtliche Freiheit determinierende Ebene erweitert wird, ist es kaum zu erwarten, daß diese Lösung zu anderen Ergebnissen fuhrt, als die Abwägung entgegenstehender (Verfassungs)Rechtsgüter. Bedeutender sind jedoch die grundrechtsdogmatischen Zweifel an den bisher entwickelten Verantwortungslösungen. Um die Wirkung der Verantwortung auch als negatives Normbereichsmerkmal zu realisieren, sind letztlich doch positive Handlungspflichten zur Verantwortungswahrnehmung zu benennen, schon um für den einzelnen Wissenschaftler zu präzisieren, unter welchen Voraussetzungen sein Verhalten den Normbereich von Art. 5 Abs. 3 GG verläßt. Demnach erscheint es aber mehr als schwierig, dies alles in einem vorrangig abwehrrechtlichen Konzept unterzubringen. Besonders deutlich wird dieses Dilemma, wenn die Handlungspflichten weder auf der Normbereichsnoch auf der Schrankenebene zu einer verbindlichen Rechtspflicht führen dürfen, die auf die Wahrnehmung einer besonderen Wissenschaftsverantwortung gerichtet ist. Die verfassungsrechtliche Wirkung dieser Pflichten bleibt deshalb unklar; dem einzelnen Wissenschaftler kann nicht die Freiheit von jeglicher Ingerenz garantiert und zugleich der Vorbehalt einer Genehmigung seiner Forschungen durch eine Ethikkommission auferlegt werden. Zurückzuführen ist dies darauf, daß die Organisation von Handlungspflichten eine sehr viel stärkere Ablösung vom abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnis voraussetzt. Verantwortung als autonome Selbstbeschränkung der Wissenschaft wird nur unter den Bedingungen einer solchen Ablösung zu verwirklichen zu sein. II. Nur über freiheitsadäquate Bedingungen von Wissenschaftseinrichtungen kann das den Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft folgende Handeln des einzelnen Wissenschaftlers und damit Wissenschaftsfreiheit im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG realisiert werden. Deshalb lassen sich die Verwirklichungsbedingungen von Wissenschaftsfreiheit auch nicht vom einzelnen Wissenschaftler her begreifen; sie entfalten sich nur unter bestimmten Voraussetzungen und zur Erfüllung bestimmter Aufgaben und können deshalb auch nur in diesen Grenzen die Gewährleistung durch Art. 5 Abs. 3 GG beanspruchen. Deshalb ist die Teilhabe des einzelnen Wissenschaftlers an staatlichen Leistungen die soziale Bedingung für freies wissenschaftliches Arbeiten; nicht trotz, sondern wegen dieser Bindung ist individuelle Freiheitsentfaltung möglich. Die staatliche Organisationsleistung muß hierbei die ihr vorgegebenen sozialen Bedingungen autonomer Wissenschaft rezipieren, um hieraus die verfassungsrechtlichen Anforderungen an autonome wissenschaftsadäquate Binnenstrukturen abzuleiten. 23 Kleindiek

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Wissenschaft in der Risikogesellschaft bedarf zu ihrer Verwirklichung und ihrer notwendigen Begrenzung somit komplexer und ausdifferenzierter organisatorischer Voraussetzungen. Dies bestätigt auch die Vielfältigkeit des Lebensbereichs Wissenschaft. Universitäre Forschung und Lehre, Grundlagenforschung in den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft, die Förderung der angewandten Forschung durch die Fraunhofer-Gesellschaft, die Großforschung als eigener Forschungstyp sowie die staatliche Ressortforschung und schließlich die Industrieforschung repräsentieren die unterschiedlichen Aufgaben, die die Gesellschaft dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt zuweist. Die Universitäten (und Fachhochschulen) bilden den wissenschaftlichen Nachwuchs aus, wobei die Verbindung von Forschung und Lehre Pluralität, Praxisbezug und Aktualität sichern. Die Max-Planck-Gesellschaft fordert den Erkenntnisfortschritt durch Grundlagenforschung und repräsentiert einen Wissenschaftsbereich außerhalb der Universität, der der Gesellschaft Wissen über die wissenschaftlich-technische Entwicklung an die Hand gibt, das die Universitäten nicht erbringen können, weil die dortige Aufgabenstellung andere Schwerpunkte hat. Die Fraunhofer-Gesellschaft ist für die Entwicklung und Durchsetzung neuer Technologien durch zielorientierte Grundlagenforschung und angewandte Forschung zuständig, die auf die rasche praktische Umsetzung und ökonomische Verwertung ihrer Ergebnisse ausgerichtet ist. Die als Großforschung organisierte Wissenschaft hat zwei sorgfältig voneinander zu unterscheidende Aufgabenbereiche: Die anwendungsorientierten Einrichtungen sollen Perspektiven ökonomischer Verwertbarkeit von wissenschaftlich-technischem Erkenntnisfortschritt eröffnen. Auf dem Gebiet der Grundlagenforschung sollen durch staatliche Förderung wissenschaftlich-technische Entwicklungen initiiert werden, die als gesellschaftlich sinnvoll angesehen, im Bereich der Industrieforschung zumeist aus ökonomischen Gründen aber nicht realisiert werden; zugleich sollen aber auch Risiken durch die industrielle Nutzung wissenschaftlich-technischer Entwicklungen identifiziert werden, um die Möglichkeiten gesellschaftlicher Reaktionen hierauf zu eröffnen. Ressortforschung weist die am wenigsten ausgeprägte eigenständige Organisationsstruktur auf; sie ist Forschung mit fest umschriebenen Aufgaben, die der politischen Opportunität unterliegen und entspricht insofern strukturell der an ökonomischer Verwertbarkeit ausgerichteten anwendungsorientierten Forschung. Die Bedingungen von Autonomie bestimmen sich nach den sozialen und kognitiven Normen des Lebensbereichs Wissenschaft. Diese sind dem staatlichen Organisationsauftrag vorgegeben; zur Verwirklichung freier Wissenschaft hat er diese im Kontext konkreter Aufgaben zu fordern und zu kräftigen. Ziel der grundrechtlichen Subsumtion war es deshalb festzustellen, in welchen Wis-

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senschaftsbereichen staatliches Handeln eine Organisationsleistung erbracht hat, die Wissenschaftsfreiheit ermöglicht und deshalb zu einer Gewährleistung grundrechtlicher Freiheit durch Art. 5 Abs. 3 GG führt. Für die universitäre Forschung und Lehre, die Forschung in den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft und in den grundlagenorientierten Großforschungseinrichtungen trifft dies zu. Die Pflicht des Staates zur Organisation autonomer Wissenschaftseinrichtungen ist damit erfüllt. Für die Einrichtungen der Fraunhofergesellschaft, die anwendungsorientierten Großforschungseinrichtungen und die Ressortforschung vermittelt Art. 5 Abs. 3 GG nicht die adäquate Grundrechtsgewährleistung. Hierin kann kein Defizit staatlicher Organisationsleistung erblickt werden. Obwohl Art. 5 Abs. 3 GG die zu gewährleistende Freiheit als Organisationsgrundrecht verwirklicht, besteht keine grundrechtlich herzuleitende Pflicht, Wissenschaft innerhalb staatlicher Bindungen in ihrer Gesamtheit den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 GG gemäß zu organisieren. Der Entscheidungsspielraum staatlichen Handelns unterliegt vielmehr solange keinen Einschränkungen, wie wesentliche Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft diesen Anforderungen genügen. Daß sich staatliches Handeln darauf beschränkt, Art. 5 Abs. 3 GG im Bereich der Grundlagenforschung und durch die Verbindung von Forschung und Lehre zur wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung zu verwirklichen, begegnet deshalb keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch wenn darüberhinaus für die als freie organisierten Wissenschaftsbereiche kein Bestandsschutz aus einer abwehrrechtlichen Grundrechtsposition heraus besteht, ist der Staat in seinem Handeln nicht völlig frei. Der Staat hat vielmehr die verfassungsrechtlich wirksame Pflicht zu konsequentem Organisationshandeln. Dieser Pflicht korrespondiert ein subjektivrechtlicher und damit gerichtlich durchsetzbarer Anspruch der Wissenschaftseinrichtung gegen den Staat. Die Pflicht des Staates, die Verwirklichungsvoraussetzungen für freie Wissenschaft zu schaffen, indem er Wissenschaft einrichtet und unterhält, Organisation, Verfahren, Berufsrollen und Geld zur Verfugung stellt, trifft hier mit den subjektiven Rechten der Wissenschaftseinrichtungen zusammen; mit anderen Worten entfaltet das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Verantwortung und grundrechtlicher Freiheit hier seine Wirkung. Hieraus folgt, daß der Staat durch organisatorische Leistungen ein Mindestmaß an aufgabenbezogener Effizienz und widerspruchsfreier Umsetzung ermöglichen muß. Der konkrete Leistungsumfang für freie Wissenschaft unterliegt jedoch, wie bei allen Leistungsgrundrechten, dem ökonomisch Möglichen und politisch Gewollten. Freie Wissenschaft verlangt zugleich staatliche Leistung und Staatsferne; beides wird durch die freiheitsvermittelnde Funktion der Wissenschaftseinrichtungen für den einzelnen Wissenschaftler gewährleistet. Die korporative

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und die individuelle Dimension der Wissenschaftsfreiheit bedingen somit einander. Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht ist deshalb schließlich die Voraussetzung für die Entfaltung der individuellen Dimension der Wissenschaftsfreiheit. Denn Freiheit kann letztlich immer nur durch den Einzelnen verwirklicht werden. Auf ihn ist die Organisation freier Wissenschaft deshalb gerichtet. Für die Grundrechtsträgerschaft des einzelnen Wissenschaftlers gilt deshalb im Grunde nichts anderes, als für die Wissenschaftseinrichtung auch. Auch gegenüber dem einzelnen Wissenschaftler hat der Staat die verfassungsrechtlich wirksame Pflicht zu konsequentem Organisationshandeln, der eine subjektive Rechtsposition des Wissenschaftlers gegenüber dem Staat korrespondiert. Diese Rechtsstellung ist jedoch sehr stark dadurch geprägt, daß der einzelne Wissenschaftler in die Wissenschaftseinrichtung eingegliedert ist. Der Grund für die Differenzierung zwischen von Art. 5 Abs. 3 GG erfaßten und nicht erfaßten Wissenschaftseinrichtungen ergibt sich aus der spezifischen Aufgabenzuweisung für die einzelnen Wissenschaftsbereiche. Hieraus folgt zugleich, daß auch die Freiheit, Wissenschaft jenseits der kognitiven und sozialen Normen autonomer Wissenschaft zu organisieren, Anspruch auf Grundrechtsschutz hat. Die nicht Art. 5 Abs. 3 GG zu subsumierenden Wissenschaftsbereiche sind daher den ihnen adäquaten Grundrechten, vor allem Art. 5 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG, zuzuweisen. Dies ist schon deshalb erforderlich, damit die Organisation der Segmente des Lebensbereichs Wissenschaft, für deren Aufgabenerfüllung an der Verwirklichung autonomer Wissenschaftsstrukturen nicht gelegen ist, die sich ganz im Gegenteil als kontraproduktiv erweisen würde, ein adäquater Grundrechtsschutz gesichert ist. Dies gilt auch und vor allem für die Industriewissenschaft. Wissenschaftliches Handeln in der Industrie ist im besonderen an der Herstellung, Optimierung und ökonomischen Verwertung von Produkten orientiert. Mit der Ausrichtung an der ökonomischen Verwertung wissenschaftlich-technischer Erkenntnis ist die Bedeutung der Industrieforschung als anwendungsorientierte Forschung somit determiniert. Zugleich wird deutlich, daß sich der ihr adäquate Grundrechtsschutz auf die Entfaltung wirtschaftlicher und nicht wissenschaftlicher Freiheit konzentrieren muß. Dennoch ist auch Industrieforschung Wissenschaft, die jedoch nicht vom Normbereich des Art. 5 Abs. 3 GG erfaßt, sondern vor allem durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt ist. Innerhalb wie außerhalb staatlicher Bindungen ist wissenschaftliches Handeln als eine Erkenntnisoperation zu verstehen, die dem reflexiven Gehalt von Gesetz, Experiment und Fortschritt folgt. Dieser soziologische Befund orientiert sich an den vorzufindenden, lebenswirklichen Strukturen und nicht an verfassungsrechtlichen Para-

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metern. Auch für die Industriewissenschaft ist somit das Verhältnis von Wissenschaft und Technik der entstehungsgeschichtliche Ausgangspunkt.

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arverzeichnis

Abwägung 179 ff.; 199; 259; 350 Abwägungsmodell 180; 182; 189; 353 Abwehrrecht 21; 137 ff.; 168 ff.; 178 - Grundrechtsfunktion 137; 233 ff.; 248 f.

Autonomie 167; 204; 241;247 ff.; 313 ff. - als Organisationsleistung 241 - der Wissenschaftseinrichtungen 241; 244; 247;

- Jedermanns 19; 137 ff.; 168 ff.

- Industrieforschung 321 f.; 325 f.; 329 ff.

- klassische Grundrechtsfunktion 210; 215; 231

- Parameter grundrechtlicher Freiheit 262; 268 ff.

- subjektives 204; 303

- soziale Normen der Wissenschaft 252; 257 ff. 261 ff.

Akademien 23; 62; 63; 65; 72; 74; 79; 119; 326 - Accademia del Cimento 56

Baconisches Ideal 80; 110

- Academie des Sciences 57; 60; 62

Berufsfreiheit 321; 338 f.

- Berliner Akademie der Wissenschaften 62

Bildung 67 ff.; 115; 266; 348

-

Lunar Society 55; 59

- als Ideal 71; 79; 147 f.; 151 f.

- Organisation 55 ff.

- durch Wissenschaft 24; 62 f.; 63; 70; 73; 77 ff.

- Royal Society 55 ff.

- und Wissenschaft 80; 89

-

Society of Arts 59

Ambivalenz von Chancen und Risiken 121; 129 ff.; 135; 137

Chemie 17; 31; 152; 178; 197

anorganische Chemie 85

- Industriewissenschaft 87 ff.; 328

Anwendungsforschung 97; 107; 109; 305 Atomenergie 92; 93; 95; 97 Atomgesetz 96; 98; 113; 300 Auftragsforschung 281; 284; 294; 298; 308; 342 ff.

- Farbensynthese 86 - Naturphilosophie 67; 77 f. - synthetische 24; 32; 83 ff.; 109; 112; 252 - Risikogesellschaft 119; 123; 128; 130;135 - universitäre Wissenschaft 88 ff. Drittmittelforschung 265; 273; 308 Drittwirkung 213; 218 ff.; 226

Sachwortverzeichnis

Eigenforschung 282; 341 ff. Einheit von Forschung und Lehre 68; 76; 147 ff.; 264; 272 Einsamkeit und Freiheit 58; 62 ff; 70 ff.; 154 (Fn. 60) empirische Forschung 297 Ethikkommission 199; 316 Experiment 59; 177; 320 - Genforschung 112; 115 - Kernenergieforschung 101 f. - Risikogesellschaft 119; 122; 124; 130 - soziologisches Kennzeichen 32 ff., 77 Experimentiergesellschaft 30 Fachhochschulen 305; 326

383

- Risikogesellschaft 118 f. ; 121 f. ; 129 ff.; 134 f. - wissenschaftlich-technischer 15; 17; 18; 23; 28; 30 f.; 346 - soziologisches Kennzeichen 32 ff.; 77 Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen 112 ff. Gefahrenidentifikation 135 Gefahrenproduktion 134 Genforschung 17; 24; 32; 83; 84; 92; 109; 110 ff. 121; 128; 178; 183; 257; 349 Gentechnik 113; 115; 117; 197; 351 Gentechnikgesetz 110; 113; 114; 115 Gesetz - Genforschung 110; 114 - Kernenergieforschung 101; 102

Farbensynthese 86

- Naturgesetze 33; 42; 46

Finalisierung 251 - der Wissenschaft 58; 255 ff.

- Naturgesetzbegriff 42 - soziologisches Kennzeichen 32 ff.; 77

Forschung am Menschen 182; 191; 197;350

- Risikogesellschaft 122; 124; 126 f.

Forschung und Entwicklung 318; 322 ff. Forschungseinrichtungen 61; 63; 139; 319; 330

Gewährleistungsbereich 64; 224; 249 Großforschung 25; 94; 103 f.; 107 ff.; 119; 202; 286 ff; 308; 341; 354

Forschungsreaktoren 98; 99; 101

- Großforschungseinrichtungen 105 f.; 258; 265; 288 ff.; 307; 340 f,; 355

Fortschritt 27; 195 (Fn. 219); 320; 356

- Großforschungszentren 107

- Fortschrittsphilosophie 3 3 ; 3 8 ; 3 9 ; 81 ff.

Grundlagenforschung 56; 97; 105 ff.; 275; 307; 325 ff.; 354 f.

- Genforschung 110 ff.

Grundlagenwissenschaft 53

- Industrialisierung 61 - Naturwissenschaften 85 ff.

Grundrecht der deutschen Universität 155;157;164;171

384

arverzeichnis

Grundrechtsfunktionen 20 ff.; 140; 142; 210; 216; 228; 229 ff,

Integrationslehre 160

- Drittwirkung 213; 218 ff.; 226

Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 109

- Leistungsgrundrechte 210; 214; 215; 233 ff. - Leistungsgrundrechte im weiteren Sinne 214 f.; 235 f. - objektive Wertordnung 172; 212; 215; 235 - Organisationsgrundrecht 22; 25; 206; 227; 237; 239; 241; 247; 249; 259; 272; 309; 312; 318; 334; 344 ff.; 355 f. - Schutzpflicht 127; 213; 215 ff.

Kernenergieforschung 17; 24; 32; 83 ff.; 92; 94; 95; 96; 108; 111; 117; 178; 257 Kernforschungszentrum Karlsruhe 104 Kernreaktor 97; 98; 99; 102; 123; 132 korporative Dimension der Wissenschaft 312 korporative Garantie 159

- Verfahrensgrundrechte 220; 226

Kunstfreiheit 193; 196; 212; 238

Gruppenuniversität 166; 168 ff.

Kunsthochschulen 263 Künstler 33; 35; 39; 40; 43; 44; 48

Humangenetik 110

Künstler-Ingenieure 35

Humanisten 35; 37; 38; 39; 40 Idealismus 24; 63; 66 ff.; 79 ff.; 147; 151 f.; 154; 157; 159 individuelle Dimension der Wissenschaftsfreiheit 312; 314 ff. Industrialisierung 24; 55; 60; 61; 88; 194 Industrie 55; 59; 85 ff.; 99; 103 ff.; 247; 260; 265; 285; 303; 319 ff. Industrieforschung 26; 90; 107 ff.; 119; 139; 140; 142; 173; 177; 204; 247; 283; 309; 319 ff. - Industriereaktor 99; 100 - Industriesoziologie 324 - Industriewissenschaft 88; 90; 134; 173;175; 240; 333; 357 Ingenieure 33; 35; 39; 40; 43; 44; 55; 89 Ingenieurwissenschaften 53; 59

Leistungsgrundrechte 210; 214; 215; 233 ff. Leistungsgrundrechte im weiteren Sinne 214 f.; 235 f. Lunar Society 55; 59 Max-Planck-Gesellschaft 95 Meinungsfreiheit 142; 155; 156; 227 Merkantilisierung des Wissens 88 Merkantilisierung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse 88 Mitteilungsfreiheit 144 ff. Mittelalter 36; 39 Moderne 15; 18; 19; 23; 27; 28; 31; 32; 33; 47; 50; 51; 82; 110; 120 Naturbeherrschung 47; 110

Sachwortverzeichnis

385

Naturphilosophie 67; 77

Relativitätstheorie 93

Naturrecht 41; 67

Renaissance 16; 33; 36 ff; 44; 46; 65

Neuhumanismus 79

Repersonalisierung 166 ff; 239 (Fn. 148); 346

Neuzeit 36; 44 Normen autonomer Wissenschaft 25; 249; 257; 259; 307; 314; 333; 345

Ressortforschung 25; 109; 295 ff; 354 f. Restauration 74; 80; 146; 149; 151

Objektive Leistungsansprüche 229

Romantik 66; 67

Objektive Wertordnung 172; 212; 215; 235

Royal Society 55 ff. Rundfunkfreiheit 222 f.; 227 f.; 236 f.

Organisation - Organisationsauftrag 25; 239; 259; 306

Scholastizismus 36; 44; 50

- Organisationsbezug 239

Schutzpflicht 127; 213; 215 ff.

- Organisationsgrundrecht 22; 25; 206; 227; 237; 239; 241; 247; 249; 259; 272; 309; 312; 318; 334; 344 ff.; 355 f.

Selbstverwaltung, universitäre 154; 158; 160; 167 f.; 267 ff; 311 f. Society of Arts 59

- Organisationsleistungen 119 ; 261 ; 273; 309;310

Soziologie 16; 18; 28; 49; 50; 84; 119; 120; 194

- organisationsrechtliche Optimierungsregeln 309

Spätrenaissance 46

- Organisationsstruktur 170; 260 f.; 305 f.; 313 f.

staatliche Organisationsleistung 250; 260; 274; 311; 316

- organisatorische Ausgestaltung 223; 247

Staatsziel Umweltschutz 189

- Pflicht zu konsequentem Organisationshandeln 312; 355

Stand der Wissenschaft 53; 127; 302 ff.

Organisierter Pluralismus 271

Stand von Wissenschaft und Technik 53; 125 ff; 300; 303 ff.

Pädagogische Hochschulen 262

Strahlenschutzkommission 301

Privatgelehrter 149

Synthetische Chemie 84; 85

Projektforschung 282 Prototyp 99; 100; 101; 102; 104; 123 Quantenphysik 128

Technikrecht 53 Tendenzbetrieb 346 Theologie 37; 49; 71; 153

8

Inhaltsverzeichnis

IV.

V. VI.

3. Ergebnis

61

Der deutsche Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts: Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit

62

1. Bildung durch Wissenschaft in "Einsamkeit und Freiheit"

63

2. Der deutsche Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts

66

3. "Deduzierte Pläne" zu einer akademischen Universitätsidee

68

a) Das theoretische Fundament

68

b) Ihre organisatorische Umsetzung durch die Gründung der Berliner Universität

73

4. Ergebnis

78

Der Wissenschaftsidealismus des 19. Jahrhunderts und die modernen Naturwissenschaften

81

Synthetische Chemie, Kernenergieforschung und Genforschung als Paradigmen moderner Naturwissenschaften

84

1. Synthetische Chemie

85

a) Merkantilisierung des Wissens - Das Enstehen von Industriewissenschaft

88

b) Die Abkehr vom mechanistischen Weltbild

91

2. Kernenergieforschung a) Kernenergieforschung in der Bundesrepublik Deutschland

92 94

aa) Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen: Wissenschaft oder Wirtschaft?

95

bb) Grundlagenforschung und Anwendungsforschung im Bereich der Kernenergie

97

(1) Forschungsreaktoren

98

(2) Versuchskernkraftwerke und Prototypen

99

b) Das Verhältnis von Gesetz und Experiment in der Kernenergieforschung

101

c) Der organisatorische Rahmen: Die Entwicklung der Großforschung am Beispiel der Kernreaktorforschung

103

d) Großforschung als eigener Forschungstyp

105

e) Großforschung als Anwendungsforschung und als Grundlagenforschung

107

386

arverzeichnis

Tierschutzgesetz 173; 184 ff.; 189 Trägerorganisation 25; 109; 274; 275; 281; 282

Umwelt als Labor 120; 121 Uneigennützigkeit 250 ff. Universalismus 40; 250 ff. Universitäre Forschung und Lehre 262;354

Wissenschaft und Technik 16; 19; 23; 28; 30; 31; 52 ff. 78; 81; 82; 89 ff. 108; 110; 118 ff.; 300; 303 ff.; 320; 357 wissenschaftlich-technische Gesellschaften 55 Wissenschaftseinrichtungen 139; 170; 240 ff.; 313 ff. Wissenschaftsfreiheit - Abwehrrecht 137 ff. - individuelle Dimension 313

Universität 24; 58; 63 ff.; 90; 108; 109; 115; 132; 136; 139; 148 ff.; 177; 239; 262 ff.; 305; 307; 315 ff.; 347 ff.

- korporative Garantie 159

Universitätsgelehrte 35; 36

- Organisationsgrundrecht 22; 25; 206; 227; 237; 239; 241; 247; 249; 259; 272; 309; 312; 318; 334; 344 ff.; 355 f.

Utilitarismus 79; 80; 119

Verantwortung 192; 194 f.; 198 ff.; 203;353;356 Verfahrensgrundrechte 220; 226 Verhältnismäßigkeitsprinzip 188 Versuchskernkraftwerke 99 Vertragsforschung 282 f.; 285 f.

Werkbereich 193; 198; 352 wertentscheidende Grundsatznormen 233 Wirkbereich 175; 192; 193; 198; 352 Wissenschaft und Bildung 78

- Normbereich 137 ff.; 179 ff.; 201 ff.; 318 ff.

- Pflicht zu konsequentem Organisationshandeln 312; 355 - Wissenschaftler als Grundrechtsträger 313 ff. - Wissenschaftseinrichtung als Grundrechtsträgerin 310 ff. Wissenschaftsgeschichte 18; 34; 40; 43; 64 Wissenschaftsgesellschaft 29; 31; 86; 88; 118 Wissenschaftsidealismus 23 ff.; 62; 66; 81 ff.; 119 Wissenschaftssoziologie 34; 109; 198; 249 f.; 251; 253 f.; 352 Wissenschaftstheorie 34; 41; 251; 253 f.